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German Pages 530 Year 2015
Wendejahr 1995
spectrum Literaturwissenschaft/ spectrum Literature
Komparatistische Studien/Comparative Studies Herausgegeben von/Edited by Moritz Baßler, Werner Frick, Monika Schmitz-Emans
Wissenschaftlicher Beirat/Editorial Board Sam-Huan Ahn, Peter-André Alt, Aleida Assmann, Francis Claudon, Marcus Deufert, Wolfgang Matzat, Fritz Paul, Terence James Reed, Herta Schmid, Simone Winko, Bernhard Zimmermann, Theodore Ziolkowski
Band 51
Wendejahr 1995
Transformationen der deutschsprachigen Literatur
Herausgegeben von Heribert Tommek, Matteo Galli und Achim Geisenhanslüke
Gedruckt mit finanzieller Unterstützung des Deutschen Akademischen Austauschdienstes e.V.
ISBN 978-3-11-041996-2 e-ISBN (PDF) 978-3-11-041902-3 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-041919-1 ISSN 1860-210X Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2015 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: jürgen ullrich typosatz, Nördlingen Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Inhaltsverzeichnis Heribert Tommek Wendejahr 1995 – Einführung
1
Heribert Tommek Schreibweisen der Gegenwartsliteratur im Querschnitt des Jahres 1995
Teil I: 1995 – Strukturartikel 1
Erinnerung
Achim Geisenhanslüke In der Erinnerung Gedächtnispolitik 1995
31
Stephanie Catani Von Tätern und Opfern NS-Geschichte(n) in der Literatur Norbert Otto Eke Aus dem Labyrinth finden Jüdisches Gedächtnis
2
50
72
Gegenwart
Matthias Beilein Wendejahre und Digitalisierung: Der Literaturbetrieb im Jahr 1995 Matteo Galli Debüts 112 Marja Rauch Kritik und Krise Poetik 1995
121
93
8
VI
Inhaltsverzeichnis
Michael Peter Hehl Literatur und Pop im Jahr 1995 Christian Steltz Migrantenliteratur
3
134
156
Räume
Simone Costagli Die Wiederkehr des Raums in der Literatur
175
Winfried Adam Österreichische Literatur, die Frankfurter Buchmesse und das Jahr 1995 Francesco Aversa Die Chiffre von 1995 in der Post-DDR-Literatur Eva-Maria Konrad Literarische Gegenwelten
4
198
218
Genres
Alexandra Pontzen ‚Corporeality‘ (in) der deutschsprachigen Erzähl-Literatur 1995 ‚Körper gewordene Realität‘ und ‚leibliche Erfahrung‘ deutscher Historie 239 Maren Jäger Die deutschsprachige Lyrik im Jahr 1995
267
Franziska Schößler und Hannah Speicher Statistiken, Stücke und (West-Ost)Debatten: 1995 im Theater und Drama 300 Heinz-Peter Preußer Das Jahr 1995 im (deutschsprachigen) Film
318
188
Inhaltsverzeichnis
Teil II: 1995 – Werkartikel Viviana Chilese Beyer, Marcel: Flughunde. Roman
337
Francesco Aversa Braun, Volker: Der Wendehals. Eine Unterhaltung Francesco Aversa Brussig, Thomas: Helden wie wir. Roman
345
350
Simone Costagli Delius, Friedrich Christian: Der Spaziergang von Rostock nach Syrakus. Erzählung 357 Achim Geisenhanslüke Draesner, Ulrike: gedächtnisschleifen. Gedichte Dominik Schönecker Eich, Clemens: Das steinerne Meer. Roman
363
367
Rainer Barbey Enzensberger, Hans Magnus: Kiosk. Neue Gedichte
373
Achim Geisenhanslüke Forte, Dieter: Der Junge mit den blutigen Schuhen. Roman Michele Sisto Grass, Günter: Ein weites Feld. Roman Winfried Adam Haslinger, Josef: Opernball. Roman Michael Peter Hehl Hettche, Thomas: Nox. Roman
384
391
396
Heribert Tommek Jelinek, Elfriede: Die Kinder der Toten. Roman
402
379
VII
VIII
Inhaltsverzeichnis
Heribert Tommek Jirgl, Reinhard: Abschied von den Feinden. Roman Rainer Barbey Jünger, Ernst: Siebzig verwehrt IV [Tagebücher] Achim Geisenhanslüke Köhler, Barbara: Blue Box. Gedichte
421
Michael Peter Hehl Kracht, Christian: Faserland. Roman
426
409
416
Marja Rauch Lange-Müller, Katja: Verfrühte Tierliebe. [Erzählung] Viviana Chilese Lehr, Thomas: Die Erhörung. Roman
438
441
Eva-Maria Konrad Menasse, Robert: Schubumkehr. Roman, Phänomenologie der Entgeisterung 446 Achim Geisenhanslüke Peltzer, Ulrich: Stefan Martinez. Roman
459
Eva-Maria Konrad Ransmayr, Christoph: Morbus Kitahara. Roman Michael Peter Hehl Schlink, Bernhard: Der Vorleser. Roman
463
470
Achim Geisenhanslüke Schmidt, Kathrin: Flußbild mit Engel. Gedichte
475
Matteo Galli Schulze, Ingo: 33 Augenblicke des Glücks. Aus den abenteuerlichen Aufzeichnungen der Deutschen in Piter [Erzählungen] 478 Christian Steltz Schwanitz, Dietrich: Der Campus. Roman
483
IX
Inhaltsverzeichnis
Simone Costagli Sebald, Winfried G.: Die Ringe des Saturn. Eine englische Wallfahrt
488
Marja Rauch Seiler, Lutz: berührt / geführt. Gedichte. Graphiken von Carmen Schmidt 494 Matteo Galli Sparschuh, Jens: Der Zimmerspringbrunnen. Ein Heimatroman Christian Steltz Zaimoğlu, Feridun: Kanak Sprak. 24 Mißtöne vom Rande der Gesellschaft 501 Personenregister
509
497
Heribert Tommek
Wendejahr 1995 – Einführung 1995, fünfzig Jahre nach Kriegsende und fünf Jahre nach der Wiedervereinigung Deutschlands, erschienen auffällig viele literarische Werke, die später kanonisiert wurden und retrospektiv gesehen exemplarisch stehen für zentrale Tendenzen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. So zum Beispiel: Christian Krachts Faserland, Feridun Zaimoğlus Kanak Sprak, Thomas Brussigs Helden wie wir, Thomas Hettches Nox, Marcel Beyers Flughunde, Reinhard Jirgls Abschied von den Feinden, Christoph Ransmayrs, Morbus Kitahara, Elfriede Jelineks Die Kinder der Toten, Bernhard Schlinks Der Vorleser oder Günter Grassʼ Roman Ein weites Feld, der eine für das Jahr prägende, den deutsch-deutschen Literaturstreit fortsetzende Debatte auslöste. Aber nicht nur in der Prosa, sondern auch in den anderen Gattungen und auf anderen Gebieten gab es wichtige Ereignisse und Veränderungen: Ende 1995 starb Heiner Müller und das postdramatische Theater wandte sich zunehmend den sozialen Geschichten der Gegenwart zu. In der Lyrik hatte sich rund um Durs Grünbein und Thomas Kling ein neues, sprachartistisches GedichtVerständnis durchgesetzt und Grünbein erhielt den Büchner-Preis. Schließlich war Österreich, das 1995 der Europäischen Union beitrat und wegen des zunehmenden Erfolgs der von Jörg Haider angeführten FPÖ unter kritischer Beobachtung stand, Gastland der Frankfurter Buchmesse. Hier präsentierten sich wichtige junge Autoren mit Neuerscheinungen, die die Stärke der österreichischen Gegenwartsliteratur ankündigten, wie zum Beispiel Norbert Gstrein, Kathrin Röggla, Raoul Schrott, Josef Haslinger und Robert Menasse. Ist diese Häufung literarischer ‚Ereignisse‘ zufällig oder ist sie signifikant für die Entwicklung einer Gegenwartsliteratur, die sich endgültig nicht mehr mit den Beschreibungsmustern der „Nachkriegsliteratur“ beschreiben lässt? 25 Jahre nach der Wiedervereinigung und 20 Jahre nach dem literarischen Jahr „1995“ drängt sich die Aufgabe einer literaturgeschichtlichen Einordnung auf. Auf der Grundlage der Beobachtung, dass im besagten Jahr eine Verdichtung literarischer Ereignisse und Werke festzustellen ist, verfolgt der vorliegende Sammelband die These, dass diese Verdichtung für die weitere Entwicklung der Gegenwartsliteratur signifikant war und daher aus literaturwissenschaftlicher Sicht weniger „1989/90“ als vielmehr „1995“ das eigentliche „Wendejahr“ für die neue Formation der Gegenwartsliteratur darstellt. Freilich ist der Begriff „Wendejahr“, versteht man ihn als absolute Zäsur, problematisch. Mit ihm verbunden ist der komplexe Problemzusammenhang einer Geschichtsschreibung der jüngsten Literaturentwicklung, die Frage nach der Möglichkeit einer Epochenzäsur und schließlich nach dem Verhältnis zwi
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Heribert Tommek
schen historischen und literarischen Veränderungen oder anders formuliert: zwischen einer politischen Zeitgeschichte und einer (gegenwarts-)literarischen Zeit.1 In den meisten Literaturgeschichten hat sich mittlerweile die Übernahme der politischen Zäsur 1989/90 durchgesetzt. Argumentiert wird, dass sich mit den politischen Veränderungen notwendigerweise auch die Kultur in Deutschland verändert habe. In der Literatur habe die Wiedervereinigung zu „thematischen und stilistischen Umbrüchen“ und zur „Zusammenführung der beiden deutschen Literaturen“ geführt.2 Dagegen hatte Klaus-Michael Bogdal bereits 1998 diese Zäsur-Setzung und die mit ihr verbundende Annahme einer direkten Auswirkung der Wiedervereinigung auf das literarische Feld in Frage gestellt.3 Die entscheidenden Anfänge der ‚Klimaveränderung‘ der Gegenwartsliteratur sah Bogdal stattdessen bereits in den sozialen und diskursiven Umbrüche seit den sechziger und siebziger Jahren. An anderer Stelle habe ich versucht, diese ‚longue durée‘ der Formation der Gegenwartsliteratur feldanalytisch darzustellen.4 Mit der Fokussierung auf ein einzelnes Jahr – zumal unter dem provozierenden Schlagwort vom „Wendejahr“ – stellt sich die Frage nach dem Verhältnis zwischen einer punktuellen Ereignisgeschichte und einer längerfristigen Strukturgeschichte und damit zwischen diachronen und synchronen Analyseschnitten. Hans Robert Jauß hatte in seiner Literaturgeschichte als Provokation darauf hingewiesen, dass nicht nur die literarische Produktion mit der rezeptionsgeschichtlichen Perspektive in interdependenten Beziehungen stehe, sondern dass es auch möglich sein müsse, die heterogene Vielfalt der gleichzeitigen Werke in äquivalente, gegensätzliche und hierarchische Strukturen zu gliedern und so ein übergreifendes Bezugssystem in der Literatur eines historischen Augenblicks aufzudecken. Daraus ließe sich das Darstellungsprinzip
1 Vgl. hierzu Kai Kauffmann: Ohne Ende? Zur Geschichte der deutschen Gegenwartsliteratur. In: Matthias Buschmeier, Walter Erhart, K. K. (Hg.): Literaturgeschichte. Theorien – Modelle – Praktiken. Berlin, Boston 2014, S. 357–376. 2 Carsten Gansel, Elisabeth Herrmann: „,Gegenwart‘ bedeutet die Zeit einer Generation“ – Anmerkungen zum Versuch, Gegenwartsliteratur zu bestimmen. In: C. G., E. H. (Hg.): Entwicklungen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur nach 1989. Göttingen 2013, S. 7–22, hier S. 14. 3 Klaus-Michael Bogdal: Klimawechsel. Eine kleine Meteorologie der Gegenwartsliteratur. In: Andreas Erb (Hg.): Baustelle Gegenwartsliteratur. Die neunziger Jahre. Opladen 1998, S. 9–31; vgl. auch Heribert Tommek, Klaus-Michael Bogdal (Hg.): Transformationen des literarischen Feldes in der Gegenwart. Sozialstruktur – Medien-Ökonomien – Autorpositionen. Heidelberg 2012. 4 Heribert Tommek: Der lange Weg in die Gegenwartsliteratur. Studien zur Geschichte des literarischen Feldes in Deutschland von 1960 bis 2000. Berlin, Boston 2015; vgl. auch Heribert Tommek: Die Formation der Gegenwartsliteratur. Deutsche Literaturgeschichte im Lichte von Pierre Bourdieus Theorie des literarischen Feldes. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, 2015, H. 40(1), S. 110–143.
Wendejahr 1995 – Einführung
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einer neuen Literaturgeschichte entwickeln, wenn weitere Schnitte im Vorher und Nachher der Diachronie so angelegt werden, daß sie den literarischen Strukturwandel historisch in seinen epochebildenden Momenten artikulieren.5
Die Einordnung der Gegenwartsliteratur, insbesondere diejenige der Literaturkritik, neigt zur Ereignisgeschichte, da es hier eine strukturelle Äquivalenz gibt. Auch in der Literaturwissenschaft, die sich zunehmend für die Wahrnehmungsund Wertungsmuster der Literaturkritik geöffnet hat, ist das ereignisgeschichtliche Paradigma der „Gegenwart“ für die Bestimmung der Gegenwartsliteratur zentral geworden.6 Aber auch im Zuge von ‚anderen‘ Literaturgeschichten, die das problematische Identitäts- und Fortschrittsparadigma der traditionellen Literaturgeschichtsschreibung vermeiden wollen, ist die synchrone Darstellung eines Jahres beliebt geworden. So sprach Hans Robert Jauß von der „Epochenschwelle von 1912“ und berief sich dabei auf Guillaume Apollinaires Gedichte Zone und Lundi Rue Christine7 (zudem entstanden in diesem Jahr auch Rilkes Duineser Elegien und Kafkas Erzählung Der Heizer). Jauß verfolgte keine lineare Literaturgeschichte, sondern er interessierte sich für das Archiv der Vorstellungen und Formen und für den Wandel der internen Leser-Erwartungen im synchronen Schnitt. Dabei arbeitete er mit der Metapher einer „Epochenschwelle“, da diese erlaube, „die Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen in der hermeneutischen Differenz des Noch nicht und Nicht mehr, mithin als fortschreitenden Horizontwandel zu erfassen […].“8 Dagegen wählte Hans Ulrich Gumbrecht in 1926. Ein Jahr am Rand der Zeit ein willkürliches Jahr.9 Gumbrecht, der dem New Historicism nahe steht, strebte hier überhaupt kein kausales und lineares Verstehen mehr an, sondern ihm ging es um einen „Versuch über historische Gleichzeitigkeit“, um ein möglichst direktes ‚Heraufbeschwören‘ der Vergangenheit. Dabei orientierte sich seine Vergegenwärtigung eines historischen Jahres an einem räumlichen, materiellen und konstellativ verstandenen Begriff der „Präsenz“,10 den er nach
5 Hans Robert Jauß: Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft [Auszug]. In: Marja Rauch, Achim Geisenhanslüke (Hg.): Texte zur Theorie und Didaktik der Literaturgeschichte. Stuttgart 2012, S. 133–148, hier S. 144f. 6 Vgl. z. B. Michael Braun: Die deutsche Gegenwartsliteratur. Eine Einführung. Köln, Weimar, Wien 2010. Als zentrale Kriterien der Gegenwartsliteratur nennt Braun „Wandelbarkeit, Zeitgenossenschaft, Zukunftsorientierung“. Die „Literatur der Gegenwart“ sei zugleich „Literatur über die Gegenwart“ (ebd., S. 14 u. S. 15). 7 Hans Robert Jauß: Die Epochenschwelle von 1912. In: H. R. J.: Studien zum Epochenwandel der ästhetischen Moderne. Frankfurt/M. 1989, S. 216–256. 8 Ebd., S. 244. 9 Hans Ulrich Gumbrecht: 1926. Ein Jahr am Rand der Zeit. Frankfurt/M. 2003. 10 Vgl. dann später: Hans Ulrich Gumbrecht: Unsere breite Gegenwart. Frankfurt/M. 2011.
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Heribert Tommek
den Dispositiven „Codes“, „zusammengebrochene Codes“ und „Rahmen“ zu ordnen versuchte. In der Reihe der Versuche synchroner literaturgeschichtlicher Darstellungen ist schließlich die von David E. Wellbery, Gumbrecht und anderen herausgegebene Neue Geschichte der deutschen Literatur zu nennen.11 In der programmatischen Einleitung betont Wellbery den „Zeitkern“ der Kunstwerke als „einzigartige Ereignisse“, die auf die Begegnung mit dem Leser angewiesen seien.12 Er postuliert die Verbindung von „Geschichtlichkeit“ und „Einzigartigkeit“ und bezieht sich dabei auf Walter Benjamins Geschichtsverständnis.13 Auch der vorliegende Band möchte die ‚Präsenz‘ des Jahres 1995 ‚heraufbeschwören‘, aber zugleich möchte er mit der Evokation dieses Jahres die Genese der neuen Formation der Gegenwartsliteratur historisieren. Er ist damit eher mit dem von Matthias Lorenz und Maurizio Pirro herausgegebenen Band Wendejahr 1959? vergleichbar.14 Ausgangspunkt war hier ebenfalls die Häufung maßgeblicher Werke in einem Jahr, hier vor allem in der Prosa mit Günter Grass’ Blechtrommel, Uwe Johnsons Mutmaßungen über Jakob und Heinrich Bölls Billard um halbzehn und in der Lyrik mit Paul Celans Sprachgitter. Die Herausgeber kommen zu einem differenzierten Ergebnis. Es gehe weniger um ein eindeutiges „Wendejahr“ als vielmehr um „[d]ie literarische Inszenierung von Kontinuitäten und Brüchen in gesellschaftlichen und kulturellen Kontexten der 1950er Jahre“, wie es bereits im Untertitel heißt. Trotz der oben genannten Häufung maßgeblicher Prosawerke erweist sich im „Wendejahr 1959“ die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Die diskursive Funktion zeigt sich in der nachträglichen Konstruktion und Selbstinszenierung einer Kontinuität mit der Moderne, gar eines Wiederanschlusses an „Weltliteratur“ (Enzensberger), wobei tatsächlich den Buchmarkt noch traditionalistische Autoren dominierten, die einer vorausgehenden literarischen Zeit angehörten. Auch hier zeigt sich, dass Modernisierungsschübe widersprüchlich und vielfältig sind und stets je nach Gattung, nach Form- und Inhaltsaspekten zu differenzieren sind.
11 David E. Wellbery et al. (Hg.): Eine neue Geschichte der deutschen Literatur. Berlin 2007. 12 Ebd., S. 15. 13 Zur Kritik dieses literaturgeschichtlichen Ansatzes vgl. Martin Huber: Im Tigersprung. David Wellberys Neue Geschichte der deutschen Literatur (http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=12077; Abruf: 12.1.2015); vgl. auch Daniel Fulda: Starke und schwache Historisierung im wissenschaftlichen Umgang mit Literatur. Zur Frage, was heute noch möglich ist – mit einer disziplingeschichtlichen Rückblende. In: Matthias Buschmeier, Walter Erhart, Kai Kauffmann (Hg.): Literaturgeschichte. Theorien – Modelle – Praktiken. Berlin, Boston 2014, S. 101–121. 14 Matthias N. Lorenz, Maurizio Pirro (Hg.): Wendejahr 1959? Die literarische Inszenierung von Kontinuitäten und Brüchen in gesellschaftlichen und kulturellen Kontexten der 1950er Jahre. Bielefeld 2011.
Wendejahr 1995 – Einführung
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Eine vergleichbare, nachträgliche diskursive Inszenierung haben wir für das Jahr 1995 nicht. In der zeitgenössischen Wahrnehmung und auch in der bisherigen Forschung ist bislang keine Rede von einer „Zäsur“.15 Auch der vorliegende Band behauptet keine absolute Zäsur, sondern die Verfestigung wenn nicht einer Struktur, so doch einer Kontur, die sich im Verlauf der neunziger Jahre bis heute als neue Formation der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur bezeichnen lässt. 1995 kulminieren und konvergieren Transformationslinien in einer Art und Weise, dass nicht nur die politische, sondern vor allem die literarische Zeitzählung nicht mehr rückgängig gemacht werden kann. Metaphorisch vergleichen lässt sich das „Wendejahr 1995“ vielleicht mit einem ‚Abdruck‘ im literaturgeschichtlichen Gelände, dessen allgemeine Kontur zwar noch deutliche Merkmale der Formation der „Nachkriegsliteratur“ (insbesondere in der sogenannten „Post-DDR-“, aber auch in der „Post-BRD“-Literatur) und viele ‚unauffällige‘, ‚unbestimmbare‘ oder ‚eigensinnige‘ Profillinien aufweist. Die konstitutive Kontur des ‚Abdrucks‘ weist aber Konstellationen auf, die sich nicht mehr dominant der Formation der Nachkriegsliteratur zuordnen lassen. Der Übergang von der Nachkriegs- zur Gegenwartsliteratur ist freilich ein langer und gradueller. Man muss hier wohl mit Begriffen eines Dominanz-Verhältnisses argumentieren. Mit dem sich demonstrativ gegen die Zäsur der Zeitgeschichte 1989/90 wendenden Begriff des „Wendejahrs“ ist die allgemeine These aufgestellt, dass 1995 in der literarischen Zeitrechnung für den endgültigen ‚Durchbruch‘ der neuen Formation der Gegenwartsliteratur steht. Diese Formation eines strukturellen Dominanzwandels muss induktiv und differenziert, je nach Gattungen, innerliterarischen Funktionen und Diskursbereichen, bestimmt werden. Der folgende Aufsatz versucht die Bandbreite des literarischen Möglichkeitsraumes der neuen Formation abzustecken. Diese ist von einer strukturellen Transformation geprägt, die für einen Dominanzwandel von einer ‚projektiven‘ Nachkriegsliteratur hin zu einer ‚transitiven‘ Gegenwartsliteratur steht.16 Deren institutionellen Grundlagen liegen in einer intensivierten Ökonomisierung, Medialisierung und Digitalisierung des literarischen Feldes.17 Der Sammelband ist das Ergebnis einer dreijährigen Forschungskooperation der Universitäten Regensburg und Ferrara, die durch eine umfassende Finanzierung vom DAAD ermöglicht wurde, wofür an dieser Stelle herzlich gedankt sei. Ihren Abschluss fand die Forschungskooperation in einer Tagung im Oktober
15 Zwei deutsche Literaturgeschichten enden auch mit dem Jahr 1995, wobei sich diese Setzung allein durch das Zeitmaß des „halben Jahrhunderts“ erklärt: Horst Albert Glaser (Hg.): Deutsche Literatur zwischen 1945 und 1995. Eine Sozialgeschichte. Bern u.a. 1997; Jörg Drews (Hg.): Das bleibt. Deutsche Gedichte 1945–1995. Leipzig 1995. 16 Vgl. hierzu den Beitrag von Heribert Tommek im vorliegenden Band. 17 Vgl. hierzu den Beitrag von Matthias Beinlein im vorliegenden Band.
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Heribert Tommek
2013 im Istituto Italiano di Studi Germanici in Rom, wo die meisten der hier vorliegenden Strukturartikel diskutiert wurden. Nach einem einleitenden Aufsatz, der das Spektrum der Schreibweisen im Jahr 1995 und damit die neue Formation der Gegenwartsliteratur zu charakterisieren versucht, folgt ein erster Teil, der 16 Artikel umfasst, die in vier Abteilungen (Erinnerung, Gegenwart, Räume, Genres) jeweils zentrale Strukturmerkmale und Entwicklungslinien in der deutschsprachigen Literatur im Querschnitt des Jahres nachzuzeichnen versuchen. Die vier Abteilungen der Strukturartikel vollziehen eine zwar nicht streng, aber doch sichtbar verbundene analytische Linie: von den Transformationen des Erinnerungsdispositivs (die Konstellation der Opfer-/Täter-Erinnerungen 50 Jahre nach Kriegsende) über die ökonomische, symbolische und mediale Dynamisierung der literarischen Gegenwartsbestimmungen, der synchronen Pluralisierung der Formen im literarischen Raum bis hin zur Performanz in den verschiedenen Genres (im doppelten Sinne von „Kunstgattung“ und „körperlicher Art“). Der zweite Teil enthält 29 Artikel zu ausgewählten Werken, die in unserem Jahr erschienen sind und die Grundlage der induktiven Bestimmung der ‚Profillinien‘ des neuen literarischen ‚Abdrucks‘ in der literarischen Zeitzählung bilden. Die Auswahl der Werke, zu denen im Band Werkartikel enthalten sind, ist das Ergebnis langer Diskussionen über deren Relevanz für übergeordnete Strukturentwicklungen. Bei den Diskussionen traten deutlich die in der deutsch-italienischen Forschungskooperation vertretenen expliziten und impliziten Deutungsmuster zur theoretischen und historischen Einordnung von Literatur zutage. Auch die „Erwartungshorizonte“ des professionellen Lesers, die Wahrnehmungsweisen einer Inlands- und einer Auslandsgermanistik, setzen unterschiedliche Akzente und lesen die Kontur des literaturgeschichtlichen ‚Abdrucks‘ im Detail unterschiedlich. Da über den für die Anfangsrecherche sehr hilfreichen ReclamJahresüberblick hinausgegangen werden sollte,18 musste eine Auswahl getroffen werden. Die vorliegende Auswahl ist das Ergebnis von Konsensbildungen und von unterschiedlichen Wertungen, die nicht weiter vereinheitlicht werden sollten. Die Werkartikel bieten dem Leser Informationen zum Entstehungskontext, zu Inhalt und den zentralen Leitthemen, zur Rezeption sowie eine Auswahlbiographie zum jeweiligen Werk. Für die Unterstützung bei der Korrektur und formalen Einrichtung des Bandes gilt der Dank vor allem Anna-Lena Bock, wie auch Maik Bierwirth und dem De Gruyter-Verlag.
18 Franz Josef Görtz, Volker Hage, Hubert Winkels (Hg.): Deutsche Literatur 1995. Jahresüberblick. Stuttgart 1996.
Wendejahr 1995 – Einführung
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Literaturverzeichnis Bogdal, Klaus-Michael: Klimawechsel. Eine kleine Meteorologie der Gegenwartsliteratur. In: Andreas Erb (Hg.): Baustelle Gegenwartsliteratur. Die neunziger Jahre. Opladen, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 1998, S. 9–31. Braun, Michael: Die deutsche Gegenwartsliteratur. Eine Einführung. Köln, Weimar, Wien: UTB 2010. Drews, Jörg (Hg.): Das bleibt. Deutsche Gedichte 1945–1995. Leipzig: Reclam 1995. Fulda, Daniel: Starke und schwache Historisierung im wissenschaftlichen Umgang mit Literatur. Zur Frage, was heute noch möglich ist – mit einer disziplingeschichtlichen Rückblende. In: Matthias Buschmeier, Walter Erhart, Kai Kauffmann (Hg.): Literaturgeschichte. Theorien – Modelle – Praktiken. Berlin, Boston: De Gruyter 2014, S. 101–121. Gansel, Carsten, Elisabeth Herrmann: „,Gegenwart‘ bedeutet die Zeit einer Generation“ – Anmerkungen zum Versuch, Gegenwartsliteratur zu bestimmen. In: C. G., E. H. (Hg.): Entwicklungen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur nach 1989. Göttingen: V&R unipress 2013, S. 7–22. Glaser, Horst Albert (Hg.): Deutsche Literatur zwischen 1945 und 1995. Eine Sozialgeschichte. Bern u.a.: Paul Haupt 1997. Görtz, Franz Josef, Volker Hage, Hubert Winkels (Hg.): Deutsche Literatur 1995. Jahresüberblick. Stuttgart: Reclam 1996. Gumbrecht, Hans Ulrich: 1926. Ein Jahr am Rand der Zeit. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2003. Gumbrecht, Hans Ulrich: Unsere breite Gegenwart. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2011. Huber, Martin: Im Tigersprung. David Wellberys Neue Geschichte der deutschen Literatur. http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=12077; Abruf: 12.1.2015. Jauß, Hans Robert: Die Epochenschwelle von 1912. In: H. R. J.: Studien zum Epochenwandel der ästhetischen Moderne. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1989, S. 216–256. Jauß, Hans Robert: Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft [Auszug]. In: Marja Rauch, Achim Geisenhanslüke (Hg.): Texte zur Theorie und Didaktik der Literaturgeschichte. Stuttgart: Reclam 2012, S. 133–148. Kauffmann, Kai: Ohne Ende? Zur Geschichte der deutschen Gegenwartsliteratur. In: Matthias Buschmeier, Walter Erhart, K. K. (Hg.): Literaturgeschichte. Theorien – Modelle – Praktiken. Berlin, Boston: De Gruyter 2014, S. 357–376. Lorenz, Matthias N., Maurizio Pirro (Hg.): Wendejahr 1959? Die literarische Inszenierung von Kontinuitäten und Brüchen in gesellschaftlichen und kulturellen Kontexten der 1950er Jahre. Bielefeld: transcript 2011. Tommek, Heribert, Klaus-Michael Bogdal (Hg.): Transformationen des literarischen Feldes in der Gegenwart. Sozialstruktur – Medien-Ökonomien – Autorpositionen. Heidelberg: Synchron 2012. Tommek, Heribert: Der lange Weg in die Gegenwartsliteratur. Studien zur Geschichte des literarischen Feldes in Deutschland von 1960 bis 2000. Berlin, Boston: De Gruyter 2015. Tommek, Heribert: Die Formation der Gegenwartsliteratur. Deutsche Literaturgeschichte im Lichte von Pierre Bourdieus Theorie des literarischen Feldes. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 2015, H. 40(1), S. 110–143. Wellbery, David E. et al. (Hg.): Eine neue Geschichte der deutschen Literatur. Berlin: University Press 2007.
Heribert Tommek
Schreibweisen der Gegenwartsliteratur im Querschnitt des Jahres 1995
Der folgende Versuch, das Spektrum der Schreibweisen im Querschnitt von 1995 auszuloten, zielt darauf, die Struktur des literarischen Möglichkeitsraums herauszuarbeiten. Die Leitthese lautet, dass sich in unserem Jahr ein struktureller Wandel der literarischen Praxis und ihrer Anerkennung abzeichnet. Dieser Wandel verweist auf eine Veränderung der Reproduktionslogik des literarischen Feldes. In den folgenden Ausführungen kann das Theater nicht berücksichtigt werden.1 Dafür wird aber ein kurzer Seitenblick auf die französische Gegenwartsliteratur geworfen.
Die neue Anerkennung der Gegenwartsliteratur Nach Enzensbergers Schlagwort vom „Tod der Literatur“ 1968, d. h. von einer gesellschaftlich nicht mehr gerechtfertigten Hochliteratur, und dann besonders in den achtziger Jahren gab es häufig Debatten über die Krise der deutschen Gegenwartsliteratur. 1995 erschienen zwei Essay-Bände, die sie verteidigten, dies aber in gegensätzlicher Weise: auf der einen Seite Leselust. Wie unterhaltsam ist die neue deutsche Literatur? vom Literaturkritiker und damaligen Lektor für Gegenwartsliteratur beim Fischer-Verlag Uwe Wittstock, auf der anderen Seite Deutschsprachige Gegenwartsliteratur. Wider ihre Verächter, herausgegeben vom Suhrkamp-Lektor Christian Döring.2 Wittstocks zentraler Essay „Für die Lust an der Literatur“ geht auf einen 1993 veröffentlichten Artikel zurück, der die sogenannte „Lesbarkeitsdebatte“ auslöste.3 Darin betont Wittstock, dass es nicht darum gehe, das Niveau der Literatur zu senken. Es handle sich vielmehr darum,
1 Vgl. hierzu den Beitrag von Franziska Schößler und Hannah Speicher im vorliegenden Band. 2 Uwe Wittstock: Leselust. Wie unterhaltsam ist die neue Literatur? Ein Essay. München 1995, Christian Döring (Hg.): Deutschsprachige Gegenwartsliteratur. Wider ihre Verächter. Frankfurt/M. 1995; vgl. hierzu auch den Beitrag von Marja Rauch im vorliegenden Band. 3 Der Essay „Für die Lust an der Literatur. Ein Plädoyer“ (Wittstock: Leselust, S. 7–35) ist eine überarbeitete Fassung von „Ab in die Nische? Über neueste deutsche Literatur und was sie vom Publikum trennt“, erschienen in: Neue Rundschau 104/3 (1993); zur „Lesbarkeitsdebatte“ vgl. Andrea Köhler, Rainer Moritz (Hg.): Maulhelden und Königskinder. Zur Debatte über die deutschsprachige Gegenwartsliteratur. Leipzig 1998; Uwe Wittstock: Nach der Moderne. Essay zur deut
Schreibweisen der Gegenwartsliteratur im Querschnitt des Jahres 1995
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daß ein literarisch ernst zu nehmendes Buch neben großen ästhetischen Qualitäten auch Unterhaltungsqualitäten haben sollte. Es geht darum, daß die künstlerischen Ansprüche verschmelzen mit dem Anspruch, dem Leser Vergnügen zu bereiten.4
Die angestrebte neue ‚lesbare‘ und unterhaltsame Literatur mit ästhetischen Qualitäten wird als post- oder nachmoderne Erzählkunst verstanden. Diese habe sich laut Wittstock von den „Verbots- und Gebotstafeln“ der Ästhetik der Moderne befreit.5 Vorbilder sind für ihn Autoren literarischer Bestseller wie Sten Nadolny, Patrick Süskind oder Robert Schneider. Zur symbolischen Abwertung der Moderne und der Forderung nach einer unterhaltsamen Literatur kommt die Verabschiedung einer politisch engagierten und moralisch mahnenden Literatur hinzu. Die Absetzung der alten und die Legitimation der neuen Literatur erfolgten nach der Wende allgemein unter dem Stichwort vom „Ende der Ideologien“. Die Kehrseite der vermeintlichen Befreiung von allen Ideologien bilden die wachsenden Anforderungen des literarischen Marktes.6 Die Forderungen nach „Unterhaltsamkeit“ und „Lesbarkeit“ der Literatur decken sich – das ist nicht schwer zu erkennen – mit den Interessen einer journalistischen Literaturkritik und einer auf Absatz bedachten Verlagspolitik. Das ambivalente Credo, einerseits an ein „literarisch ernst zu nehmendes Buch“ mit „großen ästhetischen Qualitäten“, also an einem Hochliteratur-Begriff festzuhalten, andererseits die journalistische illusio (Bourdieu) einer allgemeinen, allein durch „Leselust“ und „Unterhaltungsqualitäten“ gewährleisteten Zugänglichkeit zu reproduzieren, ist nicht nur rezeptionsästhetisch, sondern auch produktionsästhetisch für die neue Gegenwartsliteratur charakteristisch. Was einst mit dem doppelt kodierten postmodernen Roman begann, perfektionierte später Daniel Kehlmann mit seinem „magischen Realismus“: das Spiel mit einem ästhetisch ambivalenten Literaturbegriff zwischen einzigartiger „Genieästhetik“ und allgemeiner Zugänglichkeit.7 In dem mit Vorliebe von Großkritikern wie Reich-Ranicki, Wittstock oder Kehlmann verwendeten Begriff des „Meisterwerks“ kommt diese Kompromissstellung zwischen E- und U-Kultur zum Ausdruck. Tatsächlich wird damit ein Mittelbereich im literarischen Feld bezeichnet, den Thomas Mann schon zu
schen Gegenwartsliteratur in zwölf Kapiteln über elf Autoren. Göttingen 2009 (hier S. 199, Anm. 2); hinzu kommt noch ein zweites Plädoyer Wittstocks: „Für den gewöhnlichen Leser“ (Wittstock: Leselust, S. 155–172). 4 Wittstock: Leselust, S. 22. 5 Vgl. Wittstock: Nach der Moderne, S. 8. 6 Vgl. hierzu den Beitrag von Matthias Beilein im vorliegenden Band. 7 Vgl. Daniel Kehlmann: Lob. Über Literatur. Reinbek b. Hamburg 2010.
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Zeiten der Neuen Sachlichkeit auf den Begriff des „Gutgemacht-Mittleren“ gebracht hatte.8 Die Vermittlung zwischen der „Aura“ des Kunstwerks und der „Handwerklichkeit“, d. h. der verfahrenstechnischen Reproduzierbarkeit des Schreibens, zwischen Kunstautonomie und literarischem Markt, nimmt Mitte der neunziger Jahre eine neue Qualität an. Sie steht für eine marktorientierte Professionalisierung, die von einer kunstgerechten Autonomisierung zu unterscheiden ist. Die Professionalisierung kommt darin zum Ausdruck, dass das Schreiben zunehmend als erlernbar gilt. Exemplarisch steht hierfür die Wiedereröffnung des „Deutschen Literaturinstituts“ in Leipzig 1995. Das restrukturierte Literaturinstitut orientiert sich am angelsächsischen Vorbild der Creative-Writing-Seminare. Es knüpft dabei auch an die Vorstellungen einer Professionalisierung an, die bereits im „Berliner Modell zur Autorenausbildung“ in den 1970er Jahren ausgearbeitet wurden.9 Wer das Studium an dem von Hans-Ulrich Treichel, Josef Haslinger und Michael Lentz geleiteten Institut erfolgreich absolviert hat, wie z. B. Juli Zeh oder Nora Bossong, ist ein(e) Schriftsteller(in) mit Diplomabschluss und weniger ein Dichter aus Berufung. Im Hildesheimer Studiengang „Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus“ verfolgt man die Anbindung an die neuen kreativen Berufe noch direkter.10 Gleichwohl wird – mehr noch in Leipzig als in Hildesheim – an den Werten einer literarischen Autonomie, an Autor- und Werkbegriff, festgehalten, wie Norbert Hummelt, ehemaliger Dozent am Institut, betont. In den Seminaren stehe das „auf persönlicher Autorschaft beruhende Schreiben von Romanen, Erzäh
8 Thomas Mann: Romane der Welt. „Geleitwort“ [1927], zit. n. Anton Kaes (Hg.): Weimarer Republik. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1918–1933. Stuttgart 1983, S. 288. Vgl. Kerstin Barndt: Sentiment und Sachlichkeit. Der Roman der Neuen Frau in der Weimarer Republik. Köln, Weimar, Wien 2003, S. 40; vgl. zum Konzept eines Mittelbereichs im literarischen Feld zwischen eingeschränkter und massenhafter Produktion Heribert Tommek: Der lange Weg in die Gegenwartsliteratur. Studien zur Geschichte des literarischen Feldes in Deutschland von 1960 bis 2000. Berlin, Boston 2015. 9 Vgl. Norbert Hummelt: Schreiben lernen. Der Leipziger Weg, in: Heinz Ludwig Arnold, Matthias Beilein (Hg.): Literaturbetrieb in Deutschland. München 2009, S. 59–71, hier S. 68. 10 In dem von Hanns-Josef Ortheil geleiteten Hildesheimer Studiengang hat das Erlernen des Schreibens eine noch breitere, berufsbildende Funktion. Es gilt als „Schlüsselqualifikation“ für die „Benutzer der neuen Medien“, wie es in der Studieninformation zum Diplom-Studiengang „Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus“ heißt (zit. n. ebd., S. 68). Aus der Selbstdarstellung sind die neuen, ökonomisierten und medialisierten Rahmenbedingungen für literarisches Schreiben ablesbar: „Es werden Techniken des literarischen und kulturjournalistischen Schreibens vermittelt. Verbunden wird dies mit der Vermittlung umfassender Kenntnisse der Medientheorie und der Entwicklung des Mediensystems. Weiterhin wird in die Theorie und Praxis der Kulturbeobachtung und Kulturreflexion, der Kulturpolitik und des Kulturmanagements eingeführt“ (www.uni-hildesheim.de; Abruf: 28.7.2014).
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lungen und Gedichten deutlich vor den neuen medialen Formen“.11 Das sich in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre durchsetzende Verständnis, literarisches Schreiben sei ein erlernbares, ‚gutes Handwerk‘ plus ein unbestimmter Rest ‚Genie‘, korrespondiert mit Wittstocks Forderung nach einer unterhaltsamen Literatur mit ästhetischem Anspruch wie auch mit den Poetik-Vorlesungen und -Dozenturen, die seit der zweiten Hälfte der neunziger Jahre wie Pilze aus dem Boden schießen.12 Auch der von Döring herausgegebene Band verteidigt die Gegenwartsliteratur „wider ihre Verächter“, wie es im Untertitel heißt. Mit den „Verächtern“ sind nun aber diejenigen wie Wittstock gemeint, die fordern, Literatur habe die „Leselust“ zu befördern.13 Einer Literaturkritik, die den Unterhaltungswert entdeckt, wird eine an Walter Benjamin orientierte kontemplative Kritik entgegengestellt. Dieser geht es um eine ‚Versenkung‘ in die Texte und um die so zu gewinnende Erkenntnis.14 In der Auseinandersetzung um die neue Anerkennung der Gegenwartsliteratur stehen sich folglich mit Wittstock und Döring exemplarisch zwei Positionen gegenüber: Die eine plädiert für die Öffnung für den Markt unter Beibehaltung der Idee vom ‚Meisterwerk‘, die andere für die Behauptung eines kunstautonomen Raums. Damit ist das Spektrum für die Auseinandersetzungen um die Definition der neuen Formation der Gegenwartsliteratur abgesteckt. Im Vorwort stellt Döring die Frage, „ob es kaum noch nennenswerte Bücher, zumal jüngerer Autoren, den Gradmessern literarischer Zukunft, gebe“, und ob „so wenig Anfang wie noch nie“ sei?15 Mit der Frage nach dem „Anfang“ und den „Gradmessern literarischer Zukunft“ ist die zeitliche Bestimmung der Gegenwartsliteratur angesprochen. Mit der Ordnung der Zeit ist aber die Ordnung des Schreibens verbunden. An dieser Stelle bietet sich ein Seitenblick auf die französischen Verhältnisse an. Ein signifikativer Wandel hat sich hier bereits im Übergang zu den achtziger Jahren vollzogen – symptomatisch steht hierfür das Ende der avantgardistisch-poststrukturalistischen Zeitschrift Tel quel 1982. Laut Dominique Viart zeichnet sich die neue französische Literatur dadurch aus, dass sie nicht mehr auf eine programmatisch umzusetzende literarische Zukunft aus-
11 Hummelt: Schreiben lernen, S. 69. 12 Vgl. Matteo Galli: The Artist is Present. Das Zeitalter der Poetikvorlesungen. In: Merkur (2014), H. 1, S. 61–65. 13 „Gegen die Gebildeten unter ihren Verächtern muß mittlerweile an Literatur verteidigt werden, daß sie Literatur ist, daß ihre Urheber sich nicht als ‚Lesefutterknechte‘ (Peter Handke) verstehen“ (Döring: Deutschsprachige Gegenwartsliteratur, S. IX). 14 Vgl. ebd., S. VIII u. S. XIII. 15 Ebd., S. XII.
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gerichtet sei.16 Wie Wittstock für die deutsche Literatur behauptet er für die französische, dass die ästhetischen Imperative der Moderne verabschiedet worden seien. Viart spricht von einem Wandel vom „projet“ zum „trajet“, von einer programmatischen Literatur hin zu einer, die erst im Vollzug entstehe und dabei ihr Werden reflektiere. Entsprechend bestimmt er die französische Gegenwartsliteratur als eine „littérature transitive“: eine Literatur, die sich mit dem literarischen Erbe nicht mehr programmatisch konfrontiere, um eine neue Epoche auszurufen, sondern je nach Interesse konsultiere („revisiter“).17 An die Stelle des „Projekts“ der Moderne, für die einst die Manifeste der klassischen Avantgarde standen, seien daher verschiedene Arten einer Rückkehr getreten, die neue Genres ausgebildet haben: „retours au sujet“ in den Romanen der „autofiction“, „retours au réel“ in den neuen Formen eines Zeit- und Gesellschaftsromans, „retours à l’Histoire“ in den neuen Blickweisen auf Krieg und Shoah, und insgesamt ein „retour au récit“, eine neue Lust an Fiktionalität und Narrativität.18 Diese Stichwörter sind auch aus dem deutschen Kontext bekannt: Rückkehr des Autors, Rückkehr des Erzählens, Rückkehr der sozialen Realitäten, neuer Realismus. Die charakteristischen Merkmale der ‚nicht-ideologischen‘ Gegenwartsliteratur nach 1989/90 sind vielfach in der Literaturkritik wie auch in der Literaturwissenschaft diskutiert worden. Um nun einen Schritt weiterzukommen, wird der Versuch unternommen, den strukturellen Wandel der Schreibweisen über ihre Zeitordnung zu bestimmen. Als Parameter bietet sich die Opposition zwischen literarischer und sozialer Zeit an. Wie unterscheiden sich diese Zeitbestimmungen? Die Ausgangsüberlegung ist diejenige, die für den vorliegenden Band grundlegend ist, nämlich, dass die Zeit der Literatur eine andere ist als die der politischen Zeitgeschichte. Aus der spezifischen literarischen Zeitzählung generiert sich die Literaturgeschichte. Es waren vor allem die formalästhetischen Neuerungen, die seit der Autonomieästhetik und besonders seit der Moderne um 1900 literarisch ‚Epoche‘ gemacht haben. Seit den sechziger Jahren fällt es aber zunehmend schwer, eine genuin literarische Zeitzählung anzugeben. So steht die soziale Zeit für heteronome oder neutraler ausgedrückt: kontextuelle Einflüsse der gesellschaftlichen Entwicklung. Selbstverständlich: Schon die Entstehung der Autonomieästhetik resultierte aus einer Konfrontation mit der sozialen Zeit und
16 Dominique Viart: Quel projet pour la littérature contemporaine? (Online-Publikation auf Publie.net, 2008); vgl. hierzu auch folgende Publikationen von Viart: D. V. (Hg.): Nouvelles écritures littéraires de l’Histoire. Paris 2009; Le roman français au XXe siècle. Paris 2011; D. V., Laurent Demanze (Hg.): Fins de la Littérature, Tome 2. Historicité de la littérature contemporaine. Paris 2012. 17 Viart: Quel projet pour la littérature contemporaine? 18 Vgl. Viart: Le roman français au XXe siècle, S. 149–178.
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konkret aus einer Abwehr des literarischen Marktes. Daraus wird ersichtlich, dass literarische und soziale Zeit nicht unabhängig voneinander verlaufen, sondern von Anfang an in einem Übersetzungsverhältnis stehen. In der neuen Gegenwartsliteratur ist aber die Art und Weise der Vermischung ästhetischer, technisch-medialer und ökonomischer Ordnungen von neuer Qualität. Im horizontalen, nicht mehr dem Paradigma der ästhetischen Moderne verpflichteten Austausch zwischen literarischer und sozialen Zeit entstehen neue Ästhetiken, wie z. B. die der popkulturellen Oberflächen, der Intermedialität und die unterschiedlichen Ästhetiken eines neuen Realismus. Insgesamt scheint es eine Korrelation zwischen dem Verhältnis von literarischer und sozialer Zeit einerseits und dem von literarischer Selbstbezüglichkeit und außerliterarischer Referentialität, von Arbeit an der literarischen Form und gesellschaftlicher Zirkulation des Stoffes andererseits zu geben.
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Im Folgenden wird versucht, das Spektrum der Schreibweisen zwischen literarischer und sozialer Zeit mit Fokus auf das Jahr 1995 anhand von vier Positionen abzustecken: 1. sprachexperimentellen Schreibweisen, 2. Schreibweisen einer allegorischen Moderne und Postmoderne, 3. ästhetischem Realismus oder einer Unterhaltungsliteratur mit ästhetischem Anspruch, 4. metonymischem Realismus oder einer Unterhaltungsliteratur mit Anspruch auf einen inhaltlichen Neuigkeitswert. 1. Sprachexperimentelle und -reflexive Schreibweisen treten noch am ehesten das Erbe einer modernistischen Avantgarde an, auch wenn sie sich nicht mehr explizit als programmatisch-avantgardistisches Projekt verstehen. Hier zählt die literarische Zeit als ästhetische Gesetzeskraft. Oberstes Ziel des Schreibens ist es – nach einem Wort Friederike Mayröckers –, über die Sprache „einer poetischen Wahrheit gerecht zu werden“.19 Mitte der neunziger Jahre ist die Neubelebung der literarischen Zeit, die sprachreflexive Stärkung einer kunstautonomen Position, insbesondere in der Lyrik zu beobachten.20 Hermann Korte hat entsprechend von einer „Rückkehr in den Raum der Gedichte“ gesprochen.21 Thomas Klings Bestim19 Friedericke Mayröcker: Magische Blätter. Frankfurt/M. 1983, S. 30. 20 Vgl. hierzu den Beitrag von Maren Jäger im vorliegenden Band. 21 Hermann Korte: Zurückgekehrt in den Raum der Gedichte. Deutschsprachige Lyrik der 1990er Jahre. Mit einer Auswahlbibliographie. Münster, Hamburg, London 2004.
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mung des neuen Gedichts als „Sprach-Installation“ und Durs Grünbeins Poetik eines „Schreibens am Schnittpunkt sehr vieler Stimmen“ sind die Taktgeber der neuen lyrischen Zeit. Die sprachexperimentelle Lyrik tritt mit dem Anspruch auf, das gesellschaftspolitische Gedicht der Gruppe 47 und das Befindlichkeitsgedicht der Neuen Subjektivität – das, laut Kling, „der Sprache gegenüber eine Frechheit“ war22 – in die Vergangenheit zu verabschieden. Die Erneuerung erfolgt über eine sprachreflexive Auseinandersetzung mit den literarischen Traditionen der Moderne unter Einbezug ihrer historischen, medialen und epistemologischen Bedingungen. Die vermeintliche „Dioskuren“-Einheit zwischen Kling und Grünbein weist 1995 bereits einen deutlichen Riss auf. Während Klings Lyrik Celans Poetik einer „‚Vielstelligkeit des Ausdrucks‘“ weiterführt,23 ist in Grünbeins Band Falten und Fallen (1994) bereits eine Schließung und Wendung zur auktorialen Souveränität zu beobachten. Nicht der avantgardistische Kling, sondern der in wachsendem Maße traditionalistische Grünbein erhält den Büchner-Preis. Doch unter den lyrischen Neuerscheinungen stechen insbesondere diejenigen heraus, die, wie Klings Lyrik, für ein konstruktivistisch-artistisches Sprachbewusstsein stehen. Barbara Köhlers [→] Blue Box sei exemplarisch angeführt. Dem Gedichtband ist ein Zitat aus Wittgensteins Blauem Buch vorangestellt, wodurch er sich in die Traditionslinie des sprach- und erkenntniskritischen Wiener Kreises stellt. Gleich das erste Gedicht thematisiert die sprachliche Fragmentierung und Dialogisierung des Ichs: „Ich rede mit der Sprache, manchmal antwortet sie. Manchmal antwortet auch jemand anders. Ich rechne nicht mehr damit, verstanden zu werden. Mathematik ist nicht mein Fach.“24 Sprache wird hier zum eigentlichen Adressaten der selbstreflexiven poetischen Rede. Wie Kling bezieht Köhler die mediale Verfasstheit der Weltwahrnehmung in die Textherstellung ein – dies ganz im Unterschied zu Enzensberger, der im gleichen Jahr in Altes Medium (aus [→ Kiosk]) das Gedicht von den neuen Medien demonstrativ abgrenzt.25 Köhler arbeitet dagegen in Blue Box mit einem „filmtechnische[n] Verfahren zur Schaffung künstlicher Effekte“, wie es im Klappentext heißt. Dem neuen, sprachexperimentellen, räumlich-konstellativen und
22 Thomas Kling: Itinerar. Frankfurt/M. 1997, S. 9. 23 Ebd., S. 26. 24 Barbara Köhler: Blue Box. Gedichte. Frankfurt/M. 1995, S. 9 („Ich übe das Alleinsein“). 25 Hans Magnus Enzensberger: Kiosk. Neue Gedichte. Frankfurt/M. 1995, S. 96f. („Altes Medium“); vgl. hierzu Achim Geisenhanslüke: Altes Medium − Neue Medien. Zur Lyrik der neunziger Jahre. In: Clemens Kammler, Torsten Pflugmacher (Hg.): Deutschsprachige Gegenwartsliteratur seit 1989. Zwischenbilanzen – Analysen – Vermittlungsperspektiven. Heidelberg 2004, Bd. 1, S. 37–49.
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medien-reflexiven Kunstgedicht ist hier auch eine körper- und genderpolitische Reflexion eingeschrieben. Ähnliches gilt für Ulrike Draesners Band [→] gedächtnisschleifen. In der Prosa findet sich der stärkste Ausdruck einer sprachexperimentellen und reflexiven Schreibweise in Elfriede Jelineks [→] Die Kinder der Toten. Der Roman stellt eine Auseinandersetzung mit dem Gedächtnis der Holocaust-Opfer unter den medialisierten und politischen Bedingungen des zeitgenössischen Österreich dar. Der sich über 667 Seiten erstreckende Roman verläuft in einer zeitlichen und inhaltlichen ‚Falte‘ zwischen einem Busunglück am Anfang und einer Schlamm-Mure am Ende, die die Bergpension samt ihrer Bewohner unter sich begräbt. Im Zentrum des Schreibens stehen bei Jelinek kontinuierliche Metamorphosen in einer sprachlichen Assoziationslogik. Durch intertextuelle Verfahren werden Subjektpositionen zusammengesetzt und wieder verflüssigt und gespiegelt. Auch hier reflektiert die sprachliche Bewegung die geschlechtlichen, gesellschaftlichen und medialen Bedingungen einer ‚flachen‘ Subjektkonstitution. Das für Jelineks Poetik zentrale Kleider-Motiv verweist auf eine mediale Auferstehung der Opfer in der alltagsmythologischen Bildlichkeit und Sprachlichkeit der Täter-Nachfahren. Das allegorische Verfahren zielt hier nicht auf die barocke Tiefenstruktur eines Memento mori, sondern auf eine programmatische Ästhetik der „Seichtheit“, der sprachlichen Oberflächen.26 Die Allegorese der textuellen Metamorphosen arbeitet mit horizontalen Erinnerungs- und Repräsentationstechniken der „Falte“ und der „Faltung“.27 Die semiotische ‚Einfaltung‘ der sozialen Zeit, ihrer Diskurse und Alltagsmythologien (Österreichs Selbstmythologisierung und seine Verdrängung der Vergangenheit), zielt auf eine Entleerung, Verflüssigung und Auflösung von Subjektidentitäten mit den Mitteln der Sprachkunst. Jelineks Technik der intertextuell und interdiskursiv verschränkten Sprachflächen kommt hier zur radikalen Ausführung. 2. Schreibweisen einer allegorischen Moderne und Postmoderne stehen für eine weitergeführte Moderne, die ihre eigenen Aporien reflektiert. 1995 sind noch theoriegeleitete Schreibweisen präsent, die auf die postmodernen achtziger Jahre zurückverweisen und als solche – wie sich in der Retrospektive zeigt – ästhetisch ‚altern‘. Interessanterweise finden sich die Ausläufer eines poetologischen Erzählens vor allem bei Autoren aus Österreich und der ‚Post-BRD‘. Ihr ‚angestrengtes‘, theoriegeleitetes Erzählen weist aber bereits eine Mischform zwischen modernistischem Kunstanspruch und neuem Erzählen der Geschichte auf. Exempla26 Vgl. Elfriede Jelinek: Ich möchte seicht sein. In: Christa Gürtler (Hg.): Gegen den schönen Schein. Texte zu Elfriede Jelinek. Frankfurt/M. 1990, S. 157–161. 27 Vgl. Juliane Vogel: „Keine Leere der Unterbrechung“ – Die Kinder der Toten oder der Schrecken der Falte. In: Modern Austrian Literature 39/3-4 (2006), S. 15–26.
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risch sei Thomas Hettches [→] Nox-Roman angeführt, der der Erzählung von der ‚magischen‘ Nacht des Mauerfalls als kollektives, sado-masochistisches Körpergedächtnis eine poetologische Rahmung voranstellt, die Barthes’ und Foucaults Schlagwort vom „Tod des Autors“ literarisch direkt umzusetzen versucht.28 Auch in Österreich ‚überleben‘ modernistische, von einer programmatischen Theorie-Reflexion getragene Schreibweisen, die einen avancierten Kunstanspruch und zugleich eine neue Erzählbarkeit der Welt zum Ausdruck bringen. Ein Beispiel hierfür ist Robert Menasses Roman [→] Schubumkehr. Als Teil einer Trilogie der Entgeisterung verfolgt er das Ziel, „die gegenwärtige Welt mittels avancierter literarischer Verfahren in ihrer Totalität narrativ einzufangen und im Hegelschen Sinne ‚aufzuheben‘“.29 Menasses Schreibweise nimmt daher eine „Zwischenposition des mehrfach codierten ‚hermetischen Realismus‘“ ein:30 Diese liegt zwischen einerseits dem deutschen literarischen Feld, das sich immer mehr für die heteronomen Forderung der marktorientierten Literaturkritik nach einer neuen ‚Lesbarkeit‘ öffnet, und andererseits dem österreichischen Feld, in dem der autonome Pol eines avancierten Kunstanspruchs noch stärker präsent ist.31 Ähnliches gilt für Christoph Ransmayrs Schreibweise in [→] Morbus Kitahara. Sie stellt ebenfalls eine Kompromissfigur dar: zwischen einer ästhetischen Reflexion und einer neuen, erzählhandwerklich ‚gut gemachten‘ Erzählkunst. Wie beim postmodernen Bestseller-Roman allgemein, kann Morbus Kitahara in seiner doppelten, reflexiven Kodierung entziffert werden (etwa im Motiv des „fleckigen Sehens“), er muss es aber nicht. „Leselust“ erzeugt er auch bei einer einfachen, Realismus und Phantastik verbindenden Lektüre. Die postmoderne Schreibweise schlägt die Brücke zur neuen Erzählbarkeit der Welt. Im Verhältnis von Reflexivität und Erzählbarkeit wird der Schwerpunkt zunehmend auf Letzeres verlagert. Dies gilt auch für Schreibweisen einer allegorischen Moderne, die das Erzählen wieder ernst nehmen. W. G. Sebalds [→] Die Ringe des Saturn und Dieter Fortes [→] Das Haus auf meinen Schultern sind hierfür markante Beispiele. Beide Romane knüpfen an die großen Erzähltraditionen des
28 Ein weiteres Beispiel für eine theoriegeleitete, sich in die Tradition der Moderne stellende Reflexion ist der ‚Post-BRD‘- und Berlin-Roman [→] Stefan Martinez von Ulrich Pelzer, der die Zeitstruktur aus Joyces Ulysses und Erzählverfahren von Alfred Döblins Alexanderplatz aufgreift: „Zwei Tage im Leben eines jungen Mannes, der seine Stadt mit all ihren Möglichkeiten bewohnt“, heißt es hier im Klappentext. 29 Verena Holler: Positionen – Positionierungen – Zuschreibungen. Zu Robert Menasses literarischer Laufbahn im österreichischen und deutschen Feld. In: Markus Joch et al. (Hg.): Mediale Erregungen? Autonomie und Aufmerksamkeit im Literatur- und Kulturbetrieb der Gegenwart. Tübingen 2009, S. 169–187, hier S. 181. 30 Ebd. 31 Vgl. hierzu auch den Beitrag von Winfried Adam im vorliegenden Band.
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europäischen Romans an, sie tragen in sich das epische Narrativ der Quête. Die eigentlichen Akteure sind hier das Erzählen und das Erinnern.32 Ihr Strukturprinzip ist von der Erfahrung des Todes geprägt, wodurch das Erzählen von Lebenslinien wieder möglich und an Individuen rückgebunden wird. Maßgebliche Modelle für die Schreibweise einer allegorischen Moderne sind Walter Benjamins Thesen zur Geschichte, sein Essay „Der Erzähler“ und seine Allegorie-Bestimmung im Trauerspiel-Buch.33 Da nach diesem Narrativ die Entwicklung der Menschheit gleichbedeutend ist mit einer Verfallsgeschichte, schlägt hier die Zivilisationsgeschichte in eine „Naturgeschichte der Zerstörung“ um, wie Sebald später im Zusammenhang mit der Luftkrieg-Debatte öffentlichkeitswirksam formuliert hat.34 Die Einbettung in die Naturgeschichte ist ein Gestaltungsmittel der Zeitlichkeit, das die soziale Zeit zugleich transzendiert. Sie wird zur Suche nach „ewig wiederholten Lebensmustern“, wie es Forte im zunehmend zerfledderten „Musterbuch“ der Seidenweber-Familie Fontana versinnbildlicht.35 Sebalds räumliche Pilgerreise im Zeichen des Saturn, der Melancholie, ist schließlich ein Narrativ der kontemplativen Versenkung in die allegorische Zeichenstruktur der von Verfall und Tod geprägten Zivilisation. Die Erfassung der historischen Realien zielt auf die Lektüre ihrer allegorischen Tiefensignatur. Der Einbezug von Fotos lässt sich als modernisierte Emblematik verstehen, die auf transzendente Sinnstrukturen in einer sinnentleerten Katastrophenzeit der zivilisatorischen Zerstörung verweist. Eine andere Schreibweise, die ebenfalls auf den Mustern einer allegorischen, schicksalhaften Moderne basiert, findet sich in Reinhard Jirgls Roman [→] Abschied von den Feinden. Grundlage ist hier ein sprach- und kulturphilosophischer Ansatz, der sich im Zeichen Nietzsches und Foucaults als Genealogie einer Sprache der zivilisationstechnologischen Macht versteht. Jirgl geht es um eine Notation, die den bildmateriellen, körperlich-allegorischen Charakter der Sprache zum Ausdruck bringt. Die experimentelle, ‚alphanumerische‘ Schreibform, die bei vielen Lesern Befremden ausgelöst hat, erläutert der Autor programmatisch im
32 Vgl. hierzu den Beitrag von Achim Geisenhanslüke im vorliegenden Band. 33 Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte. In: W. B.: Gesammelte Schriften (= GS). Hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser. Bd. I,2. Frankfurt/M. 1991, S. 691–704; Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows. In: GS, Bd. II,2, S. 438–465; Ursprung des deutschen Trauerspiels. In: GS, Bd. I,1, S. 203–430. 34 W. G. Sebald: Luftkrieg und Literatur. Mit einem Essay zu Alfred Andersch. München, Wien 1999. 35 Vgl. Klaus-Michael Bogdal: Erhofftes Wiedersehen. Dieter Fortes Romantrilogie Das Haus auf meinen Schultern. In: Günter Helmes et al. (Hg.): Literatur und Leben. Anthropologische Aspekte in der Kultur der Moderne. Festschrift für Helmut Scheuer zum 60. Geburtstag. Tübingen 2002, S. 305–318, hier S. 307.
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Romananhang. Damit stellt sich Jirgl ostentativ in eine modernistische Avantgardetradition. Mit seinem sprachlichen Instrumentarium hat er eine weitgehend für sich stehende, neoexpressionistische Literatur geschaffen. Auch ihr ist ein barockes, fundamental zivilisationskritisches Memento mori als Strukturprinzip eingeschrieben. Wie in Hettches Nox-Roman wird auch in Abschied von den Feinden das poststrukturalistische Postulat vom „Tod des Autors“ erzähltechnisch durch eine komplexe Überlagerung von Bewusstseinsschichten umgesetzt. Der Roman lässt sich daher als literarischer Sprachfindungsprozess im Verschwinden lesen. Damit einher geht eine Ästhetik ‚skandierter‘ traumatischer Bilder. Jirgls Schreibweise ist also in einem besonderen Maße von einer programmatischen Ästhetik geprägt. In einer ‚theorielosen‘ Zeit wurde sie von der Literaturkritik als „Eigensinn“ oder als „Ostmoderne“ verbucht. Zudem schlägt auch Jirgl die Brücke zur neuen Erzählbarkeit der deutschen Geschichte. Der Autor entwickelte sich auf diese Weise zu einem Chronisten der deutschen „Heimat“ und ihrer universalen Katastrophengeschichten. 3. Die Schreibweisen eines ästhetischen Realismus weisen im Querschnitt unseres Jahres Spuren eines Dominanzwandels auf. Der ‚alte‘ Realismus der BRD und der DDR war von der Anbindung an eine politisch-moralische Öffentlichkeit geprägt. Die prominenten Repräsentanten sind Christa Wolf, die im deutschdeutschen Literaturstreit symbolisch geächtet wurde und 1995 an ihrer Medea schrieb, Günter Grass, der mit seinem Roman [→] Ein weites Feld die in diesem Jahr wichtigste, den Literaturstreit fortführende Debatte auslöste,36 und schließlich Volker Braun, der mit seiner [→] Wendehals-„Unterhaltung“ eine politisch kritische Stellungnahme zum Prozess der Einheit Deutschlands vorlegte. Ein weites Feld vereinigt einen Zeit- und einen historischen Roman. Erzählt wird aber weder linear noch direkt realistisch, sondern ästhetisch gebrochen, rhapsodisch, intertextuell (im ständigen Dialog mit Fontane wie auch mit Schädlichs TallhoverRoman [1986]). Grass’ Schreib- und Erzählweise ist vor allem politisch-allegorisch. Die konstruierte Form, die den Parlando-Stil Fontanes in ausführlichen Erzählpassagen gesellschaftskritischer Reflexionen umformt, wurde häufig zum Gegenstand der Kritik, wodurch ihr ‚Veraltet-Sein‘ markiert werden sollte. Medienwirksam inszenierte Reich-Ranicki seinen Verriss in einem „offenen Brief“, veröffentlicht in der berühmten Spiegel-Ausgabe, auf deren Titelbild bereits symbolisch der Roman für die Öffentlichkeit zerrissen wurde. Dabei argumentierte Reich-Ranicki nur beiläufig ästhetisch – der Roman ‚erzähle nicht‘ –, sondern den Kern seines Verrisses bildete die Unterstellung, dass der Roman nur der Ver-
36 Vgl. Oskar Negt (Hg.): Der Fall „Fonty“. „Ein weites Feld“ von Günter Grass im Spiegel der Kritik. Göttingen 1996.
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arbeitung der politischen Kränkung des Autors diene.37 Mit dem Vorwurf der „Gesinnungsästhetik“ (Bohrer, Greiner) wurde dem Roman die Anerkennung eines ästhetischen Eigenwerts verweigert und dem Schriftsteller das Mandat für die Intervention als Intellektueller entzogen. Damit ist die für die Nachkriegsliteratur und besonders für die Literatur der Gruppe 47 konstitutive Kopplung ästhetischer Schreibweisen mit einer politisch-moralischen Interventionsfunktion aufgehoben. Das politisch engagierte Schreiben, das auf der Anbindung an eine kritische Öffentlichkeit gründet, ist beim größten Teil der jüngeren Autorgeneration durch eine ästhetische Ethnographie der Gegenwart ersetzt, die mit einer medialen Öffentlichkeit verbunden ist. Hier wird die Ökonomie der Lebensstile verhandelt. Typische Verfahrensmuster des neuen ästhetischen Realismus sind an popkulturellen Mustern der Gegenwärtigkeit orientiert, die von manchen für das entscheidende Charakteristikum der Gegenwartsliteratur gehalten wird.38 Typisch ist hier das Arbeiten mit literarischen Kurzformen, wie bei den seriell gereihten Shortstories oder dem Episodenroman. Die Herkunft der Verfahren aus der journalistischen Praxis ist dabei offensichtlich. Es überwiegen ironische, satirische und groteske Stilmittel, die sich einer ästhetischen oder politischen Programmatik grundsätzlich verweigern. Wie ausgeführt, lässt sich der neue ästhetische Realismus als ‚transitiver‘ oder ‚disperser‘ Realismus charakterisieren. Er entwickelt im Austausch mit der sozialen Zeit neue, ‚unideologische‘, nicht-programmatische Ästhetiken. Thomas Brussigs [→] Helden wie wir und dessen grotesker Realismus beinhalten zwar noch einen Angriff gegen die dominante Sprache und Poetik Christa Wolfs. Das Gegenprojekt der karnevalesken Sprache des Pikaros erschöpft sich aber in der satirischen Abrechnung mit dem vorausgehenden literarischen Zeitmaß, der „subjektiven Authentizität“ Wolfs, die die Sprache als Instrument einer moralischen Wahrheitssuche verstand. Brussigs Episodenroman lebt in erster Linie von der satirischen Umkehrung der jüngsten Zeitgeschichte. Einmal mehr beruht
37 „Allerdings vertraten Sie Anschauungen, für die die Mehrheit kein Verständnis hatte. Sie blieben allein. Das spricht noch nicht gegen Sie. Aber das hat Ihnen einen Schmerz zugefügt, mit dem Sie nicht zu Rande kommen konnten. Und haben Sie nicht gerade damals mit der Arbeit an Ihrem Roman ‚Ein weites Feld‘ begonnen?“ (ebd., S. 81). 38 Vgl. Eckhard Schumacher: Gerade Eben Jetzt. Schreibweisen der Gegenwart. Frankfurt/M. 2003; Oliver Jahraus: Die Gegenwartsliteratur als Gegenstand der Literaturwissenschaft und die Gegenwärtigkeit der Literatur. Vortrag auf der Tagung des Literaturbeirats des Goetheinstituts in München am 14.1.2010; www.medienobservationen.lmu.de/artikel/allgemein/allgemein_pdf/ jahraus_gegenwartsliteratur.pdf; Abruf: 5.1.2015; vgl. auch Michael Braun: Die deutsche Gegenwartsliteratur. Eine Einführung. Köln, Weimar, Wien 2010, S. 14f.
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der Bestseller-Erfolg dieser „gutgemacht mittleren“ Literatur (Th. Mann) darauf, dass der Text einerseits über die satirischen Alltagsbezüge einen leichten, unterhaltsamen Zugang bietet. Er konfrontiert den Leser nicht mehr mit moralischen oder politischen Reflexionen, aus denen er Konsequenzen für sein Leben zu ziehen hätte, sondern mit ‚transitiven‘ Provokationen (z. B. der Phallus des Kleinbürgers, der die Mauer einreißt). Andererseits ist Brussigs Roman um ein literarisches Netz von Anspielungen und intertextuellen Bezügen bemüht. Ähnliches gilt für Sparschuhs satirischen „Heimatroman“ [→] Der Zimmerspringbrunnen. Kurz: Das episodenhafte, auf Situations- und Sprachkomik basierende und durchaus an literarische Traditionen anknüpfende Erzählen trägt – mit Viart gesprochen – in sich kein programmatisches ästhetisches Projekt mehr. Vielmehr ist es ‚transitiv‘ oder mit anderen Worten: betont ‚unideologisch‘ den flüchtigen Ereignissen der Gegenwart metonymisch auf der Spur. Die Ethnographie der Gegenwart im neuen ästhetischen Realismus zielt auf literarische Figurationen des gewandelten, ‚flüchtig‘ gewordenen Alltags ohne Utopieentwürfe. Ingo Schulzes [→] 33 Augenblicke des Glücks betont dies schon im Titel. Die vermeintlich dokumentarischen Momentaufnahmen in einer Zeit der sozialen Umbrüche erweisen sich als literarische Komposition, die realistische und phantastische Erzähltraditionen aufgreift. Schulzes Texte stehen par excellence für das neue, gut gemachte Erzählhandwerk. Der Autor ist sich durchaus der poststrukturalistischen These von der Abschaffung des Autors bewusst, gleichwohl praktiziert er in den Alltagsgeschichten der prekär gewordenen Gegenwart eine neue Erzählbarkeit der Welt. Dabei sind die unvermittelt einsetzenden, lakonischen Dialoge charakteristisch. Sie lassen sich als eine literarische Umsetzung von Bachtins Theorie des dialogischen Wortes im Roman verstehen. Schulze geht es aber weniger um Theorie im Großen als um eine neue Form der Erzählbarkeit der Welt im Kleinen. Erzähltechnisch schlägt sich diese narrativ ‚entschärfte‘ Theorie-Rezeption in einem Episoden-Mosaik-Verfahren nieder, das der Autor später in Simple Storys (1998) wie auch in der Briefroman-Struktur in Neue Leben (2005) weiterführt. Aufgrund der Alltagsepisoden-Reihungsstruktur ist Schulzes Erzählen einerseits leicht zugänglich und unterhaltsam, andererseits ist es von Leerstellen geprägt, die der Leser über Anschluss-Kopplungen füllen kann, aber nicht muss. Auch Schulzes Momentaufnahmen oszillieren zwischen einem detailgetreuen, metonymischen Realismus und einem magisch-phantastischen, allegorischen Lückentext der Gegenwart, der sich nicht mehr auf Dauer füllen lässt. Für eine neue literarische Figuration der sozialen Zeit steht schließlich auch Feridun Zaimoğlus [→] Kanak Sprak. 24 Mißtöne vom Rande der Gesellschaft. Der Text gilt als Wendepunkt von der sogenannten Gastarbeiterliteratur hin zur Migrantenliteratur. Diesem Übergang entspricht eine Schreibweise zwischen Protokollstil und artifiziellem Sprechakt. Das, was zunächst als Protokoll oder au-
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thentische Nachahmung der sozialen Wirklichkeit und Sprache der „Kanaken“ erscheint, erweist sich bei näherer Betrachtung als Ergebnis einer aufwendigen stilistischen und sprachrhythmischen Bearbeitung, also als eine literarisch geformte Ethnographie des Alltags. Einen Grenzfall im Spektrum des neuen ästhetischen Realismus stellt Christian Krachts [→] Faserland dar. Die Stilmittel des Romans schließen an die amerikanische Popkultur und -literatur an, an Bret Easton Ellis’ Marken-Ästhetik und an Patrick Batemans neusachlich-‚kalten‘ Erzählton. Faserland radikalisiert den ästhetischen Oberflächenrealismus so weit, dass er bereits in sich das Kippmoment zu einem ästhetischen Anti-Realismus trägt. Dieser wurde später als „ästhetischer Fundamentalismus“ (Gustav Seibt) bezeichnet. Fundamental ist Krachts Ästhetizismus, weil er die Subjektkonstitution des Protagonisten in Abgrenzung zur gesellschaftlichen Außenwelt als eine permanente stilistische Aufgabe versteht. Die permanente stilistische Selbstvergewisserung, die sich auch als Technik eines flexiblen Normalismus im Sinne Jürgen Links beschreiben lässt, erfolgt im Modus der Ironie und der ‚Nicht-Greifbarkeit‘. Im Zeichen des Transitiven zeigt sich das ästhetische Urteil in seiner Ambivalenz: einerseits im iterativen Vollzug der Distinktion, andererseits im permanenten Entzug einer Identität. Dabei greift das ‚handwerklich gut gemachte‘, unterhaltsame Erzählen Krachts auch verschiedene Erzähltraditionen auf, die er in seiner Oberflächenästhetik neu synthetisiert: so in Anknüpfung an Traditionen der US-amerikanischen Literatur des 20. Jahrhunderts, der deutschsprachigen Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts und, vor allem, des Dandyismus des frühen 20. Jahrhunderts. 4. Bei der Bestimmung der Schreibweise eines „metonymischen Realismus“ oder einer ästhetischen „Unterhaltungsliteratur mit inhaltlich brisantem Anliegen“ lässt sich auf Studien von Moritz Baßler zurückgreifen.39 Mit Verweis auf Roland Barthes40 vertritt Baßler die These, dass in den Realismus-Formen der Gegenwartsliteratur literarische Bedeutung – und ich übersetze: literarische Zeit – durch „stabile[] Frames und Skripten“41 und damit über die „Funktion ihrer Diegese“ ersetzt werden könne:
39 Moritz Baßler: Der Familienroman im Nicht-Familienroman. Beobachtungen an Jonathan Littells Die Wohlgesinnten und Dietmar Daths Waffenwetter. In: Simone Costagli, Matteo Galli (Hg.): Deutsche Familienromane. Literarische Genealogien und internationaler Kontext. München 2010, S. 219–230; M. B.: Realismus – Serialität – Fantastik. Eine Standortbestimmung gegenwärtiger Epik. In: Silke Horstkotte, Leonhard Herrmann (Hg.): Poetiken der Gegenwart. Deutschsprachige Romane nach 2000. Berlin, Boston 2013, S. 31–46. 40 Roland Barthes: S/Z. Frankfurt/M. 1978, S. 25 u. passim; R. B.: Die Lust am Text. Frankfurt/M. 1974, S. 19f. 41 Baßler: Realismus – Serialität – Fantastik, S. 38.
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Wo das Erzählen selbst metonymisch unauffällig über weitgehend automatisierte Muster erfolgt – und eben das ist ja realistisches Erzählen –, da muss die literarische Bedeutung in den Inhalt verlegt werden, sprich: es müssen vorzugsweise krasse Dinge erzählt werden, die von sich aus bedeutungstragend sind.42
Beispiele für ästhetische Unterhaltungsliteratur, die formal auf international bewährte Muster zurückgreifen und inhaltlich mit ‚provozierenden‘ Neuigkeitswerten arbeiten, sind Bernhard Schlinks [→] Der Vorleser und Dietrich Schwanitz’ [→] Campus-Roman. Sie eignen sich zum Bestseller und zur Verfilmung für ein größeres Publikum. Die Formensprache unterliegt hier häufig inhaltlichen Klischees, Pointen und Provokationen. Nicht wegen seiner literarischen Form hat Der Vorleser Eingang in den Schulunterricht und in die Literaturgeschichte gefunden – die ist eher konventionell –, sondern wegen der zeitgenössischen Provokation des Themas, der Versöhnung der 68er-Generation mit der Vater- und Tätergeneration. Diese steht für einen grundlegenden „Paradigmenwechsel in der Erinnerungskultur der Bundesrepublik“.43 Schwanitz’ Campus-Roman ist schließlich ein Beispiel für eine klischeehafte Übertragung des amerikanischen Erfolgsgenres auf deutsche Verhältnisse. Auch hier überwiegt die unterhaltsame, inhaltliche Provokation: die satirische Attacke auf die Political Correctness der Alt-68er Linken, die allgemein diskurshistorisch für die neunziger Jahre signifikant ist.
Fazit Das „Wendejahr 1995“ steht für einen im Vergleich zu Frankreich leicht ‚verspäteten‘ Durchbruch im Transformationsprozess von einer ‚projektiven‘ Nachkriegsliteratur zu einer ‚transitiven‘ Gegenwartsliteratur. Deren Verteidiger wie Viart begrüßen diesen Wandel, weil sie mit ihm die vermeintliche Befreiung von aller ästhetischen und politischen Ideologie und das ‚Zu-Sich-Selbst-Kommen‘ der Literatur verbinden. Aus feldanalytischer Sicht erweist sich aber der Befund einer ‚befreiten‘ Gegenwartsliteratur als Euphemismus und als ambivalent. Wir haben es mit einem langfristigen Wandel der Reproduktion des literarischen Feldes zu tun. Dieser lässt sich auch als Professionalisierung bestimmen, die mit
42 Baßler: Der Familienroman im Nicht-Familienroman, S. 220. 43 Harald Welzer: Schön unscharf: Über die Konjunktur der Familien- und Generationenromane. In: Mittelweg 36/1 (2004), S. 53–64, hier S. 54.
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marktgerecht-ökonomischen, medialen und technischen Einflüssen und damit auch Anforderungen zusammengeht.44 Die Verabschiedung des literarisch ‚Veralteten‘ und das Aufkommen eines literarisch ‚Neuen‘ ist seit den sechziger Jahren weniger ein programmatisches Projekt – das ist der klassische Konflikt zwischen einer Avantgarde und einer kanonisierten Ästhetik – als vielmehr eine ‚transitive‘ oder prekäre Kompromissfigur zwischen literarischer und sozialer Zeit. Das Gefüge der Anerkennungsinstanzen hat sich durch eine dominant gewordene Literaturkritik verlagert, und zwar zugunsten der neuen, ‚transitiven Literatur‘ und ihrer segmentarischen Legitimität, die zunehmend mit Anspruch auf universale Geltung auftritt. Die deutschsprachige Gegenwartsliteratur ist seit 1995 tatsächlich unterhaltsamer geworden, sie verkauft sich gut, manche Romane sehr gut bis hin zum Bestseller, und ihre gesellschaftliche Aufnahme ist breiter, aber auch ‚flüchtiger‘ geworden. Die metonymisch-realistische, ‚transitive Literatur‘ hat neue Schreibweisen und Ästhetiken in Auseinandersetzung mit der sozialen Zeit entwickelt. Sie steht vor allem für eine literarische Ethnographie der Gegenwart, die Elemente der literarischen Tradition aufgreift, diese aber nicht mehr programmatisch verabschiedet, um eine neue literarische Zeit einzuläuten. Sie kennt kaum noch dominant poetologische Konfliktstellungen. Wichtiger als programmatisch-ästhetische Konflikte ist für die meisten Autoren der Gegenwartsliteratur seit 1995 das Überleben in der horizontalen Konkurrenz um den Umgang mit ‚Epiphanien des Alltags‘ und anderen ‚Jetzt-Momenten‘.
Literaturverzeichnis Primärliteratur Enzensberger, Hans Magnus: Kiosk. Neue Gedichte. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1995. Jelinek, Elfriede: Ich möchte seicht sein. In: Christa Gürtler (Hg.): Gegen den schönen Schein. Texte zu Elfriede Jelinek. Frankfurt/M.: Neue Kritik 1990, S. 157–161. Kehlmann, Daniel: Lob. Über Literatur. Frankfurt/M.: S. Fischer 2010. Kling, Thomas: Itinerar. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1997. Köhler, Barbara: Bluebox. Gedichte. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1995. Mayröcker, Friederike: Magische Blätter. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1983. Sebald, W. G.: Luftkrieg und Literatur. Mit einem Essay zu Alfred Andersch. München, Wien: Hanser 1999.
44 Vgl. Heribert Tommek: Une litterature moyenne. La littérature allemande contemporaine entre production restreinte et grande production. In: Actes de la Recherche en Sciences Sociales, n° 206–207, mars 2015 (La culture entre rationalisation et mondialisation), S. 100–107.
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Sekundärliteratur Barndt, Kerstin: Sentiment und Sachlichkeit. Der Roman der Neuen Frau in der Weimarer Republik. Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2003. Barthes, Roland: Die Lust am Text. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1974. Barthes, Roland: S/Z. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1978. Baßler, Moritz: Der Familienroman im Nicht-Familienroman. Beobachtungen an Jonathan Littells Die Wohlgesinnten und Dietmar Daths Waffenwetter. In: Simone Costagli, Matteo Galli (Hg.): Deutsche Familienromane. Literarische Genealogien und internationaler Kontext. München: Fink 2010, S. 219–230. Baßler, Moritz: Realismus – Serialität – Fantastik. Eine Standortbestimmung gegenwärtiger Epik. In: Silke Horstkotte, Leonhard Herrmann (Hg.): Poetiken der Gegenwart. Deutschsprachige Romane nach 2000. Berlin, Boston: De Gruyter 2013, S. 31–46. Bogdal, Klaus-Michael: Erhofftes Wiedersehen. Dieter Fortes Romantrilogie Das Haus auf meinen Schultern. In: Günter Helmes et al. (Hg.): Literatur und Leben. Anthropologische Aspekte in der Kultur der Moderne. Festschrift für Helmut Scheuer zum 60. Geburtstag. Tübingen: Gunter Narr 2002, S. 305–318. Braun, Michael: Die deutsche Gegenwartsliteratur. Eine Einführung. Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2010. Döring, Christian (Hg.): Deutschsprachige Gegenwartsliteratur. Wider ihre Verächter. Frankfurt/ M.: Suhrkamp 1995. Galli, Matteo: The Artist is Present. Das Zeitalter der Poetikvorlesungen. In: Merkur, 2014, 1, S. 61–65; Geisenhanslüke, Achim: Altes Medium − Neue Medien. Zur Lyrik der neunziger Jahre. In: Clemens Kammler, Torsten Pflugmacher (Hg.): Deutschsprachige Gegenwartsliteratur seit 1989. Zwischenbilanzen – Analysen – Vermittlungsperspektiven. Heidelberg: Synchron 2004, Bd. 1, S. 37–49; Holler, Verena: Positionen – Positionierungen – Zuschreibungen. Zu Robert Menasses literarischer Laufbahn im österreichischen und deutschen Feld. In: Markus Joch et al. (Hg.): Mediale Erregungen? Autonomie und Aufmerksamkeit im Literatur- und Kulturbetrieb der Gegenwart. Tübingen: Niemeyer 2009, S. 169–187. Hummelt, Norbert: Schreiben lernen. Der Leipziger Weg, in: Heinz Ludwig Arnold, Matthias Beilein (Hg.): Literaturbetrieb in Deutschland. München: edition text + kritik 2009, S. 59–71. Jahraus, Oliver: Die Gegenwartsliteratur als Gegenstand der Literaturwissenschaft und die Gegenwärtigkeit der Literatur. Vortrag auf der Tagung des Literaturbeirats des Goetheinstituts in München am 14.1.2010. Siehe: www.medienobservationen.lmu.de/artikel/allgemein /allgemein_pdf/jahraus_gegenwartsliteratur.pdf Kaes, Anton (Hg.): Weimarer Republik. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1918– 1933. Stuttgart: Metzler 1983. Köhler, Andrea, Rainer Moritz (Hg.): Maulhelden und Königskinder. Zur Debatte über die deutschsprachige Gegenwartsliteratur. Leipzig: Reclam 1998. Korte, Hermann: Zurückgekehrt in den Raum der Gedichte. Deutschsprachige Lyrik der 1990er Jahre. Mit einer Auswahlbibliographie. Münster, Hamburg, London: LIT Verlag 2004. Negt, Oskar (Hg.): Der Fall „Fonty“. „Ein weites Feld“ von Günter Grass im Spiegel der Kritik. Göttingen: Steidl 1996. Schumacher, Eckhard: Gerade Eben Jetzt. Schreibweisen der Gegenwart. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2003.
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Teil I: 1995 – Strukturartikel
1 Erinnerung
Achim Geisenhanslüke
In der Erinnerung Gedächtnispolitik 1995 Erinnerung 1995 Das Jahr 1995 ist kein Jahr wie alle anderen. Für die Besonderheit des Datums steht nicht nur eine Vielzahl relevanter literarischer Publikationen ein, die sich, wenn auch nicht in dieser Dichte, in vergleichbaren Jahren der Postwendezeit in ähnlicher Ausprägung finden lassen. Das Jahr 1995 unterhält darüber hinaus ein besonderes Verhältnis zur Geschichte, das durch zwei Daten markiert wird: die Wende 1989, die sechs Jahre zurückliegt und die sich auf unterschiedliche Art und Weise, etwa bei Günter Grass [→ Ein weites Feld] und Thomas Brussig [→ Helden wie wir], bei Volker Braun [→ Der Wendehals] und Jens Sparschuh, in das Medium des Romans einschreibt, sowie das Ende des Zweiten Weltkrieges, das sich 1995 zum fünfzigsten Mal jährte. 1945 und 1989 bilden eine historische Klammer, die die Gegenstände des literarischen Schreibens im Jahr 1995 in vielerlei Hinsicht bestimmt. Die vieldiskutierte Frage, ob die Wende von 1989 auch literaturgeschichtlich als eine Zäsur zu begreifen ist,1 findet in der Markierung durch das Datum 1945 allerdings eher eine Grenze denn eine Bestätigung. Denn so wie der Zweite Weltkrieg das bestimmende historische Ereignis des 20. Jahrhunderts gewesen ist – unter der nicht selbstverständlichen Voraussetzung, dass erst mit dem Ersten Weltkrieg das „lange 19. Jahrhundert“ zu Ende gegangen ist2 –, so erweist sich die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg und
1 So stellt Klaus-Michael Bogdal fest: „Ob das Jahr 1989 als ‚epochales Ereignis‘ in die Geschichte eingehen wird, muß sich erst noch herausstellen. Daß es in Deutschland und Europa folgenreiche politische, ökonomische und soziale Einschnitte brachte und die Nachkriegsepoche beendete, kann wohl nicht mehr bezweifelt werden.“ Klaus-Michael Bogdal: Der diskursive Raum der Gegenwartsliteratur. In: Historische Diskursanalyse der Literatur. Theorie, Arbeitsfelder, Analysen, Vermittlung. Opladen, Wiesbaden 1999, S. 96–116, hier S. 96. Bogdal geht von einer „Diskrepanz zwischen der politisch-historischen Vereinigung und ihrer kulturellen Verarbeitung“ (ebd.) aus, die ihn zu der Forderung führt, „neue theoretische und methodische Kategorien zu gewinnen, mit deren Hilfe ein komplexer, widersprüchlicher und nicht abgeschlossener Prozeß wie die literarische Entwicklung in einem beinahe ein halbes Jahrhundert geteilten und plötzlich vereinten Land zureichend und plausibel analysiert werden kann“ (ebd., S. 98). 2 In seiner Geschichte des 19. Jahrhunderts äußert Jürgen Osterhammel Zweifel an scharfen Epochenschnitten. Aber auch er gibt zu, dass der 1. Weltkrieg eine Zäsur bedeutete: „Um es pathetisch auszudrücken: Erst als der Krieg vorüber war, merkte die Menschheit, dass sie nicht
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dessen Folgen als eine der großen Konstanten in der Literatur des 20. Jahrhunderts. Während im Fall der Wende unklar bleibt, ob politische und literarische Zäsur zusammenfallen, ist das Jahr 1945 wenn auch kein Nullpunkt der Literaturgeschichte, sehr wohl aber beständiges Thema vor allem der erzählenden Literatur. An die Stelle der zeitlich kurz ausgerichteten Zäsur, die das Datum 1989 in historischer wie literaturgeschichtlicher Hinsicht spielen soll, tritt mit dem Jahr 1945 die longue durée von Erinnerungsprozessen, deren archäologische Tiefendimension auszuloten Aufgabe der literaturwissenschaftlichen Kritik ist. Vor diesem Hintergrund überrascht nur auf den ersten Blick, dass das Thema der Erinnerung im Kontext der Aufarbeitung des Zweiten Weltkrieges im Jahr 1995 eine zentrale Rolle spielt. Dafür stehen so unterschiedliche Texte ein wie Marcel Beyers [→] Flughunde, Dieter Fortes [→] Der Junge mit den blutigen Schuhen, Elfriede Jelineks [→] Die Kinder der Toten, Christoph Ransmayrs [→] Morbus Kitahara oder W. G. Sebalds [→] Die Ringe des Saturn. Die genannten Texte sind in ihrer ästhetischen Heterogenität sicherlich nicht leicht auf einen Nenner zu bringen. Dennoch verweist die Thematisierung des Zweiten Weltkrieges auf einen gemeinsamen diskursiven Rahmen, den die Texte unterschiedlich ausfüllen. Zu diesen diskursiven Rahmenbedingungen zählt zum einen das allmähliche Verschwinden der Zeugengeneration, das etwa bei Marcel Beyer dazu geführt hat, dass neue, medientheoretische Verfahren der Geschichtsschreibung erprobt werden konnten, zum anderen die Besonderheit der deutschen Erinnerungskultur etwa im Vergleich zu der Frankreichs. Als Maurice Halbwachs den Begriff des sozialen Gedächtnisses und Pierre Nora den des lieu de mémoire prägten, da konnte – wenn auch nicht ohne die damit einhergehenden Verkürzungen und Verdrängungen – die Erinnerungspolitik der Grande Nation mit ihrer ruhmreichen Vergangenheit als Ausgangspunkt für eine Form der nationalen Identitätsbildung gelten, der in der deutschsprachigen Kultur gerade im Kontext der Aufarbeitung des Zweiten Weltkrieges nichts Vergleichbares entspricht. Die Wallfahrt zum Hermannsdenkmal als Ort nationaler Gedenkkultur hat spätestens seit der Vereinnahmung der Arminius-Figur im Nationalsozialismus einen schalen Beigeschmack. Die nationale Identitätsstiftung, die Nora mit dem Begriff des lieu de mémoire verbindet, ist in der deutschen Kultur immer schon durch das Trauma des Zweiten Weltkrieges gestört. Die geographischen Erinnerungsorte der deutschen Gedächtniskultur sind daher auch eigentlich Unorte, Orte der Zerstörung und des Verschwindens, Wunden im Stadtbild wie die Berliner Mauer oder die noch nicht restaurierte Dresdner Frauenkirche. Die symbolischen Erinne
mehr im 19. Jahrhundert lebte.“ Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts. München 2009, S. 88.
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rungsorte, die die Literatur stiftet, bleiben davon nicht unbetroffen. Die literarische Erinnerungsarbeit kreist – nicht zuletzt unter der Chiffre Auschwitz – nicht um nationale Denkmäler, sondern um Orte der Zerstörung, um Ruinen und Merkbilder, die Stifter von kultureller Identität nur sein können, wenn sich ihnen die Gewalt einschreibt, von der sie entstellt noch immer Zeugnis ablegen. Literarische Erinnerung ist daher mehr und zugleich weniger als nationale Gedächtniskultur – mehr, weil sie die Funktion des sozialen Gedächtnisses durch die eigene Arbeit der Entstellung übersteigt, weniger, weil sie die Aufgabe einer kulturellen Gemeinschaftsstiftung nicht erfüllt. „Erinnerungskultur hat es mit ‚Gedächtnis, das Gemeinschaft stiftet‘, zu tun“,3 meint Jan Assmann, um in dem Andenken an die Toten zudem ihren religionsphilosophischen Ursprung zu finden. In den Texten von Dieter Forte, Elfriede Jelinek oder W. G. Sebald aber kommen die Toten nicht zur Ruhe. Als Gespenster finden sie in Jelineks Opus magnum Die Kinder Toten eine unheimliche Präsenz, die die nur schlecht gegen Wiedergänger gewappnete Gegenwart bedroht und zum Schluss mit in den Untergang reißt. Die literarische Erinnerungsarbeit stiftet kulturelle Identität als Bekenntnis zu einer Kultur im Sinne Assmanns nur, indem sie die Spuren der historischen Zerstörung zugleich in sie einarbeitet.4 Insofern ist 1945 für die Gedächtniskultur im Jahre 1995 kein äußerliches Datum des gemeinschaftsstiftenden Eingedenkens, sondern als zentrales historisches Ereignis überdies ein NichtOrt, um den die Erinnerung in immer neuen und immer wieder vergeblichen Anläufen kreist.
Geschichte zwischen Scham und Schuld: Bernhard Schlinks Der Vorleser und Marcel Beyers Flughunde Die Auseinandersetzung mit dem Thema der Geschichte und insbesondere mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs fällt im Jahr 1995 sehr unterschiedlich aus. Der wohl kommerziell erfolgreichste Text des Jahres, Bernhard Schlinks [→] Der Vorleser, legt davon ein beredtes Zeugnis ab. Die Geschichte der erotischen Beziehung zwischen dem Jungen Michael Berg und der ehemaligen KZ-Wärterin Hanna
3 Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München 1992, S. 30. 4 „Kulturelle Identität ist entsprechend die reflexiv gewordene Teilhabe an bzw. das Bekenntnis zu einer Kultur“, so Jan Assmann. Ebd., S. 134.
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dient keinesfalls der kritischen Aufarbeitung der Vergangenheit, wie es in weiten Teilen der Nachkriegsliteratur üblich war.5 Im Gegenteil: Mit den sehr zeitgemäßen Themen des Analphabetismus und der Sexualität überführt der Roman die Schuldkultur, die die Nachkriegszeit bestimmt hat, in eine Schamkultur, indem er zeigt, wie sich Hanna zunächst ihres Analphabetismus schämt und erst dadurch immer tiefer in die Abgründe des nationalsozialistischen Regimes hineingerät. Ihre späte Alphabetisierung und der Selbstmord dienen nicht der Aufarbeitung ihrer Schuld, sondern der Aufhebung der Scham, die nicht das Leben der vernichteten Juden, sondern das ihre beschädigt hat. In einem ähnlichen narzisstischen Gefängnis ist Michael Berg gefangen, dem es ebenso wenig um Aufarbeitung der Geschichte, sondern einzig um das traurige Schicksal der einstigen Geliebten und die damit verbundene eigene Traumatisierung geht. Gerade der Schluss des Romans nimmt diese Dimension der Scham noch einmal auf. Michael Berg überweist das von Hanna hinterlassene Geld – sie hat sich im Gefängnis das Leben genommen – an die Jewish League against Illiteracy. „Ich bekam einen kurzen computergeschriebenen Brief, in dem die Jewish League Ms. Hanna Schmitz für ihre Spende dankt.“6 Im Mittelpunkt steht der ökonomische Aspekt der Schuld, zugleich aber die Lieblosigkeit eines mit dem Computer erstellten Schreibens, das nicht Hanna Schmitz, sondern die Jewish League against Illiteracy in einem seltsamen Licht erscheinen lässt. Dem Roman geht es nicht um Verarbeitung, sondern um die Abwehr der Erinnerung, die mit Schuld verbunden wäre. Umso erstaunlicher ist es, dass gerade diese Geschichte der Scham, in der eine ehemalige KZ-Wärterin zum Opfer stilisiert wird, zu den erfolgreichsten Texten des Jahres 1995 zählt. Ein ganz anderes Beispiel für die Auseinandersetzung mit dem Thema der Erinnerung an den Nationalsozialismus gibt Marcel Beyer in seinem Roman Flughunde. Im Mittelpunkt von Beyers Roman steht die Frage nach dem körperlichen Medium der Stimme und dessen Spuren in der Geschichte. Schon das erste Wort des Romans lautet: „Eine Stimme“.7 In Beyers Roman geht es vorrangig um Stimmen, um das Aufzeichnen der Stimme in einem neuen Mediensystem und um das Verlöschen von Stimmen in der Leere der Geschichte: Beyers Roman ist eine Geschichte der Stimmen und eine Geschichte über Stimmen; er ist der ambitiöse Versuch, die vielfältigen Beziehungen von Sprechen und Denken, Körper und
5 Zur Frage nach der Auseinandersetzung mit dem Thema der Schuld in Der Vorleser vgl. Juliane Köster: Der Vorleser. Interpretation. München 2000, S. 63f. 6 Bernhard Schlink: Der Vorleser. Zürich 1995, S. 207. 7 Marcel Beyer: Flughunde. Frankfurt/M. 1995, S. 9.
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Medium, Manipulation und Gewalt im Kontext faschistischer Herrschaft und Ideologie darzustellen,8
kommentiert Peter Bekes. Vor diesem Hintergrund hat die Forschung immer wieder darauf hingewiesen, dass das Aufschreibesystem des Tontechnikers Karnau, der zentralen Figur des Romans, postmodernen Medien- und Sprachtheorien entlehnt ist. Hubert Winkels notiert: „Wie an anderen Stellen auch folgt er dabei den Untersuchungen des Medientheoretikers Friedrich Kittler, ohne dabei allerdings zu dessen literarischem Zauberlehrling zu werden“.9 Und Bernd Künzig fügt dem hinzu: Die Physiologie der Stimmkartographie ist mit Michel Foucaults Analyse einer modernen, bürgerlichen Wissenschaft verknüpft, deren Ziel es ist, einen neuen Begriff vom Subjekt zu errichten und dieses mit Hilfe der neuen Erkenntnisse zu kontrollieren.10
Es ist die postmodernen Theorien abgelesene Ambivalenz von Stimme und Schweigen, die Beyer Karnaus wissenschaftlichem Verfahren kritisch zugrunde legt. Aus seinem hybriden wissenschaftlichen Interesse heraus verstrickt sich Karnau immer tiefer in die Abgründe des Nationalsozialismus. Zunächst zeichnet er an der Front die Stimmen der Sterbenden auf, später scheut der auf den ersten Blick freundlich wirkende Mann auch nicht vor grausamen Experimenten an KZHäftlingen zurück. Karnau erscheint im Roman gerade durch seine Unauffälligkeit, die bald in ein pathologisches Bild umschlägt, als ein überzeugendes Paradigma der Unmenschlichkeit, die die nationalsozialistische Herrschaft kennzeichnete. Wie Beyer zeigt, gehorcht Karnaus letztlich pathologisch zu wertendes Wissenschaftsinteresse – als Kind hatte er seine Stimme auf einer Tonbandaufzeichnung gehört und nicht erkannt; dieses frühe Ereignis der Persönlichkeitsspaltung versucht er durch die Kartographie der Stimme zu verarbeiten – einer Dialektik von Allmachtsphantasie und realer Ohnmacht. Der Schluss des Romans verlässt überraschend die historische Ebene und wechselt in die Gegenwart. 1992 wird Karnau ausfindig gemacht, bevor er unerkannt wieder verschwindet. In
8 Peter Bekes: ‚Ab diesem Punkt spricht niemand mehr.‘ Aspekte der Interpretation von Marcel Beyers Roman ‚Flughunde‘ im Unterricht. In: Der Deutschunterricht 51/4 (1999), S. 59–69, hier S. 60. 9 Hubert Winkels: Leselust und Bildermacht. Literatur, Fernsehen und neue Medien. Köln 1997, S. 140. 10 Bernd Künzig: Schreie und Flüstern – Marcel Beyers Roman Flughunde. In: Andreas Erb (Hg.): Baustelle Gegenwartsliteratur. Die neunziger Jahre. Opladen 1998, S. 122–153, hier S. 134.
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seinen Erinnerungen an die letzten Tage im Führerbunker erlebt Karnau die eigene Ohnmacht noch einmal an der ihn belastenden Tatsache, dass er die Goebbels-Kinder im Bunker nicht schützen konnte. Im Rahmen postmoderner Medientheorien ein neues Bild auf die Geschichte des Nationalsozialismus geworfen zu haben, ohne dabei die Frage nach der Dimension persönlicher Schuld ausgeblendet zu haben, ist das Verdienst Marcel Beyers, der damit ästhetisch wie politisch einen ganz anderen Weg eingeschlagen hat als Bernhard Schlink in Der Vorleser.
Widerstand gegen die Zeit: Dieter Fortes Der Junge mit den blutigen Schuhen Die Frage nach den Erinnerungsorten in der deutschsprachigen Literatur hat in den neunziger Jahren eine besondere Aktualität durch die von W. G. Sebald initiierte Debatte um Luftkrieg und Literatur erhalten. Sebald zufolge unterband der Luftkrieg „jegliche Rückerinnerung, richtete die Bevölkerung ausnahmslos auf die Zukunft aus und verpflichtete sie später zum Schweigen über das, was ihr widerfahren war.“11 Sebald nutzt die Diagnose von dem Ausfall einer Erinnerungskultur des Krieges in Deutschland zudem, um in Anknüpfung an Walter Benjamin die Aufgabe einer „Naturgeschichte der Zerstörung“12 zu formulieren, die einer anderen Erinnerungsarbeit stattgeben soll, der sich Sebalds eigene literarische Texte in immer neuen Anläufen verschreiben. Sebalds Diagnose des Versagens der Literatur im Fall des Luftkriegs hat Dieter Forte heftig widersprochen. Forte macht nicht nur geltend, dass Sebald mehr oder weniger mutwillig wichtige Texte vernachlässige wie etwa Gert Ledigs Vergeltung, für Forte „das beste Buch über den Luftkrieg, Wort für Wort und Satz für Satz.“13 Forte beruft sich darüber hinaus auf die eigene Erfahrung, auf das Verstummen angesichts der Aufgabe, ein angemessenes Bild vom Schrecken des Krieges zu geben. „Ich kann es nicht mehr beschreiben. Ich kann nicht mehr darüber reden. Ich bin ein Kind des Krieges und lebe stumm mein vom Krieg
11 W. G. Sebald: Luftkrieg und Literatur. Mit einem Essay zu Alfred Andersch. Frankfurt/M. 2001, S. 16. 12 Ebd., S. 40. 13 Dieter Forte: Alles Vorherige war nur ein Umweg. In: Volker Hage (Hg.): Zeugen der Zerstörung. Die Literaten und der Luftkrieg. Essays und Gespräche. Frankfurt/M. 2003, S. 151–174, hier S. 160.
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geprägtes Leben, denn auch meine Träume bestehen aus Kriegsszenen.“14 Forte bestätigt mit diesen Worten zwar Sebalds Diagnose, er gibt ihr aber ein anderes Fundament. Der Grund für das Schweigen ist für ihn nicht die kollektive Unmöglichkeit der kulturellen Erinnerung, sondern ein individuell erfahrenes Trauma. Vor diesem Hintergrund ist es bemerkenswert, dass Forte gerade mit seiner Trilogie Das Haus auf meinen Schultern, in deren Mitte der 1995 veröffentlichte Teil Der Junge mit den blutigen Schuhen steht, dieses Trauma zum Gegenstand der literarischen Darstellung gemacht hat.15 Dass im Mittelpunkt der gesamten Trilogie das Thema der Erinnerung steht, zeigt schon der 1992 erschienene erste Teil Das Muster. Forte bindet das Thema der Erinnerung an eine doppelte Familiengeschichte, die zum Ende des Romans durch eine Hochzeit zusammengeführt wird.16 Während die Fontanas, Seidenweber aus Italien, für ein aufklärerisches Weltbild im Zeichen des Fortschritts einstehen, das auf schriftliche Formen der Erinnerung vertraut, deren Symbol im Roman das seit Jahrhunderten geführte Musterbuch der Seidenweber ist, verkörpert die Familie Lukacz, polnische Bergbauern, ein zyklisches Erinnerungsmodell im Zeichen der Wiederholung, das im Wesentlichen auf einer mündlichen Tradition beruht. Beide Formen der Erinnerung treffen in dem Erzähler Paolo, dem Sohn der Fontanas und Lukacz, zusammen. Er verkörpert die Aufgabe, die im Zeichen des Fortschritts nach vorne gerichtete Erinnerung der Fontanas und die im Zeichen der Wiederholung nach hinten gerichtete Erinnerung der Familie Lukacz zu einer Synthese zu bringen, die retrospektiv den gesamten Erzählgegenstand und -verlauf des Romans bestimmt. Im Mittelpunkt des zweiten Teils der Trilogie steht das Thema, das Sebald so sehr in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur vermisst hat: der Bombenkrieg der Alliierten gegen Deutschland. Allerdings sind es nicht die das kollektive Gedächtnis in Deutschland prägenden Erinnerungsorte Berlin oder Dresden, die zum Ausgangspunkt der Darstellung des Bombenkrieges werden, sondern das Düsseldorfer Stadtviertel Oberbilk, das unter den alliierten Angriffen fast zur Gänze verschwinden wird. Der Erzähler schildert es als eine republikanische
14 Dieter Forte: Schweigen oder Sprechen. Frankfurt/M. 2002, S. 71. 15 „Der mittlere Band bietet eine der eindringlichsten Darstellungen des Luftkrieges in der deutschen Literatur überhaupt“. Volker Hage: Nach der Wende: der neue Blick zurück. In: V. H. (Hg.): Zeugen der Zerstörung. Die Literaten und der Luftkrieg. Essays und Gespräche. Frankfurt/ M. 2003, S. 97–112, hier S. 105. 16 Zum Thema der Erinnerung bei Forte vgl. Meike Herrmann: Vergangenwart. Erzählen vom Nationalsozialismus in der deutschen Literatur seit den neunziger Jahren. Würzburg 2009. Sie sieht den Roman „zwischen autobiographischer Erinnerung des Autors und der Vermittlung geschichtlichen Wissens“ (ebd., S. 179).
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Idylle. Straßenmusiker bevölkern das Quartier, Arbeiter durchqueren die Hinterhöfe, um die Stechuhr zu umgehen, unterschiedlichste Nationalitäten finden hier eine Heimat.17 Die Darstellung Oberbilks gehorcht einer retrospektiven Idealisierung, die das „natürliche Chaos des Quartiers“18 rühmt: Dieser kleine Kosmos mit seinen Anziehungs- und Abstoßungskräften, dieses Chaos, das wie ein dichtgeknüpftes Netz alle erhielt, beschützte und ernährte, auch die, die schon lange keine Arbeit mehr hatten oder niemals eine fanden, auch die, die alt oder krank waren, war für alle, die darin lebten, ein Königreich, in dem jeder König war.19
Das Chaos, das der Text herausstellt, entspricht in der idealisierenden Darstellung Fortes einer natürlichen, jederzeit wandelbaren Ordnung, die nur für die wirklich durchsichtig wird, die das Viertel selbst bewohnen. Das Aufkommen des Nationalsozialismus wird dieser Idylle ein jähes Ende bereiten. Im Zentrum des Erinnerungsortes Oberbilk steht der Volksgarten. Auch im Falle der erinnernden Darstellung des Volksgartens leitet den Erzähler eine Idealisierung der Vergangenheit. Der Volksgarten ist ihm buchstäblich ein Paradies. Aber nicht anders als in der biblischen Vorlage droht die Vertreibung. Sie ist von Anfang an spürbar durch die symbolische Präsenz des Todes. Der Volksgarten, der später zu einem Konzentrationslager umfunktioniert wird, grenzt an den Friedhof. So verknüpft sich die Erinnerungsarbeit des Romans von Beginn an mit dem Totengedenken. Der erste Anlass für die Engführung von Erinnerung und Totengedenken ist der plötzliche Tod der Schwester Marija. Das Gedächtnis an die früh verstorbene Schwester wird für den Erzähler zu einem Initiationserlebnis. Ihr Tod markiert einen Ursprungspunkt, von dem das Erzählen des gesamten Romans seinen Ausgang nimmt: [J]etzt war sie der Anfang aller Geschichten, nun ging es von ihrem Tod über die in den letzten Jahren Verstorbenen zu den alten Toten der Familie, hundert Generationen waren wie ein Tag, und der Junge lernte, daß die Geschichte rückwärts läuft, daß nur das Vergangene wirklich ist.20
17 Vor diesem Hintergrund hat Klaus-Michael Bogdal die Thematik des Romans über die der Erinnerung erweitert. „Man sollte nicht aus den Augen verlieren, dass Forte ein Migrantenepos erzählt.“ Klaus-Michael Bogdal: Erhofftes Wiedersehen. Dieter Fortes Romantrilogie Das Haus auf meinen Schultern. In: Günter Helmes et al. (Hg.): Literatur und Leben. Anthropologische Aspekte in der Kultur der Moderne. Festschrift für Helmut Scheuer zum 60. Geburtstag. Tübingen 2002, S. 305–318, hier S. 317. 18 Dieter Forte: Das Haus auf meinen Schultern. Frankfurt/M. 1999, S. 344. 19 Ebd., S. 345. 20 Ebd., S. 365.
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Die Erinnerungsarbeit, die den Roman bestimmt, enthüllt sich als ein orphischer Durchgang durch die Geschichte, der ganz vom Tod geprägt ist.21 Die Allgegenwart des Todes, die vor allem das mütterliche Gedächtnis der Familie Lukacz leitet, findet aber auch in der lebenszugewandten Familie der Fontanas ihren Ort. Der Großvater Gustav nimmt den Tod Marijas in das Musterbuch der Familie auf. Der Akt des Einschreibens, den Gustav in den Kontext einer Metaphysik der universellen Todesverfallenheit des Menschen stellt, erscheint so als Vorbild für die Erinnerungsarbeit, die auch den Erzähler leitet: „[D]as Erzählen brachte ihn in die Nähe der Toten“,22 heißt es knapp und prägnant. Erzählen und Erinnern finden im Zeichen des Totengedenkens zu einer Synthese, die den gesamten Verlauf des Romans bestimmt. Das Thema der Erinnerung, das der Roman anhand der Familiengeschichte der Lukacz’ und Fontanas einführt, findet seine Fortführung in der Darstellung des Bombenkrieges, der den zweiten Teil des Romans bestimmt. Die Apokalypse der Bombardierung hat zugleich unmittelbare Auswirkungen auf die Sprache des Erzählers. Auf die Bombardierung reagiert er mit einem umfassenden Verlust der Sprachfähigkeit. „Der Junge konnte nicht mehr sprechen, er brachte keine Sätze über die Lippen, auch einzelne Worte nicht, der Junge stotterte, er verlor seine Sprache, wurde stumm und sprach lange nicht mehr.“23 Die Aphasie des Jungen entspricht der traumatischen Erfahrung der Zerstörung seiner Welt. Wo sich das natürliche Chaos des Quartiers auflöst, da verliert der Erzähler auch die Fähigkeit, sich sprachlich in der Welt zurechtzufinden. Die Erinnerungsarbeit, die der Roman vorführt, erscheint so als Resultat der Zerstörung, von der der Text Zeugnis ablegt, zugleich aber als später Widerstand gegen den Tod. Die konkreten Erinnerungsorte, die der Roman aufruft, sind sämtlich Toten gewidmet: „Varnas Loch, Odysseus’ Mauer, Quieters Graben, Lefahrts Todesstraße, Opa Winters Luftschacht“24 stehen für die Opfer der Nationalsozialisten ebenso wie der Tod des eigenen Bruders während der Evakuierung der Mutter und ihrer Kinder nach Süddeutschland. In einer tendenziell allegorischen Darstellung finden sich die Verstorbenen so zu einem Totentanz zusammen, der Bilder des Krieges im Zeichen barocker Verheerung aufruft.25 Aber auch das Weiterleben ist beschädigt.
21 „‚Der Junge‘ des Romans wird zum Orpheus, der unfreiwillig und ohne Sehnsucht nach dem verlorenen Glück in ein Inferno geführt wird.“ Bogdal: Erhofftes Wiedersehen, S. 315. 22 Forte: Haus auf meinen Schultern, S. 428. 23 Ebd., S. 462. 24 Ebd., S. 513. 25 Vom „Totentanz des Lebens“ und der damit verbundenen „karnevalesken Komik“ spricht Wolf Wucherpfennig: Dieter Fortes Todesbegegnung und autobiographisches Schreiben. In: Christoph Parry, Edgar Platen (Hg.): Autobiographisches Schreiben in der deutschsprachigen
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Dass sich die Zerstörung, die der Roman schildert, auch auf die Überlebenden überträgt, zeigt sich an der Lungenkrankheit des Erzählers. Der Satz „Dem Jungen fiel das Atmen schwer“26 durchzieht den Roman wie ein Leitmotiv. Der Atem des Erzählers steht so in doppelter Weise für die auf den Körper ausgreifende Zerstörung des Krieges sowie für die Erinnerungsarbeit ein, die sich gegen den Tod stemmt, um das Leben zu sichern. Dass der Roman in der Darstellung des Krieges und seiner Folgen immer wieder auf eine allegorische Bildlichkeit zurückgreift, die vor allem religiöse Motive aufnimmt, zeigt der Schluss, der ganz vom Topos der Pilgerfahrt bestimmt ist. Nach der wiederholten Evakuierung nach Süddeutschland, wo sich die Familie nicht zurechtfindet, tritt die Mutter mit ihrem verbliebenen Sohn die Heimreise ins zerstörte Düsseldorf an. Ihren Höhepunkt findet die dramatische Schilderung in der Allegorie des Lebensweges als Überwindung eines scheinbar unbezwingbaren Berges. Nur mit Hilfe der Mutter, die ihre letzten Habseligkeiten liegen lässt, um ihn zu retten, gelingt es dem Jungen, den Berg zu überwinden. Einmal auf der anderen Seite angekommen, kommt es am symbolträchtigen Datum des Heiligen Abends zum Wiedersehen mit dem Vater und den anderen Familienmitgliedern. Das Thema der Erinnerung an die Toten wie an den Krieg erweist sich so als Zentrum des Romans,27 als ein Zentrum allerdings, das keineswegs von einem souveränen Erzähler beherrscht wird, der über der Zeit steht wie Thomas Manns auktorialer Erzähler in Der Zauberberg, sondern das selbst von der Zeit als universeller Bewegung der Zerstörung beherrscht wird. Die Erinnerungsarbeit des Romans ist nichts anderes als der Versuch, dieser Zerstörung einen Ort zu geben, sie zu bannen, um nicht länger von ihr heimgesucht zu werden.
Gegenwartsliteratur. Bd. 2: Grenzen der Fiktionalität und der Erinnerung. München 2007, S. 218– 229, hier S. 221. Jürgen Ritte hat ebenfalls das „Motiv des Totentanzes“ herausgestellt. Jürgen Ritte: Endspiele. Geschichte und Erinnerung bei Walter Kempowski, Dieter Forte und W. G. Sebald. Berlin 2009, S. 89. Dementsprechend könne man die bei Forte in Szene gesetzte „Ikonographie des Todes mittelalterlich nennen, barock oder expressionistisch“ (Ritte: Endspiele, S. 138). 26 Forte: Haus auf meinen Schultern, S. 514. 27 So stellt Eugenio Spedicato fest, dass es sich um „keine verkappte Memoirenliteratur, sondern anspruchsvolle Gedächtnisliteratur“ handle. Eugenio Spedicato: In der Zange von Geschichte und Gedächtnis. Dieter Fortes Romantrilogie Das Haus auf meinen Schultern (1999) als Epos des beschädigten Lebens. In: Weimarer Beiträge 57/3 (2011), S. 395–413, hier S. 396. Spedicato kommt daher zu dem Schluss: „Der eigentliche Protagonist der Trilogie ist das Gedächtnis selber“ (ebd., S. 403).
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Mimesis an die Zeit: W. G. Sebalds Die Ringe des Saturn
Obwohl beide Texte auch über das Erscheinungsjahr hinaus viel miteinander verbindet, gewinnt W. G. Sebald in Die Ringe des Saturn einen anderen Zugang zu Geschichte und Erinnerung als Dieter Forte. Dieter Forte hat in Der Junge mit den blutigen Schuhen einen heterodiegetischen Erzähler gleichsam als Schutz gegen die traumatische Erinnerung der Kindheit als neutrale Instanz aufgebaut.28 Sebald geht einen anderen Weg. Er entscheidet sich von Beginn an für einen homodiegetischen Erzähler, obwohl nicht leicht zu entscheiden ist, ob dieser mit dem Autor selbst identisch ist.29 Das Verwirrspiel um eine fiktive oder reale Autorposition zählt vielmehr zu den Strategien des Textes selbst. Zwar stehen bei Forte wie bei Sebald autobiographische Erfahrungen im Mittelpunkt. Sebalds fingierte Autobiographie aber stellt den Leser vor andere Probleme als Fortes autobiographisch inspirierter Roman. So ist nicht leicht zu entscheiden, welcher Gattungsform der Text überhaupt zugehört: Autobiographie, Reiseroman, Wallfahrt, Dokumentationsliteratur – so lauten die unterschiedlichen
28 Forte selbst vermerkt zu der autobiographischen Dimension seiner Romantrilogie: „Der Junge bin natürlich ich, aber es lagen fünfzig Jahre dazwischen, und aus diesem Zeitunterschied heraus, der ein Geschehen auch objektiviert, habe ich versucht, die Erinnerung neu zu beleben, das, was der Junge erlebt hat, gesehen hat, die Ängste des Jungen, da habe ich mich auch nicht geschont, da habe ich mich schon reinversetzt, da bin ich auch durchgebrochen.“ Forte: Alles Vorherige war nur ein Umweg, S. 152. 29 Mit der Frage nach der Autorposition Sebalds hat sich Michael Niehaus im Zeichen des Schiller’schen Begriffs des Sentimentalischen auseinandergesetzt. Niehaus spricht in diesem Zusammenhang von einer melancholischen Position des Erzählers, die sich zwischen Fiktion und Faktizität errichtet. „Die melancholische Position ist als eine – rhythmisierte – Empfindungsweise definiert, die über ein ‚Ich‘ im Text übertragen werden kann. Das Subjekt des ausgesagten Aussagevorganges macht sich als melancholische Position bemerkbar und verweist, insofern es sich als melancholische Position bemerkbar macht, letztlich auf ein Aussagesubjekt außerhalb des Textes. In einem Text, der weder bloße Fiktion sein will, noch einen expliziten Anspruch auf Faktizität erhebt, kann das Ich nur in einer zumindest latent melancholischen Position auftauchen.“ Michael Niehaus: W. G. Sebalds sentimentalische Dichtung. In: M. N., Claudia Öhlschläger (Hg.): W. G. Sebald. Politische Archäologie und melancholische Bastelei. Berlin 2006, S. 173–187, hier S. 182. Niehaus stellt daher zusammenfassend fest: „Insofern sich das textuelle ‚Ich‘ bei Sebald in der gleichsam reinen melancholischen Position befindet, erschließt es sich von der Empfindungsweise her, ohne zu einer fiktionalen Figur zu werden und ohne sich als eine wirkliche Figur bezeichnen zu können.“ Ebd., S. 183.
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Angebote, die der Text an den Leser macht.30 Dass die Fußreise mit dem identischen Anfangs- und Zielpunkt den Charakter einer Wallfahrt annimmt, hat die Forschung häufig hervorgehoben,31 ebenfalls das damit verbundene Thema der Melancholie, dem die „Leere“ entspricht, die der Erzähler zu Beginn hervorhebt.32 Sie wird noch unterstrichen und darüber hinaus in den Kontext des Pathologischen gestellt, wenn der Erzähler auf die der Rundreise folgende Einlieferung ins Spital und die späte Niederschrift seiner Erinnerungen verweist. Das Augenmerk richtet sich so von Anfang an auf den Zusammenhang von Erinnerungsarbeit im Zeichen der Schriftlichkeit sowie einer melancholischen Erfahrung der Leere, die für den Gang der Erzählung insofern von Bedeutung ist, als die eigentümliche Zeiterfahrung der Melancholie, wie Michael Theunissen gezeigt hat, auf einer Form der Zeiterfahrung beruht, in der die Vergangenheit die unumschränkte Herrschaft über die anderen Formen der Zeit übernimmt.33 Was die offen zur Schau gestellte Melancholie des Erzählers betont, ist die Erfahrung einer Vergangenheit, die sich als unerlöste beständig in Gegenwart und Zukunft einschreibt. Im Unterschied zu Forte, der trauernd gegen das Trauma der eigenen Kindheitserfahrung anschreibt, bringt der Erzähler dieser melancholischen Erfahrung der Zeit keinen Widerstand entgegen.34 Vielmehr räumt er ihr selbst die Herrschaft ein, die sie beansprucht, indem er ihre Arbeit übernimmt und weiterführt. Die memoria, die Die Ringe des Saturn schon in dem titelgebenden Verweis auf die Melancholie in Szene setzen, verfährt so in einem durchaus traditionellen Sinne als mimesis an die sich scheinbar ewig wiederholende Geschichte, als Transformation einer natürlichen in eine künstliche und künstlerische Bewegung mit dem Ziel der
30 Zur Poetik der Reise bei Sebald, zu der als Unterform auch die im Untertitel erwähnte Wallfahrt zählt, vgl. Markus Zisselsberger (Hg.): The Undiscover’d Country. W. G. Sebald and the Poetics of Travel. Suffolk 2010. 31 Vgl. Tanja van Hoorn: Der ‚Engel der Geschichte‘ erzählt. W. G. Sebalds Die Ringe des Saturn. In: Stefan Börnchen, Georg Mein (Hg.): Weltliche Wallfahrten. Auf der Spur des Realen. München 2010, S. 221–234, zur Wallfahrt S. 226f. Van Hoorn spricht in diesem Zusammenhang von einer „inneren Pilgerschaft“ (ebd., S. 227). 32 Vgl. Anna Pieger: Melancholie als Reise- und Schreibbewegung. Zu W. G. Sebalds ‚Die Ringe des Saturn‘. In: Castrum Peregrini. Zeitschrift für Kunst und Geistesgeschichte 278 (2007), S. 46–64, die in dem Reisemotiv eine Therapie gegen die Melancholie erblickt. 33 Vgl. Michael Theunissen: Melancholisches Leiden unter der Herrschaft der Zeit. In: M. T.: Negative Theologie der Zeit. Frankfurt/M. 1991, S. 218–284, hier S. 243f. 34 Auf die spezifische Erinnerungsarbeit Sebalds haben Michael Niehaus und Claudia Öhlschläger hingewiesen. Ihnen zufolge stellt sich bei Sebald „die Frage nach der Gedächtnisfunktion von Literatur in einem sowohl literaturhistorischen wie politischen Rahmen“, wobei eine „sich katastrophisch gestaltende Menschheitsgeschichte“ und eine „melancholische Disposition“ zur Diskussion stehen. Michael Niehaus, Claudia Öhlschläger: Vorwort. In: M. N., C. Ö. (Hg.): W. G. Sebald. Politische Archäologie und melancholische Bastelei. Berlin 2006, S. 7–11, hier S. 7.
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Versöhnung mit ihr.35 Das bestätigt auch der einleitende Hinweis des Erzählers, er glaube „auf ein steinernes Meer“36 hinauszuschauen. Das Bild des steinernen Meeres, das auch Clemens Eich und Christoph Ransmayr in ihren 1995 erschienenen Romanen [→] Das steinerne Meer und Morbus Kitahara bemüht haben, steht bei Sebald anders als bei Eich oder Ransmayr nicht als geographischer Verweis für die österreichische Heimat ein, sondern für die umfassende Erfahrung einer versteinerten Zeit, die der melancholischen Erstarrung entspricht, in die der Erzähler unmittelbar nach seiner Reise fällt. Ob die mimesis an diese letztlich zerstörerische Erfahrung der Zeit das Glücksversprechen einhalten kann, das die Erzählung in ihrem erinnernden Gestus in Aussicht stellt, ist die Frage, die kritisch an Die Ringe des Saturn zu stellen ist. In engem Zusammenhang mit der Melancholie erscheint in ähnlicher Weise wie bei Forte der Tod als der Dreh- und Angelpunkt der Erzählung. Die Ringe des Saturn beginnen mit Reflexionen des Erzählers über den Tod seiner Arbeitskollegen Michael Parkinson und Janine Rosalind Dakyns, nicht ohne mit dem Verweis auf Dürers berühmtes Bild, das Panofsky und Saxl ausführlich im Rahmen ihrer Studie zu Saturn und Melancholie besprochen haben, und den Totenschädel Thomas Brownes den Kontext der Melancholie gleich auf doppelte Weise aufzurufen. Damit wird zugleich deutlich, auf welche allegorischen Bildgebungsmittel der Erzähler in seiner Darstellung zurückgreift: auf eine barocke cumulatio, die in der Häufung der Gegenstände und Zitate eine Überdeterminiertheit der Verknüpfungen begründet, so dass mit Dürer und Browne über das vermittelnde Bild des Totenschädels zudem Shakespeares Hamlet als Urtext der Melancholie in den Blick rücken kann.37 Der Text errichtet so ein dichtes Gewebe von intertextuellen Verweisen, die ganz im Sinne der im Titel angesprochenen Bewegung des Ringes um das leere Zentrum der melancholischen Todesversenkung kreisen, die Dürer, Browne und Hamlet miteinander verbinden. Die Fixierung auf den Tod, von der der Text auf geradezu bildwütige Art und Weise Zeugnis ablegt, erfolgt allerdings nicht allein im Blick auf die in vielerlei
35 Theunissen beschreibt die mimesis an die Zeit als eine von drei Möglichkeiten, ihrer Herrschaft etwas entgegenzusetzen: „Es gibt, scheint mir, drei Formen von gelingendem Leben: erstens eine Herrschaft über die Zeit, die wir der Herrschaft der Zeit über uns abringen; zweitens Freiheit von der Zeit; drittens Versöhnung mit ihr oder Mimesis an sie.“ Michael Theunissen: Können wir in der Zeit glücklich sein? In: M. T.: Negative Theologie der Zeit. Frankfurt/M. 1991, S. 37–88, hier S. 56. Theunissen setzt hinzu: „Herrschaft über die Zeit, Freiheit von der Zeit und Versöhnung mit ihr sind ebensowohl Formen des Glücks“ (ebd., S. 56). 36 Sebald: Ringe des Saturn, S. 13. 37 So spricht Bianca Theisen von „a baroque embrace of vast networks of hidden signification“, die den Text bestimme. B. Theisen: A Natural History of Destruction: W. G. Sebald’s The Rings of Saturn. In: MLN 121 (2006), S. 563–581, hier S. 569.
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Hinsicht pathologische Zeiterfahrung des melancholischen Erzählers. Sie findet ihr geschichtliches Pendant im Holocaust, der sich immer wieder, und oft scheinbar unpassend, in die Reflexionen einschiebt. So führen die Überlegungen zu Browne den Erzähler am Ende des ersten Kapitels zur Diskussion unterschiedlicher religiöser Bestattungsriten der Einäscherung. Wenn der „schwerste Stein der Melancholie die Angst ist vor dem aussichtslosen Ende unserer Natur“,38 dann erscheint der Holocaust in seiner geschichtlichen Bedeutung zugleich als das geheime Gravitationszentrum des Textes, nach dem sich alle von Melancholie beschwerten Steine richten. Sebalds Roman verfügt damit sehr wohl über ein Zentrum, über ein Zentrum allerdings, das der postmodernen Entgrenzung der Trauer zur Melancholie entsprechend auf eigentümliche Weise leer bleibt und das sich nur an den Rändern des Textes einschreibt. Vor diesem Hintergrund bestätigen Die Ringe des Saturn Anselm Haverkamps These zur literarischen Funktion der memoria, daß der Text ein künstliches Gedächtnis ist, dessen Speicherkapazität weitgehend unabhängig von individuellen Absichten und Reflexionen auf Absichten ist und deshalb unabhängig von der Erklärung solcher Absichten auf ihre technischen Voraussetzungen und Eigenschaften zu untersuchen ist.39
Haverkamp unterstreicht in diesem Zusammenhang vor allem, „daß es bei der rhetorischen memoria am meisten auf die Ordnung der Dinge ankomme“,40 wobei die Urszene der Mnemotechnik bei Simonides bereits darauf hinweise, dass die von der memoria hergestellte Ordnung immer auf den Tod bezogen ist, das Gedächtnis dementsprechend immer Totengedenken ist. Sebald kommt dem nach, indem er im Rekurs auf Foucault und Borges selbst die Ordnungsleistung literarischer Texte thematisiert, um sie gleichwohl mit der Metapher des Labyrinths in Frage zu stellen. Was im Mittelpunkt des Textes steht, ist so eine sich ständig verschiebende Ordnung des Todes, die sich in der Verknüpfung von Text und Bild bei Sebald auch als medienarchäologischer Beitrag zur Moderne verstehen lässt. Die Ruine von Somerleyton, die Erinnerung an den verstorbenen Nachbarn Frederick Farrar, der Verweis auf Buffons Naturgeschichte und den Major Le Strange, dessen Tod überdies zur Erinnerung an Bergen-Belsen führt, an
38 Sebald: Ringe des Saturn, S. 39. 39 Anselm Haverkamp, Renate Lachmann: Text als Mnemotechnik – Panorama einer Diskussion. In: A. H., R. L. (Hg.): Gedächtniskunst. Raum – Bild – Schrift. Studien zur Mnemotechnik. Frankfurt/M. 1991, S. 7–23, hier S. 12. 40 Anselm Haverkamp: Auswendigkeit. Das Gedächtnis der Rhetorik. In: A. H., Renate Lachmann (Hg.): Gedächtniskunst. Raum – Bild – Schrift. Studien zur Mnemotechnik. Frankfurt/M. 1991, S. 25–52, hier S. 26.
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dessen Befreiung er partizipiert hatte, die Darstellung der Seeschlacht zwischen Holland und England: Immer stehen Tod und Zerstörung im Fokus. Was der melancholische Blick vor sich sieht, ist eine barocke Häufung durch die Sense Saturns hinterlassener Leichen. Das Foto der blutdurchtränkten Uniform Franz Ferdinands wird dadurch ebenso zum Merkbild der Zerstörung wie die Geschichte von Joseph Conrad und Casement, der Taipingrebellion in China oder der Trauermanie des Mr. Squirrel. Was der Text errichtet, ist ein „Kolloquium mit dem Toten“41, das den Text mit den Bildern von Windmühlen, Fährmännern und Friedhöfen zudem als Reise durch ein symbolisches Totenreich, als eine literarische katábasis erscheinen lässt. Wie jede Jenseitsreise seit der des Odysseus, so findet sie ihr Ziel in der Orientierung im Leben durch das Gespräch mit den Toten. Der Erzähler aber findet aus dem Totenreich, das der Text in seinen beständigen Verweisen errichtet, nicht zurück, versenkt sich vielmehr tief in das Modell des Tempels von Jerusalem und in Chateaubriands Mémoires d’outre-tombe, wandert zum Friedhof von Ditchingham, um auch an diesem Ort des Gedenkens an die Toten die Zerstörung der Parklandschaft durch die Ulmenkrankheit zu thematisieren. Wo immer auch der Erzähler sich hinbewegt, was sich unter seinem melancholischen Blick entrollt, sind nichts als Bilder des Todes und der Zerstörung. Neben dem allesbestimmenden Thema Tod und Melancholie sowie der damit verbundenen Frage nach einer archäologischen Tiefenordnung der Geschichte nimmt die Reflexion auf die eigene Textualität eine besondere Rolle in Die Ringe des Saturn ein. Sie ist verknüpft mit dem immer wieder in den Erzählgang eingeschobenen Bild der Seidenraupen, das der Schluss noch einmal aufruft. Auch der Verweis auf die Seidenraupen ist durch die Tradition gesättigt. So verweist der Text neben den gelehrten Ausführungen zu Geschichte und Ursprung der Seidenweber auf die Aufgabe des Künstlers, der der gleichen Arbeit des Webens nachkommt. In Goethes Torquato Tasso hatte das Seidenraupengleichnis im fünften Akt die Geburt der Dichtung an die symbolische Verarbeitung von Schmerz gebunden. Wenn ich nicht sinnen oder dichten soll, / So ist das Leben mir kein Leben mehr. / Verbiete du dem Seidenwurm zu spinnen, / Wenn er sich schon dem Tode näher spinnt. / Das köstliche Geweb entwickelt er / Aus seinem Innersten und läßt nicht ab / Bis er in seinen Sarg sich eingeschlossen.42
41 Sebald: Ringe des Saturn, S. 238. 42 Johann Wolfgang Goethe: Torquato Tasso. In: J. W. G.: Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche. Vierzig Bde. I. Abteilung. Bd. 5: Dramen 1776–1790. Hg. v. Dieter Borchmeyer. Frankfurt/M. 1988, V. 3081–3087.
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Im Tasso stellt bereits Goethe die Webearbeit des melancholisch-erkrankten Dichters in den Umkreis des Todes. In ähnlicher Weise dient die Auseinandersetzung mit den Seidenraupen bei Sebald einer poetologischen Selbstreflexion. „Der Komplex der Seidenproduktion, der die erzählerischen Digressionen leitmotivisch verknüpft, spiegelt zugleich seinen Reflexionsprozess und damit das poetische Prinzip des Textes selbst“,43 kommentiert Bettina Mosbach. Der Erzähler in Die Ringe des Saturn nutzt den Rekurs auf die Seidenraupen, um mit Karl Philipp Moritz an den Kontext der Melancholie im Zeichen der Erfahrungsseelenkunde zu erinnern und schließlich in der Diskussion der Rolle der Seidenspinner im Dritten Reich seinen Schlusspunkt zu finden. Dem Titel einer Wallfahrt entsprechend findet der Text in dem abschließenden Datum zu seinem eigenen Anfang zurück. Der Schluss steht ganz im Zeichen des 13. April 1995 und dessen textueller Verdichtung. Welt- und Familiengeschichte verbinden sich im Zeichen des Todes als Siegel der Geschichte. Mit der Reflexion auf die Seide und das schwarze Crêpe de Chine als „Ausdruck der tiefen Trauer“44 endet der Text. Der seidene Trauerflor, mit dem Spiegel und Bilder in einem Totenhaus verhängt werden, trägt so abschließend noch einmal der Todesverfallenheit Rechnung, von der der Text in einer digressiven Folge von barocken Todesbildern Zeugnis ablegt.
Erinnerungspolitik 1995 Die literarische Erinnerungsarbeit steht im Jahr 1995 unter besonderen Vorzeichen. 50 Jahre nach dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft geht es den meisten Texten noch immer darum, Geschichte unter dem Signum scheinbar universeller Zerstörung zu fassen. Dennoch lassen sich markante Unterschiede in der Erinnerungspolitik ausmachen. Während Marcel Beyer auf innovative Weise die alte Geschichte von Schuld und Verstrickung noch einmal erzählt, wandelt sich das Paradigma der Erinnerung bei Schlink auf eine keineswegs selbstverständliche Art und Weise: Nicht mehr der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus wird gedacht, sondern den spezifisch deutschen Erfahrungen der Scham, die mit der Geschichte des Dritten Reichs einhergehen. Forte und Sebald gehen dagegen einen Weg, der formal wie inhaltlich auf Vorbilder der klassischen Moderne zurückgreift. Beide sind an Prozessen der longue durée interessiert, und beide rufen in der Erinnerung eine archäologische
43 Bettina Mosbach: Figurationen der Katastrophe. Ästhetische Verfahren in W. G. Sebalds Die Ringe des Saturn und Austerlitz. Bielefeld 2008, S. 14. 44 Sebald: Ringe des Saturn, S. 350.
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Tiefendimension der Zeit hervor, die im Wesentlichen auf einem Gedenken an den Tod beruht, das allerdings kaum eine versöhnende, geschweige denn eine gemeinschaftsstiftende Funktion erfüllt, wie es von den Erinnerungsorten Noras und Assmanns erwartet wird. Vielmehr greift die Zerstörung, die Gegenstand der Darstellung ist, auf diese selbst über, so dass Geschichte und Erinnerung nicht nur Thema, sondern selbst Subjekt der Texte sind. Die Erinnerungsarbeit, die Forte in Der Junge mit den blutigen Schuhen und Sebald in Die Ringe des Saturn in Szene setzen, unterscheidet sich aber gleichzeitig in wesentlichen Punkten voneinander. Wo sich Forte einer Trauerarbeit verpflichtet, die Familien- und Zeitgeschichte miteinander verbindet, da sucht Sebald die Entgrenzung der Trauer durch die Melancholie, die der Text ostentativ zur Schau stellt. Wo Forte den Anschluss an die klassische Moderne, an Thomas Mann und Marcel Proust sucht, da führt die Entgrenzung der Trauer zur Melancholie Sebald in die postmodernen Gefilde eines dekonstruktiv erinnerten Benjamins und Borges’. Vor diesem Hintergrund kann es nicht darum gehen, Sebalds „Archäologie der zerstörten Welt des 20. Jahrhunderts“,45 so Gerhard Neumann, gegen Fortes Erinnerung an die Bombardierung Düsseldorf auszuspielen. Festzuhalten bleibt aber, dass beide mit der Todesverfallenheit des menschlichen Daseins, das als einzige Konstante in der Geschichte gelten kann, auf unterschiedliche Weise umgehen: Sebald in der mimesis an die zerstörerische Bewegung der Zeit, die sich in der Geschichte als eine unaufhörliche Folge von Katastrophen enthüllt, Forte, indem er in der Synthese der von der Familie überlieferten zyklischen und fortschreitenden Zeit Widerstand gegen den geschichtlichen Verfall aufzubringen sucht. Erinnerung erscheint bei Forte als Widerstand gegen den Tod und als Kraft der Lebensbewahrung, bei Sebald hingegen als stets schon pathologische Form der melancholischen Versenkung in den Tod. Beide Texte unterstellen so die Erfahrung der Geschichte einer Metaphysik der Zeit, die schon in der Proust’schen Recherche ihren Höhe- und Wendepunkt gefunden hat. Was von der literarischen Erinnerungspolitik im Jahre 1945 zu erwarten ist – das zeigen auch die Romane von Elfriede Jelinek und Christoph Ransmayr, in denen nicht Erinnerung selbst im Mittelpunkt steht, sondern die dystopischen Szenarien einer Welt, in der sich das Erbe des Nationalsozialismus weiter fortschreibt –, ist keine Begründung eines kollektiven Gedächtnisses, sondern dessen destabilisierende Rückführung auf die die Geschichte dominierenden Verhältnisse der Herrschaft, die in der schmerzhaften Unterwerfung unter die Zeit ihren metaphysischen Grund gefunden haben.
45 Gerhard Neumann: „lange bis zum Zerspringen festgehaltene Augenblicke“. W. G. Sebald liest aus seinem Buch „Die Ringe des Saturn“. In: Bayerische Akademie der Schönen Künste. Jahrbuch 13/2 (1999), S. 533–567, hier S. 566.
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Von Tätern und Opfern NS-Geschichte(n) in der Literatur Im Jahr 1995 ist es dem österreichischen Autor Robert Menasse vorbehalten, die Eröffnungsrede zur Frankfurter Buchmesse zu halten. Programmatisch heißt es darin: „Vielleicht war ‚Geschichte‘ der größte historische Irrtum der Menschheit.“1 Menasse beruft sich in seiner Rede auf einen Geschichtsbegriff, der am Ende des 20. Jahrhunderts seine Sinnhaftigkeit verloren habe und als vermeintlich falsch verstandenes Modell eines teleologischen Prozesses verantwortlich zeichne für die „Abfolge von Greuel“, die sich hinter diesem Katastrophenjahrhundert verberge:
„Geschichte“ ist so oder so ein sehr zweifelhaftes Konstrukt, die Annahme, daß sie einen immanenten Sinn und ein Ziel hat, ist reiner Glaube, und daß es Techniken gibt, sinnvoll in sie einzugreifen, das ist schon religiöser Irrsinn. Alle großen Menschheitsverbrechen wurden und werden immer von geschichtsbewußten Menschen begangen, immer mit dem Gefühl, „im Auftrag der Geschichte“ zu handeln, und dieses Gefühl macht skrupellos. Jede „Lehre aus der Geschichte“ ist dürftig und jedes „Geschichtsziel“ ist so spekulativ, daß es abenteuerlich ist, damit den Eingriff in eine lebendige Wirklichkeit zu legitimieren. Kein sogenanntes „geschichtsbewußtes Handeln“ kann glaubhaft voraussetzen, daß es so logisch funktioniert wie die einfache Abfolge von Saat und Ernte. Wenn es einen ‚Misthaufen der Geschichte‘ gibt, dann ist das, was am dringendsten auf diesen Misthaufen gehört, unser Begriff von Geschichte selbst.2
Pointiert fasst Menasse hier die Umstände zusammen, die den Geschichtsbegriff im Jahr 1995, an der Schwelle zum 21. Jahrhundert, zu einem problematischen machen: Spätestens mit der durch den linguistic turn postulierten Erkenntnis, dass eine der Sprache vorgängige Geschichte nur schwer zu haben ist, sind Geschichte und Vergangenheit unsicher geworden und Historiografie und Literatur, Fakten und Fiktion im Zeichen der Narration in ein neues Konkurrenzverhältnis getreten. Angesichts dieses so „zweifelhaften Konstrukts“, das sich Geschichte nennt, warnt Menasse vor deren Instrumentalisierung: Als Handlungsrichtlinie könne die Geschichte am Ende eines Jahrhunderts, das von Ver
1 Robert Menasse: „Geschichte“ – der größte historische Irrtum. In: Die Zeit, Nr. 42 (13.10.1995), S. 80. 2 Ebd.
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brechen im Namen der Geschichte geprägt sei, keineswegs mehr funktionieren, allenfalls als Versuch, „dem Sinnlosen Sinn zu geben“.3 Der Autor Robert Menasse beendet seine Rede in Frankfurt nicht, ohne einen Ausweg aus dem Dilemma anzudeuten – einen jedoch, den er ausschließlich im Feld der Literatur verortet: Was können wir tun? Was Sie tun können, weiß ich nicht. Sie tun, was Sie können. Was wir Autoren tun können, ist schreiben. Unser Schreiben ist ein lautes Singen in finsteren Wäldern. Dieses Singen soll uns die Angst nehmen, nicht Ihnen. Es sind Poetische Wälder – Gefallen findet, wer sie gefällt.4
Ein solches „Singen in finsteren Wäldern“ dürfe sich gerade nicht von der Geschichte abwenden, sondern müsse sich vielmehr, so fordert Menasse in einem Interview aus dem gleichen Jahr, immer wieder neu mit dem Geschichtsbegriff auseinandersetzen: Die neunziger, obwohl wir erst die erste Hälfte hinter uns haben, haben ja bereits ein bestimmtes Image. Sie begannen 1989 und sind das erste Jahrzehnt seit langem, in dem wieder Weltgeschichte passiert ist und nicht nur aufzuarbeiten oder festzuschreiben versucht wurde. Ich glaube, wenn die Literatur sich als zeitgenössisch versteht und das reflektieren will, dann wird sie sich einfach verstärkt mit dem Geschichtsbegriff auseinandersetzen müssen.5
Menasse skizziert hier einen Spannungsbogen, der die Produktion und die Rezeption historisch-fiktionaler Texte im Jahr 1995 ausmacht – einem Jahr, das sich von der historischen Gegenwart (der deutschen Einheit) ebenso geprägt zeigt wie von der historischen Vergangenheit, dem inzwischen 50 Jahre zurückliegenden Ende des Zweiten Weltkrieges. Entsprechend prominent ist die Rolle der (Zeit-)Geschichte in dem Literaturjahr besetzt, wie auch der Blick auf die exemplarischen Analysen am Ende dieses Bandes offen legt. Sie zeigen, wie sehr zum einen zeithistorische Bezüge zur Wende (Volker Braun, [→] Der Wendehals; Thomas Brussig, [→] Helden wie wir; Günter Grass, [→] Ein weites Feld, Thomas Hettche, [→] Nox; Reinhard Jirgl, [→] Abschied von den Feinden; Robert Menasse, [→] Schubumkehr) und zum anderen der historische Themenkomplex „NS-Zeit / Zweiter Weltkrieg“ (Marcel Beyer, [→] Flughunde; Dieter Forte, [→] Der Junge mit den blutigen Schuhen; Elfriede Jelinek, [→] Die Kinder der Toten; Bernhard Schlink,
3 Ebd. 4 Ebd. 5 Ernst Grohotolsky: „Mit avanciertem Kunstanspruch erzählen.“ (1995) Gespräch mit Robert Menasse. In: Dieter Stolz (Hg.): Die Welt scheint unverbesserlich. Zu Robert Menasses „Trilogie der Entgeisterung“. Frankfurt/M. 1997, S. 305–316, hier S. 314f.
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[→] Der Vorleser) das literarische Feld dominieren. Dabei fassen diese Texte nicht einfach Geschichte in Geschichten, sondern nehmen an einem Diskurs teil, der den Geschichtsbegriff im ausgehenden 20. Jahrhundert inner- wie extraliterarisch neu bestimmt.
Unzuverlässigkeit der Geschichte und der Erinnerung Die historisch-fiktionale Darstellung wird in den literarischen Texten nicht einfach in den Dienst der Geschichte sowie einer Geschichtsschreibung gestellt und misst ihren ästhetischen Wert keineswegs mehr an einer potentiellen ‚historischen Erkenntnis‘. Die lange Zeit in historisch-fiktionaler Literatur, etwa im realistischen historischen Roman intendierte „historische Wahrheit“ ist inzwischen nicht nur als Referenzwelt literarischer Texte, sondern auch als unzuverlässiger Bezugspunkt für die Historiografie wie die Historik selbst problematisiert worden.6 Die (vorrangig angloamerikanische) Literaturwissenschaft hat ihren Blick bereits sehr früh auf solche historisch-fiktionalen Texte gerichtet, die damit spielen, dass man eben nicht weiß, wie es gewesen ist. Während Hans Vilmar Geppert in seiner komparatistischen Studie schon 1976 schlicht vom ‚anderen‘ historischen Roman7 spricht und Ina Schabert in ihrer Untersuchung zum historischen Roman in England und Amerika den „reflektiven historischen Roman“8 skizziert, etabliert Linda Hutcheon in ihrer Poetik der Postmoderne den programmatischen Begriff der „historiografischen Metafiktion“ – und meint damit literarische Texte, die weniger auf die fiktionale Darstellung der Historie abzielen, als dass sie vielmehr die Fiktion der Historie bereits entlarven.9 Eine ausführliche Merkmalsmatrix historiografischer Metafiktion legt schließlich der Anglist Ansgar Nünning 1995 in seiner Habilitationsschrift vor, die den autoreflexiven und selbstreferentiellen Implikationen, den metafiktionalen Elementen und der Reflexion
6 Hans-Jürgen Goertz: Unsichere Geschichte. Zur Theorie historischer Referentialität. Stuttgart 2001. 7 Hans Vilmar Geppert: Der ‚andere‘ historische Roman. Theorie und Struktur einer diskontinuierlichen Gattung. Tübingen 1976, S. 126. 8 Ina Schabert: Der historische Roman in England und Amerika. Darmstadt 1981, S. 36. 9 Linda Hutcheon: A poetics of postmodernism. History, theory, fiction. New York, London 1988, S. 5.
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über das Verhältnis von Fiktion und Geschichte besonderen Signalcharakter zuschreibt.10 Dabei lässt sich dieses erzählerische Verfahren nicht auf ein Charakteristikum postmoderner Literatur reduzieren, denn es geht ihm nicht um eine bloße Relativierung der historischen Fakten oder gar ihrer Leugnung. Vielmehr arbeitet ein solches die historiografische Arbeit reflektierendes Erzählverfahren jenem literarischen Kitsch entgegen, vor dem gerade mit Blick auf Versuche, den Holocaust zu fiktionalisieren, gewarnt wird. Literatur über Erfahrungen des Holocausts und das Erinnern daran muss das eigene Erzählen wie Erinnern zum Problem machen und darf sich eben nicht – so lauten übereinstimmend Forderungen jüdischer Autoren und Holocaust-Überlebender wie Ruth Klüger oder Imre Kertész – in detailversessene Authentizitätssimulationen flüchten, die weder der erlebten noch der erinnerten Realität von Auschwitz gerecht werden können.11 Die sich in den 1990er Jahren intensivierende Debatte um eine ‚angemessene‘ literarische Darstellungsform der NS-Zeit wird flankiert von einer, wie Saul Friedländer konstatiert, „wachsende[n] Sensibilität für die Darstellung der Shoa in Literatur und Kunst“.12 Die fiktionalisierten „Holocaust-Geschichten“, insbesondere jene, die nicht mehr von Zeitzeugen verfasst sind, erfahren durchaus ambivalente Bewertungen: Während Elie Wiesel das Erzählen über den Holocaust ausschließlich Überlebenden oder Historikern vorbehält und den Begriff der „Holocaust-Literatur“ als Widerspruch in sich (contradiction in terms) entschieden ablehnt,13 fordert der spanische Schriftsteller und Holocaust-Überlebende Jorge Semprún mit Nachdruck die Teilnahme der Gegenwartsliteratur an der Vergangenheitsbewältigung ein: Wir befinden uns nämlich in einer besonderen historischen Situation. Bald, spätestens in einigen wenigen Jahren, gibt es keine Zeugen mehr. Keine lebendigen Zeugen. […] Darum wäre es schön, wenn Erzählungen, Romane, Theaterstücke, Musikwerke und andere ästhetische Erfahrungen den Platz der Zeugnisse einnähmen. Wir brauchen jetzt junge Schrift-
10 Ansgar Nünning: Von historischer Fiktion zu historiographischer Metafiktion. Bd. 1: Theorie, Typologie und Poetik des historischen Romans. Trier 1995. 11 Imre Kertész: Wem gehört Auschwitz? In: Die Zeit (19.11.1998); Ruth Klüger: Mißbrauch der Erinnerung: KZ-Kitsch. In: R. K.: Gelesene Wirklichkeit. Fakten und Fiktionen in der Literatur. Göttingen 2006, S. 52–67. 12 Saul Friedländer: Trauma, Erinnerung und Übertragung in der historischen Darstellung des Nationalsozialismus und des Holocaust. [1992] In: S. F.: Nachdenken über den Holocaust. München 2007, S. 140–153, hier S. 153. 13 Elie Wiesel: For some measure of humility. In: Sh’ma 5/100 (1975), S. 314–316, hier S. 314.
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steller, die das Gedächtnis der Zeugen, das Autobiographische der Zeugnisse, mutig entweihen. Jetzt können und sollen Gedächtnis und Zeugnis Literatur werden.14
Semprún nimmt hier den literarischen Text als Medium des kollektiven Gedächtnisses bewusst in die Pflicht – und macht die besondere Herausforderung sichtbar, der sich die Literatur stellen muss, wenn sie tatsächlich den Platz der Zeugnisse einnimmt. Der literarische Text, allen voran, wenn er die Erinnerungen an den Holocaust wachzuhalten sucht, kann die Fakten, die er schildert, kaum beliebig verzerren. Andererseits gilt es auch hier, einen Literaturbegriff ernst zu nehmen, der den literarischen Text nicht auf seine mimetische Funktion reduziert, sondern die Freiheit der Fiktion nach wie vor behauptet. Und der jene auch von Klüger angesprochenen Neueinschreibungen reflektiert, die mit jedem Erinnern, mit jeder (Re-)Konstruktion von Geschichten aus der Vergangenheit einhergehen: Bilder können höchstens Werkzeug des Erinnerns sein. Wer auch immer sich wie auch immer mit dem Holocaust abgibt, interpretiert. […] Die vermeintliche Sachlichkeit der aufbewahrten Objekte und Texte trügt. Die Rezeption verändert das Faktum.15
Was bedeutet das für eine Literatur, die historiografische wie Erinnerungsprozesse nachzuzeichnen sucht? Sie darf sich nicht davor scheuen, als Medium kommunikativen und kollektiven Erinnerns in Erscheinung zu treten und muss gleichzeitig die Modellierungsprozesse bereits reflektieren, denen das menschliche Gedächtnis im Allgemeinen und in seiner Überführung in das Medium der Literatur im Besonderen unterliegt. Für historisch-fiktionale Texte grundsätzlich, vor allem für jene, die den Holocaust zu erzählen suchen, gilt die Herausforderung, welche Klüger am Ende ihres Beitrags zu Grenzen und Möglichkeiten einer „Holocaust-Ästhetik“ formuliert hat: Wo fiktive und historische Kategorien aufeinander stoßen, kann man sie nicht unaufmerksam nebeneinander stehen lassen. Und das ist wohl die wichtigste Lektion, die die Holocaust-Literatur uns lehrt: den Konflikt zwischen Faktizität und Fantasie anzuerkennen und dennoch einen Ausgleich zu suchen.16
14 Jorge Semprún: Wovon man nicht sprechen kann. In: Norbert Gstrein, J. S.: Was war und was ist. Reden zur Verleihung des Literaturpreises der Konrad-Adenauer-Stiftung am 13. Mai 2001 in Weimar. Frankfurt/M. 2001, S. 9–17, hier S. 14f. 15 Klüger: Mißbrauch der Erinnerung, S. 63f. 16 Ruth Klüger: Was soll da schöne Literatur? In: Die Welt (26.1.2013). Online: http://www.welt. de/print/die_welt/literatur/article113147957/Was-…1
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Literarisch verhandelte Erinnerungsprozesse loten diesen mitunter problematischen Grenzgang zwischen Faktizität und Imagination paradigmatisch aus. Der literarische Text scheint prädestiniert, solche sinnstiftenden Erinnerungsprozesse, die das kommunikative Gedächtnis begründen, nicht nur sichtbar zu machen, sondern sie zu entlarven – nämlich als jene von Harald Welzer so bezeichneten „Formen der Verlebendigung von Vergangenem, das in diesem Prozeß nie bleibt, was es war.“17
Neue Formen der Erinnerungsarbeit: Ein Generationswechsel und seine Folgen Relevant gerade für die literarische Darstellung des Holocausts im Verlauf der 1990er Jahre ist zweifelsohne der sichtbar werdende Generationswechsel, der unmittelbaren Einfluss auf die Dynamik des kollektiven Gedächtnisses nimmt. Die besondere Konsequenz dieses Generationswechsels ist die schwindende Stimme des Zeitzeugen – jener Generation der Überlebenden, der Opfer und der Täter. Nicht zufällig vergegenwärtigt das Bewahren des Zeitzeugengedächtnisses gerade in den 1990er Jahren einen fundamentalen Aufgabenbereich der NS-Historiografie, ablesbar an dem Bemühen um ein möglichst umfangreiches Archiv an Dokumentationsmaterial, das dem Verstummen der ‚erlebten Geschichte‘ Einhalt gebieten soll.18 Das Aufwerten individueller Erinnerungen zu wichtigen Quellen der Historie hat dabei Folgen für den Geschichtsbegriff. So fragt Lucian Hölscher, der renommierte Bochumer Geschichtstheoretiker, im Jahr 1995: „Tritt an die Stelle der traditionellen Geschichtswissenschaft eine neue Erinnerungskultur?“19 Dass das menschliche Gedächtnis fehlbar ist und Erinnerungen keineswegs ein objektives, vollständiges Bild der Vergangenheit liefern, ist für die „neue Geschichtswissenschaft“, wie Hölscher sie beschreibt, keineswegs ein Verlust. Gerade in ihrer Fehlbarkeit wird die Erinnerung „in dem, was darin vergessen, verdrängt
17 Harald Welzer: Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung. München 2005 [2002], S. 235. 18 Etwa die 1994 von Steven Spielberg initiierte „ Shoah Foundation“, die ein Archiv von 52.000 auf Video aufgezeichneten Interviews mit Holocaust-Überlebenden zur Verfügung stellt. (Homepage: http://college.usc.edu/vhi) 19 Lucian Hölscher: Geschichte als „Erinnerungskultur“ (1995). In: L. H.: Semantik der Leere. Grenzfragen der Geschichtswissenschaft. Göttingen 2009, S. 81–99, hier S. 91.
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oder unterschlagen wurde, eine wertvolle Quelle, die zum Sprechen zu bringen Aufgabe einer historischen Mikroanalyse sein kann.“20 Mit dem angesprochenen Generationswechsel einher geht der Wandel vom Erfahrungs- und Tätergedächtnis zu Formen einer kollektiven Erinnerung der Nachgeborenen, die – mit Aleida Assmann – die dunklen Kapitel ihrer Geschichte nicht mehr mit Vergessen übergehen können, sondern für diese Verantwortung übernehmen, indem sie sie im kollektiven Gedächtnis stabilisieren und ins kollektive Selbstbild integrieren.21
Innerhalb der Erlebnisgeneration konnte es kaum zu einer Aussöhnung zwischen Opfer- und Tätergedächtnis kommen, da das retrospektive Aufrufen des Erlittenen (bei den Opfern) und Verübten (bei den Tätern) unterschiedlichsten Zwecken dient. Wo es Letzteren um eine konsequente Schuldabwehr geht, gehören Erinnerungsprozesse gerade zu den notwendigen Aufarbeitungsstrategien der Opfer. „Tabuisierung der Tat“, konstatiert Assmann daher, „ist deshalb das Ziel des Täters, während aufarbeitende Erinnerung das therapeutische und moralische Ziel des Opfers ist.“22 Erst der darauf folgenden, vom Krieg nicht mehr unmittelbar betroffenen Generation gelingt es, Täter- und Opfergedächtnis näher zusammenzuführen – nun wird die Schuld der Täter tatsächlich benannt und Verantwortung für das verursachte Leid übernommen: „Zwischen Tätern und Opfern gilt heute gemeinsames Erinnern als eine wesentlich bessere Grundlage für eine friedliche Koexistenz als gemeinsames Vergessen.“23 In der zweiten Hälfte der 1990er Jahren beginnt damit eine als „Vergangenheitsbewältigung“ gekennzeichnete Geschichtsarbeit, die den Prozeduren des Vergessens und Verdrängens der Nachkriegsjahrzehnte eine neue Form der Erinnerungspolitik entgegensetzt – das, nach Tony Judt, „öffentliche Erinnern als das zentrale Fundament der kollektiven Identität“.24 Diese institutionalisierte und zugleich kollektiv verstandene Form der Gedächtnispolitik geht mit einem gesteigerten Bewusstsein für die Konstruktion der Erinnerung, des kollektiven Gedächtnisses, schließlich der Geschichte und ihrer Medien einher. Diese erfahren nun, Aleida Assmann hat darauf hingewiesen, eine neue Bewertung:
20 Ebd., S. 90f. 21 Aleida Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. München 2006, S. 114. 22 Ebd., S. 82. 23 Ebd., S. 115. 24 Tony Judt: Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart. München 2006, S. 965.
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An die Stelle der kritischen Rationalität, die Bilder vorwiegend als Mittel der Manipulation einstuft, ist die Überzeugung einer irreduziblen Angewiesenheit des Menschen auf Bilder und kollektive Symbole getreten. […] Natürlich sind nicht nur Bilder daran beteiligt, sondern auch Erzählungen, Orte, Denkmäler und rituelle Praktiken.25
Das literarische Erzählen zeigt sich vom Wandel des Erfahrungs- zum kollektiven Gedächtnis ebenso beeindruckt wie von der (multi-)medialen Ausweitung des Geschichts- wie Erinnerungsbegriffes. Texte, die sich literarisch mit der NS-Zeit auseinandersetzen, reflektieren das neue Gedächtnisparadigma, thematisieren die Problematik eines auf individuellen wie kollektiven Erinnerungen beruhenden Geschichtsbegriffes ebenso wie dessen Abhängigkeit von einer medial produzierten Bildsprache.
Marcel Beyer: Flughunde Marcel Beyers Roman erweist sich insofern als paradigmatisch für den literarischen Umgang mit der Holocaust-Historiografie im ausgehenden 20. Jahrhundert, als er die Täterperspektive explizit macht und den Begriff der „historischen Authentizität“ zugleich problematisiert. Bereits durch die polyvalente Erzählstruktur ist dem Text eine tiefe Skepsis einem vermeintlich zuverlässigen historischen Erzählen wie Erinnern gegenüber eingeschrieben.26 Der Roman lässt die Stimmen zweier Ich-Erzähler parallellaufen, die jeweils auf historisch verbürgte Figuren zurückgehen. Auf der einen Seite Hermann Karnau, eigentlich ein Wachmann im Führerbunker, der im Roman als fanatischer Tontechniker im Dienst nationalsozialistischer Propaganda und grausamer Experimente am menschlichen Körper inszeniert wird. Als ausgebildeter Akustiker ist Karnau der Techniker hinter der nationalsozialistischen Rhetorikmaschinerie: Die von ihm angebrachten Mikrophone und Lautsprecherblöcke sorgen dafür, dass auch die hinterste Reihe bei propagandistischen Großveranstaltungen vom akustischen Eindruck mitgenommen wird. Auf der anderen Seite erzählt Helga Goebbels, die älteste Tochter Joseph Goebbels, die zu Beginn des Romans acht und am Ende, zum Zeitpunkt der Ermordung durch ihre Eltern, 12 Jahre alt ist.
25 Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit, S. 30. 26 Zur aufgesprengten Erzählperspektive und den unterschiedlich ‚unzuverlässigen‘ Stimmen Helgas und Karnaus vgl. Barbara Beßlich: Unzuverlässiges Erzählen im Dienst der Erinnerung. Perspektiven auf den Nationalsozialismus bei Maxim Biller, Marcel Beyer und Martin Walser. In: B. B., Katharina Grätz, Olaf Hildebrand (Hg.): Wende des Erinnerns? Geschichtskonstruktionen in der deutschen Literatur nach 1989. Berlin 2006, S. 35–52.
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Relativiert bereits die kindliche Perspektive Helgas die Berichterstattung Karnaus, allen voran in den Passagen, die von beiden erzählt werden, rüttelt zudem eine weitere Erzählinstanz an der Glaubwürdigkeit Karnaus. Diese übergeordnete Erzählstimme führt die Handlung kurz vor Romanende in die Gegenwart von 1992 und schildert den Fund eines bislang unbekannten Schallarchivs im Keller eines Dresdner Waisenhauses. Als ein in den vorgefundenen Dokumenten verzeichneter ehemaliger Wachmann des Archivs wird der noch lebende Hermann Karnau im Zuge einer Begehung vor Ort durch eine Untersuchungskommission zu den Hintergründen des Archivs befragt. Jahrzehnte nach seiner Teilnahme an den entsetzlichen Akustikexperimenten am menschlichen Körper liefert der Täter ein harmloseres Bild sowohl vom Ausmaß der unter nationalsozialistischer Führung abgehaltenen ‚Forschungen‘ in den Kellerräumen als auch von seiner eigenen Beteiligung daran. Dabei widerspricht er sich selbst bzw. dem erzählenden Ich der Vergangenheit. So werden in einer zynisch anmutenden euphemistischen Wendung aus den „Versuchspersonen“, die, so weiß der Ich-Erzähler Karnau zu berichten, für die Experimente „wachgeschlagen“ wurden,27 im retrospektiven Bericht des alternden Mannes „Klienten“, die den Versuchsleitern „ihre Stimme geliehen hatten“.28 Die Aussagen Karnaus gegenüber der Untersuchungskommission stehen nicht nur im Gegensatz zu seinem vorausgegangenen homodiegetischen Erzählerbericht, sondern sind darüber hinaus auch mit den vorgefundenen Daten und Fakten kaum vereinbar.29 Die tatsächlichen Geschehnisse in den Untersuchungsräumen lassen sich nicht rekonstruieren – es bleibt allein der Fiktion vorbehalten, das Ausmaß der Verbrechen und die Schuld der daran Beteiligten zu imaginieren. Marcel Beyer hat in einem Interview die multiperspektivische Erzählstruktur seines Romans als Ausdrucksform gekennzeichnet, durch die das Interesse des Lesers weniger auf die verhandelten historischen Fakten (histoire) als vielmehr auf den Umgang mit diesen (discours) gelenkt und eine grundsätzliche Skepsis erzielt werde: Ich traue diesem Karnau nicht ganz. Es ist in einem Buch immer eine künstliche Situation, wo eben jemand unaufgefordert 100, 200 oder bis zu 1000 Seiten erzählt. […] Ist nicht vielleicht diese ganze Rede, die Karnau führt, doch an jemanden gerichtet? Ist es nicht zugleich eine Rechtfertigungs- und Verharmlosungstaktik, die er hier doch immer wieder verfolgt, weil er auch manchmal einfach lügt.30
27 Marcel Beyer: Flughunde. Roman. Frankfurt/M. 1996 [1995], S. 170. 28 Ebd., S. 223. 29 Ebd., S. 224. 30 „Wenn Literatur noch einen Sinn hat, dann den, dass sie ein bevormundungsfreier Raum ist.“ Interview mit Marcel Beyer geführt von Anke Biendarra und Sabine Wilke. In: Sabine Wilke: Ist
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Zugleich beugt ein solch polyvalentes Erzählverfahren einer vorschnellen Identifikation des Lesers mit dem autodiegetischen Erzähler Karnau vor, der, ebenso wie die achtjährige Helga, aus seiner unmittelbaren Erlebnisgegenwart zu berichten scheint. Der Leser wählt dabei keineswegs zwischen den beiden Erzählangeboten (Helga und Karnau) das ‚naheliegendere‘ aus, sondern wird, noch einmal mit Beyer, zur Eigenständigkeit erzogen: Der Leser muss selber entscheiden, wem er glaubt, und sich sein eigenes Bild machen. Es gibt niemanden, an den er sich halten kann, auch niemanden, dem er vertrauen kann. Bei Zeugenaussagen herrscht genau dieses Prinzip. Aus fünfzehn verschiedenen Zeugenaussagen versucht man, ein Bild zu bauen.31
Die metafiktionale Reflexion verläuft jenseits dieser erzählstrukturellen Besonderheiten zudem über eine Auseinandersetzung mit der medialen Vielfalt der Geschichte, die, darin liegt das besonders Innovative dieses Romans, das Medium des Auditiven ins Auge fasst – mithin die menschliche Stimme und jene Medien, die sie speichern. Der Protagonist Hermann Karnau ist geradezu besessen von der menschlichen Stimme. Er ist ein Mann der Töne, der das „Augentier“32 Mensch von der Relevanz der eigenen Stimme überzeugen will und dabei vor ihrer apotheotischen Verklärung nicht haltmacht: „Bis dann mit einem Mal der Himmel aufreißt, bis dann mit ungeheurer Wucht die Welt der Töne über einen hereinbricht und alles Gewohnte zum Einsturz bringt […].“33 Noch im Rückblick auf seine Zeit als Akustiker im Dienst der Nationalsozialisten besteht der alternde Karnau auf die Deutungshoheit des Auditiven im Gegensatz zum Visuellen. Die Stimme nämlich, so glaubt er, sei das einzig verlässliche Instrument zur Erkenntnisgewinnung. Ja, photographiert haben sie immer, aber sie konnten ihre eigenen Stimmen nicht mehr hören, die sie sich zwölf Jahre lang heiser geschrien hatten. Denn Photos kann man schönigen, man kann sie arrangieren: Jetzt lächeln und einander umarmen. […] Aber das geht ja mit der menschlichen Stimme nicht, die läßt das Ja Ja Ja, das Heil und Sieg und Ja Mein Führer noch auf Jahre durchklingen.34
Der Akustiker lässt sich dabei von dem Gedanken leiten, dass die menschlichen Stimmbänder gleichsam eine identitätsabbildende akustische Landkarte ver-
alles so geblieben, wie es früher war? Essays zu Literatur und Frauenpolitik im vereinten Deutschland. Würzburg 2000, S. 131–139, hier S. 132. 31 Ebd., S. 133. 32 Beyer: Flughunde, S. 30. 33 Ebd. 34 Ebd., S. 230.
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gegenwärtigen, die es mit geeigneten Instrumenten zu entschlüsseln gelte. Der Traum von einer „Karte aller Stimmfärbungen“, der Karnau vorschwebt, beinhaltet nicht nur die Erschließung eines Areals „jenseits aller kartographierten Gegenden des Menschen“, sondern zugleich das Überschreiten moralischer wie ethischer Grenzen.35 Eine Grenzüberschreitung, die Karnau im Rahmen eines öffentlichen Vortrags zum Thema Sprachhygiene mit Nachdruck einfordert: Ja, wir müssen das Innere der Menschen abtasten, indem wir ihre Stimme auf das genaueste beobachten. […] Das Innere greifen, indem wir die Stimme angreifen. Sie zurichten, und in äußersten Fällen selbst nicht vor medizinischen Eingriffen zurückschrecken, vor Modifikationen des artikulatorischen Apparats.36
Diese moralische Enthemmung Karnaus gepaart mit seinem die Dialektik der Aufklärung pervertierenden Forscherdrang machen ihn zum perfekten Gespielen der Nationalsozialisten. Deren perfider Wahn von der Herrschaft der „deutsche[n] Zunge“37 scheint mit Karnaus Vorschlag von möglichen operativen Eingriffen ein wirkungsmächtiges Instrument an die Hand zu bekommen. Praktisch umgesetzt findet sich diese moralische Absolution im Dienst eines menschenverachtenden Wissenschaftsverständnisses in brutalen akustischen Experimenten am menschlichen Körper: Die emotionale Indifferenz, mit der Karnau die blutigen Eingriffe in den menschlichen Körper bei Bewusstsein erzählt – die Stromstöße auf den Kehlkopf, das Öffnen der Kehle, das austretende Blut, die freiliegenden Halsinnereien – intensivieren den Eindruck distanzierter Emotionslosigkeit, welche die Verbrechen am Menschen im Namen einer fragwürdigen Wissenschaft begleitet.38 Beyers Roman, der sich, wie Rudolf Bolli in der NZZ treffend bemerkt, als „gewagte[r] fiktionale[r] Versuch, die Akustik einer historischen Epoche im Medium der Schrift zum Klingen zu bringen“39, lesen lässt, gelingt es, akustische Entgrenzungen darzustellen und ihnen dadurch gleichzeitig Grenzen zu setzen. Karnau figuriert als Repräsentant technischer Innovationen, die im Bereich der Akustik im 20. Jahrhundert eine neue Dimension erreichen und dabei, wie Nicola Gess, Florian Schreiner und Manuela K. Schulz zeigen, eine neue Form auditiver Machtausübung und akustischer Raumnahme verantworten.40 Die Folgen dieser
35 Ebd., S. 92. 36 Ebd., S. 139. 37 Ebd., S. 142. 38 Ebd., S. 159f. 39 Rudolf Bolli: Im Kehlkopf der Macht. Marcel Beyers Roman „Flughunde“. In: Neue Zürcher Zeitung (13.7.1995). 40 Nicola Gess, Florian Schreiner, Manuela K. Schulz: Vorwort. In: N. G., F. S., M. K. S. (Hg.): Horstürze. Akustik und Gewalt im 20. Jahrhundert. Würzburg 2005, S. 7–12, hier S. 8.
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Machtausübung werden in solcher Drastik ausgestellt, dass Beyers Roman sich nicht einfach, wie Hubert Winkels in seiner Rezension zu Recht unterstreicht, im Kontext eines postmodernen Medienhypes lesen lässt, sondern einen angemessenen Raum für die Opferperspektive jenseits der Kitschgefahr findet.41 Karnaus Überzeugung vom unfehlbaren, absoluten Erkenntnisgewinn, den das Freilegen der menschlichen Stimme verspricht, bricht bei Kriegsende schließlich ein. Die nationalsozialistischen Verbündeten des Akustikers legen ihm angesichts der drohenden Verhöre durch die Besatzungsmächte nahe, seine Beteiligung an den Experimenten zu verschweigen – und statt dessen die Rolle des Opfers zu simulieren und jene traumatisierten, gequälten Stimmen zu imitieren, die er in unzähligen Experimenten auf Tonband aufgezeichnet hat. So also soll Karnau, der sich selbst vorher als „Stimmstehler“42 bezeichnet, schlussendlich zum „Stimmfälscher“ werden und damit die von ihm selbst behauptete Überlegenheit des Auditiven als des vermeintlich nicht „arrangierbaren“43 Mediums endgültig in Frage stellen.
Bernhard Schlink: Der Vorleser Auch in Bernhard Schlinks Erfolgsroman Der Vorleser rückt die Täterperspektive zumindest mittelbar in den Vordergrund der Handlung. Im Gegensatz zu Beyers Roman jedoch, der mit den verschiedenen im Text verhandelten Zeitebenen auch seine Erzählinstanzen verändert, ist es in Schlinks Roman nur ein Ich-Erzähler, der Rechtshistoriker Michael Berg, der im Rückblick von den Ereignissen aus den Jahren 1958 bis 1993 berichtet. Zunächst von seiner Liebesbeziehung als 15-Jähriger mit der 36jährigen Hanna Schmitz, im Anschluss von seiner Konfrontation mit Hannas Tätigkeit als KZ-Aufseherin im Rahmen der Frankfurter AuschwitzProzesse, die er als junger Jura-Student besucht. Zuletzt schildert der Ich-Erzähler seine Korrespondenz mit der Inhaftierten, die sich auf Kassetten beschränkt, welche er vorlesend bespricht. Nach einer kurzen Wiederbegegnung am Ende der von Hanna verbüßten Gefängnisstrafe endet ihr Kontakt mit Hannas Selbstmord am Vortag ihrer Entlassung. Die Deutungshoheit über die Geschehnisse der Vergangenheit bleibt dem alleinigen Erzähler Michael Berg vorbehalten – Schlinks Text verzichtet auf eine weitere, übergeordnete Perspektive auch dann, als der Roman in der Erzähl41 Hubert Winkels: Der Mann ohne Stimme. „Flughunde“ – Marcel Beyers Traum von einer menschenleeren Medientechnologie. In: Die Zeit (7.4.1995). 42 Beyer: Flughunde, S. 123. 43 Ebd., S. 230.
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gegenwart (dem Jahr 1993) ankommt. Aufgrund dieser autodiegetischen Perspektive, die das Geschehene aus der Retrospektive nachvollzieht und kommentiert, zeichnet sich das Erzählte zwar durch ein besonderes Maß an Selbstreflexion aus – diese aber bleibt ganz an die Figur des Protagonisten, an dessen Erinnerungen, Emotionen und Urteilsvermögen gebunden. Die polyperspektivisch begründete Skepsis dem Erzählen wie dem Erzähler gegenüber, wie sie Beyers Roman ausstellt, weicht in Schlinks Text einem eindeutigen Identifikationsangebot. Werden die Erinnerungen und Erzählungen Hermann Karnaus (stellvertretend für das Tätergedächtnis) in ihren Widersprüchen und Falschaussagen überführt, ringt Schlinks Erzähler förmlich darum, das Verhalten der Täterin (Hanna) nachvollziehen zu können. Eben darin liegt die Problematik des Romans – seine Erzählinstanz begibt sich auf die Suche nach Erklärungen für die Verbrechen einer KZAufseherin, die einer prekären Relativierung von Schuld gleichkommen: Nein, habe ich mir gesagt, Hanna hat sich nicht für das Verbrechen entschieden. Sie hatte sich gegen die Beförderung bei Siemens entschieden und war in die Tätigkeit als Aufseherin hineingeraten. Und nein, sie hatte die Zarten und Schwachen nicht mit dem Transport nach Auschwitz geschickt, weil sie ihr vorgelesen hatten, sondern hatte sie fürs Vorlesen ausgewählt, weil sie ihnen den letzten Monat erträglich machen wollte, ehe sie ohnehin nach Auschwitz mußten.44
Der Erzähler muss schließlich einsehen, dass ihm eine moralische Verurteilung Hannas nicht möglich ist, denn „der Fingerzeig auf Hanna wies auf mich zurück.“45 Die einleitend beschworene Gruppenidentität des KZ-Seminars der juristischen Fakultät („Wir Studenten des Seminars sahen uns als Avantgarde der Aufarbeitung.“46) gilt für Berg nicht mehr, der sich nun emotional in den Prozess involviert sieht. Das ursprüngliche Streben nach Aufklärung der Verbrechen wird ersetzt durch den narzisstischen Wunsch, Hanna als „bloße Erinnerung“ möglichst „weit weg“ zu rücken.47 In der Folge wird nicht nur Michael Berg zum Einzelgänger innerhalb der Seminargruppe, sondern auch Hanna Schmitz zur Außenseiterin unter den Mitangeklagten stilisiert. Schlimmer noch – Berg macht aus der Tätergeschichte eine Opfergeschichte, in der Hanna, die naive Analphabetin, zum Bauernopfer ihrer Mitangeklagten wird, die ihrerseits ungleich berechnender, kaltblütiger und mehrfach als „gehässig“ dargestellt werden.48
44 45 46 47 48
Bernhard Schlink: Der Vorleser. Roman. Zürich 1997 [1995], S. 128. Ebd., S. 162. Ebd., S. 87. Ebd., S. 93. Ebd., S. 110 u. S. 121.
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Problematisch ist die prekäre Vergangenheitsaufarbeitung Bergs insofern, als es dem Roman nicht gelingt, über diesen individuellen Blickwinkel hinweg eine weiter gefasste Perspektive zu entwickeln, die dem Leiden der tatsächlichen Opfer einen angemessenen Raum eröffnen würde. Stattdessen kommt es zu einer wiederum fragwürdigen, weil undifferenzierten Gleichsetzung des Täter- und Opfergedächtnisses im Gefühl des „Betäubtseins“, das der Erzähler nicht nur für die betroffene, sondern auch für seine, die Nachgeborenen-Generation in Anspruch nimmt – für jene also, die als „Richter oder Schöffen, Staatsanwälte oder Protokollanten“49 die Verbrechen und/oder Leiden der Vorgeneration zu beurteilen hätten. Leiser und weniger avanciert als in Beyers Roman fallen die medientheoretischen Überlegungen aus, die hier angestellt werden. Dennoch enthält auch Schlinks Text eine solche medienreflexive Dimension, die auf charakteristische Signaturen historisch-fiktionaler Literatur zur Mitte der 1990er Jahre verweist. Das betrifft etwa jene Passage, in welcher der Ich-Erzähler die gestiegene Anzahl an Büchern und Filmen diskutiert, die dazu geführt habe, „daß die Welt der Lager ein Teil der gemeinsamen vorgestellten Welt ist, die die gemeinsame wirkliche vervollständigt.“50 Es bleibt wiederum eine Besonderheit des Romans, nicht die mediale Vielfalt an Holocaust-Interpretationen in der Gegenwart zu problematisieren, sondern im Gegenteil jene Zeit, in der „die Phantasie sich kaum bewegt“ habe.51 Nicht die unüberschaubare Bilderflut der Gegenwart, sondern, so legt der Roman nahe, ein reduziertes, immer gleiches Bildrepertoire in der Vergangenheit verantworte jene zu Klischees erstarrten Vorstellungen der Lager und ihrer Inhaftierten. Zur metafiktionalen Struktur des Romans zählt auch die Tatsache, dass es sich beim Erzähler des Romans um einen Rechtshistoriker handelt, der sich bereits von Berufswegen mit der Geschichte auseinandersetzen muss. Er lässt sich als Vorbote einer historisch-fiktionalen Literatur deuten, die um die Jahrtausendwende mit Vorliebe Erzählinstanzen oder Protagonisten auftreten lässt, welche als Historiker, Chronisten oder Archivare nicht nur die literarische Vermittlung historischen Wissens thematisieren, sondern die historiografische Tätigkeit selbst.52 Selbstbezüglich sind diese Figuren insofern, als sie sich als Potenzierun-
49 Ebd., S. 99. 50 Ebd., S. 142. 51 Ebd., S. 143. 52 Namentlich begegnen solche Figuren, die explizit im Dienst einer Rekonstruktion der Vergangenheit stehen, etwa in den historischen Romanen Felicitas Hoppes Johanna (2006) undPigafetta (1999), in Robert Menasses Die Vertreibung aus der Hölle (2001) sowie in W. G. Sebalds Schwindel. Gefühle (1990), Die Ausgewanderten (1994) und Austerlitz (2001).
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gen einer Autorfigur (historisch-fiktionaler wie historisch-wissenschaftlicher Texte) deuten lassen – damit also nicht nur auf die Genese des literarischen Textes, sondern auch auf die Produktionsbedingungen eines historischen zurückverweisen. Zudem werden über solche Figuren Diskurse angesprochen, die über die fiktionale Handlung hinaus auf geschichtstheoretische Positionen der Gegenwart referieren. Etwa, wenn Schlinks Historikerfigur an einer Stelle über das Verhältnis von Vergangenheit und Gegenwart nachsinnt: Und die Vergangenheit, in der ich als Rechtshistoriker ankam, war nicht weniger lebensvoll als die Gegenwart. […] Geschichte treiben heißt Brücken zwischen Vergangenheit und Gegenwart schlagen und beide Ufer beobachten und an beiden tätig werden. Eines meiner Forschungsgebiete wurde das Recht im Dritten Reich, und hier ist besonders augenfällig, wie Vergangenheit und Gegenwart in eine Lebenswirklichkeit zusammenschießen. Flucht ist hier gerade nicht die Beschäftigung mit der Vergangenheit, sondern gerade die entschlossene Konzentration auf Gegenwart und Zukunft, die blind ist für das Erbe der Vergangenheit, von dem wir geprägt sind und mit dem wir leben müssen.53
Tatsächlich antizipiert Michael Berg aktuelle geschichtstheoretische Diskussionen, wie sie etwa Jörn Rüsen in seinen „Essays zum Bedenken der Geschichte“ aufwirft, die allesamt der Frage nachgehen, wie Vergangenheit und Gegenwart im Geschichtsbegriff der Gegenwart zusammenfinden: Was ist Geschichte: Eben mehr als nur das Produkt einer bloß nachträglichen Bearbeitung dessen, was in der Vergangenheit geschah. Geschichte ist eine Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart, die aus dem Geschehenen und seiner Deutung zugleich gebaut ist.54
Günter Grass: Ein weites Feld und Im Krebsgang Eine solche Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart errichtet auch Günter Grass’ kontrovers diskutierter Roman Ein weites Feld, der ebenfalls auf ein lineares Erzählen verzichtet und verschiedene Zeitebenen zusammenführt. So handelt es sich bei diesem Text, der die deutsche Einheit von 1871 und die von 1989/90 gegenüberstellt, um einen zeitgeschichtlichen wie historischen Roman. Auch wenn der Zweite Weltkrieg nur einen Nebenschauplatz innerhalb des Romans darstellt, fallen doch erzählstrukturelle Analogien zu Beyers und Schlinks Roma-
53 Schlink: Der Vorleser, S. 172. 54 Jörn Rüsen: Einleitung. In: J. R.: Kann gestern besser werden? Essays zum Bedenken der Geschichte. Berlin 2003 (= Kulturwissenschaftliche Interventionen, Bd. 2), S. 11–14, hier S. 13.
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nen auf. Der Grass’sche Roman verdichtet die Überblendung von Vergangenheitsund Gegenwartshandlung derart, dass eine vierte Zeitdimension entsteht, die in Grass’ Text Kopfgeburten oder Die Deutschen sterben aus auch als „Vergegenkunft“ bezeichnet wird.55 Gemeint ist ein Erzählen, das es kaum noch möglich macht, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft auseinanderzuhalten – ein Erzählen also, wie es Fonty, der Protagonist des Romans, paradigmatisch ausstellt: „Fonty konnte das. Ihm sind die Jahrhunderte durchlässig gewesen. Nach seiner inneren Geographie floß die Spree in die Rhône.“56 Diese „zeitraffende Methode“ zeigt sich im Roman nicht zufällig inspiriert von dem einstigen Deutsch- und Geschichtslehrer Fontys, Herr Elssner. Dieser nämlich hatte es verstanden, beim Deutschunterricht mit geschichtlichem Zitat und beim Geschichtsunterricht mit literarischen Belegen die unsinnige Trennung dieser Fächer aufzuheben. Elssner […] konnte weit Entlegenes […] so nah zueinanderrücken, daß ich seitdem jenes zeitraffende Verständnis von Literatur und Geschichte habe, das mir Vergangenes in zukunftstrunkene Präsenz, das heißt die Unsterblichkeit gewiß macht […].57
Mit dem Geschichts- und Deutschlehrer Elssner, der zugleich die akademische Seite des geschichtstheoretischen wie literaturwissenschaftlichen Diskurses verkörpert, wird für ein historisierendes Erzählverfahren geworben, das die Trennung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ebenso wie zwischen Fakt und Fiktion endgültig aufhebt. Während Vergangenheit und Gegenwart ebenso wie Dichtung und Wahrheit in diesem Roman Grass’ bereits in ein „kompliziertes Verhältnis“58 treten, erfährt das Spiel mit dieser vierten Zeitebene, der ‚Vergegenkunft‘, eine radikale Fortsetzung und Zuspitzung in der Novelle Im Krebsgang (2002). Dies vergegenwärtigt keine Besonderheit der Grass’schen Werkgeschichte, sondern entspricht einem Trend, der sich mit Blick auf historisch-fiktionale Literatur seit Mitte der 1990er Jahre bestätigt. Die hier auffallende Tendenz zahlreicher Texte zu metaisierenden Erzählverfahren versteht sich als Auftaktsignal zu einer Literatur, die im dritten Jahrtausend durch starke selbstreferentielle Implikationen die extradiegetische Kommunikationsebene, fiktionale sowie metafiktionale Elemente stärker in ihre Texte einbringt als das historische Geschehen, auf das sie sich bezieht. Der
55 Günter Grass: Kopfgeburten oder Die Deutschen sterben aus. Darmstadt, Neuwied 1982, S. 102. 56 Günter Grass: Ein weites Feld. Roman. München 1999 [1995], S. 416. 57 Ebd., S. 248f. 58 Vgl. dazu Irmgard Scheitler: Günter Grass: Ein weites Feld. In: Sabine Schneider (Hg.): Lektüren für das 21. Jahrhundert. Klassiker und Bestseller der deutschen Literatur von 1900 bis heute. Würzburg 2005 (= Würzburger Ringvorlesung Bd. 4), S. 141–157, hier S. 142.
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eigentliche Referenzbereich sind hier nicht mehr die historischen Fakten, sondern ist das Erzählen davon.59 In diesem Sinne ist auch Grass’ Novelle zu deuten, die sich einem monolithischen Erzählverfahren verweigert: Die erste, historisch-fiktionale Erzählebene berichtet von der Ermordung des NSDAP-Landesgruppenleiters Wilhelm Gustloff am 4.2.1936 durch den jüdischen Attentäter David Frankfurter. Der zweite historische Referenzbereich ist der Untergang jenes Passagierschiffs, das man im Sinne nationalsozialistischer Propaganda auf den Namen Gustloffs getauft hatte. Die Gustloff wurde am 30.1.1945 durch ein sowjetisches U-Boot mehrfach torpediert – etwa 9000 Menschen, darunter 4000 Kinder und Säuglinge starben. Die Schiffskatastrophe figuriert zugleich als Geburtsstunde des Ich-Erzählers Paul Pokriefke, mit dem der Erzählrahmen der Novelle in der Gegenwart ankommt. Die zeitlichen Ebenen des Romans, die Ereignisse der Jahre 1936, 1945 sowie die Gegenwartshandlung, sind nicht sauber voneinander getrennt, sondern überblenden sich mitunter – ebenso wie die Biografien der fiktiven Figuren bisweilen in den fiktionalisierten historischen gespiegelt werden. Einmal mehr hebt auch Grass’ Novelle die Grenze zwischen Fiktionalität und Nicht-Fiktionalität auf und stört das lineare Erzählprinzip radikal. Die Literaturkritik wertete Grass’ Novelle zum großen Teil als geglückten „Tabubruch“ – mithin als Versuch, über das in der NS-Zeit den Deutschen „zugefügte Leid zu sprechen, ohne sofort unter Revanchismusverdacht zu geraten.“60 Tatsächlich gelingt Grass diese schwierige Gradwanderung nur, weil die Darstellung der Schiffskatastrophe und ihrer Hintergründe, vor allem die Flucht deutscher Zivilisten vor der Roten Armee an der Ostfront und der in diesem Kontext verübten Kriegsverbrechen (etwa das sogenannte „Massaker von Nemmersdorf“), durchgängig flankiert wird von der gleichzeitigen Reflexion der möglichen Instrumentalisierung einer solchen, nicht unproblematischen Opferperspektive. Das Erzählen auf mehreren zeitlichen Ebenen gewährleistet das konsequente Verknüpfen der historisch-fiktionalen Ereignisse mit einer Gegenwartshandlung, welche die Traumata der Opfer ebenso
59 Stephanie Catani: Was bleibt von der Geschichte? Form und Funktion historisch-fiktionalen Erzählens im 21. Jahrhundert. In: Julia Schöll, Johanna Bohley (Hg.): Das erste Jahrzehnt. Narrative und Poetiken des 21. Jahrhunderts. Würzburg 2011, S. 23–35. Dies.: Geschichte im Text. Geschichtsbegriff und Historisierungsverfahren in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Tübingen 2015 (= Habilitationsschrift 2013, erscheint voraussichtlich Ende 2015). 60 Jörg Magenau: Aber jetzt endlich wieder Lob: „Im Krebsgang“ von Günter Grass wird begeistert aufgenommen. In: Handelsblatt (15.2.2002), S. 6. Einen guten Überblick über die Rezeption der Novelle liefert: Herman Beyersdorf: Günter Grass’ „Im Krebsgang“ und die Vertreibungsdebatte im Spiegel der Presse. In: Barbara Beßlich, Olaf Grätz, Katharina Hildebrandt (Hg.): Wende des Erinnerns? Geschichtskonstruktionen in der deutschen Literatur nach 1989. Berlin 2006. S. 157–167.
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auszustellen versucht wie den Missbrauch historischen Erzählens im Kontext ideologisch-politischer Instrumentalisierung. Darüber hinaus dokumentiert Grass’ Novelle, welche Fortführung jene Medienreflexionen finden, die sich in den 1995 veröffentlichten Texten andeuten: Hier sind es nun die Wirkungsmacht des Internets und damit verbundene Manipulationsmöglichkeiten, die literarisch reflektiert werden. Im Krebsgang liest sich als Text, der das Internet als Geschichtengenerator wie -vermittler in den Vordergrund der Handlung rückt und gleichwohl problematisiert. Die Novelle thematisiert die Aufbereitung historischen Wissens im Internet explizit, wenn sie einen homodiegetischen Erzähler in ihren Mittelpunkt stellt, der verfolgt, wie „die Gustloff im Cyberspace schwimmt und virtuelle Wellen macht“.61 Das Verhältnis des Erzählers zum neuen Medium scheint dabei ambivalent: Greift er selbst als Journalist immer wieder auf das Internet als Rechercheinstrument zurück, distanziert er sich zugleich von den Ergebnissen seiner Recherche, wenn er sie als genuin unzuverlässige kennzeichnet. Ironisch wird das Internet als „unsere[] globale[] Spielwiese“, als „gepriesene[r] Ort letztmöglicher Kommunikation“62 gefeiert und im Bild eines „virtuell überfüllten Welttheater[s]“63 bereits als Bühne einer ausschließlich fiktiven Inszenierung von Geschichte kenntlich gemacht. Dort, wo das mit der Untergangskatastrophe verbundene Leiden ‚wahrheitsgetreu‘ erzählt werden soll, bleibt nur ein Schweigen – etwa, wenn dem Erzähler angesichts des Schreckensszenario, das sich beim Untergang der Gustloff abgespielt habe, schlicht die Worte fehlen.64 Und doch ist auch hier die Vergangenheit jenseits der medial überlieferten Bilder, die sie erst konstruieren, nicht zu haben. Denn die Abwertung des einen Mediums (Internet) als adäquate Darstellungsform für das Geschehen der Vergangenheit geht einher mit der Aufwertung eines anderen. Einem Schwarzweiß-Film65 nämlich, so der Erzähler, sei es im Gegensatz zu den „sich im Cyberspace übertrumpfenden Zahlen“ gelungen, die Panik einzufangen, die im Jahr 1945 an Bord des torpedierten Schiffes ausgebrochen sei: Man sieht drängende Masse, verstopfte Gänge, den Kampf um jede Treppenstufe aufwärts, sieht verkleidete Komparsen als Eingeschlossene im verschlossenen Promenadendeck, ahnt die Schlagseite des Schiffes, sieht, wie das Wasser steigt, sieht im Schiffsinneren Schwimmende, sieht Ertrinkende. Und Kinder sieht man im Film. Kinder, von ihren Müttern getrennt. Kinder, an der Hand die baumelnde Puppe. Kinder, verirrt in bereits geräumten
61 Günter Grass: Im Krebsgang. Eine Novelle. Göttingen 2002, S. 63. 62 Ebd., S. 33. 63 Ebd., S. 46. 64 Ebd., S. 136. 65 Gemeint ist hier der 1959 in Deutschland produzierte S/W-Film Nacht fiel über Gotenhafen unter der Regie von Frank Wisbar.
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Gängen. In Nahaufnahme die Augen vereinzelter Kinder. Die über viertausend Säuglinge, Kinder und Jugendlichen, für die es kein Überleben gab, waren, allein aus Kostengründen, nicht zu verfilmen, blieben und bleiben abstrakte Zahl, wie all die anderen in die Tausende, Hunderttausende, Millionen gehenden Zahlen, die damals wie heute nur grob zu schätzen waren und sind.66
Diese Passage macht die ambivalente Positionierung des Erzählers wie auch der Erzählung insgesamt im Bezug auf Formen und Möglichkeiten medialer Historiografien deutlich: So problematisiert der Erzähler zwar deren historische Genauigkeit, um dann genau dort, wo ihm selbst die Worte fehlen, die Emotionalisierungs- und Dramatisierungsstrategien der filmischen Beschreibung als Elemente einer bild- und wirkungsgewaltigen Fiktionalisierung historischen Geschehens zu nutzen und damit beim Leser eben jene „ausgepinselte[n] Bilder“67 zu erzeugen, die er eigentlich verurteilt. Das Erzählen der Geschichte bleibt hier auf medial erzeugte und dabei fiktive Bilder angewiesen – so lautet die paradoxe Pointe einer Novelle, die, wenngleich sie sich auf eben diese Bilder beruft, eine grundsätzliche Problematisierung dieses medial dominierten historischen Erzählens mitliefert.68
Rückblick und Ausblick Was, lässt sich abschließend fragen, bleibt von der Geschichte im Literaturjahr 1995 und welche ihrer Spuren führt in das dritte Jahrtausend? Robert Menasses einleitend zitiertes Plädoyer für eine Literatur, die sich der Problematik des gegenwärtigen Geschichtsbegriffes nicht verschließt, scheint zumindest nicht wirkungslos verhallt. Vielmehr findet es im 21. Jahrhundert seine Entsprechung in Überlegungen, wie sie Jörn Rüsen stellvertretend für die Geschichtswissenschaft der Gegenwart in seinem Grundsatzessay Was ist Geschichte (2003) anstellt. Auch Rüsen fragt nach einem „zukunftsfähigen Geschichtsbegriff“, der die Problematisierung bisheriger „Sinnkonzepte des Historischen“ nicht nur aushalten, sondern
66 Grass: Im Krebsgang, S. 136. 67 Ebd. 68 Eine Intensivierung findet diese medienreflexive Dimension historisch-fiktionaler Texte in den folgenden Jahren sicherlich insbesondere im Hinblick auf die Frage nach dem historischen Bild als Quelle der Geschichte – etwa in den Ikonotexten (Peter Wagner) W. G. Sebalds oder den fototheoretischen Exkursen in Reinhard Jirgl, Die Stille; Ulla Hahn, Unscharfe Bilder; Robert Menasse, Die Vertreibung aus der Hölle. Das historische Bild als historisches Zeugnis wird darüber hinaus auch durch literarische Figuren wie den Maler Max Aurach (Sebald, Die Ausgewanderten) oder John Webber (Lukas Hartmann, Bis ans Ende der Meere) problematisiert.
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zu neuen Interpretations- und Darstellungsstrategien finden müsse.69 Die Literatur, so viel lässt sich mit Blick auf die hier untersuchten Texte bei aller Heterogenität konstatieren, erweist sich als geeignetes Feld, um die eingeforderten „neuen Praktiken des historischen Denkens und der Repräsentation der Vergangenheit“ auszutesten.70 Sie tut dies, indem sie Erinnerungs- und Geschichtsbegriff in ihrer reziproken Verschränkung zeigt, Täter- und Opferperspektive aus Sicht einer Nachgeborengeneration sowie im Zeichen eines kollektiven Gedächtnisses gegenüberstellt und dabei nicht verschweigt, dass ‚die Geschichte‘ jenseits der Medien, die sie gerade im beginnenden dritten Jahrtausend inszenieren, nicht mehr zu denken ist. ‚Vergangenheitsbewältigung‘71 bedeutet in diesen Texten gerade nicht das Ende eines Reflexionsprozesses, sondern eine ‚Arbeit an der Geschichte‘, die sich der Tatsache bewusst ist, dass jede historiografische Tätigkeit von den Signaturen der Gegenwart ebenso betroffen ist wie von den historischen Fakten, die sie zu rekonstruieren versucht.
Literaturverzeichnis Primärliteratur Beyer, Marcel: „Wenn Literatur noch einen Sinn hat, dann den, dass sie ein bevormundungsfreier Raum ist.“ Interview mit Marcel Beyer geführt von Anke Biendarra und Sabine Wilke. In: Sabine Wilke: Ist alles so geblieben, wie es früher war? Essays zu Literatur und Frauenpolitik im vereinten Deutschland. Würzburg: Königshausen & Neumann 2000, S. 131–139. Beyer, Marcel: Flughunde. Roman. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1996 [1995]. Grass, Günter: Ein weites Feld. Roman. München: dtv 1999 [1995]. Grass, Günter: Im Krebsgang. Eine Novelle. Göttingen: Steidl 2002. Grass, Günter: Kopfgeburten oder Die Deutschen sterben aus. Darmstadt, Neuwied: Luchterhand 1982. Grohotolsky, Ernst: „Mit avanciertem Kunstanspruch erzählen.“ (1995) Gespräch mit Robert Menasse. In: Dieter Stolz (Hg.): Die Welt scheint unverbesserlich. Zu Robert Menasses „Trilogie der Entgeisterung“. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1997, S. 305–316.
69 Jörn Rüsen: Was ist Geschichte? Skizze einer Synthese. In: J. R.: Kann gestern besser werden, Essays zum Bedenken der Geschichte. Berlin 2003 (= Kulturwissenschaftliche Interventionen, Bd. 2), S. 109–139, hier S. 139. 70 Ebd. 71 Zur Problematik dieses Begriffes im Kontext literarischen Erzählens vgl. Clemens Kammler: Deutschsprachige Literatur seit 1989/90. Ein Rückblick. In: C. K., Thorsten Pflugmacher (Hg.): Deutschsprachige Gegenwartsliteratur seit 1989. Zwischenbilanzen – Analysen – Vermittlungsperspektiven. Heidelberg 2004, S. 13–35, hier S. 27.
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Kertész, Imre: Wem gehört Auschwitz? In: Die Zeit (19.11.1998). Klüger, Ruht: Was soll da schöne Literatur? In: Die Welt (26.1.2013). Online: http://www.welt.de/ print/die_welt/literatur/article113147957/Was-…1 Klüger, Ruth: Mißbrauch der Erinnerung: KZ-Kitsch, in: R. K.: Gelesene Wirklichkeit. Fakten und Fiktionen in der Literatur. Göttingen: Wallstein 2006, S. 52–67. Menasse, Robert: „Geschichte“ – der größte historische Irrtum. In: Die Zeit, Nr. 42 (13.10.1995), S. 80. Schlink, Bernhard: Der Vorleser. Roman. Zürich: Diogenes 1997 [1995]. Semprún, Jorge: Wovon man nicht sprechen kann. In: Norbert Gstrein, J. S.: Was war und was ist. Reden zur Verleihung des Literaturpreises der Konrad-Adenauer-Stiftung am 13. Mai 2001 in Weimar. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2001, S. 9–17. Wiesel, Elie: For some measure of humility. In: Sh’ma 5/100 (1975), S. 314–316.
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Norbert Otto Eke
Aus dem Labyrinth finden Jüdisches Gedächtnis Kommunikation über Vernichtung 1992 fand in Frankfurt am Main die Uraufführung eines Stückes statt, das die Konstitutionsbedingungen von ‚Normalität‘1 im Umgang mit der (deutschen) Geschichte buchstäblich zur Rede stellte: Festung von Rainald Goetz.2 Festung ist der Mittelteil einer Trilogie, mit der Goetz thematisch einen weiten Bogen schlägt von der sogenannten ‚zweiten Schuld‘ der Verdrängung in den Aufbau- und Wirtschaftswunderjahren nach dem verlorenen Krieg bis in die Zeit der ‚dreifachen Vergangenheitsbewältigung‘ (Konrad Jarausch)3 nach dem Mauerfall hinein. Auf der Spielebene findet in Festung am Tag des Mauerfalls (9. November 1989) die Aufzeichnung einer Fernseh-Show („Café Normal“) statt, in der verschiedene Mannschaften an verschiedenen Orten gegeneinander antreten. Live schaltet die Regie zwischen den Schauplätzen des Geschehens hin und her, simuliert damit gleichzeitig Öffentlichkeit und eine sich in dieser Öffentlichkeit erfüllende Geschichte („Sie sehen es selbst / dieses Spiel hier ist / Geschichte“4). Der fluiden Raumstruktur entspricht eine komplexe Verwirbelung der Zeitebenen: Den durch die Simulation der Live-Schaltungen arrangierten Sprüngen im Raum korrespondieren auf der Ebene der Zeit Sprünge durch die (deutsche) Geschichte. Der 9. November 1989, der 9. November 1938 (Reichspogromnacht), der 9. November 1923 (Hitler-Putsch) und der 9. November 1918 (Ausrufung der ersten deutschen Republik) – all diese Ereignisse der Realgeschichte werden in Festung von Goetz übereinander gelegt und auf das Datum der Wannseekonferenz (20. Januar 1942) projiziert. Solcherart schichtet Rainald Goetz die Rampe
1 Vgl. Jürgen Link: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird. 2., akt. u. erw. Aufl. Opladen, Wiesbaden 1999. 2 Ich greife an dieser Stelle zunächst Überlegungen zu den Theaterprojekten Rainald Goetz’ auf, die ich in einem anderen Zusammenhang bereits ausführlicher entwickelt habe. Vgl. Norbert Otto Eke: Welt-Kunst-Beobachtung. Rainald Goetz und das Theater. In: Text + Kritik 190 (März 2011), S. 52–67. 3 Vgl. Konrad H. Jarausch: Zeitgeschichte und Erinnerung. Deutungskonkurrenz oder Interdependenz. In: K. H. J., Martin Sabrow (Hg.): Verletztes Gedächtnis. Erinnerungskultur und Zeitgeschichte im Konflikt. Frankfurt/M. 2002, S. 9–37, hier S. 9. 4 Rainald Goetz: Festung. Frankfurter Fassung. In: R. G.: Festung. Stücke. Frankfurt/M. 1993, S. 97–243, hier S. 103.
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der Theaterbühne über die Selektionsrampe der Vernichtungslager und verspiegelt die in Auschwitz (und all den anderen Orten der Vernichtung) ‚wirklich‘ gewordene „Kommunikation über Vernichtung“5 mit dem nachgelagerten Sprechen über die Shoah in der ‚geläuterten‘ deutschen Nachkriegsgesellschaft, in das er sich am Ende als selbst nichtjüdischer Autor des Stückes Festung (hier in der Sprechermaske „Schreiber“) auf ganz eigentümliche Weise ‚hineinschreibt‘: S CHREIBER […] im Winter/neunzehn fünfundachtzig sechsundachtzig/lebte ich als Häftling eines Staatsstipendiums/freiwillig und gerne in der Villa des sogenannten/literarischen Colloquiums Berlin/am großen Wannsee/ […] / Abends/oft ganze/Wochenenden lang/fielen die literarischen Tagungen/die Lesungen und die Kongresse und all/die wichtigtuerischen Konferenzen ein/wie wilde Horden schwadronierend/furchtbare Reden wurden gehalten/ furchtbare Debatten geführt/natürlich auf Deutsch/die furchtbarsten Trottel standen/danach gesellig auf dem Teppich rum/mit ihren lächerlichen Rotweingläsern/in den scheußlichen Betriebsgenudelhänden/undsoweiter furchtbar war das/diese Wannseekonferenzen/ und ich hatte mir schon zu viele/zu genau angeschaut als im März im Fernseher/Shoa/kam und plötzlich kippte der milde Schwachsinn um/das war plötzlich kein Witz mehr/diese Wannseekonferenzen/diese deutschen Reden/deutscher Trottel/dieses deutsche Weitermachen ewig/an den ewig deutschen Orten/fürchterlich/plötzlich war das wirklich/fürchterlich/Die Wannseekonferenz/Rede/und Vernichtung/und dieser Spurenkreuzung/bin ich dann/gefolgt.6
Die von Rainald Goetz hier am Beispiel der Konferenz- und Lesungsroutinen beschriebene ‚Fürchterlichkeit‘ der Banal- und Normalkommunikation über die Vernichtung, die der Erinnerung an die Shoah den Schrecken (auch das Erschrecken) ausgetrieben hat (darauf verweisen die weinseligen Smalltalk-Runden nach getaner Arbeit), bildet das Hintergrundrauschen zu den Auseinandersetzungen mit der sogenannten „visible invisibility“7 (Gilman) jüdischer Existenz in Deutschland, mit dem Leben der Nachgeborenen in der Simulation und mit ihrer Einschließung in die Opfernarrative innerhalb der deutschsprachig-jüdischen Literatur der 1990er Jahre. Vor dem Hintergrund der nach 1989 allgemein zu beobachtenden Tendenzen zu einer Renationalisierung der Politik in Europa und einem wieder aufflammenden Antisemitismus, der sich als Kritik an der Politik Israels oder am moralischen Fehlverhalten einzelner Juden tarnt, gewinnt diese Auseinandersetzung in der politischen Transformationszeit des Systemwandels vor der Milleniumswende deutlich an Brisanz. Nicht zufällig erscheinen in der Mitte des Jahrzehnts mit Robert Schindels Essaysammlung Gott schütz uns vor den
5 Ebd., S. 99. 6 Ebd., S. 212–214. 7 Sander L. Gilman: Jews in Today’s German Culture. Bloomington 1995, S. 40.
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guten Menschen. Jüdisches Gedächtnis. Auskunftsbüro der Angst, mit Gila Lustigers kunstvoll verflochtener Prosasammlung Die Bestandsaufnahme, mit den teils versponnen-skurrilen Erzählungen Papirnik Doron Rabinovicis und den Romanen Der Absender von Daniel Ganzfried, [→] Die Kinder der Toten von Elfriede Jelinek und Das Alphabet des Juda Liva von Benjamin Stein so auch jeweils wichtige Beiträge jüdischer Autoren und Autorinnen nicht nur zur deutschsprachigen Literatur der Nachwendezeit als solcher, sondern gerade auch zur Frage jüdischer Identität und zu den kulturellen und ethischen Bestimmungen eines spezifisch jüdischen Gedächtnisses in den Täterländern.
Prekäre Identitäten „unterm Schuldgestirn“
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„Sagen Sie, […] müssen Sie immer jüdisch sein?“ – „Beim Frühstücken lässt das allmählich nach“.9 Die der Autorin Esther Dischereit von einer Schülerin gestellte Frage und die – nach einem Moment der Sprachlosigkeit – sarkastische Antwort der Angesprochenen weisen in die Mitte der in der jüngeren deutschsprachigjüdischen Literatur von verschiedenen Seiten her umkreisten Frage nach den Bedingungen, Möglichkeiten und Grenzen jüdischer Identitätsfindungen und Identitätserfindungen im Spannungsfeld von Assimilationswünschen und Ausschließungsmechanismen. Vom „Jüdisch-Sein“, schreibt Esther Dischereit in ihrem Essay Mama, darf ich das Deutschlandlied singen (Erstveröffentlichung 2002), könne sie in Deutschland keine Gewöhnlichkeit bekommen, außer, ich würde es leugnen, vergessen, nicht beachten – auch das würde wenig nützen. Es würde sich schon wer finden, der einem die entgangene Jüdischkeit beachtete. In diesem Sinne existiert Identität hier immer schon als Zuschreibung.10
Solche Zuschreibungen, die den Wunsch nach Ununterscheidbarkeit (was eigentlich heißt, den Wunsch danach, als Jude so sein zu dürfen wie ‚jeder andere‘) unterlaufen, haben zwei Seiten. Zum einen erfolgt mit ihnen eine von Ausschließungsmechanismen begleitete Markierung (Kennzeichnung), die von der beiläufig-gedankenlosen Erwähnung jüdischer Herkunft bei Personen des öffentlichen Lebens (Politikern, Kulturschaffenden), über die problematischen Einhegungen
8 Robert Schindel: Gebürtig. Frankfurt/M. 1994, S. 116. 9 Esther Dischereit: Mama, darf ich das Deutschlandlied singen. In: Katharina Hall (Hg.): Esther Dischereit. Cardiff 2007, S. 1–13, hier S. 2. (Erstveröffentlichung in: Béatrice Roschanzamir (Hg.): Ambivalenzen – Die Frau in der jüdischen Kultur in Deutschland heute. Bonn 2002, S. 33–40). 10 Ebd., S. 5f.
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literaturwissenschaftlicher Reservat-Bildungen (‚deutsch-jüdische‘ Literatur)11 bis hin zum Gebrauch der jüdischen Verfolgungserfahrung in kulturpolitischen Zusammenhängen reicht. Einzuordnen ist hier auch ein philosemitischer Habitus, der in den Nachkriegsjahren den tabuisierten antisemitischen Konsens ersetzte und auf der politischen Ebene nach wie vor der Selbstdarstellung der deutschen Demokratie als geläuterter Nation nach außen zu Glaubwürdigkeit zu verhelfen hat.12 Die Kehrseite der Markierungen von Juden als Juden ist zum anderen eine eigentümliche, geradezu fetischistische Beziehung der Deutschen zu den toten Juden, den Opfern also, wie sie Dischereit dann in ihrem Gedicht Deutsches Lied ins Bild setzt: Deutsches Lied Ihr habt mich getaucht in diese immerwährende Schwärze ihr habt die Jüdin und das Mädchen an euren Wänden aufgehängt an meinen schwarzen Haaren euer Glied gerieben nach dem Mord besteigt ihr eure Opfer wie ihr sie liebt die Toten13
In lakonischer Verdichtung bringt Dischereits Gedicht die gegensätzliche Gemeinsamkeit von Juden und Nicht-Juden zum Ausdruck, die Dan Diner in einem seinerzeit viel beachteten Aufsatz auf den Begriff der „negativen Symbiose“ gebracht hat.14 Angesprochen sind von Dischereit damit zugleich die Konstitutionsbedingungen von ‚Normalität‘ im Verhältnis von Juden und Nichtjuden, der Robert Schindel in seinen Anmerkungen zu Geschichte und Gegenwart des deutschjüdischen Verhältnisses in den Täterländern (1999) eine deutliche Absage erteilt
11 Vgl. zu dieser Problematik die ausführliche Reflexion von Andreas B. Kilcher: Einleitung. In: A. B. K. (Hg.): Metzler Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur. Jüdische Autorinnen und Autoren deutscher Sprache von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Stuttgart, Weimar 2000, S. V–XX. 12 Vgl. Norbert Otto Eke: „Gott schütz uns vor den guten Menschen“. Reinigungsrituale und Beschämungsstrategien im deutsch-jüdischen Verhältnis. In: Alexandra Pontzen, Heinz-Peter Preußer (Hg.): Schuld und Scham. Heidelberg 2008, S. 165–180. 13 Esther Dischereit: Als mir mein Golem öffnete. Passau 1996, S. 16. 14 Dan Diner: Negative Symbiose – Deutsche und Juden nach Auschwitz. In: Micha Brumlik et al. (Hg.): Jüdisches Leben in Deutschland seit 1945. Frankfurt/M. 1986, S. 243–257.
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hat. Eben weil die Shoah stattgefunden habe, so Schindel, könne es dort so etwas wie Normalität nicht geben. „Bis ins siebte Glied noch nicht.“15 Allerdings bleibt Schindel, der 1992 mit Gebürtig einen Roman vorgelegt hat, der in seiner formalen Gestaltung (Multiperspektivität, Fragmentierung der Narration zu einem komplexen Spiegelspiel mit Vergangenheiten16 und der Gegenwart etc.) die Unmöglichkeit reflektiert, ein Ganzes (von Juden und Nicht-Juden) zu erzählen, nicht bei dieser apodiktisch formulierten Abklärung von Illusionen stehen; er deutet gleichzeitig auch vorsichtig einen möglichen Ausweg aus dem Dilemma im Dialog an: „Wenn wir dies erschweigen, also als Faktum akzeptieren, dass Normalität obszön ist zwischen Juden und Nichtjuden hierorts, dann ist der Dialog jenseits der Plappersuppen möglich.“17 Der Weg über die Untiefen der negativen Symbiose und damit über das Trennende hinweg führt für ihn durch das Purgatorium der Sprache, des Redens – und dies für beide Seiten in gleicher Weise: die Kinder der Opfer und die der Täter, zwischen denen Brücken geschlagen werden können, die dennoch aber eine grundsätzliche Differenz der Erfahrung trennt, welche es erst einmal festzuhalten gilt. Doron Rabinovici markiert diese Differenz in paradigmatischer Weise, wenn er in seinem Roman Ohnehin (2004) die Erzählfigur Lew Feininger eine klare Grenze ziehen lässt zwischen sich und der Tochter eines der Täter, die mit dem Argument, beide stammten ja aus Familien, in denen das Schweigen über der Vergangenheit liege, gutgemeint Unterschiede nivelliert: Du würdest am liebsten eine antifaschistische Pyjamapartie veranstalten und in Häftlingskleidern herumlaufen. Du bist kein SS-Opfer. Hörst du? Und mich wirst du auch zu keinem machen. Ich bin kein Opfer. Meine Verwandten waren welche, gewiß. Ich nicht. Verstehst du? Ich nicht. Was hast du gesagt? „Wir Kinder von Opfern und Tätern“? Meinst du, wir wären eine einzige große Familie? Eine Art Mischehe aus Juden und Nazis? Eine Täteropfermischkulanz … Die Mischpoche von Auschwitz? Wir Kinder? Ich will kein Kind mehr sein. Ich bin erwachsen. Du auch. Es ist an der Zeit.18
In diesem Zitat ist ein in der deutschsprachig-jüdischen Literatur in den 1990er Jahren verstärkt diskutiertes Thema angeschlagen, das Robert Menasse in einer Szene seines Romans Selige Zeiten, brüchige Welt (1991) in tragikomischer Weise verdichtet hat. Nach dem Tod seiner Mutter streut der Erzähler die Asche der
15 Robert Schindel: Schweigend ins Gespräch vertieft. Anmerkungen zu Geschichte und Gegenwart des jüdisch-nichtjüdischen Verhältnisses in den Täterländern. In: R. S.: Mein liebster Feind. Essays, Reden, Miniaturen. Frankfurt/M. 2004, S. 15–22, hier S. 22. 16 Vgl. dazu insbesondere Peter Arnds: Robert Schindel’s Novel Gebürtig (1992) in a Postmodern Context. In: Gerald Chapple (Hg.): Towards the Millenium. Tübingen 2000, S. 219–239, hier S. 225. 17 Ebd. 18 Doron Rabinovici: Ohnehin. Frankfurt/M. 2004, S. 119.
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Verstorbenen so unglücklich gegen den Wind aus, dass sie ihm zurück ins Gesicht weht, sich mit seinem Schweiß vermischt, in sein Haar und seine Poren eindringt.19 Der verzweifelt-groteske Versuch des Sohnes, die Geschichte der Eltern (der Mutter) im Wortsinn loszuwerden, weist in das Zentrum einer vor dem Hintergrund der Shoah zugespitzten Generationenproblematik, die sich in den Werken der jüngeren Generation in den Vordergrund schiebt: Die Kinder der Überlebenden wachsen in einer höchst neurotischen Situation auf, die es ihnen nicht (oder nur schwer) erlaubt, ganz bei sich zu sein, d. h.: eine eigene Identität zu finden. Diese neurotische Situation hat zwei Wurzeln. Die überlebenden Juden, die in Deutschland nach dem Ende des Kriegs und der Befreiung der Lager einen Neuanfang suchten, entwickelten einer Beobachtung Micha Brumliks zufolge bis in die 1980er Jahre hinein „kein angemessenes Selbstbewusstsein und kein Selbstverständnis […], da sie sich in einer fatalen Tradition des Schutzjudentums allzu oft als Aushängeschild der neugegründeten westdeutschen Demokratie missbrauchen ließen.“20 Jüdisches Leben in Deutschland hatte im Rahmen der Wiedereingliederung der Bundesrepublik in die Völkergemeinschaft nicht zuletzt auch eine legitimatorische Funktion.21 Es beglaubigte die Selbstdarstellung der BRD als durch Scham geläuterter Nation, die für sich in Anspruch nehmen durfte, im demokratischen Neuanfang Auschwitz überwunden zu haben. Die Juden wurden gebraucht und ließen sich gebrauchen, blieben jenseits dessen aber als Juden zunächst weitgehend unsichtbar. Dieser Instrumentalisierung der Juden zu ‚gebrauchten Juden‘ (Maxim Biller), treten von anderer Seite transgenerationelle Traumatisierungen22 an die Seite, die im Schweigen über die Shoah bei deren gleichzeitig unterschwelliger Allgegenwart in den Familien der Opfer eine Ursache finden. Sie bannen die Nachgeborenen in der Vergangenheit fest und lassen sie in einer ‚doppelten Realität‘ aufwachsen: mit der Geschichte und den Geschichten der verfolgten Eltern, zugleich in einer Situation abwesender Bedrohung bei gleichzeitiger Präsenz eines mehr oder weniger offen auftretenden Alltagsantisemitismus. Robert Schindel und Doron Rabinovici haben mit Gebürtig (1992) und Suche nach M. (1997) zwei paradigmatische Auseinandersetzungen mit
19 Robert Menasse: Selige Zeiten, brüchige Welt [1991]. Frankfurt/M. 1994, S. 224f. 20 Micha Brumlik: Zur Identität der Juden in der Bundesrepublik. In: Ernst Ludwig Ehrlich (Hg.): Der Umgang mit der Shoah. Wie leben Juden der zweiten Generation mit dem Schicksal der Eltern. Gerlingen 1993, S. 69–87, hier S. 79. 21 Zur im Vergleich dazu anders gelagerten Situation der Juden in der DDR vgl. Norbert Otto Eke: Konfigurationen der Shoah in der Literatur der DDR. In: N. O. E., Hartmut Steinecke (Hg.): Shoah in der deutschsprachigen Literatur. Berlin 2006, S. 85–106. 22 Siehe grundlegend dazu Gabriele Rosenthal (Hg.): Der Holocaust im Leben von drei Generationen. Familien von Überlebenden der Shoah und von Nazi-Tätern. Gießen 31999.
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diesen transgenerationellen Traumatisierungen vorgelegt. Sie erzählen beispielhaft von der Selbsteinschließung deutscher und österreichischer Juden im Labyrinth ‚alter‘ Geschichte(n), die in der deutschsprachig-jüdischen Literatur seit den 1990er Jahren in einer großen Variationsbreite begegnet: von der Revolte gegen die Fremdbestimmung durch Shoah-Geschichten, wie sie Robert Schindel selbst in seinem großen Epochenroman in das drastische Bild des Erbrechens der Toten gebracht hat (vgl. auch Maxim Billers Geschichten in Wenn ich einmal reich und tot bin [1990] und Land der Täter und Verräter [1994]), bis hin zu der Rückbesinnung auf das Eigene einer bis dahin bedeutungslosen jüdischen Tradition, wofür neben der späten Lyrik Thomas Braschs und den Werken Chaim Nolls insbesondere Barbara Honigmanns Roman Soharas Reise (1996) stehen mag, der Kontinuität bemerkenswerterweise im Rückgriff ausgerechnet auf das Masternarrativ der Rettung (Rettungsgeschichten konstruieren eine metaphorische Kontinuität) entwirft, das in der Literatur der 1950er und der 1960er Jahre gerade der DDR wiederholt im Kontext der literarischen Auseinandersetzung mit der Shoah begegnet.
Jüdisches Gedächtnis als Widerstand Esther Dischereit hat in ihrem Essay Kein Ausgang aus diesem Judentum eine Lösung der jüdischen Identitätsproblematik in der Perspektive einer kulturellen Transformation Deutschlands zu einem kulturell offenen Land sehen wollen: Mit dieser Option auf eine andere, kulturell geöffnete Bundesrepublik würde sich auch die Fragestellung ‚Juden‘ und/oder ‚Deutsche‘ ein Stück weit aufheben. Denn wir scheinen weder deutsche Juden noch jüdische Deutsche sein zu können. Vielmehr bleiben wir beides zugleich – nebeneinander, gegeneinander. Juden und Deutsche.23
Doron Rabinovici wiederum stellt diese perspektivische Öffnung in den Horizont einer neuen Funktionsbestimmung jüdischen Lebens in Deutschland und Österreich, die sich aus der Stellung des Jüdischen und der Juden als „Repräsentanten einer hybriden ‚Migrationsmelange‘, die Trennendes mischt“,24 ableitet: Es kommt vielleicht auch noch dazu, daß etwas Verschwiegenes mit uns wieder zu Wort kommt, etwas Verstummtes, aber es ist nicht das Einzige, was wir sagen. […] Unser Thema berührt die Fragen aller Minderheiten überhaupt in unserer multikulturellen Zeit, das
23 Esther Dischereit: Kein Ausgang aus diesem Judentum [1994]. In: E. D.: Übungen, jüdisch zu sein. Aufsätze. Frankfurt/M. 1998, S. 16–35, hier S. 29. 24 Matthias Beilein: 86 und die Folgen. Robert Schindel, Robert Menasse und Doron Rabinovici im literarischen Feld Österreichs. Berlin 2008, S. 278.
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natürlich weltweit wichtiger geworden ist. Wir sind insofern in eine Rolle gekommen, in der wir etwas aussprechen, wonach ein Bedarf besteht.25
Beides wiederum kann sich auf Robert Schindels Versuch berufen, jüdische Identität von zwei Seiten her zu begründen: als Erinnerung und als Widerstand. Erst „das Zerrissene, das in den Boden Gestampfte“,26 kurz der „Zivilisationsbruch“ von Auschwitz, so Schindel in seinem bereits 1984 entstandenen, 1995 aber noch einmal mit anderen ausgewählten Texten in dem programmatischen Essayband Gott schütz uns vor den guten Menschen veröffentlichten Vortrag Judentum als Erinnerung und Widerstand, schaffe für ihn, den durch seine Erziehung von den religiösen und kulturellen Traditionen des Judentums abgeschnittenen, gerade noch der Shoah entkommenen Sohn, eine ‚jüdische‘ Identität. Anders als die Überlebenden, die „wenigstens mit dem eigenen Körper die Brücke von damals zu jetzt“27 hätten schlagen können, auch wenn dies nicht immer geglückt sei, könne sich Judentum im Verständnis Schindels für die späteren Generationen dabei allein über die Erinnerung konstituieren. Diese Erinnerung brauche es aber auch, um den Fortbestand des Jüdischen in den Täterländern zu gewährleisten. Der Weg in die Zukunft führt über die Toten, ins „Vornehin“ durch die durchaus störende und peinigende, Würgen und Husten verursachende Erinnerung an die Vergangenheit, wie es in seinem Gedicht Ein Feuerchen im Hintennach aus dem 1992 erschienenen gleichnamigen Gedichtband heißt: „Ich bleib das Hintennach und muß ins Vornehin durch Rauch / Sodaß ich knurrend hust in den Gedächtnissen“.28 Das erfordert das Lesen von Spuren und das Legen von Spuren. Immer den Leuten „hintennachschreiben“ fordert Danny Demant im Prolog von Gebürtig so: „Hauptsache, du schreibst hintennach auf, hurtig und präzise, denn Spuren müssen her“.29 Genau an dieser Stelle setzt Schindel die Kategorie des Widerstands an; von hier aus begründet er die Notwendigkeit eines Judentums, das Selbstverständnis (Identität) aus der Erfahrung der Verfolgung und Vernichtung im Widerstand
25 „Wir sind die Angelus-Novus-Generation.“ Interview mit Robert Schindel, Robert Menasse und Doron Rabinovici. Wien, Café Sperl, 4.4.2006. In: Beilein: 86 und die Folgen, S. 297–325, hier S. 318f. 26 Robert Schindel: Judentum als Erinnerung und Widerstand [1984]. In: Ders.: Gott schütz uns vor den guten Menschen. Jüdisches Gedächtnis – Auskunftsbüro der Angst. Frankfurt/M. 1995, S. 27–34, hier S. 29. 27 Ebd., S. 30. 28 Robert Schindel: Ein Feuerchen im Hintennach. In: R. S.: Ein Feuerchen im Hintennach. Gedichte 1986–1991. Frankfurt/M. 1992, S. 40–45, hier S. 40. 29 Schindel: Gebürtig, S. 17.
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gegen die Intoleranz und als Erinnerung an die aufklärerischen Werte von Humanismus, Toleranz und Emanzipation bildet. Das weist der Literatur eine ethische Aufgabe in universeller Perspektive zu (ein jüdisches Schreiben, so Schindel, gäbe es nicht: „es gibt nur ein ethisches“30), die über die Sehnsucht nach „ein bißchen Aleph“, d. h. nach ein bisschen Gemeinschaft in der durch überholte Praktiken und Rituale gestützten Tradition, hinausgeht. Dischereit hat dies im ersten Teil ihres Zyklus Jüdische Renaissance zum Ausdruck gebracht:
Jüdische Renaissance I Wir wolln ein bißchen Aleph und wolln die Mazze brechen spielen Mütter, Urgroßväter die haben wir nicht gesehen sind nicht die Kinder von wem und von woher sie reden von uns wie Ackerbauern von ihrer Erde Straßenarbeiter hackten den Bäumen in die Wurzel Die Bäume schüttelten ihre Kronen und blieben eine Weile lang stehen Die anderen Bäume behaupteten sie seien der Wald Mir ist merkwürdig wenn ich dazwischen gehe.31
Das Gedicht stammt aus dem 1996 veröffentlichten Band Als mir mein Golem öffnete, dessen Texte in immer neuen Anläufen zerbrochener Gesänge das „Grundgefühl des Fragmentarischen, des Zerbrochenseins, das für sie [Dischereit] unweigerlich mit dem Leben in Deutschland, als Jüdin und Tochter einer ShoahÜberlebenden, verbunden ist“,32 in der Form transportiert. Exemplarisch sei hier
30 Ekkehard W. Haring: „… die Generalpause meines Lebens“. Ein Gespräch mit Robert Schindel über Literatur, Schoah und jüdische Gebürtigkeiten. In: Modern Austrian Literature 38/3–4 (2005), S. 85–98, hier S. 95. 31 Dischereit: Als mir mein Golem öffnete, S. 9. 32 Itta Shedletzky: Eine deutsch-jüdische Stimme sucht Gehör – Zu Esther Dischereits Romanen, Hörspielen und Gedichten. In: Stephan Braese (Hg.): In der Sprache der Täter. Neue Lektüren
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dazu nur das Titelgedicht zitiert, mit dem Dischereit sich einer Tradition der Auseinandersetzung mit dem Status des Schreibens im Horizont der Shoah (Nelly Sachs: Golem Tod!; Paul Celan: Psalm; Einem, der vor deiner Tür stand) an die Seite stellt:33 Ich saß vor deiner Tür als mir mein Golem öffnete führte mich abseits und strich mir die Zeile aus jetzt fegst du Staub vor Deiner Tür34
Über den auch von Benjamin Stein in Das Alphabet des Juda Liva aufgegriffenen Golem-Mythos – hier begegnet er dem Leser in Gestalt eines Jungen, Jan Prochazka, der den Judaistik-Studenten Alex Rottenstein auf seiner Zeitreise geleitet – verweist Dischereit auf die jüdische Verfolgungserfahrung: Das Ausstreichen der Schrift-Zeile, die dem Golem Leben verleiht, und die in der Metapher des Staubs angesprochene Erfahrung der Zerstörung jüdischen Lebens setzen in dieser Hinsicht eindeutige Zeichen. Von hier aus schlägt sie die Brücke zu den Toten der Shoah – und zu einer Tradition, in die zurückzukehren nicht mehr möglich ist, die aber im Sinne des von Schindel eingeforderten Schreibens in ethischer Verantwortung erinnert werden muss. Eine Alternative dazu gibt es nicht, auch wenn der trügerische Charakter subjektiver Erinnerungen unstrittig ist35 und die in den Texten jüdischer Autoren wie Robert Schindel, Gila Lustiger,
deutschsprachiger Nachkriegs- und Gegenwartsliteratur. Opladen, Wiesbaden 1998, S. 199–225, hier S. 203. 33 Vgl. dazu Cathy S. Gelbin: Poetics of the Monster: Esther Dischereit Rewrites Nelly Sachs, Paul Celan and the Canon of Post-war Jewish Poetry in Als mir mein Golem öffnete. In: Hall (Hg.): Esther Dischereit, S. 49–71. 34 Dischereit: Als mir mein Golem öffnete, S. 5.
35 Über den trügerischen Charakter, die ‚Wahrheit‘ der (subjektiven) Erinnerung und die Schwierigkeiten beim Schreiben der Erinnerung reflektiert Erich Fried auf eindrucksvolle Weise an einer Stelle seiner 1988 erschienenen Erinnerungen Mitunter sogar Lachen im Zusammenhang mit seinen ersten, gescheiterten Versuchen, als junger Emigrant in London über das Schicksal seiner
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Elfriede Jelinek, Doron Rabinovi, Maxim Biller oder Esther Dischereit in einer großen Spannweite begegnenden Versuche, die anhaltende Nicht-Normalität der gegensätzlichen Gemeinsamkeit von Juden und Nichtjuden sichtbar und erfahrbar zu machen, in einem Raum der Ambivalenz erfolgt: Sprechen / Schreiben ist Befreiung, hat aber gerade dort, wo es Traumata ausstellt, auch etwas durchaus Prostituierendes, wie Dischereit 1994 in dem Essay Kein Ausgang aus diesem Judentum schreibt: Vor dem deutsch-deutschen Publikum jüdisch zu schreiben hat einen lästerlichen, einen prostituierenden Zug – wie das Ausziehen einer Frau vor den Augen der Männer. Ich weiß es. Aber ich sehe keine Alternative.36
Alternativlosigkeit: Gedächtnis und Erinnerung Am Ende seines Dialogs Phaidros lässt Platon Sokrates auf die Sage von der Erfindung der Schrift durch den Gott Theut zurückkommen. Theut preist in dieser Sage die Schrift vor dem ägyptischen König Thamus mit dem Argument, die neue
Familie zu schreiben. Mit der Aussicht auf ein Honorar von 50 Pfund, eine in dieser Zeit hohe Summe, hatte er begonnen zu schreiben und die Arbeit zunächst aufgenommen, dann aber einsehen müssen, dass für einen Außenstehenden alles schnell in ein schiefes Licht rücken würde: „An diesem Abend schrieb ich die ersten zehn oder zwölf Seiten und ging glücklich und zufrieden zu Bett. […] Am nächsten Morgen ging es mit dem Weiterschreiben noch ganz gut, obwohl mir ein wenig unbehaglich wurde. Die ganze Zeit über, seit meiner Ankunft in London, wußte ich natürlich, daß mein Vater an den Mißhandlungen gestorben war, die er bei einem Verhör erlitten hatte, und daß meine Mutter immer noch in einem Nazigefängnis eingesperrt war. Aber wenigstens war es für mich klar gewesen, daß wir die unschuldigen Opfer waren und daß die Nazis, die Zerstörer unserer Familie, die Vernichter des Haushalts, in den ich vor 18 Jahren hineingeboren worden war, alle Schuld hatten. Nun, beim genauen Aufschreiben aller Begleitumstände, war das nicht mehr ganz so einfach. / Gewiß, die Nazis trugen immer noch die Schuld. Sie waren die Vernichter, die Zerstörer, aber … Gab es ein Aber?“ (Erich Fried: Mitunter sogar Lachen. Zwischenfälle und Erinnerungen. In: E. F.: Gesammelte Werke. Hg. v. Volker Kaukoreit u. Klaus Wagenbach. Bd. 4: Prosa. Berlin 21993, S. 517–630, hier S. 583f.) An diesem Punkt angelangt, beginnt der junge Fried zunächst damit, die genauen Umstände zu erzählen, die zur Verhaftung seiner Eltern geführt hatten, von deren Verstoß gegen die Devisenausfuhrbestimmungen des Dritten Reichs, dem nicht immer ganz eigennützigen Handeln der Eltern, ihrer zerrütteten Ehe, ihren letztlich zu unüberlegten und gefährlichen Aktionen, kommt bald aber zu der Einsicht, dass die ‚ganze‘ Geschichte zu erzählen, letztlich ein falsches Bild auf das Ganze werfen würde, und bricht den Schreibversuch ab: „Es würde doch aussehen, als sei meine Familie an ihrem Untergang einzig und allein selbst schuld, und die Nazis seien nur das ausübende Organ der Geschichte gewesen, der deus oder diabolus ex machina. Und das durfte nicht sein. Kein Wort mehr!“ Ebd., S. 586. 36 Dischereit: Kein Ausgang aus diesem Judentum, S. 34.
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Technik der Aufzeichnung werde „die Ägypter weiser machen und erinnerungsfähiger“, denn die Schrift sei „als ein Hilfsmittel für das Erinnern sowohl als für die Weisheit […] erfunden“, woraufhin Thamus erwidert: O du sehr kunstreicher Theuth! Ein anderer ist der, der das, was zur Kunst gehört, hervorzubringen, ein anderer aber der, der zu beurteilen vermag, welchen Teil Schaden sowohl als Nutzen sie denen bringe, die sie gebrauchen werden. So hast auch du jetzt, als Vater der Buchstaben, aus Vaterliebe das Gegenteil von dem gesagt, was ihre Wirkung ist. Denn Vergessenheit wird dieses in den Seelen derer, die es kennenlernen, herbeiführen durch Vernachlässigung des Erinnerns, sofern sie nun im Vertrauen auf die Schrift von außen her mittelst fremder Zeichen, nicht von innen her aus sich selbst, das Erinnern schöpfen. Nicht also für das Erinnern, sondern für das Gedächtnis hast du ein Hilfsmittel erfunden. Von der Weisheit aber bietest du den Schülern nur Schein, nicht Wahrheit dar. Denn Vielhörer sind sie dir nun ohne Belehrung, und so werden sie Vielwisser zu sein meinen, da sie doch insgemein Nichtswisser sind und Leute, mit denen schwer umzugehen ist, indem sie Scheinweise geworden sind, nicht Weise.37
Und Sokrates fasst zusammen: Wer also glaubt, eine Kunst in Buchstaben zu hinterlassen, und wieder, wer sie annimmt, als ob aus Buchstaben etwas Deutliches und Zuverlässiges entstehen werde, der möchte wohl großer Einfalt voll sein und in der Tat den Wahrspruch des Ammon nicht kennen, indem er glaubt, geschriebene Reden seien etwas mehr als eine Gedächtnishilfe für den, der das schon weiß, wovon das Geschriebene handelt. […] Dieses Mißliche nämlich, o Phaidros, hat doch die Schrift, und sie ist darin der Malerei gleich. Denn die Erzeugnisse auch dieser stehen wie lebendig da; wenn du sie aber etwas fragst, schweigen sie sehr vornehm.38
Das in dieser Szene angeschlagene Thema des Auseinandertretens von Speichergedächtnis und Funktionsgedächtnis steht im Zentrum des 1995 veröffentlichten Romans Der Absender, mit dem sich der Schweizer Journalist Daniel Ganzfried wohl nicht ganz zufällig (Ganzfried hatte seinerzeit den Fall Wilkomirski ins Rollen gebracht) als Autor in der Auseinandersetzung um Erinnerungsprozesse und Gedächtnisfunktionen positioniert, deren wachsende Bedeutung im Rahmen der kulturellen Erinnerung Jan Assmann in einem Gespräch mit Thomas Assheuer und Jörg Lau auf den signifikanten Medienwandel von der Schriftkultur zur digitalen Kultur zurückgeführt hat.39
37 Platon: Phaidros. In: P.: Sämtliche Werke. Bd. 2. Hg. v. Erich Loewenthal [Berlin 1940]. Heidelberg 1982, S. 411–482, hier S. 474f. 38 Ebd., S. 474f. 39 Thomas Assheuer, Jörg Lau: Niemand lebt im Augenblick. Ein Gespräch mit den Kulturwissenschaftlern Aleida und Jan Assmann über deutsche Geschichte, deutsches Gedenken und den Streit um Martin Walser. In: Die Zeit (3.12.1998), Nr. 50, S. 43f., hier S. 43.
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Der Medienwandel und die damit verbundenen Verschiebungen innerhalb der diskursiven Bedingungen für die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, die sich zudem mit der Umstellung der Erinnerung vom authentischen Gedächtnis der Zeugen zum Nachgedächtnis der späteren Generationen verbinden, stehen im Hintergrund des Romans Der Absender. Strukturell greift Ganzfried dabei auf das Narrativ generationeller bzw. transgenerationeller Vergangenheitskonstruktionen zurück, das in der deutschsprachigen Erzählliteratur seit dem Epochenumbruch von 1989 in evidenter Weise eine Revitalisierung erfahren hat,40 wenn er vom Schweigen der Dokumente und dem wieder Hörbarwerden der durch sie überlieferten Geschichte(n) erzählt. Der Absender berichtet so von der Suche eines Opfersohnes nach dem Vater, der eigenen Geschichte und Identität. Ganzfrieds Roman beschreibt durch das Narrativ der Vater-Sohn-Geschichte, wie das Rohmaterial zum Lebensmaterial, Zeitzeugenschaft zur Zeitgenossenschaft wird. Georg, die Zentralfigur des Romans, arbeitet zur Zeit des ersten Golfkriegs als Volontär in einem Büro, das mit dem Aufbau eines Holocaust-Museums beschäftigt ist. Zu seinen Aufgaben gehört das Abhören und Aufbereiten von TonbandZeugnissen Überlebender für ein zukünftiges Oral-History-Archiv – eine monotone, den Zuhörer im Wortsinn wenig ansprechende Arbeit, auch wenn die in den Aufzeichnungsmedien konservierten „aussterbenden Stimmen“41 ganz offensichtlich versuchen, so zumindest empfindet es Georg, „mit ihren KZ-Geschichten gerade von ihm so viel Aufmerksamkeit zu erheischen“.42 Die Erinnerungen der Überlebenden besitzen für den Zuhörer Georg zunächst weder Struktur noch erzählerische Stringenz und wiederholen sich in der Erzählung der scheinbar immer gleichen Geschichte(n): Je mehr Kassetten Georg seit Antritt der Stelle abgehört hatte, desto häufiger wiederholten sich Jahreszahlen, Ortschaften, Länder und die Namen von Konzentrationslagern auf den Formularen; seit einiger Zeit schon meinte er, manchmal zwischen den Muscheln des Kopfhörers beinahe eingeschlafen, immer wieder ein und dieselbe Überlebensgeschichte aus dem immer gleichen Lager zu hören. Wenn sich dennoch Einzelheiten abhoben, was selten der Fall war, so trieben sie auf dem Brei der Stimmen dahin, gleich abgerissenem Blattwerk, dem man noch eine Weile flussabwärts nachschaut, bis der nächste Ast kommt und auch wieder vergessen geht.43
40 Vgl. Friederike Eigler: Gedächtnis und Geschichte in Generationenromanen seit der Wende. Berlin 2005. 41 Daniel Ganzfried: Der Absender [1995]. Frankfurt/M. 1998, S. 29. 42 Ebd., S. 28. 43 Ebd., S. 23.
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Ganzfried greift damit hier über das in der Shoah-Forschung vielfach reflektierte Problem der Nivellierung und Auslöschung der Differenz von Primärerfahrungen44 hinaus die nicht allein von Aleida Assmann vertretene These über die den Überlebenden mit dem Entmenschlichungsprozess aufgezwungene repetitive Struktur der Erzählung auf. Er legt auch nahe, „daß die elektronisch erfaßten Geschichten der Überlebenden auch deshalb im ‚Stimmenbrei‘ kaum mehr auseinanderzuhalten sind und als Primärerfahrungen an Ausdruckskraft verlieren, weil das Speichermedium sie vereinheitlicht und damit entindividualisiert.“45 Das ändert sich in dem Moment, als Georg glaubt, in der Stimme eines der Zeugen die Stimme des eigenen Vaters zu erkennen. Der Roman inszeniert das als einen Moment des schockhaften Gewahr- bzw. Innewerdens: Erst als die eigentliche Nummer [die dem anonymen Berichterstatter in den Arm tätowiert wurde] erwähnt wurde, horchte Georg auf. Er spulte zurück – und noch einmal. Schließlich notierte er die Zahl hinter dem großen A. Dann ging er dazu über, aus den einzelnen Ziffern verschiedene Kombinationen zu bilden. Er verglich sie, strich aus und kritzelte sie neu untereinander. Doch allein die Nummer aus dem vorliegenden Bericht hielt dem Vergleich mit seiner Erinnerung stand. – So hatte er sie auf dem Unterarm gesehen. Und fortan sprach die Stimme so selbstverständlich weiter, als erzähle sie alles, was folgte, nur ihm allein.46
Georg glaubt in der Stimme des anonym bleibenden Zeugen, der dem Tonband seine Geschichte, angefangen mit seiner Kindheit in einer ungarischen Kleinstadt (Nyr) über die allmählich einsetzenden Diskriminierungen, den Kriegseintritt Ungarns an der Seite Nazideutschlands, der Besetzung Ungarns durch die Deutschen, dem Transport nach Auschwitz, bis hin zu seiner Befreiung aus dem Lager und seinem Versuch, in Israel eine neue Existenz aufzubauen (die Zeit im Lager wird aus der Narration ausgespart) anvertraut, ausgerechnet den Menschen zu erkennen, dem er einst nahestand, zu dem er lange aber schon den Kontakt weitgehend verloren hat – das ‚Band‘ zwischen den Generationen ist gerissen. Im Moment des – ungesicherten – Wiedererkennens verwandelt sich der unberührte Zuhörer in den Adressaten einer ihm nahekommenden Erzählung, was ihn zu weiteren Recherchen und schließlich zu der Bitte an den fernen Vater veranlasst, zu ihm nach New York zu kommen. Von diesem Besuch erhofft er sich eine endgültige Klärung der Identität des Sprechers; ein Blick auf die dem Vater in die Haut tätowierte KZ-Nummer soll ihm Gewissheit verschaffen. Indem der Hilfs-
44 Vgl. Charlotte Schallié: „Die neuerlich drohende Ausbreitung des Stimmenbreis“: Erinnerungsschwund im Archiv. Zu Daniel Ganzfrieds „Der Absender“. In: Marcel Atze et al. (Hg.): Akten-kundig? Literatur, Zeitgeschichte und Archiv. Wien 2008, S. 98–105, hier S. 98. 45 Ebd., S. 99. 46 Ganzfried: Der Absender, S. 31.
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arbeiter in den Materialwüsten des Archivs sich solcherart angesprochen, d. h. als ‚gemeint‘ empfindet, verliert die an das technische Aufzeichnungsmedium delegierte Geschichte den Charakter des Rohmaterials, der Ruth Klügers Reserviertheit gegenüber oral-history-Archiven begründet.47 Der Absender, der mit Georgs Suche nach dem Vater (der eigenen Biographie) in der Spur des anonymen Absenders und der Begegnung von Vater und Sohn auf der Aussichtplattform des Empire State Buildings dreihundertachtzig Meter über dem Boden und damit an einem Nicht-Ort über dem Realen drei Ebenen ineinander vereint – Bericht, Recherche, Kommunikation –, ist nicht allein deshalb so ergiebig für die Untersuchung literarischer Verkehrsformen eines jüdischen Gedächtnisses, weil Ganzfried hier herausarbeitet – Charlotte Schallié hat darauf bereits aufmerksam gemacht –, „wie die neueren Aufzeichnungs- und Speicherverfahren, die den Übergang von ‚story zu storage‘ beschleunigt haben, gleichzeitig die Einzelaussagen ihrer Individualität berauben“.48 Er ist vor allem deshalb so ergiebig, weil er das Problematische des Übergangs von einer lebendigen Erinnerungsgemeinschaft in eine durch Archive gestützte sekundäre Erinnerungskultur vor Augen führt, dabei allerdings nicht stehen bleibt, sondern auch zeigt, wie aus der sekundären Erinnerungskultur wieder eine ethische Erinnerungsgemeinschaft werden kann, in der die zuvor skizzierten Forderungen zu einer Konzeptualisierung jüdischer Identität im Widerstand auch praktisch zu sich zu kommen imstande wären. Damit die Erinnerung an die Shoah, die in der Summe die Geschichte vieler einzelner unbekannter Adressaten ist, zum konstitutiven (lebendigen) Teil einer ethischen Erinnerungsgemeinschaft werden kann, bedarf es einer Rezeptionshaltung, welche die Erinnerungsträger der Gefahr der Musealisierung entzieht, die nicht nur den Rezipienten zum passiven Konsumenten machen würde, sondern den Zeugnissen
47 Vgl. dazu Ruth Klüger: Kitsch, Kunst und Grauen. Die Hintertüren des Erinnerns. Darf man den Holocaust deuten? In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (2.12.1995), Nr. 281, S. B4: „Neulich fragte mich eine Dame, die an einem oral-history-Projekt in Südkalifornien arbeitet und es gut meinte, wieso sie erst jetzt von mir höre, warum ich mich noch nicht zu einem Interview gemeldet hätte. Ich erwiderte: Ich mag nicht, diese Interviews sind mir suspekt, man wird zum Objekt, zum ausgebeuteten Leidensobjekt. Sie darauf, mit ehrlichem Erstaunen, aber auch mit unüberhörbarem Vorwurf in der Stimme: Was, Sie wollen nicht Zeugnis ablegen? In die Defensive getrieben, verteidigte ich mich mit einem Hinweis auf ein Buch, das ich, wenn auch auf deutsch, geschrieben hätte, und da hätte ich ja schon Zeugnis abgelegt, das genüge doch. Sie gab sich nicht zufrieden. Eine Videokassette meinte sie, sei um soviel besser als ein Buch, der Gesichtsausdruck, die Gesten … Gerade das ist es, was mir diese Sammelwut von oral histories so verdächtig macht. Man wird nicht zum Zeugen, sondern zum Rohmaterial.“ 48 Schallié: „Die neuerlich drohende Ausbreitung des Stimmenbreis“, S. 99.
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auch das ihnen eingeschriebene authentische Entsetzensmoment zu nehmen und sie zugleich zu ‚verkitschen‘ droht.49 Der Leser bzw. Hörer – das zumindest verdeutlicht Ganzfrieds Roman, auch wenn die Spurensuche des Sohnes letztlich zu keinem gesicherten Ergebnis führt (vergebens versucht Georg während des Treffens mit dem Vater dessen KZ-Nummer zu identifizieren, wagt es andererseits auch nicht, den Vater direkt zu fragen) – muss sich als Adressat der anonymen Botschaften / Geschichten der Toten verstehen lernen; dann wird daraus eine gemeinsame Geschichte der Kinder der Toten (und Überlebenden). In dieser Fluchtlinie werden am Ende des Romans die Erzählstränge zusammengeführt: die Erinnerungen des anonymen Zeitzeugen und die Erzählung des realen Vaters von der Zeugung des Sohnes greifen ineinander; die eine Geschichte hört auf und eine neue beginnt: „Den Rest kennst du ja.“50
Erreichte und unerreichte Normalität Maxim Biller hat am Anfang seines 2009 erschienenen „Selbstporträts“ Der gebrauchte Jude beschrieben, wie er sich (bzw. sein literarisches alter ego) als junger Jude in Deutschland zunächst der Illusion hingegeben habe, auch er könne, wie die ihm in der jüdisch-amerikanischen Literatur begegnenden Juden, souverän über seine Geschichte verfügen und als Jude ein selbstverständlicher Teil der nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft werden. Er sah sich in seinen Hoffnungen aber schnell enttäuscht, denn die Deutschen wollten „etwas von mir“,51 das er ihnen nicht habe geben können – nämlich die Unterstützung dabei, „nach sorglosen Jahrzehnten der Selbstverleugnung sie selbst zu sein.“52 Indem ‚Biller‘ in demonstrativer Umkehrung kultureller Zuschreibungsmechanismen in der
49 Siehe zu dieser Gefahr der Verkitschung Ruth Klüger: Kitsch, Kunst und Grauen: „In seiner ‚Phänomenologie des Kitsches‘ (1971) hat Ludwig Giesz das Wort ‚Vergangenheits-Fetisch‘ für das Souvenir geprägt. Ein solcher Fetisch ist zum Beispiel ein Paar Babyschuhe, das die Eltern in Gips gießen und im Wohnzimmer aufbauen. Ich frage mich: Sind die berühmten Haufen von Kinderschuhen, die in KZ-Gedächtnisstätten ausgestellt werden, in der Umkehrung nicht dasselbe Phänomen? Und zwar deshalb, weil sich Menschen nicht auf ihre Schuhe reduzieren lassen, die toten Kinder ebensowenig wie die lebenden, die heute größere Schuhe tragen. Ihrer ursprünglichen Funktion enthoben, haben die Schuhe in beiden Fällen nur noch die Funktion, betrachtet zu werden. Das heißt, die Schuhe werden ästhetisiert, sie werden zum Fetisch, zum Kunstwerk – doch da der Teil dem Ganzen nicht entspricht, werden sie nur zum Kitschwerk.“ 50 Ganzfried: Der Absender, S. 367. 51 Maxim Biller: Der gebrauchte Jude. Selbstporträt. Köln 2009, S. 31. 52 Ebd., S. 163.
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Konsequenz dieser Desillusionierungserfahrung nun auf seinem Jude- und damit Fremdsein bestanden habe, hätte er der nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft das Zeichen entlastender Gleichheit, kurz: von Normalität verweigert. „Ich war hier und jetzt von Leuten umgeben, die so taten, als sei es ihnen egal, dass ich Jude war, doch das war gelogen, und darum wurde mir immer wichtiger, dass ich es war.“53 Dass er damit und mit seinem von hier aus begründeten Wunsch, Schriftsteller zu werden, dem circulus vitiosus der Zuschreibungen und Projektionen gleichwohl nicht hat entkommen können, ist die bittere Einsicht, die das „Selbstporträt“ bereithält. ‚Kein Ausweg‘ auch für ihn aus diesem Judentum. Esther Dischereit hat die Sehnsucht, die Billers Lebensweg als „gebrauchter Jude in Deutschland“54 begleitet und leitet, mit dem Schlusssatz ihres Essays Mama, darf ich das Deutschlandlied singen in der Formel zusammengefasst: „Es müßte doch für einen Juden möglich sein, nicht Jude zu sein.“55 Das ist das entscheidende neue Thema, das in der deutschsprachig-jüdischen Literatur der 1990er Jahre zunehmend wichtiger wird. Nicht Jude sein zu müssen: das meint durchaus dabei nicht das Ende des Judentums in Deutschland, in dem Laura Waco 1996 ihren Roman einer Kindheit Von Zuhause wird nichts erzählt. Eine jüdische Geschichte aus Deutschland auslaufen lässt (die „Jüdische Geschichte aus Deutschland“ ist in ihrem Fall am Ende keine mehr in Deutschland), wohl aber ein Stück nicht bloß behaupteter, sondern wirklich erreichter Normalität.56
53 Ebd., S. 88. 54 Ebd., S. 75. 55 Dischereit: Mama, darf ich das Deutschlandlied singen, S. 12. 56 Wacos Roman ist einer des Anfangens und des Endens. Erzählt wird weitestgehend aus der Perspektive eines jüdischen Kindes von dem Versuch der Überlebenden, nach der Shoah im Land der Täter wieder heimisch zu werden. Im Epilog des Romans reist die mittlerweile verheiratete und aus Deutschland ausgewanderte Erzählerin noch einmal zurück nach München, um ihren bei einem Verkehrsunfall tödlich verunglückten Vater, kurz darauf auch eine ihrer jüngeren Schwestern zu begraben. Die letzten Sätze dieses Epilogs rekapitulieren die weitere Entwicklung im Zeitraffer: „Und die Mutti? / Ich weiß nicht, was in der Mutti vorgegangen ist. / Die Berta [die zweite Schwester der Erzählerin] ist drei Tage später nach Jugoslawien abgereist, auf Ferien, und ich bin bei der Mutti geblieben. Zwei Wochen lang hat sie kein Wort mit mir gesprochen. Alles Bürokratische, das mit einem Tod verbunden ist, habe ich mit ihr erledigt und sechs Wochen später flog ich zurück zu meiner Ehe und in mein neues Land, das niemals meine Heimat sein wird. / Ein Jahr später heiratete die Mutti einen frommen Witwer aus derselben Stadt, aus der der Papa stammte. Sie lebt in Belgien. / Die Berta änderte ihren Namen gesetzlich und heißt Barbara. Sie blieb allein. Im Jahre 1986 wanderte sie aus Deutschland aus und lebt in Los Angeles. / Und ich habe zwei Töchter. Die haben mir das Lieben beigebracht.“ Laura Waco: Von Zuhause wird nichts erzählt. Eine jüdische Geschichte aus Deutschland. München 1996, S. 276.
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Literaturverzeichnis Primärliteratur „Wir sind die Angelus-Novus-Generation.“ Interview mit Robert Schindel, Robert Menasse und Doron Rabinovici. Wien, Café Sperl, 4.4.2006. In: Matthias Beilein: 86 und die Folgen. Robert Schindel, Robert Menasse und Doron Rabinovici im literarischen Feld Österreichs. Berlin: Erich Schmidt 2008, S. 297–325. Biller, Maxim: Der gebrauchte Jude. Selbstporträt. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2009. Dischereit, Esther: Als mir mein Golem öffnete. Passau: Verlag Karl Stütz 1996. Dischereit, Esther: Kein Ausgang aus diesem Judentum [1994]. In: E. D.: Übungen, jüdisch zu sein. Aufsätze. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1998, S. 16–35. Dischereit, Esther: Mama, darf ich das Deutschlandlied singen. In: Katharina Hall (Hg.): Esther Dischereit. Cardiff: University of Wales Press 2007, S. 1–13. (Erstveröffentlichung in Béatrice Roschanzamir (Hg.): Ambivalenzen – Die Frau in der jüdischen Kultur in Deutschland heute. Bonn: Frauenmuseum 2002, S. 33–40.) Fried, Erich: Mitunter sogar Lachen. Zwischenfälle und Erinnerungen. In: E. F.: Gesammelte Werke. Hg. v. Volker Kaukoreit u. Klaus Wagenbach. Bd. 4: Prosa. Berlin: Wagenbach 21993, S. 517–630. Ganzfried, Daniel: Der Absender [1995]. Frankfurt/M.: Fischer 1998. Goetz, Rainald: Festung. Frankfurter Fassung. In: R. G.: Festung. Stücke. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1993, S. 97–243. Klüger, Ruth: Kitsch, Kunst und Grauen. Die Hintertüren des Erinnerns. Darf man den Holocaust deuten? In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (2.12.1995), Nr. 281, S. B4. Menasse, Robert: Selige Zeiten, brüchige Welt [1991]. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1994. Platon: Phaidros. In: P.: Sämtliche Werke. Bd. 2. Hg. v. Erich Loewenthal. 8. Aufl. der Berliner Ausgabe von 1940. Heidelberg: Lambert Schneider 1982, S. 411–482. Rabinovici, Doron: Ohnehin. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2004. Schindel, Robert: Ein Feuerchen im Hintennach. In: R. S.: Ein Feuerchen im Hintennach. Gedichte 1986–1991. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1992, S. 40–45. Schindel, Robert: Gebürtig. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1994. Schindel, Robert: Judentum als Erinnerung und Widerstand [1984]. In: R. S.: Gott schütz uns vor den guten Menschen. Jüdisches Gedächtnis – Auskunftsbüro der Angst. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1995, 27–34. Schindel, Robert: Schweigend ins Gespräch vertieft. Anmerkungen zu Geschichte und Gegenwart des jüdisch-nichtjüdischen Verhältnisses in den Täterländern. In: R. S.: Mein liebster Feind. Essays, Reden, Miniaturen. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2004, S. 15–22. Waco, Laura: Von Zuhause wird nichts erzählt. Eine jüdische Geschichte aus Deutschland. München: Peter Kirchheim 1996.
Sekundärliteratur Arnds, Peter: Robert Schindel’s Novel Gebürtig (1992) in a Postmodern Context. In: Gerald Chapple (Hg.): Towards the Millenium. Interpreting the Austrian Novel 1971–1996. Tübingen: Stauffenburg 2000, S. 219–239.
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Wendejahre und Digitalisierung: Der Literaturbetrieb im Jahr 1995 Ausgangspunkt der folgenden Darstellung ist zunächst die Annahme, dass die politische Wende von 1989/1990 in Deutschland das literarische Feld zwar makrostrukturell verändert, indem es zwei bis dato parallel nebeneinander existierende literarische Felder ‚vereint‘. Der Eigengesetzlichkeit des literarischen Feldes ist es jedoch geschuldet, dass sich die entscheidenden mikrostrukturellen Veränderungen erst allmählich vollziehen. Als Zeitpunkt, an dem sich signifikante Modifikationen beim Handeln von Akteuren und Institutionen des Feldes ablesen lassen, wurde, gemäß der zentralen Hypothese der DAAD-Forschungskooperation Regensburg/Ferrara, das Jahr 1995 gewählt. Anhand der Darstellung von relevanten Ereignissen, Debatten und thematischen Schwerpunkten soll der Literaturbetrieb1 des Jahres 1995 kursorisch resümiert werden, um auf diese Weise einen Beitrag zur Veranschaulichung dieser Hypothese zu leisten.
Buchmarkt2 Verlagsneugründungen In das Jahr 1995 fallen relativ wenige Neugründungen von Verlagen, die heute noch relevant wären. Erwähnenswert ist der zu Bertelsmann (heute Verlagsgruppe Random House Bertelsmann) gehörende Imprintverlag btb, der zunächst auch auf die Vermarktung anspruchsvoller Literatur im Taschenbuch setzt (darunter z. B. Lizenzausgaben wie die Münchner Goethe-Ausgabe, den neuübersetzten Montaigne und den gesamten Balzac). In den letzten Jahren konzentriert sich btb jedoch stärker auf die Unterhaltungsschiene. Wichtiger für das literarische Leben
1 Da eine detaillierte Feldanalyse an dieser Stelle nicht geleistet werden kann, verwende ich zur Beschreibung der feldinternen Instanzen die Begriffe ‚Literaturbetrieb‘ bzw. ‚literarisches Leben‘, wohlwissend, dass diese Termini, die für mich Synonyme darstellen, im Vergleich zum Bourdieuschen Feldbegriff weniger präzise sind. 2 Als Quellen für Ereignisse und Zahlen, die in der folgenden Darstellung erwähnt werden, dienten die Jahrgänge 1995 der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, des Börsenblatts für den deutschen Buchhandel und der Zeitschrift Buchmarkt sowie Franz Josef Görtz / Volker Hage / Hubert Winkels (Hg.): Deutsche Literatur 1995. Jahresüberblick, Stuttgart 1996.
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sind aber wohl jene drei Verlage, die einige Jahre zuvor gegründet wurden und nun ihr erstes literarisches Programm vorlegen. Diese Verlage stehen für sich genommen jeweils für eine bestimmte Entwicklung im Literaturbetrieb. 1993 entsteht als Gemeinschaftsgründung mehrerer literarischer Verlage (darunter Hanser, Suhrkamp und Kiepenheuer & Witsch) Der Hörverlag, der 1995 seine ersten 40 Titel herausbringt. Neben anderen Neugründungen der 1990er Jahre gelingt es diesem Verlag, das Medium Hörbuch endlich auch als wirtschaftlich relevante Größe auf dem Buchmarkt zu etablieren – und mit der Hörspielbearbeitung von Sofies Welt auch gleich einen ersten großen Erfolg zu verbuchen. Zuvor scheiterten mehrfach Versuche, das vermeintliche Nischenprodukt Hörbuch für größere Publikumsgruppen interessant und damit auch für den Buchhandel lukrativ zu machen: Die Bemühungen von Klett-Cotta und Rowohlt der 1980er Jahre sind ökonomische Misserfolge. Die in den 1990er Jahren gegründeten Hörbuchverlage erweitern (oft in Kooperation mit öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten) das Angebot an Hörspielen, Lesungen, Features und Dokumentationen, vor allem aber professionalisieren sie Vertrieb und Marketing. Sie profitieren dabei von Entwicklungen in der Unterhaltungselektronik: Mit der endgültigen Durchsetzung der CD (und damit der Ablösung der Kompaktkassette) in den 1990er Jahren sowie der Einführung von mp3 und der Entwicklung von dafür geeigneten tragbaren Abspielgeräten um die Jahrtausendwende entstehen schließlich Bedingungen, die in den Folgejahren für einen Boom in der Warengruppe Hörbuch sorgen. Bereits zwei Jahre später wird der Hessische Rundfunk eine eigene Hörbuchbestenliste herausgeben. In den 1980er Jahren ist Suhrkamp noch unbestritten der wichtigste deutschsprachige Literaturverlag. Der Streit um die Leitung des Hauses nimmt zu Beginn der 1990er Jahre seinen Anfang. Diese Auseinandersetzung zwischen Siegfried und Joachim Unseld wird dabei von Anfang an von der deutschen Presse aufmerksam verfolgt und – nicht immer sachlich – ausführlich kommentiert. Als es schließlich zum Bruch mit dem Vater kommt, erwirbt Joachim Unseld 1994 die Mehrheit an der Frankfurter Verlagsanstalt und legt ein Jahr später sein erstes Programm vor. Darunter befindet sich mit Stadt mit Häusern der erste Erzählband Ernst-Wilhelm Händlers. Sein erster Roman (Kongreß) folgt noch im selben Jahr. Die FVA ist zwar bis heute ein kleiner Verlag geblieben, ist aber ohne Zweifel zu den wichtigen Adressen für anspruchsvolle deutschsprachige und internationale Literatur zu zählen und hat eine beachtliche Anzahl von literarischen Entdeckungen zu verzeichnen. Auch die programmatische Neugründung des Berlin-Verlags ist mit dem Namen Unseld verknüpft. Der damals zu Suhrkamp gehörende Nomos Verlag hatte den u. a. auf Wirtschaft und Recht spezialisierten Fachverlag 1992 gekauft. Die Neuausrichtung als belletristischer Verlag erfolgt unabhängig von Suhrkamp
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(aber mit Siegfried Unseld als Gesellschafter) und möglicherweise auch unter dem Gesichtspunkt, den eigenen Verlag mittelfristig nach Berlin zu verlegen oder zumindest – wie es zuvor schon Rowohlt getan hat – eine Dependance in der Hauptstadt zu gründen. Arnulf Conradi, bis 1993 Leiter des literarischen Programms bei S. Fischer, wird 1994 Gesellschafter und Leiter des Berlin-Verlags und gilt als einer derjenigen, die nach dem Bruch mit Joachim Unseld als potentielle Nachfolger Siegfried Unselds ins Gespräch kommen.3 Das erste Programm, das neben Conradi Elisabeth Ruge und Veit Heinichen betreuen, erscheint 1995 und wird ein großer Erfolg. Übersetzungen vor allem englischsprachiger Literatur sind ein Schwerpunkt. Bereits im ersten Programm finden sich so namhafte Autoren wie Margaret Atwood, Nadine Gordimer, Richard Ford oder David Guterson, dessen erster ins Deutsche übersetzter Roman Schnee, der auf Zedern fällt zum Bestseller avanciert. Daneben setzt der Verlag auf anspruchsvolle Sachbücher (wie z. B. von Micha Brumlik, Dan Diner oder Neil Postman). Das Programm umfasst auch deutschsprachige Literatur – zu nennen ist hier etwa Martin Mosebachs Erzählband Stilleben mit wildem Tier, vor allem aber das wohl höchstprämierte literarische Debüt des Jahres: Ingo Schulzes [→] 33 Augenblicke des Glücks.4 Der Berlin-Verlag besteht zwar bis heute; an seiner wechselvollen weiteren Geschichte lassen sich aber freilich viele Entwicklungen ablesen, die den gesamten Buchmarkt betreffen.5 Die Kooperation zwischen Hugendubel und Weltbild, die sich 1995 intensiviert, stellt zwar keine Verlagsneugründung dar, ist hier aber zu erwähnen, da sie sich in struktureller Hinsicht als folgenreich erweisen wird: Mit dem 1995 verabschiedeten gemeinsamen Filialkonzept Weltbild plus setzen die beiden Firmen einen wichtigen Markstein für eine Marketingstrategie, die vor allem in den ersten 10 Jahren nach der Jahrhundertwende in den deutschsprachigen Ländern wirtschaftlich sehr erfolgreich ist. 2006 schließen sich die beiden Firmen zur DBH
3 So zumindest Peter Michalzik: Unseld. Eine Biographie. München 2002, S. 310. Angesichts der zahlreichen Widersprüche und sachlichen Fehler dieses Buches sind jedoch viele Aussagen wohl mit Vorsicht zu betrachten. 4 Schulze liest 1995 beim Bachmann-Wettbewerb aus den 33 Augenblicken und wird dafür mit dem Ernst-Willner-Preis ausgezeichnet. Er erhält ferner den Förderpreis des Alfred-Döblin-Preises und den aspekte-Literaturpreis. 5 Conradi verkauft 1998 die Mehrheitsanteile an Bertelsmann-Random House, die er jedoch 2003 wieder zurückkauft, um sie gleich darauf an den Bloomsbury-Konzern abzustoßen. 2006 überträgt Conradi die Verlagsleitung an Ruge. Als Bloomsbury seine Imprintverlage 2011 umstrukturiert, verlässt Ruge den Berlin-Verlag und wechselt – mit einer großen Zahl der Hausautoren, darunter auch Ingo Schulze – zu Hanser, dessen Berliner Büro sie aufbaut und den sie 2013 wieder verlässt. Der Berlin-Verlag wird 2012 an die Verlagsgruppe Bonnier verkauft und kooperiert nun eng mit Piper, der ebenfalls zu Bonnier gehört.
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zusammen und dominieren neben Thalia, dem zweiten großen Filialisten auf dem deutschen Buchmarkt, für einige Jahre den Sortimentsbuchhandel, bis sie 2013 selbst in große ökonomische Schwierigkeiten geraten.
Literaturagenturen Ein für die Vermittlung und Vermarktung von Literatur nicht unwichtiges Ereignis des Jahres 1995 ist die Gründung der Literaturagentur Graf & Graf. Auch sie ist eng mit dem Namen Ingo Schulze verknüpft, denn Schulze gehört zu den ersten Autoren, die von der jungen Agentur vertreten werden. Agenturen gibt es in den deutschsprachigen Ländern zwar schon seit dem 19. Jahrhundert; der große Einfluss, den die „heimlichen Herrscher im Literaturbetrieb“6 heute haben, ist jedoch eine Folge von Neugründungen der 1990er Jahre. Mittlerweile gehört Graf & Graf zu den in vielerlei Hinsicht einflussreichsten Agenturen für deutschsprachige Literatur. Karin Graf, die heute mehr als hundert Autorinnen und Autoren vertritt, reagiert Mitte der 1990er Jahre auf die sich damals abzeichnenden Umstrukturierungen im Verlagswesen. Entwicklungen wie die Konzentration von Publikumsverlagen innerhalb von Medienkonzernen wie Bertelsmann, Bonnier oder Holtzbrinck erhöhen den ökonomischen Druck auf viele Akteure des literarischen Feldes – Lektoren müssen nun z. B. stärker als früher ökonomische Kriterien in die Einschätzung der Durchführbarkeit von Buchprojekten einbeziehen. Gleichzeitig sinken durch veränderte Lesegewohnheiten die Auflagen für Belletristik bzw. konzentrieren sich die Auflagen auf einzelne ‚Spitzentitel‘, was wiederum die Autoren unter Druck setzt, nicht nur gute, sondern auch leicht zu vermarktende Literatur zu produzieren. Agenturen nutzen die gesteigerte Ökonomisierung des literarischen Buchmarktes,7 indem sie einerseits die Interessen ihrer Autoren vertreten und andererseits die Verlage dahingehend entlasten, dass sie bereits eine Vorauswahl treffen, Manuskripte lektorieren oder selbständig Buchprojekte initiieren. Die sich in den 1990er Jahren abzeichnenden Entwicklungen sind durch die Konzentration im Sortimentsbuchhandel, durch Preisexplosionen im Handel mit internationalen
6 Zur Geschichte der Literaturagenturen in den deutschsprachigen Ländern vgl. ausführlich Ernst Fischer (Hg.): Literarische Agenturen – die heimlichen Herrscher im Literaturbetrieb. Wiesbaden 2001. 7 „Durch die zunehmende Fixierung der Verlage auf Wirtschaftlichkeit hat sich eine Lücke in der Autorenbetreuung aufgetan, die die Agenten besetzt haben.“ Carolin Holzmeier: Die Netzwerker im Literaturbetrieb. In: Heinz Ludwig Arnold, Matthias Beilein (Hg.): Literaturbetrieb in Deutschland. 3. Aufl. Neufassung. München 2009, S. 47–58, hier S. 49.
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Verlagsrechten, durch Globalisierung sowie Digitalisierung noch beschleunigt worden und haben damit die Position der Literaturagenturen gestärkt: Dass sie heute so einflussreich sind, nimmt Mitte der 1990er Jahre seinen Anfang.
Buchmesse Das für die deutschsprachige Literatur wichtigste Thema der 47. Frankfurter Buchmesse stellt – neben den andauernden Debatten um Grass’ Ein weites Feld und die Rolle der Literaturkritik – mit Sicherheit das Gastland dar. Zum ersten Mal seit es Gastländer bzw. Messeschwerpunkte in Frankfurt gibt, wird mit Österreich ein deutschsprachiges Land eingeladen, was erst seit dem Beitritt der DDR zur BRD kein Politikum mehr darstellt. Die Republik Österreich lässt sich ihren Messeauftritt einiges kosten – mehr als 5 Millionen Euro8 werden u. a. in einen aufwendigen Messepavillon investiert, der im darauffolgenden Jahr vom Gastland Irland weitergenutzt wird. Rund 319.000 Besucher kommen 1995 nach Frankfurt, was einen neuen Besucherrekord darstellt. Neben Rudolf Scholten, damals österreichischer Bundesminister für Wissenschaft, Forschung und Kunst, spricht der in Deutschland noch relativ unbekannte Robert Menasse zur Eröffnung der Messe. Die Wahl Menasses, die das von dem Publizisten Rüdiger Wischenbart koordinierte Organisationskomitee in Abstimmung mit dem Kunstministerium trifft, wird im Vorfeld in Österreich heftig diskutiert. Vor allem arrivierte Autorinnen und Autoren wie Ilse Aichinger und Gerhard Roth verstehen die Entscheidung für Menasse als die Sanktionierung einer von der Politik geduldeten Form der Österreichkritik.9 Viele prominente Schriftstellerinnen und Schriftsteller bleiben der Messe schließlich fern; deswegen von einem Boykott zu sprechen, wäre freilich übertrieben, handelt es sich dabei doch zum größten Teil um Autoren, die Veranstaltungen ohnehin nicht frequentieren, sobald diese in Verdacht stehen, Literatur in den Dienst der Politik zu stellen.10
8 Die Bundesregierung stellt ein Budget von 55 Mio. Schilling für das Messeprogramm und 15 Mio. Schilling für den Pavillon zur Verfügung, vgl. Rüdiger Wischenbart: Projekt „Österreich Schwerpunkt“: Die Kommunikationsstrategie, in: Relation 2/2 (1995), S. 9–21, hier S. 10. 9 „Es war ein deutliches Zeichen, daß die schärfste inhaltliche Polemik [mit dem Konzept des Buchmessen-Auftritts, M.B.] dem österreichischen Eröffnungsredner, Robert Menasse, galt. Attackiert von Gerhard Roth, der sich selbst als wichtigsten Sprecher der radikalen Österreichkritik im Sinne der achtziger Jahr betrachtete, wurde Menasse rasch zum Exponenten einer neuen Sichtweise.“ Wischenbart: Projekt „Österreich Schwerpunkt“, S. 17. 10 Zur Deutung der Debatte um Menasse als Ausdruck eines Konflikts zwischen Schriftstellergenerationen, unterschiedlichen ästhetischen Standpunkten sowie einer unterschiedlichen Auffassung von ‚Österreichkritik‘ vgl. ausführlich Matthias Beilein: 86 und die Folgen. Robert
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Robert Menasse ist freilich alles andere als ein Debütant; seine Romane – der dritte, [→] Schubumkehr, erscheint im Frühjahr 1995 – verlegt der größte österreichische Literaturverlag, die Taschenbuchrechte liegen bei Suhrkamp, der zur Messe eine Lizenzausgabe von Menasses wohl bekanntestem Essay Das Land ohne Eigenschaften vorlegt. Das Konzept Wischenbarts setzt zudem von Anfang an auf die Präsentation „einer neuen, jüngeren Generation österreichischer Autoren […] in der Nachfolge der weithin bekannten Namen wie Thomas Bernhard, Peter Handke, Ernst Jandl, Friederike Mayröcker oder Elfriede Jelinek“.11 Menasses vielbeachtete Eröffnungsrede verschafft ihm einiges an Aufmerksamkeit unter deutschen Feuilletonlesern,12 die von manchen erwartete Abrechnung mit der österreichischen Politik bleibt allerdings aus. Die Buchmesse ist einer der zentralen Anlässe dieses gerade für Österreich an vielen wichtigen Ereignissen nicht armen Jahres 1995.13 Elfriede Jelinek ([→] Die Kinder der Toten) und Christoph Ransmayr ([→] Morbus Kitahara) legen neue Romane vor, letzterer wird mit besonders großer Spannung erwartet, gilt Ransmayr doch nach dem großen Erfolg von Die letzte Welt als einer der wichtigsten Erzähler einer jüngeren Generation. Auch der neue Roman von Gerhard Roth macht von sich reden. Der See, Roths erste literarische Veröffentlichung nach dem Abschluss von Die Archive des Schweigens und zugleich die erste des neuen Erzählzyklus Orkus, führt zu Verstimmungen bei der Freiheitlichen Partei Jörg Haiders, der sich in dem im Roman beschriebenen rechtspopulistischen Politiker, der nur knapp einem Attentat entgeht, wiederzuerkennen glaubt. Dies gibt Haider Anlass, über eine parlamentarische Anfrage von Roth die Rückzahlung von Stipendien und Preisgeldern zu fordern. Der Messebetrieb beschäftigt sich mit den vermeintlichen Kabalen des österreichischen Literaturbetriebs nur am Rande. Ein wichtigeres Thema ist beispiels-
Schindel, Robert Menasse und Doron Rabinovici im literarischen Feld Österreichs. Berlin 2008, S. 98–118. 11 Rüdiger Wischenbart: Österreich auf der Frankfurter Buchmesse 1995. In: Volker Kaukoreit, Kristina Pfoser (Hg.): Die österreichische Literatur seit 1945. Eine Annäherung in Bildern. Stuttgart 2000, S. 304f. 12 Die Zeit druckt die Eröffnungsrede unter dem Titel „Geschichte“ – der größte historische Irrtum am 13.10.1995 ab, die Frankfurter Allgemeine Zeitung druckt sie in Auszügen. Der vollständige Text findet sich in Robert Menasse: „Geschichte“ war der größte historische Irrtum. In: R. M., Hysterien und andere historische Irrtümer. Wien 1996, S. 21–36. 13 Zu nennen sind hier z. B. der EU-Beitritt Österreichs am 1.1.1995 und die Gedenkfeiern zum 50jährigen Kriegsende und anlässlich des 40. Jahrestages des Neutralitätsgesetzes, aber auch das fremdenfeindlich motivierte Bombenattentat von Oberwart, bei dem im Februar 1995 vier Roma getötet werden. All dies gibt Anlass genug, die eigene nationale Identität zu reflektieren, die sich in Österreich stark über Kultur und Tradition definiert.
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weise die Buchpreisbindung, die nach dem 1995 erfolgten EU-Beitritt Österreichs von der EU nun als ein Hemmnis des freien Wettbewerbs innerhalb des europäischen Wirtschaftsraums scharf kritisiert wird. Dieser hier beginnende Diskussionsprozess, der erst sieben Jahre später durch das Inkrafttreten des Buchpreisbindungsgesetzes beendet wird, erhöht noch die Nervosität mancher Manager der Buchbranche. Das Jahr 1995 gilt zwar wirtschaftlich gesehen nicht als Krisenjahr, aber doch als ein ökonomisch schwieriges Jahr: Das Weihnachtsgeschäft 1994 ist schlecht gelaufen, der kurzzeitige Boom der Nachwendezeit ist abgeflaut. Darüber kann auch der Umstand nicht hinwegtäuschen, dass im Jahr zuvor mit 70.643 Neuerscheinungen eine neue Rekordmarke gesetzt wird, die das Jahr 1995 noch deutlich überbietet. Die Branche reagiert darauf, indem sie mit dem Erschließen von Nebenmärkten neue Einnahmequellen sucht (wichtig ist hier beispielsweise neben dem schon genannten Hörbuch die Vermarktung von Filmen im VHS-Format über den Buchhandel).
Debatten und Themen des Literaturbetriebs Digitalisierung Das eigentliche Messethema ist jedoch eine Entwicklung, die die Branche bis heute beschäftigt: Unter dem Stichwort ‚Multimedia‘, das die Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS) 1995 zum Wort des Jahres wählt, diskutiert die Branche erstmals im großen Rahmen die Digitalisierung und deren Folgen für den Buchmarkt. Relevant ist hier vor allem die Frage, und das ist im Grunde bis heute so geblieben, wie sich Content digital verwerten lässt. Das Medium der Stunde ist die CD-ROM: 1995 bieten rund 200 deutschsprachige Verlage CD-ROMs an, wobei der Schwerpunkt auf Nachschlagewerken (v. a. Lexika und Wörterbüchern) liegt.14 Langenscheidt bringt mit der LexiROM ein Paket von digitalisierten Nachschlagewerken auf den Markt, das den Rechtschreib-, Fremdwörter- und Synonymduden, das Englisch Taschenwörterbuch und das dreibändige Meyer-Lexikon enthält – zu dem aus heutiger Perspektive astronomischen Preis von 398 DM. Auch wenn die Investitionen die Erträge in diesem Jahr noch bei Weitem übertreffen, zeichnet sich ab, dass auf dem digitalen Markt Geld zu verdienen ist: Immerhin 178 Millionen DM setzt der Buchhandel 1995 mit elektronischen Medien um.15
14 Vorübergehend gibt es auch eine eigene Bestsellerliste für elektronische Medien, die 1995 zum ersten Mal erstellt wird. 15 N.N.: Börsenverein: Die CD-ROM wird in Deutschland zum Massengut. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (12.10.1995).
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Im ersten Buchmarkt-Heft des Jahres 1995 teilt der Verlagsberater Arnd Roszinsky-Terjung eine weitsichtige Überzeugung mit: Ich bin überzeugt, daß Elektronische Bücher den Buchhandel verändern werden. Wir haben es m. E. mit einer Entwicklung zu tun, die in ihrer Tragweite mit der Etablierung des Taschenbuchs vergleichbar ist. Aber ich bin nicht überzeugt, daß dies im Jahre 1995 passieren wird. Die Veränderungen vollziehen sich schleichend.16
Tatsächlich werden, wie wir heute wissen, noch mehr als zehn Jahre vergehen, bis mit der Marktreife von E-Book-Readern, Tablets und Smartphones und deren rascher Verbreitung Trägermedien zur Verfügung stehen, die die Vermarktung von rein digitalen Inhalten auch wirtschaftlich interessant machen. 1995 gilt dagegen noch die CD-ROM als das Trägermedium der Zukunft für Buchinhalte; im Laufe des Jahres erscheinen zahlreiche literarische Titel und Kinderbücher in diesem Format, teils mehr, teils weniger mit zusätzlichen Materialien ausgestattet. Auch das Internet erreicht in diesem Jahr die Branche: Im Februar gibt Bertelsmann bekannt, ein Joint Venture mit AOL geschlossen zu haben, und erwirbt für 50 Mio. Dollar eine fünfprozentige Firmenbeteiligung mit dem damals schnell expandierenden Online-Anbieter. Mit der in Frankfurt am Main beheimateten Fachbuchhandlung Harri Deutsch, deren Bücher sich in erster Linie an Studierende der Mathematik und der Ingenieurswissenschaften richten, bietet zwei Jahre nach dem Start des WWW dann eine der ersten Buchhandlungen in Deutschland ein umfangreiches Dienstleistungsangebot im Internet an.17 Und auch die Literaturvermittlung entdeckt die Möglichkeiten, die ihr die Digitalisierung eröffnen: 1995 geht mit der Karl-May-Gesellschaft eine erste literarische Gesellschaft online.18 Die Literatur ist bekanntlich von der Digitalisierung nicht unberührt geblieben. Digitale Literatur ist von ca. der Mitte der 1990er Jahre bis zur Jahrtausendwende ein vielbeachtetes Phänomen. Dies prägt sich in ganz unterschiedlichen Arten von Texten aus, deren einzige Gemeinsamkeit ist, dass sie in ästhetischer und formaler Hinsicht wesentlich durch die neuen Medien bedingt sind. Schlagworte wie „Internetliteratur“, „Hypertext-Literatur“, „Hyperfiction“ sind nur scheinbar verdeutlichende Begriffe, hinter denen sich freilich die unterschied-
16 Zit. n. Buchmarkt (1995), Nr. 1, S. 74. 17 Nebenbei sei erwähnt, dass 1995 auch erste Internetangebote von Zeitungen erstellt werden: Im Januar 1995 geht die Wiener Tageszeitung Der Standard online. 18 Christiane Kussin: Kanoninstanz oder Beschleunigungsoase. In: Heinz Ludwig Arnold, Matthias Beilein (Hg.): Literaturbetrieb in Deutschland. 3. Aufl. Neufassung. München 2009, S. 130– 140, hier S. 133.
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lichsten Phänomene verbergen können.19 Ab Mitte der 1990er Jahre widmet sich der Literaturbetrieb mit größerer Aufmerksamkeit diesen Texten, das Interesse erlahmt jedoch sehr schnell wieder. Das erste deutsche Hypertext-Festival, die Softmoderne, findet von 1995 bis 1999 statt. 1996 vergibt die Zeit zum ersten Mal den Pegasus-Preis für digitale Literatur – und zwei Jahre später vergibt sie ihn zum letzten Mal.20 Dass die Digitalisierung eines der großen Themen des Jahres ist, zeigt sich auch an den Bestsellerlisten. Für das Frühjahr kündigt Hoffmann und Campe ein Buch von Bill Gates mit einer Startauflage von 50.000 Exemplaren an. Der Weg nach vorn erscheint jedoch erst zum Weihnachtsgeschäft. Die deutschsprachige Startauflage – der Titel erscheint zeitgleich in 40 Ländern – beträgt 150.000 Exemplare und ist schnell vergriffen. Der Weg nach vorn wird schließlich zu einem der meistgefragten Sachbücher des Jahres.
Wende Fünf Jahre nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten sind die Geschichte der sozialistischen Diktaturen, die politische Wende in den ehemaligen Ostblockstaaten und ihre Folgen ein Thema, das in mehrfacher Hinsicht den Literaturbetrieb beschäftigt. Im Sommer werden die Stasi-Kontakte von DDR-Autorinnen und Autoren erneut diskutiert: Monika Maron gerät in die Schlagzeilen, als der Spiegel von ihren Kontakten zur Staatssicherheit der DDR berichtet.21 Über die Stasi-Kontakte von Hermann Kant gibt Karl Corino ein ganzes Buch heraus.22 In wirtschaftlicher Hinsicht sorgt der Umstand für Unruhe, dass die durch die Wende bedingten Umstrukturierungen bei Weitem noch nicht abgeschlossen sind. Manche verlegerischen Eigentumsverhältnisse sind ungeklärt (wie etwa der Streit zwischen Bernd F. Lunkewitz und der Treuhandanstalt bzw. BvS zeigt),23
19 Zur Begriffsklärung vgl. Roberto Simanowski: Interfictions: Vom Schreiben im Netz. Frankfurt/M. 2002. Einen konzisen Überblick über die Entwicklung vor allem in den deutschsprachigen Ländern gibt Simone Winko: Am Rande des Literaturbetriebs. Digitale Literatur im Internet. In: Heinz Ludwig Arnold, Matthias Beilein (Hg.): Literaturbetrieb in Deutschland. 3. Aufl. Neufassung. München 2009, S. 292–303. 20 Sabrina Ortmann: Netz, Literatur, Projekt. Entwicklung einer neuen Literaturform von 1960 bis heute. Berlin 2001, S. 26. 21 N.N.: Stasi-Deckname Mitsu, in: Der Spiegel (7.8.1995). 22 Karl Corino (Hg.): Die Akte Kant. IM „Martin“, die Stasi und die Literatur in Ost und West. Reinbek b. Hamburg 1995. 23 Lunkewitz kauft 1995 den Aufbau-Verlag zum zweiten Mal, nachdem sich herausgestellt hat, dass die Treuhand ihm den Verlag 1991 gar nicht hätte verkaufen dürfen, da er Eigentum des
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der Streit um Rechte und die sogenannten Plus-Auflagen24 zieht sich durch das ganze Jahr. 1995 wird Volk und Welt – neben Aufbau wohl der renommierteste Verlag der DDR – an Dietrich von Boetticher verkauft, der im Jahr zuvor auch den Luchterhand Literaturverlag und den Limes-Verlag erworben hatte. 1995 ist für die literarischen Programme von Aufbau und Volk und Welt ein gutes Jahr. Mit den Klemperer-Tagebüchern der Jahre 1933–1945, die unter dem Titel Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten erscheinen, landet Aufbau zum Jahresende einen überraschenden Bestseller, Volk und Welt veröffentlicht mit Helden wie wir den erfolgreichsten Titel nach 1989. An diesem Verlag lässt sich freilich auch ablesen, wie der Verfall ehemaliger DDR-Staatsverlage in den 1990er Jahren voranschreitet: Hatte Volk und Welt Ende der 1980er Jahre noch fünfzig Lektoren beschäftigt, betreuen 1995 gerade noch zwei Lektoren das Programm. Trotz des ebenfalls in das Jahr 1995 fallenden größten Bucherfolgs von Volk und Welt (von Brussigs [→] Helden wie wir werden über 100.000 Exemplare und Lizenzen in mehr als 10 Länder verkauft) stellt der Verlag sechs Jahre später seine Arbeit ein.25 Während die Querelen um die Vereinigung der beiden deutschen Schriftstellerverbände und der beiden Akademien der Künste 1995 schon abgeschlossen sind,26 existieren die beiden deutschen P.E.N.-Zentren immer noch nebeneinander. So lehnen es etwa Herta Müller und Günter Kunert kategorisch ab, einem vereinten P.E.N.-Zentrum anzugehören. Zu viele Noch-Mitglieder des ostdeutschen P.E.N. seien Mitarbeiter der Staatsicherheit oder Funktionsträger im DDRLiteratursystem gewesen. Reinhard Lettau tritt dagegen im April 1995 ostentativ dem Ost-P.E.N. bei; er demonstriert damit gegen den entscheidungsunwilligen westdeutschen P.E.N., dessen Mitglieder sich in der Mehrzahl weigern, über die Frage der Neubildung eines gesamtdeutschen P.E.N. überhaupt zu diskutieren. Zu einem vorläufigen Ende der Debatte um das deutsche P.E.N.-Zentrum, die im ersten Halbjahr 1995 von den deutschen Feuilletons aufmerksam begleitet und kommentiert wird, kommt es schließlich im Mai, als der West-P.E.N. auf seiner Jahrestagung beschließt, vorerst keine Vereinigung mit dem ostdeutschen P.E.N.
Kulturbundes war und nicht in Staatsbesitz, vgl. Frank Thomas Grub: ‚Wende‘ und ‚Einheit‘ im Spiegel der deutschsprachigen Literatur. Bd. 1. Frankfurt, New York 2003, S. 28f. 24 Mitte der 1990er Jahre wird bekannt, dass mehrere Publikumsverlage der DDR weitaus höhere Auflagen von Lizenzausgaben westdeutscher Bücher druckten, als vertraglich vereinbart gewesen ist. Während die westdeutschen Verlage (darunter Suhrkamp und S. Fischer) nun eine Nachvergütung fordern, sehen sich die Rechtsnachfolger nicht in der Pflicht, für die Vergehen der ehemaligen Staatsverlage aufzukommen. 25 Grub: ‚Wende‘ und ‚Einheit‘ im Spiegel der deutschsprachigen Literatur, Bd. 1, S. 31ff. 26 Vgl. ebd., S. 57–67.
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anstreben zu wollen. Dies löst „eine Flut von Mitgliederbewegungen zwischen Ost und West“ aus,27 erst drei Jahre später können beide Zentren vereint werden. Erfreulicher ist, dass DDR und Wende als literarisches Sujet 1995 eine große Zahl vielbeachteter Neuerscheinungen hervorbringen: Thomas Brussig, F. C. Delius, Günter Grass ([→] Ein weites Feld), Thomas Hettche ([→] Nox), Reinhard Jirgl ([→] Abschied von den Feinden), Katja Lange-Müller ([→] Verfrühte Tierliebe), Erich Loest, Robert Menasse ([→] Schubumkehr) und Jens Sparschuh ([→] Der Zimmerspringbrunnen) (um nur die bekanntesten Namen zu nennen) thematisieren in ihren in diesem Jahr erscheinenden Romanen und Erzählungen das Thema DDR bzw. Wende auf ganz unterschiedliche Art. Eine weitere Erfolgsgeschichte der Nachwendejahre spielt sich in Leipzig ab. Auferstanden aus den Ruinen des Johannes R. Becher-Instituts wird dort das Deutsche Literaturinstitut Leipzig (DLL) als Einrichtung der Universität neu gegründet und nimmt 1995 seinen Lehrbetrieb auf. Kaum jemand ahnt zu diesem Zeitpunkt, dass das DLL binnen weniger Jahre mit seinen Absolventinnen und Absolventen wie z. B. Juli Zeh, Clemens Meyer und Saša Stanišić das literarische Leben maßgebend prägen wird.
Unterhaltung und Hochliteratur An den im Literarischen Quartett zur Diskussion gestellten Büchern des Jahres 1995 lässt sich ablesen, dass die Unterhaltungsliteratur mittlerweile auch in Foren angekommen ist, deren enger Literaturbegriff die Auseinandersetzung mit Genreliteratur bislang ausgeschlossen hat. Während sich die Auswahl in den Jahren zuvor, von wenigen Ausnahmen abgesehen, auf Titel der internationalen Hochliteratur und auf Klassiker der Weltliteratur beschränkt,28 finden nun Titel Berücksichtigung, die sich der Genreliteratur zurechnen lassen. In jeder Sendung des Jahres 1995 wird ein Roman besprochen, der auch unter dem Signum der Unterhaltung rezipiert wird. Darunter befinden sich drei deutschsprachige Romane, die allesamt große Verkaufserfolge werden (Haslingers [→] Opernball, Schwanitz’ [→] Der Campus und Schlinks [→] Der Vorleser, der bald darauf zur Schullektüre und einer der meistverkauften deutschen Romane in den USA wird). Zumindest in den ersten beiden Fällen finden die Romane auch fast ungeteilte Zustimmung; kontroverser ist die Diskussion nur im Falle von Schlink. Doch in 27 Ebd., S. 65. 28 Am 1.10.1990 setzt sich das Quartett etwas hilflos mit Johannes Mario Simmels Im Frühling singt zum letztenmal die Lerche auseinander, und am 18.7.1991 wird der Krimi Ein Mann, ein Mord von Jakob Arjouni besprochen. In beiden Fällen fällt das Urteil klar ablehnend aus.
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keinem der drei Fälle fällt das Urteil der vier Kritiker so kategorisch ablehnend aus wie bei Susanna Tamaros Geh, wohin dein Herz dich trägt,29 das nach den Büchern von Jostein Gaarder30 das meistverkaufte Buch des Jahres 1995 im Bereich Belletristik wird. Gerade die Diskussion über die Unterhaltungsliteratur ist in Hinblick auf die axiologische Argumentationsstrategie eine eingehendere Betrachtung wert. Grob gesagt stehen sich jeweils Reich-Ranicki und Karasek argumentativ als Antipoden gegenüber: Ersterer argumentiert mit der Dichotomie Literatur/Nicht-Literatur bzw. Kunst/Unterhaltung, während Karasek mit Verweis auf die angloamerikanische Tradition nicht bereit ist, eine Grenze zwischen Kunst und Unterhaltung zu ziehen. Bemerkenswert sind dabei freilich nicht diese alles andere als originellen Standpunkte, sondern, dass sich das Kritikerquartett bei aller Unterschiedlichkeit der Wertmaßstäbe bei Haslinger31 wie bei Schwanitz32 weitgehend darin einig ist, dass es sich um gute, empfehlenswerte Bücher (wenngleich auch nicht unbedingt um ‚Literatur‘) handelt. Es wäre mit Sicherheit unzulässig, vom Literarischen Quartett auf die gesamte deutschsprachige Literaturkritik zu schließen, dies nicht zuletzt auch deshalb, weil nicht zu entscheiden ist, auf wessen Initiative (auf die der einzelnen Kritiker oder auf die der ZDF-Kulturredaktion) die sich in diesem Jahr deutlich abzeichnende Erweiterung des Interessenspektrums auf unterhaltende Literatur zustande kam. Dennoch scheint mir die Buchauswahl des Literarischen Quartetts doch immerhin ein Indiz dafür zu sein, dass sich Mitte der 1990er Jahre das Feuilleton
29 Reich-Ranicki: „Warum kommt im Literarischen Quartett das Buch der Susanna Tamaro vor?“ Löffler: „Kann ich Ihnen ganz genau sagen. Weil dieses Buch einen Superlativ verdient: Es ist das schlechteste Buch, das wir je besprochen haben!“ Das Literarische Quartett, Sendung v. 20.4.1995. Zit. n.: Das Literarische Quartett. Gesamtausgabe aller 77 Sendungen von 1988 bis 2001. CD-ROM. Berlin 2005, S. 2544. 30 Der Norweger Jostein Gaarder dominiert mit seinen beiden Romanen Sofies Welt und Das Kartengeheimnis in diesem Jahr die Bestsellerlisten. Es spricht manches dafür, dass der bis heute anhaltende Erfolg der skandinavischen Literatur in Deutschland in dieser Zeit seinen Anfang genommen hat. 31 Karasek führt Haslingers Roman mit den folgenden Worten ein: „Opernball ist ein Buch von Josef Haslinger, und eigentlich würde man auf den ersten Blick denken, es gehört nicht ins Quartett, denn es ist ein Thriller.“ Das Literarische Quartett, Sendung v. 23.2.1995. Zit. n.: Das Literarische Quartett. Gesamtausgabe aller 77 Sendungen von 1988 bis 2001. CD-ROM. Berlin 2005, S. 2469. 32 „Ich bin für dieses Buch. Ich freue mich, dass ich dieses Buch gelesen habe, ich habe allerlei aus dem Buch gelernt. Aber wir wollen gleich sagen, das ist kein literarisches Kunstwerk. Das ist ein Unterhaltungsroman, gut geschrieben, gut komponiert, intelligent geschrieben“. Reich-Ranicki, in: Das Literarische Quartett, Sendung v. 24.8.1995. Zit. n.: Das Literarische Quartett. Gesamtausgabe aller 77 Sendungen von 1988 bis 2001. CD-ROM. Berlin 2005, S. 2737.
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den unterhaltenden Genres öffnet und die prinzipielle Distanz zur Genreliteratur, die auch die Buchauswahl des Literarischen Quartetts in den vorangegangenen Jahren klar geleitet hat, zumindest ansatzweise abgebaut wird.
Die Macht der Literaturkritik 1995 geht das Literarische Quartett in sein achtes Jahr. Nur selten dürfte Marcel Reich-Ranicki zuvor größere mediale Aufmerksamkeit zugekommen sein als in diesem Jahr: Er erhält den Ludwig-Börne-Preis (den höchstdotierten Kritikerpreis in Deutschland), feiert Anfang Juni seinen 75. Geburtstag und wird von zahlreichen Feuilletons gewürdigt. Die größte Aufmerksamkeit gewinnt Reich-Ranicki jedoch mit seiner wohl bekanntesten Rezension, die als offener Brief mit der Überschrift „… und es muß gesagt werden“ am 21.8.1995 im Spiegel erscheint, angekündigt von einer Fotomontage auf dem Cover, die Reich-Ranicki mit einem zerfetzten Exemplar von Ein weites Feld zeigt. Drei Tage später wird der Roman auch im Literarischen Quartett besprochen. Die Debatte um Ein weites Feld dauert monatelang an und beschäftigt das publizistische, das literarische und das politische Feld. Der Anteil von ReichRanickis Debattenbeiträgen ist dabei wohl kaum zu überschätzen. Doch wie schon in der Debatte um Christa Wolfs Was bleibt überlagern sich auch hier zahlreiche Diskurse: Es geht um Macht und Funktion der Literaturkritik, um Meinungshegemonie einzelner Kritiker (namentlich Reich-Ranickis), um verwerfliche Strategien zur Steigerung von Auflagen (seitens des Spiegels, aber auch seitens des Steidl-Verlags), es geht um die Positionen von Grass zur Treuhand, um die angemessene Darstellung der DDR-Diktatur, um engagierte Literatur, das Verhältnis von faktualem und fiktionalem Erzählen und die Zulässigkeit der Parallelisierung von historischen Ereignissen.33 Zweifelsohne sind aber die Beiträge Reich-Ranickis diejenigen, auf die dabei am stärksten Bezug genommen wird, denn die Debatte um die angemessene Form der Kritik löst schon bald die um den literarischen Wert des Romans ab, was Marcel Reich-Ranicki endgültig zur wohl populärsten Figur des deutschen Literaturbetriebs macht.
33 Dokumentiert wird die Debatte von Oskar Negt (Hg.): Der Fall Fonty. „Ein weites Feld“ von Günter Grass im Spiegel der Kritik. Göttingen 1996.
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Gedenktage, Konsekrationen, Debüts Wie jedes Jahr wird auch die Literaturbetriebsagenda anno 1995 zu einem großen Teil von Gedenktagen und Jubiläen bestimmt.34 Über das ganze Jahr ziehen sich zahlreiche Veranstaltungen anlässlich des Gedenkens an 50 Jahre Kriegsende, an denen sich auch große Verlage beteiligen (wie etwa Rowohlt, der im Frühjahr 1995 eine große Buchhandelsaktion zum Thema ‚50 Jahre Kriegsende‘ startet). Auch der laut Spiegel-Bestsellerliste meistverkaufte deutschsprachige Roman des Jahres, Lothar-Günther Buchheims Die Festung, steht im Zeichen des Zweiten Weltkriegs. Die Veröffentlichung der fast 1.500 Druckseiten umfassenden Fortsetzung von Das Boot wird von einer monumentalen Werbeaktion begleitet: Hoffmann und Campe schaltet Anzeigen in allen großen Zeitungen wie Zeitschriften und schaltet zudem Radiowerbespots in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Obwohl der Roman mit 78 DM einen wenig verkaufsfördernden Ladenpreis hat, kalkuliert der Verlag die Erstauflage auf 200.000 Exemplare. Verkaufsfördernd wirkt sich aber dagegen die Präsenz Buchheims in zahlreichen Talkshows aus. Die Rezensionen des Romans sind allerdings eher zurückhaltend bis vernichtend. Im Frühjahr feiert nicht nur der Literaturbetrieb den 100. Geburtstag Ernst Jüngers. Unter den Gratulanten sind Bundespräsident Herzog, Bundeskanzler Kohl und der französische Staatspräsident Mitterrand, der Jünger bereits zwei Jahre zuvor gemeinsam mit Kohl in Wilfingen besuchte. Auch das Bundesland Baden-Württemberg gratuliert: Ministerpräsident Erwin Teufel stiftet anlässlich des Jubiläums ein Ernst-Jünger-Stipendium und bricht damit einen Streit mit seiner Kunstministerin Brigitte Unger-Soyka vom Zaun. Die diversen Festakte, Lobreden und Jubiläumsartikel35 übertönen größtenteils die Proteste, die manche Feiern begleiten – gegen den Festakt in Jüngers Geburtsstadt Heidelberg zum Beispiel erheben sich im Vorfeld massive Einwände. Für Jüngers Verlag ist dagegen klar, dass es sich bei dem Jubilar um einen lebenden Klassiker36 handelt. In Börsenblatt-Anzeigen, mit denen die anlässlich
34 Um nur einige zu nennen, die für den Buchhandel des Jahres relevant sind: 50. Todestag von Else Lasker-Schüler, 10. Todestag von Heinrich Böll; 95. Geburtstag von Hans-Georg Gadamer, 100. Geburtstag von Max Horkheimer und Eugen Roth. 35 Stellvertretend sei auf den am 29.3.1995 in der FAZ veröffentlichten Artikel Nicht zu ermüden durch die Zeit hingewiesen, in dem François Mitterrand, Michel Tournier und Durs Grünbein gemeinsam über Ernst Jünger schreiben. 36 In Hinblick auf die Fragen der Kanonisierung wäre es eine eigene Untersuchung wert, die Verlagsstrategien des Jahres 1995 zu zwei weiteren Autoren der Klassischen Moderne zu untersuchen: Zum einen zu Thomas Mann, über den die monumentale Biographie von Klaus Harpprecht bei Rowohlt erscheint, zum anderen zu Franz Kafka, dessen Werk 1995 gemeinfrei wird, was eine Vielzahl von Neuausgaben seiner Texte auf den Markt schwemmt.
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des 100. Geburtstages erschienene fünfbändige Werkauswahl, ein weiterer Band der Tagebücher Jüngers und diverse biographische Werke zu Jünger beworben werden, weist Klett-Cotta darauf hin, dass es neben Jünger nur drei weitere deutsche Autoren gebe, die zu Lebzeiten zwei Gesamtausgaben herausgebracht hätten: Klopstock, Wieland und Goethe. Auch Stephan Hermlin, der „fremde Bruder Ernst Jüngers“ (Volker Braun), wird 1995 gefeiert. Anlässlich seines 80. Geburtstages erscheinen zahlreiche Artikel und Interviews.37 Für großes Aufsehen sorgt der Nationalpreisträger auf der Leipziger Buchmesse. Ob er aber dort wirklich Günter Kunert, Wolf Biermann und Sarah Kirsch als „Renegaten“ bezeichnet und behauptet, ein „echter aufrichtiger Rechter“ sei ihm „lieber als ein verlogener Linker“, wie die Presse kolportiert,38 bestätigt er nie – er dementiert es aber auch nicht. Auf die Verstorbenen des Jahres 1995 sei hier nur kurz hingewiesen. Stellvertretend sind zwei Autoren zu nennen, die zu Lebzeiten wohl nur eine einzige Gemeinsamkeit hatten, nämlich umstrittene Büchnerpreis-Träger gewesen zu sein. Mit Heiner Müller stirbt einer der wohl einflussreichsten Akteure des literarischen Feldes. Spätestens mit der politischen Wende in der DDR rückt Müller ins Zentrum des gesamtdeutschen Literaturbetriebs und vereint bis zu seinem Tod in sich eine Vielzahl von Funktionen: als Theaterautor, als Autor einer erfolgreichen Autobiographie, als omnipräsenter Interviewpartner Alexander Kluges in den TVFormaten von dessen Produktionsfirma dctp, als Akademie-Präsident, Intendant des Berliner Ensembles und schließlich als Regisseur, legendär geworden durch zwei seiner letzten Inszenierungen, den Bayreuther Tristan von 1993 und den Arturo Ui am Berliner Ensemble, den er in seinem Todesjahr auf die Bühne bringt. Ganz anders verhält es sich mit Albert Drach, dessen gleichermaßen originelles wie sperriges Werk immer noch zu entdecken ist. Als Drach 1995 hochbetagt stirbt, endet damit endgültig die Literatur der k.u.k.-Monarchie – Drach war der letzte österreichische Schriftsteller, der bereits zu Zeiten der Monarchie seine ersten Werke veröffentlicht hat.39 Die Verleihung des Büchner-Preises bleibt die höchste Auszeichnung seines Werks, die Marcel Reich-Ranicki – eine Verschwörung witternd – in der FAZ mit einem bemerkenswert dummen Artikel kommentiert.40
37 Vgl. exemplarisch Fritz J. Raddatz: Was wissen die Jüngeren von unseren schweren Kämpfen? [Interview mit Stephan Hermlin]. In: Die Zeit (14.4.1995). 38 Cornelia Geißler: Crusoe in den Kämpfen dieser Zeit. In: Berliner Zeitung (15.4.1995). 39 Einen vergleichbaren Rang hinsichtlich seiner Zeitzeugenschaft hat der zwei Jahre ältere Hermann Kesten (auch er ist Büchnerpreis-Träger), der 1995 seinen 95. Geburtstag feiert. 40 Marcel Reich-Ranicki: Lauter Unglücke. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (11.5.1988). Der stets streitbare Jurist Drach – wohl der einzige Autor, der einen Kritiker erfolgreich verklagt hat –
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Den Büchnerpreis-Träger des Jahres 1995 feiert die FAZ dagegen ohne Vorbehalt.41 Durs Grünbein ist nach Peter Handke der zweitjüngste Preisträger und doch schon einer der maßgebenden Lyriker seiner Generation. Die Laudatio im Herbst 1995 hält Heiner Müller. Aus Platzgründen sei hier lediglich auf zwei weitere wichtige Preisverleihungen des Jahres hingewiesen: Zu erwähnen ist zum einen die Ankündigung des Börsenvereins, den Friedenspreis des deutschen Buchhandels an die Orientalistin Annemarie Schimmel zu verleihen. Dies löst eine heftige Debatte aus, weil sich Schimmel für viele nicht deutlich genug von der 1989 gegen Salman Rushdie verhängten Fatwa ausgesprochen habe. Zum anderen zeigt sich in Klagenfurt 1995 die deutschsprachige Nachwuchsliteratur von ihrer besten Seite: Mit dem 28jährigen Franzobel (Ingeborg-BachmannPreis), dem 30jährigen Ilija Trojanow (Bertelsmann-Literaturpreis) und dem 33jährigen Ingo Schulze (Ernst-Willner-Preis) werden dort drei jüngere Autoren ausgezeichnet, die heute zu den wichtigsten Autoren der Gegenwartsliteratur gehören. Die Anzahl derjenigen Autorinnen und Autoren, die 1995 das erste (literarische) Buch veröffentlichen und heute zu den etablierten Akteuren des literarischen Feldes zu zählen sind, ist in der Tat beachtlich.42 Neben den bereits genannten Namen Schulze, Trojanow, Franzobel und Händler wären hier u. a. Dirk Kurbjuweit, Petra Morsbach, Albert Ostermaier, Lutz Seiler ([→] Berührt – geführt), Benjamin Stein, Feridun Zaimoğlu ([→] Kanak Sprak) und Christian Kracht ([→] Faserland) zu nennen. Kracht steht zudem am Anfang einer literarischen Strömung, die in den folgenden Jahren unter dem Schlagwort ‚Popliteratur‘ zum vieldiskutierten Phänomen wird. Von Popliteratur spricht 1995 freilich kaum jemand: Kracht gilt als Erzähler einer „sinnleeren Oberflächenwelt“43 und als Epigone von Bret Easton Ellis’ American Psycho.44 Die deutschsprachige Ausgabe dieses Romans ist vier Jahre zuvor im gleichen Verlag wie Krachts Faserland erschienen und wird Anfang des Jahres 1995 erstmals auf die Liste der jugendgefährdenden Schriften gesetzt, woran im Literaturbetrieb, abgesehen vom Verlag Kiepenheuer & Witsch, übrigens kaum jemand Anstoß nimmt. Der FAZ ist die
wehrt sich dagegen, indem er Marcel Reich-Ranicki darauf hinweist, dass „nicht Deutsch könne, wer einen solchen Plural bildet: ‚Reich-Ranicki ist das einzige Unglück in Deutschland‘“. Zit. n. Cornelia Niedermeier: „Gott schläft noch immer“ – Eine Würdigung. In: Der Standard (27.3.2005). 41 Frank Schirrmacher: Jugend. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (9.5.1995). 42 Vgl. hierzu den Beitrag von Matteo Galli im vorliegenden Band. 43 Gustav Seibt: Trendforscher im Interregio. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (22.5.1995). 44 Thomas Hüetlin: Das Grauen im ICE-Bord-Treff. In: Der Spiegel (20.2.1995).
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Indizierung nur einen halbherzigen, wenige Zeilen umfassenden Kommentar wert.45 Erst 2001 wird die Indizierung endgültig aufgehoben.
Fazit Für das Jahr 1995 verzeichnet der Literaturbetrieb eine Vielzahl von wichtigen Ereignissen, die es in der Tat als opportun erscheinen lassen, dieses Jahr, je nach Standpunkt, als Zäsur, Wende oder Kehre zu bezeichnen:46 In dieses Jahr fällt, wie gezeigt, eine große Menge von bemerkenswerten Debüts. Die politische Wende wird als literarisches Sujet in einer Vielzahl von Neuerscheinungen verarbeitet, womit zumindest quantitativ ein langgehegter Wunsch der Literaturkritik in Erfüllung geht. Das literarische Feld Österreichs markiert mit der Präsentation einer neuen Generation von Akteuren auf der Frankfurter Buchmesse seine eigene Wende. Daneben sind strukturbedingende Aspekte zu nennen, die 1995 den Anfang nehmen und das literarische Leben bis heute bestimmen: Literaturagenturen und Absolventen der Literaturinstitute sind heute prägende Erscheinungen des Literaturbetriebs. Auch in Hinblick auf die geführten Debatten war das Jahr 1995 ein bedeutendes Jahr: Ein weites Feld löst einen der wohl heftigsten Literaturstreite der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur aus, und die Ereignisse rund um den 100. Geburtstag von Ernst Jünger zeigen einerseits literaturbetriebsspezifische Strategien der Kanonisierung eines Autors zu Lebzeiten und anderseits die Überschneidung des literarischen Feldes mit dem Feld der Macht, die auch bei der Debatte um den Roman von Günter Grass eine große Rolle spielt. Hinzu kommt, dass 1995 mit dem Berlin-Verlag und der Frankfurter Verlagsanstalt zwei neugegründete bzw. neuausgerichtete Verlage ihre ersten Programme auf den Markt bringen, die sich binnen kurzer Zeit zu wichtigen Einrichtungen des Literaturbetriebs entwickeln. Der sich ab 1995 anbahnende Erfolg des Mediums Hörbuch und die zunehmende Relevanz von unterhaltenden Genres für das Hochfeuilleton deuten in diesem Jahr bereits eine Veränderung des Literaturbegriffs an, die sich in den letzten Jahren erst richtig durchgesetzt hat.47
45 P.I.: Muß er? „American Psycho“ auf dem Index. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (17.2.1995). 46 Horst Turk: Engagement und Wende. In: Willi Huntemann u.a. (Hg.): Engagierte Literatur in Wendezeiten. Würzburg 2003, S. 281–299. 47 Genauer zu untersuchen wäre, ob sich gegen Mitte der 1990er Jahre – man denke etwa an den ersten deutschen Poetry Slam, der angeblich 1994 stattfindet – eine Entwicklung anbahnt, die
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Und schließlich dürfte 1995 dasjenige Jahr sein, in dem die gesamte Branche sich der Folgen und Chancen der Digitalisierung für die Literatur bewusst wird. Auch wenn sich die CD-ROM als Trägermedium, wie manche in diesem Jahr prognostizierten, nicht durchgesetzt hat und die meisten Texte der damals mit großem Interesse wahrgenommenen digitalen Literatur vergessen sind: 1995 wird wohl erstmals umfassend über Literatur und Literaturvermittlung im Zeichen der Digitalisierung geredet, Investitionen werden getätigt, Zukunftspläne entworfen, und der globale Handel fängt an, sich für das Netz zu interessieren. Ein Jahr zuvor hat ein nicht mehr ganz junger Princeton-Absolvent ein Startup gegründet mit dem Ziel, Bücher über das Internet zu vertreiben – 1995 verkauft Amazon sein erstes Buch. Auch wenn die Skepsis Mitte der 1990er Jahre noch hoch ist: Der durch die Digitalisierung bedingte Strukturwandel der Branche erhält in dieser Zeit bedeutenden Auftrieb. Anfang des Jahres 1995 zitiert das Branchenmagazin Buchmarkt den Freizeitforscher Horst Opaschwoski, der damals noch prophezeit: Das Multimedia-Zeitalter findet erst in der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts statt. Bis die Mehrheit der Bevölkerung in Schule, Beruf und Freizeit mit PC, Modem und CD-ROM regelmäßig umgehen kann und will, werden wohl noch Jahrzehnte vergehen.48
Er hat sich gründlich getäuscht.49
Literaturverzeichnis Primärliteratur Menasse, Robert: „Geschichte“ war der größte historische Irrtum. In: R. M., Hysterien und andere historische Irrtümer. Wien: Sonderzahl 1996, S. 21–36.
immer wieder als ‚Renaissance des Hörens‘ apostrophiert wird. Vgl. dazu Ursula Rautenberg (Hg.): Das Hörbuch – Stimme und Inszenierung. Wiesbaden 2007. 48 dpa-Meldung, zit. in. Buchmarkt (1995), Nr. 4, S. 24. 49 Wie stark sich die Zusammensetzung des Lesepublikums, seine Präferenzen und schließlich auch der Literaturbegriff selbst in den vergangenen zwanzig Jahren verändert haben, mag schließlich auch die folgende Episode aus dem Jahr 1995 verdeutlichen: Der Versandbuchhändler Zweitausendeins erwirbt in diesem Jahr vom Hanser-Verlag vorübergehend die Rechte an dessen Lichtenberg-Ausgabe, von der Hanser bis dahin 4.000 Exemplare zu einem Ladenpreis von 630 DM abgesetzt hat. Binnen kurzer Zeit gelingt es Zweitausendeins, über 35.000 Exemplare der Ausgabe zu verkaufen. Auch wenn Zweitausendeins die Ausgabe zu einem ‚Kampfpreis‘ von 99 DM auf den Markt bringt: Gemessen an den Umsätzen, die Verlage heute mit deutschsprachigen Klassikerausgaben erzielen, wirkt dies wie eine Meldung aus einer anderen, aus einer untergegangenen Welt.
Wendejahre und Digitalisierung: Der Literaturbetrieb im Jahr 1995
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Sekundärliteratur Beilein, Matthias: 86 und die Folgen. Robert Schindel, Robert Menasse und Doron Rabinovici im literarischen Feld Österreichs. Berlin: Erich Schmidt 2008. Corino, Karl (Hg.): Die Akte Kant. IM „Martin“, die Stasi und die Literatur in Ost und West. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1995. Fischer, Ernst (Hg.): Literarische Agenturen – die heimlichen Herrscher im Literaturbetrieb. Wiesbaden: Harrassowitz 2001. Görtz, Franz Josef, Volker Hage, Hubert Winkels (Hg.): Deutsche Literatur 1995. Jahresüberblick. Stuttgart: Reclam 1996. Grub, Frank Thomas: ‚Wende‘ und ‚Einheit‘ im Spiegel der deutschsprachigen Literatur. 2 Bde. Berlin, New York: De Gruyter 2003. Holzmeier, Carolin: Die Netzwerker im Literaturbetrieb. In: Heinz Ludwig Arnold, Matthias Beilein (Hg.): Literaturbetrieb in Deutschland. 3. Aufl. Neufassung. München: edition text+kritik 2009, S. 47–58. Kussin, Christiane: Kanoninstanz oder Beschleunigungsoase. In: Heinz Ludwig Arnold, Matthias Beilein (Hg.): Literaturbetrieb in Deutschland. 3. Aufl. Neufassung. München: edition text +kritik 2009, S. 130–140. Das Literarische Quartett. Gesamtausgabe aller 77 Sendungen von 1988 bis 2001. CD-ROM. Berlin 2005. Michalzik, Peter: Unseld. Eine Biographie. München: Blessing 2002. Negt, Oskar (Hg.): Der Fall Fonty. „Ein weites Feld“ von Günter Grass im Spiegel der Kritik. Göttingen: Steidl 1996. Ortmann, Sabrina: Netz, Literatur, Projekt. Entwicklung einer neuen Literaturform von 1960 bis heute. Berlin: berlinerzimmer.de Verlag 2001. Rautenberg, Ursula (Hg.): Das Hörbuch – Stimme und Inszenierung. Wiesbaden: Harrassowitz 2007. Simanowski, Roberto: Interfictions: Vom Schreiben im Netz. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2002. Turk, Horst: Engagement und Wende. In: Willi Huntemann u.a. (Hg.): Engagierte Literatur in Wendezeiten. Würzburg: Königshausen & Neumann 2003, S. 281–299. Winko, Simone: Am Rande des Literaturbetriebs. Digitale Literatur im Internet. In: Heinz Ludwig Arnold, Matthias Beilein (Hg.): Literaturbetrieb in Deutschland. 3. Aufl. Neufassung. München: edition text+kritik 2009, S. 292–303. Wischenbart, Rüdiger: Österreich auf der Frankfurter Buchmesse 1995. In: Volker Kaukoreit, Kristina Pfoser (Hg.): Die österreichische Literatur seit 1945. Eine Annäherung in Bildern. Stuttgart: Reclam 2000. Wischenbart, Rüdiger: Projekt „Österreich Schwerpunkt“: Die Kommunikationsstrategie. In: Relation 2/2 (1995), S. 9–21.
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Debüts Mein Beitrag wird viele Namen, viele Daten enthalten.1 Das hat mit meinem Anspruch zu tun, eine erste unvollständige, jedoch in meinen Augen signifikante Bestandsaufnahme im Hinblick auf einen wichtigen Paradigmenwechsel im Verlagswesen vorzulegen: zur Rolle der jungen deutschsprachigen Debütanten um die Mitte der 1990er Jahre. Maulhelden und Königskinder heißt ein Band, der direkt als Taschenbuch bei Reclam Leipzig 1998 erschienen ist. Er dokumentiert die deutsche Literaturdebatte der 1990er Jahre – eine Debatte, die von Frank Schirrmacher initiiert worden war, und zwar am 10. Oktober 1989, einen Monat vor dem Mauerfall. Der Band, von Andrea Köhler und Rainer Moritz herausgegeben, sammelt vielfältige Bestandsaufnahmen zur deutschsprachigen Literatur jener Jahre. Dadurch entsteht ein regelrechtes Narrativ. Fast jeder Beitrag bezieht sich auf den vorhergehenden. Die Dramaturgie, die so natürlich aussieht, ist eigentlich eine konstruierte, denn bei so vielen und so wichtigen Beiträgen, die im Band enthalten sind, gibt es genauso viele und genauso wichtige, die nicht enthalten sind – vielleicht bloß, weil sie dieses Narrativ nicht zu bedienen vermögen. Worin besteht dieses Narrativ? Der deutschen zeitgenössischen Literatur geht es zu Anfang der 1990er Jahre verdammt schlecht. Jeder der Kritiker, die im Band vertreten sind, hat eine mögliche Erklärung, mancher von ihnen hat sogar eine Lösung. Die Diagnose ist immer die gleiche, egal ob der Beitrag von Schirrmacher, Hage, Unseld, Willemsen, Biller, Wittstock oder Bohrer stammt: Die Blütezeit der Gruppe 47 ist endgültig vorbei, neue Generationen oder Gruppierungen, die das literarische Feld erobern hätten können, sind nicht in Sicht. Es gibt zwar hier und da gute Autoren, aber die werden kaum wahrgenommen, geschweige denn gelesen. Die Verlage und der normale Leser greifen zu ausländischer und zu Trivial- bzw. zu Unterhaltungsliteratur – zwei Bereiche, die sich ab und an decken. Die zahlreichen autobiographischen Instant-Books, eine Mischung aus Belletristik und Sachbuch, die eigentlich das hätten, woran es der deutschen Literatur laut der
1 Die Daten, auf denen der Beitrag fußt, wurden direkt vom Verfasser erschlossen, da keine statistischen Erhebungen geschweige denn wissenschaftliche Aufsätze zum Thema vorhanden sind. Bei Verlagshäusern wurde zwar angefragt, mit Ausnahme des S. Fischer-Verlags stellten sie aber kein Material zur Verfügung (etwa Verlagsprospekte). Die Grundlage folgender empirischer Ausführungen liefert demnach die Suchmaschine („Erweiterte Suche“) des Katalogs der Deutschen Nationalbibliothek. Angegeben wurden jeweils: Jahr der Veröffentlichung und Name des Verlags.
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Kritiker-Vulgata mangelt, nämlich wirklichen Stoff, Erfahrung, haben nichts an der Lage geändert. Talente, junge Talente wären da – denken wir an die Klagenfurt-Gewinner der frühen 1990er Jahre: 1990 u. a. Birgit Vanderbeke (Hauptpreis), Franz Hodjak, Pieke Biermann, 1991 Emine Sevgi Özdamar (HP), Marcel Beyer, Peter Wawerzinek; 1992 Burkhard Spinnen, Ulrich Peltzer und Alissa Walser (HP); 1993 Kurt Drawert (HP), Jan Peter Bremer, Hanna Johansen; 1994 Raoul Schrott, Ruth Schweikert, Doron Rabinovici, Hauptpreis: Reto Hänny. In unserem Jahr, im Jahr 1995, geht der Hauptpreis an Franzobel, unter den Prämierten finden sich Ingo Schulze und Ilija Trojanow; im Jahr drauf ist Bremer der Hauptgewinner aber auch Felicitas Hoppe wird prämiert. In Klagenfurt kann man mit einer Erzählung, mit einer Miniatur, mit einer Geschichte gewinnen, manchmal auch mit dem Kapitel eines Romans, der jedoch nie fertig geschrieben wird oder erst später. Beyer bekommt z. B. den Ernst-Willner-Preis für einen Text, der mit [→] Flughunde betitelt ist. Der Roman sollte erst vier Jahre später bei Suhrkamp erscheinen, im Jahre 1995. Junge Talente wären zwar da – in den frühen 1990er Jahren sind aber Romane von Debütanten Mangelware. Das, was heute, 15 bis 20 Jahre später, so gut wie selbstverständlich geworden ist, nämlich dass in fast jedem Verlagshauptprogramm der größeren Verlage sowohl im Frühling als auch im Herbst ein Debütant / eine Debütantin oder sogar mehrere vorkommen, war damals nicht der Fall. Heute schaffen es Debütanten sogar bis zur Shortlist des Deutschen Buchpreises, wie 2013 Monika Zeiner, 2006 Saša Stanišić, Thomas von Steinaecker 2007, Stephan Thome 2009, Judith Zander 2010, oder Eugen Ruge und Jan Brandt. Ruge gewinnt sogar den Deutschen Buchpreis. Auch für die Nominierungen zum Preis der Leipziger Buchmesse gilt Ähnliches: Eva Menasse (2005), Clemens Meyer (2006), Helene Hegemann (2010), Ralph Dohrmann (2013) waren Debütanten. Damals war aber der Weg zum richtigen Debüt erheblich komplizierter. Das hatte sicherlich mit der zentralen Rolle der ausländischen Literatur im literarischen Feld, aber vor allem mit dem bereits angedeuteten schlechten Ruf der deutschen zeitgenössischen Literatur zu tun. Keines der größeren Verlagshäuser wollte das Risiko eingehen, konstant und umfassend in deutsche Literatur zu investieren, um dann bloße Eintagsfliegen ins Leben zu rufen und die Lamentationen eines Frank Schirrmacher oder eines Volker Hage über sich ergehen zu lassen. Meine These ist, dass das Jahr 1995 in dieser Hinsicht einen Paradigmenwechsel ankündigt. Zu verzeichnen sind acht wichtige Debüts von jüngeren Autoren: vier Romane, zwei Gedichtbände und zwei Bände mit Erzählungen. Die (eher kurzen) Erzählungen stammen aus Ingo Schulzes [→] 33 Augenblicke des Glücks (Berlin-Verlag), eine (eher lange) Erzählung stammt von Karen Duve (Im tiefen Schnee ein stilles Heim, Achilla Presse in Stollhamm-Butjadingen in Niedersachsen). Die Romane sind von Thomas Brussig ([→] Helden wie wir, Volk und
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Welt), Feridun Zaimoğlu ([→] Kanak Sprak, Rotbuch), Benjamin Stein (Das Alphabet des Juda Liva, Ammann) und Christian Kracht ([→] Faserland, Kiepenheuer & Witsch). Autoren der Gedichtbände sind Lutz Seiler ([→] Berührt – geführt, Oberbaum in Chemnitz) und Ulrike Draesner ([→] gedächtnisschleifen, Suhrkamp). Also insgesamt: zwei winzig kleine Verlage aus der ostdeutschen bzw. aus der westdeutschen Peripherie (Oberbaum bzw. Achilla), zwei eher kleine Verlage mit gutem symbolischen Kapital (Rotbuch und Ammann), zwei Berliner Verlage (Berlin und Volk und Welt, wovon der erste 1994 gegründet wird und der zweite als einer der wenigen ostdeutschen Verlage gelten darf, der die Wende wenigstens für eine Weile überlebt hat) und zwei wichtige Verlage, die in der westdeutschen Verlagslandschaft einen wichtigen Marktanteil hatten und haben, nämlich Kiepenheuer & Witsch und Suhrkamp. Interessant ist auch die Tatsache, dass nicht alle, jedoch die meisten Debütanten bedeutende Vertreter von Tendenzen und Diskursen werden sollten, die in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre und in den 2000ern von großer Relevanz sein werden: Post-DDR-Literatur bzw. Wende-Literatur aus ostdeutscher Sicht (Schulze, Brussig, Seiler),2 Literatur von Autoren mit Migrationshintergrund (Zaimoğlu),3 das sogenannte „Fräuleinwunder“ (Duve), Pop-Literatur (Kracht)4 sowie eine neue Spielart der deutsch-jüdischen Literatur (Stein).5 Das Jahr 1995 kündigt sicherlich einen Paradigmenwechsel an – die systematische Aufnahme von Debütanten in die Verlagsprogramme geschieht jedoch erst zwei Jahre später, so dass der eingangs erwähnte Band aus dem Jahre 1998 eine Bestandsaufnahme darstellte, die fast nicht mehr aktuell war und die bald nicht mehr aktuell sein würde. Diese Tatsache werde ich anhand einer kurzen statistischen Analyse einiger ausgewählter, im (west-)deutschen literarischen Feld hoch bedeutsamer Verlage belegen, nämlich an Kiepenheuer & Witsch, Hanser, Suhrkamp und Fischer. Dass Kiepenheuer & Witsch und Suhrkamp für diese kleine statistische Erhebung ausgewählt wurden, ist leicht verständlich, weil Christian Krachts Faserland und Ulrike Draesners gedächtnisschleifen zu den acht Debüts im Jahr 1995 gehören. Die anderen sechs Verlage waren entweder zu klein (Oberbaum, Achilla) oder zu jung (Berlin) oder – wenigstens zum Teil – zu „regional“ (Volk & Welt und Ammann). Unter den Verlagshäusern, die im Jahre 1995 Debütanten vorweisen, wäre lediglich der Rotbuch-Verlag für meine statistische Bestandsaufnahme in Frage gekommen: Von 41 Neuerscheinungen im Jahre 1995 sind jedoch
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Vgl. hierzu den Beitrag von Francesco Aversa im vorliegenden Band. Vgl. hierzu den Beitrag von Christian Steltz im vorliegenden Band. Vgl. hierzu den Beitrag von Michael Peter Hehl im vorliegenden Band. Vgl. hierzu den Beitrag von Norbert Otto Eke im vorliegenden Band.
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über die Hälfte – sowohl aus der Sparte Belletristik als auch aus der Sparte Sachbuch – deutschsprachiger Herkunft, wie seit der Verlagsgründung üblich. Man denke an die zentrale Rolle des Rotbuch-Verlags im Hinblick auf den Import von Literatur aus der DDR (Werke von Thomas Brasch, Sascha Anderson, Kurt Bartsch – und von Heiner Müller). Der Rotbuch-Verlag eignet sich demnach nicht, einen Paradigmenwechsel aufzuzeigen. Obwohl weder Hanser noch Fischer im Jahre 1995 Debütanten vorzuweisen haben, hat sich deren Verlagsprofil – so meine These – in der zweiten Hälfte der 1990er Jahren derartig verändert, dass es sich lohnt, einen Blick auf ihre Position im Rahmen der genannten Verschiebung zu werfen.
Kiepenheuer & Witsch Fangen wir mit dem Verlag an, der um 1995 bei dem Paradigmenwechsel vielleicht die größere Rolle gespielt hat, nämlich Kiepenheuer & Witsch. Kurzer Rückblick: Im Jahre 1993 findet man bei KiWi lediglich fünf deutschsprachige Titel von insgesamt 19 Neuerscheinungen. Bei den fünf Autoren sind weder Debütanten zu verzeichnen noch 100 % arrivierte: Der bekannteste Autor ist wohl Uwe Timm, der gerade 1993 seinen ersten richtigen Bestseller veröffentlicht, nämlich Die Entdeckung der Currywurst, der zweitbekannteste ist Jens Sparschuh, der mit Der Schneemensch von einem ostdeutschen zu einem westdeutschen Verlag wechselt. Für Kiepenheuer & Witsch – immerhin der Verleger von Joseph Roth und Erich Maria Remarque, von Heinrich Böll und Wolf Biermann – rührt das symbolische Kapital des Verlagskatalogs betreffs Neuerscheinungen im Jahre 1993 so gut wie ausschließlich von der ausländischen, nobelpreisverdächtigen Literatur her: von Saul Bellow (Nobelpreisträger im Jahre 1976), von Gabriel García Márquez (1982), von V. S. Naipaul (2001), von Jean Marie Gustave Le Clezio (2008), aber auch von Joyce Carol Oates, John Le Carré, Charles Bukowski und Natalie Sarraute. Ein Jahr später fängt Martin Hielscher (Jahrgang 1957) als verantwortlicher Lektor für deutschsprachige Literatur bei Kiepenheuer & Witsch zu arbeiten an, nachdem er zwei Jahre lang (1992–1993) bei Luchterhand gearbeitet hatte. Hielscher nimmt eine erhebliche Akzentverschiebung im Verlagsprogramm des Jahres 1994 vor, ohne dass jedoch in diesem Jahr neue Autoren debütiert hätten. Vier bemerkenswerte Tatsachen wären trotzdem zu verzeichnen: 1) ein höheres Gleichgewicht zwischen den Werken ausländischer und deutscher Literatur; 2) zwei weitere (späte) „West-Debüts“, nämlich Christa Wolf (*1929) mit Auf dem Weg nach Taboo und Irina Liebmann (*1950) mit In Berlin; 3) direkt drei Publikationen von Autoren mit Migrationshintergrund, nämlich Emine Sevgi Özdamar (*1956) mit ihrem ersten Roman Das Leben ist eine Karawanserei, Renan Demirkan (*1955)
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mit der Erzählung Die Frau mit Bart und Zehra Cirak (*1960) mit dem Gedichtband Fremde Flügel auf eigener Schulter; 4) ein Erzählband von dem damals im Diskurs sehr präsenten Maxim Biller, welcher bekanntlich zwei Jahre zuvor die berüchtigte Redewendung geprägt hatte, die zeitgenössische deutsche Literatur besitze „so viel Sinnlichkeit wie der Stadtplan von Kiel“. Sein Buch heißt Land der Väter und der Verräter und stellt auch kein Debüt, vor allem keinen Debüt-Roman dar, weil Biller damals bereits seine Kolumnen im „Tempo“ gesammelt und veröffentlicht hatte (Die Tempojahre bei dtv) und bei KiWi schon mit einem anderen Erzählungsband (Wenn ich einmal reich und tot bin aus dem Jahre 1990) debütiert hatte. Das Verlagsprogramm von Kiepenheuer & Witsch wird also jünger und dynamischer, auch wenn im Jahre 1994 nach wie vor Werke wichtiger ausländischer Autoren veröffentlicht werden: z. B. von Don Delillo, Daniel Pennac oder Joao Guimaraes Rosa. Die von Martin Hielscher vertretene Tendenz einer stärkeren Akzentuierung der Sparten „deutsch“ (bzw. „deutsch-türkisch“), „jung“ und „poppig“ kulminiert im Jahre 1995 mit dem Debüt von Christian Kracht, dem allerersten im Verlag seit 1993 (1995 erscheinen übrigens zwei weitere wichtige Werke bei KiWi: Jens Sparschuhs [→] Der Zimmerspringbrunnen und Katja Lange-Müllers [→] Verfrühte Tierliebe). Ich könnte von da an sämtliche Debütanten der späten 1990er Jahre und der 2000er Jahre namentlich nennen – das werde ich aber nicht tun. Ich weise jedoch darauf hin, dass das Verlagsprogramm vom KiWi seit Faserland, seit 1995 also, so gut wie jedes Jahr, einen oder mehrere Debütanten vorweisen wird – eine Tendenz, die sehr bald auch für andere Verlage gilt. Ich möchte lediglich auf eine weitere, wichtige Publikation aus dem Jahre 1996 aufmerksam machen: Die von Martin Hielscher herausgegebene Anthologie deutschsprachiger Literatur, die den Titel Wenn der Kater kommt trägt und die als eines der ersten eklatanten Beispiele des von mir genannten Paradigmenwechsels angesehen werden könnte. Die jüngere deutsche Literatur zählt im deutschen literarischen Feld nun immer mehr, wird wieder hoffähig. In der Anthologie werden insgesamt 38 Autoren gesammelt, der älteste ist Bernd Schroeder (*1944) – die jüngeren sind Marko Martin, Sabine Reber und Norman Ohler – allesamt Jahrgang 1970. Drei Autoren (Guido Eckert, Sabine Reber, Eckart Nickel) werden erst nach der Veröffentlichung der Anthologie mit einem Roman debütieren, entweder 1997 oder 1998, drei (Norman Ohler, Ilija Trojanow und Stefan Beuse) debütieren im gleichen Jahr. Im Jahr 1997 nimmt Hielscher daraufhin einige Autoren, die in kleineren Verlagen bereits debütiert hatten, ins KiWi-Programm auf, etwa Christoph D. Brumme, Matthias Altenburg, Peter Henning. Martin Hielscher bleibt bis 2001 (in diesem Jahr wechselt er zu C. H. Beck, wo er zum Programmleiter für die Belletristik wird) bei Kiepenheuer & Witsch. Zwischen 1997 und 2001 gibt er zahlreichen – nachmalig bekannten – Schriftstel
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lerInnen Gelegenheit zu einem Debüt: Benjamin von Stuckrad-Barre, Elke Naters und Kathrin Schmidt (im Jahre 1998), Benjamin Lebert und Elena Lappin (1999), Michael Kumpfmüller, Tobias Hülswitt und Stefan Beuse (2000).
Carl Hanser Verlag Was für Kiepenheuer & Witsch galt, gilt umso mehr für Hanser: Von 40 belletristischen Erstausgaben aus dem Jahre 1993 waren über dreißig Texte fremdsprachiger Literatur. Die Namen gehörten und gehören mit zu den Besten der Weltliteratur: Philip Roth, Alexandar Tisma, Harry Mulisch, T. C. Boyle, Italo Calvino, Anna Maria Ortese, Derek Walcott und Tomas Tranströmer (beide Nobelpreisträger); dazu noch im Sachbuchbereich: Simone Weil, Susan Sontag und Claude Lévi-Strauss. Die deutschsprachige Literatur war 1995 bei Hanser auf der einen Seite von der Münchner Ausgabe von Goethes, Kleists und Hölderlins Werken und auf der anderen Seite von sieben Autoren, d. h. sieben Texten vertreten. Schauen wir uns diese sieben deutschsprachigen Autoren etwas genauer an. Der zweitwichtigste deutschsprachige, lebende Autor des Hanser-Verlags war 1993 Botho Strauß (49 Jahre alt), der wichtigste der Nobelpreisträger Elias Canetti (88), der ein Jahr später verstarb. Ansonsten wird die zeitgenössische deutschsprachige Literatur bei Hanser von Cornelia Edvardson (64), von Ludwig Harig (66), von Hanna Johansen (54), vom ostdeutschen Autor Hans Löffler (47), dann von Anita Albus (51) und von Michael Donhauser (37) vertreten. Kein Debütant, keine Debütantin also, sondern schon ältere und abgesehen von Strauß und Canetti nicht so bekannte, nicht so erfolgreiche deutschsprachige Schriftsteller. Ein Jahr später ist zwar die Zahl der Publikationen deutschsprachiger Autoren erheblich größer geworden (24 von 60 Büchern, immerhin 40 %), aber die Lage hat sich kaum geändert. Veröffentlicht werden die gesammelten Werke von lebenden Klassikern wie Elias Canetti und George Tabori (80) sowie Werke von Albert Drach (92), Paul Wühr (67), Günter Kunert (65, bei Hanser schon seit 1963), Rolf Schneider (62), Rolf Haufs (59), Libuše Moníková (49) und Willi Jasper (49). Die Jüngsten, schon seit einer Weile Autoren des Verlags, sind Martin R. Dean (39, seit 1982 bei Hanser) und Angelika Klüssendorf (36, seit 1990 bei Hanser). Zu verzeichnen ist sogar ein „Debütant“: der 84jährige Peter Fürst, ein deutschamerikanischer Journalist und Schriftsteller jüdischer Herkunft, der mit Der Zigarrentöter. Don Quixote im Exil einen autobiographischen Roman vorlegt. Wir kommen nun zum Jahr 1995, in dem ausländische Literatur Hansers Verlagsprogramm nach wie vor wesentlich prägt (ein kleiner Querschnitt: Ondaatje, Heaney, Kundera, Tisma, Calvino, Hoeg, Boyle, Pamuk, Ortese, Green, Manea, Le Clezio, Tabucchi, Mulisch, Walcott, Klima, Jaccottet). Keine zehn Texte
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deutschsprachiger Literatur stehen im Programm, also kein Sechstel. Darunter die Werke von 60jährigen Autoren (Johannes Kühn, Joseph Zoderer, Christoph Meckel), ein Werk von Martin Grzimek, ein Werk von Rafik Schami und gar zwei Werke von Reinhard Jirgl (Jg. 1953), der im Jahre 1995 sowohl [→] Abschied von den Feinden als auch Im offenen Meer veröffentlicht, das vier Jahre zuvor bei Luchterhand bereits erschienen war – kein Debüt allerdings, aber sicherlich das Buch, mit dem Jirgls Rezeption im Literaturbetrieb und auch in der akademischen Germanistik einsetzt. Ce n’est qu’un debut, denn im Jahre 1996 debütiert dann Ilija Trojanow bei Hanser, der wie gesagt ein Jahr zuvor den Bertelsmann-Literaturpreis in Klagenfurt gewonnen hatte. Im Jahr 1997 ist Arno Geiger an der Reihe. Seitdem gehören bei einem grundsätzlichen Festhalten an der zentralen Rolle der ausländischen Literatur, bei einer konstanten Pflege der „Klassiker“ des 20. Jahrhunderts jüngere deutschsprachige Autoren zum festen Bestandteil des belletristischen Programms von Hanser. Aus Anlass der Untersuchung habe ich mit Michael Krüger Kontakt aufgenommen, der sich folgendermaßen ausdrückte (E-Mail vom 15. Juli 2014):
Irgendwann war klar, dass wir eine jüngere Autorengeneration brauchten, um den Verlag nicht ‚alt‘ aussehen zu lassen, edel und vornehm, aber eben alt […]. Es stellte sich heraus, dass nach Jahren der Stagnation plötzlich auch wieder Interesse an jüngeren Autoren spürbar wurde, im Inland, aber auch im Ausland. Das war davor keineswegs der Fall. Vielleicht hängt es auch damit zusammen, dass erstens die Literatur in Europa nicht so spektakulär war, wie viele es nach 1989 erhofft hatten, weder in den alten europäischen Ländern noch in den Ländern des ehemaligen Ostblocks, wo eigentlich nur der eigenwillige ungarische Roman bemerkenswert war, erst später auch die polnische Prosa, und zweitens, weil die deutsche Infrastruktur für Schriftsteller sich geändert hatte! Mehr Preise, mehr Literaturhäuser, Stipendien etc. plus ein immer besser organisierter Buchhandel und eine funktionierende Kritik. Und schließlich gab es plötzlich auch Stimmen von in deutscher Sprache schreibenden Ausländern, was es vorher auch nicht gegeben hatte: Deutsch als Fremdsprache.
Die Langsamkeit der Groß-Verlage: Suhrkamp und Fischer Um das Jahr 1995 herum verfügten sowohl Kiepenheuer & Witsch als auch Hanser über ein bemerkenswertes, nicht nur symbolisches Kapital an Klassikern deutschsprachiger Literatur aus der ersten und zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – Autoren, deren Rechte noch nicht frei waren (sind) und die im Besitz des jeweiligen Verlags lagen. Bei Kiepenheuer & Witsch waren es – wie gesagt – z. B. Joseph Roth, Remarque, Böll und Biermann. Auch jüngere, anno 1995 einigermaßen
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etablierte Autoren gehörten dazu, man denke an Peter Härtling, Uwe Timm oder Dieter Wellershoff. Bei Hanser waren es Elias Canetti, George Tabori, Botho Strauß, Gunter Kunert und erst in den späten 1990er Jahren W. G. Sebald. Bei beiden Verlagen war – wie wir gesehen haben – das meiste symbolische Kapital eher aus der ausländischen Literatur des frühen und des späten 20. Jahrhunderts zu schöpfen. Wie steht es um die wichtigsten Literaturverlage der alten Bundesrepublik, den S. Fischer-Verlag und den Suhrkamp-Verlag? Bei beiden spielt die ausländische Literatur auch eine bedeutende Rolle, aber längst nicht so eine bedeutende wie bei KiWi und Hanser, vor allem im Vergleich zu der Rolle der Klassiker deutschsprachiger Literatur aus dem 20. Jahrhundert. Bei S. Fischer gilt das in erster Linie für Autoren der Klassischen Moderne wie Thomas und Heinrich Mann, Kafka, Hofmannsthal, selbst wenn seit einigen Jahren wichtige Autoren, die in den 1940er oder sogar 1950er Jahren geboren wurden, zum festen Bestandteil des literarischen Programms gehörten. Ich denke hierbei an Wolfgang Hilbig, Christoph Ransmayr oder Monika Maron; was die Gründerjahre der Bundesrepublik bzw. der Gruppe 47 anbelangt, möge der Name von Ilse Aichinger genügen. Bei Suhrkamp finden sich sowohl absolute Größen der Klassischen Moderne – wie Hesse, Brecht, Kraus, Robert Walser – als auch so ziemlich das Beste, was die bundesrepublikanische, österreichische und schweizerische Literatur nach 1945 vorzuweisen hat: Bachmann und Celan, Frisch und Enzensberger, Bernhard und Handke, Johnson und Peter Weiss, um nur ein paar der renommiertesten Namen zu nennen. Hier – bei Fischer und Suhrkamp – konnte man sich zunächst einmal damit begnügen, das enorme Vermögen zu verwalten, und gleichsam eine Weile abwarten, ob der neue Trend der zeitgenössischen deutschen Literatur lange währen würde. Die beiden literarischen Großverlage positionieren sich jedoch unterschiedlich. In den fünf Jahren um 1995, also zwischen 1993 und 1997, debütiert bei S. Fischer kein einziger Autor. Der Verlag veröffentlicht zwar wichtige Werke, die auch in diesem Band eine bedeutende Rolle spielen – z. B. Clemens Eichs [→] Das steinerne Meer, Dieter Fortes [→] Der Junge mit dem blutigen Schuh, beide im Jahre 1995, oder Festland von Markus Werner im Jahre 1996 – aber kein Debüt. Die Ausgangsposition und die Strategie des Suhrkamp-Verlags in den besagten fünf Jahren sehen anders aus. Bei ca. 70 deutschsprachigen Autoren und Autorinnen, die jedes Jahr von Suhrkamp veröffentlicht werden, besteht ca. ein Viertel aus Schriftstellern, die noch am Leben sind. Die wenigsten davon gehören zur jüngeren Generation – d. h. Autoren, die in den 1960er Jahren geboren wurden. Im Jahre 1993 sind es drei: Norbert Gstrein (*1961), Johannes Jansen (*1966) und der Schweizer Peter Weber (*1968), der mit Der Wettermacher der einzige Debütant in diesem Jahr ist. Im Jahre 1994 veröffentlicht Suhrkamp sechs Autoren, die
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in 1960er Jahren geboren wurden: Werner Fritsch und Dieter M. Gräf (beide *1960), Kerstin Hensel und Doron Rabinovici (beide *1961), Durs Grünbein (*1962), Thomas Hettche (*1964). Rabinovici mit Papirnik ist dabei der einzige Debütant. In unserem Jahr heißt die Debütantin Ulrike Draesner (*1962). Veröffentlicht wird ihr Gedichtband gedächtnisschleifen. In den 1960er Jahren wurden ebenfalls Franzobel und Albert Ostermaier (beide *1967) sowie Marcel Beyer (*1965) geboren, der bekanntlich Flughunde veröffentlicht. Sowohl Rabinovicis als auch Draesners Erstling erscheinen in der „edition suhrkamp“, der avancierten Reihe des Suhrkamp-Verlags, die gleichzeitig den Verlag nicht dazu zwingt, in den Autor / die Autorin langfristig zu investieren: Veröffentlicht wird ein einzelnes, in der Regel ziemlich kompliziertes, nicht unbedingt gut lesbares Buch, man denkt nicht zwingend an die strategische Konstruktion eines Œuvres seitens des Verlags. Die Aufnahme in das HardcoverHauptprogramm weist dagegen auf das Werk-Potential eines Autors sowie auf die Lesbarkeit des Werkes hin. Peter Weber ist von den Debütanten aus den Jahren 1993–1995 der einzige, der es bis ins Hauptprogramm geschafft hat – auch wenn man ex post feststellen soll, dass das Œuvre Webers sich eher langsam und mit einer gewissen Mühe entwickelt hat (vier fiktionale Texte in 20 Jahren, davon zwei, die es bis zur Taschenbuchausgabe nicht geschafft haben – wohl ein Zeichen dafür, dass die Bücher sich nicht so gut verkauften). Spätestens im Jahr 1997 fängt auch Suhrkamp an, systematisch auf Debütanten zu bauen, wohl ausschließlich über den „Umweg“ bzw. den ballon d’essai der „edition suhrkamp“. 1997 debütieren somit vier Autoren, allesamt in der genannten Reihe. Von drei Autoren hat man nach ihren Debüts nicht mehr viel gehört: Ute-Christine Krupp (*1962): Greenwichprosa, Christian Lehnert (*1969): Der gefesselte Sänger, und der damals 23jährige Gion Mathias Covelty (*1974): Ad absurdum oder eine Reise ins Buchlabyrinth. Eine Autorin – Katharina Hacker (*1967) – hat es nicht nur bis ins Hauptprogramm geschafft, sie hat zehn Jahre später sogar den Deutschen Buchpreis für Die Habenichtse erhalten. Ihr Debüt von 1997 hieß Tel Aviv. Eine Stadterzählung.
Marja Rauch
Kritik und Krise Poetik 1995 Krise der Literatur? Im Jahr 1995 scheint die deutschsprachige Gegenwartsliteratur – wieder einmal – in der Krise zu sein. Das macht sich besonders deutlich an den Verteidigungsstrategien der beteiligten Akteure bemerkbar. Zu ihnen zählen nicht allein die Autoren, die sich um eine Poetik bemühen, die zugleich Selbstlegitimation ihres Schreibens sein soll, sondern auch die Lektoren in den großen Verlagen. Zwei von ihnen, Christian Döring vom Suhrkamp-Verlag und Uwe Wittstock von Luchterhand, haben sich 1995 zu Wort gemeldet. Schon der Titel Deutschsprachige Gegenwartsliteratur. Wider ihre Verächter macht deutlich, dass Döring eine defensive Strategie entfaltet. In seinem Vorwort bemerkt er, dass sich das Verhältnis von Literatur und Kritik verändert hat: Statt um „Erkenntnis des Gegenstands“ ginge es häufig nur um „begründungslose[s] Stimmungs- und Meinungsbekennen“.1 Der Band versammelt 14 Aufsätze, die eines verdeutlichen sollen: „Nachdenken über deutschsprachige Literatur und ihre gegenwärtige Lage ist vonnöten“.2 Die unterschiedlichen Beiträge eint das Ziel, dem hartnäckigen Gerücht zu widersprechen, der Gegenwartsliteratur mangele es an Unterhaltungswert und sie sei daher unverkäuflich. Genau diese Unterwerfung der Literatur unter das Diktat von Unterhaltungsindustrie und Kommerz wird in den von Döring versammelten Aufsätzen abgelehnt. Besonders aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang die Beiträge von Friedhelm Rathjen und Jochen Hörisch. „Crisis? What Crisis?“, fragt Ratjen schon im Titel, um in acht Kapiteln selbst die Antwort zu geben: „Die sogenannte Krise der Literatur ist in Wahrheit eine Krise der Literaturvermittlung“,3 heißt es zuerst mit Blick auf die Verlagslandschaft und die Kritikerzunft, sodann „Die sogenannte Krise der Literatur ist in Wahrheit eine Krise der literarischen Urteilskraft“,4 und abschließend: „Die sogenannte Krise der Literatur ist in Wahrheit die
1 Christian Döring: Vorwort. In: C. D. (Hg.): Deutschsprachige Gegenwartsliteratur. Wider ihre Verächter. Frankfurt/M. 1995, S. VIII-XIII, hier S. VIII. 2 Ebd. 3 Friedhelm Ratjen: Crisis? What Crisis? In: Christian Döring (Hg.): Deutschsprachige Gegenwartsliteratur. Wider ihre Verächter. Frankfurt/M. 1995, S. 9–17, hier S. 9. 4 Ebd.
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Literatur der sogenannten Krise.“5 Jochen Hörisch geht etwas differenzierter vor, kommt aber zu ähnlichen Ergebnissen. Er geht von einer grundlegenden Paradoxie aus, die die Gegenwartsliteratur betrifft: „[S]ie weist Werke von hoher und höchster Qualität auf, und sie hat dennoch im Vergleich mit der Literatur anderer Epochen einen eklatanten Kursverlust erlitten.“6 Hörisch führt die Rede vom Ende Diagnose der Kritik, gar des Endes der Literatur und der Gutenberg-Galaxis auf die Literaturkritik selbst zurück, die nicht mehr in der Lage sei, Qualität von Mittelmaß zu unterscheiden – in diesem Punkt und in vielen anderen Punkten ist er sich mit Rathjen einig. Hörisch führt den Wertverlust, den die Literatur erlitten habe, dabei unmittelbar auf das Verschwinden der DDR zurück. Die hegemoniale Position, die die Literatur in der DDR inne hatte, ist demnach ein für allemal dahin. „Das poetische Reservat DDR wurde in schwindelerregendem Eiltempo an den Stand der medienpluralistischen Postmoderne angeschlossen.“7 Postmoderne und Medien, das sind die Stichwörter, die 1995 immer wieder fallen, wenn es um das drohende Ende der Literatur geht. Als Schuldigen für das Dilemma um die Gegenwartsliteratur machen Hörisch und Rathjen die Literaturkritik aus: An nichts ist sie weniger interessiert als an den Einsichten, die Dichtung gerade zu Zeiten eröffnet, in denen noch die Reste ihrer zentralen Stellung in der Gutenberg-Galaxis vergehen. Vielmehr verachtet sie ganz offenbar das Medium, dem sie sich zuwendet.8
Wo Benjamin noch aus der Überlagerung des alten Mediums Buch und der neuen Medien wie Photographie und Film Einsichten in die Philosophie der Kunst gewonnen hat, da wende sich die zeitgenössische Kritik von den alten Medien ab. Reich-Ranicki, in den Feuilletons wie dem Fernsehen gleichermaßen prominent, gerinnt für Hörisch zur Inkarnation der ignoranten und medienkompatiblen Literaturkritik. Diese Form der Kritik aber habe die Gegenwartsliteratur nicht verdient. Ihren Anspruch müsse sie sich vielmehr mit den neuen Medien, mit Serien und Filmen wie Kir Royal oder Heimat teilen, wobei sich gerade in den neuen medialen Formaten auch neue Qualitäten erschließen könnten. Hörisch plädiert somit für einen pluralistischen Ansatz, der nicht mehr auf die Literaturkritik setzt, wohl aber auf die Konfrontation der Literatur mit den Medien als alte
5 Ebd., S. 17. 6 Jochen Hörisch: Verdienst und Vergehen der Gegenwartsliteratur. In: Christian Döring (Hg.): Deutschsprachige Gegenwartsliteratur. Wider ihre Verächter. Frankfurt/M. 1995, S. 30–48, hier S. 31. 7 Ebd., S. 37. 8 Ebd., S. 38.
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und neue Inspirationsquelle, wie sie schon Thomas Manns Der Zauberberg gekannt hat. Uwe Wittstock wählt eine andere Strategie als Döring und dessen Mitstreiter. In seinem Band Lust an der Literatur sucht er die Flucht nach vorne. Der weit verbreiteten These, die deutschsprachige Gegenwartsliteratur sei zu verkopft und damit leserunfreundlich, begegnet er durch eine Versöhnung von Anspruch und Unterhaltung: „Die Forderung, Literatur müsse das Interesse der Leser gewinnen, oder, schlichter formuliert, Vergnügen bereiten, legt es also […] nicht darauf an, das Niveau der Literatur zu senken. Es geht vielmehr darum, daß ein literarisch ernst zu nehmendes Buch neben großen ästhetischen Qualitäten auch Unterhaltungsqualitäten haben sollte.“9 Wittstock konstatiert, dass anders als in anderen europäischen und außereuropäischen Literaturen der Aspekt des Vergnügens in Deutschland mit Skepsis betrachtet wird, was sich auch in der strengen Unterscheidung von E- und U-Literatur manifestiert. So fordert er, sich von der Tradition der Moderne zu verabschieden, die sich Innovation und den Bruch mit Konventionen auf die Fahnen geschrieben hat, deren Pfade inzwischen aber „zu planierten Promenaden“ avanciert sind, und stattdessen die Qualität postmoderner Schreibweisen anzuerkennen. Von diesen erhofft sich Wittstock eine „Erweiterung der literarischen Spielräume“,10 die darauf abzielen, „Intellekt und Sinnlichkeit“11 zu befriedigen. „Eines der erklärten Ziele der Postmoderne ist es, die Sprache der Schriftsteller wieder anzunähern an das hochkomplexe Geflecht alltäglicher Sprachebenen“ und damit die „Distanz zwischen Literatur und Leben“12 zu nivellieren. Wittstock deutet die Postmoderne positiv als eine neue Heterogenität der Literatur, die in der Öffentlichkeit nur zu selten wahrgenommen werde. So unterschiedlich die Strategien von Döring und Wittstock ausfallen: Beide verbindet die aktualitätsbezogene Diagnose einer Krise der Literatur, der nicht mehr zugetraut wird, ein adäquates Bild der Gegenwart zu schaffen – eine Diagnose, die sich heute unter veränderten Vorzeichen leicht wiederholen ließe. Vor diesem Hintergrund ist es doppelt interessant, dass sich 1995 nicht allein Lektoren zu Wort gemeldet haben, um dem Ort und der Bedeutung der Literatur in der Gegenwart nachzugehen, sondern auch Autoren. Ihre Präsenz schreibt sich in die Tradition ein, die Paul Michael Lützeler bereits 1994 unter dem Stichwort
9 Uwe Wittstock: Leselust. Wie unterhaltsam ist die neue deutsche Literatur? Ein Essay. München 1995, S. 24. 10 Ebd., S. 35. 11 Ebd., S. 48. 12 Ebd., S. 50.
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einer „Poetik der Autoren“13 zusammengefasst hat. Auch Lützeler geht in der Einleitung zu seinem Band von den Veränderungen aus, die die Postmoderne mit sich gebracht habe: „Das Problem des literarischen Engagements stellt sich den Autoren in der postmodernen Konstellation anders als in früheren Jahrzehnten.“14 Lützeler hält in diesem Zusammenhang insbesondere fest, dass in den Zeiten der Postmoderne die autobiographische Poetik zur Regel geworden sei.15 Zwar enden die Einzelanalysen, die der Sammelband präsentiert, mit dem Jahr 1985. Die wachsende Bedeutung der autobiographischen Poetik lässt sich aber auch an den Texten verfolgen, die 1995 erschienen sind – an Herta Müllers Essayband Hunger und Seide ebenso so wie an den von Wolfgang Hilbig und Durs Grünbein vorgelegten poetologischen Entwürfen. So berichtet Herta Müller in Hunger und Seide, einem Band, der Reden und journalistische Texte der frühen neunziger Jahre versammelt, vor allem von ihren eigenen Erfahrungen mit dem diktatorischen Regime Rumäniens, dem sie 1987 entkommen ist.16 Die biographische Erinnerungsarbeit, die ihre Texte bestimmt, verbindet sie mit der Frage nach der Möglichkeit des politischen Widerstandes, die der Literatur noch möglich sei. Zwar ist Herta Müllers autobiographische Poetik vorrangig an der Zeit vor der Wende ausgerichtet und für die Frage nach der Poetik im Jahre 1995 nur von begrenzter Aussagekraft. Mit der Frage nach dem moralischen und politischen Widerstand, den die Literatur leisten kann, sieht sie sich jedoch vor ein ähnliches Problem wie Wolfgang Hilbig gestellt, der im Jahre 1995 an der Goethe-Universität Frankfurt die Poetik-Dozentur übernahm. Der Vergleich von Hilbig und Grünbein erlaubt es so, der Frage nach dem Zustand der Kritik im Jahre 1995 näher nachzugehen. Wolfgang Hilbig hat im Rahmen der Frankfurter Poetik-Vorlesungen 1995 einen Abriss der Kritik vorgelegt, der schon im Titel andeutet, dass es ihm um die Einsicht in das Ende der Kritik und deren Erhalt zugleich geht. Ganz andere Wege als Hilbig geht Durs Grünbein, der von den Feuilletons und Medien vielbeachtet 1995 den Büchner-Preis erhält und so das Bild eines gesamtdeutschen Dichters nach der Wende prägt. Seine Rede zeugt von einem grundsätzlich anderen, von den Naturwissenschaften inspirierten Bild von Literatur. Mit Hilbig und Grünbein zeigt sich das Jahr 1995 nicht allein als das einer vom Literaturbetrieb selbst diagnostizierten Krise, sondern zudem als das einer Umbruchszeit, in der Altes unter die Mühle der Geschichte gerät und Neues am Horizont aufzuscheinen
13 Paul Michael Lützeler (Hg.): Poetik der Autoren. Beiträge zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Frankfurt/M. 1994. 14 Paul Michael Lützeler: Einleitung. Poetikvorlesungen und Postmoderne. In: P. M. L. (Hg.): Poetik der Autoren, S. 7–19, hier S. 12. 15 Vgl. ebd., S. 11. 16 Vgl. Herta Müller: Hunger und Seide. Essays. Reinbek b. Hamburg 1995.
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beginnt. Hilbig und Grünbein dienen im Folgenden daher als Ausgangspunkt für die Frage nach der Selbstverortung der Gegenwartsliteratur im Jahre 1995, wobei allerdings nicht vergessen werden soll, dass das Alte nicht unbedingt schlecht und das Neue nicht unbedingt gut sein muss.
Wolfgang Hilbig: Abriss der Kritik Der 2007 verstorbene Wolfgang Hilbig, ursprünglich Lyriker und ein Autor, der sich in kein gängiges Schriftstellerbild des ost- oder westdeutschen Autors fügen mochte, hatte 1993 mit Ich seinen vielbeachteten zweiten Roman vorgelegt. Die fiktive, ganz und gar nicht autobiographische Geschichte um einen Lyriker in der DDR, der der Stasi zuarbeitet, erschien der Kritik als ein selten zeitgemäßes Portrait eines korrupten Lebens im Sozialismus auf einem sprachlichen Niveau, das mühelos an die Klassische Moderne und die großen Texte der Nachkriegsliteratur anknüpfen konnte. So konnte es nicht verwundern, dass der Autodidakt Hilbig 1995 an die Goethe-Universität Frankfurt eingeladen wurde, um dort die Poetikvorlesungen zu übernehmen. Von Januar bis Juni 1995 entfaltete Hilbig ein äußerst kritisches Bild der eigenen Gegenwart, nicht ohne auch die eigene Rolle als Schriftsteller in den Blick zu nehmen. Den Ausgangspunkt von Hilbigs Überlegungen bildet eine Auseinandersetzung mit der Form der Kritik, wie sie auch Wittstock und Döring in den Feuilletons vorgefunden haben. Für Hilbig bedeutet Kritik zunächst einmal, dass sich das Schreiben ein Stück weit selbst im Weg steht. Kritik sei daher gleichbedeutend mit Krise, wobei diese Krise jedoch zu großen Teilen vom Literaturbetrieb an die Gegenwartsliteratur herangetragen worden sei. Kritik, so Hilbigs durch und durch aufklärerische Haltung, legitimiert sich daraus, dass sie zur Meinungsbildung beitragen will. Allerdings gehe es in der Gegenwart jedoch längst nicht mehr, so Hilbig, um die anscheinend richtige Meinung, sondern darum, gegen anders lautende Behauptungen möglichst wirkungsvoll aufzubegehren. Was vor diesem Hintergrund zu unterscheiden sei, das seien die Kritik, die von außen an die Literatur herangetragen werde, und diejenige, die die Literatur selbst an sich und ihre Ansprüche stelle. Wo die Kritik lauthals das „Ende der Literatur“ verkünde, da interessiert Hilbig „der schwindende Einfluß der Literatur“,17 mithin auch das drohende Verschwinden der eigenen Position. Von Anfang an rückt so ein doppelter Begriff von Kritik in das Blickfeld Hilbigs, der sich in der Tradition
17 Wolfgang Hilbig: Abriss der Kritik. Frankfurter Poetikvorlesungen. Frankfurt/M. 1995, S. 82; im Folgenden Seitenzahlen im Text in Klammern.
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der bürgerlichen Moderne auf die Autonomie der Literatur stützt, um sich gegen Anfeindungen von anderer Seite zur Wehr zu setzen. Die öffentliche Literaturkritik begreift Hilbig vor diesem Hintergrund als Teil dessen, was er im Anklang an Horkheimer/Adornos Rede von der Kulturindustrie aus der Dialektik der Aufklärung „Bewußtseinsindustrie“ (Hilbig, S. 6) nennt. Das unmittelbare Problem ist für Hilbig die Position der Literaturkritik in den Feuilletons, die selbstgerecht das Ende der Literatur verkünden. Dort, so der Vorwurf, „hat die Kritik den Vorrang vor der Literatur gewonnen“ (Hilbig, S. 50). Die Position des bestallten Kritikers droht die des unabhängigen Schriftstellers zu verdrängen. Hilbig ist dagegen an der Autonomie der Literatur, an ihrer Selbstbehauptung und Krisenresistenz interessiert, selbst im Falle des Scheiterns: „Verantwortlich für ein Scheitern ist die Literatur letztlich immer selbst“ (Hilbig, S. 8). Nicht ohne Pathos formuliert er ein fast existentialistisch geprägtes Bild der Literatur im Zeichen von Scheitern und Probe: „Literatur war auch immer eine Form der Existenz, die sich selbst auf die Probe gestellt hat…“ (Hilbig, S. 16), heißt es etwa. Mit den Frankfurter Poetik-Vorlesungen positioniert sich Hilbig eindeutig in der Tradition der Kritischen Theorie. Die Schelte der öffentlichen Literaturkritik korrespondiert daher mit einem zweiten, positiven Begriff der Kritik, der an der Literatur selbst festgemacht wird. „Und Kritik ist nicht nur eine Metasprache über die Kunst, sie ist gleichzeitig auch ein Bestandteil der Kunst“ (Hilbig, S. 18). Kunst und Kritik, nicht Kritik und Literaturbetrieb, so lautet das Credo Hilbigs. Hilbigs Pochen auf die Autonomie der Literatur geht vor diesem Hintergrund mit einem Geschichtspessimismus einher, der sich auf den Status der Literatur in der Gegenwart bezieht. „Inzwischen sind Aufklärung und Literatur ein geschiedenes Paar, man könnte den Schluß zuspitzen und sagen: Fortschritt und Literatur sind Gegensätze“ (Hilbig, S. 13). Nicht das Ende der Literatur, das Ende der Aufklärung sieht Hilbig nahen. Seine Kritik richtet sich in diesem Zusammenhang nicht allein gegen die „Kulturindustrie“, sondern zudem gegen zeitgenössische postmoderne Theorien. Die Kritik etwa an Foucault lässt sich schon in Ich beobachten, wo der Erzähler nicht zufällig unter dem Decknamen Le Fou arbeitet. In Abriss der Kritik wird Hilbig noch deutlicher: „,Diskurs‘ ist ein Wort, das mir auf die Nerven geht“ (Hilbig, S. 21), heißt es dort, und weiter: „Es waren Autoren wie Foucault, Lacan, Derrida, Lyotard oder Baudrillard, die auf einmal diskutiert wurden oder vielmehr zur Religion erklärt wurden“ (Hilbig, S. 52). Im längst entschiedenen Streit zwischen Foucault und Sartre schlägt sich Hilbig eindeutig auf die Seite Sartres: „Sartre hingegen war noch immer eine Unperson an sich“ (ebd.). Mit dem Begriff der Unperson zielt Hilbig zugleich auf den eigenen biographischen Hintergrund und die in der DDR gemachten Erfahrungen der Ausgrenzung und der Verhinderung seines Schreibens. Die Etikettierung als Unperson ist in diesem Sinne als Auszeichnung zu verstehen. Die Kritik am Intellektua
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lismus französischer Prägung führt so zu einer bemerkenswerten Selbstverortung: „[I]ch bin, um es hier einmal vergröbert zu benennen, einer jener OstIntellektuellen mit einem bestimmten Überhang zu proletarischem Verhalten, das mir von meiner Herkunft vermacht worden ist“ (Hilbig, S. 36). Als proletarischer Intellektueller stilisiert sich Hilbig, um aus dieser Genealogie die Legitimation seines – letztlich sehr bürgerlichen – Literaturbegriffs zu gewinnen. Dementsprechend grenzt er sich auch von den Etiketten ab, die die DDR ihm und anderen verpasst haben. Insbesondere der Bitterfelder Weg stößt auf deutliche Kritik: „Der Bitterfelder Weg war meines Erachtens der letzte Versuch der Parteibürokratie, in das Schweigen der Arbeiter einzudringen“ (Hilbig, S. 66). Die DDR möchte Hilbig für seine eigene Autorwerdung nicht verantwortlich machen. Er verortet sich selbst als „Arbeiter und Schriftsteller“ (Hilbig, S. 73), um zu zeigen, dass er sich weder in gängige Zuschreibungen des Ostens noch des Westens einfügen lässt. Auf gewisse Weise stellt sich Hilbig selbst auf einen verlorenen Posten, der sich auch an den Beispielen zeigt, auf die er zurückgreift: Die verkannte Schriftstellerin Gisela Elsner, die ihr Leben selbst beendet, und den politisch engagierten, als Schriftsteller aber missachteten Heinrich Böll zitiert er als Zeugen für eine Literatur, die sich vom Betrieb nicht vorschreiben lässt, wie sie zu agieren hat. Hilbig will in diesem Betrieb eine eigene Position einnehmen, und die Literatur bietet ihm die Möglichkeit, diese, letztlich wohl unmögliche, Position zu behaupten. Den Hintergrund von Hilbigs Überlegungen markieren die geschichtlichen Erfahrungen, die das 20. Jahrhundert bestimmt haben. Die Literatur der Nachkriegszeit habe, so Hilbig, dazu geführt, dass das „Bewußtsein der Deutschen gegen deren Willen verändert“ worden ist. Die Literatur habe eine eigene Sprache finden müssen und nicht an die literarische Tradition anknüpfen können, die durch den Nationalsozialismus zerbrochen worden sei. An diese kritische Position aber könne die Gegenwart nicht mehr anknüpfen. Vielmehr werde im Rahmen der Postmoderne das geschichtliche Ende der Moderne, der Aufklärung und der Schrift verkündet. Fehlende Kritik, fehlender Widerspruch, Meinungslosigkeit seien die Signa der Gegenwart, in der keine Tabus mehr angesprochen werden, sondern sich alles dem Diktat des Geldes unterwerfe, konstatiert Hilbig in Anlehnung an Jurek Becker, der wie Hilbig selbst ein Fremder in der BRD sei. Schriftsteller, auch die aus der DDR, sollten sich über den Vergleich mit Ratten und Schmeißfliegen freuen, denn es gelte auf „verborgene Fäulnisstellen eines Gemeinwesens“ hinzuweisen, statt sich zu „Deodoranten dieser Gesellschaft“ deformieren zu lassen (Hilbig, S. 93). Gegen die Mehrheitsmeinung anzuschreiben, sich von der Kritik unabhängig zu machen, ist die Forderung, die Hilbig in seiner Vorlesungen stellt. Aufgabe der Literatur sei es, Fragen und Probleme aufzuwerfen, Kritik zu üben, nicht aber Lösungen anzubieten. Dies allein, so Hilbig, stellt eine Form der
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Freiheit dar. Tatsächlich aber unterwerfen sich die Autoren der Selbstzensur, statt sich der Wahrheit und der Verantwortung des Schriftstellers in seiner Zeit zu verpflichten. Diese Selbstzensur steht Hilbig beim Arbeiten im Weg. Er plädiert dagegen für eine Literatur des Protests, die versucht, Einfluss zu nehmen, konstatiert jedoch zugleich immer wieder resignativ, dass der Einfluss der Literatur nur noch gering ist. Dennoch solle die Literatur „der Gesellschaft ihre noch ungelösten Aufgaben“ stellen (Hilbig, S. 110), so das Ende der Vorlesungen. Hilbigs Abriss der Kritik gibt sich damit als ein letztes Aufbäumen einer engagierten Dichtung zu erkennen, die es jedoch erkennbar schwer hat, in der Gegenwart einen Platz zu finden.
Durs Grünbein: Den Körper zerbrechen Auf eine ganz andere Weise als Hilbig äußert sich Durs Grünbein in seiner GeorgBüchner-Preisrede mit dem Titel Den Körper zerbrechen. Grünbein, 1962 in Dresden geboren, konnte 1988 seinen ersten Gedichtband Grauzone morgens bei Suhrkamp veröffentlichen. 1991 folgte mit Schädelbasislektion ein zweiter Band, in dem auf unkonventionelle Weise Naturwissenschaft, Großstadtlyrik und Philosophie miteinander verknüpft wurden. 1994 veröffentlichte Grünbein mit Falten und Fallen einen dritten Lyrikband, in dem die Forschung einen Bruch mit dem Frühwerk und eine geradezu klassizistische Wendung Grünbeins erkennen wollte.18 Dass Grünbein 1995 nach dem Peter-Huchel-Preis auch den Georg-Büchner-Preis erhielt, zeigt, dass er sich mit dem damals noch relativ schmalen Werk als Vertreter einer jungen Generation präsentieren konnte, die ihre Sozialisation in der DDR zwar nicht verleugnete, sich aber auch nie als DDR-Schriftsteller verstehen lassen musste. Grünbein erfüllte damit alle Kriterien einer neuen, quasi gesamtdeutschen Dichtung, die biographisch und politisch ein neues Bild der Gegenwart nach der Wende entwerfen konnte. In der Tradition der Büchner-Preisreden von Benn und Celan stehend nutzt Durs Grünbein seine Rede dazu, die eigene Dichtungstheorie in Auseinandersetzung mit Büchner zu konturieren. Dabei präsentiert Grünbein allerdings ein ganz eigenes Bild von Büchner: Nicht der Sozialrevolutionär steht im Mittelpunkt seiner Überlegungen, sondern der Medizinstudent, und mit ihm der Körper. Schon die ersten Sätze der Rede zeigen das:
18 Vgl. Hermann Korte: Habemus Poetam. Zum Konnex von Poesie und Wissen in Durs Grünbeins Gedichtsammlung ‚Nach den Satiren‘. In: H. K.: Zurückgekehrt in den Raum der Gedichte. Deutschsprachige Lyrik der 1990er Jahre. Münster 2004, S. 109–125.
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Was haben die Schädelnerven der Wirbeltiere mit Dichtung zu tun? Was sucht die vergleichende Anatomie im Monolog des dramatischen Helden? Welcher Weg führt von der Kiemenhöhle der Fische zur menschlichen Komödie, von rhythmisierter Prosa zur Ausstülpung des Gehirns in den Gesichtsnerv?19
Was Grünbein in seiner Rede versucht, ist ein Brückenschlag zwischen Literatur und Naturwissenschaft. Schädelnerven und Dichtung – seine Gedichte aus Schädelbasislektion finden in der Preisrede poetologisch ihre unmittelbare Fortsetzung. Was passiert, wenn Dichtung zum Naturalismus werde, fragt Grünbein im Hinblick auf den Namensträger des Preises, der ihm am 21. Oktober 1995 verliehen wurde. Auch bei Grünbein erscheint Büchner als ein Heros der Moderne, der Hegels These vom Ende der Kunst zu überwinden half, als ein Heros aber, der sich der Natur im wissenschaftlichen wie im sozialen Sinne zugewandt hat. Grünbein vertritt die These, dass Büchner „die Dichtung von der Zumutung befreit, hinwegspielen zu müssen gleichermaßen über das elende Reale wie über das reale Elend“ (Grünbein, S. 76). Dichtung nach dem Ende der Kunst kann nur eins sein, „Physiologie aufgegangen in Dichtung“ (Grünbein, S. 75). Die Folge ist eine Veränderung des Begriffes der Dichtung, die noch die eigene Gegenwart bestimmt: „zum Vorschein kam eine härtere Grammatik, ein kälterer Ton“, „die vom Herzen amputierte Intelligenz“ (Grünbein, S. 76). Grünbein präsentiert Büchner als einen coolen Helden der Moderne, um zugleich die eigene Coolness zu inszenieren. Er schlägt im Rekurs auf Brecht den Ton der neuen Sachlichkeit an, die „Verhaltenslehren der Kälte“, denen Helmut Lethen in seiner vielbeachteten Monographie aus dem Jahre 1994 nachgegangen ist.20 Findet Büchner im Naturstudium die Antworten auf das, was den Menschen definiert – dessen Affekte, den Stoff, der Geschichte ausmacht –, so bewegt er sich in einem Raum jenseits der idealistischen Vernunftprogramme. An deren Stelle tritt der Körper. So liest Grünbein Büchners naturwissenschaftlichen Aufsatz Über Schädelnerven „als eine Art literarisches Manifest“ (Grünbein, S. 78), als das Manifest einer Dichtung, die härter und konsequenter sein will als ihre historischen Vorbilder. Den Vorrang der Natur vor dem Ideal, den Grünbein diagnostiziert, überträgt er zugleich auf die Geschichte: „Was ist Geschichte, denkt man sie vom solcherart präzisierten Körper her?“ (Grünbein, S. 79) Natur und Körper werden zu dem Vektor, von dem aus Dichtung, Geschichte und Wissenschaft gedacht werden. Die Physiologie wird so zum Grund einer neuen Ethik, die die Religion
19 Durs Grünbein: Den Körper zerbrechen, in: D. G.: Galilei vermißt Dantes Hölle. Aufsätze. Frankfurt/M. 1996, S. 75–86, hier S. 75; im Folgenden Seitenzahlen im Text in Klammern. 20 Vgl. Helmut Lethen: Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen. Frankfurt/M. 1994.
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ersetzt: „Hier ist ein Dichter, der seine Prinzipien der Physiologie abgewinnt wie andere vor ihm der Religion oder der Ethik“ (ebd.). Vor diesem Hintergrund wagt Grünbein die Rückführung der Dramen Büchners auf den tragenden Grund der Physiologie: „Die neuen, dramatischen Antriebskräfte erscheinen im Licht medizinischer Mikroskopie, es sind Erkundungsgänge ins Vegetative, Fallstudien am lebenden Objekt und en détail“ (Grünbein, S. 81). Die Arbeit an der Geschichte in Dantons Tod, Büchners epochemachenden Umgang mit den Quellen, versteht Grünbein geradezu als einen Akt der Transplantation, der sich fast umstandslos auf seinen Umgang mit der Geschichte überträgt: Im Zeichen der Medizin fungieren die geschichtlichen Quellen, die Büchner in seine Stücke eingearbeitet hat, wie „Transplantate“ im Dramentext. Damit erwächst Grünbein ein neuer Begriff von Literatur jenseits der Aufklärung: „[D]ie Schaubude als moralische Anstalt ist geschlossen, eröffnet ist das Theater der Anatomie“ (Grünbein, S. 82). Büchner steht für ein Ende des Humanismus ein, den der alte Goethe verkörpert, der in Grünbeins Darstellung ohnmächtig Schillers Schädel in der Hand hält. Das Ende der Geschichte und das Ende des Humanismus sind die zeitgemäßen Stichworte Grünbeins für Büchners revolutionären Akt. Vor diesem Hintergrund verknüpft auch Grünbein seine Einsicht in die Physiologie als Grund der Büchner’schen Dichtung mit Reflexionen zum Ort der Dichtung in der eigenen Gegenwart. Er erinnert sich in einer autobiographischen Reminiszenz an den 7. Oktober 1989, an die Wendezeit als eine historische Zäsur, die im Rückblick wie ein Spiel mit den an Macht verlierenden Autoritäten erscheint. Grünbein, erschöpft von der Euphorie der vergangenen Tage, sucht Schutz im Schatten eines russischen Panzers, dessen Kanone in Richtung Alexanderplatz zeigt. Konsequent macht er den eigenen Körper zum Träger des Geschehens:
Er hatte genug von alldem, genug von den Straßen breit wie Landebahnen, von Friedensplätzen und Todesstreifen, genug von Morgenappell und windschiefen Plattenbauten, von Sicherheitswahn und urbaner Monotonie, genug der konditionierten Regungen und der einfältigen Sprachen, endlich genug dieser langen sozialistischen Dämmerung, der Lethargie einer ganzen Landschaft, in die er durch Zufall hineingeraten war wie in eine riesige Falle (Grünbein, S. 85).
Der Wechsel vom erinnernden Ich zum personalen Erzähler zeigt, dass das Bewusstsein akzeptiert, sich dem Körper zu überantworten. Grünbein präsentiert ein erschöpftes Selbst,21 das, wie die komischen Helden Becketts und Kafkas, nichts sucht als den Schlaf.
21 Vgl. Alain Ehrenberg: Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart. Frankfurt/M. 2004.
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Es war der Körper, der sich hier, vor allen Worten, wie in der Anwandlung des Kleinkinds, seiner Erschöpfung hingeben wollte: etwas, das länger ausgeharrt hatte, beklemmender eingezwängt als die immerfort fluchtbereiten Gedanken. Es war, als hätte ich, im Rücken den Panzer, dieses eine Mal die Geschichte verschlafen wollen, minutenlang, bevor alles in Fahrt kam, den Körper vergessend in einem traumlosen Schlaf (Grünbein, S. 85).
Erschöpft ist das Selbst von der Monotonie des sozialistischen Alltags, die Grünbein schon in seinen ersten Gedichten aus Grauzone morgens in kalten PolaroidBildern festgehalten hatte. Die Sprache, so Grünbein, findet keinen Grund mehr für Beschönigungen. Den Körper zerlegen bedeutet, eine Anatomie des Selbst und der Gesellschaft vorzunehmen, die vor nichts haltmacht. Aus diesem Geist heraus hat Büchner, so Grünbein, die Gesellschaft zu korrigieren versucht. Vor diesem Hintergrund sucht Grünbein abschließend den Schulterschluss mit dem großen Vorbild: „Büchners Sterbealter kann mir kaum Trost sein und noch viel weniger Alibi. An ihn denkend, sehe ich keinen meiner sonstigen Ahnen, ich sehe die einzigartige meteorhafte Erscheinung: den jungen Dichter als Sphinx“ (Grünbein, S. 86). Als eine meteorhafte Erscheinung hatte Goethe seinen Jugendfreund Lenz sehen wollen, Büchners großes Vorbild. Grünbein greift diese Konstellation auf, um mit dem Porträt des jungen Dichters als Sphinx zugleich ein Autoporträt zu liefern. Dem Rätsel Büchners stellt er mit der Sphinx die eigene Maske gegenüber. Grünbeins Büchner-Preisrede präsentiert sich in einem ganz anderen Geist, als Hilbig das in seinem Abriss der Kritik getan hatte: Auf die Kritik am Ende der Kunst und der Kritik antwortet er mit einer sorgfältig inszenierten Coolness, die einen neuen Habitus verkörpert, der der Gegenwart angemessener zu sein scheint.
Schwellenzeit 1995: Von der alten zur neuen Kritik Was bleibt also von der Poetik 1995? Wie die Lektoren und die Autoren zeigen, ist die Krise der Literatur das entscheidende Stichwort der Zeit. In der Selbstverortung erscheint das Jahr 1995 als eine Zeit der Postmoderne, in der sich das Ende des Menschen und der Geschichte mit dem der Literatur verbindet. Autoren wie Hilbig und Grünbein reagieren sensibel auf diese Krise, aber mit unterschiedlichen Gewichtungen. Hilbig beruft sich in Abriss der Kritik auf die alte Allianz von kritischer Theorie und Aufklärung, um der Gegenwart ein schlechtes Zeugnis auszustellen. Auf bewährte Weise bezieht er sich auf die Idee der Autonomie der Literatur zurück, um sich gegen Fremdbestimmungsprozesse durch den Literaturbetrieb zu wehren. Ganz anders Grünbein: Er präsentiert ein neues, feuilleton- und medienkompatibles Bild des gesamtdeutschen Schriftstellers, der der alten Allianz von Kritik und Geist entsagt und sich dem Körper zuwendet. Es ist unschwer zu
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erkennen, dass Grünbein im Blick auf die Zukunft damit die besseren Karten in der Hand hält. Das Jahr 1995 erweist sich vor dem Hintergrund dieser poetologischen Texte als ein Jahr der Transition, der Schwellen und der Übergänge: von Hilbigs Rettung der Kritik im Lichte der Aufklärung bis zu Grünbeins Geschichtspessimismus, der mit der Physiologie ein neues Paradigma ins Spiel bringt, das zudem das Ende des Humanismus bedeuten soll. Ein Wendejahr ist 1995 als Umschlagpunkt von alter, aufklärerischer, geisteswissenschaftlicher Kritik zu einer neuen, naturwissenschaftlich fundierten Kritik. Poetiken sind in diesem Sinne als Selbstlegitimationsstrategien von Autoren zu verstehen, die indes auf gesellschaftliche Umbruchszeiten reagieren, wobei deutlich wird, dass die aufklärerische Tradition von Hilbig selbst in der Kritik steht und dieser in gewisser Weise eine Außenseiterposition einnimmt, während Grünbein über den Brückenschlag von Literatur und Naturwissenschaft ein erfolgreiches Modell kreiert, das seinen Ausdruck nicht zuletzt in den zahlreichen Ehrungen findet, die er gerade 1995 erhalten hat. Was die poetologischen Aufsätze von Hilbig und Grünbein zeigen, ist somit nicht das in den Feuilletons vielbeschworene Ende der Literatur, sondern es sind die letzten Atemzüge einer Kritik, die sich aus dem Geiste des Politischen speist, und die Genese einer neuen Kritik, die nichts mehr kennt als Maskenspiele und Körperinszenierungen. An die Stelle der Verteidigung der Gegenwartsliteratur gegen ihre Verächter tritt ein neuer, selbstbewusster, in gewisser Weise cooler Ton, der sich in manchen Schattierungen bis heute erhalten hat.
Literaturverzeichnis Primärliteratur Grünbein, Durs: Den Körper zerbrechen. In: D. G.: Galilei vermißt Dantes Hölle. Aufsätze. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1996, S. 75–86. Hilbig, Wolfgang: Abriss der Kritik. Frankfurter Poetikvorlesungen. Frankfurt/M.: Fischer 1995. Müller, Herta: Hunger und Seide. Essays. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1995. Wittstock, Uwe: Leselust. Wie unterhaltsam ist die neue deutsche Literatur? Ein Essay. München: Luchterhand 1995.
Sekundärliteratur Döring, Christian: Vorwort. In: C. D. (Hg.): Deutschsprachige Gegenwartsliteratur. Wider ihre Verächter. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1995, S. VIII–XIII. Ehrenberg, Alain: Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2004.
Kritik und Krise
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Hörisch, Jochen: Verdienst und Vergehen der Gegenwartsliteratur. In: Christian Döring (Hg.): Deutschsprachige Gegenwartsliteratur. Wider ihre Verächter. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1995, S. 30–48. Korte, Hermann: Habemus Poetam. Zum Konnex von Poesie und Wissen in Durs Grünbeins Gedichtsammlung ‚Nach den Satiren‘. In: H. K.: Zurückgekehrt in den Raum der Gedichte. Deutschsprachige Lyrik der 1990er Jahre. Münster: LIT Verlag 2004, S. 109–125. Lethen, Helmut: Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen. Frankfurt/ M.: Suhrkamp 1994. Lützeler, Paul Michael (Hg.): Poetik der Autoren. Beiträge zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Frankfurt/M.: Fischer 1994. Ratjen, Friedhelm: Crisis? What Crisis? In: Christian Döring (Hg.): Deutschsprachige Gegenwartsliteratur. Wider ihre Verächter. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1995, S. 9–17.
Michael Peter Hehl
Literatur und Pop im Jahr 1995 Einleitung Der Roman [→] Faserland (1995) von Christian Kracht ist in der neuesten deutschen Literaturgeschichte untrennbar mit dem Begriff ‚Popliteratur‘ verknüpft. Häufig wird der Text als ‚Gründungsdokument‘ einer neuen Popliteratur der 1990er Jahre gehandelt,1 was die im vorliegenden Band verhandelte These vom ‚zäsuralen Charakter‘ des Literaturjahres 1995 fraglos untermauert. Einigkeit besteht in der literaturwissenschaftlichen Forschung auch darüber, dass sich die Popliteratur der 1990er Jahre auf unterschiedlichen Betrachtungsebenen von dem unterscheidet, was seit den 1970er Jahren, im Anschluss an Rolf Dieter Brinkmann, als Popliteratur gegolten hat. Nicht nur ist, so gesehen, in der Mitte der 1990er Jahre die Popliteratur in den Fokus des medialen Interesses gerückt. Auch innerhalb des Popliteraturdiskurses selbst machen sich spätestens Mitte der 1990er Jahre Veränderungen bemerkbar.2 Seit Ende der 1990er Jahre die ‚Neue Deutsche Popliteratur‘ zum literaturwissenschaftlichen Gegenstand avanciert ist, bildet der Begriff nicht nur im Popjournalismus und der Literaturkritik, sondern auch innerhalb der Germanistik ein semantisches Feld, auf dem mit unterschiedlichen Sinnangeboten um Deutungshoheit gerungen wird. Das Auftreten einer ‚Neuen Deutschen Popliteratur‘ in den 1990er Jahren soll im Folgenden in vier Schritten erörtert werden: (1) Zunächst wird die These über die Gründungsfunktion von Faserland für die Popliteratur der 1990er Jahre im
1 Vgl. Moritz Baßler: Der deutsche Poproman. Die neuen Archivisten. München 2002, S. 211; Thomas Ernst: Popliteratur. Berlin 2001, S. 72; sowie meinen Werkartikel zu Faserland im vorliegenden Band. 2 Zur Geschichte des Begriffs ‚Popliteratur‘ vgl. Thomas Ernst: Literatur und Subversion. Politisches Schreiben in der Gegenwart. Bielefeld 2013, S. 185ff.; sowie insbesondere Sascha Seiler: „Das einfache, wahre Abschreiben der Welt.“ Pop-Diskurse in der deutschen Literatur nach 1960. Göttingen 2006. Seiler schlägt vor, im Zusammenhang mit dem Wandel des Popliteraturdiskurses zwischen einer ‚Pop-Literatur‘ der 1960er bis 1970er Jahre und einer neueren ‚Popliteratur‘ – ohne Bindestrich – zu unterscheiden (vgl. ebd., S. 30). Im Folgenden orientiere ich mich zum Zwecke der Unterscheidung an Frank Degler und Ute Paukolat, die für die Popliteratur seit Mitte der 1990er Jahren den Begriff „Neue Deutsche Popliteratur“ vorgeschlagen haben, möchte aber dennoch an der These einer diskursiven Kontinuität von ‚Popliteratur im Allgemeinen‘ seit den 1960er Jahren festhalten. Vgl. Frank Degler, Ute Paukolat: Neue Deutsche Popliteratur. Paderborn 2008. Zum Begriff ‚Pop‘ vgl. Thomas Hecken: Pop. Geschichte eines Konzepts 1955–2009. Bielefeld 2009.
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Zusammenhang mit soziokulturellen Transformationen seit den 1960er Jahren erörtert. (2) Anschließend werden unterschiedliche literaturwissenschaftliche Beschreibungsmodelle für Popliteratur, wie sie in den Arbeiten der letzten fünfzehn Jahre auftauchen, zusammengefasst und systematisiert. Hierbei steht die Frage im Vordergrund, welche begrifflichen Unterscheidungen für die Konstitution des Gegenstandes ‚Neue Deutsche Popliteratur‘ relevant sind. (3) Anknüpfend an den ersten und zweiten Schritt wird die Popliteratur seit Mitte der 1990er Jahre dann als Konstellation milieuspezifischer Codes und Praktiken beschrieben, die (4) nicht zuletzt als Ergebnis struktureller Veränderungen des popkulturellen Feldes gelten kann, welche das Jahr 1995 auch popgeschichtlich als Schwellenoder Grenzphänomen kennzeichnen.
Zum Innovationscharakter von Faserland Wenn sich die Struktur eines literarischen Feldes verändert, gehört es zu den typischen Reaktionen der Literaturgeschichtsschreibung, „ein bestimmtes innerliterarisches Ereignis zu benennen, in dem sich das noch diffuse Neue symbolisch verdichte[t]“.3 Im hier thematisierten literaturhistorischen Zusammenhang kann dem Erscheinen von Christian Krachts Roman Faserland (1995) die Funktion einer solchen symbolischen Verdichtung zugesprochen werden. Martin Hielscher, der Kracht für den Kiepenheuer & Witsch-Verlag lektoral betreute, konstatiert im Rückblick nicht nur, dass Faserland ein beträchtliches literaturhistorisches Innovationspotenzial freigesetzt habe, welches die Literaturlandschaft spürbar veränderte. Kracht repräsentiere dabei auch eine „neue Generation von Autoren, […] die sich vom herrschenden Diskurs nicht mehr prägen oder einschüchtern“4 lasse. Der Bourdieu’schen These folgend, dass die Struktur des Verlagswesens und die Struktur des literarischen Feldes starke Homologien aufweisen,5 muss die Einschätzung Hielschers – im Hinblick auf seine Funktion als Lektor des Kiepen-
3 So Wilfried Barner im Hinblick auf die Symbolfunktion von Ilse Aichingers Lesung der Spiegelgeschichte auf der Frühjahrstagung der Gruppe 47 im Jahr 1952. Vgl. Wilfried Barner: Zwischen dem Wendejahr und dem Durchbruch: Westliche Erzählprosa in den fünfziger Jahren. In: W. B. (Hg.): Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart. 2. Aufl. München 2006, S. 177. 4 Martin Hielscher: Aus dem Regen zurück. Die neue Lebendigkeit der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. In: Forum Deutsch 10/1 (2001), S. 39–42, hier S. 41. 5 Vgl. Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Frankfurt/M. 1999, S. 267.
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heuer & Witsch-Verlags – relativiert werden. Sie hat eher den Charakter einer positionellen Selbstbeschreibung, die aber trotz ihrer perspektivischen Brechung eine Veränderung der Konstitution des literarischen Feldes um 1995 deutlich werden lässt: Seit Faserland ticken die Uhren anders. Autorinnen und Autoren wie Elke Naters, Alexa Hennig von Lange, Benjamin von Stuckrad-Barre, Thorsten Krämer, aber auch Silvia Szymanski und Sibylle Berg, Sven Lager und Tobias Hülswitt sind ohne diesen Roman nicht zu denken oder ohne das Klima, das Faserland geschaffen hat. Selten hat ein Debütroman so kontroverse, teilweise haßerfüllte Reaktionen hervorgerufen, selten ist ein Text so schlecht und falsch, so voller Ressentiment und ideologischer Abwehr verworfen worden, während er gleichzeitig sehr schnell zu einem Kultbuch wurde, das aus der Literaturgeschichte nicht mehr wegzudenken sein wird.6
Der ‚herrschende Diskurs‘ werde laut Hielscher bis zur Mitte der 90er Jahre durch Autoren repräsentiert, die – wie er zuspitzend formuliert – einer „ins Reaktionäre gewendeten Interpretation der Ästhetik Adornos“7 anhängen und sich durch ein hohes Maß an „Verdammung aller kulinarischen Elemente der Literatur“8 auszeichnen. Namentlich werden Botho Strauß und Peter Handke genannt. Diesem herrschenden Diskurs stünden so unterschiedliche Autoren wie Uwe Timm, Robert Menasse, Matthias Politycki oder Dieter Wellershoff gegenüber, die ein offeneres Verhältnis gegenüber Formen des stringenten und sinnlich-anregenden Erzählens kultivierten und auch bei eher ‚artistischen‘ Texten eine „Art realistischer Erdung“9 beibehielten. Autoren, die bereits vor 1995 für eine Lust am Erzählen einstanden und damit ‚massenkompatibler‘ als andere waren, seien „vom Wertekanon der Literatur latent abqualifiziert“10 worden. Dies beginne sich spätestens seit Faserland zugunsten eines pluralistischen Feldes zu ändern, in dem einer Nähe zur Populärkultur und Formen realistischen Erzählens mehr Anerkennung zuteilwerde. Dass die ehemals ‚repräsentative‘ Literatur aber nicht verschwindet, kennzeichnet um 1995 eine ‚dyschrone‘ Konstellation, in der nicht nur verschiedene Generationen, sondern vor allem unterschiedliche literarische Milieus nebeneinander existieren.11 Um beim Bild Hielschers zu bleiben, könnte man sagen,
6 Hielscher: Aus dem Regen zurück. S. 41. Herv. i. Orig. 7 Ebd., S. 39. 8 Ebd., S. 39. 9 Ebd., S. 41. 10 Ebd., S. 41. 11 Vgl. Klaus-Michael Bogdal: Klimawechsel. Eine kleine Meteorologie der Gegenwartsliteratur. In: Andreas Erb (Hg.): Baustelle Gegenwartsliteratur. Die neunziger Jahre. Opladen 1998, S. 9–31.
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dass die Uhren seit Faserland nicht nur anders ticken, sondern auch ihren jeweils eigenen, milieuspezifischen Takt entwickeln, der sich nicht mehr nach einer hegemonial-repräsentativen Literatur mit hochkulturellem Selbstverständnis richtet. Hielschers Blick auf ‚Faserland und die Folgen‘ ist in seiner feldsoziologischen Standortgebundenheit gleichermaßen Beobachtung und Ausdruck eines Schwindens der Legitimität bürgerlich-elitärer Kulturhegemonie, das auch in der Kultursoziologie seit Mitte der 1990er Jahre diskutiert wird.12 Die Anfänge dieser soziokulturellen Strukturveränderung liegen, wie Klaus-Michael Bogdal gezeigt hat, in den 1960er und 1970er Jahren.13 Erst in diesem Kontext kann Faserland als symbolische Markierung der „Delegitimation einer gesellschaftlich relevanten kritisch-literarischen Öffentlichkeit aufgrund sozialer und politischer Veränderungen“14 funktionieren, die gewissermaßen das ‚historische Apriori‘ (Foucault) einer breitenwirksamen ‚Neuen Deutschen Popliteratur‘ darstellt. Dass nach 1995 eine neue, selbstbewusste Popliteratur entsteht, kann somit als Ausdruck soziokultureller Prozesse gelesen werden, die bereits in den späten 1960er Jahren beginnen. Literaturhistorisch drängen sich hierbei insbesondere zwei Fragen auf: 1. Welche ästhetisch-poetologischen Eigenschaften kennzeichnen die Popliteratur der 1990er Jahre im Unterschied zu früheren Formen der Popliteratur? 2. Wie lässt sich der Zusammenhang zwischen den ästhetisch-poetologischen Aspekten des ‚Phänomens Popliteratur‘ um 1995 und den oben genannten soziokulturellen Transformationsbewegungen beschreiben?
Popliterarische Ästhetik vor und nach Faserland Bis in die 1990er Jahre hinein war der Begriff ‚Popliteratur‘ für den deutschsprachigen Bereich vor allem mit dem Namen Rolf Dieter Brinkmann verbunden. Brinkmann hat in den späten 1960er Jahren damit begonnen, sich an der amerikanischen ‚Beat Generation‘ sowie am Begriff einer ‚amerikanisch-postmodernen Literatur‘ im Sinne Leslie A. Fiedlers zu orientieren.15 Eine der prägnantesten
12 Vgl. etwa Kaspar Maase: Jenseits der Massenkultur. Ein Vorschlag, populäre Kultur als repräsentative Kultur zu lesen. In: Udo Göttlich, Winfried Gebhardt, Clemens Albrecht (Hg.): Populäre Kultur als repräsentative Kultur. Die Herausforderung der Cultural Studies. Köln 2002, S. 79–104. 13 Vgl. Bogdal: Klimawechsel, S. 11ff. 14 Ernst: Literatur und Subversion, S. 43. 15 Vgl. Seiler: Pop-Diskurse, S. 140ff.; sowie Eckhard Schumacher: Gerade Eben Jetzt. Schreibweisen der Gegenwart. Frankfurt/M. 2003, S. 58ff.
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Eigenschaften von Popliteratur im Stile Brinkmanns ist die Ausrichtung der narrativen oder lyrischen Stimme auf einen emphatischen Begriff von Gegenwart.16 Bei Brinkmann geht es um eine Archivierung des Gegenwärtigen, um medial grenzüberschreitendes Schreiben zwischen autobiografischem Text, Fotografie und Collage. Die in der Literatur festgehaltene Lebenswelt schließt den popkulturellen Kosmos mit ein, zieht keine Grenze zwischen dem Trivialen und dem Seriösen, zwischen dem Banalen und dem Sublimen. Aber darin erschöpft sich die Affirmation des Gegebenen bei Brinkmann nicht. Ein zentrales Movens seines Textes ist das Begehren des Subjekts, aus gesellschaftlich vermittelten Formen von Identität auszubrechen.17 Die Affirmation richtet sich dabei am Ende gegen das sprechende Subjekt selbst, was – ähnlich einer ‚Aphanisis‘ im Sinne Jacques Lacans – 18 bis zur Ich-Auflösung getrieben wird. Ausgehend von Brinkmanns produktiver Rezeption der amerikanischen Gegenkultur der 1950er und 1960er Jahre – insbesondere Frank O’Hara bildet hier einen Anschlusspunkt – lässt sich eine Geschichte deutschsprachiger Popliteratur bis in die Gegenwart hinein nachverfolgen, wenngleich die ästhetisch-poetologischen Eigenschaften der unter diesem Begriff bislang rubrizierten Werke sehr heterogen sind.19 Zwischen den späten 1960er Jahren und dem Jahr 1995 zählen hierzu etwa so unterschiedliche Texte wie Peter O. Chotjewitz’ Die Insel (1968), Hubert Fichtes Die Palette (1968), Peter Handkes Die Innenwelt der Außenwelt der
16 Vgl. Schumacher: Gerade Eben Jetzt, S. 58ff. 17 In diesem Zusammenhang sei hier – unter Verzicht auf eine ausführliche Herleitung – nur auf die 1987 aus dem Nachlass herausgegebenen Tagebuchaufzeichnungen Brinkmanns verwiesen, in denen dieses Movens deutlich herauszulesen ist. Vgl. Rolf Dieter Brinkmann: Erkundungen für die Präzisierung des Gefühls für einen Aufstand: Reise, Zeit, Magazin (Tagebuch). Reinbek b. Hamburg 1987, S. 242ff. 18 Vgl. Jacques Lacan: Das Seminar. Buch 11. Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. Berlin 1987, S. 218f. Für den Hinweis danke ich Vid Stevanovic. 19 Vgl. Kathrin Ackermann, Stefan Greif: Pop im Literaturbetrieb. Von den sechziger Jahren bis heute. In: Heinz Ludwig Arnold, Jörgen Schäfer (Hg.): Pop-Literatur. Text + Kritik Sonderband. München 2003, S. 55–68; Seiler: Pop-Diskurse; sowie Ernst: Popliteratur. Einen ambitionierten Kanonisierungsversuch unternehmen Kerstin Gleba und Eckhard Schumacher mit der Anthologie Pop seit 1964 (Köln 2007). Nicht selten wird die Geschichte der deutschen Popliteratur als ‚Verfallsgeschichte‘ erzählt, die mit Brinkmann einsetzt und ungefähr mit Benjamin Leberts Crazy (1999) einen Tiefpunkt erreicht. Vgl. hierzu etwa Dirk Frank: „Literatur aus reichen Ländern.“ Ein Rückblick auf die Popliteratur der 1990er Jahre. In: Olaf Grabienski, Till Huber, Jan-Noel Thon (Hg.): Poetik der Oberfläche. Die deutschsprachige Popliteratur der 1990er Jahre. Berlin 2011, S. 27–52, hier S. 29ff.; sowie Marcus S. Kleiner: Zur Poetik der Pop-Literatur (Teil 3: Schreibweisen der Gegenwart). In: pop-zeitschrift.de, April 2013, [URL =] http://www.pop-zeitschrift.de/wpcontent/uploads/2013/04/aufsatz-kleiner-popliteratur-teil-drei.pdf; Abruf: 12.6.2014.
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Innenwelt (1969), Elfriede Jelineks wir sind lockvögel baby! (1970), Uwe Brandners Mutanten-Milieu (1971), Wolf Wondratscheks Chucks Zimmer (1974), Rainald Goetz’ Irre (1983), Joachim Lottmanns Mai Juni Juli (1986) oder Franz Doblers Tollwut (1991) – noch ganz zu schweigen von den vielen inzwischen weitgehend vergessenen, nur in Kleinstauflagen erschienenen Autoren aus dem Bereich subkultureller Literaturproduktion.20 Angesichts dieser Heterogenität verwundert es nicht, dass sich in den literaturwissenschaftlichen Arbeiten der letzten Jahre eine Vielzahl an Kriterien herauskristallisiert hat, die für eine Bestimmung von Popliteratur herangezogen werden.21 Als ‚starke Kriterien‘ – die besonders häufig genannt werden und eine Art ‚Minimalkonsens‘ darstellen – fungieren (1) die Archivierung und Inventarisierung popkulturellen Wissens sowie die Neucodierung von „Pop-Signifikanten“,22 (2) eine quasi-ethnografische Rekonstruktion von Distinktionsmechanismen in popkulturell affinen sozialen Milieus sowie (3) der Einbezug von markenästhetischen Zeichenzusammenhängen in die Literatur.23 Mit besonderem Blick auf Brinkmann, Rainald Goetz und Andreas Neumeister wird häufig (4) die poetologische Ausrichtung des Schreibens auf Gegenwart und Präsenzeffekte angeführt.24 Weitere immer wieder genannte Kriterien sind (5) die Verwendung von subkulturell spezifischen und soziolektalen Sprachmustern, (6) die ästhetisch-poetologische Transformation von Medientechniken der Popkultur wie Sampling, Mixing oder Cuts in das Medium der Literatur,25 (7) der positive Bezug zu gegenkulturellen Strömungen des 20. Jahr
20 Vgl. hierzu v. a. Johannes Ullmaier: Von Acid nach Adlon und zurück. Eine Reise durch die deutschsprachige Popliteratur. Mainz 2006. 21 Eine Übersicht über die Forschung zum Begriff Popliteratur liefern Ernst: Literatur und Subversion, S. 185ff.; u. Seiler: Pop-Diskurse. Vgl. auch die Beiträge in Grabienski, Huber, Thon: Poetik der Oberfläche. Der hier präsentierte Kriterienkatalog erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern dient als Überblick zum Zwecke einer heuristischen Eingrenzung des in der Literaturwissenschaft produzierten ‚Forschungsgegenstands Popliteratur‘. 22 Jörgen Schäfer: Pop-Literatur. In: Ralf Schnell (Hg.): Gegenwartskultur. 130 Stichwörter. Stuttgart, Weimar 2006, S. 167f. 23 Vgl. Baßler: Pop-Roman; sowie Rolf Parr: Literatur als literarisches (Medien-)Leben. Biografisches Erzählen in der neuen deutschen ‚Pop‘-Literatur. In: Clemens Kammler, Thorsten Pflugmacher (Hg.): Deutschsprachige Gegenwartsliteratur seit 1989. Zwischenbilanzen – Analysen – Vermittlungsperspektiven. Heidelberg 2004, S. 183–200. 24 Vgl. Schumacher: Gerade Eben Jetzt. 25 Vgl. Gerald Fiebig: Jäger und Sampler. In: Testcard 7 (1999): Pop und Literatur, S. 232–239; sowie Günther A. Höfler: Zum Pop-Paradigma Sampling in der Literatur der 90er Jahre. Sampling als poetische Methode. In: Peter Wiesinger (Hg.): Zeitenwende – Die Germanistik auf dem Weg vom 20. ins 21. Jahrhundert. Akten des X. Internationalen Germanistenkongresses. Wien 2000. Bd. 7: Gegenwartsliteratur/Deutschsprachige Literatur in nicht-deutschsprachigen Kulturzusammenhängen. Bern u.a. 2002, S. 107–112.
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hunderts,26 (8) eine in der Popkultur oder den Massenmedien lokalisierbare Sprecherposition des Autorsubjekts,27 (9) eine implizite oder explizite Affirmation des ‚kulturindustriellen Warencharakters‘ des literarischen Textes, (10) die Thematisierung (post-)adoleszenter Lebenswelten von popkulturell sozialisierten Figuren28 sowie – nicht zuletzt – (11) eine an der Popkultur orientierte und auch textstrukturell sich manifestierende Aufführungspraxis.29 Zusammengenommen bilden diese Kriterien eine diskursive Matrix, vor deren Hintergrund in vielfältigen, kontrovers diskutierten Kombinationen seit etwa fünfzehn Jahren der ‚Forschungsgegenstand Popliteratur‘ produziert wird. Insofern ist Thomas Ernsts Vorschlag, ein literarischer Text sollte „nicht einfach als ‚Popliteratur‘ oder ‚keine Popliteratur‘ klassifiziert werden“,30 unbedingt zu begrüßen. Viel sinnvoller erscheint es, angesichts der kontroversen Bestimmungsversuche von Popliteratur, einen Text darauf hin zu untersuchen, mit „welche[n] Merkmale[n] er sich in den popliterarischen Diskurs einschreibt und welche Eigenschaften des Textes diese Zuordnung verweigern.“31 Als Kandidaten für eine Einschreibung in den Popliteraturdiskurs im Jahr 1995 fallen neben Christian Krachts Faserland vor allem Feridun Zaimoğlus [→] Kanak Sprak, Zé Do Rocks fom finde ferfeelt und Jürgen Ploogs Rückkehr ins Coca & Cola-Hinterland ins Auge. Nähme man das Jahr 1996 hinzu, wäre neben Franz Doblers Sprung aus den Wolken insbesondere die Anthologie Poetry!Slam! Texte der Pop-Fraktion von Andreas Neumeister und Marcel Hartges zu nennen. Von einem ‚Boom‘ der Popliteratur um das Jahr 1995 herum ließe sich mithin schwerlich reden. Der eigentliche Siegeszug der ‚Neuen Deutschen Popliteratur‘ beginnt mit einiger Verzögerung nach dem ‚Schwellenjahr 1995‘, und zwar ungefähr mit dem Erscheinen von Benjamin von Stuckrad-Barres Roman Soloalbum (1998). Während Feridun Zaimoğlu und Ze Do Roc zunächst weniger im Kontext von Popliteratur, sondern vielmehr als Stimmen einer minoritären, migrantischen Literatur rezipiert werden,32 und Jürgen Ploog fast ausschließlich in subkulturel-
26 Vgl. Ernst: Pop-Literatur; sowie Kleiner: Zur Poetik der Pop-Literatur. 27 Vgl. etwa Degler, Paukolat: Neue Deutsche Popliteratur, S. 15ff.; sowie Dirk Niefanger: Provokative Posen. Zur Autorinszenierung in der deutschen Popliteratur. In: Johannes G. Pankau (Hg.): Pop, Pop, Populär. Popliteratur und Jugendkultur. Oldenburg 2004, S. 85–101. 28 Vgl. Heinrich Kaulen: Jugendliche Lebenswelten im Spiegel der deutschsprachigen Popliteratur seit den 1990er Jahren. In: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 55/2 (2008), S. 120–142. 29 Hierzu wäre insbesondere der Performancecharakter von ‚Slampoetry‘ zu zählen. Vgl. Kleiner: Zur Poetik der Pop-Literatur, S. 4ff. 30 Ernst: Literatur und Subversion, S. 202. 31 Ebd. 32 Vgl. den Beitrag zu Zaimoğlus Kanak Sprak von Christian Steltz in diesem Band.
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len Kreisen als ‚Cut-Up-Autor‘ bekannt ist,33 stellt der auch kommerziell erfolgreiche Roman Faserland eine Anschlussstelle für diejenigen Autoren dar, die den Popliteraturdiskurs der zweiten Hälfte der 1990er Jahre dominieren. Etwa zeitgleich mit dem Erfolg von Autoren wie Benjamin von Stuckrad-Barre, Joachim Bessing, Alexa Hennig von Lange, Elke Naters und Benjamin Lebert wird allerdings auch der Niedergang der gegenkulturell affinen Popliteratur in der Tradition Brinkmanns beklagt.34 Dies kann als Reproduktion von Distinktionskämpfen gelten, die so alt sind wie die Popkultur selbst: In den späten 1990er Jahren ist einerseits die Rede von ‚KiWi-Pop‘ als eine Art populärem Low-Brow-Phänomen (Lebert, Stuckrad-Barre, Illies), andererseits gibt es mit Rainald Goetz, Andreas Neumeister und Thomas Meinecke Pop-Autoren, die in hohem Maße reflexive Texte produzieren und dabei durchaus auch an gegenkulturelle Traditionen des frühen Popliteraturdiskurses anknüpfen.35 Mit dem Begriff ‚Suhrkamp-Pop‘ (Goetz, Neumeister, Meinecke) wird innerhalb des popliterarischen Feldes dann genau die Distinktion reproduziert, die bereits seit Susan Sontags Notes On ‚Camp‘ (1964) innerhalb der Popkultur zur Unterscheidung zwischen ‚avanciertem Pop‘ und inferiorem ‚Mainstreampop‘ praktiziert wird. Und schon bei dieser Unterscheidung handelt es sich genau genommen um ein ‚Re-Entry‘ der Distinktion zwischen Hochkultur und Populärkultur auf das Terrain des Populären, die bereits für Adornos und Horkheimers Kritik an der Kulturindustrie konstitutiv war.36 Was als Entstehung einer ‚Neuen Deutschen Popliteratur‘ erscheint, ließe sich somit als Ausdifferenzierung und Neuordnung des Popliteraturdiskurses rekonstruieren, die mit grundlegenden Veränderungen des literarischen Feldes in den 1990er Jahren einhergehen. Als umkämpfte Distinktionslinie fungiert dabei die (fehlende) Anknüpfung an gegenkulturelle Strömungen des 20. Jahrhunderts,37 die mal als (fehlendes) ‚politisches Engagement‘, mal als (fehlender) ‚subversiver Impetus‘ oder (fehlendes) ‚gegenkulturelles Traditionsbewusstsein‘ semantisiert wird, je nachdem von welcher Position aus man die eine oder andere Ausprägung der ‚Neuen Deutschen Popliteratur‘ abqualifiziert oder goutiert. Was Autoren wie Alexa Hennig von Lange und Benjamin von Stuckrad-Barre unweigerlich an den Popliteraturdiskurs bindet, ist hingegen die Anknüpfung an milieuspezifische Codes und Praktiken einer postadoleszenten, popkulturell so
33 Vgl. Enno Stahl: Trash, Social Beat und Slam Poetry. Eine Begriffsentwirrung. In: E. S. (Hg.): Diskurspogo. Über Literatur und Gesellschaft. Berlin 2013, S. 136–160, hier S. 152. 34 Vgl. Frank: „Literatur aus reichen Ländern“, S. 29ff. 35 Vgl. Kleiner: Zur Poetik der Pop-Literatur. 36 Vgl. Diedrich Diederichsen: Über Pop-Musik. Köln 2014, S. XIII. 37 Vgl. etwa Seiler: Pop-Diskurse, S. 274f.
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zialisierten urbanen Bohéme des späten 20. Jahrhunderts, die in der Literatur bislang nur am Rande auftauchte. So ist auch zu erklären, wieso etwa Judith Hermanns Erzählband Sommerhaus, später (1998) mancherorts als Popliteratur gehandelt wurde, obwohl auf ihn – abgesehen von einem Tom-Waits-Zitat – kaum eines der oben genannten ‚Pop-Kriterien‘ zutrifft und auch die Autorin selbst dieser Zuordnung widersprach.38
Neue Deutsche Popliteratur, New Wave und urbaner Lifestyle Die 1980er Jahre können kultursoziologisch als eine Zeit gelten, in welcher der in westlichen Industrienationen seit den 1920er Jahren hegemoniale Subjekttypus des ‚Angestellten‘ abgelöst wird von einem Subjekttypus, den Andreas Reckwitz als ‚konsumtorisches Kreativsubjekt‘ bezeichnet und historisch-systematisch rekonstruiert hat.39 Die Diskurse, Codes und Praktiken, die bei der (Re-)Produktion des ‚Kreativsubjekts‘ in den 1990er Jahren auftauchen, speisen sich partiell und selektiv auch aus den gegenkulturellen Strömungen der 1960er und 1970er Jahre.40 Ein ‚anti-hegemoniales‘ Schreiben, das in den 1990er Jahren an die Protestbewegungen um 1968 anknüpft, sieht sich damit notwendigerweise mit der Aporie konfrontiert, dass der Gegenstand der Kritik – der post-fordistische Kapitalismus und die dazugehörige hegemoniale Kultur – 41 viele bewährte Formen der Kritik am Kapitalismus bereits konfliktfrei in sein Programm integriert hat. Dass
38 Vgl. Wolfgang Höbel: Das gute, beschissene Leben. Junge Autoren öffnen Plattenschränke und Diskothekentüren, um vom Zustand ihrer Generation zu erzählen. Die Berlinerin Judith Hermann schafft es – ganz ohne popmoderne Prahlerei. In: Der Spiegel (1998), H. 50, S. 246–249. 39 Vgl. Andreas Reckwitz: Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne. Weilerswist 2006, S. 441ff.; sowie A. R.: Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung. Berlin 2012. 40 Vgl. Reckwitz: Das hybride Subjekt, S. 441ff. 41 Vgl. etwa Richard Sennett: Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus. Berlin 2006 [1998]; Luc Boltanski, Éve Chiapello: Der neue Geist des Kapitalismus. Konstanz 2003; sowie Ulrich Bröckling: Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform. Frankfurt/M. 2007. Diese methodisch und theoretisch sehr unterschiedlich angelegten Arbeiten verbindet, dass sie sich kritisch mit den Transformationen westlicher Industrienationen nach 1968 aus einer kulturtheoretisch informierten Position auseinandersetzen und konstatieren, dass ehemals ‚anti-hegemonial‘ konnotierte Codes und Praktiken spätestens seit den 1990er Jahren zum Inventar einer hegemonialen, post-fordistischen Kultur gehören.
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damit eine ‚Kritik der Kritik‘ notwendig wird,42 ist in den 1990er Jahren wiederum nichts Neues. Nicht nur hat es – zunächst mit Punk, dann mit New Wave – im Diskursfeld des Pop bereits kontroverse Auseinandersetzungen über das ‚Erbe der Gegenkulturen‘ gegeben.43 Auch in der deutschsprachigen Literatur gab es mit Rolf Dieter Brinkmann und Gisela Elsner Autoren, die sich der Aporien antihegemonialer sozialer Praktiken bereits Anfang der 1970er Jahre durchaus bewusst waren.44 Dadurch wird es auch möglich, dem 1975 verstorbenen Brinkmann, wie an einigen Stellen geschehen, eine gewisse Nähe zur Ästhetik des Punk zu attestieren, den er selbst nicht mehr miterleben konnte.45 Nur sehr wenige Rezensenten von Faserland haben 1995 erkannt, dass der Gestus des impliziten Erzählers, der seinen nur mäßig gebildeten Ich-Erzähler durch das wiedervereinigte ‚Post-1968-Deutschland‘ der frühen 1990er Jahre reisen lässt, eine Anknüpfung an Schreibweisen des ‚New Journalism‘ vorführt und dabei aber zugleich im Geiste des New Wave ironisiert.46 Im Anschluss an diese Beobachtung ließe sich zwar durchaus kritisch hinterfragen, ob dieser für den Pop der 1980er Jahre typische, vielfach ironisch-gebrochene Bezug zur gegenkulturellen Tradition als ‚Kritik der Kritik‘ funktionieren kann, oder – ganz gleich ob freiwillig oder unfreiwillig – in einem elitären, sich mit Pop-Distinktionen sozial schließenden Neokonservatismus mündet. Die für die späten 1990er Jahre typische Anknüpfung an Faserland, wie sie etwa Florian Illies in Generation Golf treffend auf den Punkt bringt,47 ist allerdings weit davon entfernt, in Krachts Text ein hochkomplexes Verweissystem auf sowohl popkulturelle als auch – man denke an das Ende des Romans auf dem Kilchberger Friedhof – bürgerlich-hoch42 Vgl. Martin Doll: Für eine Subversion der Subversion. Über die Widersprüche eines politischen Individualismus. In: Thomas Ernst et al. (Hg.): SUBversionen. Zum Verhältnis von Politik und Ästhetik in der Gegenwart. Bielefeld 2008, S. 47–68. 43 Vgl. Martin Büsser: On the Wild Side. Die wahre Geschichte der Popmusik. Mainz 2013, S. 79ff. 44 Vgl. Ralf Bentz: Zwischen Pop-Affront und Punk-Habitus: der Schriftsteller Rolf Dieter Brinkmann. In: Testcard 7 (1999): Pop und Literatur, S. 178–185; sowie Michael Peter Hehl: Vom ‚Spießbürger‘ zum ‚flexiblen Menschen‘. Überlegungen zum Verschwinden und Wiederauftauchen Gisela Elsners. In: M. H., Christine Künzel (Hg.): Ikonisierung, Kritik, Wiederentdeckung. Gisela Elsner und die Literatur der Bundesrepublik. München 2014, S. 11–27. 45 Entgegen vieler Annahmen ist Punk in seinen Anfängen ganz dezidiert keine Fortschreibung des ‚Authentizitätsversprechens‘ des Rock, sondern zeichnet sich, deutlich etwa bei den New York Dolls oder den Buzzcocks, durch eine Betonung des artifiziellen Charakters von Popmusik aus, als eine dezidierte Abkehr von Authentizität zugunsten eines ironisch-gebrochenen Spiels mit Zeichen. Vgl. hierzu Büsser: On the Wild Side, S. 77ff. 46 Vgl. Thomas Groß: Aus dem Leben eines Mögenichts. In: Taz (23.3.1995), S. 20. 47 „Es wirkte befreiend, daß man endlich den gesamten Bestand an Werten und Worten der 68er-Generation, den man immer als albern empfand, auch öffentlich albern nennen konnte.“ Florian Illies: Generation Golf. Eine Inspektion. Frankfurt/M. 2001, S. 155.
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kulturelle Semantiken zu lesen. Stattdessen wird der Roman als Affirmation eines bestimmten Lebensstils der jüngeren, oberen Mittelklasse angeeignet, die sich symbolisch von ihrer Vorgängergeneration – der ‚Generation Joschka Fischer‘ – abgrenzen will. Dass Christian Kracht, dessen Interviewaussagen häufig selbst Teil eines ironischen Spiels mit der medialen Repräsentation von Autorschaft sind, Faserland einmal als den Versuch bezeichnet hat, – möglicherweise durchaus selbstkritisch – den Distinktionsspielen der oberen Mittelschicht deren bisweilen unfreiwillige Komik und Tragik aufzuzeigen,48 ist nur selten zur Kenntnis genommen worden. Die Abgrenzung des Faserland-Protagonisten von linker Gegenkultur kann also gleichermaßen als Zitieren einer ‚Kritik der Kritik‘ im Geiste des ‚New Wave‘, wie auch – im Anschluss an Krachts Interviewaussage – als Ausdruck einer tragikomischen Aporie gelesen werden: dass es für die Generation nach 1968 eben nicht mehr möglich ist, sich ‚unpeinlich‘ als ästhetisches Subjekt zu konstituieren, dass das Konzept der Ironie in diesem Zusammenhang ein gescheitertes Modell ist und dass dieser Umstand zur Verzweiflung und am Ende sogar – möglicherweise – zur buchstäblichen Auslöschung des Subjekts durch Suizid führt. Wenn der Literaturkritiker Georg Diez 2002 konstatiert, dass Kracht in Faserland „vom Ende einer Welt“ erzählt, „noch bevor der sogenannte Mainstream überhaupt erkannt hatte, daß es diese Welt gab, geschweige denn, daß sie schon wieder vorbei war“,49 lässt sich dies somit leicht auf den New-Wave-Pop der 1980er Jahre und das Konzept der ‚Subversion durch Affirmation‘ beziehen. Der affirmative Gestus, mit welchem die ‚Neue Deutsche Popliteratur‘ im Anschluss an Kracht auftritt, ist hingegen in erster Linie, ganz gleich ob zustimmend oder ablehnend, als neokonservativ-distinktive Geste gelesen worden, die eine Distanz zur linksliberalen ‚Gutmenschen-Fraktion‘ der 1968er-Generation markiert. Die zeigt sich insbesondere am Beispiel der Rezeption des halbdokumentarischen Gesprächsprotokolls Tristesse Royale (1999), an dem Kracht neben Joachim Bessing, Stuckrad-Barre, Alexander von Schönburg und Eckhard Nickel beteiligt war.50 Dass Kracht dieses Konzept aber bereits in Faserland ironisch
48 „Sich gegen unten abgrenzen wollen, wie meine Figuren es durch eher tragikomische Distinktionsversuche vornehmen, ist immer das wesentliche Attribut der middle class gewesen.“ Kracht in: „Wer sonst soll die Welt verbessern?“, Interview mit Christian Kracht und Ulf Poschardt. In: Die Welt (17.7.2009), [URL =] http://www.welt.de/kultur/literarischewelt/article4139780/ Kracht-Wer-sonst-soll-die-Welt-verbessern.html; Abruf: 12.6.2014. 49 Georg Diez: Christian Kracht: Faserland. In: FAZ (17.3.2002), S. 26. 50 Vgl. hierzu Jörg Döring: Paratext Tristesse Royale. In: Alexandra Tacke, Björn Weyand (Hg.): Depressive Dandys. Spielformen der Dekadenz in der Pop-Moderne. Köln u.a. 2009, S. 178–198, hier S. 178ff.
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gebrochen in Szene setzt, davon ist in der zweiten Hälfte 1990er Jahre sowohl bei Befürwortern als auch bei Kritikern der ‚Neuen Deutschen Popliteratur‘ selten die Rede. Im Vordergrund der Popliteraturrezeption steht nicht der aporetische Bezug zu popkulturellen Konzepten der ‚Subversion‘, sondern der Distinktionsgewinn, mit dem sich das ‚popliterarische Milieu‘ um Tristesse Royale herum konstituiert. Die vielschichtige Struktur von Faserland ermöglicht es, sich den Text reibungslos – wenngleich weniger komplex – im Rahmen der Reproduktion des Lebensstils einer postadoleszenten, urbanen Bohème anzueignen. Bei StuckradBarre, Alexa Hennig von Lange oder Elke Naters mag dies textintern noch um einiges besser begründbar sein. Auffallend ist jedenfalls, dass die Verlagslandschaft Mitte der 1990er Jahre hier die Möglichkeit erkennt, ein neues Lesepublikum zu generieren, welches sich aus den Lesern von Lifestyle-Magazinen wie Tempo speist. Nachdem sich die repräsentative literarische Öffentlichkeit der alten Bundesrepublik in ein plurales Feld von Teilöffentlichkeiten transformiert hat,51 die allenfalls noch minoritäre Teile eines übergreifenden ‚Medienkulturbetriebs‘ darstellen, können Verlage mit der ‚Neuen Deutschen Popliteratur‘ literarische Texte und Autoren an exponierteren Stellen der neuen Medienöffentlichkeit neuartig platzieren und damit Literatur gewissermaßen in einen Massenmarkt ‚re-integrieren‘. Benjamin von Stuckrad-Barres Literatursendung Lesezirkel, die für kurze Zeit auf dem Musiksender MTV ausgestrahlt wurde,52 ist für diese Entwicklung symptomatisch. Dass dies aber überhaupt funktionieren kann, hängt nicht nur mit Veränderungen des Literaturbetriebs, sondern vor allem mit Veränderungen der Popkultur selbst zusammen.
Zur Transformation von Popkultur in den 1990er Jahren In Abgrenzung zum allgemeineren Begriff der ‚Populärkultur‘ soll unter ‚Popkultur‘ in den folgenden Betrachtungen – und als Präzisierung der bisherigen Ausführungen – die Menge derjenigen transnationalen Felder kultureller Produktion verstanden werden, die sich aus jugend-, gegen- und subkulturellen Strömungen von den USA und Großbritannien ausgehend seit den 1950er Jahren entwickelt und über Rock’n’Roll, Beat, Heavy Metal, Punk, New Wave, Techno 51 Vgl. Bogdal: Klimawechsel. 52 Evelyn Schielke: Eine Fernsehsendung für Stuckrad-Barre. In: FAZ.NET (25.7.2001), [URL =] http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/medien-eine-fernsehsendung-fuer-stuckrad-barre-132040. html; Abruf: 12.6.2014.
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usw. bis in die Gegenwart hinein stetig ausdifferenziert haben.53 Der Begriff umfasst dabei nicht nur die kulturellen Produkte dieser Felder wie etwa Tonträger, sondern ebenso spezifische Praktiken der medialen Aneignung dieser Produkte, Aufführungs- und Partizipationsformen, Kleidercodes sowie Formen der Körperpraxis. Nicht zuletzt ist der Diskurs über Pop, wie er vor allem im Musikjournalismus geführt wird, als integraler Bestandteil von Popkultur zu betrachten. Der Terminus ‚Pop‘ markiert damit ein Feld, das innerhalb der Popkultur selbst diskursiv erzeugt wird und Gegenstand vielfältiger Distinktionskämpfe ist.54 Seit den 1980er Jahren lässt sich im deutschsprachigen Raum eine Transformation von Popkultur beobachten, die hier im Anschluss an Diedrich Diederichsens oft zitierte Unterscheidung zwischen ‚Pop I‘ und ‚Pop II‘,55 unter Berücksichtigung des mediensoziologischen Kontextes von Literatur, systematisch skizziert werden soll. Es sind vor allem drei Unterscheidungen, mit denen sich der Wandel des komplexen Verhältnisses von Popkultur, Öffentlichkeit und Literatur analytisch beschreiben lässt. Einerseits existierten in den 1960er Jahren noch relativ klare Grenzen zwischen der Öffentlichkeit der Popkultur und einer gesamtrepräsentativen, tendenziell monokulturellen Medienöffentlichkeit. Andererseits sah sich die Popkultur lange Zeit einer hegemonialen bürgerlichen Hochkultur mit universellem Geltungsanspruch gegenüber. Innerhalb der Popkultur wiederum gab es klare Distinktionen zwischen lokalen subkulturellen Phänomenen und einem globalen popkulturellen Mainstream. Etwa seit den 1970er Jahren, als erstmals eine deutschsprachige Popliteratur auf den Plan tritt, beginnen sich diese drei Grenzen zu verschieben. Mitte der 1990er Jahre sind die medienkulturellen Bedingungen für die gesamte Kulturproduktion – von Literatur bis Punkrock – daher grundlegend andere als noch in den 1960er Jahren. Kurioserweise hat der deutschsprachige Literaturbetrieb lange Zeit gebraucht, um sich hierüber bewusst zu werden.
53 Ich folge hierbei dem Popbegriff, den im deutschsprachigen Raum insbesondere Martin Büsser und Diedrich Diederichsen stark gemacht haben. Vgl. Büsser: On the Wild Side, S. 11ff.; Diederichsen: Über Pop-Musik, S. XIff. 54 In diesem Sinne möchte ich zwischen ‚Pop‘ und ‚Popkultur‘ unterscheiden. Der letztere Begriff ist zwar ebenfalls ein diskursiv erzeugtes, umkämpftes Feld, das allerdings eher im Bereich des akademischen Diskurses über Pop zu verorten ist. Diese Unterscheidung scheint mir gewinnbringend zu sein, auch wenn sich in einem großen Teil des ‚Popdiskurses‘ akademische und popkulturelle Felder überlagern, wie etwa in der Zeitschrift testcard. 55 Diederichsen, Diedrich: Ist was Pop? In: D. D.: Der lange Weg nach Mitte. Der Sound und die Stadt. Köln 1999, S. 272–286.
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Was also ist seit den späten 1960er Jahren geschehen? Erstens ist es – von den 1990er Jahren aus betrachtet – zunehmend schwierig geworden, zwischen einer repräsentativen Medienöffentlichkeit und der Öffentlichkeit der Popkultur trennscharf zu differenzieren, weil Popkultur ubiquitär geworden ist. Es gibt in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre keinen Ort im soziokulturellen Gesamtraum, der frei von popkulturellem Zeichenmaterial ist.56 Zweitens haben sich bei der Unterscheidung zwischen einer bürgerlichen Hochkultur und der Popkultur gewissermaßen die Vorzeichen umgekehrt. Popkultur muss sich in den 1990er Jahren längst nicht mehr gegenüber einer hegemonialen bürgerlichen Hochkultur legitimieren. Bürgerliche Hochkultur kann sich vielmehr nur noch als Negation von Popkultur definieren, weil Popkultur das Paradigma für sämtliche Bereiche der Kulturproduktion darstellt.57 Johannes Ullmaiers Diktum, dass Popliteratur immer das ist, „was Martin Walser nicht“58 ist, könnte man also mit einiger Berechtigung umkehren: Bürgerlich-hochkulturelle Literatur, aber auch Genres wie der massenhaft produzierte ‚Ärzteroman‘ und ähnliches, sind in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre immer das, was StuckradBarre nicht ist. Drittens hat sich, als die Popkultur transnational zur ‚Leitkultur‘ des flexibilisierten, postfordistischen Kapitalismus wurde, ihre Binnendifferenzierung fundamental verändert. Schon als im Jahr 1977 die Sex Pistols mit Never Mind the Bollocks, Here’s the Sex Pistols auf Platz 1 der britischen Album-Charts standen, war die Distinktion zwischen sub- oder gegenkulturellem Pop und ‚Mainstreampop‘ fragwürdig.59 Die Post-Punk- und New-Wave-Bewegung der 1980er Jahre hat darauf auch entsprechend ironisch reagiert. Spätestens aber als in den frühen 1990er Jahren Bands wie Nirvana international massenhaft vermarktet werden können,60 wird deutlich, dass sich die Mainstream-Popkultur grundsätzlich aus lokalen, minoritären Phänomenen zusammensetzt, die nicht erst in modifizierter Form in einen ästhetisch-standardisierten Mainstream integriert werden müssen, um global zirkulieren zu können. Lokal-semantisierte Popphänomene (Seattle-Grunge, Detroit-Techno, Brit-Pop) zirkulieren, ohne ‚glatt-
56 Vgl. hierzu beispielsweise die Beiträge in Marvin Chlada, Gerd Dembowski, Deniz Ünlü (Hg.): Alles Pop? Kapitalismus & Subversion. Aschaffenburg 2003. 57 Vgl. Moritz Baßler: „Das Zeitalter der neuen Literatur“. Popkultur als literarisches Paradigma. In: Corina Caduff, Ulrike Vedder (Hg.): Chiffre 2000 – Neue Paradigmen der Gegenwartsliteratur. München 2005, S. 185–199. 58 Ullmaier: Von ACID nach Adlon und zurück, S. 12. 59 Für diesen Hinweis danke ich Eckhard Schumacher. 60 Ihr erstes Album Bleach (1989) erschien noch, sprechender Weise, beim Label Sub-Pop.
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gebügelt‘ oder ‚weichgespült‘ werden zu müssen, und erzeugen permanent vielfältige und flexible Bedeutungseffekte.61 Parallel zu dieser Entgrenzungsbewegung von Popkultur lässt sich im Deutschland der 1990er Jahre eine ‚Nationalisierung von Popkultur‘ beobachten.62 Ende 1993 startet der Musiksender VIVA mit der Agenda, das VideoclipMonopol von MTV Europe zu durchbrechen.63 1995 wird erstmals der von der deutschen Musikindustrie ins Leben gerufene Musikpreis VIVA Comet verliehen, der den nationalen Popmusikmarkt fördern soll. Seit 1996 wird, u. a. angeregt durch Heinz Rudolf Kunze, auch eine Deutschquote für das Radio diskutiert. Seit den frühen 1990er Jahren wächst in Städten wie Stuttgart, Heidelberg und Hamburg eine selbstbewusste deutschsprachige Hip-Hop-Szene. In Hamburg entwickelt sich im Umfeld von Bands wie Blumfeld, Kolossale Jugend und Die Sterne die sogenannte ‚Hamburger Schule‘, die ein neues Selbstbewusstsein für deutsche Sprache in die Popmusik bringt. Die deutschsprachige Adaption des englischsprachigen New Wave, die ‚Neue Deutsche Welle‘ der 1980er Jahre, kann als Vorläufer dieser Entwicklung gelten – freilich noch unter anderen medienbetrieblichen Bedingungen. Auffällig ist auch, dass ab der Mitte der 1990er innerhalb des Popdiskurses eine zunehmende Kanonisierung deutschsprachiger Popmusik stattfindet.64 Heute existiert eine Vielzahl unterschiedlicher deutscher ‚Popkanones‘, die von den altbewährten Listen in popintellektuellen Publikationsorganen bis zu dezidiert nostalgischen, auf populären Massengeschmack abzielenden ‚Chartshows‘ reichen. Zwischen der Nationalisierung von Pop und dem eher kosmopolitischen Selbstverständnis vieler Popkünstler entsteht im Zuge dieser Entwicklung eine latente Spannung. Diese wird bereits Mitte der 1990er Jahre manifest, als die Band Tocotronic den Musikpreis VIVA Comet in der Kategorie ‚Jung, deutsch und auf dem Weg nach oben‘ mit Verweis auf ihre antinationale Grundhaltung öffentlich
61 Vgl. die Beiträge in Tom Holert, Mark Terkessidis (Hg.): Mainstream der Minderheiten. Pop in der Kontrollgesellschaft. Berlin 1996. Die globale Zirkulation von Popkultur taucht im Roman Faserland in persiflierter Form auf, wenn die Figur Alexander sich in Südostasien auf die Suche nach Spuren der Mainstreampopband Modern Talking begibt. Vgl. Christian Kracht: Faserland. Köln 1995, S. 68ff. 62 In Großbritannien könnte man mit Blick auf Britpop und ‚Cool Britannia‘ ebenfalls von einer Nationalisierung von Pop sprechen. 63 Vgl. Lutz Hachmeister: Das Gefühl VIVA. Deutsches Musikfernsehen und die neue Sozialdemokratie. In: Klaus Neumann-Braun (Hg.): VIVA MTV! Popmusik im Fernsehen. Frankfurt/M. 1999, S. 132–172. 64 Vgl. hierzu etwa das zweite, mit „Popgeschichte in Deutschland“ untertitelte Heft der Zeitschrift testcard (1996).
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ablehnt.65 Zwar fördern Bands der ‚Hamburger Schule‘ durch ihre zunehmende Popularität das Selbstbewusstsein für das Deutsche als Popsprache, ihr Selbstverständnis bleibt dabei allerdings – ganz in der Tradition der Popkultur – vorwiegend transnational und kosmopolitisch. Die Entscheidung für die deutsche Sprache ist bei Tocotronic, Die Sterne und anderen eine ironisch gebrochene.66 Dennoch wird für die (Re-)Produktion der nationalen Identität des wiedervereinigten Deutschland der Rückgriff auf Popkultur zunehmend wichtig, so dass die von Bertelsmann und der Bundesregierung in den Nullerjahren gestartete Werbekampagne Du bist Deutschland nicht ohne einen Bezug zur Popkultur auskommen kann.67 Neben Marcel Reich-Ranicki und Walter Kempowski tauchen in einem Werbespot der Kampagne ganz selbstverständlich auch Harald Schmidt, Xavier Naidoo und der Rapper King Kool Savas auf. An diesem Beispiel wird ganz deutlich, dass das Paradigma kultureller Produktion in der Gegenwart ein popkulturelles ist und die bürgerliche Hochkultur in seinen Einzugsbereich integriert hat. Die Mitte der 1990er Jahre kann mit einiger Berechtigung als Schwelle gelten, an der diese Entwicklung unübersehbar wird. Die mit der deutschen Wiedervereinigung einsetzende, partielle ‚Nationalisierung‘ des Popdiskurses wird von Beginn an von einem kritischen Diskurs begleitet. Besonders Diederichsens Essay The Kids are not alright – geschrieben vor dem Hintergrund der rechtsradikalen Anschläge in Rostock-Lichtenhagen von 1992 – problematisiert den Umstand, dass auch die symbolische Codierung rechtsradikal-subkultureller Lebenswelten ganz selbstverständlich vor dem Hintergrund des popkulturellen Paradigmas abläuft.68 Die Unterscheidung zwischen ‚unkritisch-national‘ und ‚kritisch-antinational‘ bildet daher seit Mitte der 1990er Jahre eine wesentliche und kontrovers umkämpfte Distinktionslinie innerhalb der deutschsprachigen Popkultur, wie sich an den Debatten um Bands wie Mia., Silbermond und vor allem Rammstein zeigt.69 Dass sowohl Rammstein als auch Tocotronic im Jahr 1995 ihre Debütalben veröffentlichen, die Hip-Hop-Band Die fantastischen Vier im Jahr 1995 zum ersten Mal an die Spitze der deutschen
65 Felix Bayer: Blick zurück. 1996. In: tocotronic.de, [URL =] http://www.tocotronic.de/blick_ zurueck/1996.html; Abruf: 12.6.2014. 66 Songs wie Über Sex kann man nur auf Englisch singen, Wir sind hier nicht in Seattle, Dirk (Tocotronic, Digital ist besser, 1995) und Ich scheiß auf deutsche Texte (Die Sterne, Posen, 1996) verweisen bereits in ihren Titeln auf dieses gespannte Verhältnis. 67 Der Werbespot ist auf der Videoplattform YouTube archiviert. [URL =] http://www.youtube. com/watch?v=bq_MRWewv80; Abruf 12.6.2014. 68 Diedrich Diederichsen: The Kids are not alright, Vol. IV – Oder doch? Identität, Nation, Differenz, Gefühle, Kritik und der ganze Scheiß. In: D. D. (Hg.): Freiheit macht arm. Das Leben nach Rock’n’Roll 1990–93. Köln 1993, S. 253–283. 69 Vgl. etwa Andreas Waltner (Hg.): I Can’t Relax In Deutschland. Buch und CD. Köln 2005.
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Singlecharts rückt und der Sender VIVA ungefähr zu dieser Zeit zu einem zentralen diskursiven Ort popkultureller Bedeutungsproduktion avanciert, kennzeichnet 1995 auch popgeschichtlich als Zäsur oder Schwellenphänomen.70 Vor diesem Hintergrund verwundert es kaum noch, dass eine popkultur-affine Literaturproduktion, die es ja bereits vor 1995 gegeben hat, nach Faserland von einigen Verlagen lukrativ vermarktet und zugleich zum Gegenstand kontroverser Auseinandersetzungen im literarischen Feld werden konnte.
Underground, popkulturelles Wissen und das literarische Feld – ein Schlusswort Die ‚Poptitel‘ etablierter Literaturverlage wie Kiepenheuer & Witsch und Suhrkamp sowie die Medienpräsenz der dazugehörigen Autoren sind bei weitem nicht alles, was sich unter dem Begriff Popliteratur in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre subsumieren lässt. Im Anschluss an die Tradition der Beat Generation, die bereits in den späten 1950er Jahren literarische Lesungen mit Jazzmusik verknüpfte, entsteht in Deutschland im Umfeld der Punk- und DIY-Subkultur sowie der Kleinverlegerszene um 1995 herum die ‚Social Beat‘-Bewegung.71 Mit Jürgen Ploog, Jörg Fauser, Rolf Dieter Brinkmann und der Tradition neuerer amerikanischer Literatur – vor allem Charles Bukowski spielt hier eine große Rolle – konstituiert sich im ‚Social Beat‘ ein ‚Gegenkanon‘, der eine Grenze sowohl zum etablierten Literaturbetrieb wie auch zum linksintellektuellen Popdiskurs im Umfeld der Zeitschrift SPEX markiert. ‚Social Beat‘ wolle, wie Jörg André Dahlmeyer treffend formuliert, eine ‚Außerliterarische Opposition‘ sein und ganz bewusst nicht am Literaturbetrieb partizipieren.72 Stattdessen sollen im Sinne eines popkulturellen ‚Undergrounds‘ eigene, minoritäre Produktionsorte und Distributionswege für neue Literatur entstehen. Wie Andreas Neumeister und Marcel Hartges in der 1996 erschienenen Anthologie Poetry!Slam! ausführen, gehe es,
70 Es ließen sich noch viele weitere Beispiele anführen, die das Jahr 1995 – auch im internationalen Kontext – popgeschichtlich als Schwellenjahr charaktierisieren: Oasis’ (What’s the story) Morning Glory, Blurs The Great Escape, der Beginn der Beatles-Anthology, das posthum erschienene Unplugged-Album von Nirvana oder Mellon Collie and the Infinite Sadness von den Smashing Pumpkins waren fraglos prägende Ereignisse der Popgeschichte der 1990er Jahre. 71 Vgl. Stahl: Trash, Beat und Poetry Slam; sowie Boris Kerenski: Stimmen aus dem Untergrund. Social Beat & Slam Poetry. In: Chlada, Dembowski, Ünlü (Hg.): Alles Pop?, S. 134–155. 72 Vgl. Stahl: Trash, Beat und Slam Poetry, S. 144.
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plakativ gesagt, darum, die „Literatur endlich zurück in die Clubs und Bars, zurück ins Nachtleben“ zu holen.73 Was von dieser kurzlebigen Bewegung heute geblieben ist, sind vor allem die zahlreichen, bundesweit stattfindenden Poetryslam-Veranstaltungen, die seit der zweiten Hälfte der 1990er Jahre zunehmend populär geworden sind und eine spezifische, performanzorientierte Form von Autorschaft ins literarische Feld gebracht haben. Postadoleszente Lebenswirklichkeit, populäre Freizeitangebote und Literatur stehen sich seit Mitte der 1990er Jahre nicht mehr unvereinbar gegenüber. Literatur ist mit der Popliteratur, mit ‚Social Beat‘, mit Poetryslams und mit einer neuen Liaison von literarischem Text und Popmusik ‚eventtauglich‘ geworden. Damit ist Popliteratur seit Mitte der 1990er Jahre auf dem deutschsprachigen Buchmarkt eine lukrative Option, Verlagsprodukte vor dem Hintergrund einer – im Vergleich zu den 1960er Jahren – gänzlich veränderten Medienwirklichkeit zu platzieren und zu vermarkten. Dass der Suhrkamp-Verlag 1998 in der Zeitschrift SPEX ganzseitig mit der Anzeige „POP“ für Rainald Goetz, Andreas Neumeister und Thomas Meinecke wirbt, mag hierfür symptomatisch sein. Dass popkulturell sozialisierte Autoren, für die Popkultur ganz selbstverständlich zur Lebenswelt der Gegenwart zählt, dieselbe in das literarisch repräsentierte Wissen mit einbeziehen, ist vor dem Hintergrund der hier skizzierten Entwicklungen hingegen kaum überraschend. Erst wenn man die damaligen Debatten über eben diese Wissensrepräsentation historisch rekonstruiert, wird deutlich, wie sehr dies alles dem Selbstverständnis des damaligen deutschsprachigen Literaturbetriebs widersprach. Christian Krachts Faserland und das Jahr 1995 können damit zu Recht als symbolischer Wendepunkt des Verhältnisses von popkulturellem Wissen und dem Sinn- und Wissensreservoir der Hochkultur bezeichnet werden. Benjamin von Stuckrad-Barres Roman Soloalbum (1998), der als eine ‚quasi ethnologische‘ Beobachtung popkulturell geprägter Lebenswelt der oberen Mittelschicht gelesen werden kann, bezieht auf dieser Grundlage textuell und paratextuell popkulturelle Formen mit ein und markiert dadurch programmatisch eine Differenz zum etablierten Literaturbetrieb, die sich heute allerdings nur noch schwer aufrecht erhalten ließe. Vor dem Hintergrund der geschilderten Bewegungen der Entgrenzung und Nationalisierung von Pop kann das Aufkommen der Neuen Deutschen Popliteratur als Teil eines übergreifenden kulturellen Wandels gelesen werden. Das Jahr 1995 zeigt sich grundsätzlich als ‚Schwellenjahr‘, in dem sowohl die ‚alte‘ Distinktion von Pop- und Hochkultur (noch) manifest ist, als auch die Durchlässigkeit von Pop und Literatur (bereits) beobachtbar wird. Die germa-
73 Andreas Neumeister, Marcel Hartges (Hg.): Poetry!Slam! Texte der Pop-Fraktion. Reinbek b. Hamburg 1996, S. 13.
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nistischen Debatten über ‚Popliteratur‘ können somit als Ausdruck eben dieses Übergangs gelten, nach dessen Abschluss die trennscharfe Differenzierung zwischen ‚Literatur‘ und ‚Popliteratur‘ mit Gewinn noch einmal neu und unter Berücksichtigung der ästhetischen Optionen von Pop als poetologischem Konzept diskutiert werden könnte.
Literaturverzeichnis Primärliteratur Bessing, Joachim, Benjamin von Stuckrad-Barre, Christian Kracht, Eckhart Nickel, Alexander von Schönburg: Tristesse Royale: Das popkulturelle Quintett. Berlin: Ullstein 1999. Brandner, Uwe: Mutanten-Milieu. Bericht aus dem Land Asphalt und Alphabet. München: Hanser 1971. Brinkmann, Rolf Dieter: Erkundungen für die Präzisierung des Gefühls für einen Aufstand: Reise, Zeit, Magazin (Tagebuch). Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1987. Chotjewitz, Peter O.: Die Insel. Erzählungen auf dem Bärenauge. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1968. Dobler, Franz: Sprung aus den Wolken. Dancehall Stories. Hamburg: Edition Nautilus 1996. Dobler, Franz: Tollwut. Roman. Hamburg: Edition Nautilus 1991. Fichte, Hubert: Die Palette. Roman. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1968. Goetz, Rainald: Irre. Roman. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1983. Handke, Peter: Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1969. Hermann, Judith: Sommerhaus, später. Frankfurt/M.: Fischer 1998. Jelinek, Elfriede: wir sind lockvögel baby! Roman. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1970. Kracht, Christian: Faserland. Roman. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1995. Lottmann, Joachim: Mai, Juni, Juli. Ein Roman. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1986. Neumeister, Andreas, Marcel Hartges (Hg.): Poetry!Slam! Texte der Pop-Fraktion. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1996. Ploog, Jürgen: Rückkehr ins Coca & Cola-Hinterland. Ostheim/Rhön: Peter Engstler 1995. Roc, Zé do: fom finde ferfeelt. ain Buch. Berlin: Edition Dia 1995. Stuckrad-Barre, Benjamin von: Soloalbum. Roman. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1998. Wondratschek, Wolf: Chucks Zimmer. Gedichte/Lieder. Frankfurt/M.: Zweitausendeins 1974. Zaimoğlu, Feridun: Kanak Sprak. 24 Mißtöne vom Rande der Gesellschaft. Hamburg: Rotbuch 1995.
Sekundärliteratur Ackermann, Kathrin, Stefan Greif: „Pop im Literaturbetrieb. Von den sechziger Jahren bis heute“. In: Heinz Ludwig Arnold, Jörgen Schäfer (Hg.): Pop-Literatur. München: Text + Kritik Sonderheft 2003, S. 55–68.
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Christian Steltz
Migrantenliteratur Die Schwierigkeit, literarische Texte von Autoren nicht-deutscher Muttersprache unter einem übergeordneten Schlagwort zu betrachten, ist eng mit der Geschichte der Zuwanderung in Deutschland verbunden. Wurde zu Beginn der achtziger Jahre noch einstimmig von ‚Gastarbeitern‘ und entsprechend von ‚Gastarbeiterliteratur‘ gesprochen, so mussten sich Literaturwissenschaft und -kritik gemeinsam mit den Sozialwissenschaften und der Politik auf die Suche nach einer neuen, politisch korrekten Bezeichnung für die zugezogenen Minderheiten und ihre literarische Produktion machen, als sich nach und nach herauskristallisierte, dass die ursprünglichen ‚Gäste‘ dauerhaft bleiben würden. Interessanterweise kam die erste Kritik an der gängigen Bezeichnung von den sogenannten ‚Gastarbeiterautoren‘ selbst. In dem 1981 veröffentlichten Aufsatz Literatur der Betroffenheit. Bemerkungen zur Gastarbeiterliteratur haben sich die prominentesten Vertreter des Polynationalen Literatur- und Kunstvereins Rafik Schami, Franco Biondi, Jusuf Naoum und Suleman Taufiq gemeinsam von dem Begriff ‚Gastarbeiterliteratur‘ distanziert, den sie jedoch selbst noch verwenden, um „die Ironie, die darin steckt, bloßzulegen.“1 In der Folge dieser ersten subversiven Kritik kam es zur „Verwendung und gegenseitigen Ablösung“2 verschiedener Begrifflichkeiten. Sabine Keiner führt in ihrer Bestandsaufnahme neben dem Vorschlag ‚Literatur der Betroffenheit‘ von Biondi u.a. die alternativen Begriffe ‚Gastliteratur‘, ‚Emigrantenliteratur‘, ‚Ausländerliteratur‘, ‚Migrantenliteratur‘, ‚Migrationsliteratur‘, ‚authentische Literatur‘, ‚Bekenntnisliteratur‘ und ‚Minoritätenliteratur‘ auf.3 Thomas Ernst ergänzt die Liste um ‚Immigrantenliteratur‘ und das Label ‚interkulturelle Literatur‘, das in der jüngeren Forschung geradezu zum Paradigma erhoben wird.4 Da die Schwierigkeiten einer literaturwissenschaftlichen Klassifikation eng an den politischen Diskurs gebunden sind, in dem sich die Rede vom ‚auslän-
1 Franco Biondi et al.: Literatur der Betroffenheit. Bemerkungen zur Gastarbeiterliteratur. In: Christian Schaffernicht (Hg.): Zuhause in der Fremde. Ein bundesdeutsches Ausländer-Lesebuch. Reinbek b. Hamburg 1984, S. 124–136, hier S. 134. 2 Sabine Keiner: Von der Gastarbeiter- zur Migranten- und Migrationsliteratur – literaturwissenschaftliche Kategorien in der Krise? In: Sprache und Literatur in Wissenschaft und Unterricht 83 (1999), S. 3–14, hier S. 4. 3 Vgl. ebd. 4 Vgl. Thomas Ernst: Literatur und Subversion. Politisches Schreiben in der Gegenwart. Bielefeld 2014, S. 288.
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dischen Mitbürger‘, vom ‚Migranten‘ bzw. – der Political Correctness geschuldet – ‚MigrantInnen‘ oder vom ‚Menschen mit Migrationshintergrund‘ hartnäckig hält, werden die Suche nach Begrifflichkeiten und der daran gekoppelte Kampf um Definitionshoheit auch zukünftig andauern. Gesellschaftlicher Ausschluss und Diskriminierung finden mit einer neuen Benennung nicht einfach ein abruptes Ende, wenn die Ungleichheit hinter den Worten weiter Bestand hat. Vor diesem Hintergrund ist die Verwendung der Bezeichnung „interkulturelle Literatur“ in neueren Publikationen5 zu verstehen, die häufig in dem Bewusstsein vorgenommen wird, dass das Phänomen an sich „seinem sprachlichen Wesen nach so alt ist wie die deutsche Literatur selbst“6 und es daher eine künstliche Trennung darstellt, wenn unter dem Schlagwort ‚interkulturelle Literatur‘ meist nur Texte verstanden werden, die an sozialgeschichtliche Phänomene der Nachkriegszeit gebunden sind.7 Einigkeit herrscht in der jüngeren Forschung darüber, dass „der zentrale Gegenstand der Interkulturalitätsforschung die Frage nach dem Fremden ist“.8 In gewisser Weise sind die interkulturelle Literatur und ihre wissenschaftliche Erforschung daher Projektpartner, deren gemeinsame Zielsetzung darin besteht, „die deutsche Sprache und Literatur soweit zu sensibilisieren, daß die ethnozentrischen Prioritäten abgebaut werden, die dem Umgang mit fremden Kulturen im Weg stehen.“9 Interkulturalität wäre nach diesem Verständ-
5 Vgl. exemplarisch Carmine Chiellino: Einleitung: Eine Literatur des Konsenses und der Autonomie – Für eine Topographie der Stimmen. In: C. C. (Hg.): Interkulturelle Literatur in Deutschland. Ein Handbuch. Stuttgart 2007, S. 51–62, hier S. 51; sowie das einschlägige Zeitschriftenprojekt „ZIG – Zeitschrift für interkulturelle Germanistik“. Wenn im Folgenden der auch im Titel verwendete Begriff „Migrantenliteratur“ benutzt wird, liegt das an der historischen Orientierung am Jahr 1995. Für den betrachteten Zeitraum von den 1980er Jahren bis ins Jahr 2015 scheint mir persönlich dieser Begriff passender. 6 Chiellino: Eine Literatur der Konsenses, S. 51. 7 Hierbei handelt es sich um Phänomene wie z. B. die Zuwanderung von Gastarbeitern aus Südeuropa, die Flucht politischer Dissidenten aus Osteuropa, dem Nahen Osten und Lateinamerika. Als prominente Beispiele für auf Deutsch schreibende Autoren, die eine andere Muttersprache haben und/oder in einem anderssprachigen Umfeld gelebt haben, wären u. a. Elias Canetti, Franz Kafka, Rose Ausländer, Paul Celan, Jurek Becker und nicht zuletzt Adelbert von Chamisso zu nennen, in dessen Namen seit 1985 herausragende Autoren, deren Muttersprache nicht Deutsch ist, für deutschsprachige Texte mit einem eigens dafür ins Leben gerufenen Literaturpreis geehrt werden. Vgl. http://www.bosch-stiftung.de/content/language1/html/4595. asp; Abruf: 01.03.2014. 8 Dieter Heimböckel, Georg Mein: Zwischen Provokation und Usurpation oder Nichtwissen als Zumutung des Fremden. Zur Einleitung des Bandes. In: D. H., G. M. (Hg.): Zwischen Provokation und Usurpation. München 2010, S. 9–14, hier S. 9. 9 Chiellino: Eine Literatur der Konsenses, S. 59.
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nis also immer ein wechselseitiger Prozess, in welchem die Kombination von Eigenem und Fremdem stets ein neues Drittes hervorbringt.10 Mit Blick auf das Jahr 1995 scheint es in der Folge angebracht, von ‚Migrantenliteratur‘ zu sprechen, da die relevanten Texte in den neunziger Jahren auf dem Buchmarkt und in der Literaturwissenschaft unter eben diesem Schlagwort verhandelt worden sind. Alles andere käme einem Anachronismus im Wissenschaftsjargon gleich, der den Blick auf die zeitgeschichtliche Dimension des Phänomens versperren würde. Denn vor diesem Hintergrund kommt dem Jahr 1995 in der Tat ein besonderer Stellenwert zu. Klaus-Michael Bogdal spricht in Zusammenhang mit einem in eben diesem Jahr veröffentlichten Text nämlich von einem „poetische[n] Ereignis“,11 dem eine hohe politische Relevanz zuzuschreiben sei, da es „die Teilhabe an der Kultur in Deutschland [beanspruche], die [es] mit ihrem Erscheinen zugleich ein Stück verändert“.12 Gemeint ist hier Feridun Zaimoğlus Textsammlung [→] Kanak Sprak, die in der Tat etwas Neuartiges darstellt, da sie den Übergang von der Gastarbeiterliteratur der Elterngeneration in den siebziger und achtziger Jahren zur Migrantenliteratur der Kinder und Kindeskinder in den Neunzigern markiert. Mit dem veränderten Selbstbild des ‚Kanaksters‘, wie Zaimoğlu den jungen, männlichen Migranten tauft, sprechen die Bezeichneten erstmalig ein Wort in dem oben beschriebenen Kampf um Definitionshoheit mit. Auf diese Weise bildet sich in Kanak Sprak ein neues politisches Bewusstsein aus. Zeitgleich aber – so wird zu zeigen sein – lässt sich an den literarischen Veröffentlichungen des Jahres 1995 noch eine zweite Strategie ablesen, die ebenso wie die provokative Pose Zaimoğlus auf Anerkennung in der Aufnahmegesellschaft abzielt und die bei Autoren verschiedener Herkunft und Muttersprache gleichermaßen zu beobachten ist. Diese Strategie besteht in einer ästhetischen Teilhabe durch Intertextualität. Über intertextuelle Bezugnahmen beansprucht die Migrantenliteratur Teilhabe am kulturellen Gedächtnis der Aufnahmegesellschaft. Daneben gehen in die Bilanz der Migrantenliteratur im Jahr 1995 noch verschiedene Texte der deutschsprachigen Minderheit Rumäniens, die sich seit der Mitte der achtziger Jahre im Literaturbetrieb der BRD etabliert hat, sowie Publika-
10 Hofmann spricht in diesem Zusammenhang davon, dass Migranten und Migrantinnen der dritten Generation eine hybride Identität ausbilden und daher einen ‚dritten Raum‘ besetzen, anstatt einseitig den Anschluss an die Herkunfts- oder die Aufnahmekultur zu suchen. Vgl. Michael Hofmann: Interkulturelle Literaturwissenschaft. Eine Einführung. Paderborn 2006, S. 13. 11 Klaus-Michael Bogdal: Wo geht’s denn hier nach Kanakstan? In: Monika Schmitz-Emans (Hg.): Literatur und Vielsprachigkeit. Heidelberg 2004, S. 237–248, hier S. 240. 12 Ebd.
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tionen aus dem Bereich der afro-deutschen Literatur ein, die sich Mitte der neunziger Jahre erstmalig konstituiert.
Kanak Sprak – Wegbereiter von der Gastarbeiterzur Migrantenliteratur Dass Literaturgeschichte aus kontinuierlichen Entwicklungen hervorgeht und daher nur unzureichend über strikte Zäsuren zu fassen ist, steht außer Frage. Dennoch darf Zaimoğlus Kanak Sprak als Auftakt einer neuen Migrantenliteratur gelten, die sich von bewährten Mustern der siebziger und achtziger Jahre abhebt.13 Dies ist allerdings nicht mit dem Ende der herkömmlichen Gastarbeiterliteratur gleichzusetzen, wie ein Blick auf zwei ihrer Wegbereiter verrät: Aras Ören ist 1985 als erster Schriftsteller überhaupt mit dem Adelbert-vonChamisso-Preis ausgezeichnet worden, Franco Biondi erhielt den Preis 1987. Beide haben 1995 Publikationen zu verzeichnen, die wesentliche Entwicklungen aufzeigen. Örens Berlin Savignyplatz ist zunächst auf Türkisch verfasst und dann ins Deutsche übersetzt worden. Das gleiche Vorgehen findet sich bei anderen türkischstämmigen Vertretern der Gastarbeiterliteratur wie Güney Dal, Aysel Özakın und Habib Bektaş.14 Biondis Ode an die Fremde ist ein eher marginaler Text des Autors;15 wichtig wäre an dieser Stelle, dass dieser Text bereits in deutscher Sprache geschrieben ist. Anders als die meisten wichtigen deutschtürkischen Autoren der ersten Generation hat Biondi seine Literatursprache nach den Kurzdramen R.F.T. una favola (1975) und Isolde e Fernandez (1978) sowie den beiden Gedichtbänden Corsa verso il mito (Wettlauf nach einem Mythos, 1976) und Tra due sponde (Zwischen zwei Ufern, 1978) relativ früh gewechselt.16 Hier zeigt sich bereits das reziproke Wesen von Interkulturalität, „ist die Entscheidung für die Sprache des Landes [doch auch immer] ein Entgegenkommen“17 in Form
13 Vgl. zur historischen Entwicklung der Migrantenliteratur Ekaterina Klüh: Interkulturelle Identitäten im Spiegel der Migrantenliteratur. Kulturelle Metamorphosen bei Ilija Trojanow und Rumjana Zacharieva. Würzburg 2009, S. 13–28 u. S. 38–47. 14 Vgl. Chiellino: Eine Literatur des Konsenses, S. 54. 15 In der Werkanalyse im Handbuch der interkulturellen Literatur in Deutschland wird dieser Text sogar vollkommen verschwiegen. Vgl. hierzu Carmine Chiellino: Literatur der italienischen Minderheit. In: C. C. (Hg.): Interkulturelle Literatur in Deutschland. Ein Handbuch. Stuttgart 2007, S. 63–83. 16 Vgl. hierzu ebd. 17 Chiellino: Eine Literatur des Konsenses, S. 60.
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eines Gesprächsangebotes. Für Chiellino macht dies den Kern der interkulturellen Literatur aus, die für ihn „ohne impliziten Gesprächspartner undenkbar“18 ist. Als Zeichen für eine Bereitschaft zu einem gemeinsamen Dialog kann in den achtziger Jahren eine ganze Reihe an Publikationen gelten, die bewusst zweisprachig gestaltet wurden, wie beispielsweise der Gedichtband Irrwege/Koca Sapmalar (1985) des Chamisso-Preisträgers (1989) Yüksel Pazarkaya. Neben der Gastarbeiterliteratur stellt die Exilliteratur seit jeher einen der Bereiche dar, aus denen sich die Literatur von ‚Ausländern‘ speist, wie es im Untertitel des 1986 von Heinz Friedrich herausgegebenen Bandes mit dem Titel Chamissos Enkel heißt19. Hier liegt mit Der lange Arm der Mullahs des vielfach ausgezeichneten deutsch-iranischen Autors SAID – u. a. Chamisso-Förderpreis 1991, Chamisso-Preis 2002 – eine Publikation vor, die mit dem Wechsel von den kleinen Verlagshäusern Kirchheim und Heliopolis zu C. H. Beck die Etablierung des Autors dokumentiert. Anders als viele Mitglieder der iranischen Minderheit, die laut Chiellino den „beunruhigenden Eindruck [erwecke], eine in sich gekehrte Exilgemeinschaft zu sein“,20 partizipiert SAID sehr stark am literarischen Leben. Immerhin stand der Autor, der 1965 als Student nach München gekommen ist, von 2000–2002 dem P.E.N.-Zentrum Deutschland als Präsident vor. Neben den auch für die Gastarbeiterliteratur typischen Themen Migration, Fremdheitserfahrung, Identitätsfindung und Zerrissenheit greift Der lange Arm der Muhllahs auch die Vorstellung von einer Heimat in der Sprache auf, die im Gegensatz zu den politischen Themen für ein breites Publikum geeignet ist. Dass Orientalismus durchaus ein Kaufanreiz sein kann, zeigen 1995 die Texte der beiden Mitherausgeber der Südwind gastarbeiterdeutsch-Reihe (1980–83) Rafik Schami und Jusuf Naoum; Schamis Reise zwischen Nacht und Morgen (1995) und Naoums Das Ultimatum des Bey. Roman aus dem Libanon (1995) tragen ihre sprachliche Exotik zu Markte, was nicht bedeuten soll, dass die Autoren ihre politischen Ambitionen aufgegeben hätten, die in den achtziger Jahren darauf ausgerichtet gewesen sind, sich im „Polynationalen Literatur- und Kunstverein“ (gemeinsam mit Franco Biondi und Suleman Taufiq, 1980) zusammenzuschließen und alternative Distributionsstrukturen zu schaffen, um letzten Endes Akzeptanz im Literaturbetrieb zu finden. Bei Naoum wirkt sich diese politische Ernsthaftigkeit auch auf den Inhalt aus, greift der im Wuppertaler Hammer-Verlag erschienene Roman doch, wie schon
18 Ebd. 19 Vgl. Heinz Friedrich (Hg.): Chamissos Enkel. Literatur von Ausländern in Deutschland. München 1986. 20 Carmine Chiellino: Vorwort. In: C. C. (Hg.): Interkulturelle Literatur in Deutschland. Ein Handbuch. Stuttgart 2007, S. V–VIII, hier S. VII.
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der Erzählband Der Scharfschütze aus dem Jahr 1983, Erfahrungen aus dem Bürgerkrieg im Libanon auf, in deren Zentrum die Emanzipation der widerspenstigen Ehefrau und Mutter Rabiha Mitwali und die Hilflosigkeit ihres Ehemanns Kasim Mitwali stehen. Beim Syrer Schami, der 1995 bereits den Sprung vom Neuen Malik Verlag zu verschiedenen Großverlagen (u. a. dtv, Hanser, Beltz) geschafft hat, treten auch im Werk die Existenznöte des Migrantenlebens zugunsten ästhetischer Faktoren in den Hintergrund. So ist in Reise zwischen Nacht und Morgen die Anknüpfung an orientalische Erzähl- und Märchentraditionen, die sich in den nächtlichen Unterhaltungen zwischen dem Zirkusdirektor Valentin Samani und seinem reichen Jugendfreund Nabil niederschlägt, das bestimmende Element der interkulturellen Begegnung, die für den Protagonisten auch eine Reise in die eigene Vergangenheit darstellt. In Bezug auf die deutsch-türkische Migrantenliteratur der neunziger Jahre ist der Stellenwert einer orientalisch anmutenden Sprache nicht zu unterschätzen. Nicht selten reguliert das spezifisch Neuartige, das aus dem Zusammenspiel der Herkunftssprache Türkisch und der Literatursprache Deutsch entsteht, die maßgeblich von deutschsprachigen Feuilletonisten gelenkte Rezeption der Texte. Am deutlichsten lässt sich die Kluft zwischen Text und Rezeption an dem Erfolgsroman Die Brücke vom goldenen Horn (1998) von Emine Sevgi Özdamar ablesen. Dass die Autorin nicht nur den Chamisso-Preis (1999), sondern auch den Ingeborg-Bachmann-Preis (1991) verliehen bekommen hat, bezeugt die veränderte Qualität der neuen Migrantenliteratur, denn dieser Roman ist interessanterweise als Bruch mit der Gastarbeiterliteratur wahrgenommen worden21 – und das obwohl er ja gerade eine autobiographisch gefärbte Migrationsgeschichte der sechziger Jahre erzählt. Die entscheidende Veränderung liegt auf der Darstellungsebene, da in Özdamars Roman eben nicht „der Ton der Betroffenheit und der sozialen Anklage vorherrschend“22 sei, der ältere Texte über Migration präge.23 Dass die allseits gelobte blumige Sprache des Romans nicht besonders poetisch und artifiziell ist, wie Literaturkritik und Gegenwartsliteraturforschung zunächst angenommen haben, konnte erst mit der Zeit durch die Beiträge türkischstämmiger Forscherinnen festgestellt werden. Vor den Augen jener Leser, die sowohl Türkisch als auch Deutsch sprechen, entpuppte sich die „blumige Orien
21 Vgl. hierzu Hofmann: Interkulturelle Literaturwissenschaft, S. 198. 22 Ebd. 23 Ilija Trojanow, der mit Der Weltensammler wohl den ersten interkulturellen Bestseller deutscher Sprache verfasst hat, erhält 1995 im Übrigen den Bertelsmann-Literatur-Preis. Vgl. Franz Josef Görtz, Volker Hage, Hubert Winkels (Hg.): Deutsche Literatur 1995. Jahresüberblick. Stuttgart 1996, S. 128.
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talensprache“24 als interkulturelles Missverständnis, da die metaphorischen Wendungen und langen Versatzstücke im Türkischen keineswegs eine Abweichung vom allgemeinen Sprachgebrauch darstellen. Daher fand die türkische Übersetzung des Romans in der Türkei auch keine positive Resonanz, und Nilüfer Kuruyazici konnte pointiert feststellen: „Auch wenn dies alles für fremde Leser märchenhaft erscheint, stellt die Erzählung Özdamars türkische Alltagsrealität dar.“25 In diesem Fall, der stellvertretend für viele steht, liegt eine tiefe Form von Nichtverstehen vor, die Feridun Zaimoğlu als „Folklore-Falle“26 bezeichnet hat, in die er mit Kanak Sprak keinesfalls tappen wolle. Damit steht der Kieler Autor in Opposition zu Kemal Kurt, Jahrgang 1947, der sich bewusst in die orientalische Erzähltradition einreiht, indem er 1995 mit Wenn der Meddah kommt auf den Märchenbestand der türkischen Literatur zurückgreift. Mit dem Rückgriff auf den Meddah, den mimischen Erzählkünstler im Orient, bedient Kurt das Klischee von Tausendundeiner Nacht, das im Westen nicht zuletzt durch sein literarisches Fortleben bei arabischen Autoren wie Schami und Naoum noch immer sehr verbreitet ist. Andererseits hat Kurt 1995 auch einen Essayband mit dem Titel Was ist die Mehrzahl von Heimat? veröffentlicht.27 Eine ähnliche Position wie der Provokateur Zaimoğlu nimmt ein anderer literarischer Debütant des Jahres 1995 ein. Zafer Șenocak, der 1961 in der Türkei geboren wurde und damit auch wesentliche biographische Gemeinsamkeiten zu Zaimoğlu aufweist, feierte 1995 mit Der Mann im Unterhemd, dem noch Die Prärie (1997), Gefährliche Verwandtschaft (1998) und Der Erottomane. Ein Findelbuch (1999) als Teile einer groß angelegten Prosa-Tetralogie folgten, sein Romandebüt. Generell findet Șenocak allerdings eher als Lyriker und Essayist Beachtung, wobei insbesondere die gelungene Darstellung des politischen Umschwungs in Gefährliche Verwandtschaft darauf hoffen lässt, dass das Werk als Wenderoman zukünftig stärker wahrgenommen werden könnte, wie übrigens auch Yadé Karas Selam Berlin (2006).
24 Feridun Zaimoğlu: Kanak Sprak. 24 Mißtöne vom Rande der Gesellschaft. Hamburg 1995, S. 14. 25 Nilüfer Kuruyazici: Emine Sevgi Özdamars Das Leben ist eine Karawanserei im Prozeß der interkulturellen Kommunikation. In: Mary Howard (Hg.): Interkulturelle Konfigurationen. Zur deutschsprachigen Erzählliteratur von Autoren nichtdeutscher Herkunft. München 1997, S. 179–188, hier S. 181. 26 Ebd. 27 Vgl. hierzu Sargut Şölçün: Literatur der türkischen Minderheit. In: Carmine Chiellino (Hg.): Interkulturelle Literatur in Deutschland. Ein Handbuch. Stuttgart 2007, S. 135–152, hier S. 143.
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Als Essayist hat Șenocak bereits 1992 in der Sammlung Atlas des tropischen Deutschland Gedanken formuliert, die die Beanspruchung einer kulturellen Teilhabe, welche Kanak Sprak aus der Pose Provokation einfordert, vorwegnimmt. Als Teil der zweiten Migrantengeneration in Deutschland formuliert Șenocak politische Ziele, die mit Zaimoğlus öffentlichkeitswirksamer Publikation drei Jahre später erreicht werden: Wir müssen an diesem Spiel endlich als Spieler teilnehmen und nicht als Figuren und Steine, mit denen gespielt wird. Wir müssen uns auf allen Ebenen der Frage stellen, wer an den Hebeln der Macht sitzt, wer über uns verfügt. Wir müssen uns bemühen, stärker am politischen Leben teilzunehmen, daran zu arbeiten, Institutionen zu schaffen, Sprachrohre, um Medienwirksamkeit und Lautstärke zu gewinnen.28
Zaimoğlu, den einige gerne zu dem hier geforderten Sprachrohr erklärt haben – Jamal Tuschicks Feststellung „Seit er öffentlich mitredet, wird über Immigration anders geredet als zuvor“ ist hier paradigmatisch –,29 ist es mit Kanak Sprak gelungen, eine neue kollektive Identität heraufzubeschwören, die in einer klaren Ansage gebündelt ist, welche der Autor dem ‚Kanaken‘ im Vorwort in den Mund legt: „Hier stehe ich und gebe mit allem, was ich bin, zu verstehen: Ich zeige und erzeuge Präsenz“ (Kanak Sprak, S. 14). Auch wenn Zaimoğlu sich zunehmend von politischen Kontexten verabschiedet hat, aus zeitgeschichtlicher und ästhetischer Perspektive bleibt sein Frühwerk jedoch politisch relevant. Schließlich stellt Kanak Sprak nicht nur eine Reaktion auf die ausländerfeindlichen Gewalttaten von Neonazis zu Beginn der neunziger Jahre, sondern auch den Wendepunkt von der Gastarbeiter- zur Migrantenliteratur der zweiten und dritten Generation dar.30 Ein weiterer Debütant des Jahres 1995, welcher der zweiten Generation zuzurechnen ist, ist der 1971 in Köln geborene Selim Özdogan. Sein Roman Es ist so einsam im Sattel seit das Pferd tot ist weist weder inhaltlich noch formal Spezifika
28 Zafer Ṣenocak: Atlas des tropischen Deutschland. Essays. Berlin 1992, S. 28. 29 Jamal Tuschick: „Bruder, du bist meine Stimme“. Feridun Zaimoğlu, Kombattant im Kulturkampf. In: Thomas Kraft (Hg.): Aufgerissen. Zur Literatur der 90er. München 2000, S. 105–116, hier S. 107. 30 In diesem Zusammenhang ist es auffällig, dass dem Autor im Migrations- und Gegenwartsliteraturdiskurs nicht immer ein derart hoher Stellenwert zugeschrieben worden ist. Den Adelbert-von-Chamisso-Preis hat Zaimoğlu z. B. erst 2005 erhalten, also nach dem Friedrich-HebbelPreis (2002) und dem Preis der Jury beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb 2003. In Sargut Şölçüns Darstellung der Literatur der türkischen Minderheit im Handbuch der interkulturellen Literatur aus dem Jahr 2000 wird Zaimoğlu im Kapitel „Die 90er Jahre: Selbstbegegnung als neue Bodenständigkeit“ nicht einmal erwähnt. Vgl. Şölçün: Literatur der türkischen Minderheit.
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der Migrantenliteratur auf31 und funktioniert somit vollkommen anders als beispielsweise die Texte des deutschen Satirikers Şinasi Dikmen, der 1941 in der Türkei geboren wurde und dessen türkisch-tscherkessische Abstammung einen deutlichen Einfluss auf den Band Hurra, ich lebe in Deutschland (1995) ausübt.32
Intertextuelle Bezugnahmen als Teilhabe am kulturellen Gedächtnis der Aufnahmegesellschaft Eine zweite Beobachtung, die sich angesichts der Publikationen im Bereich Migrantenliteratur im Jahr 1995 machen lässt, wäre die folgende: Allem Anschein nach setzen Autoren nicht-deutscher Muttersprache, die aus einem anderen kulturellen Kontext stammen, vermehrt auf intertextuelle Bezugnahmen, die speziell auf die deutsche Literatur ausgerichtet sind. Dies lässt sich als Verwirklichung einer ästhetischen Teilhabe in eben jenen Momenten deuten, in denen eine tatsächliche soziale und politische Teilhabe verwehrt wird. Mittels Intertextualität wird eine Verbindung zwischen der Herkunfts- und der Aufnahmegesellschaft hergestellt, die auf kulturelle Anerkennung abzielt. Da diese Strategie sich bei fast allen Texten der Migrantenliteratur ausmachen lässt, andere literarische Bereiche, die von Muttersprachlern dominiert werden, wie z. B. die Popliteratur, jedoch einen anderen Umgang mit dem literarischen Erbe erkennen lassen, scheint hier ein migrantenspezifisches Merkmal gegeben zu sein. Für die Gastarbeiterliteratur können in diesem Zusammenhang Franco Biondis Ode an die Fremde (1995) oder Aras Örens Berlin Savignyplatz (1995) angeführt werden, deren intertextuelle Bezugspunkte bereits im Titel markiert werden. Örens Roman steht durch eine „Vielfalt und Gleichzeitigkeit von Ichs“,33 „die sich kaum einwandfrei den einzelnen Figuren zuordnen lassen“,34 formal-ästhetisch in der Tradition des Romans der Moderne. Neben dem Bezug zu Alfred Döblins
31 Da es nicht eine einzige türkische Figur im Roman gibt, liegt es nahe, in diesem Text einen Assimilationsversuch zu sehen, wie ihn Feridun Zaimoğlu in seinem Vorwort zu Kanak Sprak verdammt, wenn er von Türken spricht, die „es deutschen Kleinbürgern gleich[…]tun“ und „zum netten Kollegen Ali“ mutieren. (Zaimoğlu: Kanak Sprak, S. 18.) Vgl. zu der Einordnung Christian Steltz: Von Kanakstern und Alibi-Abiturtürken. Ein Überblick über verschiedene Strategien der Identitätsbildung in der deutsch-türkischen Literatur. In: Corinna Schlicht (Hg.): Momente des Fremdseins. Kulturwissenschaftliche Beiträge zu Entfremdung, Identitätsverlust und Auflösungserscheinungen in Literatur, Film und Gesellschaft. Oberhausen 2006, S. 88–102. 32 Vgl. Şölçün: Literatur der türkischen Minderheit, S. 142. 33 Chiellino: Eine Literatur des Konsenses, S. 61. 34 Şölçün: Literatur der türkischen Minderheit, S. 147.
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Berlin Alexanderplatz steht ein weiterer großer Roman der Moderne Modell, auf den der Untertitel Auf der Suche nach der Gegenwart V hinweist: Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Hinzu treten zahlreiche intertextuelle Bezüge zu Örens früherer Erzählung Bitte nix Polizei (1983), aus der die Figur Ali Itır entlehnt ist. Weitere intertextuelle Anleihen beziehen sich auf Örens BerlinTrilogie.35 Mit dieser Selbstreflexivität knüpft der Roman ebenfalls an die Moderne an, die er zugleich in ein „in den frühen Texten schon angelegtes anspruchsvolles postmodernes literarisches Modell“36 weiterführt. Wie auch immer man das ästhetische Verfahren einordnet, das Werk ist definitiv weit davon entfernt, auf Gastarbeiterliteratur im Sinne von Betroffenheitsliteratur reduziert werden zu können. Im Gedichtband Also sprach Abdulla (1995) des Syrers Adel Karasholi, dessen schriftstellerische Laufbahn in der DDR begann, kommen zahlreiche literarische Vorbilder zusammen. Zu Hikmet, Neruda und Lorca37 treten kanonische und zeitgenössische Dichter deutscher Sprache hinzu, mit denen sich Karasholi seit seiner Zeit am Literaturinstitut Leipzig auseinandergesetzt hat. Neben Brecht, Kleist, Hölderlin und Rilke sind dies vor allem Volker Braun und Enzensberger,38 dessen Gedicht landessprache Karasholi in Daheim in der Fremde variiert.39 Neben diese Größen deutscher Dichtung treten in Also sprach Abdulla (1995) altislamische Sufi-Texte aus dem 10. Jahrhundert, an denen er sich strukturell orientiert.40 Damit funktionieren Karasholis Gedichte bereits auf sehr ähnliche Weise wie Özdamars Erzählungen aus dem mit dem Bachmann-Preis ausgezeichneten Band Mutterzunge (1990) und wie ihr Romanerstling mit dem langen Titel Das Leben ist eine Karawanserei, hat zwei Türen, aus einer kam ich rein, aus der anderen ging ich raus (1992), der ebenfalls „[m]uslimische Gebete, türkische Märchen, Liedertexte, Gedichte und Wortspiele“41 zu einer orientalisch anmutenden Textcollage zusammenfügt.
35 Bestehend aus Was will Niyazi in der Naunynstraße? (1973), Der kurze Traum aus Kagithane (1974) und Die Fremde ist auch ein Haus (1980). 36 Hofmann: Interkulturelle Literaturwissenschaft, S. 198. 37 Vgl. Chiellino: Eine Literatur des Konsenses, S. 55. 38 Vgl. Mustafa Al-Slaiman: Autor/innen aus dem arabischen Kulturraum. In: Carmine Chiellino (Hg.): Interkulturelle Literatur in Deutschland. Ein Handbuch. Stuttgart 2007, S. 235–248, hier S. 245. 39 Vgl. ebd., S. 246. 40 Vgl. ebd. 41 Gürsel Aytac: Sprache als Spiegel der Kultur. Zu Emine Sevgi Özdamars Roman Das Leben ist eine Karawanserei. In: Mary Howard (Hg.): Interkulturelle Konfigurationen. Zur deutschsprachigen Erzählliteratur von Autoren nichtdeutscher Herkunft. München 1997, S. 171–177, hier S. 172.
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Auch bei SAID ist der Versuch, über kulturell-ästhetische Teilhabe zu einer sozialen Teilhabe zu gelangen, offenkundig. In Der lange Arm der Mullahs (1995) verarbeitet SAID die Flucht aus dem Iran und einen Rückkehrversuch nach dem Sturz des Schahs 1979. Das zuletzt genannte Erlebnis hat schon 1983 einen Niederschlag auf den Gedichtband wo ich sterbe ist meine Fremde gefunden, in dem SAID durch „die persönliche Tragik die Tradition der Reisedarstellung wieder[belebt], in der [Heinrich] Heine nach dem Exil politische Potenz entdeckte.“42 Andere Einflussfaktoren sind das dokumentarische Gedicht und das Spruchgedicht, das SAID vor allem bei Erich Fried entdeckt.43 Da unzählige internationale Autoren sowie eine Reihe persischer Dichter hinzukommen,44 lässt sich dieselbe Mixtur aus okzidentaler und orientalischer Tradition erkennen, die auch bei Karasholi und Özdamar vorherrscht. Der persönliche Aufstieg SAIDS führt vor Augen, dass der ästhetischen Partizipation auch sozial-kulturelle Teilhabe folgen kann. Anders verhält es sich bei Nevfel Cumart, Jahrgang 1964, dem man Mitte der neunziger Jahre vielleicht eine größere Zukunft vorausgesagt hätte, war doch gerade 1995 für den fränkischen Autor mit türkischen Wurzeln ein außerordentlich erfolgreiches Jahr: Er erhielt den Staatlichen Förderungspreis für Literatur des Landes Bayern sowie das Aufenthaltsstipendium im Literarischen Colloquium Berlin (LCB) und veröffentlichte einen Gedichtband mit dem Titel Verwandlungen (1995). Dass Cumart mit der Anspielung auf Ovids Metamorphosen sich auf denselben Prätext bezieht wie Erwin Strittmatters posthum veröffentlichte Aufzeichnungen Vor der Verwandlung (1995), ist dem Zufall geschuldet, schließlich weist Cumarts Gedichtband seinem Titel entgegen keine besondere Nähe zu Ovid auf. Im Zentrum stehen andere Themen: Diesem Band geht es nicht primär um die dichterische Auseinandersetzung mit dem Vorgänger, sondern um Metamorphosen anderer Art: Neben der für Migrantenliteratur typischen Identitätsproblematik wären hier die Brandanschläge rechtsradikaler Jugendlicher in Ost und West zu nennen, die gleich in mehreren Gedichten aufgegriffen werden (u. a. in lichterkette, brennende nächte). Zu einer vorläufigen Klimax scheint die Strategie der literarischen Einschreibung in die Kultur der deutschen Aufnahmegesellschaft im Jahr 2000 gekommen zu sein. Mit Liebesmale, scharlachrot hat Feridun Zaimoğlu einen Briefroman
42 Ewout van der Knaap: SAID. In: KLG. 61. Nlg. Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur 3/99, S. 3. 43 Vgl. ebd., S. 6. 44 Ebd., S. 7.
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vorgelegt, der Goethes Werther in einem interkulturellen Rahmen und in entsprechender ‚Kanak Sprak‘ neu arrangiert.45
Rumäniendeutsche und afro-deutsche Literatur Zu den sozialgeschichtlichen Phänomenen der Nachkriegszeit, die generell mit Migrantenliteratur assoziiert werden, zählen neben der gezielten Anwerbung von Gastarbeitern aus Südeuropa und dem politischen Asyl für Verfolgte aus dem Nahen Osten noch verschiedene Fluchtbewegungen politischer Dissidenten aus den ehemaligen Ostblockstaaten nach Westdeutschland sowie der inner-sozialistische Austausch, der viele ausländische Autoren in die DDR geführt hat; dort vor allem ans Literaturinstitut Johannes R. Becher in Leipzig (siehe Karasholi). Zur letzteren Gruppierung gehört der Chamisso-Förderpreisträger des Jahres 1995. Das Werk des Ungarn László Csiba, der im selben Jahr mit dem Erzählband Gleichgewichtsstörung debütierte, ist in der Folge mit vier weiteren Veröffentlichungen bis zum heutigen Tag jedoch überschaubar geblieben, insbesondere im Vergleich zu Chamisso-Preisträger György Dalos oder Galsan Tschinag, dem Autor aus der Mongolei, der seit seinem Studium in Leipzig auf Deutsch schreibt und 1995 einen Gedichtband mit dem Titel Alle Pfade um deine Jurte im WaldgutVerlag und den Roman Zwanzig und ein Tag bei Suhrkamp veröffentlicht hat. Noch produktiver zeigen sich die deutschsprachigen Autoren aus Rumänien, unter die verschiedene Minderheiten wie die Banater Schwaben, die Siebenbürger Sachsen und Autoren aus der Bukowina fallen. Anders als in der deutsch-türkischen Literatur spielt das Jahr 1995 hier aber keine außergewöhnliche Rolle. Die Literatur der Banater Schwaben stand bereits seit Herta Müllers Niederungen (1984) und ihrer Ausreise in die BRD drei Jahre später verstärkt im Fokus. 1995 liegt von ihr der Essayband Hunger und Seide vor. Ihr ehemaliger Ehemann
45 An dieser Stelle muss darauf hingewiesen werden, dass selbstredend nicht alle intertextuellen Bezugnahmen in Texten von Migranten auf Integration und ästhetische sowie soziale Teilhabe ausgerichtet sind. Ein markantes Beispiel für eine auf Unterhaltung ausgerichtete, ironische Intertextualität im Jahr 1995 wäre Wege zum Ruhm. 13 Hilfestellungen für junge Künstler und 1 Warnung von Robert Gernhardt, der 1937 als Teil der deutsch-baltischen Minderheit in Estland geboren wurde. Mit wiederum anderen Intentionen arbeitet sich Zé do Rock in fom winde ferfeelt am Genre des Reiseromans ab. Daher passt der in ‚ultradoitsch‘ verfasste Roman des brasilianischen Autors ebenso wenig in die oben aufgeführte Gruppe wie die 1995 veröffentlichte Novelle [→] Der Spaziergang von Rostock nach Syrakus von C. F. Delius, der zwar in Rom geboren wurde, dennoch aber nicht als Migrant wahrgenommen wird.
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Richard Wagner, ohnehin einer der produktivsten rumäniendeutschen Autoren,46 hat 1995 mit In der Hand der Frauen einen Roman vorgelegt, der im Kontext des Gesamtwerks die Hinwendung zu „seichten, erotisch motivierten Boulevardthemen“47 ankündigt, die später in Lisas geheimes Buch (1996) oder Im Grunde sind wir alle Sieger (1998) verstärkt wird48 und gleichfalls in den narratologisch komplexeren Romanen, wie Miss Bukarest (2001), wiederzufinden ist. Franz Hodjak, der 1992 in die BRD gezogen ist, hat den Roman Grenzsteine (1995) bei Suhrkamp veröffentlicht, der sich dem Themenkomplex ‚Ausreise‘ auf groteske Art und Weise nähert. Vollkommen neu ist das Aufkommen einer afro-deutschen Literatur, das eng mit dem Aufstieg des Rap und mit publizistischen Impulsen wie der Initiative Schwarze Deutsche (ISD) verknüpft ist. Als Wegbereiterin kann May Ayim gelten, die 1995 die Veröffentlichung des Gedichtbands blues in schwarz weiss (1995) noch erleben durfte, der ebenso wie der posthum veröffentlichte Gedichtband nachtgesang (1997) um die Themen Identität, Fremdheitserfahrung, Einsamkeit, Diskriminierung und Rassismus kreist. Neben der Berliner Dichterin, die sich am 9. August 1996 das Leben nahm, haben Chima Oji (Unter die Deutschen gefallen, 1992) und Hans-Jürgen Massaquoi mit Neger, Neger, Schornsteinfeger! (1999) zur Öffentlichkeitswirksamkeit dieser Literatur beigetragen, die jedoch – anders als die von Feridun Zaimoğlu begründete Migrantenliteratur – zumeist autobiographisch geprägte Betroffenheitsliteratur bleibt.
Literaturverzeichnis Primärliteratur Ayim, May: blues in schwarz weiss. Berlin: Orlanda Frauenverlag 1995. Ayim, May: nachtgesang. Berlin: Orlanda Frauenverlag 1997. Biondi, Franco, Jusuf Naoum, Rafik Schami, Suleman Taufiq: Literatur der Betroffenheit. Bemerkungen zur Gastarbeiterliteratur. In: Christian Schaffernicht (Hg.): Zuhause in der Fremde. Ein bundesdeutsches Ausländer-Lesebuch. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1984, S. 124–136. Biondi, Franco: Ode an die Fremde. Duisburg: Avlos 1995. Csiba, László: Gleichgewichtsstörung. Tübingen: Heliopolis 1995. Cumart, Nevfel: Verwandlungen. Düsseldorf: Grupello 1995.
46 Vgl. Thomas Krause: Literatur der deutschsprachigen Minderheit Rumäniens. In: Carmine Chiellino (Hg.): Interkulturelle Literatur in Deutschland. Ein Handbuch. Stuttgart 2007, S. 177–188, hier S. 187. 47 Ebd., S. 184. 48 Vgl. ebd., S. 188.
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Sekundärliteratur Adelbert-von-Chamisso-Preis der Robert Bosch Stiftung, online: http://www.bosch-stiftung.de/ content/language1/html/4595.asp Al-Slaiman, Mustafa: Autor/innen aus dem arabischen Kulturraum. In: Carmine Chiellino (Hg.): Interkulturelle Literatur in Deutschland. Ein Handbuch. Stuttgart, Weimar: Metzler 2007, S. 235–248. Aytac, Gürsel: Sprache als Spiegel der Kultur. Zu Emine Sevgi Özdamars Roman Das Leben ist eine Karawanserei. In: Mary Howard (Hg.): Interkulturelle Konfigurationen. Zur deutschsprachigen Erzählliteratur von Autoren nichtdeutscher Herkunft. München: Iudicium 1997, S. 171–177. Bogdal, Klaus-Michael: Wo geht’s denn hier nach Kanakstan? In: Monika Schmitz-Emans (Hg.): Literatur und Vielsprachigkeit. Heidelberg: Synchron 2004, S. 237–248. Chiellino, Carmine: Literatur der italienischen Minderheit. In: C. C. (Hg.): Interkulturelle Literatur in Deutschland. Ein Handbuch. Stuttgart, Weimar: Metzler 2007, S. 63–83. Chiellino, Carmine: Einleitung: Eine Literatur des Konsenses und der Autonomie – Für eine Topographie der Stimmen. In: C. C. (Hg.): Interkulturelle Literatur in Deutschland. Ein Handbuch. Stuttgart, Weimar: Metzler 2007, S. 51–62. Chiellino, Carmine: Literatur der italienischen Minderheit. In: C. C. (Hg.): Interkulturelle Literatur in Deutschland. Ein Handbuch. Stuttgart, Weimar: Metzler 2007, S. 63–83. Chiellino, Carmine: Vorwort. In: C. C. (Hg.): Interkulturelle Literatur in Deutschland. Ein Handbuch. Stuttgart, Weimar: Metzler 2007, S. V-VIII. Ernst, Thomas: Literatur und Subversion. Politisches Schreiben in der Gegenwart. Bielefeld: transcript 2014. Friedrich, Heinz (Hg.): Chamissos Enkel. Literatur von Ausländern in Deutschland. München: dtv 1986. Görtz, Franz Josef, Volker Hage, Hubert Winkels (Hg.): Deutsche Literatur 1995. Jahresüberblick. Stuttgart: Reclam 1996. Heimböckel, Dieter, Georg Mein: Zwischen Provokation und Usurpation oder Nichtwissen als Zumutung des Fremden. Zur Einleitung des Bandes. In: D. H., G. M. (Hg.): Zwischen Provokation und Usurpation. Interkulturalität als (un)vollendetes Projekt der Literatur- und Sprachwissenschaften. München: Fink 2010, S. 9–14. Hofmann, Michael: Interkulturelle Literaturwissenschaft. Eine Einführung. Paderborn 2006. Keiner, Sabine: Von der Gastarbeiter- zur Migranten- und Migrationsliteratur – literaturwissenschaftliche Kategorien in der Krise? In: Sprache und Literatur in Wissenschaft und Unterricht 83 (1999), S. 3–14. Klüh, Ekaterina: Interkulturelle Identitäten im Spiegel der Migrantenliteratur. Kulturelle Metamorphosen bei Ilija Trojanow und Rumjana Zacharieva. Würzburg: Königshausen & Neumann 2009. Knaap, Ewout van der: SAID. In: KLG. 61. Nlg. Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur 3/99. Krause, Thomas: Literatur der deutschsprachigen Minderheit Rumäniens. In: Carmine Chiellino (Hg.): Interkulturelle Literatur in Deutschland. Ein Handbuch. Stuttgart, Weimar: Metzler 2007, S. 177–188. Kuruyazici, Nilüfer: Emine Sevgi Özdamars Das Leben ist eine Karawanserei im Prozeß der interkulturellen Kommunikation. In: Mary Howard (Hg.): Interkulturelle Konfigurationen. Zur
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3 Räume
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Die Wiederkehr des Raums in der Literatur Raum ist „in jüngster Zeit zu einer neuen zentralen Wahrnehmungseinheit und zu einem theoretischen Konzept geworden“.1 Diese Bemerkung kann als Schlussfazit zum sogenannten spatial turn gelten, den Bachmann-Medick innerhalb ihrer Rekonstruktion der unterschiedlichen kulturellen turns behandelt. Über die fast ubiquitäre Konjunktur des spatial turn heißt es in der Einleitung des von Jörg Döring und Tristan Thielmann herausgegebenen Essaybands Spatial Turns. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften: Inzwischen wird ein spatial turn für die Theologie und für die Organisationslehre proklamiert. In den Kultur- und Sozialwissenschaften gibt es ohnehin kaum eine Disziplin, die nicht entweder ihren spatial turn eingeläutet hat, den in den anderen Fächern ausgerufenen kommentiert oder sich zu ihm positioniert.2
Die Herausgeber diskutieren auch die Skepsis, die diese Formel als Folge der vielen in den letzten Jahrzehnten angekündigten ‚Kehren‘ in den Kulturwissenschaften hervorgebracht hat.3 Ob man nun von einem spatial turn ausgehen will oder nicht: Es lässt sich jedenfalls die Tatsache nicht widerlegen, dass der Raum in den letzten Jahren zu einer wichtigen, fast unentbehrlichen Kategorie innerhalb der unterschiedlichen geisteswissenschaftlichen Diskurse geworden ist, und dass diese Aufwertung als Reaktion auf eine langjährige Vernachlässigung zu interpretieren ist. Stellt man sich die Frage, was der spatial turn in der Literaturtheorie bewirkt hat, so wird man mit einer Fülle neuer Ansätze konfrontiert, die von der Vitalität der Diskussion zeugen. Als wichtigster Beitrag kann Sigrid Weigels Vorschlag des topographical turn gelten. In Anlehnung an Hillis Miller und an Franco Moretti hat Weigel entscheidende Impulse für eine Neuentdeckung der räumlichen Dimension in der Literaturtheorie gegeben, indem sie das Interesse einerseits auf die Topographie als Verbindung von „Schrift und Ort“ und anderseits auf die produktive Nutzung von Landkarten gelenkt hat.4 Mit der
1 Doris Bachmann-Medick: Cultural Turns. Neuorientierung in den Kulturwissenschaften. Reinbek b. Hamburg 2006, S. 284. 2 Jörg Döring, Tristan Thielmann: Einleitung. Was lesen wir im Raume. Der Spatial Turn und das geheime Wissen der Geographen. In: J. D., T. T. (Hg.): Spatial Turn: Das Raumparadigma in Kultur- und Sozialwissenschaften. Bielefeld 2008, S. 7–45, hier S. 10. 3 Vgl. ebd., S. 12. 4 Vgl. Sigrid Weigel: Zum „Topographical Turn“. Kartographie, Topographie und Raumkonzepte in den Kulturwissenschaften. In: Kultur-Poetik. Zeitschrift für kulturgeschichtliche Literaturwis
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Betonung des „grapheins“ gerät also Schriftlichkeit ins Zentrum des erneuten Interesses an der räumlichen Perspektive.5 Unter den neuen Ansätzen, die in den letzten Jahren eine Neudefinition der Bedeutung von Raum (insbesondere vom geographischen Raum) in der Erzähltheorie vorgenommen haben, ist zum Beispiel auf das von verschiedenen Interpreten (und mit verschiedenen Akzentsetzungen) unternommene Projekt der Geopoetik hinzuweisen, die trotz aller Differenzen, die sich in den unterschiedlichen Richtungen dieser neuen Disziplin manifestieren, eine enge Verbindung und wechselseitige Beeinflussung von Geographie und Literatur als Ausgangspunkt nimmt.6 Wenn man von der Literaturtheorie den Blick auf die literarischen Texte wendet, so lässt sich sicherlich eine allgemeine Tendenz zur Bedeutungszunahme von Raum nur mit größeren Schwierigkeiten demonstrieren. Stephan Günzel spricht im Hinblick auf die Literatur nach 1989 von einer Lust am Lesen, Erforschen und Entwerfen von (alten und neuen) Landschaften, Städten, verlassenen Gegenden oder ehemals verbotenen Zonen, von künstlerischer Globalisierung, vom Entwurf neuer geopolitischer Zusammenhänge und phantastischer und virtueller Welten als Gegenentwürfe zu bestehenden Territorien.7
Das kann zwar im Grunde keine Fehleinschätzung sein, ist jedoch mangels umfangreicherer Analysen der Behandlung von Raum in der Literatur nach 1989 nicht leicht zu beweisen, weil sich dagegen einwenden lässt, solche Phänomene seien mehr oder wenig schon immer in der Literatur vorhanden. Die Bedeutung von 1995 als Wendejahr im Kontext des erneuten Interesses an der Kategorie Raum zu beurteilen, kann unter dieser Prämisse deshalb als eine schwer zu lösende Aufgabe angesehen werden. Hier können einige 1995 erschienene literarische Texte, in denen die Darstellung von Raum eine wichtige thematische Rolle spielt, einer Analyse unterzogen werden. Zugleich ist auf einen im selben Jahr veröffentlichten Essay hinzuweisen, der die Bedeutung des Raumes als analytischer Kategorie frühzeitig erkannte, und in dem wichtige Ansatzpunkte für die
senschaft 2/2 (2002), S. 151–165. J. Hillis Millers Topographies habe die Topographie „als Schrift eines Ortes/Raums, als räumliche Metaphorik, als kartographisches Diagramm oder als Bezeichnung für eine räumliche bzw. kartographische Ordnung der Dinge“ definiert (S. 157). Franco Morettis Atlante della letteratura europea habe Karten „nicht als Metapher sondern als analytisches Instrument“ untersucht (S. 158). 5 Deshalb betonen Döring und Thielmann, dass „den topographischen Aspekt vor allem die literatur- und kulturwissenschaftliche Diskussion“ akzentuiere (Döring, Thielmann: Einleitung, S. 13). 6 Vgl. dazu Stephan Günzel: Raum. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart 2010, S. 305–307. 7 Ebd., S. 304.
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Die Wiederkehr des Raums in der Literatur
Behandlung dieser Texte enthalten sind. Wiederkehr des Raumes ist der Titel dieses Essays, der im Sammelband Go east oder die zweite Entdeckung des Ostens des Kulturhistorikers Karl Schlögel erschienen ist.8 Schlögels Ausgangspunkt ist die Erfahrung einer sowohl in empirischer als auch in wissenschaftlicher Hinsicht radikal veränderten Raumwahrnehmung nach dem Fall der Berliner Mauer. Nach diesem welthistorischen Ereignis, mit dem „das Raumgefüge Europas zusammengebrochen“ sei, „leben wir nicht nur in einer anderen Zeit, sondern auch in einem anderen Raum“.9 Eine bahnbrechende Bedeutung gewinnt Schlögels These vor allem hinsichtlich der im zweiten Teil des Aufsatzes formulierten Aufforderung nach einer Wiederentdeckung des Raums als wissenschaftliche Kategorie für die Erforschung historischer Phänomene. Hier setzt sich Schlögel mit einem Problem auseinander, das bereits seit Edward Sojas erstem Versuch einer Reassertion of Space in den Humanwissenschaften im Mittelpunkt der Diskussion um den spatial turn steht.10 Es handelt sich um das Problem der Trennung von Historiographie und Erdkunde, die nicht zuletzt auf die Diskreditierung der Geopolitik nach 1945 zurückzuführen ist.11 Schlögel zufolge muss deshalb eine ernsthafte Beschäftigung mit dem Raum in der Geschichtswissenschaft auch die Rückwendung auf die vergessene Tradition des deutschen Raumdenkens mit einschließen. Diese solle man freilich nicht in ihrem einseitigen Determinismus des im 19. Jahrhundert formulierten „geographischen Gesetzes“ wiederaufnehmen, sondern sie solle mit anderen Denkkategorien in Verbindung gebracht werden. Es gelte, die obsolet gewordenen Oppositionen zwischen Zeit, Raum und Gesellschaft aufzulösen, um die Grundlage für einen geschärften Blick auf die zeitgeschichtlichen Transformationen neu zu schaffen.12
8 Vgl. Karl Schlögel: Die Wiederkehr des Raumes. In: K. S.: Go east oder die zweite Entdeckung des Ostens. Berlin 1995, S. 17–33. Der Band enthält zwischen 1991 und 1994 geschriebene und veröffentlichte Aufsätze zu zeithistorischen Ereignissen, historisch-gesellschaftliche Beschreibungen von den sich im Umbruch befindenden Orten und Städten Osteuropas sowie Essays zu allgemeineren Aspekten, die eigens für das Buch geschrieben worden sind. 9 Ebd., S. 17. 10 Vgl. Edward W. Soja: Postmodern Geographies. The Reassertion of Space in the Social Sciences. London 1989. 11 Vgl. Schlögel: Die Wiederkehr des Raumes, S. 17f.: „In Deutschland tut man sich aus verständlichen Gründen mit der Transformation des Raumes besonders schwer. Sie wird empfunden als die Wiederkehr von etwas, über das man Gott sei Dank längst hinaus war. Wo andere zwangslos von ‚l’espace sociale‘ sprechen können, bleibt den Deutschen die Vokabeln ‚Lebensraum‘ im Halse stecken. ‚Raum‘ ist semantisch aufgeladen und schwer belastet; das hat zu tun mit dem ‚Volk ohne Raum‘, mit ‚Blut und Boden‘ und mit ‚Geopolitik‘, besonders wenn der ‚Ostraum‘ gemeint ist.“ 12 Vgl. ebd., S. 31.
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In Schlögels Essay lassen sich viele Hauptargumente der heutigen Hinwendung zum Raum in den Kulturwissenschaften vorwegnehmen.13 Obwohl die bereits in Sojas Postmodern Geographies – dem Urtext des spatial turn – enthaltenen Thesen in Schlögels Kernpunkten deutlich wiederkehren, stützt sich der Autor mehr auf erlebte Erfahrung als auf abstrakte Theoriekonstrukte. Um die Bedeutung der geopolitischen Transformationen richtig zu verstehen, müsse man „keinen Kurs in Wirtschaftsgeographie absolviert haben. Man muß einen Pendelzug am späten Sonntagabend von Frankfurt an der Oder nach Berlin besteigen oder von Bratislava nach Wien, um den neuen Radius von Pendelbewegungen ermessen zu können“.14 Eine ähnlich auf empirischer Basis fundierte Antwort auf die Frage, wie die deutsche Literatur auf diese praktische Erfahrung von dem Zusammenbruch des europäischen Raumgefüges reagiert hat, geben mindestens vier 1995 erschienene Texte, in denen Raum zu einem relevanten Bedeutungsträger wird, in den die geopolitischen Transformationen hineingeschrieben werden. Ihre topographische Natur zeichnet sich dadurch aus, dass die Ortsbeschreibung in ihnen nicht nur dazu dient, der Erzählung Lokalkolorit zu verleihen. Sie wird hingegen als Teil des ganz konkreten Ziels eingesetzt, durch die Verbindung von Schrift und Ort eine radikal veränderte literarische Kartographie Deutschlands und Europas zu entwerfen. Der sich aus der Betrachtung ihrer räumlichen Dimension ergebende Zusammenhang zwischen diesen Texten ist noch bemerkenswerter angesichts der vielen Unterschiede bezüglich ihrer Form und ihres Inhalts. Als ihr gemeinsamer Nenner darf die Bewegung im Raum als Voraussetzung für die Verbindung von Zeit, Raum und Schrift angesehen werden: Als Wiedergänger der Berlin- und Groß-
13 Möglicherweise aufgrund des fachspezifischen, hauptsächlich in der Osteuropakunde liegenden Interesses der Sammlung Go east oder die zweite Erfindung des Ostens wird dem Essay Die Wiederkehr des Raums in der jüngst entstandenen Forschung über den spatial turn keine Aufmerksamkeit geschenkt. Diskutiert wird vielmehr Schlögels 2003 erschienene Monographie Im Raume lesen wir die Zeit, die den Kulminationspunkt von Schlögels Beschäftigung mit der Rückgewinnung der räumlichen Dimension für die Historiographie darstellt. In der wissenschaftlichen Literatur (vgl. z. B. Eric Piltz: Trägheit des Raums. Fernand Braudel und die Spatial Stories der Geschichtswissenschaft, in: Jörg Döring, Tristan Thielmann (Hg.): Spatial Turn: Das Raumparadigma in Kultur- und Sozialwissenschaften. Bielefeld 2008, S. 75–102, S. 76) führt man die Begriffsprägung der ‚Wiederkehr des Raums‘ dagegen auf Jürgen Osterhammels so betitelten, 1998 veröffentlichten Forschungsbericht zurück, der sich mit einer langen Reihe politischer und geschichtlicher Studien vor allem aus England, Frankreich und Deutschland befasst, die in den letzten Jahren den räumlichen Faktor wieder in den Mittelpunkt gestellt haben (vgl. Jürgen Osterhammel: Die Wiederkehr des Raums. Geopolitik, Geohistorie und historische Geographie. In: Neue Politische Literatur 43 [1998], S. 374–397). 14 Schlögel: Die Wiederkehr des Raumes, S. 19.
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stadtromane des frühen 20. Jahrhunderts nimmt Günter Grass in [→] Ein weites Feld zunächst das wiedervereinigte Berlin als Mittelpunkt der Erzählung, um dann später auch Städte und Landschaften der ehemaligen DDR zu beschreiben; [→] Faserlands Erzählstruktur ist die einer Road Novel durch das ganze Gebiet der westdeutschen BRD; [→] Die Ringe des Saturn gehen auf eine Fußreise durch die Grafschaft Suffolk zurück, die im Text zum Ausgangspunkt unzähliger essayistischer Ausschweifungen wird. [→] Der Spaziergang von Rostock nach Syrakus von Christian Friedrich Delius thematisiert die zeitgeschichtliche Erfahrung des Verschwindens der Grenzen zwischen Ost und West anhand der Erzählung der wahren Geschichte eines DDR-Bürgers und dessen Traum, auf den Spuren Johann Gottfried Seumes Sizilien zu erreichen. Nicht nur bei Delius ist ‚Grenze‘ eine zentrale Raumkategorie. Auch Ein weites Feld fängt mit einer in dieser Hinsicht sehr bedeutenden Szene an. Im ersten Kapitel Bei den Mauerspechten flaniert die Hauptfigur Theo Wuttke (genannt Fonty) zusammen mit seinem Freund Hoftaller einen Monat nach dem Mauerfall vom Brandenburger Tor bis zur Siegessäule. Fonty und Hoftaller überqueren also während dieses Spaziergangs eine nicht mehr existierende Grenze. Das Brandenburger Tor, das lange Zeit mit dem es umgebenden Stacheldraht als Metapher der deutschen Teilung gegolten hat, wird in diesen Tagen wieder zum Symbol der deutschen Einheit. Sarkastisch kommentiert Fonty diese Veränderung, indem er Strophen aus Fontanes Ballade Einzug rezitiert, in der die Feierlichkeiten nach dem Sieg gegen Frankreich 1871 besungen werden. Auf diese Weise charakterisiert er die Wiedervereinigung als historische Wiederholung der ersten Einigung Deutschlands. Mit topographischer Genauigkeit erwähnt der Roman in den folgenden Kapiteln weitere Berliner Schauplätze. Die Wichtigsten sind u. a. das Haus Fontys an der Kollwitzstraße Nr. 73 und das Haus der Ministerien, wo Fonty arbeitete, und das zum Zeitpunkt der Erzählung bereits zum Sitz der „Treuhand“ geworden ist. Das Gebäude liegt zwischen der Otto-Grotewohl-Straße, die allerdings gegen Ende des Romans mit Wilhelm I. einen neuen Namensgeber erhält, und der Leipziger Straße. Weitere Berliner Schauplätze werden im Laufe des Romans genannt und sorgfältig beschrieben. Es handelt sich um eine überschaubare Kartographie, die auf einige für die deutsche Geschichte wichtige Orte beschränkt wird.15 Die Architektur und allgemein die Räume der zukünftigen deutschen Hauptstadt werden als versteinertes kulturelles Gedächtnis behandelt.
15 Vgl. Egbert Birr: Grassland: Feldpost aus dem Reich der Mitte. In: Erhard Schütz, Jörg Döring (Hg.): Text der Stadt – Reden von Berlin. Literatur und Metropole seit 1989. Berlin 1999, S. 32–58, S. 34f: „Augenfälligstes Merkmal der Grassschen Berlin-Konstruktion ist die relative Begrenztheit und Bruchstückhaftigkeit des handlungsrelevanten Territoriums: Das Setting des Romans bildet – mit wenigen Ausnahmen – die ‚historische Mitte‘ der Stadt, wobei die Topographie dieses
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Das betrifft nicht nur das oben genannte Beispiel des Brandenburger Tors, sondern ebenfalls etwa die Siegessäule, die immer noch sichtbare Schäden aus den Kämpfen des Zweiten Weltkriegs zeigt. Als dialektisches Bild deutscher Geschichte versteht sich auch das 1936 für das Luftfahrtministerium errichtete Gebäude, das dann als Haus der Ministerien und schließlich als Sitz der „Treuhand“ umfunktioniert wurde. Die Kartierung der übrigen DDR erfolgt durch einige Ausflüge Fontys, der nach Hiddensee, Neuruppin, Frankfurt an der Oder und in die Lausitz fährt. Dem Auslöschen der Erinnerung an vergangene Epochen, das sich etwa in der raschen Umbenennung von Straßen und Gebäuden ausdrückt, stellt Grass ein narratives Programm entgegen, in dem Ortsbeschreibungen durch die Verflechtung von Geographie und Geschichte charakterisiert werden. Genauso wie sich Gegenwart und Vergangenheit in der Wiedergänger-Figur Fonty treffen, kreuzen sich die räumlichen und die geschichtlichen Achsen auch in den von den Protagonisten besuchten Orten, so dass die historischen Epochen sich als im Bild der Gegenwart überlagerte Schichten manifestieren. Eine anschauliche Darstellung dieser Methode lässt sich in der Episode der Kohlenhalden nahe Altdöbern in der Lausitz finden, die Fonty und Hoftaller am symbolischen Datum des 9. Novembers besuchen, und die als eine Allegorie der „Zeitschichten“ (mit Koselleck gesprochen) der deutschen Vergangenheit angesehen werden kann.16 Präsentiert Grass in Ein weites Feld eine geschichtliche Kartographie Berlins und der ehemaligen DDR, so zeichnet sich Faserland durch eine Kartographie der ehemaligen westdeutschen BRD aus, die dagegen nur die Oberfläche der Gegenwart wiedergibt, obwohl verfremdende Anmerkungen über die Nazi-Zeit und den
wenige hundert Quadratmeter umfassenden Geländes uns zudem vornehmlich in Form von Fragmenten begegnet, welche nicht zu einem einheitlichen Gefüge verbunden werden“. 16 Vgl. Reinhart Koselleck: Zeitschichten. Studien zur Historik. Frankfurt/M. 2000. Im titelgebenden Aufsatz behandelt Koselleck aus geschichtstheoretischer Perspektive das Problem von Wiederholung und Einmaligkeit geschichtlicher Ereignisse und Erfahrungen in der historischen Rekonstruktion. Um auf ein Modell für eine Historie hinzuweisen, in der die Möglichkeit gegeben wird, „verschiedene Zeitebenen analytisch zu trennen“, verwendet Koselleck eine „Metapher“: „,Zeitschichten‘ verweisen auf geologische Formationen, die verschieden weit und verschieden tief zurückreichen und die sich im Laufe der sogenannten Erdgeschichte mit verschiedenen Geschwindigkeiten verändert und von einander abgehoben haben.“ (ebd., S. 19). Weil die „Wiederholung von geschichtlichen Erfahrungen“ ein zentrales Topos in Ein weites Feld ist, verwendet Grass im Prinzip die gleiche Metapher in der Episode am 9. November. Übrigens muss man im Bezug auf die „Zeitschichten“ hinzufügen, dass die Metapher gerade aufgrund ihrer räumlichen Natur für Koselleck interessant ist, wie man aus seinen einleitenden Worten zu dem Band verstehen kann: „Wer über Zeit spricht, ist auf Metaphern angewiesen. Denn Zeit ist nur über Bewegung in bestimmten Raumeinheiten anschaulich zu machen“ (ebd., S. 9).
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Zweiten Weltkrieg hier und da anzutreffen sind.17 Die Handlung von Christian Krachts erstem Roman lässt sich relativ einfach zusammenfassen. Erzählt wird von einer mit unterschiedlichen Verkehrsmitteln (Autos, Zügen, Flugzeugen) unternommenen Reise von Norden nach Süden. Durch die Bewegungen des Ich-Erzählers entsteht eine Bestandsaufnahme der (west-)deutschen Erlebnisgesellschaft der neunziger Jahre.18 Die unterschiedlichen Stationen (Sylt, Hamburg, Frankfurt am Main, Heidelberg, München, Lindau, bis schließlich über die Grenze der Schweiz) geben ein einigermaßen differenziertes Bild Deutschlands wieder, das sich von den Metropolen und Urlaubsorten bis zu den kleineren Provinzstädten ausdehnt. Diese unterschiedlichen Orte versetzen den Ich-Erzähler immer wieder in den gleichen trostlosen Zustand, so dass er jedes Mal aus ihnen fliehen muss. Städte und Landschaften werden mit lakonischen Hinweisen charakterisiert, die sich auf oberflächliche Sinneseindrücke reduzieren: Hamburg ist „weitläufig und ziemlich grün“;19 das typische Bild der Stadt sind blonde, hübsche Mädchen in Barbourjacken. Der Frankfurter Flughafen ist „wuchtig“; sein Aussehen wird durch die „hintergrundbeleuchteten Reklameschilder“ von Mannesmann, Brown Boveri und Siemens bestimmt, „die die ankommenden Geschäftsleute darauf hinweisen sollen, was für ein großartiger Industrieort Deutschland ist“.20 Christian Kracht wird auch in seinen folgenden Romanen – u. a. in 1979 (2001) und Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten (2008) – auf das Handlungsgerüst des Reiseromans zurückgreifen. Hier lässt sich die Entscheidung für eine solche Gattung zugleich als Zweck und als Mittel der Erzählung verstehen. Einerseits kann man die
17 Vgl. Christian Kracht: Faserland. Köln 1995, S. 95: „Das ist nun Heidelberg, und es ist wirklich schön dort im Frühling. Dann sind die Bäume schon grün, während überall sonst in Deutschland noch alles häßlich und grau ist, und die Menschen sitzen in der Sonne an den Neckarauen. Das heißt tatsächlich so, das muß man sich erst mal vorstellen, nein, besser noch, man sagt das ganz laut: Neckarauen. Neckarauen. Das macht einen ganz kirre im Kopf, das Wort. So könnte Deutschland sein, wenn es keinen Krieg gegeben hätte und wenn die Juden nicht vergast worden wären. Dann wäre Deutschland so wie das Wort Neckarauen.“ 18 Den Begriff prägte der Soziologe Gerhard Schulze 1992 und er kann als Signatur für die Epoche gelten, in der Christian Krachts Roman erschien (vgl. dazu Gerda Elisabeth Moser: Das postmoderne ästhetische Tableau und seine Beziehungen zu Leben und Denken. In: Henk Harbers [Hg.]: Postmoderne Literatur in deutscher Sprache: Eine Ästhetik des Widerstands. Amsterdam, Atlanta 2000, S. 35–58, insbesondere S. 39: „Kauf und Konsumtion und die Aktivitäten der Freizeit sind integrativer, wenn nicht in zunehmenden Maße zentraler Bestandteil der Konzeptualisierung des Ichs, der eigenen mehr oder weniger individuellen Persönlichkeit. Man entwickelt, pflegt und inszeniert – ob als Gruppe oder als Einzelgänger/Einzelgängerin ausgerichtet – in erster Linie sich selbst, seine über die Bedürfnisse des Lebensnotwendigen hinausgehende Genußfähigkeit, seinen persönlichen Stil und sein persönliches ‚Image‘“. 19 Kracht: Faserland, S. 27. 20 Ebd., S. 70.
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Bewegungen der Hauptfigur nur als Vorwand verstehen, um verschiedene Stationen nebeneinander zu reihen, die möglicherweise auch als getrennte Episoden funktionieren könnten. Ohne die Rahmenfunktion der Reiseerzählung, deren Grund im Text belanglos und unmotiviert bleibt, würde sich Faserland ohnehin als Sammlung nebeneinander liegender Episoden lesen lassen. Andererseits ist jedoch die Reise – die im Unterschied zur romantischen Wanderung oder zum amerikanischen Roadmovie zu keiner Entwicklung des Protagonisten führt – wichtig, weil sie nach einem Topos der Moderne den stetigen, schockartigen Wechsel von Eindrücken verursacht, dem der Ich-Erzähler ausgesetzt ist, und der zusammen mit peinlichen Situationen, wenig Essen, viel Trinken und Rauchen zu seiner dauerhaften Ekelempfindung beiträgt. Mit diesem Ekelmotiv kann man Krachts Chronotopos ‚Deutschland‘ in Verbindung bringen, der mit der Topographie Westdeutschlands (zwar unter Auslassung von Bayern) identisch ist. Ein genauso wie die ehemalige DDR versunkenes Land tritt also zutage, das eben durch die Thematisierung von Ekel von einer Verfallsatmosphäre geprägt ist. Die Ringe des Saturn und Faserland können zwar thematisch wie stilistisch nicht als vergleichbare Texte angesehen werden, jedoch lassen sich Überschneidungen zwischen ihnen im Hinblick auf ihre räumliche Form feststellen. Auch in Die Ringe des Saturn funktioniert eine Reise als Bindeglied meist schwer miteinander zu verbindender essayistischer Teile. Wie in Faserland werden Fortbewegung im Raum und Schwindelgefühle auch im dritten Prosabuch Sebalds als miteinander verschlungene Erfahrungen präsentiert. Das Paradoxon von Die Ringe des Saturn besteht ferner gerade darin, dass Sebald mit zeitlichen und geographischen Angaben auf die Wirklichkeit seiner Reiseerfahrungen bewusst hinweist, und dann von dieser Abschied nimmt, um in Raum und Zeit fernliegende Orte und Biographien zu schildern, so dass selbst die mehrmalige Ortsgebundenheit zur Grafschaft Suffolk keine Rolle spielt. Die Begegnungen mit Orten, Landschaften und Leuten lösen Assoziationen aus, die zu langen historischen, literatur- und kulturgeschichtlichen Ausschweifungen führen. Damit kehrt die Verbindung des Themas Raum mit dem Komplex ‚Erinnerung und Geschichte‘, die man bei Grass beobachten kann, bei Sebald wieder. Da das Buch Sebalds überwiegend aus solchen essayistischen Exkursen besteht, lässt sich die Reise durch Suffolk mehr als Vorwand, denn als eigentlicher Beweggrund der Erzählung verstehen. Die Ringe des Saturn zeichnet sich durch jene für die gegenwärtige Epoche charakteristische Dialektik von Verschwinden und Neudefinition der räumlichen Koordinate aus.21 Einerseits weist die relative Unabhängigkeit der
21 Über diese Dialektik vgl. Markus Schroer: Räume, Orte, Grenzen. Auf dem Weg zu einer Soziologie des Raums. Frankfurt/M. 2006.
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Erzählung vom räumlichen Bezug, die sich etwa im freien Umgang mit dem ursprünglichen Ortsbezug manifestiert, auf den Topos des Verschwindens des Raums hin, den postmoderne Theoretiker wie Paul Virilio oder Jean Baudrillard aufgrund der Vernetzungsprozesse in der Mediengesellschaft in den 80er Jahren beobachteten; andererseits lassen sich die Bewegungen des Ich-Erzählers sowohl durch die konkret besuchten als auch die in seinen Exkursen erwähnten Orte genau verfolgen und kartographieren.22 Sebalds Buch nimmt also am Prozess der Neuschreibung des Raums teil, der durch das Verschwinden der Grenzen und den darauf folgenden Globalisierungsprozess am Anfang der 90er Jahre ausgelöst wurde. Als Bild, welches den Chronotopos von Sebalds Text beschreibt, ergibt sich kein gerader Weg. Bereits der paratextuelle Hinweis im Titel Die Ringe des Saturn spielt auf einen Kreis – bzw. auf mehrere Kreise – an.23 Einige Interpreten haben die räumliche Struktur abwechselnd mit einem ‚Labyrinth‘, einem ‚Kreis‘, oder mit einem ‚Rhizom‘ verglichen.24 Es herrscht auch kein Konsens darüber, ob das Raummodell dem Leser genügend Orientierungspunkte bietet, oder ob sich Sebalds Reisen eben nicht um einen Mittelpunkt drehen, sondern sich in alle Richtungen ausdehnen.25 Wichtig ist jedoch, dass Sebald den geographischen
22 Vgl. die zwei Landkarten in Barbara Hui: Mapping Historical Networks in Die Ringe des Saturn. In: Markus Zisselsberger (Hg.): The Undiscover’d Country. W. G. Sebald and the Poetics of Travel. Rochester 2010, S. 277–298, hier S. 281f. 23 Vgl. Claudia Öhlschläger: Beschädigtes Leben. Erzählte Risse. W. G. Sebalds poetische Ordnung des Unglücks. Freiburg/Br., Berlin, Wien 2006, S. 157; Ben Hutchinson: W. G. Sebald. Die dialektische Imagination. Berlin, New York 2009, S. 37. 24 Das Labyrinth-Bild wird u. a. von Bettina Mosbach beschworen: „Die künstlichen und natürlichen Irrgärten, in denen sich der Ich-Erzähler auf seiner ‚englischen Wallfahrt‘ fortwährend verläuft bzw. zu orientieren sucht, werden dabei als Allegorien einer enzyklopädischen Textordnung lesbar“ (Bettina Mosbach: Figurationen der Katastrophe. Ästhetische Verfahren in W. G. Sebalds Die Ringe des Saturn und Austerlitz. Bielefeld 2008, S. 113). Claudia Albes benutzt sowohl das Kreis-Bild als auch das Labyrinth-Bild: Zuerst betont sie, die Wanderung verlaufe „in Schleifen und Windungen, um nicht zu sagen: labyrinthisch“ (Claudia Albes: Die Erkundung der Leere. Anmerkungen zu W. G. Sebalds „englischer Wallfahrt“ Die Ringe des Saturn. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 46 (2002), S. 279–305, hier S. 287); später benutzt sie sowohl das Bild des „barocken Turmlabyrinths“ (S. 290) als auch des „ausweglosen Rhizom[s]“ (S. 291). Die Wanderung zeige jedoch auch eine „raumzeitliche Zirkelstruktur“ (S. 288). Zusammenfassend weist Albes darauf hin, dass „die Art und Weise, wie der Text sein Sujet, die Aufzeichnung einer Wanderung, präsentiert“, „die Aporien linearer Denkschemata sichtbar“ mache (S. 280). 25 Vgl. Hutchinson: W. G. Sebald, S. 37: „Zwar bewegt sich der Erzähler insofern, als er, wie der Seemann, ständig herumreist – er dreht sich aber nur im Kreise, er dreht sich immer um einen ‚seßhaften‘ Punkt. In Die Ringe des Saturn ist dieser Punkt die Grafschaft Suffolk, von deren Städten und Landhäusern aus sich die Erzählungen chronologisch bzw. topografisch immer wieder abspulen.“ Hutchinson weist ebenfalls auf die unterschiedlichen Deutungsmöglichkeiten hin, um die Bewegungen des Erzählers zu beschreiben. Auf der einen Seite habe John Zilcosky
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Raum in einem Zeitschichten-Modell darstellt, in dem die unterschiedlichen Zeitebenen schichtweise mit Hilfe der Erinnerung ans Licht kommen. Damit kommt dem Raum eine Funktion zu, die an diejenige bei Grass erinnert. Das Verschwinden der innerdeutschen Grenze ist das Hauptthema von Der Spaziergang von Rostock nach Syrakus von Friedrich Christian Delius. Eigentlich ist jedoch im Text vom Verschwinden keine Rede: Die Grenze steht noch da und hindert den Protagonisten Paul Gompitz daran, von Znaim in Mähren nach Wien zu gelangen, um dann von dort aus Sizilien zu erreichen, was seinem Vorbild Johann Gottlieb Seume vor ungefähr 180 Jahren keine Schwierigkeit bereitet hatte. Doch auf das Verschwinden der „höchste[n] und ärgerlichste[n] Grenze der Welt“26 wird angespielt, indem Delius einen grotesk-satirischen Erzählton wählt, der im Rückblick die DDR-Reiseparanoia in ihrer ganzen Sinnlosigkeit zum Ausdruck bringt.27 Delius nimmt als Anlass seiner Erzählung die wahre Geschichte von Klaus Müller, einem DDR-Bürger, der nach siebenjährigen Vorbereitungen und Versuchen auf dem gefährlichsten, dafür aber einzig möglichen Weg über die Ostseegrenze mit einem Segelboot von Hiddensee aus die dänische Küste erreicht. Von dort ist für ihn der Weg frei, zunächst für einige Zeit die BRD zu besuchen und sich dann weiter zu seinem Reiseziel nach Italien zu begeben. Die Grenze – das kann man bei einer analytischen Lektüre von Delius’ Buch feststellen – steht jedoch nicht nur auf der Landkarte, sondern auch metaphorisch in den Köpfen der Menschen, was einem Stereotyp über die deutsch-deutschen Verhältnisse aus der Epoche des Erscheinens von Delius’ Erzählung entspricht. Gompitz muss seine Vorstellungen revidieren, als er im Westen ankommt. Im zweiten Teil des Romans – und vor allem im BRD-Teil – revidiert der Erzähler Gompitz’ Überlegungen zu den Lebensbedingungen jenseits der deutsch-deutschen Grenze, die sich als anders herausstellen, als die Hauptfigur sie sich als naiver ostdeutscher
diese als kreisartig bezeichnet. Der Leser kann in ihnen niemals die Orientierung verlieren, denn sie kreisen immer um ein festgelegtes Zentrum von Motiven und von Orten. Auf der anderen Seite sei Carsten Strathausen, der die Bewegungen als rhizomatisch gedeutet habe, der Meinung, dass Sebalds Reisen nicht um einen Mittelpunkt kreisen, sondern sich in alle Richtungen ausdehnen (vgl. S. 74f.). 26 Friedrich Christian Delius: Der Spaziergang von Rostock nach Syrakus. Erzählung. Reinbek b. Hamburg 1995, S. 17. 27 Vgl. Hartmut Steinecke: Reise über Grenzen. Ein DDR-Trauma in der Nachwende-Literatur. In: Manuel Köppen, Rüdiger Steinlein (Hg.): Passagen. Literatur – Theorie – Medien. Festschrift für Peter Uwe Hohendahl. Berlin 2001, S. 147–168, S. 154: „Die Idee einer derartigen Reise, die das ansonsten Selbstverständliche – die Rückkehr – zum aberwitzigen Ausnahmefall werden lässt, konnte nur unter den besonderen politischen Bedingungen der DDR entstehen; bereits im Rückblick von wenigen Jahren erscheint die Darstellung grotesk-satirisch übertrieben“.
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Bürger hinter der Grenze vorgestellt hat. Diese Reise über die Grenze bietet also Gompitz vor allem die Möglichkeit, ungenaue Vorstellungen neu zu vermessen.28
Fazit Selbst ein überzeugter Anhänger der zeitlichen Natur von Literatur wie Gérard Genette musste darauf hinweisen, dass Erzählung ohne Raum nicht existieren kann, denn „Literatur spricht u. a. auch vom Raum, sie beschreibt Orte, Häuser, Landschaften“.29 Insofern wäre es absurd, von einer Wiederkehr des Raums in diesen Texten zu sprechen, als wäre Raum vor 1989 nicht in der Literatur thematisiert worden. Trotzdem kann man die Bedeutung ihrer räumlichen Textdimensionen nicht unterschätzen, die sich ohnehin als Reflex der geopolitischen Transformationen interpretieren lässt. Darüber hinaus lassen sich mehrere Übereinstimmungen zwischen der Funktion von Raum in den besprochenen literarischen Texten und seiner Resemantisierung durch den spatial turn feststellen. Zu ihren Hauptmotiven gehört das stetige Reisen und Bewegen ihrer Figuren, durch die die Erzählung nicht an einen einzigen Ort gebunden ist, sondern sich über mehrere Schauplätze ausdehnt, die sorgfältig beschrieben werden. So lassen sich die Texte in Anlehnung an die Terminologie von J. Hillis Miller als „figurative mappings“ von zu erschließenden geographischen Räumen definieren.30 Nach Ansicht des amerikanischen Geographen Denis Cosgrove liegt ein wichtiger Aspekt des spatial turn gerade in der Verwendung von Landkarten und im Verfahren des mapping im eigentlichen sowie im metaphorischen Sinne.31 Man nehme als Beispiel einen anderen 1995 erschienenen Roman wie Jens Sparschuhs [→] Der Zimmerspringbrunnen, in dem die Sehnsucht nach dem versunkenen Land DDR gerade durch ein kartographisches Simulacrum in den vom Protagonisten verkauften Brunnen „Atlantis“ metonymisch thematisiert wird. Eine zweite wichtige Analogie zwischen spatial turn und den oben erwähnten Romanen (insbesondere Ein weites Feld und Die Ringe des Saturn) ist die wechselseitige Beziehung zwischen Raum und Zeit und die Verflechtung zwischen Geschichte und Geographie, die bereits zu den Hauptthemen von Schlögels Aufsatz gehörten, und auf die auch Reinhard Koselleck mit seinem Begriff der „Zeitschichten“ hinwies.
28 Über die Grenzen-Thematik im ebenfalls 1995 erschienenen Roman von Angela Krauß, Die Überfliegerin, vgl. ebd., S. 157–160. 29 Gérard Genette: La litterature et l’espace. In G. G.: Figures II. Paris 1969, S. 43–48, hier S. 43. 30 J. Hillis Miller: Topographies. Stanford 1995, S. 19. 31 Denis Cosgrove: Introduction: Mapping Meaning. In: D. C. (Hg.): Mappings. London 1999, S. 1–23, hier S. 3.
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Dieses Wechselverhältnis ruft weiterhin die Verbindung mit dem ebenfalls seit Mitte der neunziger Jahre zentralen Begriff des Erinnerungsorts auf, wobei seine geographische Komponente noch mehr als in Pierre Noras Verständnis zum Vorschein kommt.32 Sechs Jahre nach dem Zusammenbruch der alten geographischen Ordnung sieht sich die deutsche Literatur vor die Aufgabe gestellt, einen sinnentleerten Raum neu zu definieren und mit neuen Inhalten zu füllen. Reisen, Topographien und Erinnerungsorte sind die konkrete Form, durch die diese Aufgabe umgesetzt wird.
Literaturverzeichnis Primärliteratur Delius, Friedrich Christian: Der Spaziergang von Rostock nach Syrakus. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1995. Grass, Günter: Ein weites Feld: Göttingen: Steidl 1995. Kracht, Christian: Faserland. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1995. Sebald, W. G.: Die Ringe des Saturn. Frankfurt/M.: Eichborn 1995.
Sekundärliteratur Albes, Claudia: Die Erkundung der Leere: Anmerkungen zu W. G. Sebalds „englischer Wallfahrt“ Die Ringe des Saturn. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 46 (2002), S. 279–305. Bachmann-Medick, Doris: Cultural Turns: Neuorientierung in den Kulturwissenschaften. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 2006. Birr, Egbert: Grassland: Feldpost aus dem Reich der Mitte. In: Erhard Schütz, Jörg Döring (Hg.): Text der Stadt – Reden von Berlin. Literatur und Metropole seit 1989. Berlin: Weidler 1999, S. 32–58. Cosgrove, Denis: Introduction: Mapping Meaning. In: D. C. (Hg.): Mappings. London: Reaktion 1999, S. 1–23. Döring, Jörg, Tristan Thielmann: Einleitung. Was lesen wir im Raume. Der Spatial Turn und das geheime Wissen der Geographen. In: J. D., T. T. (Hg.): Spatial Turn: Das Raumparadigma in Kultur- und Sozialwisschenschaften. Bielefeld: transcript 2008, S. 7–45. Genette, Gérard: La litterature et l’espace. In: G. G.: Figures II. Paris: Seuils 1969, S. 43–48. Günzel, Stephan: Raum: Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart: Metzler 2010.
32 Pierre Nora: Entre Mémoire et Histoire. La problématique des lieux. In: P. N. (Hg.): Les lieux de la mémoire. Vol. 1. Paris 1986, S. XVII–XLII. (dt.: P. N: Zwischen Geschichte und Gedächtnis: Die Erinnerungsorte. Berlin 1990).
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Österreichische Literatur, die Frankfurter Buchmesse und das Jahr 1995 Voraussetzungen Das Ende der DDR und die deutsche Wiedervereinigung brachten neue Bewegung in die Diskussion um Einheit oder Pluralität deutschsprachiger Literatur(en). Die postulierte Eigenständigkeit einer DDR-Literatur wurde in der Vergangenheit häufig mit Hinweis auf die österreichische Literatur gestützt. Trotz aller weltanschaulichen Unterschiede galten die DDR und Österreich als eigene „LiteraturReservate“ innerhalb der deutschsprachigen Literatur, die eine Reihe von strukturellen Ähnlichkeiten im jeweiligen Literaturbetrieb aufwiesen.1 Seit 1989/90 wurde diese Sichtweise zunehmend in Frage gestellt, wobei die Debatte über Existenz und Eigenschaften einer österreichischen Literatur schon seit der Wiedererrichtung der Republik Österreich nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs eine große Rolle spielte. Ohne diese vielfältige und häufig kontroverse Diskussion in Einzelheiten nachzuzeichnen, sei auf Claudio Magris’ habsburgischen Mythos verwiesen,2 der ein Beschreibungsmodell für die österreichische Literatur im 19. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelte. Während Magris Übernationalität, Bürokratismus und Hedonismus als dominante Motive österreichischer Literatur ausmachte,3 versuchte der Literaturkritiker Ulrich Greiner Magris’ Auffassungen fortzuschreiben und konstatierte für die 1970er Jahre eine „bohèmehafte, apolitische, artifizielle Literatur“, die Kennzeichen vieler österreichischer Autoren sei.4 Die Vielzahl erfolgreicher österreichischer Autoren im deutschsprachigen Raum – so stehen Thomas Bernhard, Peter Handke, Peter Turrini und Elfriede Jelinek für das Schlagwort von der „Verösterreicherung der deutschsprachigen Literatur“ – führt Greiner auf eine bestehende soziale und politische Immobilität im Nachkriegsösterreich zurück, die verstärkt „das Schreiben und die literarische Existenz zum Medium der Selbstverwirklichung“5 werden
1 Vgl. Wendelin Schmidt-Dengler: „… und das fortgeschrittenste Land ohne es zu wissen“: unbewusster Avantgardismus aus Österreich. Innsbruck 2009, S. 88f. 2 Vgl. Claudio Magris: Der habsburgische Mythos in der modernen österreichischen Literatur. Wien 2000 (ital. Original: Il mito absburgico nella literatura austriaca moderna. Turin 1963). 3 Vgl. ebd., S. 35–40. 4 Ulrich Greiner: Der Tod des Nachsommers. München 1979, S. 15. 5 Ebd., S. 42–45, hier S. 44f.
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lässt. Daneben muss grundsätzlich festgehalten werden, dass aufgrund der überschaubaren Möglichkeiten in Österreich die Etablierung der Autoren stets über die bundesdeutschen Feuilletons und Verlage (wie etwa Suhrkamp) läuft. Zugleich gibt es eine immense Subventionierung des Literaturbetriebs durch den österreichischen Staat, der Autoren, Verlage und Institutionen vergleichsweise großzügig fördert.6 In unserem Zusammenhang soll ein wichtiger Autor der jüngeren Generation angeführt werden, der in einem Essay „das Österreichische an der österreichischen Literatur“ zu bestimmen versuchte: Robert Menasse und sein Konzept der „sozialpartnerschaftlichen Ästhetik“.7 Menasses Ausgangspunkt ist dabei das österreichische Spezifikum der Sozialpartnerschaft, bei der Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände in einem kooperativen Verhältnis wesentliche (wirtschafts-)politische Entscheidungen hinter verschlossenen Türen fällen und der öffentlichen, gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung von Interessensgruppen – etwa im Parlament – wenig Relevanz zukommt. Auf diese Weise würden gesellschaftliche Widersprüche weitgehend vernebelt und Österreich würde zum Land des „Entweder und Oder“.8 Diese Strukturen sieht Menasse nun in der österreichischen Nachkriegsliteratur deutlich abgebildet: So findet sich zum einen „der Topos vom so eigentümlich harmonisierten Herr-Knecht-Verhältnis“ aus der habsburgischen Zeit häufig in der neueren österreichischen Literatur, zum anderen würden gegensätzliche Standpunkte in Form einer „ritualisierten Mitwisserschaft“ zu einer „Geständnisprosa“ führen, die Menasse insbesondere im Werk von Thomas Bernhard exemplarisch verwirklicht sieht.9 Aufgrund des Fehlens einer kunstinteressierten Öffentlichkeit und einer entsprechenden Diskussionskultur habe „die Rolle des Adressaten der Kunst in Österreich der Staat übernommen“, was zur Folge habe, dass österreichische Künstler bzw. Autoren „fast nur noch als Personalunion von Staatsfeind und Staatskünstler“ in Erscheinung treten würden.10 Obwohl diese Überlegungen von Menasse aufgrund ihrer Monokausalität viel Widerspruch erfahren haben,11 kann doch festgehalten wer-
6 Einen guten Überblick dazu, wenngleich mit problematischen Schlussfolgerungen, bietet die Arbeit von Peter Landerl: Der Kampf um die Literatur. Literarisches Leben in Österreich seit 1980. Innsbruck 2005. 7 Robert Menasse: Überbau und Underground. Die sozialpartnerschaftliche Ästhetik. Frankfurt/ M. 1990, zgl. auch in R. M.: Das war Österreich. Gesammelte Essays zum Land ohne Eigenschaften. Frankfurt/M. 2005, S. 123–205 u. S. 237–245. 8 Menasse: Das war Österreich, S. 36. 9 Ebd., S. 183 u. S. 188f. 10 Ebd., S. 241 u. S. 237. 11 Siehe beispielsweise Jürgen Egyptien: Punschkrapfen und paradoxe Dialektik. In: Eva Schörkhuber (Hg.): Was einmal wirklich war. Zum Werk von Robert Menasse. Wien 2007, S. 281f.; u.
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den, dass die österreichische Literatur in einem besonderes komplexen Nah- und Spannungsverhältnis zu dem staatlichen Gebilde Österreich steht, das sich in anderen europäischen Literaturen nicht in dieser Intensität finden lässt. Blickt man nun auf das Jahr 1995, so muss in erster Linie von einer politischen Zäsur für Österreich gesprochen werden: Das Land tritt der Europäischen Union bei und aus innenpolitischer Sicht markiert das Datum den Übergang von einer konsensorientierten, sozialpartnerschaftlichen hin zu einer stärker konfliktorientierten Demokratie, begleitet von dem Aufstieg der rechtspopulistischen freiheitlichen Partei FPÖ zu einer den bisher dominierenden Großparteien SPÖ und ÖVP ebenbürtigen politischen Kraft. In der Tat spricht daher einiges dafür, dass der epochale Umbruch von 1989, der Österreichs Nachbarstaaten erfasst hat, erst etwa ab dem Jahr 1995 in der politischen Kultur des Landes deutlicher sichtbar wird, indem etwa viele Gewissheiten und Kontinuitäten der Nachkriegszeit – Sozialpartnerschaft, außenpolitische Neutralität, Selbstverständnis als Opfer während des Nationalsozialismus, usw. – zu bröckeln beginnen.12 Ähnlich wie in der Bundesrepublik ist 1995 auch in Österreich ein Gedenkjahr – neben dem 50. Jahrestag des Kriegsendes wird hier vor allem an 40 Jahre Staatsvertrag erinnert, mit dem die Alliierten 1955 die Unabhängigkeit und die Neutralität der Republik Österreich garantierten. Die Reihe der Gedenkanlässe setzt sich 1996 nahtlos fort mit dem Millennium – 1000 Jahre erste urkundliche Erwähnung Österreichs. Diese Häufung der mit großem staatlichem Aufwand geplanten Anniversarien lässt natürlich an Robert Musils Parallelaktion aus dem Mann ohne Eigenschaften denken, wie eine Reihe von Publizisten diesen österreichischen Gedenkmarathon maliziös kommentierte.13 Insofern wäre auch der ÖsterreichSchwerpunkt zur Frankfurter Buchmesse als ein wesentliches Element einer kulturpolitischen Selbstvergewisserung im Kontext des österreichischen Doppelgedenkjahres 1995/96 zu betrachten.
Klaus Zeyringer: Österreichische Literatur nach 1945. Überblicke, Einschnitte, Wegmarken. Innsbruck 2008, S. 54. 12 Vgl. Rüdiger Wischenbart: Was sonst noch geschieht. In: Robert Menasse: Hysterien und andere historische Irrtümer. Wien 1996, S. 71. 13 Vgl. Sigrid Löffler: Tausend Jahre Österreich oder wie die Republik vom Feiern nicht lassen kann. In: Art 11 (1995).
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Österreich als Gastland der Frankfurter Buchmesse von 1995 Seitens der Schriftsteller wurde im Vorfeld harsche Kritik an der Konzeption des Österreich-Schwerpunktes der Buchmesse geübt; einige prominente Autoren wie Ilse Aichinger oder Christoph Ransmayr verzichteten bewusst auf ihre Teilnahme. Michael Scharang bezeichnete in einem offenen Brief in der ZEIT das gesamte Projekt als „Literatenstadl“ und schlussfolgerte: Wenn der geplante Österreich-Auftritt auch alle Anzeichen des Größenwahns trägt, ist er doch nicht wirklichkeitsfremd. Hier meldete ein Literaturbetrieb, der sich vordem in Österreich auf nette Vereinsmeierei beschränkt hat, seinen Machtanspruch an.14
Noch deutlicher distanzierte sich Elfriede Jelinek: Hier geht sich der Staat repräsentieren, und die Geistfeindlichkeit, die in diesem Land das ganze Jahr vorherrscht, wird perpetuiert. Gute Literatur ist immer subversiv. Der Staat soll in Frankfurt also etwas repräsentieren, was ihn bekämpft – ein Widersinn.15
Nach einigen Streitigkeiten wurde Robert Menasse als Eröffnungsredner nominiert,16 der das von Jelinek angesprochene Dilemma zu vermeiden versuchte, indem er auf die (von vielen erwartete) Österreichbeschimpfung weitgehend verzichtete und dagegen in seiner Rede grundsätzlichere Überlegungen anstellte: Am Beispiel des Kinderbuchbestsellers Die Biene Maja, der von den Nazis gefördert wurde, da sie ihre Rassentheorien darin vertreten sahen, bezweifelte Menasse das utopische und weltverbessernde Potential von Büchern.17 Ausgehend von seinem kurz zuvor veröffentlichten Essay Phänomenologie der Entgeisterung18 hinterfragte er die Annahme, der Geschichte einen immanenten Sinn zuzuschreiben, da alle großen Menschheitsverbrechen stets von geschichtsbewussten Menschen begangen wurden. Entgegen der Hegel’schen Auffassung von einer zielgerichteten, geschichtlichen Entwicklung, wäre es laut Menasse sinnvoller, die
14 Michael Scharang: Salto Mortale. In: Die Zeit (3.3.1995). 15 Elfriede Jelinek, zit. n. News (5.10.1995), Nr. 40. 16 Mehrere Zeitungen berichteten übereinstimmend, dass nach Absagen der Autoren Peter Handke und Peter Turrini sowie des Aktionskünstlers Andre Heller der jüngere Robert Menasse zum Zug kam. Vgl. Joachim Jung: „Geld erhält man durch Aufmerksamkeit“. Einige Betrachtungen zur Literaturförderung in Österreich. In: Süddeutsche Zeitung (12.10.1995). 17 Vgl. Menasse: Hysterien und andere historische Irrtümer, S. 24f. 18 Robert Menasse: Phänomenologie der Entgeisterung. Geschichte des verschwindenden Wissens. Frankfurt/M. 1995.
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„Unwiederbringlichkeit jedes einzelnen Lebens“19 anzuerkennen und zur Legitimation für unser Handeln zu machen. Daher kann diese Position Menasses durchaus als dezidierte Absage an die österreichischen Versuche eines gemeinschaftstiftenden Eingedenkens im Sinne der oben angesprochenen Jubiläen gelesen werden. Insgesamt ergab sich für das Gastland der Buchmesse ein interessiertes bis wohlwollendes Echo im deutschen Feuilleton, allenthalben wurde dabei der österreichischen Literatur nicht zum ersten Mal eine Art „Binnenexotik“ innerhalb der deutschsprachigen Literatur zugeschrieben,20 und das Ereignis bot den Anlass, über das vielschichtige deutsch-österreichische Verhältnis im größer gewordenen Europa – auch abseits des Literarischen – zu reflektieren. Besondere Aufmerksamkeit erhielt die im Österreich-Pavillon eingerichtete Ausstellung „Der sechste Sinn“ mit persönlichen Objekten von österreichischen Schriftstellern aus dem 20. Jahrhundert. So waren von Ilse Aichingers erstem Schreibtisch, über Robert Musils Buntstifte bis hin zu Ludwig Wittgensteins Notizbuch unzählige „Partikel aus Lebensgeschichten“ ausgestellt. Zwar wird im Vorwort zur Ausstellung eingeräumt, dass der Dichter als Repräsentant eines Geistes oder einer Nation tot sei, jedoch würden die hier ausgestellten Schrittfolgen seiner Arbeit „einer traditionellen, gerade noch ironisch zitierbaren Wirklichkeits- und Werkgewissheit“21 entsprechen. Aus österreichischer Sicht wurde der Auftritt grundsätzlich mit einem positiven Fazit bewertet – „Frankfurt war die Reise wert“, urteilten selbst viele kritische Kommentatoren.22 Der Schwerpunkt führte 1995 naturgemäß zu einer hohen Dichte relevanter literarischer Texte aus österreichischer Feder, wobei in diesem Zusammenhang die Publikationspolitik der Verlage zu berücksichtigen ist, die Buchmesse zu verstärkter Präsenz auf dem internationalen Buchmarkt zu nutzen. Auf der Basis von vier wichtigen Neuerscheinungen österreichischer Autoren des Jahres 1995 – Josef Haslingers [→] Opernball, Elfriede Jelineks [→] Die Kinder der Toten, Robert Menasses [→] Schubumkehr und Christoph Ransmayrs [→] Morbus Kitahara – soll versucht werden, wesentliche Gemeinsamkeiten und Grundlinien kurz zu skizzieren.
19 Vgl. Menasse: Hysterien und andere Irrtümer, S. 29f. 20 Vgl. z. B. Börsenblatt (21.7.1995); Frankfurter Allgemeine Zeitung (14.10.1995). 21 Cathrin Pichler, Johannes Schlebrügge (Hg.): Der sechste Sinn oder die Spur der Dinge. Wien 1996, S. 7f. 22 Zit. n. Rüdiger Wischenbart: Österreich auf der Frankfurter Buchmesse 1995. In: Volker Kaukoreit, Kristina Pfoser (Hg.): Die österreichische Literatur seit 1945. Eine Annäherung in Bildern. Stuttgart 2000, S. 305.
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Zunächst bildet das Jahr 1945 einen wichtigen Referenzpunkt, da die kollektive Verdrängung der NS-Vergangenheit in Österreich in allen vier Romanen – auf unterschiedliche Weise – verhandelt wird. So tauchen die Toten der Shoah und deren Hinterlassenschaften immer wieder als stumme Zeugen im Roman von Elfriede Jelinek auf, während in Menasses Schubumkehr die mangelnde Aufarbeitung der NS-Vergangenheit anhand des Dorfes Komprechts gezeigt wird. Morbus Kitahara behandelt die Frage des Umgangs mit der Vergangenheit als zentrales Thema und Josef Haslinger setzt in Opernball den rechten Terror der Gegenwart in Bezug zu der noch andauernden Beschönigung der NS-Zeit. Zum Zweiten erzählen alle Romane von einem sehr österreichischen Szenario, nämlich der Provinz.23 Selbst in Haslingers Roman, der einen Terroranschlag in der Hauptstadt Wien thematisiert, haben die Extremisten ihren Rückzugsort in einem niederösterreichischen Dorf. Die Provinz fungiert in den Texten als Nährboden für Remythisierungen oder als Schauplatz einer monströsen Natur, der die Menschen schutzlos ausgeliefert sind. Auf diese Weise stellen sich die Autoren in eine enge Verbindung mit dem Genre des „Anti-Heimatromans“, das sich – wiederum insbesondere in Österreich – seit den 1970er Jahren mit den Kehrseiten ländlicher Idyllen beschäftigt.24 Zum Dritten setzen sich drei der vier angesprochenen Romane intensiv mit dem Medium Film bzw. Fernsehen auseinander. Elfriede Jelineks Roman Die Kinder der Toten ist stark von einer filmischen Erzählweise geprägt; das zeigt sich an den häufigen Vor- und Rückblenden oder auch an mehrperspektivischen Erzählverfahren in Form von Sequenzen und Zeitlupen, wie sie sich beispielsweise in Fernsehserien finden lassen. In Schubumkehr von Robert Menasse ist die einzige Beschäftigung des Hauptprotagonisten Roman, seine ländliche Umgebung wahllos mit einer Videokamera zu filmen. Das Medium tritt an die Stelle direkter Wahrnehmung; Roman gelingt es nicht mehr, seine Umgebung adäquat zu beschreiben und Sinnzusammenhänge herzustellen. In ähnlicher Weise problematisiert Haslinger in Opernball die Wirklichkeitssimulation durch das Medium Fernsehen. Der erfolgreiche Fernsehreporter Fraser kann den Tod seines Sohnes oder die Hintergründe des Anschlags trotz der Bilderflut vom Terrorakt auf den Opernball nicht aufklären; er muss im Roman wieder zum Erzähler und Zuhörer werden, um das gesamte Ausmaß des Dramas zu begreifen. Als vierte und sicherlich wichtigste Gemeinsamkeit wäre die starke Präsenz postmoderner Erzählverfahren in den Texten zu nennen. Kann bei Jelinek aufgrund des völligen Verzichts auf eine kohärente Ereignisfolge und erzählerische „Sprach-
23 Vgl. Johann Sonnleitner (Hg.): Wendelin Schmidt-Dengler: Bruchlinien II. Vorlesungen zur österreichischen Literatur 1990 bis 2008. Sankt Pölten 2012, S. 91f. u. S. 103f. 24 Vgl. Zeyringer: Österreichische Literatur seit 1945, S. 164f.
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flächen“ und „Faltungstechniken“ von einer mehr avantgardistischen Form gesprochen werden, so weist Robert Menasses Schubumkehr mit häufigen Perspektivwechseln, Zitatmontagen und vielen intertextuellen und selbstreferentiellen Verweisen wesentliche Merkmale postmodernen Erzählens auf. Ähnlich verhält es sich mit Ransmayrs Roman Morbus Kitahara.25 Mehrstimmige und metafiktionale Erzählweisen sowie Anleihen beim Trivialroman lassen auch Josef Haslingers Opernball als postmodernen Text erscheinen. Inwieweit sich aus diesen vier Texten nun Eigenheiten einer österreichischen Literatur exakt herausdestillieren lassen, sei dahingestellt. Generell muss aber festgehalten werden, dass die ästhetische Gestaltung und die inhaltlichen Charakteristika der betrachteten Texte aus dem Jahr 1995 tendenziell eher in einer Kontinuität österreichischer Literaturtraditionen seit 1945 stehen, als dass sie eine starken Bruch oder Neubeginn markieren.
Was bleibt von Österreich? – Österreich und die Transformationen der deutschsprachigen Literatur Die Jahre der „Verösterreicherung der deutschsprachigen Literatur“26 sind lange vorüber, sie wirken allerdings noch nach: Die Wahrnehmung „österreichischer Gegenwartsliteratur“ (hier wären Anführungsstriche mitzudenken) verläuft im Ausland häufig entlang einer Traditionslinie von der Wiener Gruppe und dem Grazer Forum Stadtpark über Thomas Bernhard, Peter Handke, Elfriede Jelinek bis zu Werner Schwab; sie gilt als nicht-narrative, sprachkritische Literatur,27 die inhaltlich vor allem den „vaterlandskritischen Exzess“28 pflegt. An dieser Einschätzung hat sich Mitte der 1990er Jahre wenig geändert, daher wäre meine These, dass das Jahr 1995 für den österreichischen Kontext im Gegensatz zur Bundesrepublik keine literarische Zäsur darstellt. Der literarische „Staatsbeschimpfungsmechanismus“29 war weiterhin in vollem Gange, das Spannungs-
25 Vgl. Sonnleitner (Hg.): Wendelin Schmidt-Dengler: Bruchlinien II, S. 91. 26 Vgl. Greiner: Der Tod des Nachsommers. 27 Vgl. Verena Holler: Autonomie und Heteronomie – das Profane und das Kulturelle, In: LiTheS 1 (2008), S. 52–71, hier S. 52. 28 Clemens Ruthner: Ins eigene Nest gekackt? Oder: Deutsche und österreichische Gegenwartsliteratur im Vergleichstest. In: Friedbert Aspetsberger (Hg.): nichts Neues. Trends und Motive in der (österreichischen) Gegenwartsliteratur. Innsbruck 2003, S. 205. 29 Konrad Paul Liessmann: Verteidigung der Lämmer gegen die Schafe. Ein Spaziergang über die österreichische Literaturweide. In: Christian Döring (Hg.): Deutschsprachige Gegenwartsliteratur. Wider ihre Verächter. Frankfurt/M. 1995, S. 83.
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verhältnis von Staat, Politik und Literatur in Österreich lieferte immer noch genug Munition für mannigfaltige Auseinandersetzungen: So plakatierte die rechtsgerichtete FPÖ im Nationalratswahlkampf 1995 gegen Elfriede Jelinek und den damaligen Burgtheaterdirektor Claus Peymann,30 ähnliche Beispiele gab es zuhauf. Fast schien es, dass mit der Regierungsbeteiligung der FPÖ und den darauf folgenden Boykottmaßnahmen der Europäischen Union im Jahr 2000 der literarische Alarmismus einen neuen Höhepunkt erlebte.31 Jetzt waren auch wieder im bundesdeutschen Feuilleton Österreichexegesen gefragt – eine Aufgabe, der die in den 90er Jahren im gesamtdeutschen Raum neu etablierten Autoren und (politischen) Essayisten Josef Haslinger und Robert Menasse gerne und häufig nachkamen. Freilich sei insbesondere bei Menasse angemerkt, dass er sich um sehr differenzierte Positionen bemühte und in seiner Essayistik keinesfalls die traditionelle Österreichkritik einfach fortschrieb.32 Den generellen Unterschied zwischen dem bundesdeutschen und dem österreichischen Literaturbetrieb bringt der Verleger Ralph Klever mit der rhetorischen Frage zum Ausdruck, warum es in Deutschland […] besser funktionier[e], aus Literatur verkaufbare Literatur zu machen, während es in Österreich leichter schein[e], aus allem, was nach Kunst riecht, wenigstens ab und zu ein ordentliches Theater, einen Staatsakt zu machen.33
In eine ähnliche Richtung zielt der Vorwurf gegenüber der österreichischen Gegenwartsliteratur, dass es ihr nicht gelinge, „das Lebensgefühl oder das Weltmodell ihrer Generation ästhetisch überzeugend einzufangen.“34 Eine Erklärung für diese Unterschiede könnte das verschieden strukturierte literarische Feld in
30 Vgl. Zeyringer: Österreichische Literatur seit 1945, S. 81. 31 Siehe z. B. Isolde Charim, Doron Rabinovici (Hg.): Österreich. Berichte aus Quarantanien. Frankfurt/M. 2000. 32 Siehe beispielsweise Robert Menasses Ausführungen über die „Normalisierungsthese“ und das Phänomen Haider (vgl. R. M.: Das war Österreich, S. 269–275; R. M.: Hysterien und andere politische Irrtümer, S. 9–19). 33 Ralph Klever: „autor wie lektor sind längst zu einem kulturellen Problem geworden“ (Reinhard Priessnitz). Der Autor und seine Buch-Haltung im Biotop des Österreichischen. In: Friedbert Aspetsberger (Hg.): nichts Neues. Trends und Motive in der österreichischen Gegenwartsliteratur. Innsbruck 2003, S. 55. 34 Clemens Ruthner: Ins eigene Nest gekackt? In: nichts Neues. Trends und Motive in der österreichischen Gegenwartsliteratur, hg. v. Friedbert Aspetsberger. Innsbruck 2003, S. 213. Eine Ausnahme dazu wäre Wolf Haas, der mit seinen Romanen über den Privatdetektiv Simon Brenner ein Beispiel für publikumskompatible und zugleich avancierte Erzählmuster liefert, wie Moritz Baßler gezeigt hat. Vgl. Moritz Baßler: Der deutsche Poproman. Die neuen Archivisten. München 2002, S. 184–203.
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Deutschland und Österreich liefern.35 Die schon mehrfach angesprochene starke Rolle des Staates bei der Subventionierung des Literaturbetriebs und die damit verbundene Fixierung auf eine avantgardistische Tradition sowie das bestehende Nahverhältnis von Literaturkritik und Universitätsgermanistik führen dazu, dass sich feldfremde Wertungskriterien wie „Unterhaltungswert“ oder „Lesbarkeit“, die in den 90er Jahren zunehmend die Diskussion in Deutschland bestimmten, in Österreich so gut wie nicht durchsetzen können. Exemplarisch sei hier ein Urteil des österreichischen Germanisten und Literaturkritikers Wendelin Schmidt-Dengler aus dem Jahr 1995 angeführt: [D]ie Leistung der österreichischen Literatur liegt nicht zuletzt in ihrer Radikalität; Autoren und Autorinnen wie Marianne Fritz und Bodo Hell, aber auch wie Ernst Jandl und Friederike Mayröcker haben sich von Anfang an nicht mit den Lesegewohnheiten des Publikums zufriedengegeben.36
Dass diese Position sich diametral zu zeitgleichen Diskussionen der bundesdeutschen Literaturkritik verhält, muss nicht eigens betont werden. Neuere Akzente zeigt die Diskussion in Österreich etwa ab dem Jahr 2000. Die starke Fixierung der Literatur auf die österreichische Politik und Gesellschaft wird als „austriakischer Autismus“37 gesehen, und es wird verstärkt angemahnt, die österreichische Literatur dürfe sich nicht ausschließlich über Sprachartistik und Weltverbesserung definieren. Diese Debatte nun als verspätetes Echo entsprechender bundesdeutscher Diskussion in den 90er Jahren zu bezeichnen, würde das Stereotyp vom kleinen Bruder neu beleben, der die Entwicklung des größeren in einer Art „nachgeholten Entösterreicherung“ rezipiert. Aber vielleicht kann die Betrachtung kleinerer Literaturteilräume oder Systeme zu einem geschärften Blick auf die Transformationen beitragen, denen die deutschsprachige Literatur um 1995 ausgesetzt ist.
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35 Ausführlicher dazu Holler: Autonomie und Heteronomie, besonders S. 57. 36 Wendelin Schmidt-Dengler: Bruchlinien. Vorlesungen zur österreichische Literatur 1945 bis 1990. Sankt Pölten 1995, S. 541. 37 Franz Haas: Der austriakische Autismus. Gegenwartsliteratur im Strudel des nationalen Boulevards. In: Neue deutsche Literatur, H. 533 (2000), S. 133–141.
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Francesco Aversa
Die Chiffre von 1995 in der Post-DDR-Literatur Post-DDR-Literatur: Koordinaten Wird der politische Untergang der DDR am 23. August 1990 vom Beitrittsbeschluss der Volkskammer sanktioniert, wird an einem Fortleben des untergegangenen sozialistischen Staats in der Nachwende-Literatur unumstritten festgehalten. Noch im Jahre 2000 widmet die Zeitschrift Text+Kritik der ‚DDRLiteratur der neunziger Jahre‘ einen Sonderband: Hierin ist Iris Radischs inzwischen berühmter, wenngleich in eher provokativer Pose vorgetragener Befund der Existenz zweier deutscher Literaturen zu finden, von denen der ostdeutschen ein höheres Ausmaß an literarischer Besinnung attestiert wird.1 Radisch – deren Beitrag 1997 sechs Jahre nach Maxim Billers berüchtigtem, eigentlich haltlosem J’accuse2 gegen die (west)deutsche Gegenwartsliteratur konzipiert und veröffentlicht wird – konstatiert, dass die westdeutsche Literatur in einem solchen Ausmaß der dominierenden „Erlebnisgesellschaft“3 zum Opfer gefallen sei, dass die belletristische Kunst zur bloßen Potenzierungsstrategie einer Selbstgefälligkeit verkomme, unfähig weder sich noch der Gesellschaft etwas vorzuwerfen. Die Mitte der 1990er von Radisch oder Biller als Provokation konzipierte Verunglimpfung westdeutscher Gegenwartsliteratur soll hier lediglich (ex negativo im Falle Billers)
1 „Im Westen dominiert der Beschreibungsfetischismus, der Kult des Hier und Jetzt, das Dogma des Reflexionsverbots, der Mix geborgter Töne. Im Osten gibt es eine poetische, tragische, im besten Sinn politische Literatur.“ Iris Radisch: Zwei getrennte Literaturgebiete. Deutsche Literatur der neunziger Jahre in Ost und West. In: Text+Kritik. Sonderband: DDR-Literatur der neunziger Jahre. Hg. v. Heinz Ludwig Arnold. München 2000, S. 13–26, hier S. 25f. Radischs Beitrag ist eine Überarbeitung ihrer 1997 erschienenen Provokation Der Herbst des Quatschocento. Immer noch, jetzt erst recht, gibt es zwei deutsche Literaturen: selbstverliebter Realismus im Westen, tragischer Expressionismus im Osten (In: Die Zeit [17.10.1997]), nachgedruckt in: Andrea Köhler, Rainer Moritz (Hg.): Maulhelden und Königskinder. Zur Debatte über die deutschsprachige Gegenwartsliteratur. Leipzig 1998, S. 180–188. 2001 erscheint ihr Beitrag noch einmal als „Prolog“ in: Gerhard Fischer, David Roberts (Hg.): Schreiben nach der Wende. Ein Jahrzehnt deutscher Literatur 1989–1999. Tübingen 2001, S. 1–14. 2 Maxim Biller: Soviel Sinnlichkeit wie der Stadtplan von Kiel. Warum die neue deutsche Literatur nichts so nötig hat wie den Realismus. Ein Grundsatzprogramm. In: Die Weltwoche (25.7.1991), u. in: Köhler, Moritz (Hg.): Maulhelden und Königskinder, S. 62–71. 3 Gerhard Schulze: Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart. Frankfurt/M. 1992.
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den folgenden Fragen dienen: Besteht ein ostdeutsches, ja ein Post-DDR-Spezifikum in der literarischen Produktion der 1990er und 2000er Jahre? Und was ist überhaupt unter dem Terminus Post-DDR-Literatur zu verstehen? Um auf die zweite Frage einzugehen, sind hier übereinstimmende Ansichten seitens der Literaturwissenschaft immer noch in weiter Ferne.4 Konfrontiert mit dem Problem der Literaturgeschichtsschreibung, scheint Lothar Köhn keinen Zweifel daran zu haben, dass es eine Post-DDR-Literatur geben muss, deren Facetten in extrem knappen Formulierungen folgendermaßen beschrieben werden: Nach 1990 gibt es keine neue DDR-Literatur mehr, wohl aber Post-DDR-Literatur, denn ältere Autoren aus der DDR schrieben weiter, jüngere, die in der DDR aufgewachsen waren, traten jetzt an die Öffentlichkeit, oftmals mit literarischen Debüts. Für sie alle blieb, jedenfalls im Bereich der Erzählprosa, die DDR der Stoff, oft auch das Thema.5
Auch wenn Köhn die Züge einer Post-DDR-Literatur recht lapidar charakterisiert, lässt sein Vorschlag plausibel erkennen, woraus Post-DDR-Literatur bestehen könnte. Zu einem vergleichbaren pragmatischen Ergebnis kommt Matteo Gallis Literaturgeschichte der Post-DDR-Literatur, in deren Einleitung der Begriff einer Problematisierung unterzogen wird;6 ein ähnlicher Ansatz liegt im Übrigen Michael Opitz’ Ausführungen zum Fortleben der DDR in der ostdeutschen Literatur nach 1989 zugrunde.7 Im Folgenden wird also der Versuch unternommen, Charakteristika und den möglichen gemeinsamen Nenner der Literatur um 1995 zu umreißen, die den Federn von in der DDR sozialisierten Schriftstellern entstammt, welche sich der DDR als Thema, Stoff und Setting bedienen. Die Anfechtbarkeit solch eines
4 Eine argumentative Erschließung von konzeptuellen Verschiebungen u. a. der Termini „Literatur aus der DDR“, „DDR-Literatur“ und „Post-DDR-Literatur“ liefert Matteo Galli in seinem Aufsatz „Post-Staatliche DDR-Literatur in der Literaturgeschichtsschreibung. Eine Bestandsaufnahme.“ In: Norbert Otto Eke (Hg.): „Nach der Mauer der Abgrund“? (Wieder-)Annäherungen an die DDRLiteratur. Amsterdam, New York 2013, S. 105–118. In einer Monographie zur Post-DDR-Literatur wendet Asako Miyazaki das Konzept als ein Destillat aus ‚transstaatlichen‘, ‚transkulturellen‘ und ‚transnationalen‘ Elementen an (Asako Miyazaki: Brüche in der Geschichtserzählung. Erinnerungen an die DDR in der Post-DDR-Literatur. Würzburg 2013, S. 17), wobei sie im Laufe des Buches auch den generellen Begriff der Post-DDR-Konstellation immer wieder ins Spiel bringt. 5 Wilfried Barner (Hg.): Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart. 2., akt. u. erw. Ausgabe v. W. B. et al. München 2006, S. 1008. 6 Vgl. Matteo Galli: 1989–2009: Cronache di Atlantide. In: Michele Sisto (Hg.): L’invenzione del futuro. Breve storia letteraria della DDR. Milano 2009, S. 217–313, insbesondere S. 220f. 7 Vgl. Michael Opitz: DDR in der Literatur nach 1989. In: M. O., Michael Hofmann (Hg.): Metzler Lexikon DDR-Literatur. Autoren – Institutionen – Debatten. Stuttgart 2009, S. 69–72.
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Kriteriums liegt auf der Hand. Nichtsdestoweniger halte ich einen Definitionsversuch für nötig, zumal dem aus Ostdeutschland stammenden Corpus sehr häufig ein eigener Sonderreferenzrahmen8 mit spezifischen DDR- bzw. Post-DDRThemen zuzusprechen ist.
1995: Erneuter Angriff auf die „Literaturgesellschaft“ Mit der Debatte um Christa Wolfs Was bleibt tun sich Abgründe auf. Die Autorin hat Jahrzehnte lang die ideale Figur des DDR-Intellektuellen im In- und Ausland verkörpert – etwa ökologisches Bewusstsein bzw. kritische Anteilnahme an einer Korrektur des politischen Systems und sozialistisch fortschrittlicher Instanzen. Mit dem berühmt gewordenen Statement „[e]s geht um Christa Wolf, genauer: Es geht nicht um Christa Wolf“9 zieht Wolf Biermann ein Fazit, das auf ein gravierenderes Ausmaß des Streits aufmerksam macht. Christa Wolf steht Anfang der 1990er Jahre stellvertretend nicht nur für die reformwillige DDR-Literatur schlechthin, sondern auch für eine Auffassung des Literaten und seines gesellschaftlichen Auftrags, Sprachrohr eines politischen Engagements zu sein. Indem die westdeutsche Literaturkritik die Debatte um Wolf entfacht, versucht sie, über die Autorin pars pro toto „mit exemplarischen Lebensläufen“10 abzurechnen – Michael Braun spricht von Christa Wolf als „Marke der DDR-Literatur“11 und Kerstin Dietrich betrachtet die „Schriftstellerin als Chiffre.“12 8 Dieser Referenzrahmen ist entschieden häufiger in der Produktion von Autoren aus der ehemaligen DDR zu finden, auch wenn sich manche westdeutsche Belletristik auf DDR-Stoffe berufen hat (etwa einige Werke von Günter Grass, Friedrich Christian Delius und Peter Schneider). „Dennoch kommen die meisten Autorinnen und Autoren, die über deutsch-deutsche Themen schreiben, nach wie vor aus den östlichen Bundesländern.“ Hannes Krauss: Die Wiederkehr des Erzählens. Neue Beispiele der Wendeliteratur. In: Clemens Klammer, Torsten Pflugmacher (Hg.): Deutschsprachige Gegenwartsliteratur seit 1989. Zwischenbilanz – Analyse – Vermittlungsperspektiven. Heidelberg 2004, S. 97–108, hier S. 97. 9 Wolf Biermann: Nur wer sich ändert, bleibt sich treu. Der Streit um Christa Wolf, das Ende der DDR, das Elend der Intellektuellen: Das alles ist auch komisch. In: Thomas Anz (Hg.): „Es geht nicht um Christa Wolf“. Der Literaturstreit im vereinten Deutschland. Frankfurt/M. 1995, S. 139–156, hier S. 156. 10 Uwe Wittstock: Die Dichter und ihre Richter. In: Süddeutsche Zeitung (13./14.10.1990). 11 Michael Braun: Die deutsche Gegenwartsliteratur. Eine Einführung. Köln, Weimar, Wien 2010, S. 88. 12 Kerstin Dietrich: „DDR-Literatur“ im Spiegel der deutsch-deutschen Literaturdebatte: „DDRAutorinnen“ neu bewertet. Frankfurt/M. 1998, S. 72.
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Zu DDR-Zeiten darf sich der Künstler in einer „Literaturgesellschaft“13 bewegen, in der er den selbstverständlichen, von oben zugeschriebenen Auftrag hat, das Volk nach sozialistischen Vorschriften zu erziehen und zum Aufbau des realsozialistischen Projekts zu inspirieren.14 Wie wird in der Berliner Republik mit diesem Menschenbild vom ostdeutschen Kunstschaffenden umgegangen? Was der Literaturbetrieb der Bundesrepublik schon in den 1970er Jahren überholt zu haben glaubt, kehrt mit der Wende 1989/90 durch die Wortmeldungen mancher ostdeutscher Künstler zurück: der große Intellektuelle, der sich in die politischen und/oder moralischen Belange mittels pädagogischer Gesten einmischt oder hier gar zum Engagement auffordert. Im Westen könnte man mit dem Tod Heinrich Bölls das Verschwinden des ‚engagierten‘ Schriftstellers auf das Jahr 1985 datieren. Hans Magnus Enzensbergers bekannte Analyse fasst die Veränderungen in der bundesrepublikanischen Gesellschaft der 1980er Jahre und ihre Auswirkungen auf die engagierten Intellektuellen pointiert zusammen: Vielleicht liegt es daran, daß sie [die Literaten, F.A.] in gewisser Weise überflüssig geworden sind. Ich glaube, es ist eine Vergesellschaftung solcher Rollen eingetreten. Wir haben Heinrich Böll verloren. Aber dafür haben wir Amnesty und Greenpeace.15
Der Abschied von ethischen und pädagogischen Autoritäten à la Böll wird durch die Wende und durch den ‚DDR-Schriftsteller-Beitritt‘ zum Literaturmarkt im Westen vehement in Frage gestellt. Heiner Müller vernimmt eine „Intellektuellenfeindlichkeit“,16 was für ehemalige DDR-SchriftstellerInnen ein Novum darstellt. Die auktorialen Stimmen, deren Ansprüche zum gesellschaftskritisch Universellen avancieren, erleiden eine Entmachtung, die – in den Worten Heribert Tommeks – „mit der Auflösung einer homogenen literarischen Öffentlichkeit und der milieuförmigen Pluralisierung der Literatur zusammen[falle].“17 Dies mag
13 Hans Koch: Unsere Literaturgesellschaft. Kritik und Polemik. Berlin (Ost) 1965. Johannes R. Becher gab die Parole der „Literaturgesellschaft“ bereits 1956 auf dem 5. Schriftstellerkongress der DDR aus. 14 „Es ist die vornehmste Aufgabe der Schriftsteller und Künstler in unserer Republik, den tatsächlichen, realen humanistischen Gehalt der Kämpfe der Arbeiterklasse […] ins Licht zu heben“. Ebd., S. 24. 15 Hans Magnus Enzensberger: Das empfindliche Ungeheuer. Eine Wahlkampf-Unterhaltung aus dem Jahr 1987. In: H. M. E.: Mittelmaß und Wahn. Gesammelte Zerstreuungen. Frankfurt/M. 1989, S. 238f. 16 Dies sagt Heiner Müller am 18. Juli 1990, als frisch ernannter Präsident der Akademie der Künste der DDR, der Berliner Zeitung gegenüber. In: Franz Josef Görtz, Volker Hage, Uwe Wittstock (Hg.): Deutsche Literatur 1990: Jahresüberblick. Stuttgart 1991, S. 61. 17 Heribert Tommek: Das bürgerliche Erbe der DDR-Literatur. Eine Skizze. In: Weimarer Beiträge 56/4 (2010), S. 544–563, hier S. 545.
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sich in ein größeres Spektrum einbetten lassen, das seinen Platz in der Kategorie des spätbürgerlichen Neukonservatismus der ‚Berliner Republik‘ findet. Hochinteressant sind diesbezüglich Lutz Hachmeisters Schilderungen einer Medienlandschaft, in der die gängigen politischen Debatten eher in eine (konservative) Mitte rücken.18 Dass sich über die Etappen des Literaturstreits um Was bleibt ein Kampf um das Weiterleben der moralischen und öffentlichen Instanz der SchriftstellerInnen abspielt, zeigt sich auch 1995 auf frappierende Weise mit dem ‚Fall Fonty‘. Zwei Jahre nach der Veröffentlichung seiner kritischen Gedichte zur deutschen Einheit (Novemberland. 13 Sonette) streut Günter Grass erneut – mit seinem langatmigen Roman [→] Ein weites Feld – Salz in die offene Wunde der Wiedervereinigung und zwar von seiner etablierten Position als Autor aus. Es tauchen natürlich genügend Künstlerstimmen auf, die zeitgleich ihre Kritik am Prozess der ‚Abwicklung des Ostens‘ zum Ausdruck bringen, aber die der ‚Figur‘ Grass’ anhaftende Autorität wirkt sich auf die Öffentlichkeit anders aus: Grass’ Rednerpult muss zweifelsohne ein höheres symbolisches Kapital beigemessen werden als dem der Publizistik oder der anderen Autoren, die weniger als der (spätere) Nobelpreisträger von 1999 eine moralische und repräsentative Autorität beanspruchen. Dem Einzelgänger Grass bescheinigt Heinz-Peter Preußer das Prädikat vom „letzte[n] Mohikaner dieser Kaste.“19 Im ‚Literaturstreit 1995‘ geht es um Ähnliches wie in dem von 1990: um die auktoriale Hoheit in Sachen Geschichtsinterpretation und sozialpolitischen Engagements, und überhaupt um die Legitimation von SchriftstellerInnen, sich kritisch in die Politik einzumischen. Noch 1995 erscheint also die Sprengkraft des Falles Christa Wolf alles andere als erschöpft zu sein. Vier Monate nach dem Erscheinen von Ein weites Feld bemerkt Jürgen Habermas: „Der Skandal besteht nicht etwa in der Ablehnung des Romans, sondern im Verzicht auf ästhetische Begründung zugunsten einer blanken politischen Verurteilung.“20 Solch eine Beurteilung der Debatte hätte sich offenkundig auf die Einwände Frank Schirrmachers und Ulrich Greiners zu Was bleibt anwenden
18 Als symptomatisch für einen sich in den 1990er Jahren vollziehenden Aufstieg von neubürgerlichen Ansichten im Feuilleton zieht Hachmeister das Beispiel von Frank Schirrmacher heran (vgl. Lutz Hachmeister: Nervöse Zone. Politik und Journalismus in der Berliner Republik. München 2007, S. 181–215). 19 Heinz-Peter Preußer: Von der Wende- zur Nach-Wende-Narration – Ein Rückblick auf die Literaturgeschichte und ein Ausblick auf den Paradigmenwechsel zum Film und zur Alltagskultur. In: Gerhard Jens Lüdeker, Dominik Orth (Hg.): Nach-Wende-Narrationen. Das wiedervereinigte Deutschland im Spiegel von Literatur und Film. Göttingen 2010, S. 205–217, hier S. 208. 20 Jürgen Habermas: Aufgeklärte Ratlosigkeit: Warum die Politik ohne Perspektive ist. Thesen zu einer Diskussion. In: Frankfurter Rundschau (30.12.1995).
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lassen können. Anders gesagt: Grass habe nämlich den Fehler begangen, die Pose eines vom deutsch-demokratischen Credo propagierten Volkserziehers anzunehmen. Er habe sich zu einer mehrmals für tot erklärten ‚Literaturgesellschaft‘ bekannt und dabei die Ergebnisse des Literaturstreits nicht akzeptieren wollen. Das Feuilleton und der Markt verlangen in den ersten Jahren nach der Wiedervereinigung eine erneute Alphabetisierung der Prosakünstler (insbesondere aus der ehemaligen DDR), die nun ein Gesellschaftspanorama der Einheit zu liefern hätten (siehe hierzu ‚Wende‘- oder ‚Epochenroman‘21). Sodann bleibt auf der Publizistik-Seite noch ein Wunsch offen, nämlich: dass sich die Erzähler von den Zwängen der Ideologisierung bzw. – um mit Karl-Heinz Bohrer zu sprechen – von einem „Gesinnungskitsch“22 befreien mögen. Es scheint nun vollkommen nachvollziehbar, dass die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung im selben Jahre den Georg-Büchner-Preis dem 33-jährigen Durs Grünbein verleiht, einem ostdeutschen Autor, der aber die Verbindung mit der DDR-Literatur und ihrem literarischen Feld hinter sich gelassen hat. Er profiliert sich Anfang der 1990er Jahre als ‚gesamtdeutscher‘ Autor – laut Gustav Seibt „der erste Dichter, der die Spaltung der deutschen Literatur überwindet“23 –, dessen poetologische, politikferne und zunehmend antikisierende Lyrik einheitskompatibel zu sein scheint.24 Die inhärente Prämisse einer erfolgreichen dichterischen Laufbahn im vereinten Deutschland bildet die Distanzierung von dem nicht nur den DDR-Kulturschaffenden innewohnenden Engagement hinsichtlich außerliterarischer Strukturen, sondern auch von den mit dem DDR-Erbe verflochtenen Schreibweisen. Die von Grass und seinem Werk angesprochenen kritischen Punkte zielen gerade auf die Wiederbelebung der Frage hin: ‚Was bleibt‘ von der DDR und ihrer Literatur? Ohne Setzung eines Fragezeichens im Titel ihrer Erzählung Was bleibt
21 „Es wird so getan, als ob Günter Grass nur individuell an einem Projekt gescheitert sei, dessen Ausführung eigentlich aufs innigste zu wünschen wäre: der große politisch-historische Zeitroman.“ Karl-Heinz Bohrer: Erinnerung an Kriterien. Vom Warten auf den deutschen Zeitroman. In: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 49/11 (November 1995), S. 1055–1061, hier S. 1055. 22 Karl-Heinz Bohrer: Kulturschutzgebiet DDR? In: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken. 44/10–11 (1990), S. 1015–1018, hier S. 1016. 23 Gustav Seibt: Mit besseren Nerven als jedes Tier. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (15.3.1994). 24 Anhand der kultursoziologischen Ausführungen von Klaus-Michael Bogdal zum gewandelten kulturellen Klima in der alten und der neuen BRD zeigt Heribert Tommek, wie sich die DichterFigur Grünbein als ‚Super-Dichter‘ im literarischen Feld der neuen Berliner Republik anbietet: „Die ‚Einzigartigkeit‘ des symbolischen Aufstiegs [Durs Grünbeins, F.A.] ist aber vor dem Hintergrund des skizzierten Strukturwandels und dem damit einhergehenden ‚Begehren‘ nach einem ‚Super-Dichter‘ zu sehen.“ Tommek: Das bürgerliche Erbe der DDR-Literatur, S. 548.
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strebt Christa Wolf zugleich eine Aussage an, die mit dem impliziten Verweis auf Friedrich Hölderlins Vers „[w]as bleibet aber, stiften die Dichter“ (‚Andenken‘, 1803) leicht zu deuten ist: Es geht um das Verbliebene, zum einen um das politische Erbe eines misslungenen Staatsexperiments, zum anderen um das literarische Erbe samt seiner gesellschaftlichen Mission. 1990, kurz vor dem Inkrafttreten der Währungsunion, bekundet der bereits seit Mitte der 1980er Jahre in Westdeutschland lebende Schriftsteller Wolfgang Hilbig: „Die DDR und die Landschaft um Meuselwitz werden für mich unausrottbar vorhanden sein: ich habe ja geradezu fiebrige Wurzeln in diese schwarze Erd geschlagen.“25 Vier Jahre später, als der Roman „ICH“ ihm Kritik- und Publikumserfolge einbringt, äußert er sich noch einmal zum Problem des Fortlebens der DDR im gesamtdeutschen Kontext: Die DDR existiert ja eigentlich noch, ausgenommen ihre Bezeichnung, ihre Regierung, die die Bezeichnung erfunden hat, und das Ideologie-System, mit dessen Hilfe sie versucht hat, zu funktionieren. Es sind also nur Nebensächlichkeiten verblichen, und mit denen sollte sich ein Schriftsteller nicht etikettieren. Das andere, also das Überwiegende, zu beschreiben – auch dessen Veränderungen und, wenn es denn so sein soll, seinen Untergang – das ist, denke ich, eine große (und atemberaubende) Aufgabe für einen Schriftsteller. Und ein solcher Versuch wäre keineswegs provinziell. Die ganze Welt der Literatur besteht aus diesen kleinen poetischen Provinzen à la DDR… siehe das Yoknapatawpha von Faulkner.26
Das „Überwiegende“, wovon in diesem Passus die Rede ist, muss notwendigerweise als DDR-Material verstanden werden, welches in der Nachwendezeit weiterhin ein ausgeprägtes made in GDR-Markenzeichen aufweist – sowohl in den Erinnerungsdiskursen als auch in konkreten Überresten (z. B. in Produkten, Industrieanlagen, Dokumenten). Hilbig, dessen Figur Cambert in „ICH“ über den sprachlichen Überbau der DDR-Sozialisation obsessiv reflektiert, fordert seine Kollegen auf, das fiktionale Potential des misslungenen DDR-Experiments zu nutzen. Die Frage, ob die Fiktionalisierung der DDR-Vergangenheit ähnliche Merkmale wie Faulkners Yoknapatawpha tragen könnte, bleibe dahin gestellt. Zu konstatieren ist aber, dass die Kulturschaffenden – insbesondere diejenigen, die einen guten Teil ihrer Sozialisation in der DDR erlebt haben – die vergangene sozialistische Republik immer wieder aufwerten und davon reichlich in ihr Werk einfließen lassen.
25 Harro Zimmermann: Sprache war für mich zwingende Suchbewegung. Ein Gespräch mit dem ehemaligen DDR-Schriftsteller Wolfgang Hilbig. In: Frankfurter Rundschau (20.6.1990). 26 Wolfgang Hilbig: Zeit ohne Wirklichkeit. Ein Gespräch mit Harro Zimmermann. In: Text+Kritik 123 (Juli 1994): Wolfgang Hilbig. Hg. v. Heinz Ludwig Arnold. München 1994, S. 11–18, hier S. 12.
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Laut Wolfgang Emmerich „konnten die schnelllebigen Wendejahre nicht die Zeit großer Literatur sein.“27 Auf den Punkt bringt es Grzegorz Jaśkiewicz: „Die Literaturproduktion bis 1995 scheint von der Rasanz der Geschehnisse wie gelähmt zu sein.“28 In der Tat werden die Ereignisse um 1989/90 zeitnah literarisch registriert, verarbeitet und sehr rasch der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Allein in den ersten zwei Monaten des Jahres 1990 verbucht man nicht wenige Interviews mit Schriftstellern aus beiden deutschen Staaten. Die Intellektuellen scheinen keine kulturpolitischen Beiträge oder Aufsatzwortmeldungen zu scheuen: Helga Königsdorf,29 Heiner Müller,30 Friedrich Christian Delius,31 Günter de Bruyn,32 Monika Maron,33 Peter Schneider,34 Günter Grass35 – um nur einige namhafte Beispiele heranzuziehen – melden sich zu Wort, kommen miteinander ins Gespräch und stoßen dabei Debatten an. Wenngleich wichtige, klare Ausnahmen existieren – Reinhard Jirgls kaum wahrgenommener Debütroman Mutter Vater Roman (1990), Wolfgang Hilbigs Alte Abdeckerei (1991) und Kurt Drawerts Spiegelland (1992) –, versucht sich die ostdeutsche Belletristik in den ersten Jahren nach der Wiedervereinigung in einer oft autobiografischen (oder tagebuchartigen) Aufarbeitung der Ankunft in der neuen Bundesrepublik. Autobiografisches oder – wenn man so will – Autofiktionales, steht in erster Linie für den Versuch, sich (manchmal neu) zu positionieren, aber auch für den Wunsch, aus der Verzahnung von Historie und persönlichen Lebensläufen zu Erklärungen oder Rechtfertigungen zu gelangen. Dies suggeriert möglicherweise auf den ersten Blick eine gewisse Unruhe unter Autorinnen und Autoren, dabei handelt es sich unter Umständen um ein Phänomen, das aus der raschen
27 Wolfgang Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR. Erw. Neuausgabe. Berlin 1996 [20073], S. 498. 28 Grzegorz Jaśkiewicz: Die deutsche Nationalfrage in der deutschen Literatur 1980–1995. Hamburg 2011, S. 178. 29 Helga Königsdorf: Bitteres Erwachen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (4.1.1990). 30 Heiner Müller: „Das Kapital ist schlauer / Geld ist die Mauer“. In: Neues Deutschland (23.1.1990). 31 Friedrich Christian Delius: Der Westen wird wilder. In: Die Zeit (2.2.1990). 32 Günter de Bruyn: So viele Länder, Ströme und Sitten. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (3.2.1990). 33 Monika Maron: Das neue Elend der Intellektuellen. Die Tageszeitung (6.2.1990). Am 12. Februar veröffentlicht Maron einen Essay im Spiegel, in dem sie Grass’ Plädoyer gegen eine rasche Wiedervereinigung ablehnt. 34 Peter Schneider: Berlin über Berlin unter. In: Die Zeit (9.2.1990). 35 Günter Grass: Kurze Rede eines vaterlandslosen Gesellen. In: Die Zeit (9.2.1990). Drei Tage später erscheint ein neues Interview mit Grass in der tageszeitung und am 23. Februar wird seine Poetikvorlesung Schreiben nach Auschwitz, die auch das Thema der Wiedervereinigung anspricht, in der Zeit gedruckt.
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Geschichtswerdung der Gegenwart bzw. des deutschen Vereinigungsprozesses hervorgeht.36 In Thomas Rosenlöchers Die verkauften Pflastersteine, eines der ersten Klartextzeugnisse dieser Tendenz, liest man aus dem Eintrag vom 3. März 1990: „Schon bald werden wir Mühe haben, uns die DDR selber zu erklären. […] Insgeheim aber werden wir beginnen, das Unerklärliche zu verklären.“37 Rosenlöcher, dem Humor und Witz nicht fremd sind, subsumiert die unmittelbar nach der Wende auftretende Identitätsproblematik prägnant unter dem Triptychon ‚Erklären – Unerklärliches – Verklären‘.
‚Weiterschreiben‘ Man erinnert sich an die kurz nach der Wende populär gewordene ostdeutsche Belletristik. Diese will sich nicht selten als historische Quelle einer, mal ausgesprochen, mal verschlüsselt, autobiographisch anmutenden Reaktion auf die Wendejahre verstehen: so beispielsweise Stefan Heyms Hinwendung zur Besitzfrage in der Nachwendezeit in Auf Sand gebaut (1990), Monika Marons Abrechnung mit der Generation der Väter in Stille Zeile Sechs (1991), oder Brigitte Burmeisters Stasi-Phantasie Unter dem Namen Norma (1994) sowie die Verarbeitung des writer’s block bei Heiner Müller (Mommsens Block, 1993) und Christa Wolf (Auf dem Weg nach Tabou, 1994). Von den Autobiographien der Betroffenheit seien hier einige erwähnt: Hermann Kants Abspann. Erinnerungen an meine Gegenwart (1991), eine Mischung aus Selbstironie und Selbstfreispruch; Erich Loests Die Stasi war mein Eckermann oder mein Leben mit der Wanze (1991), die verarbeitete Dokumentation eines Stasi-Opfers; und Heiner Müllers Autobiographie-Interview Krieg ohne Schlacht, 1992 veröffentlicht, 1994 erweitert und neu aufgelegt mit einem Anhang aus den 1993 aufgedeckten Stasi-Akten, die Heiner Müller als schüchternen IM enthüllten. Eine Bestandsaufnahme der 1995 erschienenen Post-DDR-Literatur kann die Fortsetzung einer literarischen Reaktion auf die Wende bzw. das „Weiterschreiben“ (so bezeichnet dieses Phänomen eine von Holger Helbig entworfene Kate-
36 Der Historiker Jarausch kommentiert hierzu: „Indem sie [die persönliche Verarbeitung der Wende-Geschehnisse, F.A.] Eindrücke zu Erinnerungen verfestigt, verwandelt die Zeit direkt nach den Ereignissen eine nicht mehr präsente Gegenwart magisch in Vergangenheit.“ Konrad H. Jarausch: Die unverhoffte Einheit 1989–1990. Frankfurt/M. 1995, S. 12. 37 Thomas Rosenlöcher: Die verkauften Pflastersteine. Dresdner Tagebuch. Frankfurt/M. 1990, S. 92.
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gorie)38 einiger mehr oder weniger namhafter Autorinnen und Autoren aufzeigen, die bereits vor 1989 Werke geschrieben haben. Dazu gehören: Volker Brauns [→] Der Wendehals, Brigitte Burmeisters Herbstfeste, Stefan Heyms Radek, Hermann Kants Escape. Ein WORD-Spiel, Erich Loests Nikolaikirche, Angela Krauß’ Die Überfliegerin, Katja Lange-Müllers [→] Verfrühte Tierliebe, Hans Joachim Schädlichs Mal hören, was noch kommt, Jens Sparschuhs [→] Der Zimmerspringbrunnen und Peter Wawerzineks Mein Babylon. Aus diesem Pool der ‚weiterschreibenden‘ Autoren treten selbstverständlich sehr wichtige literarische Zeugnisse eines beträchtlichen Œuvres in den Vordergrund, wie es der Fall ist bei den Werken der Autoren Braun, Heym, Lange-Müller, Loest und Schädlich. Neben den oben erwähnten Erscheinungen ragen 1995 die literarischen Werke von einigen Schriftstellern heraus, die eine neue Haltung den DDR-Stoffen gegenüber zu besitzen scheinen. Es handelt sich um Texte, die aus einer Distanz sprechen, deren Hauptmerkmal darin liegt, dass sowohl mit Schreibmustern als auch mit Rollen der einstigen ‚Literaturgesellschaft‘ gebrochen wird. Am Beispiel der Werke von Ulrich Zieger, Reinhard Jirgl ([→] Abschied von den Feinden), Lutz Seiler ([→] berührt/geführt), Thomas Brussig ([→] Helden wie wir) und Ingo Schulze ([→] 33 Augenblicke des Glücks) skizziert der folgende Abschnitt die Charakteristika jener Distanzierung vom Drang zur betroffenen Verarbeitung von Geschichtlichem, von aktuell politischer Gesellschaftskritik und von der durch die Wende ausgelösten Aufregung – dem von Wolfgang Emmerich konstatierten und sprichwörtlich gewordenen furor melancholicus.39 Mit anderen Worten: Der Verlust der DDR schlägt sich bei diesen Autoren in poetischem Gewinn nieder.
Abschied von der Aufregung Ulrich Zieger (Jahrgang 1961), der vor 1995 einige Theaterstücke und Gedichtbände veröffentlicht und am Drehbuch von Wim Wenders In weiter Ferne so nah! (1993) mitgearbeitet hat, entwirft in Der Kasten, seinem ersten Roman, eine beeindruckende, surrealistische und verschlüsselte Dimension, die mit der Landkarte der DDR übereinstimmt. Ord Z. heißt der als Ich-Erzähler fungierende Romanprotagonist; er lebt in einer Provinzstadt namens K., wo er seine Tage zwischen Alkoholismus, Drogenrausch und der Gehilfentätigkeit bei dem Maler Wenzel verbringt. Letzterer verrät dem Erzähler, er habe in den 1930er Jahre an der
38 Vgl. Holger Helbig (Hg.): Weiterschreiben. Zur DDR-Literatur nach dem Ende der DDR. Berlin 2007, S. 1–7. 39 Vgl. Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR, S. 460.
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Begründung einer künstlerischen Maler- und Architektenbewegung namens „Der Kasten“ mitgewirkt. Unter den Mitgliedern wird ein gewisser Roeppke (Albert Speer?) von der Gestapo zum Entwurf eines Turmes in der Hauptstadt angeregt, der die reichsdeutsche Macht hätte versinnbildlichen sollen. Das Projekt scheitert aber am Sinneswandel der Gestapo, was die Auflösung der künstlerischen Fraktion des ‚Kasten‘ zur Folge hat. Laut Wenzel befänden sich in der aktuellen Hauptstadt immer noch Spuren des Kastens: Dieser Turm […], der als Wahrzeichen an den einst unfertig wieder zusammengebrochenen Turm zu B. erinnern sollte, steht noch immer. Noch immer nennen die Bewohner von B. ihn den Kasten, […] [a]uch wenn behauptet wurde, er sei inzwischen der Bedeutungslosigkeit anheimgefallen.40
Ord Z., dessen Verfassung zwischen Genusssucht, Halluzinationen und dem Versinken im Künstlertum schwankt, folgt den Spuren des Kastens in die Hauptstadt nach. Er will den Turmbau sehen und die Archive nach Angaben zur Künstlergruppe durchstöbern. Um in die Archivkeller eines Kartenverlags zu gelangen, lässt er sich auf einen Pakt mit der Stasi ein und fängt nun an, einen Fernsehautoren und seine Freundin zu bespitzeln. Seine Berichte verfasst er unter dem Decknamen „Deutscher“ und sie werden für ihn zu einer belletristischen Übung, die in dem im Roman angeführten Prosagedicht Schwarzland gipfelt. Schwarzland ist ein „Haßgesang in den Dimensionen von Lautréamonts ‚Gesänge des Maldoror.‘“41 Ord Z. findet den Kasten, den Turm, nur, wenn er in einen halluzinativen Zustand gerät, in dem er sein Fetischobjekt als Hauptquartier eines Überwachungssystems imaginiert, das Natur und Menschen steuert und bannt. Dabei versetzt ihn sein Rausch in das nächtliche weiße Rauschen der Fernsehapparate des Landes, um von dort aus seine makabre, ja schwarze Poesie zu rezitieren. Schwarz ist dabei die Farbe, die den verfehlten Versuch darstellt, sich zu vermenschlichen. Ord Z. beendet seine Tage, auch als die Wende bereits gekommen sein mag, in einem Garten außerhalb des städtischen Raums dicht an einem Bahndamm. Von hier aus beobachtet er weiterhin eine Welt, die ihre Schwärze nicht verloren hat. Der Roman – nur vordergründig ein Werk zur Stasi und Kunst – muss als ein Sich-Auftürmen von Bild- und Tonmetaphern verstanden werden. Häufig wird auf Maler der französischen Montmartre-Szene (z. B. Maurice Utrillo) sowie des US-amerikanischen abstrakten Expressionismus (z. B. Franz Kline) verwiesen. Ebenso durchdringend ist der ‚Soundtrack‘ des Romans – ein
40 Ulrich Zieger: Der Kasten. Berlin 1995, S. 81f. 41 Peter Böthig: Grammatik einer Landschaft. Literatur aus der DDR in den 80er Jahren. Berlin 1997, S. 115.
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wertvolles zeitliches Orientierungsmittel in einem Werk, in dem Orte und Zeit sehr gern im Unklaren gelassen werden –, der eine Verortung in den 1980er Jahren ermöglicht; u. a. Joy Divisions Love Will Tear Us Apart (1980) dient der Leitmotivik in den Gedankenausflügen des Erzählers auf bedeutende Weise. Die modernistisch anmutende Erzählwucht in Der Kasten zeugt von einer schmerzhaften DDR-Biographie, ohne ein einziges Mal Wörter wie DDR oder Sozialismus auftauchen zu lassen. Der Roman will einerseits ein Zeugnis einer DDR-Sozialisation ablegen: „Das Buch […] ist eine überaus schockierende und in dieser Art wohl noch nicht dagewesene Quintessenz der Erfahrungen der DDRSozialisation.“42 Andererseits veranschaulicht der krankhafte Bericht des IM „Deutscher“ den bipolaren Zustand der ganzen Nachkriegsnation. Die Atmosphäre, Stasi-Thematik, kalte Erotik und Kellerunterwelten machen diesen Roman zum möglichen Verwandten von Wolfgang Hilbigs „ICH“. Es ist verwunderlich, dass sich Kritik und Literaturwissenschaft so selten mit diesem Werk beschäftigt haben.43 Die von Zieger entworfene geschichtliche Misere tritt in potenzierter Form auch in Abschied von den Feinden auf, dem 1995 erschienen Roman von Reinhard Jirgl. Sein Debüt Mutter Vater Roman wird 1990 nach fünfjährigem Zögern der HV Verlage und Buchhandel veröffentlicht. Der Roman erscheint im Aufbau-Verlag in der von Gerhard Wolf betreuten Reihe „außer der reihe“ und gehört somit nur ‚zufällig‘ zur Nachwende-Literatur. Der Text, der Gattungsbezeichnung „Roman“ zum Trotz, ist als Montage von, bisweilen poetischen oder theatralischen, stets nach surrealistischer Technik konzipierten Bestandteilen zu lesen. Und doch imponiert den Lesern ein Buch, dessen historische Dimension die ganze Skala des europäischen Elends im 20. Jahrhundert durchzugehen vermag: „Jirgls Denken hat viele Väter […], die in der DDR kein Heimatrecht hatten: Friedrich Nietzsche, Oswald Spengler, Ernst Jünger und Michel Foucault zum Beispiel.“44 Die Aufwertung von solchem Gedankengut und von den dem Nouveau Roman zu verdankenden Techniken ist auch in Abschied von den Feinden zu finden, einer Geschichte vom Sterben, von Eifersucht, Verrat, Gelüsten, Mord und Rache, erzählt von den sich überlappenden Stimmen zweier dieselbe Frau begehrenden Brüder und einem (tragischen) Chor von Bewohnern einer ostdeutschen Gemein
42 Ebd., S. 114. 43 Ungefähr zweieinhalb Seiten sind dem Roman in Peter Böthigs Grammatik einer Landschaft gewidmet. Mit Ulrich Zieger haben sich die Literaturwissenschaften nur sehr marginal beschäftigt. Generell ist es wünschenswert, dass dieser Dramatiker, Lyriker und Hörspielautor Subjekt von weiteren Analysen wird. Dem Autor ist des Weiteren kein Eintrag – weder im Kritischen Lexikon der Gegenwartsliteratur noch im Metzler Lexikon DDR-Literatur – gewidmet. 44 Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR-Literatur, S. 495.
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de. Die Narration berichtet über Rückblenden und wechselnde Perspektiven von einer ewigen, von Gewalt geprägten und weit über das Schicksal der DDR hinausgehenden Endzeitstimmung. Diese geht einher mit der Heraufbeschwörung der NS-Vergangenheit – repräsentiert durch den Vater der Brüder – und der Vertreibung der Sudetendeutschen über die Geschichte der Adoptiveltern. Alle dramatis personae sind unterschiedlich traumatisiert worden, sei es durch die Geschichte, sei es durch körperliche und psychische Gewalt. Die im Roman bebilderten Körperteile und deren Sekrete tragen dazu bei, die Leser in eine chthonische Tiefe zu begleiten, in ein höllisches Reich, dessen lyrisch gestaltete Obszönitäten mit einer kulturpessimistischen Grundeinstellung ergänzt werden. Menschen, egal ob aus dem Westen oder aus dem Osten, sind eine rein mechanische Substanz, die Prinzipien wie Ethik, Hoffnung und Moral gänzlich aufgegeben haben. Der „langsam erbleichende Ort“45, an dem sich der ältere Bruder am Ende befindet, ist nicht nur der Todesstreifen der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze (vielleicht das autobiographische Salzwedel?), vielmehr stellt er einen negativen Kosmos dar, den eigenwilligen Schauplatz, in dem sich Jirgls Vorstellungswelt abspielt und abspielen wird. Die Poetik von Abschied von den Feinden, vor allem aber das philosophische Bekenntnis zu einer alles vernichtenden Gewalt, wird von dem „düstersten aller Dunkelmänner unter den deutschen Erzählern“46 konsequent und verschärfter fortgesetzt, vornehmlich in den Romanen Hundsnächte (1997), Die Unvollendeten (2003) und Abtrünnig (2005), in denen die geschichtliche Trübe nicht nur Deutschland, sondern auch den amerikanischen Kontinent umfassen wird. Jirgls Œuvre kreiert eine (auch orthographisch) traumatische Gesellschaft, der moralische, gar menschliche Stützpunkte abhanden gekommen sind. Der Erfolg solch eines sperrigen Autors erklärt sich nach Erk Grimm über den Erwartungshorizont im deutschen Literaturbetrieb: Der bemerkenswerte Erfolg des mittleren Romanwerks zwischen 1995 und 2006 ist nicht ohne die explizit ausgesprochene Erwartungshaltung des Literaturbetriebs zu erklären, da im Übergang zu den 1990er Jahren die anhaltende Suche nach dem verbindlichen Großstadtroman, Wenderoman oder Zeitroman zunehmend nach konkreter Einlösung verlangte.47
2010 wird sein Werk mit dem Georg-Büchner-Preis gekürt.
45 Reinhard Jirgl: Abschied von den Feinden. München 1995, S. 321. 46 Ernst Osterkamp: Die Wölbung einer bloßen Brust in sonniger Hülle. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (21.3.2000). 47 Erk Grimm: Reinhard Jirgl. In: Kritisches Lexikon der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur (KLG). Hg. v. Heinz Ludwig Arnold. Stand: 1.11.2010.
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Genauso wie im Falle Jirgls ist es der Aufnahme in einem marktführenden Verlag (Suhrkamp) zu verdanken, dass Lutz Seiler 2000 zu einem der interessantesten deutschsprachigen Dichter der Gegenwart wird. Sieben von den in pech & blende (2000) abgedruckten Gedichten erscheinen bereits 1995 beim relativ unbekannten Verlag Oberbaum in dem Gedichtband berührt/geführt. Hier werden überwiegend Bilder aus einer Kindheitslandschaft dargestellt, in der sich ein naives lyrisches Wir auf unsicherem Gebiet bewegt: „die schwerkraft verstummte / in unseren mützen / das waren die schmerzen / beim urinieren, im schutzwald / beim sprechen, wir hatten / zitate: dass wir den schattenseiten des planeten / wenigstens eine lichte entgegenhielten.“48 Seilers Lyrik greift offensichtlich auf Bilder einer DDR-Vergangenheit zurück (im selben Gedicht taucht der OstblockHeld Juri Gagarin als Adressat auf!); es ist aber die Geschichte des DDR-Bodens, die den Dichter im besonderen Maße beschäftigt. Heimaterschließung heißt bei Seiler, eine dunkle Landschaft zu befragen und ihre geologischen Schichten zu sondieren. Solch ein Themenkomplex wird im Titel gebenden Gedicht des zweiten Bandes (‚pech & blende‘) am stärksten zum Ausdruck gebracht: „[E]r [der Vater, F.A.] hatte die halden bestiegen / die bergwelt gekannt, die raupenfahrt, das wasser, den schnaps / so rutschte er heimwärts, erfinder des abraums / wir hören es ticken, es ist die uhr, es ist / sein geiger zähler herz.“49 Auch Lutz Seilers Semantik ist, wie diejenige Jirgls, von einer immanenten Dunkelheit geprägt. Es handelt sich aber – wie dem Zitat zu entnehmen ist – um eine Finsternis anderer Natur. Die freien Verse, sehr wohl bezeichnend für die Seiler’sche Tonlage, thematisieren das bedrückende, aber zugleich faszinierende Kindheitsambiente des Lyrikers, nämlich das Uranerzbergbaugebiet in Ostthüringen: Mondlandschaftsartige Orte, die Ende der 1960er Jahre den ‚Sonnensuchern‘ der Wismut AG zum Opfer fielen. Das DDR-Material wird bei Seiler zur Materie: Es sind „halden“, eine radioaktive „bergwelt“, die anatomisch durch den buchstäblich verstrahlten Vater versinnbildlicht wird, dessen Lebensspanne von einem Geigerzähler bestimmt werden. Seilers Beschreibung der seit nun länger als vierzig Jahren abgerissenen Ortschaften bleibt jedoch stets fern von einer nostalgischen Verfassung und dient einer geheimnisvollen, allgemeineren Naturmagie, die ihre Vorbilder vor allem in Peter Huchel und Stefan George findet. Nicht nur ist das radioaktive Schwermetall Ursache der Zerstörung aller Dörfer und tödlicher Erkrankungen, sondern auch ein Grund zu einer Poesie der Reflexion. Seiler behandelt das Uran als ein kostbares Material, einen hochpoetischen Auslöser lyrischer Assoziationen. Dies erweist sich auch als Konstante in den Erzählungen aus Die
48 Lutz Seiler: pech & blende. Frankfurt/M. 2000, S. 41. 49 Lutz Seiler: berührt/geführt. Chemnitz 1995, S. 45.
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Zeitwaage (2009) und in seinem bis dato jüngsten Gedichtband im felderlatein (2010), der eine Brücke zu dem Erstling berührt/geführt schlägt, wo das abgetragene Heimatdorf Culmitzsch über eine Sprache des Genau-Hinhörens und des BodenAbtastens zu einem universellen Muster „einer aus Sand gebauten Welt“50 wird. Ganz anders wirkt die furiose Sprache von Thomas Brussigs Roman Helden wie wir: Brussigs Schelmen-Autobiographie bietet eine ‚Entheroisierung‘ der Wendeereignisse an; im Mittelpunkt dieses Textes stehen die Berichte des Protagonisten, der von einem Reporter der New York Times um ein Resümee der ‚wahren‘ Wendegeschichte gebeten wird: „Mir war schon klar, daß diese Das-Volk-sprengt-dieMauer-Legende nicht mehr lange halten wird“.51 Bereits in den ersten Romanseiten wird Wichtiges klar gemacht: Brussigs Uhltzscht wird zu einem Anti-Held stilisiert, dessen Erzählduktus auf vornehmen literarischen Vorbilder aufbaut. Er stellt sich als den mittelmäßigen Außenseiter dar, einen Versager, der sich in große geschichtliche Geschehnisse verwickeln lässt, so wie man ihn aus alter Tradition kennt (Lazarillo de Tormes, Rabelais’ Gargantua et Pantagruel, Sternes Tristram Shandy, Grass’ Die Blechtrommel und Salman Rushdies Midnight’s Children). Brussigs Uhltzscht rebelliert gegen die Vorschriftswelt seiner strengen Mutter, einer Hygieneinspektorin, durch mehrere emanzipatorische Gesten, die dem Helden zur endgültigen Abnabelung verhelfen. Dem Protagonisten geht es aber auch um die Abnabelung von weiteren Mutter-Figuren: Der Roman persifliert darüber hinaus Christa Wolf, die Mutterfigur der DDR-Literatur schlechthin, und sogar das ganze (weibliche) Land DDR – Uwe Johnson sprach hierbei von der „D. D.R. als Lehrerin“52 und Volker Braun bezeichnete die ostdeutsche Gesellschaft als strenge Erzieherin.53 Interessanterweise stellt Arthur Rimbauds Mentor Georges Izambard fest, dass der junge Dichter in den Auseinandersetzungen mit der Mutter einen Auslöser zur skatologischen Poesie und mithin eine emanzipatorische Haltung in der Fäkaldichtung gefunden habe, und Brussigs Romanheld scheint diesem Muster bewusst zu folgen. Helden wie wir sorgt für Aufsehen und für fast ausschließlich positive bis enthusiastische Resonanzen – mit Ausnahme der von Männerphantasien bekanntlich unbeeindruckten Sigrid Löffler.54 Es han-
50 Michael Opitz: Faszinierend schöne Wege in die Welt. In: Deutschlandradiokultur (8.10.2010), online: http://www.deutschlandradiokultur.de/faszinierend-schoene-wege-in-die-welt.950.de. html?dram:article_id=139234. 51 Thomas Brussig: Helden wie wir. Frankfurt/M. 1998, S. 6. 52 Uwe Johnson: Versuch, eine Mentalität zu erklären. In: Berliner Sachen. Aufsätze. Frankfurt/ M. 1975, S. 54. 53 „Unsere Erzieherin aber – die Gesellschaft, strenge [!] sorgend.“ Volker Braun: Rimbaud. Ein Psalm der Aktualität. Mainz 1984, S. 4. 54 Vgl. Sigrid Löffler: Anfänger. In: Süddeutsche Zeitung Magazin (13.10.1995).
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delt sich um ein grundlegendes Buch für die Menge an nachfolgender PopLiteratur, die sich des DDR-Alltagsarchivs ironisch bedienen wird; man denke an Jakob Heins Mein erstes T-Shirt (2001), Claudia Ruschs Meine freie deutsche Jugend (2003) oder Michael Tetzlaffs Ostblöckchen. Neues aus der Zone (2004). Ein 1995 erfolgtes Debüt muss hier kurz erwähnt werden, selbst wenn Wolfgang Emmerich zu dessen Autor schreibt: „Hier hat ein Autor einen Text jenseits aller DDR-typischen Lebens- und Schreibmuster vorgelegt […] und damit signalisiert, daß DDR-Literatur natürlich nach und nach aufhört.“55 Die Rede ist von Ingo Schulzes 33 Augenblicke des Glücks. Die Erzählungen des Bandes spielen zwar in einer post-sozialistischen Zeit, dafür aber in Russland. Es sind groteske und ironische Geschichten, geliefert von einem Westdeutschen – Herrn Hofmann [!] –, die von einer namenlosen deutschen Frau zur Veröffentlichung an einen fiktiven Herausgeber (I. S.) geschickt werden. Die Aufzeichnungen Herrn Hofmanns berichten von surrealen und schauerlichen Vorkommnissen und Anekdoten. An eine Semantik der Fäkalien knüpft eine der makabren Erotik an, beispielsweise in der achtzehnten Geschichte: Die fünfzehnjährige Tanjuscha lässt sich auf die erotischen Phantasien dreier Männer ein und bietet deren Mündern ihren von Essen überzogenen Körper an; diese Grande bouffe artet alsbald in eine Kannibalismusszene aus.56 Schulzes ‚Abenteuerliche Aufzeichnungen‘ (wie es im Roman-Untertitel heißt) bieten außerdem ein reiches Spektrum an Volkskultur an: vom Aberglauben zum Eheopportunismus, und verweisen – explizit mit „Ausgewählte[n] Anmerkungen des Herausgebers“ – auf literarische Modelle der russischen und deutschen Tradition, allen voran Gogol, aber auch Daniil Charms, Puschkin, Tschechow, Nabokov und, last but not least, E. T. A. Hoffmann, der als spiritus rector dem ganzen Werk beiwohnt. Der Band setzt auf die Erzeugung eines Leichtigkeitsgenusses, der sich von der Vorherrschaft des Phantastischen und der Umsetzung der Karnevalstheorie ernährt: „Urin und Kot verwandeln kosmisches Entsetzen in Karnevalsheiterkeit“.57 Selbst wenn 33 Augenblicke des Glücks kein Post-DDR-Buch ist, bleibt festzustellen, dass ein Autor 1995 Debüt feiert, der sich mit den späteren Werken als Chronist sowie Fabulist der Wende und der ostdeutschen Provinz etabliert: Mit Simple Storys. Ein Roman aus der ostdeutschen Provinz (1998) darf sich der Dresdener einer fulminanten Popularität rühmen: „Ingo Schulze hat den langersehnten Roman über das vereinigte Deutschland geschrieben: ‚Simple Storys‘ ist ein Buch
55 Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR-Literatur, S. 506. 56 Ingo Schulze: 33 Augenblicke des Glücks. Berlin 1995, S. 217. 57 Michail Bachtin: Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur. Hg. v. Renate Lachmann. Frankfurt/M. 1987, S. 377.
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zum Staunen und zum Fürchten.“58 Lakonisch und zugleich skurril ist der Ton dieser simplen Storys: Miniaturen, die in Nahaufnahmen sämtlicher OstprovinzNeurosen im Stil der US-amerikanischen short stories kondensieren.
Schlussbemerkung: die Chiffre von 1995? Bis 1995 ist eine Post-DDR-Literatur zu registrieren, deren Hauptcharakteristika auf den Konstituenten der Betroffenheit beruhen könnten – sprich, autobiographische Reaktionen, Desorientierung oder Wut. Die Erfahrung des Verlustes, sei es der eines Liebesobjekts oder einer verhassten Unterdrückungsmaschinerie, oder gar das Gefühl des Neuanfangs gewinnen die Oberhand. Es wäre naiv, die These aufzustellen, dass dies nach 1995 nicht mehr der Fall ist, aber – wie ich in den oben besprochenen Werken aufzuzeigen versucht habe – einige der 1995 erschienenen Werke wagen den Schritt zu einer lockereren, unaufgeregten Haltung dem Umbruch von 1989/90 gegenüber. Die herangezogenen Exempel verdeutlichen eine Hinwendung zu in gewisser Hinsicht unzeitgemäßen literarischen Vorbildern und Schreibmustern aus den Epochen der (Vor-)Moderne, der Romantik, des Surrealismus, und aus dem Grotesken. Auch daran misst sich das Prestige eines Schreibens, das keine pädagogische Instanz repräsentieren will. Außer Ulrich Zieger, der heute immer noch so gut wie unbekannt ist, haben Jirgl, Seiler, Brussig und Schulze, mal mehr mal weniger, großen Erfolg ernten können: zahlreiche Preise und Stipendien sowie eine starke Medienpräsenz. Diese Autoren verkörpern einen Gegenpol zu den Ansprüchen der ‚Literaturgesellschaft‘ und versehen intertextuelle Komplexe mit Stimmen, welche in der DDR verdrängt oder (wie bei Jirgls Vorbildern) gar tabuisiert worden sind. Diese Schriftsteller verwenden das DDR-Material zwar reichlich, aber sie ergänzen dieses – fast in einer Geste des Nachholens – mit einem ‚fremden‘ kulturellen Erbe der Vielstimmigkeit. Kann man eine Chiffre von 199559 in der Post-DDR-Literatur feststellen, nämlich eine prägende Nahtstelle in der ostdeutschen Literatur der letzten zwanzig Jahre? Wenn ja, dann ist das Jahr 1995 auch eine Chiffre der gesamtdeutschen Gegenwartsliteratur.
58 Wolfgang Höbel: Glücksritter auf Tauchstation. Der Spiegel (10/1998). 59 Den Ausdruck benutze ich in Anlehnung an Alexander Kluge, der von der „Chiffre von 1914“ spricht. Vgl. Alexander Kluge, Oskar Negt: Maßverhältnisse des Politischen. Frankfurt/M. 1993, S. 197f.
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Eva-Maria Konrad
Literarische Gegenwelten Am 19. März 1838 schreibt Friedrich Hebbel in sein Tagebuch: „Das Wort Wenn ist das deutscheste aller deutschen Worte.“1 Dieses Diktum hat seine Geltung offenbar auch nach über 150 Jahren nicht verloren: Betrachtet man die literarischen Erzeugnisse des Jahres 1995, bewahrheitet sich Hebbels Aussage allein in Anbetracht der großen Menge an fiktionalen Texten, die in diesem Jahr Formen des Kontrafaktischen präsentieren. Gemeinsam ist all diesen Werken das zugrunde liegende Konditionalgefüge der Form „Was wäre, wenn…“2 – und damit genau die Art von Gedankengang, die Hebbel offenbar für in irgendeiner Weise „typisch deutsch“ hielt. Im Folgenden werde ich deshalb versuchen, ein Panorama der verschiedenen Formen von literarischen Gegenwelten im Jahr 1995 zu entwerfen. Im Hintergrund dieser Systematisierung wird nicht nur die Frage stehen, welche Funktionen die unterschiedlichen Gegenwelten erfüllen, sondern auch, warum sich gerade das „typisch Deutsche“ des Konditionals und die spezifisch deutsche Situation des Jahres 1995 vermehrt in der Inszenierung literarischer Gegenwelten zusammenfinden. Vorausgeschickt sei nämlich bereits an dieser Stelle, dass Edgar McKnights Feststellung, diese Form der Gestaltung sei „fully emerged as a literary genre only since World War Two“3, zwar korrekt ist, dass es sich dabei meiner Wahrnehmung nach aber zunächst um ein vor allem englischsprachiges Phänomen handelte. Ein beredtes Zeugnis davon legt nicht zuletzt die Tatsache ab, dass Ansgar Nünning in seiner aus dem Jahr 1995 stammenden Studie zum historischen Roman zwar eine Reihe von Beispielen für sog. „revisionistische historische Romane“ anführt, sich dabei aber noch ausschließlich auf „Erscheinungsformen und Entwicklungstendenzen […] in England seit 1950“4 konzentriert. Wenn Christoph Rodieks nur zwei Jahre später erschienene Untersuchung zu kontrafak-
1 Friedrich Hebbel: Tagebuch 1. Sämtliche Werke. Berlin 1901ff., S. 1042. 2 Vgl. Christoph Rodiek: Erfundene Vergangenheit. Kontrafaktische Geschichtsdarstellung (Uchronie) in der Literatur. Frankfurt/M. 1997, S. 124: „Als Keimzellen des Kontrafaktischen fungieren Konditionalgefüge.“ 3 Edgar V. McKnight Jr.: Alternative History: The Development of a Literary Genre. Ann Arbor/MI 1996, S. iii. McKnight spricht darüber hinaus von einem „genre that is curiously dominated by men“ (S. 209). 4 So lautet der Titel des zweiten Bandes, vgl. Ansgar Nünning: Von historischer Fiktion zu historiographischer Metafiktion. Bd. 2: Erscheinungsformen und Entwicklungstendenzen des historischen Romans in England seit 1950. Trier 1995 [Hervorh. E.-M.K.].
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tischen Geschichtsdarstellungen dann sehr wohl neben fremdsprachigen auch deutschsprachige Texte behandelt (und dabei mit Christoph Ransmayrs [→] Morbus Kitahara und Ernst-Wilhelm Händlers Morgenthau auf zwei Titel aus dem Jahre 1995 referiert),5 ist dies meines Erachtens kein Zufall, sondern ein sicheres Zeichen dafür, dass dieses Jahr mit seiner Fülle an Gegenwelten eine Art Initialzündung markiert.6 Das Spektrum an Gegenwelten lässt sich dabei in drei Bereiche unterteilen: Die beiden Formen, mit denen ich mich am intensivsten auseinandersetzen werde, werden durch Texte repräsentiert, die entweder eine Gegenwelt zur außerliterarischen oder eine Gegenwelt zur innerliterarisch präsentierten Wirklichkeit darstellen. Ich werde hier verkürzt von „extradiegetischen“ und „intradiegetischen“ Gegenwelten sprechen. Darüber hinaus werde ich drittens auch auf phantastische Gegenwelten eingehen.7 Was unter diesen verschiedenen Kategorien jeweils konkret zu verstehen ist, soll im Folgenden genauer ausdifferenziert und anhand von paradigmatischen Textbeispielen exemplifiziert werden. Wichtig ist zunächst aber ganz allgemein, dass diese drei Sektionen nicht als streng gegeneinander abgeschlossene Kategorien zu verstehen sind. Wenn etwa in Thomas Hettches [→] Nox der realen gewaltfreien Wiedervereinigung nicht nur eine Welt der verletzten, verstümmelten, vernarbten, getöteten und sadomasochistisch instrumentalisierten Körper gegenübergestellt wird, sondern die gesamte Geschichte zudem von einem während des Erzählens verwesenden Erzähler berichtet wird, ließe sich sowohl von der Inszenierung einer phantastischen Gegenwelt als auch von einer Gegenwelt zur außerliterarischen Wirklichkeit sprechen.8 Vorausgeschickt sei außerdem, dass der Begriff „Gegenwelt“ bewusst breit angelegt ist und weder mit dem Fiktionalen oder Imaginären (diese Begriffe wären zu weit gefasst)9 noch mit dem Kontrafaktischen oder der Uchronie iden-
5 Vgl. Rodiek: Erfundene Vergangenheit, S. 141ff. 6 Entsprechend wird in der Folge auch an der Aufhebung des noch von Rodiek beklagten Defizits gearbeitet, kontrafaktische Schreibweisen seien „literaturwissenschaftlich kaum erforscht“ (ebd., S. 38): Insbesondere Andreas M. Widmann legt mit seiner Studie zur kontrafaktischen Geschichtsdarstellung eine ausführliche Untersuchung vor, die sich ebenfalls zentral auf Texte aus dem Jahr 1995 stützt. Vgl. Andreas Martin Widmann: Kontrafaktische Geschichtsdarstellung. Untersuchungen an Romanen von Günter Grass, Thomas Pynchon, Thomas Brussig, Michael Kleeberg, Philip Roth und Christoph Ransmayr. Heidelberg 2009. 7 Auf eine weitere Form, die man als „hypothetische Gegenwelten“ bezeichnen könnte, werde ich abschließend kurz verweisen. 8 Vgl. Thomas Hettche: Nox. Frankfurt/M. 1995. 9 Vgl. Rüdiger Heinze: Temporal Tourism: Time Travel and Counterfactuality in Literature and Film. In: Dorothee Birke, Michael Butter, Tilmann Köppe (Hg.): Counterfactual Thinking – Coun
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tisch ist (diese Begriffe wären zu eng gefasst).10 Stattdessen werden als „Gegenwelten“ all diejenigen fiktionalen Entwürfe bezeichnet, die (in unterschiedlicher Weise) eine bewusste Alternative zur inner- oder außerliterarischen Wirklichkeit darstellen.
Extradiegetische Gegenwelten Die in der Forschung bislang am ausführlichsten diskutierte Form von Gegenwelten aus dem Jahr 1995 betrifft diejenigen Texte, die kontrafaktisch im engeren Sinne sind, d. h. die eine Alternative zur außerliterarischen, tatsächlichen Wirklichkeit – oder genauer gesagt: Vergangenheit – präsentieren. Kontrafaktische Konditionalsätze haben grundsätzlich die Form: Wenn x geschehen wäre, hätte dies y zur Folge gehabt. Genau diese gedankliche Grundform liegt den beiden Romanen zugrunde, auf die ich mich in dieser Kategorie konzentrieren werde, nämlich Christoph Ransmayrs Morbus Kitahara und Thomas Brussigs [→] Helden wie wir. Betont werden muss allerdings, dass diese beiden Texte ihre kontrafaktischen Gegenwelten auf verschiedene Weise gestalten. Unter Rückbezug auf Andreas M. Widmann lässt sich hier zwischen dem story- und dem plot-Typus kontrafaktischen Erzählens unterscheiden.11 Seiner Meinung nach tendieren
deviierende historische Romane entweder dazu […], die Einheiten beziehungsweise Vorgänge, aus denen sich die Story […] zusammensetzt, in ihrer Abfolge unverändert zu belassen, dabei jedoch den Elementen durch Erfindung eines im Widerspruch mit kollektiven Geschichtsbildern stehenden Plots eine neue Deutung einzuschreiben, oder Elemente der Story selbst zu verändern und so die Geschichte zu verändern.12
Mit anderen Worten: Während der story-Typus ein tatsächlich geschehenes Ereignis durch ein fiktives ersetzt, kreiert der plot-Typus einen alternativen Ursa-
terfactual Writing. Berlin, Boston 2011, S. 212–226, hier S. 212: „Broadly speaking, all literary worlds are ontologically counterfactual if we understand counterfactual in its basic sense as ‚contrary to the fact‘.“ Vgl. zur Abgrenzung zur rein imaginären Geschichte auch Rodiek: Erfundene Vergangenheit, z. B. S. 25 u. S. 44: „Von der ‚imaginären Geschichte‘ unterscheidet sich die Uchronie (kontrafaktische Geschichte) durch ihren strikten Tatsachenbezug.“ 10 Vgl. zu den Begriffen des Kontrafaktischen, der Uchronie und weiteren gebräuchlichen Termini, die sich in einem ähnlichen begrifflichen Umfeld bewegen, ebd., v. a. S. 9. 11 Vgl. Widmann: Kontrafaktische Geschichtsdarstellung, z. B. S. 348. 12 Ebd.
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che-Wirkungs-Zusammenhang. Am besten zeigt sich dies an den Textbeispielen selbst: Morbus Kitahara entspricht dem story-Typus, d. h. hier wird an einem bestimmten Punkt in der Vergangenheit von den historischen Geschehnissen abgewichen. Von dort an entwickelt sich die Erzählung kontinuierlich vom bekannten, realen Ereignisverlauf fort.13 Dieser entscheidende Moment, an dem die kontrafaktische Wende einsetzt, lässt sich, auch wenn Ransmayr alle Eigennamen und sonstigen Referenzen auf die außerliterarische Wirklichkeit verfremdet, recht genau rekonstruieren: Es handelt sich um das Ende des 2. Weltkriegs und die danach vor allem für die Alliierten entscheidende Frage, wie mit den Deutschen nach der Niederlage weiter zu verfahren ist. Entgegen dem tatsächlichen Geschichtsverlauf folgt im Roman auf den sog. „Frieden von Oranienburg“ dann nicht die Verwirklichung des Marshallplans, sondern des „Stellamour“- bzw. Morgenthau-Plans in der von Goebbels propagierten Form.14 Allerdings muss auf die Ereignisse vor diesem „Frieden“ (und damit sozusagen auf den „Wenn“-Satz) mehr rückgeschlossen werden, als dass sie tatsächlich dargestellt würden. Was der Roman stattdessen detailliert vorstellbar macht, sind die über drei Jahrzehnte nachgezeichneten Folgen (also der „Dann“-Satz des Konditionals), die diese von der Wirklichkeit abweichende Entscheidung nach sich gezogen hätte.15 So gehört zur kontrafaktischen Gegenwelt nicht nur eine konsequente Deindustrialisierung und Entmilitarisierung, sondern auch eine Politik, die vor allem dem Vergessen des Vergangenen entgegenwirken will. Dies schließt unter anderem regelmäßig verordnete Sühne- und Bußrituale mit ein, die den imitierten Ereignissen in ihrer Drastik kaum nachstehen:
Anstatt den Dingen ihren Lauf und die Schrecken der Kriegsjahre allmählich blaß und undeutlich werden zu lassen, erfand [Major] Elliot für diese Parties immer neue Rituale der Erinnerung. Dabei schien der Kommandant auch selbst jener Vergangenheit verfallen zu sein, an die er immer und immer wieder zu rühren befahl.16
13 Erwähnt werden muss allerdings, dass Ransmayr seine Gegenwelt dennoch immer wieder mit Versatzstücken ausstattet, die aus der Realität bekannt sind (wie etwa dem Ende des Kriegs durch einen Atombombenabwurf über Japan). 14 Vgl. Thomas Neumann: „Mythenspur des Nationalsozialismus“. Der Morgenthauplan und die deutsche Literaturkritik. In: Uwe Wittstock (Hg.): Die Erfindung der Welt. Zum Werk von Christoph Ransmayr. Frankfurt/M. 1997, S. 188–193. 15 Vgl. Widmann: Kontrafaktische Geschichtsdarstellung, S. 321. Widmann weist darüber hinaus völlig zu recht darauf hin, dass Ransmayr mit den Orten Moor und Brand genau genommen sogar „zwei fiktionale Schauplätze als Pendants zweier historischer Möglichkeiten [nutzt], die in der Erzählhandlung parallel existieren“ (S. 324). 16 Christoph Ransmayr: Morbus Kitahara. Frankfurt/M. 1995, S. 44.
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Vorgeführt wird zudem der zunehmende Verfall der einstigen Errungenschaften technischen Fortschritts, vor allem aber auch der unaufhaltsame Zusammenbruch der menschlichen Zivilisation selbst.17 Strukturell anders aufgebaut ist dagegen das kontrafaktische Szenario in Brussigs Helden wie wir, das nicht dem story-, sondern dem plot-Typus zuzuordnen ist. In Helden wie wir finden die historischen Ereignisse in der Weise statt, wie sie sich tatsächlich ereignet haben, neu ist aber der Ursache-Wirkungs-Zusammenhang, den der Roman herstellt. So sind es hier gerade nicht die Demonstrationen der DDR-Bürger, die 1989 zur Grenzöffnung führen, sondern die Entblößung von Klaus Uhltzscht: „Ja, es ist wahr. Ich war’s. Ich habe die Berliner Mauer umgeschmissen. […] Die Geschichte des Mauerfalls ist die Geschichte meines Pinsels“.18 Anstelle der Konzentration auf die Folgen (bzw. auf den „Dann“-Satz) wie in Morbus Kitahara liegt der Schwerpunkt hier also auf einem alternativen „Wenn“Satz – mit der erstaunlichen Konsequenz, dass diese kontrafaktische Ursache keine kontrafaktischen Folgen nach sich zieht:19 Während die kontrafaktische Wende in Morbus Kitahara dazu führt, dass sich die literarische Gegenwelt ab diesem Zeitpunkt vom realen Handlungsverlauf entfernt, hat die literarisch ausgestaltete Abweichung in Helden wie wir genau dieselben Konsequenzen, die uns aus der Realhistorie bekannt sind. „Sie kennen die Bilder: Sektparties am Brandenburger Tor, Ritt auf der Mauerkrone, Happenings mit Hammer und Meißel.“20 In Anbetracht dieser zwei für „extradiegetische“ Gegenwelten paradigmatischen Romane stellen sich nun insbesondere zwei Fragen. Erstens: Welche Funktionen erfüllen diese kontrafaktischen Gegenwelten bzw. welche möglichen Intentionen lassen sich hinter dem Verfassen dieser Romane im Jahr 1995 vermuten? Und zweitens: Warum lässt sich gerade im Jahr 1995 eine Konzentration dieser Schreibweisen beobachten? Um die Funktion bzw. die Intention hinter dieser Art von Texten besser beurteilen zu können, hilft es, sich zu fragen, warum uns ein kontrafaktisches Konditional, wie es etwa der Struktur von Morbus Kitahara zugrunde liegt, überhaupt aussagekräftig erscheint, also: „Wäre nicht der Marshall-, sondern der Morgen-
17 Ein ähnlich apokalyptisches kontrafaktisches Szenario entwirft 1995 auch Ernst-Wilhelm Händler in seiner Erzählung Morgenthau (vgl. Ernst-Wilhelm Händler: Morgenthau. In: E.-W. H.: Stadt mit Häusern. Frankfurt/M. 1995, S. 29–79). 18 Thomas Brussig: Helden wie wir [1995]. Frankfurt/M. 1998, S. 7. 19 Vgl. Neal J. Roese, James M. Olson: Counterfactual Thinking: A Critical Overview. In: N. J. R., J. M. O. (Hg.): What Might Have Been: The Social Psychology of Counterfactual Thinking. Mahwah 1995, S. 1–55, hier S. 2, Fn. 1: „Goodman […] used the term semifactual for cases in which the consequent remains true.“ 20 Brussig: Helden wie wir, S. 319.
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thau-Plan in Kraft getreten, hätte dies (u. a.) zum Niedergang der Zivilisation und einem Desinteresse an der Vergangenheit geführt“. Meines Erachtens muss die Antwort darauf wie folgt lauten: Es ist die Rückbindung an die Realität, die das Kontrafaktische interessant macht. Sowohl Ransmayrs als auch Brussigs Roman ist (ebenso wie alle folgenden literarischen Gegenwelten, die ich behandeln werde) trotz – oder sogar gerade wegen – seiner Kontrafaktizität als unmittelbare Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit zu verstehen. Um das Kontrafaktische überhaupt als solches erkennen zu können, muss die Realität stets als Kontrastfolie hinter der Fiktion erkennbar bleiben.21 Auf diese Weise wird es möglich, mithilfe der Inszenierung von Gegenwelten den Blick auf die Geschichte – und damit auch auf die Gegenwart – zu verändern: Durch die Konzentration auf einen nicht-aktualisierten (aber durchaus möglichen) alternativen Geschichtsverlauf werden die tatsächlichen Begebenheiten aus einer anderen, ungewohnten Perspektive wahrnehmbar, was zu einer Hinterfragung und Neubewertung gängiger Interpretationen führen kann.22 Dementsprechend eignen sich als mögliche Ausgangspunkte für kontrafaktische Szenarien – und damit gehe ich zur Antwort auf die zweite Frage über – aber auch nur einschneidende, gesamtgesellschaftliche Ereignisse, die sich in das kollektive Gedächtnis eingebrannt haben.23 Denn nur hier kann der Autor eine verbreitete Kenntnis des realen Subtextes voraussetzen. Genau in dieser Hinsicht herrschen im Jahr 1995 besonders günstige Produktions- und Rezeptionsbedingungen: Einerseits kann dadurch, dass sich in diesem Jahr das Ende des zweiten Weltkriegs zum 50. Mal jährt und die noch jungen politischen Umwälzungen aus dem Jahr 1989 präsent sind, eine hinreichende Vertrautheit mit der Realhistorie
21 Vgl. Rodiek: Erfundene Vergangenheit, S. 10: „Wie die Parodie die Kenntnis des Originals voraussetzt und ohne sie nicht adäquat verstanden werden kann, so setzt die Uchronie eine hinreichende Vertrautheit mit der Realhistorie voraus.“ 22 Vgl. in diesem Sinne Nünning: Von historischer Fiktion zu historiographischer Metafiktion, Bd. 1: Theorie, Typologie und Poetik des historischen Romans, S. 272: „Durch das Erzählen von Gegengeschichten thematisiert dieser Typus [von Texten] nicht nur vergessene oder unterdrückte Aspekte der Vergangenheit, sondern stellt auch gegenwärtige Verhältnisse, überkommene Traditionen und etablierte Deutungsmuster in Frage. Im Gegensatz zur unkritischen Affirmation vorgegebener Formen von historischer Sinnstiftung zielt er insgesamt auf eine Überprüfung, Zurückweisung und Veränderung vorherrschender Geschichtsbilder und Kontinuitätsvorstellungen ab.“ Vgl. ebenso Widmann: Kontrafaktische Geschichtsdarstellung, S. 350: „Ausgehend von einer dominanten Interpretation bestimmter Fakten kehrt der Autor dieses Verfahren um, und indem er eine kontrafaktische Aussage zur zentralen Komponente seines literarischen Textes macht, wendet er sich gegen diese Interpretation.“ 23 Vgl. Rodiek: Erfundene Vergangenheit, S. 27: „Nur große Namen und historische ‚Sternstunden‘ können bei einem breiten Publikum als Hintergrundwissen vorausgesetzt werden.“
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unterstellt werden. Andererseits scheint sich durch den zeitlichen Abstand gleichzeitig aber auch schon eine beginnende Distanz zu den historischen Ereignissen und ihren „üblichen Interpretationen“ abzuzeichnen. Gerade in diesem Wechselspiel aus Nähe und Distanz erweist sich das Kontrafaktische als ein adäquates Mittel für eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit – und zugleich mit der Gegenwart: Erst das Denken in Alternativen macht eine differenzierte Beurteilung des Tatsächlichen möglich. Dem Kontrafaktischen wohnt also ganz zentral ein Erkenntnisanspruch inne.24 Konkret zeigen die beiden Romane u. a. die Offenheit und Kontingenz des Geschichtlichen25 und finden auf diese Weise Worte für ein Gefühl, das den Zeitgenossen um 1995 nach den enormen historischen Umwälzungen im Zuge der Wende vertraut gewesen sein dürfte. Verbunden ist damit vor allem in Helden wie wir des Weiteren eine Betonung der Verantwortung, aber auch der Wirkmächtigkeit des Einzelnen. Geschichte muss keinen zwangsläufigen, deterministischen Prozessen unterliegen, sondern sie lässt sich gestalten. Welch enorme Auswirkungen einzelne Ereignisse und Handlungen haben können, zeigt aber auch Morbus Kitahara in großer Deutlichkeit. Gleichzeitig demonstrieren beide Romane mithilfe des Kontrafaktischen die Abhängigkeit unseres Weltbildes bzw. unserer Auslegung vergangener wie aktueller Ereignisse von prominenten (u. a. medialen) Deutungen. Mit dieser gerade im Zuge der Postmoderne nicht unüblichen Kritik an einem objektiven, allgemein gültigen Geschichtsbild eröffnen sich durch das Kontrafaktische also neue Perspektiven. So wie in Helden wie wir die gängige Interpretation der Ursachen der Wende in Frage gestellt wird, setzt sich Morbus Kitahara mit dem Vergessen und Verdrängen der Kriegsgräuel auseinander.26 Gemeinsam ist beiden Texten in der Form des Kontrafaktischen darüber hinaus die Konfrontation mit den Ansprüchen
24 Vgl. in diesem Sinne auch ebd., z. B. S. 14; McKnight: Alternative History, S. 104: „It [alternative history] does not attempt to duplicate the superficial aspects of historical reality, but instead allows us to see more deeply into reality than the mere imitation of history permits“. 25 Vgl. Georg Schmid: Counterfactuals and Futures Histories. Retrospective Imagining as an Auxiliary for the Scenarios of Expectance. In: Historical Social Research 34/2 (2009), S. 78–91, hier S. 79: „They [the counterfactuals] demonstrate that there are always choices to be made, that there are alternatives and options, that there is no preordained pattern of progression.“ 26 Vgl. in diesem Sinne auch Widmann (Kontrafaktische Geschichtsdarstellung), der Helden wie wir als eine Gegendarstellung zur geläufigen Sicht auf den Mauerfall begreift, die sich gegen die „mediale Besetzung des Tatsächlichen“ (S. 219, vgl. auch S. 238) wende, und in Morbus Kitahara eine „Kritik am öffentlichen Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit in Österreich“ (S. 365) sieht.
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sowie den Ängsten der Elterngeneration – ein Thema, das in den Romanen, die sich zur zweiten Kategorie von Gegenwelten zählen lassen, ebenfalls eine wichtige Rolle spielt.
Intradiegetische Gegenwelten Unter den Begriff der intradiegetischen Gegenwelten seien all diejenigen Formen von alternativen Wirklichkeiten gefasst, die eine Parallelwelt zu der von den fiktiven Protagonisten selbst erlebten, innerliterarischen Realität darstellen. Die Ausgestaltung derartiger Gegenwelten lässt sich insbesondere an zwei Texten aus dem Jahr 1995 paradigmatisch verdeutlichen, und zwar an Robert Menasses [→] Schubumkehr und an Clemens Eichs [→] Das steinerne Meer. In Schubumkehr entstehen alternative intradiegetische Wirklichkeiten in erster Linie durch verschiedene Formen der Inszenierung und der Reproduzierung. So verschwimmen bereits zu Beginn des Romans die Grenzen zwischen Realität und Bühnenwirklichkeit, als während einer Theateraufführung der Komprechtser Laienspielgruppe in der Nähe ein vermeintlicher Brand ausbricht:
Das Publikum, beeindruckt vom Anschein der brennenden Bühne, hielt dies für einen raffinierten Regieeinfall, ungeachtet des Anachronismus, den die Sirene in diesem Stück darstellte, und als plötzlich ein Flügel der Saaltür aufgerissen wurde, der Gendarm Janda hereinlief und kreidebleich Es brennt! Es brennt! rief, war das Publikum vollends baff wegen des überzeugenden Realismus der Inszenierung.27
Dass der Feueralarm eigentlich völlig unnötig war, stellt sich allerdings erst heraus, als das Komprechts’sche Feuerwehrauto bereits den tschechoslowakischen Grenzbalken durchbrochen und dort – wir befinden uns noch zu Beginn des Jahres 1989 – wiederum einen ebenso unnötigen Grenzalarm ausgelöst hat. Der Kreis der Inszenierungen wird sich am Ende des Romans – und damit am Ende des Jahres 1989 – schließen, wenn der tschechische und österreichische Außenminister „[d]en neuen Grenzbalken […] drei- oder viermal heben [mussten], bis die Kameramänner und die Fotoreporter zufrieden waren.“28 Doch bereits vor dieser politischen Wende wird im Grenzort Komprechts versucht, eine ganz eigene Wende zu vollziehen: Komprechts soll zu einem touristischen Naherholungsgebiet umfunktioniert werden und bekommt im Zuge
27 Robert Menasse: Schubumkehr [1995]. Frankfurt/M. 1997, S. 13. 28 Ebd., S. 180.
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der Rundumerneuerung werbewirksam einen neuen Anstrich. Entscheidend ist aber, dass der Lack dieser inszenierten neuen Wirklichkeit schneller bröckelt, als er aufgetragen werden kann. Am besten zeigt sich dies an einer von zwei Ermittlungsbeamten gemachten Entdeckung an den neu gebauten Fremdenzimmern: Na sehen Sie es denn nicht? In der Abfolge wird es deutlich. Ein einzelnes Haus ist kein Zeichen in sich, noch kein ganzes Symbol, ist nicht bloß ein L, das schon alleine etwas bedeutet. Das muß man zusammensetzen. Ein L ist nur ein Teil, ein Viertel des ganzes Symbols, ein Haken, und erst jeweils vier Häuser zusammen, vier solche Haken ergeben das ganze Zeichen, ergeben ein Nein! Das sehe ich nicht. Das ist Unsinn. Das können Sie nicht sehen. Das wollen Sie sehen. Eine unzulässige Interpretation.29
Was durch die Inszenierung einer makellosen Gegenwelt überdeckt wird und in Vergessenheit geraten soll, ist also die nationalsozialistische Vergangenheit des Dorfes. Insofern ist es auch kein Wunder, dass sich Roman, der Hauptprotagonist des Romans, der die Wirklichkeit selbst nur noch durch seine Videokamera reproduziert wahrnimmt, vor allem durch folgende Eigenschaft auszeichnet: „Wenn ihn bisher etwas glücklich gemacht hatte, dann war es die Tatsache, daß er sich so schwer tat mit dem Erinnern. Er hatte nie etwas vermißt, wenn er vergaß, und auch nie etwas Vergessenes für etwas anderes verantwortlich gemacht.“30 Ähnlich wie bei der Strukturreform des Ortes Komprechts geht es also auch bei Roman um den Versuch, der Konfrontation mit dem Vergangenen, d. h. insbesondere mit den Ereignissen des Zweiten Weltkriegs, zu entkommen. Was dies für ihn konkret bedeutet, wird durch einen Brief klar, den er an einen Freund schreibt – einen Brief, den er bezeichnenderweise in den Papierkorb wirft:
Mein Vater war, soweit ich mich an ihn erinnern kann, ein Mann, der ständig Angst hatte. Mein Vater und Angst, das war identisch. […] Ich bin kein Jude ich wurde nur als Jude verfolgt hat er gesagt […]. Mein ganzes Leben habe ich mich nie um diese jüdischen rituellen Speisegesetze gekümmert, nach dem Tod meines Vaters, und damals war ich noch ein Kind, hatte das ja keine Bedeutung mehr, und irgendwann hatte ich das überhaupt vergessen. Völlig vergessen. Na also man kann eine zweite Unschuld erringen eine dritte die Schuldlosen können das immer die Schuldigen sowieso.31
29 Ebd., S. 125f. Ein ähnliches Auseinanderklaffen zwischen (Selbst)Interpretation und Wirklichkeit findet sich auch in John von Düffel: Solingen. Ein Theaterstück. Gifkendorf 1995. 30 Menasse: Schubumkehr, S. 72. Vgl. auch S. 74: „Erlösungsphantasien, und was konnte die Erlösung anderes sein als ein profundes Vergessen, Bilder, die nichts mehr bedeuteten?“ 31 Ebd., S. 88–90.
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Was die verschiedenen Versuche, sich eine Gegenwelt zur Wirklichkeit aufzubauen, veranschaulichen, ist also offenbar die Schwierigkeit oder auch der Unwille, das Vergangene aufzuarbeiten.32 Von ähnlichen Problemen zeugt auch Clemens Eichs Das steinerne Meer, wenngleich mit anderen Mitteln. Anstelle einer absichtlichen Inszenierung von Gegenwelten handelt es sich hier um eine deutlich unwillkürlichere Form der Wirklichkeitsverarbeitung, und zwar zum einen durch Träume und zum anderen durch Täuschungen. Die beiden männlichen Protagonisten – Michael Hader sowie sein Enkel Valentin – sind davon gleichermaßen betroffen. So heißt es etwa über den Großvater, er sei „noch nie einer gewesen, der den Boden der Tatsachen als seine Heimat empfunden hatte.“33 Und eine ähnliche Diagnose muss wohl auch in Bezug auf Valentin gestellt werden: Valentin Reichardt wollte nur Schirennläufer werden. Nur Abfahrtsläufer, Abfahrtssieger. Nur die Abfahrt, der Abfahrtslauf, die Königsdisziplin, war ihm wichtig. Einzig und allein sie zählte. […] Er wußte, daß er niemals Schirennläufer werden würde, geschweige denn Abfahrtsweltmeister. Aber das drängte er mit aller Vehemenz in den Hintergrund, bis der Gedanke daran blaß und kraftlos und seinem Inneren fern war. Jederzeit konnte er mit dem Träumen beginnen.34
Doch nicht nur die Träume der Protagonisten stellen eine intradiegetische Gegenwelt dar. Ganz wesentlich ist zudem, dass sich Enkel wie Großvater mehrfach im Unwissen darüber befinden, was wirklich ist. Wiederholt stellt sich ihnen die Frage, ob sie Täuschungen unterliegen: Für Valentin gilt dies insbesondere in Bezug auf den durch den Großvater verübten Mord an einer Bekannten, deren Leiche Valentin im Keller entdeckt. So fragt er sich angesichts des eigenartigen Geruchs im Keller zunächst, „ob er einer Täuschung erlegen war. Einer Geisteshalluzination“.35 Doch auch nachdem er sich der Realität (und des Ursprungs) dieses Geruches versichert hat, bleibt ihm die Wirklichkeit seltsam uneindeutig. So verrät er seine Entdeckung beinahe im Gespräch mit dem Generalinspektor: „Er mußte sich auf die Lippen beißen, die Zähne zusammenpressen, um den Satz
32 Dies wird insbesondere auch als Problem zwischen den Generationen dargestellt, was die Beschreibung von Triskos Theaterstück paradigmatisch zusammenfasst: „Das Ringen von alter und neuer Zeit in einer Umbruchssituation notierte Trisko in seinem Konzept, auf der einen Seite: Modernisierung, Euphorie, Dynamik; auf der anderen Seite: Ängste, Aufleben archaischer Mythen und überlebter Ideologien“ (ebd., S. 166). 33 Clemens Eich: Das steinerne Meer [1995]. Frankfurt/M. 2008, S. 106. 34 Ebd., S. 51. Vgl. z. B. auch S. 270 u. S. 53: „Und Valentin fuhr in Wirklichkeit selten Schi, packte sie nur dann und wann zusammen und über die Schulter“. 35 Ebd., S. 211.
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nicht laut auszusprechen. Gleichzeitig aber hörte er seine Stimme den Satz laut sagen, so daß er nicht wußte, hatte er den Satz jetzt ausgesprochen oder nicht ausgesprochen.“36 Noch drastischer ist das Verschwimmen zwischen Realität und einer vom Protagonisten selbst erzeugten Gegenwelt bei Michael Hader. Paradigmatisch ist dabei vor allem die Episode, als er sich nach einem nächtlichen Autounfall in einer Kaserne interniert und einem Verhör ausgesetzt sieht, sein Berichten von diesem Erlebnis aber auf völliges Unverständnis trifft: Später hatten alle gesagt, die in Eisenstadt und die in Wien, einen Untersuchungsrichter Felix Böhm gäbe es nicht und einen Untersuchungsrichter Felix Böhm hätte es auch niemals gegeben. Und von einem versoffenen Wachtmeister namens Felber sei ebenfalls nichts bekannt. Und als er sie, zuerst die verstockten Eisenstädter, dann die ignoranten Wiener, zu der Kaserne, zu den vier langgestreckten Gebäuden, die den öden Kasernenhof umschlossen, hatte führen wollen, war das, wie ihm vorgekommen war, riesengroße und aus unzähligen Trakten bestehende Gebäude nicht mehr zu finden gewesen, und er hatte größte Mühe gehabt, daß sie ihn, die Eisenstädter weniger, doch die Wiener dafür umso mehr, nicht für verrückt erklärt und nach Steinhof gebracht hatten. […] Ihn quälte, ob er sich die Ereignisse vom Dezember 1935, die burgenländische Katastrophe, wie er sie nannte, nur eingebildet oder sie geträumt hatte.37
Ähnliche, in ihrem Wirklichkeitsgrad mehr als fragwürdige Erlebnisse finden sich mehrfach in der in Rückblenden erzählten Vita Haders38 – etwa in der Episode, als ihm sein Nachhauseweg zu einem wahren Grenzgang zwischen Traum und Wirklichkeit wird: Es war ihm, als ob die sinkende Sonne aus dem dunklen Boden leuchtete, als ob der Wind aus der Erde wehte. Es war ihm, als ob sich die Hügel und Wiesen wellten, in unaufhörlicher Bewegung wie ein Meer, als ob der Berg vor ihm in seinem Innern kochte und seine Oberfläche bebte, es war ihm, als ob er ging, als ob er lief, als ob er rannte, obwohl er fest an einem Fleck stand. […] Es war ihm, als ob die Tiere auf der Weide, vom dumpfen Schlag der
36 Ebd., S. 246. 37 Ebd., S. 131f. Vgl. dazu später auch S. 143: „Der ganze Komplex machte einen verkommenen Eindruck, und Hader fühlte sich an seine Kaserne im Burgenland erinnert, die sich am Schluß als Phantasiegebilde, als Gespinst des kranken Hirns, wie es manche weniger freundlich bezeichnet hatten, herausgestellt hatte. Und die leise Angst vor sich selbst machte sich breit.“ 38 Vgl. z. B. ebd., S. 151f.: „Und er befand sich, aus welchem Grund auch immer, noch im Land Österreich. Oder unterlag er einer Täuschung, einer Grenztäuschung, und auf der Tafel stand gar nicht ‚DEUTSCHES REICH‘, sondern etwas ganz anderes, und er las nur ‚DEUTSCHES REICH‘, in Wirklichkeit aber stand auf der Tafel ‚Achtung Tollwut‘ oder ‚Blumen pflücken verboten‘ oder ‚Privat – Betreten auf eigene Gefahr‘? […] Und wenn auf der Tafel einfach nur ‚ÖSTERREICH‘ oder ‚REPUBLIK ÖSTERREICH‘ stünde, was wäre dann? Hader wurde von einer panischen Verwirrung ergriffen.“
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Fleischergesellen getroffen, zu Boden fielen, fallen mußten, doch sie blieben stehen und grasten friedlich weiter […]. Es war kein Traum, keine Einbildung, das wußte er. Und dennoch geschah es nicht.39
Die zitierte Passage setzt sich über mehrere Seiten fort, klar ist aber schon durch diesen kurzen Ausschnitt, dass sich Haders Wahrnehmung der Realität – seine innere Gegenwelt – mit der Wirklichkeit an dieser Stelle höchstens noch am Rande überlappt. Verstärkt wird dieses wiederholte Aufeinandertreffen von Wirklichkeit und Gegen- bzw. Parallelwelten zusätzlich durch den Erzähler selbst, der die Einschätzungen und Wahrnehmungen der beiden Protagonisten durch seine eigenen Kommentare ständig in Frage stellt oder sogar als fehlerhaft kennzeichnet. Vornehmlich geschieht dies, indem er darauf verweist, wie sich etwas „in Wirklichkeit“ oder „eigentlich“ verhält. Beispielhaft zeigen dies die folgenden Zitate: Er [Michael] wußte Bescheid und brauchte nicht mehr zu wissen. Doch in Wirklichkeit wußte er nichts.40 Bis sie kommen würden, gab es noch viel für ihn zu tun, glaubte er. In Wahrheit gab es nichts für ihn zu tun, aber das wußte er nicht.41 Jetzt hätte ihn eigentlich Grauen packen müssen, doch er blieb ruhig sitzen.42 [Valentin] betrachtete seinen wunden, geschwollenen Fuß, den er in der hereinbrechenden Finsternis eigentlich gar nicht sehen konnte.43
Mitunter divergieren die Wirklichkeitswahrnehmungen aber sogar noch stärker, und zwar wenn der Erzähler das soeben Behauptete noch im selben Satz zurücknimmt oder negiert. So finden sich z. B. folgende Sätze über Michael Hader: Er hatte sich schon nach kurzer Zeit unentbehrlich gemacht, es hatte nur noch keiner bemerkt.44
39 Ebd., S. 144f. 40 Ebd., S. 72 [eigene Hervorhebung]. 41 Ebd., S. 13 [eigene Hervorhebung]. 42 Ebd., S. 110 [eigene Hervorhebung]. 43 Ebd., S. 56 [eigene Hervorhebung]. 44 Ebd., S. 69. Vgl. ähnlich auch Händler: Morgenthau, S. 50: „An Koby dachte sie überhaupt nicht mehr. Koby war weggelaufen, sie wollte nicht mehr weglaufen, hatte sie je weglaufen wollen? Carlo war dageblieben, wie sie dageblieben war. Warum sollte sie nicht dableiben, wo sie doch jederzeit wegkonnte. Sie hatte alles erreicht, was es zu erreichen gab, niemand konnte mehr erreichen als sie, und sie dachte doch wieder daran, wie es wäre wegzugehen. Da kam ihr Koby in den Sinn.“
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Und jetzt erst bemerkte er auch den Zettel, der unübersehbar in der Mitte des blankgescheuerten Tischs lag.45 Mit nachdenklichem Gesicht, hinter dem sich kein Gedanke verbarg, schloß er die Tür.46
Was lässt sich angesichts dieser Fülle von Beispielen intradiegetischer Gegenund Parallelwelten nun abschließend über deren Funktion im Allgemeinen und deren Bedeutsamkeit im Jahre 1995 im Besonderen sagen? Eindeutig ist zum einen, dass die Darstellung dieser alternativen Wirklichkeiten die Subjektivität der Wirklichkeitswahrnehmung in den Vordergrund rückt. Dies gilt in besonderer Weise in Bezug auf die Vergangenheit und die Erinnerung daran, als ähnlich problematisch erweisen sich jedoch ebenso die Gegenwarts- und Zukunftseinschätzungen und -erwartungen. Die eine Realität gibt es nicht, stattdessen handelt es sich um eine Vielfalt von höchst privaten Formen der Verarbeitung und Aufarbeitung. Gleichzeitig wird so zum anderen zum Ausdruck gebracht, welche Schwierigkeiten die Fragilität der Wirklichkeit, v. a. aber auch der Erinnerung, nach sich zieht. 1995 erweist sich also auch in diesem Punkt als ein Jahr, in dem die besondere historische Situation zu einer verstärkten Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, mit dem Erinnern und Vergessen führt, wo diese Aufarbeitung aber überdies – v. a. auch über die Integration eines Generationenkonflikts – zu einer Revision von Wirklichkeitsbildern führt und sich damit als unmittelbar relevant für die Einschätzung der Gegenwart erweist.
Phantastische Gegenwelten Eine vergleichbare Diagnose lässt sich für die Funktion und Bedeutung phantastischer Gegenwelten im Jahr 1995 stellen, was paradigmatisch an Elfriede Jelineks [→] Die Kinder der Toten veranschaulicht werden kann. Schon zu Beginn des Romans wird schnell klar, dass die Gäste, die sich in einer steirischen Pension eingefunden haben, eine sehr spezielle Eigenschaft teilen: „Aus dem Menschenauflauf ist Grudrun [sic!] von Edgar herausgeschöpft worden, denn er erkennt instinktiv die Wesensgleiche in ihr: eine Tote, die nicht verwest. Genau wie er.“47 Benannt ist hiermit zugleich die zentrale Idee von Jelineks Roman: Es geht um Tote, die selbst nicht zur Ruhe kommen können und andere nicht zur Ruhe kommen lassen, um die „Toten, Maden im Speck der Lebendigen“.48 So heißt es 45 46 47 48
Eich: Das steinerne Meer, S. 94. Ebd., S. 96. Elfriede Jelinek: Die Kinder der Toten. Reinbek b. Hamburg 1995, S. 36. Ebd., S. 40.
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an anderer Stelle wortwörtlich: „Geister, die mischen sich überall ein, und ihr endgültiges Verschwinden verschieben sie erst recht. Nie mehr werden wir zur Ruhe kommen, und nie werden wir andere in Ruhe lassen können“.49 Aufs Engste mit der phantastischen Wiederkehr der Toten verstrickt sind deshalb die Themen Gedächtnis, Schuld und Verdrängung,50 die auch immer wieder als unauflöslich miteinander verschränkt präsentiert werden: „Das Gedächtnis in diesem Urstrom ist ein ganzer Kontinent, wenn man bedenkt, was alles auf unser Schuldenkonto kommt“.51 Welcher Hintergrund der phantastischen Gegenwelt in Die Kinder der Toten zeichenhaft eingeschrieben ist, lässt sich am besten daran erkennen, dass die drei untoten Protagonisten der Erzählung wiederum selbst von den Toten der Shoah heimgesucht werden: In der Luft formieren sich immer mehr Leute, Edgar streift sie fast beim Dahinrasen. Aus den Fenstern im Boden schauen scheue Wesen zu ihm herauf, die schon vor Jahren ihren (in der Öffentlichkeit wenig bemerkten) Abgang genommen haben. […] Ein Ast der Vergangenheit, die auch anders hätte ablaufen können, peitscht hervor, das Gesicht zieht sich erschreckt in den Boden zurück.52
Zum Vorschein kommen wird darüber hinaus bei den Bergungsarbeiten, als die Pension am Ende des Romans von einer ungeheuren Schlammlawine verschluckt wird, eine Masse von „Haar. Haar. Und dort auch alles: Haar! […] [D]as Haar von etwas zweihundert Menschen ist bereits gefunden worden, obwohl sich nur ein Bruchteil dieser Zahl hier aufgehalten haben kann“.53 Die „große Menge an Toten“54, die schließlich entdeckt wird, stammt aus lang vergangenen Zeiten. Aufgedeckt wird hier also, was längst verdrängt war: Auf einmal, völlig zwecklos, ist die Vergangenheit wieder da, unmöglich, sie zu lieben. Wieso jetzt? Wir haben sie doch gerade erst zum Einkaufen geschickt, in einen Supermarkt, dort gibts Ersatz-Menschenteile, und jetzt ist sie schon wieder da. Wir haben noch kein
49 Ebd., S. 45. 50 Vgl. etwa ebd., S. 41: „Man soll über die Toten, die unser Land schließlich ausmachen, nicht sprechen.“ Oder S. 7: „Soviel Natur ist auf dieses Land verwendet worden, daß es seinerseits, vielleicht um seine Schuld an die Natur zurückzuzahlen, mit seinen Menschen immer recht freigebig umgegangen ist und sie, kaum angebissen, auch schon wieder weggeworfen hat.“ 51 Ebd., S. 96. 52 Ebd., S. 197f. 53 Ebd., S. 665. 54 Ebd., S. 666.
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Kleingeld zum Herausgeben. Außerdem müssen erst die alten Vorräte aus dem Kühlschrank unseres Gedächtnisses geräumt werden, wo sie aufgehoben und aufgeschoben waren.55
Wie sich gezeigt hat, ist die Gegenwelt, die Jelineks Roman inszeniert, genauso wie in den anderen bereits diskutierten Texten zentral an die Wirklichkeit als Subtext gebunden. Die phantastischen Elemente, zu denen neben dem schon Dargestellten auch die Zeitstruktur des Romans gehört,56 dienen also der Auseinandersetzung mit dem Vergangenen bzw. einer Kritik an einem Mangel an dieser Auseinandersetzung.57 Sie sind ebenso als Darstellung der Monstrosität des Verdrängten und nur scheinbar „Begrabenen“ zu verstehen wie als Mittel, um für das Unsagbare Worte zu finden. 1995 präsentiert sich damit als ein Jahr, in dem die Vergangenheit als eine schwärende und durch die jüngsten politischen Ereignisse wieder frisch aufgerissene Wunde empfunden wird. Ebendiesen Begriff verwendet auch Jelinek selbst bereits zu Beginn des Romans bei der Beschreibung der Umstände, die zu dem Busunglück in der Rahmenhandlung führen: Wo früher ein festfrohes Bankett war und man stets grade noch ausweichen konnte, wenn einem ein größerer PKW entgegenkam, ist jetzt ein jäher Abbruch, eine gezackte Wunde in den Seiten der Straße. Man muß nichts, keine Lanze, hineintauchen, um zu sehen, daß die Wunde echt ist.58
55 Ebd., S. 15f. Vgl. dazu auch Elfriede Jelinek: „Ich will kein Theater – ich will ein anderes Theater“. Gespräch mit Anke Roeder. In: Theater heute 8 (1989), S. 30–32, hier S. 32: „Das ‚Gedächtnis des Bodens‘ hält die Toten nicht in der Erde. Sie kommen immer wieder herauf“. 56 Vgl. etwa Jelinek: Die Kinder der Toten, S. 160f.: „Rücklings fällt Gudrun Bichler in eine Zeitschleife hinein, in die sie sich selbst mit beinahe (nicht ganz!) Lichtgeschwindigkeit nacheilt, sodaß sie nicht stehen bleibt, sondern einfach ein Stück in die Vergangenheit, jene unveränderbare, zurückläuft. […] Ich bin jetzt leider eine halbe Stunde älter als vorhin, aber Gudrun ist gleich fünfzig Jahre jünger geworden, dieselbe und doch eine ganz andere, und sie befindet sich auch plötzlich woanders.“ 57 Vgl. auch ebd., S. 54: „Die Bäume wedeln mit ihren Blättern, und das Unheimliche beginnt, die Erde zu umkreisen, nachdem es zuvor in Deutschland und Österreich heftig herumgeschnuppert hat, bis in die letzten Winkel und Ritzen hinein. Seit diese Länder ihre Totenfabriken geschlossen haben, haben sie sich mehr aufs Empfinden verlegt, das ist die Medienmedizin, die sie uns jeden Abend in die Augenschluchten eintropfen.“ 58 Ebd., S. 10. Vgl. zum Komplex der Wunde auch die zahlreichen Formen der Verletzung, Verstümmelung und Vernarbung in Nox, einem Text, der sich ebenfalls den „phantastischen Gegenwelten“ zuordnen ließe (vgl. Hettche: Nox).
Literarische Gegenwelten
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Resümee und Ergänzungen Die gemeinsamen Linien der Beispiele für Gegenwelten im Jahr 1995 lassen sich abschließend nun wie folgt nachzeichnen: Erstens besitzen die Gegenwelten als Verschränkung von Fakten und Fiktionen sowohl ein didaktisches wie auch ein ludisches Element.59 Sie stellen stets eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit dar (auf die sie als Kontrastfolie angewiesen sind), bieten aber gleichzeitig einen Rahmen, der Spielräume gegenüber dem rein Faktischen eröffnet. Zweitens zeugt die Fülle von Formen literarischer Gegenwelten im Jahr 1995 aber auch von einem verstärkten Bedürfnis nach Vergangenheitsbewältigung. Dies bestätigt sich zusätzlich auch in Marcel Beyers Roman [→] Flughunde, der sich insofern im weitesten Sinne als eine Art Gegenwelt begreifen lässt, als Beyer das Wirkliche um das rein Hypothetische erweitert: Im Roman wird das Mutmaßliche, das Ungewusste und das nicht Wissbare zur Realität. Dadurch, dass der Autor mit Helga, Goebbels ältester Tochter, und Hermann Karnau, einem Tontechniker im Dienste ihres Vaters, gerade solchen Personen aus der Realhistorie eine Stimme und eine ausführliche Biographie verleiht, die bei einer Rekonstruktion des Vergangenen sonst nur eine nachrangige Rolle spielen, gewinnt das Tatsächliche mithilfe des Fiktiven auch hier eine neue Dimension: Die Fiktion ergänzt die Leerstellen unseres fragmentarischen Bildes von der Wirklichkeit um das Mögliche. Auf diese Weise zeigt sich etwa in den Tonbandaufnahmen, die Karnau von den Geschwistern Goebbels anfertigt, dass die Geschichte auch denjenigen als Narbe, als Mal – oder, um den soeben verwendeten Begriff noch einmal aufzugreifen: als Wunde – eingeschrieben ist, die an den Gräueln selbst völlig unschuldig sind: Weiß er [der Führer] denn nicht, daß jeder Schrei, jede so laut hervorgebrachte Äußerung auf den Stimmbändern eine kleine Narbe hinterläßt? […] [D]as narbt sich immer weiter fort, und solch ein Mal läßt sich nie wieder zum Verschwinden bringen, die Stimme bleibt markiert bis an das Lebensende. […] Wir alle tragen Narben auf den Stimmbändern. Sie bilden sich im Laufe des Lebens, und jede Äußerung hinterläßt ihre Spur, vom ersten Schrei des Säuglings angefangen. […] Wir nehmen das nur darum nicht zur Kenntnis, weil wir die Narben niemals sehen können.60
59 Vgl. dazu auch Rodiek (Erfundene Vergangenheit), der als „wichtigste[] Intentionen des Kontrafaktischen“ die folgenden aufzählt: „historisch-explorativ, philosophisch-moralistisch, politisch-satirisch und postmodern-ludisch“ (S. 30). 60 Marcel Beyer: Flughunde. Frankfurt/M. 1995, S. 14f. u. S. 21.
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Klar ist, dass es sich hierbei um eine bewusste Überschreitung der Grenze zwischen dem Tatsächlichen und der Gegenwelt des nur Erfundenen handelt. Offenkundig ist aber ebenso, dass auch der Roman Flughunde im Jahr 1995 den Versuch unternimmt, die Lücken in der Aufarbeitung des Vergangenen zu schließen – und so möglicherweise auch einen Abschluss mit diesem Vergangenen zu finden. Tatsächlich bestätigen psychologische Studien und Experimente, dass es eine Reihe von Gefühlen gibt, die auf kontrafaktische Gedankengänge geradezu angewiesen sind: Dazu gehört insbesondere das Bedauern, das kaum möglich ist ohne ein Wissen darum, was unter anderen Voraussetzungen hätte geschehen können.61 Deshalb kann auch das literarische Kontrafaktische ein entscheidendes Mittel zur Aufarbeitung des Vergangenen sein. Nicht vergessen werden darf zudem, dass die Auseinandersetzung mit dem Erinnerten und Verdrängten in dieser speziellen Form zum einen durch den Kontrast auf eine Bewertung und Erkenntnis der Gegenwart und zum anderen durch Analogie auf Prognosen für die Zukunft abzielt.62 Genau diese Struktur zeigt sich nicht zuletzt auch in Krachts [→] Faserland, dem einerseits als Subtext Harris’ Fatherland eingeschrieben ist – ein kontrafaktischer Roman, der im Jahr 1995 in der deutschen Übersetzung erscheint. Andererseits weist Faserland gleichzeitig voraus auf Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten, wo Kracht dann tatsächlich selbst eine literarische Gegenwelt inszenieren wird. Drittens – und letztens – erweist sich das Thema „Gegenwelten“ insgesamt als eine Verschränkung der Aspekte Vergangenheit, Erinnerung und Geschichte – und als eine der speziellen Schreibweisen, die das literarische Jahr 1995 in besonderer Weise charakterisieren.
61 Vgl. Roese, Olsen: Counterfactual Thinking, S. 37: „Beyond the generality of the contrast effect, Kahneman and Miller (1986) noted that certain emotions are specifically predicated on counterfactual inferences. These counterfactual emotions, such as disappointment, regret, and relief, could not occur without a prior counterfactual inference. It is difficult to experience regret per se without first noting that things might have turned out better.“ 62 Diesen Rückschluss von Vergangenem auf Gegenwärtiges bzw. Zukünftiges bestätigen die Ergebnisse aus psychologischen Studien ebenfalls, vgl. z. B. Neal J. Roese, Mike Morrison: The Psychology of Counterfactual Thinking. In: Historical Social Research 34/2 (2009), S. 16–26, v. a. S. 20; Schmid: Counterfactuals and Futures Histories, v. a. S. 86 u. S. 90.
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Literaturverzeichnis Primärliteratur Beyer, Marcel: Flughunde. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1995. Brussig, Thomas: Helden wie wir [1995]. Frankfurt/M.: Fischer 1998. Düffel, John von: Solingen. Ein Theaterstück. Gifkendorf: Merlin 1995. Eich, Clemens: Das steinerne Meer [1995]. Frankfurt/M.: Fischer 2008. Händler, Ernst-Wilhelm: Morgenthau. In: E.-W. H.: Stadt mit Häusern. Frankfurt/M.: Frankfurter Verlagsanstalt 1995, S. 29–79. Hebbel, Friedrich: Sämtliche Werke. Berlin: Behr 1901ff. Hettche, Thomas: Nox. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1995. Jelinek, Elfriede: Die Kinder der Toten. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1995. Jelinek, Elfriede: „Ich will kein Theater – ich will ein anderes Theater“. Gespräch mit Anke Roeder. In: Theater heute 8 (1989), S. 30–32. Menasse, Robert: Schubumkehr [1995]. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1997. Ransmayr, Christoph: Morbus Kitahara. Frankfurt/M.: Fischer 1995.
Sekundärliteratur Heinze, Rüdiger: Temporal Tourism: Time Travel and Counterfactuality in Literature and Film. In: Dorothee Birke, Michael Butter, Tilmann Köppe (Hg.): Counterfactual Thinking – Counterfactual Writing. Berlin, Boston: De Gruyter 2011, S. 212–226. McKnight, Edgar V. Jr.: Alternative History: The Development of a Literary Genre. Ann Arbor/MI: University of Michigan 1996. Neumann, Thomas: „Mythenspur des Nationalsozialismus“. Der Morgenthauplan und die deutsche Literaturkritik. In: Uwe Wittstock (Hg.): Die Erfindung der Welt. Zum Werk von Christoph Ransmayr. Frankfurt/M.: Fischer 1997, S. 188–193. Nünning, Ansgar: Von historischer Fiktion zu historiographischer Metafiktion. Trier: WVT 1995. (Bd. 1: Theorie, Typologie und Poetik des historischen Romans; Bd. 2: Erscheinungsformen und Entwicklungstendenzen des historischen Romans in England seit 1950). Rodiek, Christoph: Erfundene Vergangenheit. Kontrafaktische Geschichtsdarstellung (Uchronie) in der Literatur. Frankfurt/M.: Klostermann 1997. Roese, Neal J., Mike Morrison: The Psychology of Counterfactual Thinking. In: Historical Social Research 34/2 (2009), S. 16–26. Roese, Neal J., James M. Olson: Counterfactual Thinking: A Critical Overview. In: N. J. R., J. M. O. (Hg.): What Might Have Been: The Social Psychology of Counterfactual Thinking. Mahwah: Lawrence Erlbaum 1995, S. 1–55. Schmid, Georg: Counterfactuals and Futures Histories. Retrospective Imagining as an Auxiliary for the Scenarios of Expectance. In: Historical Social Research 34/2 (2009), S. 78–91. Widmann, Andreas Martin: Kontrafaktische Geschichtsdarstellung. Untersuchungen an Romanen von Günter Grass, Thomas Pynchon, Thomas Brussig, Michael Kleeberg, Philip Roth und Christoph Ransmayr. Heidelberg: Winter 2009.
4 Genres
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‚Corporeality‘ (in) der deutschsprachigen Erzähl-Literatur 1995 ‚Körper gewordene Realität‘ und ‚leibliche Erfahrung‘ deutscher Historie Die Kategorie Körper und das ‚Wendejahr 1995‘ Für die deutschsprachigen Neuerscheinungen des Jahres 1995 verzeichnet Hubert Winkels in seinem Jahresüberblick eine auffällige Präsenz der ‚Körper‘. Ähnliches beobachten die Autoren einzelner Werkartikel des hier vorliegenden Sammelbandes zum Wendejahr 1995 – dort fokussiert auf Texte mit direktem oder indirektem thematischen Bezug auf die unmittelbar oder mittelbar mit 1989 assoziierten historischen Ereignisse Wende, Mauerfall, Wiedervereinigung resp. NS-Zeit, Shoa, Kriegsende/1945. Zugleich datiert Maren Lorenz’ Einführung in die Körpergeschichte den Beginn der systematischen Körperforschung in den hiesigen Kulturwissenschaften auf die Mitte der 1990er Jahre.1 Wäre also die „Wiederkehr der Körper“ in einer eigentlich exkarnierten Buch-Kultur deutbar als ein „rite de passage“, mit dem der krisenhafte Übergang von Land und Bewohnern in einen neuen gesellschaftlichen Zustand symbolisch, hier: literarisch erprobt und imaginär bewältigt werden soll? Zum einen ist der Körper Akteur und Objekt, also Austragungsort ritueller Prozesse, zum anderen überblenden Kollektivsymbolik und politische Metaphorik traditionell Individual- und politischen Staats-Körper und zu guter Letzt kann im Jahr 1995 das Ereignis und Erlebnis der ‚Wende‘ als jener dreistufige Prozess aus Ablösung / Separation, Liminalität und Integration in den Blick genommen werden, der Gennep zufolge den Übergangsritus charakterisiert.2 Mein Beitrag versucht, die bisherigen, weitgehend thematisch ausgerichteten Einzelbeobachtungen von Winkels und anderen zu systematisieren. Ich differenziere zwischen unterschiedlichen rhetorischen Nutzungs- und poetischen Funktionsweisen des ‚Körpers‘ als Metapher, Metonymie oder Analogiemodell der historischen Vorgänge (Wende / Mauerfall / Wiedervereinigung / 1989 und NS1 Vgl. Maren Lorenz: Leibhaftige Vergangenheit. Einführung in die Körpergeschichte. Tübingen 2000, S. 94. 2 Vgl. Arnold van Gennep: Übergangsriten. Frankfurt/M. 1986 (Originaltitel: Les rites de passage).
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Zeit / Shoah / Kriegsende / 1945) und deren Wirkungsfeld „Deutschland“ einerseits und dem individuellen Körper als Symptom(-träger) dieser Ereignisse andererseits. Unterschieden wird zwischen meist visuell codierten Körperdarstellungen (im metaphorischen oder konkreten Sinne) und der Thematisierung von ‚Leiblichkeit‘3 als Performanz von psycho-physischem Empfinden, das historische Erfahrung auslöst, widerspiegelt, codiert oder das mit politisch-historischen Ereignissen koinzidiert. Ein Schwerpunkt liegt auf der Verbindung der KörperLeib-Differenz mit dem Fragehorizont von Gender-Mainstreaming und auf der Kollektivsymbolik der Wiedervereinigung („Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört“, Willy Brandt, 10.11.1989) sowie auf der Integration letzterer in unterschiedliche Diskurse (mytho-traumatisch, platonisch-erotisch, psycho-somatisch).
Körpermetaphorik und Wiedervereinigung Mit seinem Diktum „Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört“ hat Willy Brandt am 10. November 1989 die körpermetaphorische Leitvorstellung für den Prozess der deutschen Vereinigung geliefert. Das gilt nicht nur im Hinblick auf den organologischen Bildbereich und die mit ihm verbundene Naturalisierung des Politisch-Historischen. Es gilt auch in Bezug auf die Überbrückung, d. h. Eskamotierung, von logischen Verlegenheitsstellen4 wie der Frage, ob die ‚Ver
3 Vgl. Eva Labouvie: Leiblichkeit und Emotionalität: Zur Kulturwissenschaft des Körpers und der Gefühle. In: Friedrich Jaeger, Burkhard Liebsch (Hg.): Handbuch der Kulturwissenschaft. Bd. 3: Themen und Tendenzen. Stuttgart 2004, S. 79–91, hier S. 80. Das ist vergleichbar mit Foucaults Rückgriff auf die ‚cura sui‘ (Michel Foucault: Freiheit und Selbstsorge: Interview 1984 und Vorlesung 1982. Hg. v. Helmut Becker et al. Frankfurt/M. 1985), die in lateinischen Texten auf körperliche Selbst-Praktiken verweist und, von Aleida Assmann mit „Körperbewusstsein“ übersetzt, als Ausdruck für eine „Selbst-Macht und Autonomie über den Körper, um eine Kultur des von innen gefühlten und gelebten Körpers“ gilt. (Aleida Assmann: Körper. In: A. A. [Hg.]: Einführung in die Kulturwissenschaft. Grundbegriffe, Themen, Fragestellungen. Berlin 2011, S. 91–123, hier S. 113). Annette Barkhaus und Anne Fleig referieren vier Eigenschaften, „die den Leib als Leib, d. h. als einen besonderen Körper auszeichnen: Permanenz (Der Leib ist immer da); Doppelempfindung (Fähigkeit, sich selbst zu empfinden), Affektivität sowie Kinästhese (Fähigkeit, sich selbst zu bewegen und dies zugleich empfinden zu können).“ Sie verweisen darauf, dass dieser Beschreibung entgegengehalten werde, „daß der Leib hier wiederum nur als vorgestellter konzipiert wird und ein solches Verständnis danach dem Dualismus verhaftet bleibt.“ (Annette Barkhaus, Anne Fleig: Körperdimensionen oder die unmögliche Rede von Unverfügbarem. In: A. B., A. F. [Hg.]: Grenzverläufe. Der Körper als Schnitt-Stelle. München 2002, S. 9–23, hier S. 17). 4 Vgl. Hans Blumenberg: Genesis der kopernikanischen Welt. Frankfurt/M. 1975, S. 564.
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einigung‘ einer Wiedervereinigung gleichkomme.5 Zudem dient die Metapher dem Verschweigen der Voraussetzung jedes ‚Zusammenwachsens‘, des Bruchs oder Schnitts, sowie der Ausblendung einer Bewertung jener Ereignisse, die erst die Perspektive des Zusammenwachsens eröffnen.6 Mit der Vorstellung vom Land oder Staat als Körper nutzt Brandt ein Kollektivsymbol, das in den „Konstruktionen des politischen Körpers in der Geschichte Europas“7 eine lange Tradition hat.8 Es enthält, unabhängig von der Metaphorik der Spaltung oder Verletzung, die Möglichkeit einer Binnendifferenzierung zwischen Real- und Idealkörper, etwa im Bild des doppelten Körpers des Königs (Der König ist tot – es lebe der König!). Diese doppelte Existenzform klingt in der Überblendung der Zeitebenen (jetzt geteilt – immer zusammengehörend) ebenso an wie das Paradox menschlicher Körperexistenz, das „Leibsein und Körperhaben“, das Ernst Bloch resümiert als: „Ich bin. Aber ich habe mich nicht. Darum werden wir erst“9 und Helmuth Plessner als die Aufgabe formuliert, der Mensch müsse sich zu dem machen, was er eben ist – bei Brandt: Es müsse zusammenwachsen was zusammengehöre.10 Das Bild analogisiert die historisch spezifische Situation von nationaler Einheit bei zu überwindender Zweistaatlichkeit mit der
5 So polemisiert, gestützt auf Äußerungen der damaligen englischen Premierministerin Thatcher, u. a. Günter Grass, vgl. Alexandra Pontzen: Polemik und Ostalgie. Zu Günter Grass’ Tagebuch 1990 mit Seitenblick auf Peter Rühmkorfs TABU. In: Paul Michael Lützeler, Erin McGlothin (Hg.): Gegenwartsliteratur. Ein germanistisches Jahrbuch. A German Studies Yearbook 10 (2011), S. 138–162. 6 Die Metapher vermied, d. h. umging, zugleich schmerzhafte Qualifizierungen des historischen Vorgangs als Sieg resp. Niederlage eines Systems – bereits im Sinne einer künftigen Einheit als Gemeinschaft. 7 Albrecht Koschorke et al.: Der fiktive Staat. Konstruktionen des politischen Körpers in der Geschichte Europas. Frankfurt/M. 2007. 8 Auch begriffsgeschichtlich tritt ‚Körper‘ (etwa seit dem Mittelalter) immer stärker zur Bezeichnung von Einheiten auf, die „ohne Leib waren (‚Körperschaften‘)“, vgl. Dietmar Kamper: Körper. In: Karlheinz Barck et al. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe, Bd. 3. Stuttgart, Weimar 2010, S. 429. „Das Wort Körper wird nicht nur auf individuelle Organismen angewandt. Sondern auch auf ganze Kollektive und anderweitig unsinnliche Konzepte, die durch das Verleihen eines symbolischen ‚Körpers‘ in den Rang der Anschaulichkeit erhoben werden. Ein Beispiel dafür ist die Schrift des Thomas Hobbes’ über den Staat […] Leviathan (1651).“ (Assmann: Körper, S. 109). 9 Ernst Bloch: Tübinger Einleitung in die Philosophie. In: E. B.: Gesamtausgabe. Bd. 13. Frankfurt/M. 1977, S. 13 (zit. n.: Karlheinz Barck et al. [Hg.]: Ästhetische Grundbegriffe, Bd. 3. Stuttgart, Weimar 2010, S. 426). 10 Körper wäre das Resultat der Geschichte (BRD, DDR), die ein geschundenes, geteiltes Land, die „Wunde Deutschland“ mit der Mauer als ‚Narbe‘, zurücklasse (vgl. Thomas Hettche: Nox. Frankfurt/M. 1995), unter oder über der – je nach Metaphernmodell – eine ideale, reflektierte Selbstwahrnehmung von Deutschland als ‚Leib‘ fortlebe.
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conditio humana und dem philosophischen Programm, als Körper ‚Leib‘11 zu werden. Als Kriterien der Leiblichkeit gelten i. Allg. vier Eigenschaften, „die den Leib als Leib, d. h. als einen besonderen Körper auszeichnen: Permanenz (der Leib ist immer da); Doppelempfindung (Fähigkeit, sich selbst zu empfinden), Affektivität sowie Kinästhese (Fähigkeit, sich selbst zu bewegen und dies zugleich empfinden zu können).“12 Will man deutsche „Corporeality“13 (Körperrealität) in der Erzählliteratur des Jahres 1995 erfassen, gilt es also beides in den Blick zu nehmen: Deutschland als in Metaphern, Metonymien und Allegorien ‚Körper gewordene Realität‘ und Deutschland als ‚körperliche Realität‘, d. h. ästhetisch-leibliche Erfahrung des Einzelnen (sowie des nationalen Gefühlshaushalts). Damit knüpfe ich einerseits an die verschiedenen Orts14 – auch in den Werkartikeln des vorliegenden Handbuchs – konstatierte Präsenz des ‚Körpers‘ in den deutschsprachigen Neuerscheinungen des Jahres 1995 an, v. a. an Körpermotivik mit direktem oder indirektem Bezug auf die unmittelbar oder mittelbar mit 1989 assoziierten historischen Ereignisse.15 Andererseits greife ich die Datierung des Beginns der systematischen Körperforschung in den hiesigen Kulturwissenschaften auf die
11 Zur Problematik der Benennung des Leibes (versus jeweils seines eigenen Leibes) innerhalb einer phänomenologischen Vorstellung von Leiblichkeit, wie sie vor allem Hermann Schmitz geprägt hat, vgl. das Referat der Kontroverse Schmitz – Soentgen bei Robert Gugutzer: Soziologie des Körpers. Bielefeld 2004, S. 153. 12 Barkhaus, Fleig: Körperdimensionen oder die unmögliche Rede von Unverfügbarem, S. 17. 13 Der Begriff ist dabei sich als internationaler Terminus durchzusetzen, da die Körper/LeibDifferenz so in anderen Sprachen nicht nachbildbar ist. „Corporeality“ verbindet hier die Idee von Körperrealität als ‚ästhetischer / sinnlicher / leiblicher Erfahrung‘ und ‚Körper gewordene Realität‘, also ‚Embodiment‘ / Verkörperlichung (vgl. etwa die erste Übersetzung einer Schrift von Hermann Schmitz ins Englische unter dem Titel: Hermann Schmitz, Rudolf Owen Müllan, Jan Slaby: Emotions outside the box – the new phenomenology of feeling and corporeality (siehe: http://link.springer.com/article/10.1007%2Fs11097-011-9195-1#page-1; 28.9.2013); oder Stefan L. Brandt: The Culture of Corporeality. Aesthetic Experience and the Embodiment of America, 1945–1960. Heidelberg 2007) [Hervorh. A.P.]. Im engeren Sinne als ‚Leiblichkeit‘ definiert Labouvie: Leiblichkeit und Emotionalität, S. 80. 14 Vgl. den konzentrierten Überblick bei Hubert Winkels: Zur deutschen Literatur 1995. In: Franz Josef Görtz, Volker Hage, H. W. (Hg.): Deutsche Literatur 1995. Jahresüberblick. Stuttgart 1996, S. 5–27, bes. S. 6 (Flughunde: Körper und Sprache), S. 7 (Nox: Körper und Zeichen, Körper und Politik), S. 7 (Vorleser: Geschichte und Sexualität), S. 14 (Verfrühte Tierliebe: Sexualität, Autorität, Körper und Staat), S. 16 (Hettche, Beyer, Schlink, Lange-Müller: Körper, Sexualität, Medien; Sparschuh: Sadomasochismus), S. 17 (Schädlich: Körperöffnungen, Ausscheidungen, Ausdünstungen), S. 18 (Geschichte und Gewalt, Sexualität und Selbstverlust, der Körper und die Folter), S. 22 (körperliche und seelische Verfassung: Rühmkorf), S. 26 (Körper in [lyrischer] Sprache und Begehren [Draesner]). 15 Wende/Mauerfall/Wiedervereinigung resp. NS-Zeit/Shoa/Kriegsende/1945.
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Mitte der 1990er Jahre auf, wie sie etwa Maren Lorenz’ „Einführung in die Körpergeschichte“16 vornimmt, ein Umstand, den Klaus Scherpe auf eine „Verschiebung des kulturellen Paradigmas vom Textmodell zum Performanzmodell“17 zurückführt. Als in diesem Zusammenhang zentrale Theoriekonzepte seien hier nur stichwortartig aufgerufen: die ‚Zurichtung‘ von Körpern unter den Bedingungen von Gewalt und Institution resp. sozialer Konstruktion (so im Hinblick auf den Machtdiskurs bei Michel Foucault, mit Blick auf Gender-Aspekte bei Judith Butler), die Körperforschung als Konfliktfeld von Konstruktivismus versus Essentialismus, die Problematik der Körper-Seele/Psyche-Differenz und deren Folgen für die Emotionsforschung sowie die Körper-Leib-Differenz als Thema der (neuen) Phänomenologie. Beides, Reinthronisierung des Körpers und ‚performative Wende‘ innerhalb des Narrativen, stelle ich – versuchsweise – in den Bezugsrahmen von Arnold van Genneps Konzept des ‚rite de passage‘:18 Zum einen ist der Körper Akteur und Objekt, also Austragungsort ritueller Prozesse, zum anderen überblenden Kollektivsymbolik und politische Metaphorik traditionell den Individual- und den politischen bzw. Staats-Körper, und zu guter Letzt können im Jahr 1995 Ereignis und Erlebnis der ‚Wende‘ als ein Prozess aus Ablösung / Separation, Zwischenphase / Liminalität und Integration in den Blick genommen werden, der den Übergangsritus charakterisiert. Meine These lautet: Indem die Literatur so zahlreich, dass von einer ‚kollektiven‘ und wiederholten Praxis gesprochen werden kann, eine „Wiederkehr des Körpers“19 so inszeniert, dass die „Entwicklungen und Phänomene einer inkarnierten Kultur, die über längere Zeit verstellt oder entwertet waren“, in den Blick der eigentlich „exkarnierten“ Buchkultur20 geraten und dort
16 Lorenz: Leibhaftige Vergangenheit, S. 94; Ähnliches diagnostiziert, wenn auch ohne genaue Jahresangabe, Kamper: Körper, S. 433. Krüger-Fürhoff präzisiert: „Die Literatur- und Kulturwissenschaften wenden sich seit Mitte der 1990er Jahre verstärkt dem Körper als Träger kultureller Erinnerungen, als Material (künstlerischer) Inszenierungen und als Bestandteil der Konstruktion nicht nur von Weiblichkeit, sondern auch von Männlichkeit zu.“ Irmela Marei Krüger-Fürhoff: Körper. In: Christina von Braun, Inge Stephan (Hg.): Gender@Wissen. 2. Aufl. Köln, Weimar, Wien 2009, S. 66–81, hier S. 73. 17 Klaus B. Scherpe: Kanon, Text, Medium. Kulturwissenschaftliche Motivationen für die Literaturwissenschaft. In: Cultura Tedesca 10 (Dez. 1998), S. 107–124; auch in: Anton Schwob (Hg.): Germanistik im Spannungsfeld zwischen Philologie und Kulturwissenschaft. Tagungsbericht der Österreichischen Gesellschaft für Germanistik. Graz 1999, S. 19–35, hier S. 29. 18 Vgl. van Gennep: Übergangsriten. 19 Assmann: Körper, S. 118. 20 Assmann bezieht die Entwicklung auf das von McLuhan diagnostizierte ‚Ende der Gutenberggalaxis‘ und das Zurücktreten des Mediums Buch als Vertreter einer „exkarnierten Kultur“ (ebd., S. 118). Sie verweist darauf, dass, als „Entwicklungen und Phänomene einer inkarnierten Kultur,
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symbolisch vor-spielen, was real-historisch erst vollzogen wird, wird der krisenhafte Übergang von Land und Bewohnern in einen neuen gesellschaftlichen Zustand symbolisch erprobt und imaginär bewältigt. Insofern ist die (Körper-) Metapher nicht nur rhetorische Figur, sondern ontologisch im „weiteren Sinne dessen, daß sie über die Funktion der Übertragung hinaus […] Hervorbringung von neuem Sein bzw. von neuen Seinsweisen ist“.21 Mein Ausgangspunkt für die Beschäftigung mit, erstens, Formen und Bildern der ‚Verkörperlichung‘ historischer Gegebenheiten in Metaphern, Metonymien und Allegorien wie auch für, zweitens, die Frage nach der ‚Leiblichkeit‘, als die der historische Umbruch vom einzelnen Körper empfunden und literarisch dargestellt wird (was eng mit der Frage nach der Performanz der entsprechenden Texte verknüpft ist), ist wieder Brandts Diktum „Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört“.
‚Verkörperlichung‘ historischer Gegebenheiten: das Land als Körper, die Teilung als Wunde Die Idee einer (wieder)herzustellenden „Zusammengehörigkeit“ eröffnet eine axiologisch und körpermetaphorisch weite Spannbreite der Interpretation, abhängig davon, ob das Augenmerk auf der (negativen) Voraussetzung oder der prospektiven Aufhebung des Zustands liegt – kurz: ob die Teilung als „Wunde“ oder die „Vereinigung“ als sexuelle oder soziale Verbindung imaginiert wird. Beide Bildbereiche spielen in der schönen Literatur eine entscheidende Rolle, während sie im Interdiskurs, der wesentlich von Brandt geprägt wird, programmatisch ausgeklammert werden – zugunsten einer naturalisierenden Befriedung. Zudem ist entscheidend, ob Trennung zeitlich als Produkt der Historie oder ideell als Konflikt von Idee und Materie gedacht wird. Thomas Hettches Roman [→] Nox22 nutzt mehrfach Körperbilder zur Veranschaulichung der Teilung, sowohl sexualmetaphorische als auch solche aus dem Bedeutungsfeld von Verletzungen, Fehl- und Missbildungen. Der Oberflächenästhetik des Abjekten ist
die über längere Zeit verstellt oder entwertet waren“, wieder in den Blick gerieten, diese „Wende“ „auch als ‚Wiederkehr des Körpers‘ beschrieben“ wurde (ebd.). 21 Alice Pechriggl: Der Körper in den Gestaltungen und Schichtungen des geschlechtsspezifischen Imaginären. Eine begriffssystematische Skizze. In: Julika Funk, Cornelia Brück (Hg.): Körper-Konzepte. Tübingen 1999, S. 25–36, hier S. 32. 22 Hettche: Nox.
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aber als Selbstdeutung23 ein idealistisches Master-Narrativ unterlegt:24 die platonische Idee einer ursprünglichen seelischen Einheit, deren Teile – einmal auseinander gerissen – mit „wahnsinniger Sehnsucht“ in dem, was man „Liebe nennt“, „den nicht endenden Versuch [unternehmen], die Wunde zu heilen“.25 Hettches Bild der deutschen Teilung als offene ‚Wunde‘ im Landeskörper wie im Leben des Einzelnen (dazu später) und deren mytho-poetische Assoziation mit Platos Kugelwesen-Bildnis steht bei Peter Rühmkorf eine deutlich unpathetischere Illustration derselben Gedankenfigur gegenüber: Am Abend des 13. Dezember 1989 notiert Rühmkorf in sein 1995 dann unter dem Titel TABU I26 publiziertes Tagebuch: „Abends Neujahrgrüße entworfen: zwei nackte Scheißer von hinten: ‚wir kneifen zusammen, was zusammen gehört.‘“27 Platonische Vereinigungssehnsucht, verkniffener Stuhlgang und siamesische Schmierinfektion – das skizziert so etwa das Spektrum jener körpermetaphorischen Konzepte für eine deutsche Einheit, die für die Phase der ‚Separation‘ auf das Moment der Wunde fixiert sind. Man kann sogar polemisieren, dass dem Körper nur deswegen gehuldigt wird, damit Schmerz und Leiden verortet und als „Wunde“ ausgestellt werden können. Sie markiert menschliche und imaginäre Landes- oder Staatskörper, die Stadt Berlin oder unbelebte, nur ihrer Vulnerabilität wegen animierte Objekte, aus denen sie dem Betrachter entgegensieht. Bei Autoren wie Hettche oder Krauß (wie auch Jelinek) gehen Körpermetaphorik und Anthropomorphisierung des ansonsten Unbelebten mit einer auffälligen Anästhe-
23 „Wir alle drei, sagte er, du und ich und sie, gehören zu einer Geschichte. Zu einer alten Geschichte, die sich wieder ereignet. […] Nichts von dem, was du kennst, wird nach dieser Nacht bleiben, wie es ist. Und nur die Geschichten, die man sich davon erzählt, bestimmen, was wird“ (ebd., S. 158). 24 Dominant gesetzt wird diese Deutung zum einen durch ihre Positionierung am Ende des Romans, zum anderen durch ihre intradiegetische Rahmung als eine der Geschichten, die die Wachhunde im Todesstreifen der deutsch-deutschen Grenze einander erzählten und besonders mochten. Vgl. ebd., S. 159. 25 „[J]ene Geschichte von den kugelförmigen Wesen, die vor den Menschen auf der Erde lebten und die nur ein Geschlecht besaßen. […] Die Götter, die ihnen ihre vollkommene Form neideten, zerschnitten eines Tages die Kugelwesen. […] Viele starben vor Hunger und Traurigkeit, bis die Götter sich ihrer erbarmten. Der einen Hälfte der verwundeten Wesen stülpten sie das Geschlecht nach innen in den Körper hinein. […] Ihre wahnsinnige Sehnsucht […] linderte sich in das, was ihr Liebe nennt.“ Ebd., S. 158. 26 Vgl. Peter Rühmkorf: Tabu I. Tagebücher 1989–1991. Reinbek b. Hamburg 1995. 27 Ebd., S. 69. In eine ähnliche Richtung weist Rühmkorfs „Gedicht-Idee: D[eutsch]-Land/ D[eutsch]-Land als siamesischer Zwilling (Chang und Eng oder Giovanni und Giacomo Tocci, s. Mark Twain: ‚Those Extraordinary Twins‘): der eine krankt an diesem und der andere krankt an jenem und schließlich besteht beider Zusammenleben nur noch aus wechselseitigen Schmierinfektionen.“ Ebd., S. 312.
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sie der menschlichen Figuren einher. Diese haben für sich kein (oder ein sadomasochistisch verschobenes) Leibempfinden und können allenfalls in der widerspiegelnden Konfrontation mit dem Körper des Landes, der Stadt Berlin oder eines alten Sofas, das im Zuge der ‚neuen‘ Zeit ausgeweidet, „mit weit klaffendem Bauch“28 daliegt, von außen sehen, was sich ihnen an sich selbst der Wahrnehmung und Empfindung entzieht. Eine vergleichbare Dissoziation von metaphorischer Verkörperlichung des Landes29 und fehlender ‚Leibhaftigkeit‘ seiner Bewohner lässt sich in Christian Krachts [→] Faserland30 beobachten: Peter Michael Hehl hat bereits auf die körpermetaphorische Codierung hingewiesen, die „der Raum ‚Deutschland‘“ dort erfährt, womit, ähnlich wie im Titel, u. a. Topoi emphatischen Patriotismus zitiert werden.31 Die körpermetaphorische Illustration kultursemiotisch aufgeladener Orte wie Heidelberg als „Herz Deutschlands“32 schafft eine Spannung zum sezierenden Blick auf seine Bewohner. Landeskörper und Physiognomik der Bewohner werden historisch und ästhetisch gleichsam komplementär gedacht, das unschuldig schöne Land ist bevölkert von „SPD-Nazis“ und Typen wie dem Taxifahrer, dem man es „im Gesicht an[sieht], daß er einmal ein KZ-Aufseher gewesen ist oder so ein Frontschwein, der die Kameraden vors Kriegsgericht gebracht hat“.33 Auf diese linke pc-Physiognomik komme ich noch zurück. Bei Hettche illustriert Berlin als pars pro toto die Spaltung des Landes: „Die Mauer war der Schnitt, mit dem sich die Stadt vom Osten trennte“.34 Die Deformationen der Stadt als eines von einer Narbe gezeichneten Körpers und die psychischen und physischen Verletzungen der Figuren, einschließlich des intradiegetischen Erzählers, verweisen wechselseitig aufeinander. Deutet man den Text
28 Angela Krauß: Die Überfliegerin. Frankfurt/M. 2002, S. 41 (weitere Belege für die Anthropomorphisierung des Sofas: S. 28, S. 29 u. S. 40). 29 Die Körpermetaphorik von deutscher Teilung und Wiedervereinigung exklusiv für 1995 erschienene Texte zu untersuchen, scheint indes weniger sinnvoll als dies im Kontext einer motivgeschichtlichen Arbeit, etwa zur Metaphorik der Mauer, zu unternehmen. Nimmt man das Jahr 1995 als Zäsur ernst, so geht das, im Hinblick auf das Körper-Sujet, weniger indem man (traditionell) auf Trennereignisse rekurriert, auch wenn Hettches Roman sich auf die Darstellung der Nacht vom 9. November fokussiert, sondern vielmehr, indem man die Prozesshaftigkeit der Folgen der Ereignisse von 1989 im Jahr 1995 erstmals auch literarisch in den Blick genommen sieht. 30 Christian Kracht: Faserland. Köln 1995. 31 Wenn der Erzähler das Land von Nord (Sylt) nach Süd durchreist, gleicht das auch einer (körperlichen) Aneignung, der dann die intellektuelle, verschoben auf den Autor des ‚ideellen/ eigentlichen Deutschlands‘, Thomas Mann, folgt. 32 Ebd., S. 86. 33 Ebd., S. 94. 34 Hettche: Nox, S. 86f.
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allegorisch und/oder autopoetisch, wozu er penetrant auffordert, führt das zu katachretischen Überlagerungen, weil die überdeterminierten Körper-Metaphern zwar über Bild-Schnittmengen verfügen, zu Allegorien formiert aber keine lineare Narration von Signifikanz ermöglichen: Der gespaltene Penis der vielleicht jüdischen Figur ‚David‘, die sich ihre Lust am Leiden mit „SCHLAGT MICH HART“,35 in den Körper hat einschreiben lassen, ist bereits in sich ‚phallische Spaltung‘ und verhindert zudem die ‚Vereinigung‘ mit einer weiblichen Figur, die als Germania deutbar ist – ihrerseits eine qua Topos weiblich gegenderte Verkörperung Deutschlands, die in der Nacht des 9. November ihren Namen vergisst und den Erzähler ermordet, nachdem er sie zurückgewiesen und die so ausgelöste Scham im Erröten als ihr „geheimes Gesicht“, „wie niemand sie kannte“, gesehen hat.36 Das Sehen wird im Folgenden zum Leitsinn des Erzählens, der verwesende Erzähler zum Augenzeugen der nächtlichen Ereignisse, metonymisch gedoppelt von einem Schäferhund, der seinen Posten als Wachhund im Todesstreifen aufgibt – oder mythopoietisch gesprochen: „über die Grenze“ „wechselte“ –, als der Erzähler stirbt.37 Verwesender Erzählerleib und unbestechlicher Hermes-Hundeblick rücken den gewaltsamen und zerstörerischen Charakter der Maueröffnung und ihrer Begleitereignisse38 in den Fokus. Zugleich wird die Öffnung der Mauer als Aufbrechen einer Narbe, die eine schlecht verheilte Wunde nur verborgen hat, mit dem Zerfall, genauer der Verwesung des Erzählerkörpers,39 parallelisiert. [W]o der Tiergarten am Brandenburger Tor endet, […] stand sie plötzlich in einem weißen Licht und wußte, das war die Wunde. Staunend sah sie zu, wie entlang der Mauer die Narbe, die mitten durch die Stadt lief, aufbrach wie schlecht verheiltes Gewebe. Wie man […] eilig Wundhaken hineintrieb, […] um das unter der Anspannung blutleere und weißglänzende Bindegewebe der Narbe, die seit Jahrzehnten verheilt schien, nun vollständig aufzureißen.40
Ob man den Einbau des medizinisch-biochemischen Diskurses in die Rede des (fiktionalen) Schriftstellers, erkennbar eine Ego-Fiktion des Autors Hettche, für sachlich korrekt hält, sei dahingestellt.41 Man kann ihn, wie seine Ermordung, als
35 Ebd., S. 100. 36 Ebd., S. 22; vgl. auch S. 154 als Motiv und Movens für Mord und Erzählung. 37 Vgl. ebd., S. 11. 38 Vgl. ebd., S. 23 u. S. 31f. 39 Vgl. ebd., etwa S. 83. 40 Ebd., S. 90f. 41 Es fällt zum Beispiel auf, wie gerafft die Prozesse der Verwesung – in der erzählten Zeit nur Teile der Nacht, also wenige Stunden – dargestellt werden. Man kann also auch hier – wie beim Bild der Narbe – die Absicht unterstellen, längere, sonst der Beobachtbarkeit entzogene Abläufe
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innerdiegetische Konkretion der literaturtheoretischen Position vom ‚Tod des Autors‘ deuten, wie durch mehrere Rezensenten geschehen. Man kann ihn aber auch mit dem Auflösungsprozess der Stadt Berlin, wie sie bis 1989 war, analogisieren und organologisch als einen Prozess der Zerstörung und Neuordnung alter Ordnungen deuten. Dafür spricht auch die Überschneidung der Bildbereiche: Die Maden und Fliegen der Verwesung finden sich nicht nur in der aufgerissenen Narbe der Mauer,42 sondern auch im verwesenden Körper des Erzählers und durchziehen den Romankörper. Bei Hettche werden Mauer/Narbe und deutsche Traumatisierung erst mit dem Fall der Mauer, dem Aufbrechen der Wunde, als solche erkannt. Die Wahrnehmung der Teilung ist also in einer sentimentalischen Perspektive schmerzhaft und die Nacht des 9. November bietet eine physiologische Konfrontation mit dem, was zuvor erfolgreich verdrängt wurde. Der Körper ist Ort und Symptom für die Wiederkehr des Verdrängten – diese Technik teilt Hettche mit Elfriede Jelineks Roman [→] Die Kinder der Toten43 – und zugleich widerständige Manifestation gegen das euphorische Master-Narrativ des 9. November. Hellmuth Karasek hat Robert Menasses Roman [→] Schubumkehr44 zuerkannt, dass er „Freude und Taumel über die riesigen Veränderungen dorthin abschiebt, wo sie wirklich stattgefunden haben: in die Öffentlichkeit“,45 und den Begriff der Öffentlichkeit so implizit mit dem privaten und individuellen (Er-)Leben kontrastiert. In diesem Sinne montiert Hettche seine Negativ-Selektion von Polizeimeldungen über private Unfall- und Gewaltereignisse der in öffentlicher Lesart ‚historischen‘ Freudennacht. Die Einsicht, „Nichts […] wird so bleiben, wie es war“,46 die Hettches Figuren simultan empfinden, ist – natürlich – eine nachträgliche des Autors, der sie auf den Ereignischarakter rückprojiziert und zu ihrer poetischen Plausibilisierung seine drastische Körper-, Sexual- und Gewaltmetaphorik braucht. Sie ist so stark visuell codiert und zugleich klinisch-dokumentarisch, dass ihr Zeichencharakter den expressiven dominiert – weder entwickelt sich etwas wie Empathie mit den Figuren noch mit ihrem (Nicht-)Empfinden der Ereignisse.
im Bild des Körperlichen anschaulich zu machen, einmal durch das (End-)Produkt (Narbe), einmal im Zeitraffer der Auflösung. 42 Als ‚Mauerspechte‘, vgl. ebd., S. 96f. 43 Elfriede Jelinek: Die Kinder der Toten. Reinbek b. Hamburg 1995. 44 Robert Menasse: Schubumkehr. Salzburg, Wien 1995. 45 Hellmuth Karasek: Busen der Natur, geliftet. Über Robert Menasses Wenderoman „Schubumkehr“. In: Der Spiegel (20.02.1995), zit. n. Görtz, Hage, Winkels (Hg.): Deutsche Literatur 1995, S. 230. 46 Hettche: Nox, S. 109.
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Die Frage, ob sich historische Erfahrung als sinnlich-körperliche Erfahrung, erstens, überhaupt niederschlägt und, zweitens, kommunizieren lässt, ist literarisch wie theoretisch auf unterschiedliche Weise reflektiert worden. Hettches Versuch gehört m. E. nicht wirklich in diesen engeren Zusammenhang, insofern es ihm weniger um Erlebensqualität als um ikonographische (Um-)Deutung der Ereignisse im Sinne einer Archivierung des letztlich Monströsen geht. Folglich fungiert Virchows pathologisch-anatomische Sammlung47 nicht nur als Schauplatz, sondern als auto-poetische und metadiegetische Metapher. Das Bild der Wunde funktioniert deswegen auch eher als Stigma mit demonstrativer Funktion denn als Verkörperung eines Schmerzes im psycho-physischen Erleben. Anders: Hettche zeigt, zeitlich gerafft und vielfach gespiegelt, ein blutig orgiastisches Körpertheater, aber ohne leibliches Empfinden der Akteure. Die Fokussierung auf rauschhaft Orgiastisches und aggressiv Eruptives bedingt, wie aus anderen Gründen auch bei Brussig, eine körpermetaphorisch traditionell maskuline Codierung der Vorgänge (als Erektion, Penetration, Vergewaltigung oder männliche Kastrationsangst beim Oralverkehr, im Übrigen mit einer Frau aus dem Osten). Die Tiefendimension der Ereignisse sowie ihre ‚Einschreibung‘ in die körperliche Realität des Erlebens ist damit nicht erfasst, obwohl Hettche mit seiner Zentralmetapher der „Wunde“ ja das entsprechende Bildreservoir von Oberfläche und Innenraum, äußerlich Sichtbarem und innerlich Spürbarem zur Verfügung hatte. Um diesen Antagonismus aber kreist Angela Krauß’ Werk Die Überfliegerin48, das die zweite Phase, die Liminalität des ‚Dazwischen‘, illustriert, und zwar als Erlebensweise. Die Protagonistin, „vor fünf Jahren […] in Einzelteile“ zerfallen, „langsam, ohne daß […] [sie, AP] es merkte“,49 weiß nicht mehr, wie die Welt zusammengesetzt ist […]. Eines Morgens wachte ich auf an einem mir unbekannten Ort, der mit einigen vertrauten Zeichen sich stellte als sei er der alte. Ein Verwirrspiel, das bereits fünf Jahre zurückliegt. Die Zeitungen betreiben und entlarven es. Meine Lage bleibt davon völlig unberührt. Wie alle habe ich ein paar Figuren eingeübt, die die Außenwelt über diese Tatsache täuschen. In Wahrheit taste ich, die Augäpfel nach oben gerollt, mit einem Stöckchen die Bordsteinkante ab.50
Diese individuell und körperlich empfundene Verunsicherung wird kollektiv verborgen, die Differenz von äußerer und internalisierter Erwartung im Osten Deutschlands noch fünf Jahre nach der Wende nicht mehr als solche empfunden: 47 48 49 50
Vgl. etwa ebd., S. 24, S. 25f. Krauß: Die Überfliegerin. Ebd., S. 31. Ebd., S. 39.
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„die Leute unterscheiden nicht mehr, […] ob was vor ihnen lag, draußen oder drinnen war“.51 Lediglich die Protagonistin reflektiert die im Roman nie beim Namen genannte ‚Wende‘ als Problematik prozesshafter und ergebnisoffener Veränderung: „Es heißt, es dauert sieben Jahre. Wie die Erneuerung des menschlichen Organismus“ – Krauß liefert hier übrigens auch ein Argument dafür, das ‚Wendejahr‘ auf 1995 zu datieren.52 „[B]ei Personen über Fünfzig soll es länger dauern, vielleicht zwanzig Jahre. Bei Älteren bis zum Tod.“53 Innerhalb des organisch imaginierten Vorgangs bestimmen zwei Pole das Erleben der Protagonistin: die Vergangenheit, die durch ein altes Sofa verkörpert wird, auf dessen „Skelett“ und „ausgeweidete[n] Leib“54 die Sezierung und schließlich die Beerdigung der Vergangenheit verschoben wird, so dass es im Weiteren heißt, das „frühere Leben“ sei „am Morgen in ein Loch gefallen“55 – und die Erfahrung des Fliegens. Das Fliegen nach Westen, raumtopologisch als ‚Zukunft‘ codiert, temporal als Abend/Ende (wie der Flug schließlich wieder im Osten, in der Vergangenheit, endet, so dass es zu einem Chiasmus von Raum- und Zeitmetaphorik kommt), wird überblendet mit dem (östlich konnotierten) Schlittenfahren von Kindern: Sie liegen da, fühlen sich selbst und tun nichts anderes. Nach etwa sechs bis sieben Minuten stellt sich eine genaue Wahrnehmung dafür ein, wie man mit hoher, gleichmäßiger Geschwindigkeit als ruhender Körper durch den galaktischen Raum getragen wird. Nach weiteren Minuten fühlt man die Wölbung der Erdkruste im Rücken und wie die Gravitation die Zentrifugalkräfte in Schach hält.56
Die Erfahrung von historischem Wandel als einem bei körperlicher Immobilität Bewegt-Sein, in einer zum Teil sensomotorischen, zum Teil kinästhetischen57 Empfindung eines imaginären Erdkörpers, wie Krauß sie vorführt, entspricht
51 Ebd., S. 96. 52 Der Organismusvergleich, als Veranschaulichung subtiler und langwieriger Prozesse der Veränderung, ließe sich zugleich als Erklärungsformel für die verzögerte Rezeption und Produktivmachung der historischen Ereignisse des Jahres 1989 in den literarischen Produkten des Jahres 1995 nutzen. 53 Ebd., S. 36. 54 Ebd., S. 38. 55 Ebd., S. 62. 56 Ebd., S. 56 [Hervorh. A.P.]. 57 Zur Bedeutungsverschiebung der Kinästhesie innerhalb der Phänomenologie v. a. bei Husserl von einem Konzept der Empfindung eigener leiblicher Bewegung zu den „leiblichen Bewegungen, die zum Wesen der Wahrnehmung gehören“, vgl. Christian Ferencz-Flatz: Husserls Begriff der Kinästhese und seine Entwicklung. In: Husserl Studies (2013) (siehe: http://link.springer. com/article/10.1007%2Fs10743-013-9137-6#page-1; Abruf: 30.9.2013).
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dem, was Hermann Schmitz, prominenter Vertreter der Neuen Phänomenologie, unter der Wahrnehmung des Körpers als ‚Leib‘ versteht, das, was ein Mensch „in der Gegend seines Körpers von sich spüren kann“.58
‚Vereinigung‘ als physiologisch-sexuelle und/oder psychosoziale Metonymie: Ost- und Westdeutschland verkörpert durch Frau und Mann, Geschlechter-, geographische und politische Zuordnung, gender-, körper- und soziospezifische Rückschlüsse Das metonymische Erzählmodell deutsch-deutscher Vereinigung in eroticis, die zweite verbreitete Verkörperungstrope in der Literatur der 1990er Jahre (neben der Wunde), böte an sich Gelegenheit, Leiblichkeit darzustellen und im sexuellen Erleben – um die ‚Ost-Frau‘ kreisten auch lebensweltlich nicht wenige sexuelle Wunsch- und Angst-Phantasmen –59 leibliche Erfahrung in körperlicher Handlung vorzuführen; das geschieht, um es vorwegzunehmen, meines Wissens nicht. Ost-West-Paare, bei denen die Partner jeweils den Osten resp. Westen ‚verkörpern‘ und ihre sexuelle ‚Vereinigung‘ die politische allegorisiert, scheinen in den 1990er Jahren ein häufiges Motiv, prominent geworden etwa in Monika Marons Animal triste.60 Das Bild prägt auch den Interdiskurs und erscheint innerhalb des erweiterten Metaphernnetzes familiärer Beziehungen, als die deutschdeutsche Verhältnisse und Probleme illustriert werden, auch in der Sozialmetapher der „Ehe“, wie Margarete Mitscherlich und die DDR-Schriftstellerin und Literaturwissenschaftlerin Brigitte Burmeister in ihrem großen Gespräch 1991 einhellig feststellen, „[B. Burmeister:] wobei selbstverständlich war… [M. Mitscherlich:], daß die DDR die Frau ist.“61 Die Rollenzuweisung als sozial schwächere und sexuell Unterlegene wird einerseits variiert im Muster der Frau als ‚Beute‘ oder Trophäe, um die zwei
58 Hermann Schmitz: Der Leib, der Raum und die Gefühle. Ostfildern v. Stuttgart 1998, S. 12. 59 Zum (westlichen) Interesse am Thema Sexualität/Erotik in der DDR und zu den darauf zielenden Publikationen der Nach-Wende-Zeit, etwa Anthologien zum „sexuellen Alltag im Osten“, vgl. die von Grub angeführte Literatur: Frank Thomas Grub: ‚Wende‘ und ‚Einheit‘ im Spiegel der deutschsprachigen Literatur. Ein Handbuch. Bd. I: Untersuchungen. Berlin, New York 2003, S. 614. 60 Monika Maron: Animal triste. Berlin 1997. 61 Margarete Mitscherlich, Brigitte Burmeister: Wir haben ein Berührungstabu. Hamburg 1991, S. 14, zit. n. Grub: ‚Wende‘ und ‚Einheit‘ im Spiegel der deutschsprachigen Literatur, S. 247.
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Männer ringen, von denen einer dem Osten, der andere dem Westen zugeordnet wird. Dabei funktionieren ‚Ost‘ und ‚West‘ als psycho-soziale Zuschreibungen, d. h. Konstruktionen eines Typus: Der gewinnorientierte und lebenstüchtige ‚Westler‘ verfügt sozio-ökonomisch wie auch sexuell über die größere Potenz und das stärkere Selbstbewusstsein, kann aber durchaus ein ursprünglich aus dem Osten geflohener Mann sein (wie in Michael G. Fritz’ Die Rivalen,62 bei Jirgl oder auch in Erich Loests Nikolaikirche63) oder einfach ein schneller assimilierter Ostler (wie in Jens Sparschuhs [→] Zimmerspringbrunnen64 Julias Abteilungsleiter). Im Kampf um die Ost-Frau ist er siegreich, gewinnt oder schwängert sie (Fritz: Die Rivalen). In der Regel aber zeigt die west-östliche ‚Vereinigung‘ die Tendenz des Misslingens, Scheiterns oder doch wenigstens der Unfruchtbarkeit der neuen Verbindung. Die Überlagerung von Körper-, Gender- und politischer Metaphorik zeigt die Frau andererseits nicht nur als objekthafte Trophäe (oder als moralisch korrumpierbares, charakterschwaches, aber lebensstarkes Geschöpf, so auch bei Grass Fontys Ehefrau und Tochter Meta), sondern rekurriert auch auf den Topos der Jungfräulichkeit als moralischem Wert, der über den sexuell ‚intakten‘, also unberührten Körper der Frau/Tochter ihre Herkunftsgemeinschaft als Familie oder Staat aufwertet resp. diskreditiert und entehrt. In diesem Sinne interpretiert Arnfrid Astels Gedicht „Ausverkauf“65 den ‚Ausverkauf‘ der DDR-Identität nach den imagologischen Vorgaben des Bürgerlichen Trauerspiels, indem die politisch Machtlosen ihr einziges ‚Kapital‘, die weibliche Unschuld, verlieren resp. opfern:
Durch das jungfräuliche Loch in der Mauer Reicht mir der blutjunge Grenzer sein Koppelschloß zum Verkauf hin, Hammer & Zirkel gegen Devisen.
Der Ausverkauf wird zur Entjungferung, das Land zur Frau, die ihre ‚Unschuld‘ verliert.
62 Michael G. Fritz: Die Rivalen. Halle/Saale 2007. 63 Erich Loest: Nikolaikirche. München 1995. 64 Jens Sparschuh: Der Zimmerspringbrunnen. Ein Heimatroman. Köln 1995. 65 Arnfrid Astel: Ausverkauf. [1992] Vgl. Homepage des Autors: Sand am Meer. Sinn- und Stilübungen (http://www.zikaden.de/gedruckt/wohin/Ausverkauf.html; Abruf: 05.05.2014).
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Körperdarstellung und -erfahrung unter den Vorzeichen historischer Erfahrungen und Umbrüche Der Körper als Ort der Zurichtung Unter den Bedingungen des NS-Regimes (Beyer), der SED-Diktatur (Jirgl), der Verdrängung der Shoah im postfaschistischen Österreich (Jelinek) wie auch unter dem Einfluss des Kapitalismus nach der Wiedervereinigung (Sparschuh, Krauß) erscheint der Körper als Ort der Zurichtung, diszipliniert nach den jeweiligen ideologischen Leitsätzen (martialisch, unterwürfig, angepasst, verdrängend oder stets gutgelaunt, sportlich trainiert). Im Kontext des Faschismus entsprechen sich die Formierung des Volkskörpers zu Propagandazwecken in den Inszenierungen der NS-Massenveranstaltungen und die Unterdrückung resp. Auslöschung individueller Lebensregungen wie Erotik oder Empathie beim Einzelnen.66 Flughunde67 konkretisiert im Zentralschauplatz Führerbunker April 1945 Adorno/Horkheimers Diktum von der „unterirdischen […] Geschichte“ des Körpers als „Abgesang“ (auf die Subjektphilosophie Descartes’). Doch realisiert sich diese (metaphorische) Hinwendung zum Unterirdischen vor allem in einem eigentümlich klaustrophoben Lektüregefühl von Enge.68 Thematisch wird das Dumpfe und Schmerzhafte körperlichen Leidens auf die anonym bleibenden Opfer der NS-Experimente und die Kriegsversehrten verschoben, während die Hauptfiguren, reduziert auf ihre Stimmen – gemäß der widerständigen Erinnerungspoetik des Romans –, letztlich körperlos und allenfalls akustisch in ihren Stimmspuren als physisch Abwesende entworfen werden. Allen die Wende thematisierenden Texten ist als Subtext die Erwartung und die Notwendigkeit von Anpassung des Einzelnen und seines Körpers an die neuen ‚Verhältnisse‘ unterlegt, wenn auch in viel stärkerem Maße für diejenigen, die den Wechsel von der DDR in das wiedervereinigte Deutschland vollziehen mussten; Menasse (Schubumkehr) thematisiert das westliche Desinteresse, Veränderung auch für das eigene Leben zuzulassen; Peltzer (Stefan Martinez69) oder
66 Vgl. Marcel Beyer oder, mit grotesker Subversion, Thomas Brussig. 67 Marcel Beyer: Flughunde. Frankfurt/M. 1995. 68 Auch diese Facette ‚leiblicher‘ ästhetischer Erfahrung von Lektüre verdiente im Kontext der Körperforschung eine analytische Betrachtung. 69 Ulrich Peltzer: Stefan Martinez. Zürich 1995. Ähnlich urteilt Elke Schmitter: „Wer das Westdeutschland der sechziger bis neunziger Jahre lesen will, kann dieses Buch als seine Fibel nutzen“ (Elke Schmitter: Erinnerung an die Gegenwart. Zit.
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Lange-Müller (allerdings erst in Böse Schafe70) dokumentieren über das Körperauch das Lebensgefühl des alten West-Berlin als „Erinnerung an die Gegenwart“ (Elke Schmitter), deren Verschwinden in der „Post-BRD-Literatur“ (Geisenhanslüke) erst nachträglich bemerkt und betrauert wird. In der Wahrnehmung der durch die Wende im Osten ausgelösten Veränderungen (bei Sparschuh, Krauß, Jirgl) werden Figuren unterschiedlicher Anpassungsbereitschaft und -fähigkeit kontrastiert: Bei Krauß fühlt sich die leibbewusste und deswegen im Wiedervereinigungsalltag desorientierte Protagonistin von allen „überholt“, die, wie ihr Nachbar, schnell „ein anderer“71 geworden sind. So verändert drängt der Nachbar „mit seltsam frischem Lächeln, bei dem er nicht atmet“,72 zur Unterschrift unter Versicherungsverträge. Das Verkaufen als den Charakter und den Körper deformierende Arbeit ist ein kapitalismuskritischer Topos, den auch Sparschuh nutzt. Im Zimmerspringbrunnen wird der dauerarbeitslose Ostler zum erfolgreichen Vertreter einer Westfirma, was vom Tausch der Arbeitslosenuniform Blouson und Jogginghose73 gegen die „Tarnkleidung“74 Anzug und über Körperexerzitien wie eine Vertreter-spezifische Lockerung der Mimik75 vollendet wird. Scheinbar. Der Roman führt den Vorgang wie eine Fortsetzung des Zivilisationsprozesses im Sinne von Norbert Elias vor, als ‚Zurichtung von körperlichen Funktionen und Expressionen‘ unter den Vorzeichen des gewinnorientierten Kapitalismus. Die Verinnerlichung von Domestizierung in Selbstkontrolle präsentiert sich in einer ‚westlichen‘ Semiotik von Kleidung, Mimik, Körpersprache, Umgangsformen und einem antrainierten Habitus der Lockerheit. Sie erscheint tendenziell affirmativ, erweist sich indes, im Sinne der subversiven Plotstruktur des Schelmenromans, nicht als der eigentliche Schlüssel
n. Görtz, Hage, Winkels [Hg.]: Deutsche Literatur 1995, S. 241–245, hier S. 244). Insofern sei Stefan Martinez „auch als Generationsroman zu begreifen, der die Geschichte einer in Westdeutschland sozialisierten Jugend mit dem Fluchtpunkt des Berlins vor der Wende“ erzählt (Geisenhanslüke im Werkartikel zu [→] Stefan Martinez im vorliegenden Band). Geisenhanslüke resümiert schlüssig: „Wenn es den Titel der ‚Post-BRD-Literatur‘ nicht gäbe, man müsste ihn für Stefan Martinez erfinden“ (ebd.). 70 Katja Lange-Müller: Böse Schafe. Köln 2007. 71 Krauß: Die Überfliegerin, S. 49. 72 Ebd., S. 25. 73 Vgl. Sparschuh: Der Zimmerspringbrunnen, S. 21. 74 Ebd., S. 105. 75 Vgl. ebd., S. 75. Mit dieser physiognomischen Zurichtung, die im weiteren Zusammenhang einer amerikanisch konnotierten Oberflächenfreundlichkeit und psychischen Positiv-Selbstcodierung steht, kontrastiert das unwillkürliche Weinen des Protagonisten gegen Ende des Romans (ebd., S. 146), intertextuell auf Bölls Ansichten eines Clowns verweisend, körpersprachlich in der Tradition einer den Körpersäften Authentizität unterstellenden Emotionstheorie stehend.
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zum Verkaufserfolg, so wenig wie der Zimmerspringbrunnen als verlogenes Beschönigungsutensil kleinbürgerlicher Depraviertheit. Erst zerstört und als defizitäres „Atlantis“ wird der Springbrunnen als Memorial des DDR-Untergangs zum Verkaufsschlager eines „Phantomschmerz[es]“.76 Und offenbar erkennen die deprimierten Ost-Kunden auch im gestylten Anzugträger einen der Ihren. Die Schelmenroman-Perspektivik gewährleistet eine in der Naivität entlarvende Selbstbeobachtung des Helden, der gleichermaßen Täter wie Opfer seiner körperlichen Selbstschöpfung als verwahrloster Ost- oder erfolgreicher Westmann ist und diese Metamorphose, metonymisch verschoben auf seine Wohnung als „letztes Rückzugsgebiet“77 und „zweite Haut“, auch kommentieren kann.78 Jirgls Figurenkonstellation zweier komplementärer Brüder – der eine geht in den Westen, der andere geht zur Stasi –, die sich in der Erzählkonstruktion als wechselseitige Rekonstruktion der Biographie des je anderen widerspiegelt, bewirkt eine kontrastierende Darstellung der jeweiligen Anpassungs- und Deformierungsprozesse; also zum einen ein überlegenes Bewusstsein für die Konstruktion von Körpern qua historischer Erfahrung und deren Abbildung im Diskurs und andererseits ein Erleiden dieser Fremdbestimmtheit als individuelle Traumatisierung oder Somatisierung. Als deren Leitmotiv firmiert die brutale Verhaftung der Mutter unter den Augen der Söhne im Kleinkindalter; im Erleben und Erinnern resp. Imaginieren dieser Urszene verbinden sich synästhetisch der Schmerzensschrei der Mutter, das Bild ihres geöffneten Mundes und der Körpergeruch der Schergen aus „talgigem Geruch […], erkalteter Hitze & Schweiß“,79 eine kleinbürgerliche Miefigkeit, die „von jeher über diesem Land gestanden hat“.80 Als mémoire involontaire (nur eben miefig-katastrophisch gewendet) stellt sich denn auch, über die Körpersinne vermittelt, die traumatische Erinnerung ein und verschmilzt mit späteren Schmerz- und Leidenserfahrungen. Diese werden, selbst wo sie alltäglich und austauschbar scheinen wie das kindliche Leiden unter zu engen Sonntagsschuhen,81 über das historische Trauma politisiert und im situativen Kontext eines Kirchenbesuchs ikonographisch mit dem Passionsweg Christi überblendet: „SEine Finger im Schmerz zur Kralle verkrümmt, SEin Mund ein gezackter schwarzer Abgrund“.82 Die christologische Überhöhung umfasst dabei sowohl das (vom Sohn) betrachtete Leiden der Mutter (Mund-Motiv) als auch den „ste-
76 77 78 79 80 81 82
Ebd., S. 103. Ebd., S. 11. Vgl. ebd., S. 11: Tier, S. 95: Höhle, S. 107: Käfig. Reinhard Jirgl: Abschied von den Feinden. München 1995, S. 171. Ebd., S. 176. Vgl. ebd., S. 170ff. Vgl. ebd., S. 171.
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chenden Schmerz in [s]einen Füßen“,83 der schließlich in einem „großen dunkelroten Blutfleck“ auch visuell dem Christusmal analogisiert wird (ähnlich übrigens wie in Dieter Fortes Titel: [→] Der Junge mit den blutigen Schuhen [1995]84). Insofern beschränkt sich Jirgl nicht auf eine Körperdarstellung, sondern führt das Erleben deutscher Geschichte in (Ost-)Deutschland als Leiberfahrung vor, allerdings als Empfinden einer niederdrückenden Last, der Last seines eigenen Körpers & Allem, was ihn diesen Körper ausfüllen & empfinden ließ […], so hätte er die Last von sich=selber auf=sich gespürt & die Ratlosigkeit, die Verzweiflung trotz seiner über dreißig Jahre inzwischen aus der Unfähigkeit, mit dieser Last des eigenen Körpers umzugehen & sie weiterzutragen od gar als Lust daraus gewinnen zu können.85
Diese Reflexionsebene eröffnet gleichsam ein Meta-Leiden am eigenen So-Geworden-Sein, während Figuren wie die Adoptiveltern das Trauma von Flucht und Vertreibung unbewusst in einen als (kriegs-)generationstypisch gezeichneten Habitus inkarniert haben. Die Dopplungsfigur (der beiden Brüder/Erzähler) nutzt nicht nur Jirgl, sondern sie verwenden unter anderen motivischen und genrespezifischen Vorzeichen auch Grass und Jelinek. Sie ermöglicht im Zusammenhang der Körperthematik eine komplementäre Innen- und Außenperspektive, der zumindest bei Jirgl und Grass auch eine Körper-Leib-Gegenüberstellung entspricht. Die Figurendopplung bei Jirgl und Grass, wenn Fonty und sein „Tagundnachschatten“ Hoftaller als unzertrennliche Komplemente auftreten, bleibt in dieser Hinsicht im Rahmen realistischen Erzählens, das Fragen der Identität zwar anschneidet, aber nicht performativ vorführt. Das aber tut Jelinek: Bei ihr ist die Vervielfachung der Hauptfiguren nicht nur dysfunktional im Hinblick auf lineares Erzählen und traditionelle Identitätsmimesis, sondern sie ist auch insofern theoretisch auf der Höhe der avancierten, z. T. feministisch grundierten Embodiment-Forschung, die mit Blick auf Konzepte des Cyborg, des Tricksters und des Hybriden, zu dem Schluss kommt, „dass es ‚den Körper‘ nicht (mehr) gibt, insbesondere nicht als unveränderlich raumzeitlich Gegebenes“.86
83 Vgl. ebd., S. 174. 84 Dieter Forte: Der Junge mit den blutigen Schuhen. Frankfurt/M. 1995. 85 Vgl. Jirgl: Abschied von den Feinden, S. 182. 86 Elahe Haschemi Yekani, Arbe Klawitter, Christiane König: Aufführen. In: Netzwerk Körper (Hg.): What Can a Body Do? Praktiken des Körpers in den Kulturwissenschaften. Frankfurt/M., New York 2012, S. 30–46, hier S. 43.
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Lesbarkeit in der Physiognomik Vieles, was die Romane als körperlichen Ausdruck historischer Umbruchserfahrung zeigen, entspricht Leitkonzepten der Foucault’schen Theorie und ist strukturell einem, zwar zivilisatorisch-kulturell codierten, letztlich aber semiotisch-analogisch gedachten Konzept von (kollektiver) Physiognomik verhaftet, das von einem körperlichen Außen auf ein vorgängiges Inneres oder Historisches, jedenfalls Anderes rückgeschlossen werden kann. Hettche begreift die Metapher der ‚Einschreibung‘ in den Körper ja sogar wörtlich, was zumindest heute, nach gefühlt 200 Dissertationen und Forschungskollegs zum Thema, nahezu peinlich wirkt. Das mag erklären, warum man Krachts politisch-ideologischer PrimitivPhysiognomik nur zu gerne Ironie unterstellt: Dieser Rentner […] sah sicher früher auch nicht aus wie ein Nazi. Und der Taxifahrer […] auch nicht. Dabei sieht man es ihm im Gesicht an, daß er einmal ein KZ-Aufseher gewesen ist oder so ein Frontschwein, der die Kameraden vors Kriegsgericht gebracht hat, wenn sie abends über den blöden Hitler Witze gemacht haben, oder daß er irgendein Beamter war, in einer hölzernen Schreibstube in Mährisch-Ostrau, der durch seine Unterschrift an einem Frühjahrsmorgen siebzehn Partisanen, ihre Frauen und ihre Kinder liquidieren ließ.87
Und auch Brussigs Übersteigerung der Körpersprache in den Bereich groteskhypertropher Sexualmetaphorik mag sich als Flucht in die Widerständigkeit des Körpers, nicht nur vor den Diskursen der Moderne, sondern auch vor ihren Theorien erklären lassen. Zudem kontrastiert die ungewollte, blinde physische Potenz resp. Erektion des jungen Helden, die zum Einsturz der Mauer führt, mit der politisch-moralischen Indolenz seines ‚Volkes‘: „Sehen Sie sich die Ostdeutschen an, vor und nach dem Fall der Mauer. Vorher passiv – nachher passiv – wie sollen die die Mauer umgeschmissen haben?“88 Da schlägt der Körper logischargumentativ wie moralisch der offiziellen Geschichtsschreibung ein Schnippchen, ganz wie bei Jelinek die Revenants der verleugnet-verdrängten NS-Opfer und der institutionalisierten Erinnerungsrhetorik in ihrer physisch-materialen Wiederkehr in den Lebensraum.
87 Kracht: Faserland, S. 94. 88 Thomas Brussig: Helden wie wir. Berlin 1995, S. 319f.
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Der alternde Körper als Agent und Medium der Historie und Symptom historischer Veränderung In Günter Grass’ Fontane- und DDR-Roman Ein weites Feld89 koinzidieren die historischen Ereignisse der Jahre 1989/1990 mit den Krankheiten und körperlichen Missstimmungen des siebzigjährigen Protagonisten Theo Wuttke, genannt Fonty. Diese vom Roman als symptomatisch gedeutete Koinzidenz kann sich gleich zweifach auf realhistorische Vorbilder berufen: zum einen beim historischen Fontane, dessen „wahrscheinlich psychisch bedingter Schwächezustand“ und psycho-physische Krankheitsgeschichte90 ebenfalls in historisch bewegten Zeiten angesiedelt sind – im Jahre 1892 wurde Fontane von einer hochgradigen nervösen Hinfälligkeit heimgesucht, über deren Ursache man nur spekulieren kann; es führte zu einer Art Heilung, dass der Arzt ihm riet, seine Kindheitserinnerungen niederzuschreiben –; zum anderen mag man als realhistorisches Vorbild den Autor Grass erkennen, der, wie man seinem Tagebuch aus der fraglichen Zeit entnehmen kann, die Wendejahre auch als körperlich und psychisch missbehaglich empfand. Fontys Erkrankung wird anscheinend dadurch verursacht, dass er Deutschland und dem Bewacher Hoftaller nicht entfliehen kann – grosso modo also Leiden an Deutschland. Heilung bringt die französische Enkelin. Fontys individueller Körper ist allerdings nicht nur Instrument der Kommentierung deutscher Geschichte – etwa durch Flatulenz91 oder „Alters bedingte Müdigkeit“.92 Er analogisiert sie auch in seiner (unfreiwilligen) dialektischen Bindung an den ihn bespitzelnden Hoftaller: Beim Spaziergang am 17. Dezember 1989 durch die nunmehr „ungeteilte Stadt“ erscheinen beide, „lang und schmal neben breit und kurz“,93 „miteinander verwachsen und von einer Gestalt“,94 und ihr „Umriss verschmolz zu einer immer größer werdenden Einheit“.95 Dass die Wahrnehmung als Einheit mit einer angstbesetzten Vorstellung des Identitätsverlusts für den Einzelnen einhergeht, illustriert ein Fiebertraum Fontys, in dem er fürchtet, er und Hoftaller hätten ihre (künstlichen) Gebisse vertauscht und
89 Günter Grass: Ein weites Feld. Göttingen 1995 [zit. n. der Ausgabe: München 1997]. 90 Über psychisch bedingte Erkrankung vgl. ebd., Kapitel 33 (Schluss) und Kapitel 34 (dort ist ebenfalls der Schluss besonders wichtig). 91 Vgl. ebd., S. 111. 92 Ebd., S. 39. 93 Ebd., S. 12. 94 Ebd., S. 13. 95 Ebd., S. 12.
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diese hätten sogar gepasst: Prothesenexistenz, Todes- und Impotenzpräsenz, Ekel und Austauschbarkeit.96 Die bei Grass in der Referenz auf den alternden Körper authentifizierend wirkenden Elemente der romanhaften Autofiktion werden als performative Faktoren noch stärker, wo, wie im Tagebuch, die narrative Stimme an einen vorgeblich realen Körper gebunden scheint, aus dem sie Autorität und Glaubwürdigkeit bezieht. Das illustriert Rühmkorfs TABU I, das in überreichem Maße autobiographisches Körperempfinden der Defizienz, des Schmerzes, der Impotenz und des Ekels thematisiert und wiederholt als Reaktion auf die historischen Ereignisse oder Wechselwirkung mit diesen darstellt. Angesichts einer Vereiterung des Kiefers stellt das Ich die alte Schicksalsfrage, […] ob das wirklich nur organische Verrottungsprozesse sind, die man hinnehmen muss, oder ob es, mit Schiller, der ‚Geist ist, der sich den Körper schafft‘. Im letzteren Fall ein im Theaterloch des Mundes allegorisch in Szene gesetztes Lehrstück. Deutschland, eine Räuberpistole, Deutschland, ein Lügenmärchen, aber der Gesellschaftskritik von gestern fallen allmählich die Zähne aus.97
Eine sowohl historio-somatische, als auch psycho-somatische Anamnese entwirft Rühmkorf für seine Magersucht. 1948, im Alter von 18 Jahren bei ihm ausgebrochen, sei sie „als Protest gegenüber der ‚Währungsreform‘ und der neuen Wohlstandsrepublik“ zu verstehen; später aber ersetzt er „die soziale Indikation durch tiefenpsychologische Betrachtungen“ wie die Verweigerung der Mannbarkeit.98 Der Körper fungiert als Seismograph und Symptom psychischer Befindlichkeit, die deutsche Wiedervereinigung als Auslöser eines grundsätzlichen Weltekels: Unangenehme Telefonanrufe verursachen „Aversionsschwellungen“ im
96 Vgl. ebd., S. 709f. Die überdeterminierte Bildhaftigkeit der falschen, vertauschten, passenden Zähne lässt die Traumszene gleichwohl rätselhaft erscheinen. 97 Rühmkorf: TABU I, S. 272. 98 Rühmkorf sitzt offenbar vor dem Fernseher: „Vorlesung im Jenaer Unitrichter über Magersucht, wieder in bekannter Einseitigkeit als Jungmädchenleiden klassifiziert […]. Interessant für das fernsehende Subjekt als mitbetroffenes Objekt [Rühmkorf meint sich selbst, A.P.], daß der Ausbruch der Krankheit bei ihm (1948) in das 18. Lebensjahr fiel und von sowohl unbegreiflichen als fast noch schwieriger begreiflich zu machenden Todesängsten begleitet war. Auch in meiner Gießener Rede, wo ich statt über den Doktor lieber einmal über den Patienten hatte sprechen wollen, schicklicherweise nur von ‚Jugendkrankheiten‘ geredet, als ob die Leiden inzwischen verschmerzt und die Gespenster auf Nimmerwiedersehen verflogen wären. […] Während ich die Neurose zunächst als soziales Leiden aufzuklären versucht hatte und die fatalen Eß- und Verdauungsstörungen als Protestreaktion gegenüber der ‚Währungsreform‘ und der neuen Wohlstandsrepublik, versuchte ich mich später daran, die soziale Indikation durch tiefenpsychologische Betrachtungen zu ergänzen. Ein Mutterkind […].“ Ebd., S. 248f.
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Mund und sichtbare Eiterkuppen, woraus der Autor auf „tiefere Vergiftungsgründe“ schließt: Weltekel, der sich auf den Punkt gebracht, auch als Ekel an dem neuen Deutschland diagnostizieren läßt. Jeder Schritt aus mir raus und gar aus dem Haus in die Öffentlichkeit als Bewegung in Feindesland empfunden. / Hier möchte ich nicht zu Fall kommen / liegenbleiben / in Verwesung übergehen / hier nicht!99
Das Krankheitsleiden ist eine Form übersteigerter Leiblichkeit; in ihr erkennt Rühmkorf sich mit Lichtenberg als „pathologischer Egoist“: ‚Das Schlimmste, daß ich in meiner Krankheit gar die Dinge nicht mehr denke und fühle ohne mich hauptsächlich mit zu fühlen. Ich bin mir in allem des Leidens bewußt, alles wird subjektiv bei mir, und zwar bezieht sich alles auf meine Empfindlichkeit und Krankheit. Ich sehe die ganze Welt als eine Maschine an, die da ist, um mich meine Krankheit und mein Leiden auf alle mögliche Weise fühlen zu machen. Ein pathologischer Egoist.‘100
Pointiert: Die deutsche Vereinigung ist nicht die Ursache des Leidens, vielmehr dient sie dazu, latentes Leiden manifest zu machen. Als Erfahrung von Leiblichkeit im Sinne der eingangs angeführten Kriterien von Permanenz, Selbstempfindung, Affektivität und Kinästhese sind die krankheits- und altersassoziierten Leidenserfahrungen das in der deutschsprachigen Erzählliteratur 1995 dominante Sujet. In ihnen wird nur ausnahms- und ansatzweise Körpererfahrung auch als Gender-Erfahrung reflektiert (bei Rühmkorf die Magersucht als ‚Mädchenkrankheit‘). Ansonsten findet sich keine von Geisenhanslüke101 und anderen für die Lyrik von Autorinnen wie Draesner, Köhler oder Schmidt diagnostizierte gender-spezifische Form der Körper- oder Sprachreflexion. Deren Auslagerung aus dem leser- und marktorientierten Literaturbetrieb in den randständigen Bereich der Lyrik, hier unter den Vorzeichen von Sprachreflexion und Selbstreflexivität zusätzlich marginalisiert und zudem unter dem Rubrum weiblicher Autorschaft als gender-bezogene Partial-Thematik markiert,
99 Ebd., S. 282. 100 Rühmkorf liest ein Buch über Lichtenberg und findet ein Lichtenberg-Zitat, das er auf sich bezieht, das aber auch allgemein Gültigkeit zu haben scheint. Es lautet vollständig: „Das Schlimmste, daß ich in meiner Krankheit gar die Dinge nicht mehr denke und fühle ohne mich hauptsächlich mitzufühlen. Ich bin mir in allem des Leidens bewußt, alles wird subjektiv bei mir, und zwar bezieht sich alles auf meine Empfindlichkeit und Krankheit. Ich sehe die ganze Welt als eine Maschine an, die da ist, um mich meine Krankheit und mein Leiden auf alle mögliche Weise fühlen zu machen. Ein pathologischer Egoist“ (ebd., S. 310) [Hervorh. oben A.P.]. 101 Bei Draesner etwa findet Geisenhanslüke eine „spezifisch weibliche Form der Sprachreflexion“ verbunden mit dem Thema des menschlichen Körpers im „Spannungsfeld von Wissenschaft und Erotik“ Geisenhanslüke im Werkartikel zu [→] gedächtnisschleifen im vorliegenden Band.
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entkoppelt ‚Körpererfahrung‘ und ihre Thematisierung sowohl vom plotorientierten Erzählen als auch von einem sprachlich integrierbaren Erfahrungsraum von Historie. Zugespitzt ausgedrückt: Wo postpubertär und präpotent phallisch renommiert wird (Helden wie wir, Nox), wird der männliche Körper, in exemplarischer Weise, zum ebenso grotesken wie reflexionsfreien Helden der Geschichte, wo diese sich aber in Körper einschreibt, wird das nicht als leibliche Erfahrung dargestellt, sondern als körperliche Stigmatisierung (in der ‚Wunde‘). Die frauenlose Männerkörperwelt (vgl. auch Aversas Urteil über Brussigs [→] Helden wie wir als Abschied von den Müttern / der mütterlichen Autorität102) bleibt selbst in der Imagination des Körperlichen entweder dem Stereotyp verhaftet ([→] Abschied von den Feinden von Reinhard Jirgl) und/oder ätherisch: Der namenlose Faserland-Erzähler imaginiert eine Zukunft als Familienvater, an der Seite der Lynch-Film-Ikone Isabella Rossellini, deren Körper, ikonographisch von aller Kreatürlichkeit erlöst, eine kosmetische Fiktion von Chanel darstellt, um mit ihr nachts bei geöffneter Schlafzimmertür das „gleichmäßige Atmen“ der gemeinsamen Kinder zu hören. Äther- und Hauch-Metaphorik verdeutlichen einmal mehr, dass solche Kinder nicht körperlicher Zeugungs-, sondern geistiger Schöpfungskraft entspringen.
Als Fazit: sieben Thesen 1. Das vermehrte Auftreten von Körpern in der Literatur des Jahres 1995 heißt nicht, dass die literarische Ästhetik sich auf ihre Wurzeln als Aisthesis, als sinnliche Erfahrung, rückbesinnt, weder innerliterarisch auf der Figurenebene noch rezeptionsästhetisch in der Lektüreerfahrung. Vielmehr sind zahlreiche Texte mit motivischem oder rhetorisch-topologischem Schwerpunkt auf Körpern von einem besonders abstrakten, wenig anschaulichen Charakter, indem sie Körper-Diskurs mit Entkörperlichung der Lektüre verbinden
102 Dies auch etwa in der Auseinandersetzung mit Christa Wolf, die Brussig in seinem Roman exemplarisch vorführt und in der Körper- und Sexualitätsgroteske karikiert, und die vom Publikum und von der Forschung als Entmachtung einer „weiblichen Literaturkönigin“ gelesen wurde, vgl. Anna K. Kuhn: ‚Eine Königin köpfen ist effektiver als einen König köpfen‘: Gender Politics of the Christa Wolf Controversy. In: Elizabeth Boa, Janet Wharton (Hg.): Women and the Wende. Social Effects and Cultural Reflections of the German Unification Process. Amsterdam, Atlanta 1994, S. 200–215; u. dazu Susanne Ledanff: Die Suche nach dem „Wenderoman“ – zu einigen Aspekten der literarischen Reaktionen auf Mauerfall und deutsche Einheit in den Jahren 1995 und 1996 (unter: http://www2.dickinson.edu/glossen/heft2/wende.html; Abruf: 13.9.2013).
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durch Übertreibung/Groteske (Brussig, Jelinek), durch ‚Vergeistigung‘ und Abstraktion (Beyer), durch hypertrophe und katachretische Metaphorisierung (Hettche).
2. Die Verbindung von Körperlichkeit mit den politisch-historischen Ereignissen von Wende und Wiedervereinigung fokussiert sich 1995 auf die Themen Schmerz, Zerstörung und Monstrosität. Zentrale Metapher ist die ‚Wunde‘, ihr hauptsächlicher Präsentationsmodus die Demonstration, ihre wesentliche intermediale Codierung ist visuell und die damit verbundene implizite Rezeptionsanweisung gilt ihrem (imaginären) Betrachten – nicht ihrem (Nach-)Erleben. Insofern ist die ‚Wunde‘ funktional eher Stigma als Verletzung, ihre Funktion eher deiktisch als expressiv. Die Narrationsstruktur ist auch als Gender-Struktur lesbar: Die Frau resp. das Land sind / verkörpern die Wunde – aber die Männer leiden. Hierin, wie in der Unschulds- und Sexualmetaphorik, zeigt sich eine Parallele zur literarischen Aufarbeitung der Massenvergewaltigungen im Jahr 1945: Die Vergewaltigung der Frauen wird dominant als männliche Schmach begriffen.103 Das Leiden der Männer unter ihrer Wehrlosigkeit, der eigenen Unfähigkeit, Frau / Land zu verteidigen und hilflose Zeugen der Schändung / Übernahme zu sein, wiederholt sich unter den Vorzeichen der Wiedervereinigung, klingt z. B. auch in Volker Brauns „[…] mein Land geht in den Westen“104 an. 3. Im Jahr 1995 koinzidiert die „Wiederkehr des Körpers“ in die Schöne Literatur mit einer Formierung der interdisziplinären Körperforschung im deutschsprachigen Raum. Während die Forschung sich an erst dichotomisch, dann komplementär gedachten Konzepten von Essentialismus versus Konstruktivismus abkämpft, organisiert die Literatur den Gegensatz als gegenläufiges Nebeneinander von Darstellungs- und Handlungsebenen: Auf der innerfiktionalen Figurenebene herrscht Essentialismus vor, der Körper wird als ‚authentisch‘ und unhintergehbar erlebt, er konstituiert die Identität der Person, z. T. auch als krisenhaft, und erscheint, wo er unversehrt ist, als prädiskursive Gewissheit. Seine Zurichtung durch herrschende Systeme entspricht einer Versehrung, die die Figuren erdulden oder masochistisch herbeiführen (Hettche, Jelinek). Von den Erzählinstanzen indes (egal ob personal oder, selten, auktorial) werden Körper als kulturell überformte Konstruktion spezifischer und somit aus
103 Vgl. dazu Alexandra Pontzen: Vergewaltigung als historische Krisenerfahrung in den autobiographischen Texten der Söhne und Enkel (Grass, Treichel, De Bruyn, Hein, Grünbein). In: Heinz-Peter Preußer, Helmut Schmitz (Hg.): Autobiographie und historische Krisenerfahrung. Heidelberg 2010 (= Jahrbuch Literatur und Politik 5), S. 207–222. 104 Volker Braun: Das Eigentum (erstmals publiziert in: Neues Deutschland [4./5.8.1990], nachgedruckt in: Die Zeit [10.8.1990]).
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tauschbarer ‚Identitäten‘ diskursiviert, die ihrerseits Zeichenfunktion haben und von Erzählinstanz und Rezipient ‚gelesen‘ werden können. Sie haben zuverlässigen Symptomcharakter und funktionieren nach Mechanismen individueller Psycho-Somatisierung resp. kollektiver Polit-Traumatisierung. Diese Übersetzungsund Veranschaulichungstechniken und die ihnen unterlegten analogischen Konzepte (Seele/Körper; Individual- und Kollektivkörper usw.) werden zum Teil ironisiert: als ‚naive‘ Physiognomik linker political correctness (Kracht) oder als überkommener Idealismus („der Geist schafft sich seinen Körper“, Rühmkorf), zum Teil aber auch im Sinne einer aufklärerisch-didaktischen Aussageabsicht instrumentalisiert (Beyer), autofiktional inszeniert (Grass) oder als politisch säkularisierter christologischer Stigmatisierungsdiskurs (Jirgl, Forte) überhöht. 4. Empfindung der eigenen Körperlichkeit bedeutet Last, nicht Lust (Jirgl). Selbst wo, wie bei Schlink, mit halbwegs erfüllter Sexualität verbunden, hat Lustgefühl keinen eigenen Wert, sondern wird figurenimmanent entweder an Schmerz- oder Schamerfahrung gekoppelt (Hettche, Jelinek, Brussig) oder nachträglich moralisch überlagert und strukturell einem übergeordneten ethisch-moralischen Schuld-Diskurs untergeordnet (Schlink). 5. Nicht am schönsten, aber am sichtbarsten leidet der männliche Körper oder stellt seine ‚Wunde‘ (in der Nachfolge von Joseph Beuys, Heiner Müller und später dann Schlingensief) aus: Motivgeschichtlich käme das einem gender-crossing hin zum ‚Weiblichen‘ gleich, das ja keine Wunde trägt, sondern ‚Wunde ist‘. Das Demonstrative der männlichen Wunde, die aber anders als die weibliche nicht als defizitär verborgen werden muss, sondern vorgezeigt wird, bleibt aber in der Tradition männlichen heroischen Märtyrertums – die Wunde kennzeichnet den Krieger, nicht das Opfer. 6. Ungeachtet der Körperthematik haben wenige Texte die performative Qualität, historische Erfahrung als individuelle oder kollektive psycho-physische Erfahrung von Leiblichkeit vorzuführen und nachvollziehbar zu machen. Am ehesten gelingt das im (auto-)biographischen und autofiktionalen Altmännerdiskurs, der mit der Stimme den Leib evoziert (Grass, Rühmkorf, Schädlich). 7. Erzählmodi der Groteske, des Surrealen, fantastische Überblendungen, dezidiert a-mimetisches, nicht-realistisches Erzählen und offenbare mehrschichtige Intertextualität verhindern eine emphatische Rezeptionshaltung. Lektüre als körperliche Erfahrung konzentriert sich vielmehr auf affektentlastende oder -ableitende Reflexe wie Lachen, Ekel, Schrecken oder wird dominiert von semiotischen Dekodierungsprozessen, die als Fiktionalitätsstörungen wirksam sind.
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Maren Jäger
Die deutschsprachige Lyrik im Jahr 1995 Historische Ereignisse wie der Fall der Berliner Mauer und die daran anschließenden Umwälzungen auf der Nahtstelle zwischen Ost und West sind von besonderer Strahlkraft für eine Historiographie, die Abgrenzungsereignisse oder „Epochenschwellen“ (H. Blumenberg)1 auszumachen sucht, um Orientierung zu ermöglichen und den Strom der Geschichte portionier- und handhabbar zu machen. Als politischer Zäsur kommt der Wiedervereinigung der zwei deutschen Teilstaaten unzweifelhaft eine herausragende Bedeutung zu, welche die Festschreibung des Jahres 1989 als Epochenwende in der Historiographie rechtfertigt: „Das Ende des Ost-West-Konflikts, die Auflösung des Warschauer Paktes und die deutsche Vereinigung lassen die These vom Ende der Nachkriegszeit plausibel erscheinen.“2 Für das (Teil-)System der Literatur, das im Hinblick auf seine Periodisierung seit jeher Orientierung an historischen Zäsuren gesucht und auch mit einigem Recht gefunden hat (Literatur ‚des Vormärz‘, ‚der Weimarer Republik‘, ‚nach 45‘ usw.), sind – ungeachtet der „Dominanz des Politischen“3 im öffentlichen Diskurs nach derartigen Großereignissen – Ausmaß und Wirkung des mit dem ‚Wendejahr 1989’ einhergehenden Paradigmenwechsels indes fraglich. Begreift man eine Epoche im Sinne des Reallexikons als „Teil-Zeitraum der Literaturgeschichte, dessen Gemeinsamkeiten ihn von den angrenzenden TeilZeiträumen unterscheiden“,4 so scheint es gerade um jene ‚unterscheidenden Gemeinsamkeiten‘, die eine Annahme des Wendejahres als Abgrenzungsereignis für die Literaturgeschichtsschreibung legitimieren, unmittelbar nach 1989 eher schlecht bestellt. Zwar korrespondierte mit der politischen Zäsur auch eine folgenschwere kulturelle, insofern als die Vereinigung zweier deutscher Teilstaaten auch die (teils sehr komplexe) ‚Vereinigung‘ zweier deutscher Kultur- und damit auch Literaturbetriebe bedeutete,5 aber von einer tiefgreifenden Kehrtwen
1 Hans Blumenberg: Aspekte der Epochenschwelle. Cusaner und Nolaner. Erw. u. überarb. Neuausg. Frankfurt/M. 1976. 2 Hermann Korte: Deutschsprachige Lyrik seit 1945. 2. Aufl. Stuttgart 2004, S. 245 (vgl. insgesamt Kap. 6: „Die neunziger Jahre: Neue Produktivität“, S. 245–293). 3 Ebd. 4 Michael Titzmann: Art. „Epoche“. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Hg. v. Klaus Weimar u.a. Bd. I. Berlin, New York 1997, S. 476–480, hier S. 476. 5 Kortes zugespitzte These, dass der „Literaturbetrieb der DDR […] zu existieren“ aufhörte (Korte: Deutschsprachige Lyrik seit 1945, S. 245), bedarf zumindest einer Differenzierung, da viele seiner Institutionen sich nicht vaporisierten, sondern zum Teil in solchen der alten BRD aufgingen oder komplexere Vereinigungsgeschichten durchliefen, wie der Reclam- oder der Aufbau-Verlag, oder
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de, einem radikalen Umbruch kann – hinsichtlich der Lyrik – keine Rede sein, wie Hermann Korte feststellt: Es gibt viele Argumente, die gegen das Jahr 1990 als ein epochales Zäsurdatum in der Geschichte der Lyrik sprechen. So wie das Jahr 1945 seine markante Stellung im Kalender des 20. Jahrhunderts […] erhielt, ohne gleich einen veränderten lyrischen Ton zu evozieren, bildete das Jahr 1990 einen politischen Schlussstrich mit erheblichen gesellschaftlichen Konsequenzen, stiftete aber weder in West- noch in Ostdeutschland eine neue kulturelle Identität.6
Darüber, dass das Ende des DDR-Literatur- und Kulturbetriebs 1990 „nur das Ende des Endes“7 bedeutete, herrscht in der Forschung weitgehend Einigkeit.8 Längst hatte das System Glaubwürdigkeit und Autorität eingebüßt,9 sich ein Teil seiner einstigen lyrischen Galionsfiguren dem Westen zugewandt und – sofern man sich nicht ohnehin dem 1976 auf Biermanns Ausbürgerung folgenden Exodus angeschlossen hatte – in beiden deutschen Teilstaaten oder ausschließlich in Westverlagen veröffentlicht. Die Reputation der Prenzlauer Berg-Szene mit dem Druckhaus Galrev litt unter den Enthüllungen um die IM-Tätigkeiten einiger Protagonisten (Sascha Anderson, Rainer Schedlinski). Lyrik in der DDR „als ‚soziale Größe‘“ – diese Hoffnung hatte sich bereits in den 1970er Jahren zerschlagen; „jetzt konnte sie diese Rolle allenfalls noch in Nischen und Winkeln, jedenfalls aber nicht mehr öffentlich spielen.“10 Der euphorische Ton, in dem Elm in Lyrik der neunziger Jahre eine „neue Aktualität der Lyrik“ proklamiert, ist vermutlich einer movere- und persuadereRhetorik geschuldet, wie sie die Einleitung einer Anthologie der Gedichte einer Dekade zu verlangen scheint.11 Betrachtet man das Feld der Lyrik genauer, so relativiert sich angesichts der empirischen Befunde die Annahme eines um das Wendejahr manifest werdenden Paradigmenwechsels. Erst mit Verspätung werden
sich auch über die Wende hinaus behaupteten, etwa die Zeitschrift Sinn und Form; vgl. hierzu den Beitrag von Matthias Beilein „Wendejahre und Digitalisierung: Der Literaturbetrieb im Jahr 1995“ in diesem Band. 6 Korte: Deutschsprachige Lyrik seit 1945, S. 245f. 7 Ebd, S. 246. 8 Volker Wehdeking: Die deutsche Einheit und die Schriftsteller. Literarische Verarbeitung der Wende seit 1989. Stuttgart u.a. 1995. 9 Vgl. Wolfgang Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR. 2. Aufl. Leipzig 1997, S. 436. 10 Wolfgang Emmerich: Deutsche Demokratische Republik. In: Walter Hinderer (Hg.): Geschichte der deutschen Lyrik vom Mittelalter bis zur Gegenwart. 2., erw. Aufl. Würzburg 2001, S. 576– 604, hier S. 599. 11 Theo Elm: Einleitung. In: T. E. (Hg.): Lyrik der neunziger Jahre. Stuttgart 2000, S. 15–35, hier S. 15.
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in den 1990er Jahren Veränderungen manifest, die noch das Erscheinungsbild der Lyrik des 21. Jahrhunderts prägen – und deren Ursachen weniger in der politischen und kulturellen Zäsur, sondern vielmehr in einem Generationenwechsel und systematischen (literaturinternen wie -externen) Verschiebungen zu finden sind.12 Michael Braun, einer der versiertesten Kenner der Lyrik der letzten Jahrzehnte und Herausgeber der wichtigsten Anthologie zur Lyrik der 1990er Jahre,13 bezweifelt die lyrische ‚Wende‘. Im Gegensatz zum Vorgänger-Projekt, der Gedichtsammlung Punktzeit. Lyrik der achtziger Jahre, das noch vom „Pathos eines wegweisenden, zukunftsgerichteten Gedicht-Entwurfs gegen eine […] ‚lyrische Restauration‘“ durchdrungen war, lehre Das verlorene Alphabet die
Skepsis gegenüber dem angeblichen Fortschritt in der lyrischen Materialbeherrschung. Am Ende des Jahrhunderts lauern keine poetischen Revolutionen mehr auf ihren triumphalen Auftritt; es dominieren die Reprisen, Rekonstruktionen, Übermalungen und kunstvollen Fortschreibungen. […] Die 90er Jahre in der Lyrik sind ein Jahrzehnt der Kontinuitäten und Ausdifferenzierungen, nicht der Brüche und Nullansagen […].14
Nichtsdestoweniger kommt Braun 1998 nicht umhin, „ganz kleine Verschiebungen“15 als Spezifikum der 1990er Jahre zu konstatieren, Verschiebungen indes, so lässt sich 15 Jahre ex post festhalten, die von erheblicher Tragweite für die Lyrik der kommenden Jahrzehnte werden sollten. Genau diese ‚kleinen Verschiebungen‘ gilt es daher in diesem Beitrag innerhalb der Lyrik der 1990er Jahre nachzuzeichnen, als deren Kulminationspunkt (der These des vorliegenden Bandes folgend) exemplarisch das Jahr 1995 gesetzt werden soll – wobei einflussreiche Publikationen (Anthologien, Zeitschriften und wichtige Einzelveröffentlichungen) ebenso in den Blick genommen werden wie ‚betriebliche‘/Markt-/Öffentlichkeits-Phänomene, inner- wie außerliterarische Tendenzen, neue ‚Stimmen‘ und ‚Töne‘ ebenso wie Literaturpreise und Veranstaltungsformate, die sich vielleicht nicht zu einem radikalen Bruch aufaddieren lassen, jedoch das komplexe Erscheinungsbild der Lyrik im ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhundert nach
12 Vgl. Korte: Deutschsprachige Lyrik seit 1945, S. 256f.: „Die veränderten Konstellationen in der Lyrik der 90er Jahre waren wesentlich motiviert durch innerliterarische Prozesse, also kein Ergebnis der einschneidenden politischen Zäsuren innerhalb Deutschlands.“ 13 Michael Braun, Hans Thill (Hg.): Das verlorene Alphabet. Deutschsprachige Lyrik der neunziger Jahre. Heidelberg 1999. Das ein Jahr später erschienene ‚Konkurrenzunternehmen‘ zur Wunderhorn-Anthologie ist Theo Elm (Hg.): Lyrik der neunziger Jahre. Stuttgart 2000. 14 Michael Braun: Ganz kleine Verschiebungen. Statt einer Gebrauchsanweisung: Elf Fußnoten zum „verlorenen Alphabet“. In: M. B., Thill (Hg.): Das verlorene Alphabet, S. 205–212, hier S. 205. 15 Braun zitiert aus einem Interview mit Ernst Jandl, in dem es heißt: „Ein Weniges ein wenig anders machen. Ganz kleine Verschiebungen.“ (http://www.poetenladen.de/lisa-fritsch-ernstjandl.htm; Abruf: 28.7.2015.)
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haltig prägen. Diese sollen im Folgenden unter neun in Leitthesenform gefassten Grundtendenzen ausgelotet und skizziert werden: 1 Die deutschsprachige Lyrik wird zunehmend marginalisiert. 2 Die deutschsprachige Lyrik wird vermehrt preiswürdig. 3 Die deutschsprachige Lyrik differenziert sich weiter aus. 4 Die deutschsprachige Lyrik re-theoretisiert sich. 5 Die deutschsprachige Lyrik wird streitlustig. 6 Die deutschsprachige Lyrik ‚globalisiert‘ sich. 7 Die deutschsprachige Lyrik archiviert und inventarisiert sich. 8 Die deutschsprachige Lyrik findet neue Formate und Milieus. 9 Die deutschsprachige Lyrik nimmt die Arbeit am (Sprach-)Körper auf.
Die deutschsprachige Gegenwartslyrik wird zunehmend marginalisiert Während sich die Aufmerksamkeit des Literaturbetriebs auf den Roman fokussierte – gemäß der postheroischen Annahme, dass historische Großereignisse allenfalls ‚erzählt‘ und nicht mehr ‚besungen‘ werden müssen –, konnte die zeitgenössische Lyrik gleichsam im Windschatten, weitgehend ungehemmt durch allzu hohe Erwartungen – und obendrein begünstigt durch ihre kurze Form und die Möglichkeiten der raschen Distribution von Gedichten in Zeitschriften und Jahrbüchern – schneller die Historie aufnehmen (oder ostentativ ignorieren), als das dem ‚großen Wenderoman‘ möglich war.16 Schon am „12/11/89“ hatte Grünbein in pathetischer Apostrophe gefordert, „Komm zu dir Gedicht, Berlins Mauer ist offen jetzt“,17 und 1991 Papenfuß seinen Abgesang auf „die lichtscheuen scheiche versunkener reiche“ veröffentlicht.18 Weitere ‚Wendegedichte‘ ließen nicht lang auf sich warten; sie erschienen rasch in Zeitungen, Zeitschriften und Gedichtbänden und sind etwa in Conradys Anthologie Von einem Land und vom andern (1993) versammelt;19 eine ‚lyrische Wende‘ brachten sie indes nicht mit sich.
16 Vgl. Walter Erhardt: Gedichte, 1989. Die deutsche Einheit und die Poesie. In: W. E., Dirk Niefanger (Hg.): Zwei Wendezeiten. Blicke auf die deutsche Literatur 1945 und 1989. Tübingen 1997, S. 141–165, hier S. 145. 17 Durs Grünbein: Schädelbasislektion. Frankfurt/M. 1991, S. 61. 18 Bert Papenfuß-Gorek: LED SAUDAUS. notdichtung. karrendichtung. Berlin 1991, S. 103. 19 Karl Otto Conrady (Hg.): Von einem Land und vom andern. Gedichte zur deutschen Wende 1989/1990. Frankfurt/M. 1993.
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Die relative Autonomie der deutschsprachigen Gegenwartslyrik von literarischen Trends wurde zudem begünstigt durch eine notorische Schräglage: Wenngleich die Lyrik, zumindest aus (rest-)bildungsbürgerlicher Perspektive, ihren Rang als Königsdisziplin der Dichtung bis ins 21. Jahrhundert retten mag, so hat die Aufmerksamkeit, die ihr der Literaturbetrieb zuteil werden lässt, doch in den letzten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts erheblich nachgelassen. Diese Tendenz der Marginalisierung ging einher mit einer Drosselung der Lyrik-Editionen und -Auflagen seitens der Verlage. Erzielten Lyrikbände von Benn, Bachmann oder Fried in den 1960er und 1970er Jahren noch Auflagenhöhen im fünf- oder gar sechsstelligen Bereich, so waren vergleichbare Erfolge bereits in den 1980er Jahren nur mehr Anthologien oder den mit aller Feuilletonmacht protegierten Lyrikbestsellern einer Ulla Hahn vorbehalten. Die Edition und Distribution von Gedichten wurde zunehmend eine Angelegenheit von kleinen und Kleinst-Verlagen (exemplarisch Urs Engeler in Basel oder Das Wunderhorn in Heidelberg), während die mittelgroßen und großen Verlagshäuser Lyrik ‚abbauten‘ oder sich eine erlesene Lyriksparte (als Traditionspflege und kalkuliertes Verlustunternehmen) ‚gönnten‘. Wenngleich ein Literaturpreis oder eine allfällige Feuilletonbesprechung die deutschsprachige Lyrik 1995 zeitweilig ins Rampenlicht rückte und ihr Zeitschriften eigene neue Rubriken einräumten,20 lässt sich nicht bestreiten, dass sie spätestens Ende der 1980er Jahre in West wie Ost eine ausgesprochene Nischenexistenz führte – und damit auch in ihren strukturellen Entwicklungen der Eigendynamik unterworfen war, die Nischen nicht selten innewohnen.
Die deutschsprachige Lyrik wird vermehrt preiswürdig Offiziell scheinen die 1990er Jahre auf den ersten Blick ein gutes Jahrzehnt für Lyrik(erInnen) zu sein. Wenn man allein den Büchnerpreis als Indiz nimmt, so wird der bedeutendste Literaturpreis im deutschen Sprachgebiet zwischen 1991 und 2000 nicht weniger als sechs AutorInnen (in den Jahren 1991, 1993, 1995, 1996, 1997, 2000) ausdrücklich (und gemäß den jeweiligen Urkundentexten an erster Stelle)21 für ihre Lyrik zugesprochen: Wolf Biermann (*1936; 1991), Peter 20 Im dritten Spr.i.t.Z.-Heft des Jahrgangs 33 (1995) wird die von Joachim Sartorius betreute Rubrik „Auf Tritt Die Poesie“ erstmals annonciert (vgl. Editorial. In: Spr.i.t.Z. 33/3 (1995), S. 243). 21 Siehe: http://www.deutscheakademie.de/de/auszeichnungen/georg-buechner-preis; Abruf: 28.7.2015).
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Rühmkorf (1929–2008; 1993), Durs Grünbein (*1962; 1995), Sarah Kirsch (1935– 2014; 1996), H. C. Artmann (1921–2000; 1997) und Volker Braun (*1939; 2000).22 Obendrein fällt auf, dass der Preis drei Jahre in Folge an Lyriker geht. Die Reihe beginnt mit Durs Grünbein – bei der Preisverleihung am 21.10.1995 ist er 33 Jahre jung –, dem der Laudator und langjährige Förderer Heiner Müller in seiner Rede „Portrait des Künstlers als junger Grenzhund“ den „Zufall einer Hochbegabung“23 attestiert – und dazu das Vermögen, historischer Erfahrung zu einer Form zu verhelfen, „die sich bislang eher als Verweigerung von Form artikuliert“ habe. Heiner Müller schließt mit der (indirekt formulierten) Prophezeiung, dass Grünbeins Gedichte ein halbes Jahrhundert überdauern werden: „Eine Frau sagte mir, nach der Lektüre eines Gedichts von Durs Grünbein: Das muß ich in fünfzig Jahren noch einmal lesen.“24 Der „geradezu märchenhafte[] Erfolg“25 Durs Grünbeins und seine rasante Kanonisierung auf der Bugwelle des Büchnerpreises scheinen Müllers Enkomion Recht zu geben. Kein Lyriker seiner Generation hat so früh und so raumgreifend Einzug in Anthologien (Conrady u.a.) und Curricula gehalten wie Durs Grünbein. Seibt konstatiert in der Literaturbeilage der FAZ, dass es seit „den Tagen des jungen Enzensberger, ja, vielleicht seit dem ersten Auftreten Hugo von Hofmannsthals in der deutschsprachigen Lyrik einen solchen alle Interessierten hinreißenden Götterliebling nicht mehr gegeben“ habe.26 Dabei war die Entscheidung
nicht unumstritten, und zwar nicht als literarisch-ästhetische Gratifikation; sondern als eine mit Kulturpolitik durchmischte, taktische Wahl: Einem mit Neugierde und Widerspruch, also – im besten Sinne – mit Aufmerksamkeit rechnenden Autor, dessen Texte noch nicht zum Werk verkrustet waren, wurde der trügerische Kanon-Nimbus des Arrivierten und Hochbedeutenden verliehen.27
22 Diese Tendenz setzte sich ins 21. Jahrhundert fort: 2001 erhält Friederike Mayröcker (*1924) den Büchner-Preis. 23 Dieses wie die folgenden Zitate entstammen der Laudatio Heiner Müllers auf Grünbein, „Porträt des Künstlers als junger Grenzhund“ (http://www.deutscheakademie.de/de/auszeichnungen/georg-buechner-preis/durs-gruenbein/laudatio; Abruf: 10.1.2015). 24 Von ungleich traurigerer Voraussicht indes waren Müllers sich daran anschließende lakonische Worte: „Ich wollte, ich könnte das.“ Kaum zwei Monate später – am 30. Dezember 1995 – starb Heiner Müller in Berlin. 25 Erhardt: Gedichte, 1989, S. 156. 26 Gustav Seibt: Mit besseren Nerven als jedes Tier. Das Neue kommt über Nacht: Der Dichter Durs Grünbein, der naturgeschichtliche Blick und der Berliner Weltalltag. In: FAZ (15.3.1994), Literaturbeilage, S. 1. 27 Hermann Korte: Zurückgekehrt in den Raum der Gedichte. Deutschsprachige Lyrik der neunziger Jahre. Mit einer Auswahlbibliographie. Münster 2004, S. 205.
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Angesichts dieser Akkumulation von Preisen drängt sich die Frage auf, ob Auszeichnungen,28 Stipendien u. dgl. nicht (wohlwollend gedeutet) eine Form von Ausgleichsökonomie bzw. ummantelte Subventionierung darstellen oder (ins Negative gewendet) das Feigenblatt vor dem schlechten Gewissen des Literaturbetriebs sind, das die großmaßstäbliche Vernachlässigung der Lyrik nur unzulänglich zu kaschieren und – zumindest für die Dauer der Feierstunden und der sich anschließenden Feuilletonaufmerksamkeit – vergessen zu machen trachtet. Der Peter-Huchel-Preis, der seit 1983 „für ein herausragendes lyrisches Werk des vergangenen Jahres“ verliehen wird, ist in diesem Sinne das institutionalisierte (und heute mit 10.000 Euro dotierte) Feigenblatt, hat der Preis doch in seinen Statuten verankert, „das Interesse der Öffentlichkeit auf die von den Medien oftmals marginalisierte lyrische Gattung lenken“ zu wollen.29 Diese hat es bitter nötig, stellen Preisgelder, Stipendien (neben Honoraren für Lesungen, s.u.) doch für diejenigen Teilnehmer am Literaturbetrieb eine Form der Existenzsicherung dar, die ihren Lebensunterhalt gattungsbedingt nicht über Verkaufszahlen und Verlagseinnahmen sichern können – oder wenigstens, wie DramatikerInnen und HörspielautorInnen, über eine ausgebaute Infrastruktur zur Distribution ihrer Produkte verfügen. Dabei vermag die Reihe der PreisträgerInnen ein wenig Auskunft über Tendenzen und Moden in der deutschsprachigen Lyrik zu geben. Noch bevor Durs Grünbein am 21.10.1995 der Büchner-Preis verliehen wird, erhält er im Frühjahr desselben Jahres den Peter Huchel-Preis. Mit seinen Vorgängern in den Jahren 1993 und 1994 (Sarah Kirsch für Erlkönigs Tochter, Jürgen Becker, *1932, für Foxtrott im Erfurter Stadion) und seinen Nachfolgern von 1996 bis 1999 (Gregor Laschen, *1941, für Jammerbugt-Notate; Thomas Kling, 1957– 2005, für morsch; Brigitte Oleschinski, *1955, für Your Passport is Not Guilty und Raoul Schrott, *1964, für Tropen) ist er der gefragteste Sänger in einem vielstimmigen Chor, der in der feuilletonkompatiblen Lyrik des Jahrzehnts tonangebend ist.
28 Und immerhin zwei Lyriker (zählt man Wolfgang Hilbig im Sommer 1995 hinzu, sind es sogar drei) halten die renommierten Frankfurter Poetikvorlesungen zwischen 1994 und 1996: Oskar Pastior („Das Unding an sich“, WS 1993/94) und Sarah Kirsch („Von Haupt- und Nebendrachen, Dichtern und Prosaschreibern“, WS 1996/97). 29 Vgl. http://peter-huchel-preis.de/peter-huchel-preis/; Abruf: 10.1.2015.
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Die deutschsprachige Lyrik differenziert sich weiter aus Mit den Huchel-Preis-TrägerInnen der 1990er Jahre ist das breite Spektrum der Geburtsjahrgänge abgesteckt, die das lyrische Jahrzehnt bestimmen: Es reicht mit Jürgen Becker30 vom dritten Jahrzehnt des Jahrhunderts, also derjenigen Genration, deren erste Publikationen bereits in die Nachkriegsjahrzehnte datieren,31 bis hin zu den in den sechziger Jahren geborenen AutorInnen (vertreten durch Raoul Schrott), die in den neunziger Jahren debütieren.32 Dem lyrischen Nachwuchs ist seit 1968 der (im Zweijahresrhythmus von der Stadt Darmstadt vergebene und mit 8.000 Euro dotierte) Leonce-und-Lena-Preis vorbehalten, der im Jahr 1995 Raoul Schrott für Hotels zugesprochen wird.33 Und mit Franzobel (Jg. 1967) erhält bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur ein österreichischer Autor den Ingeborg Bachmann-Preis, der bereits sein Studium mit einer Diplomarbeit über Visuelle Poesie abgeschlossen hatte und die avantgardistische sprachexperimentelle Tradition der Wiener Gruppe bis zur Jahrtausendwende (und darüber hinaus) fortschreibt. Aus dem Kaffeesatz der Literaturpreislogik des Jahres 1995 einen Generationswechsel in der zeitgenössischen Lyrik herauslesen zu wollen, wäre sicherlich ein kühnes Unterfangen – zumal mit Grünbein und Schrott die eher ‚restaurativen’ Autoren der jüngeren Generation dekoriert werden. Nach wie vor wird das Feld bestimmt von den Etablierten wie Jürgen Becker oder Hans Magnus Enzens-
30 Zu den 1930er-Jahrgängen zählen auch Adolf Endler (1930–2015), Hans Magnus Enzensberger (*1929), Elke Erb (*1938), Robert Gernhardt (1937–2006), Harald Hartung (*1932), Hans Arnfrid Astel (*1933), Paulus Böhmer (*1939), Volker Braun (*1939), Heinz Czechowski (1935–2009), Sarah Kirsch (1935–2013), Rainer Malkowski (1939–2003), Christoph Meckel (*1935), Karl Mickel (1935– 2009), Helga M. Novak (1935–2013), Gerhard Rühm (*1930), Ror Wolf (*1932) u.a. 31 Dies soll auch die (teils bis heute) unermüdlichen 20er-Jahrgänge einschließen, allen voran Friederike Mayröcker (*1924), aber auch Elisabeth Borchers (1926–2013), Walter Helmut Fritz (1929–2010), Eugen Gomringer (*1925), Helmut Heißenbüttel (1921–1996), Walter Höllerer (1920– 2003), Franz Mon (*1926), Oskar Pastior (1927–2006), Peter Rühmkorf (1929–2008), Paul Wühr (*1927) usw. Auch Karl Krolow (1915–1999) veröffentlich im Jahr 1995 noch einen Gedichtband: Die zweite Zeit. Gedichte. Frankfurt/M. 1995. 32 Etwa Marcel Beyer (*1965), Ulrike Draesner (*1962), Oswald Egger (*1963), Franzobel (*1967), Dieter M. Gräf (*1960), Sabine Küchler (*1965), Albert Ostermaier (*1967), Dirk von Petersdorff (*1966), Lutz Seiler (*1963). 33 Raoul Schrott: Hotels. Innsbruck 1995.
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berger, aber auch von LyrikerInnen der 40er34 oder 50er35 Jahrgänge – und in besonderem Maße (bei aller Nähe durchaus auch als Antipode Durs Grünbeins) Thomas Kling (1957–2005). Zeitgleich erscheinen in den wichtigsten Literatur- und Lyrikzeitschriften36 und in kleinen bibliophilen Drucken erste Gedichte von jungen LyrikerInnen, die noch keinen Gedichtband vorgelegt haben, aber schon jetzt Aufmerksamkeit auf sich lenken und die Lyrik im 21. Jahrhundert prägen werden, etwa Oswald Egger (*1963), Marion Poschmann (*1969) und Ulf Stolterfoht (*1963), deren erste Gedichte sich in Zeitschriften wie Sinn und Form, Akzente und Zwischen den Zeilen finden.37 Diese Publikations- und Distributionsformen ermöglichten gerade jungen LyrikerInnen größere poetische und poetologische Kühnheiten und – relativ gesehen – mehr Sichtbarkeit fernab der (auch immer von Marktgesetzen mitbestimmten) Selektionsprozesse der größeren Verlage und trugen erheblich zur Diversifikation des Feldes bei. Angesichts dieser Vielfalt lässt sich keinesfalls von einem abrupten „Generationswechsel“ sprechen,38 und auch Theo Elms These von einer „Zweiteilung“39 der Lyrik bedarf zumindest einer Präzisierung, da die Milieus zu heterogen sind, einzelne solitäre Stimmen zu dominant, die (Theorie- und Schreib-)Ansätze zu verschiedenartig, um einen klaren Schnitt zwischen zwei ‚Lagern‘ vorzunehmen.40
34 Z. B. Urs Allemann (*1947), Jörg Burkhardt (*1943), F. C. Delius (*1943), Anne Duden (*1942), Wolfgang Hilbig (1941–2007), Karin Kiwus (*1942), Ursula Krechel (*1947), Thomas Rosenlöcher (*1947), Doris Runge (*1943), Joachim Sartorius (*1946), Brigitte Struzyk (*1946) oder Jürgen Theobaldy (*1944). 35 Franz Josef Czernin (*1952), Michael Donhauser (*1956), Kurt Drawert (*1956), Gerhard Falkner (*1951), Dorothea Grünzweig (*1952), Barbara Köhler (*1959), Uwe Kolbe (*1957), Brigitte Oleschinski (*1955), Bert Papenfuß (*1956), Matthias Politicky (*1955), Kathrin Schmidt (*1958) oder Peter Waterhouse (*1956). 36 Die für die deutschsprachige Gegenwartslyrik wichtigsten Periodika waren Sinn und Form, Manuskripte, Akzente, Lettre International, NDL, Schreibheft, das rowohlt Literaturmagazin, Spr.i.t. Z., die horen oder (ab 1993) EDIT, das Jahrbuch der Lyrik sowie (seit 1992) die Lyrikzeitschrift Zwischen den Zeilen mit den vermutlich profundesten Beiträgen zur zeitgenössischen Poetik. 37 Gedichte von Marion Poschmann erschienen in: Sinn und Form (1995), H. 1; von Oswald Egger in: Schreibheft 43/3 (1994) u. in: Akzente 43/5 (1996); von Ulf Stolterfoht in: Zwischen den Zeilen 6 (1995). Oswald Egger, der in den Jahren zwischen 1990 und 1999 auch die Zeitschrift Der Prokurist herausgab, hatte zudem bereits zwei kleine bibliophile Gedichtbände vorgelegt: Die Erde der Rede. Gedicht. Münster 1993, u. Gleich und Gleich. Zürich 1995. 38 So Korte in Deutschsprachige Lyrik nach 1945, S. 256f. 39 Theo Elm: Lyrik Heute. In: Walter Hinderer (Hg.): Geschichte der deutschen Lyrik heute. 2., erw. Aufl. Würzburg 2001, S. 604–620, hier S. 607. 40 Elm unterscheidet zwischen einer jüngeren „Dichtergruppe der Enddreißiger bis Endvierziger“ und denjenigen „Autoren, die, teils weit über das fünfte Lebensjahrzehnt hinaus, ihre
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Der Generationenbegriff allein ist als Ursache für den Paradigmenwechsel nicht haltbar. Präziser ist es, mit Korte von einer „Diversifizierung“41 zu sprechen, an der nicht nur die Autoren der ehemaligen DDR, sondern auch Österreichs und der Schweiz erheblichen Anteil hatten. Zudem ist zu beobachten, dass sich innerhalb der ‚Nische Gegenwartslyrik‘ eine Vielzahl von Milieus (mit je gemeinsamen Gewährsleuten und Schreibzügen, aber oft sehr unterschiedlichen Impulsen und Biographien) ausbildet, seien dies nun Underground-Institutionen wie die Prenzlauer Berg-Szene (etwa Bert Papenfuß-Gorek, Lutz Rathenow, Stefan Döring u.a.) und die aus ihr ‚herausgewachsenen‘ Lyriker (Adolf Endler, Elke Erb oder Uwe Kolbe)42 oder (meist jüngere) Gruppen von LyrikerInnen, die sich um einige Leitfiguren arrangieren – etwa um Thomas Kling auf der Raketenstation Hombroich die „Kumpane“ Kurt Aebli, Marcel Beyer, Franz Josef Czernin, Oswald Egger, Barbara Köhler, Ferdinand Schmatz, Yoko Tawada, Peter Waterhouse u.a. Mit ihnen gestaltete er – einer Einladung des Akzente-Herausgebers Michael Krüger folgend – ein Heft der Zeitschrift. Kling beschreibt das Unterfangen wie folgt: Von Michael Krüger kam, telephonisch, die überraschende Aufforderung, ich solle doch für ein AKZENTE-Heft „meine Kumpane“ einladen. Hier sind: neun Dichter und Dichterinnen, allesamt lakonisch-kalkulierende, coole Dolmetscher der Wirklichkeit: ihrer Sprachwirklichkeit. Ihr Botenstoff – das Gedicht. Diese Dichtergeneration ist nicht bereit, hinter die Standards einer kritischen Sprachbehandlung und also Wirklichkeitsauffassung zurückzufallen.43
Die von Kling programmatisch hervorgehobene ‚neue Kompromisslosigkeit‘ der genannten AutorInnen ist in der Tat der gemeinsame Nenner dieser ‚neuen‘ Lyrik um 1995, der diese Dekade auch von den vorangegangenen unterscheidet.
biographischen und poetologischen Grunderfahrungen in den sechziger Jahren gewonnen haben – gleich ob in West- oder Ostdeutschland. Zu diesen zählen […] Krolow, Kunert, Krüger, Rühmkorf und Becker [sowie] vor allem Hans Magnus Enzensberger, Volker Braun, Sarah Kirsch, Reiner Kunze, Elisabeth Borchers, Rainer Malkowski und Ulla Hahn“ einerseits – und einer Gruppe der Jüngeren andererseits, darunter „Durs Grünbein, auch Raoul Schrott, Thomas Kling, Brigitte Oleschinski, Barbara Köhler, Hans-Ulrich Treichel und Dirk von Petersdorff.“ (Elm: Lyrik heute, S. 607.) 41 Korte: Zurückgekehrt in den Raum der Gedichte, S. 15. 42 Uwe Wittstock unterscheidet drei Generation von DDR-Autoren: „Die großen Alten“, denen er z. B. P. Huchel, F. Fühmann, G. Kunert zuordnet, „Die mittlere Generation“, zu der er u. a. V. Braun und W. Hilbig zählt, sowie „Die zornigen Jungen“ mit S. Anderson, U. Kolbe, L. Rathenow u.a. Vgl. Uwe Wittstock (Hg.): Von der Stalinallee zum Prenzlauer Berg. Wege der DDRLiteratur 1949–1989. München, Zürich 1989. 43 Vgl. Thomas Kling: Editorial. In: Akzente 43/5 (1996), S. 387.
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Die deutschsprachige Lyrik re-theoretisiert sich Die Zeit des politischen, ökologischen, gesellschaftlichen Engagements der Lyrik, wie sie noch in den Siebzigern zum guten Ton gehörte, ist vorbei, ebenso die Betroffenheits- und Befindlichkeitspoesie, das „Räsonniergedicht“44 der achtziger Jahre. Wenngleich die sog. Verschenklyrik noch immer floriert (und oft weit höhere Auflagenzahlen erreicht als die Monographien der renommiertesten Vertreter ‚seriöser‘ Lyrik), so bringen die 1990er Jahre doch keine neue Kristine Allert-Wybranietz (*1955) und keinen Jörn Pfennig (*1944) hervor, die in den achtziger Jahren leicht konsumierbare Poesie als Lebenshilfe anboten. Statt der Gesellschaft und ihren Befindlichkeiten wendet sich die Lyrik verstärkt ihrem Material, ihren Mitteln und Verfahren zu, an die Stelle von Engagement treten Sprach- und Formarbeit, Besinnung und Konzentration; insofern scheint sie tatsächlich (zumindest in weiten Teilen) „zurückgekehrt in den Raum der Gedichte“,45 wie Hermann Korte in seiner Studie zur Lyrik der 1990er Jahre diese Tendenz (mit Uwe Kolbe)46 auf eine griffige Formel bringt.47 Wie nie zuvor seit den Manifesten der Avantgarden in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts geben LyrikerInnen Auskunft: Theoretische Texte in hoher Zahl flankieren ihre Gedichtpublikationen – sofern es sich nicht ohnehin um poetologische Gedichte handelt; Zeitschriften wie Zwischen den Zeilen, Schreibheft und Akzente, die seit jeher Essays einen großen Teil ihres Seitenumfangs einräumten, vergrößern diesen Raum noch, sei es um Reflexionen zu den abgedruckten Gedichten oder um poetologische Gespräche48 und Briefwechsel.49
44 Vgl. Korte: Zurückgekehrt in den Raum der Gedichte, S. 9. 45 Ebd. 46 Das Zitat stammt aus der poetologischen Betrachtung „Zehn poetologische Schattenspiele, die Thomas Tranströmer verstehen würde“. Uwe Kolbe: Nicht wirklich platonisch. Frankfurt/M. 1994, S. 81–84, hier S. 82. 47 Rückendeckung erhält er von Michael Braun, der seinen Überblick über die Lyrik des Jahrzehnts überschreibt mit: In aufgerissenen Sprachräumen. Eine Begegnung mit Gedichten der neunziger Jahre. In: Christian Döring (Hg.): Deutschsprachige Gegenwartsliteratur. Wider ihre Verächter. Frankfurt/M. 1995, S. 271–285. 48 Etwa zwischen Durs Grünbein und Aris Fioretos in: Akzente 43/6 (1996). 49 Vgl. etwa: Korrespondenzen an den Rändern des Sprechens. Jürgen Becker antwortet auf einen Brief von Brigitte Oleschinski. In: Zwischen den Zeilen 5 (1994), S. 28–43. Und spätestens seit 1995 mag manch ein(e) LyrikerIn nicht mehr darauf verzichten, seinem/ihrem jüngsten Opus einen Apparat mit Quellen und Einzelstellenerläuterungen oder zumindest Fußnoten anzufügen. Vgl. z. B. Ulrike Draesner: gedächtnisschleifen. Gedichte. München 2008 [zuerst: Frankfurt/M. 1995], S. 106. Publikationen des Jahres 1995 wie Die Schweizer Korrektur (Durs Grünbein, Brigitte Oleschinski, Peter Waterhouse: Die Schweizer Korrektur. Hg. v. Urs Engeler. Basel, Weil/Rhein 1995) sind
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Die Bemühung um die Konturierung eigener Poetik wird genährt durch die vermehrte Publikation von postmoderner und -strukturalistischer Theorie, in Buchform wie auch in Zeitschriften, die um das Jahr 1995 einen Kulminationspunkt erreicht. Die maßgeblichen v. a. französischen Theoretiker der Postmoderne (Foucault, Lacan, Derrida, Deleuze, Lyotard, Barthes) liegen größtenteils bereits seit den 1970er und 1980er Jahren in deutschen Übersetzungen vor und werden mit einer Dekade Verspätung von der deutschen Lyrik rezipiert. Kaum eine der wichtigen Literaturzeitschriften verzichtet auf Publikationen poststrukturalistischer Essays und medientheoretischer/-kritischer Beiträge (etwa von Baudrillard, Kittler und Virilio).50 Auf Basis dieser ‚Theoretisierung‘ der Gegenwartslyrik kann um Gedichte auch wieder neu gestritten werden, da man sich nicht nur schlecht gedrechselte Verse, falsche Themen oder misslungene Metaphern vorwerfen muss, sondern neben der poetischen Oberfläche auch deren poetologische Tiefenstruktur zu fassen bekommt. Insofern hat sich Michael Brauns Einschätzung aus dem Jahr 1995 als etwas zu pessimistisch erwiesen:
Es spricht für die eigentümliche Unlust an poetologischer (Selbst-)Reflexion, daß auch die wenigen anderen Aufsätze zur Lage des Gedichts und insbesondere zur Situation der „Jungen Lyrik“ echolos verhallten. Aber womöglich grenzt es an Naivität, auf eine ausgedehnte Lyrikdebatte zu hoffen.51
Die deutschsprachige Lyrik wird streitlustig Seine ‚Begegnung mit Gedichten der 1990er Jahre‘ eröffnet Michael Braun mit einer „Suchanzeige“:
symptomatisch. Wie auch die Zeitschrift Zwischen den Zeilen ist der Band im Verlag von Urs Engeler erschienen, dessen Editionen die Poetikdebatte enorm befeuert haben. In dem Buch findet sich lyrische und poetologische Prosa von Durs Grünbein, Brigitte Oleschinski und Peter Waterhouse vereint, die zueinander spaltenweise in dia- bzw. trialogische Beziehung gesetzt und vom Herausgeber durch eine Zitatmontage aus allen Essays ergänzt werden. 50 Vgl. hierzu auch Erk Grimm: Das Gedicht nach dem Gedicht. Über die Lesbarkeit der jüngsten Lyrik. In: Döring (Hg.): Deutschsprachige Gegenwartsliteratur, S. 287–311, hier S. 292, wo es heißt: Die Lesbarkeit der Lyrik der 1990er Jahre werde „proportional erleichtert durch die Kenntnisnahme der Grundprobleme nachmodernen Schreibens unter Netzwerkbedingungen. Eine Bestimmung neuer Lyrik, ohne einmal M. McLuhan, J.-L. Nancy, F. Kittler, J. Derrida, J. Baudrillard aufgeschlagen zu haben, ist einfach nicht mehr denkbar.“ 51 Braun: In aufgerissenen Sprachräumen, S. 274.
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Wo sind sie nur geblieben, all die aufregenden Kontroversen über Struktur und Gestalt des zeitgenössischen Gedichts, wie sie noch in den sechziger Jahren, im goldenen Zeitalter der Autorenpoetik, ausgefochten wurden? Wo sind sie noch zu finden, all die heftigen Platzkämpfe zwischen dem „Gelegenheitsgedicht“ (Günter Grass) und dem „Ungelegenheitsgedicht“ (Walter Höllerer), zwischen dem „langen“ und dem „kurzen“ Gedicht (Höllerer versus Krolow)?52
Der Aufsatz des Kenners Braun erschien 1995 in einem Sammelband, just in dem Jahr, in dem ein zorniger Österreicher gegen zwei Literaturbetriebsfestungen in die Schlacht zog und im selben Jahr Marcel Reich-Ranicki in einer Monographie53 und Durs Grünbein in einem Beitrag zur Zeitschrift Schreibheft attackierte.54 Ein solch scharfer Ton war ein ungewohnter Missklang unter den VertreterInnen der doch eher – seit den von Braun erwähnten Verwerfungen zwischen Grass und Höllerer, Krolow und Höllerer – harmonisch gestimmten deutschsprachigen Gegenwartslyrik. Bislang gab es eher einen Nichtangriffspakt; Gefälligkeitsrezensionen, Wohlwollen oder zumindest respektvolles gegenseitiges (Nicht-)Zurkenntnisnehmen waren an der Tagesordnung. Franz Josef Czernin55 befindet: [H]eute, in einem vielleicht vor allem restaurativen Moment, besteht eine der charakteristischen Weisen jener halbherzigen und auch heillosen Vermischung der Extreme darin, die
52 Ebd., S. 271. In seinem Vorwort zur Anthologie Das verlorene Alphabet (1999) schätzt Braun die Debatte folgendermaßen ein: „Diese Frontalattacke gegen den Büchnerpreisträger des Jahres 1995 munitionierte sich aus den Arsenalen eines sehr österreichischen und sehr rechthaberischen Avantgarde-Begriffs. Aber sie rührte an die Essentiale zeitgenössischen lyrischen Schreibens“. Braun: Ganz kleine Verschiebungen, S. 209. 53 Franz Josef Czernin: Marcel Reich-Ranicki. Eine Kritik. Göttingen 1995. Czernin ärgert sich über Reich-Ranickis einseitigen Literaturbegriff, seine Invektiven gegen Modernismus und Avantgarde. Im Namen der ästhetischen Gerechtigkeit attackiert er mit dem Großkritiker zugleich allgemeine Tendenzen des Literaturbetriebs, seine Aufmerksamkeitsökonomie und „selektive Literaturgeschichtsschreibung“ (ebd., S. 18). 54 Franz Josef Czernin: Zu Durs Grünbeins Gedichtband Falten und Fallen. In: Schreibheft 45 (Mai 1995), S. 179–188. Durs Grünbein replizierte auf die Kritik im folgenden Heft: Feldpost. Antwort auf Franz Josef Czernin. In: Schreibheft 46 (November 1995), S. 191f., und Michael Braun wiederum kommentierte Czernins Attacke in derselben Nummer: Kleine, verwunderte Fußnote zu einer Polemik von Franz Josef Czernin. In: Schreibheft 46 (November 1995), S. 192–195. 55 Czernin, geschult an Theorie von Fritz Mauthner bis zu Oswald Wiener, unterläuft gezielt Etikettierungen wie ‚Avantgardist‘, ‚Postmoderner‘ – etwa, indem er in seiner Lyrik Verfahren aus dem experimentellen Kontext der Wiener Gruppe anwendet, zugleich aber deren Haltbarkeit in traditionellen Gedichtformen wie Sonetten erprobt. Czernin arbeitet seit 1980 an einem radikalen, wenn nicht gar monumentalen Projekt: einer Kunst des Dichtens, einem systematischen Versuch, seine Publikationen in einen poetischen Kosmos zu integrieren. Damit ist Czernin – daraus erklärt sich auch die Verve seiner Polemik – ein Erbe der österreichischen Avantgarde.
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Traditionen des jeweiligen Schreibens auf bestimmte Verfahren, bestimmte Formen des Sprachgebrauchs zu reduzieren.56
Eine solche Unterwerfung unter die Literaturgeschichte manifestiere sich in Grünbeins Gedichtband Falten und Fallen, den Czernin einem strengen Close Reading unterzieht, im Gebrauch einer „althergebrachte[n] poetische[n] Maschinerie“, die so verwendet werde, „als hätten die letzten hundert Jahre der Geschichte der Lyrik die Möglichkeiten ihrer Funktion beziehungsweise ihren Wert nicht wesentlich verändert“:57 Grünbeins Umgang mit der Metapher ist es, die Czernins Kritik herausfordert. Genitivmetaphern wie „Hirngewölbe des Jahrhunderts, [der] Panzer der Sprache, das Zischeln der Polytheismen, die Inseln der Philharmonie, […] das Gefälle der Jahre, das Wühlen der Erinnerung, die Tiefen der Zeit“ oder „metaphorische Formeln wie Pizza aus Stunden, Spur von Vergessen, Wald aus Begierden, Wolken von Hysterie, Flora von Allusionen“58 seien ein längst überholtes und diskreditiertes poetisches Handwerkszeug, dessen literaturgeschichtlichen Ort Grünbein nicht reflektiere – kurz: Er ignoriere die poetischen Errungenschaften nicht nur der letzten drei Jahrzehnte, sondern auch der Klassischen Moderne: „Kann man aber mit ästhetischem Recht […] so verfahren,“ fragt Czernin bissig, als ob „weder Trakl oder George, noch Arp oder Schwitters geschrieben hätten, ohne auch die avantgardistischen […] Arbeiten der letzten dreissig Jahren verarbeitet zu haben?“59 Das Gedicht Grünbeins werde somit zur „Designerdroge“,60 zusammengesetzt aus „ultrareflektiertem Traditionalismus“,61 „prätentiösen, hochtrabenden und leeren Formeln“62 und „Stoffhuberei“.63 Da Grünbein die „ungebetene Rezension“ nicht unkommentiert lassen mag, folgt seine Replik postwendend im nächsten Schreibheft: „Wenn ein Autor so etwas über einen anderen Autor schreibt, dann kommt er entweder aus Österreich oder er hat ein Problem.“ Um ein „Dokument der Täuschung“, eine „als analytisch getarnte[n] Rempelei“ handle es sich bei der „Schmähschrift“, deren Verfasser er „Ressentiment“, „Pedanterie und peinliche Programmatik“ attestiert. Ihn treffe der Angriff nicht, so Grünbein, da Czernin seinen avantgardistischen
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Czernin: Zu Durs Grünbeins Gedichtband Falten und Fallen, S. 179. Ebd., S. 180. Ebd. Ebd. Ebd., S. 188. Ebd., S, 182. Ebd., S. 186. Ebd., S. 183.
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Literaturbegriff unzulässig verallgemeinere. Seine (Grünbeins) eigene Gedichte ließen sich prinzipiell gar nicht analytisch auflösen, weil sie realen Bewegungen und niemals nur nominalen folgen […]. Doch hat nicht die Experimentelle Kastratenlyrik […] mittlerweile den Todpunkt erreicht? […] Alles das Permutieren und Syntaktieren, wo es sich rein auf die Wortbewegung konzentriert, ist bestenfalls Regression, Sehnsucht nach der Kinderzeit der Moderne. Einer wie Reinhard Priessnitz hat zuletzt in genau vierundvierzig gedichten alle wesentlichen Nachträge dazu geliefert.64
Grünbein konstatiert – bevor er sich seinerseits in blinder Wut auf die Erben der sprachkritischen Avantgarde stürzt – die „Unvereinbarkeit der Positionen“;65 und zumindest darin ist ihm mit Nachdruck zuzustimmen. Es kann hier nicht darum gehen, für die Literaturgeschichtsschreibung ein für allemal zu entscheiden, wer von beiden Autoren die besseren Argumente hat; vielmehr bietet das Scharmützel einen klaren Blick auf die Antipoden, zwischen denen sich das Feld der deutschsprachigen Gegenwartslyrik aufspannt.
Die deutschsprachige Lyrik globalisiert sich Das Jahrbuch der Lyrik, seit 1979 herausgegeben von Christoph Buchwald und einem von Jahr zu Jahr wechselnden Mitherausgeber, das wohl wichtigste, da auch unter den zeitgenössischen AutorInnen am breitesten und nachhaltigsten rezipierte Publikationsorgan der jüngsten Lyrik, erscheint im Doppeljahrgang 1995/1996 in ungewohnter Form: War es traditionell bislang unveröffentlichten Texten deutschsprachiger AutorInnen (einschließlich DebütantInnen) vorbehalten, so versammelt es diesmal – ohnehin im Zeichen eines Neuanfangs, nun nicht mehr bei Luchterhand, sondern in der Beck’schen Reihe – unter der Co-Herausgeberschaft von Joachim Sartorius (Lyriker und Übersetzer etwa von William Carlos Williams und Malcolm Lowry) erstmals Gedichte von AutorInnen aus aller Welt.66
64 Ebd., S. 191f. 65 Ebd., S. 192. Mögen die Positionen noch so unvereinbar sein, den in den 90er Jahren wiederbelebten Typus des poeta doctus verkörpern die (scheinbaren) Antipoden Grünbein und Czernin gleichermaßen, was sie wiederum mit so unterschiedlichen Lyrikern wie Thomas Kling und dem Spracharchäologen Raoul Schrott eint. 66 Der größte Teil der internationalen Gedichte sind Anleihen aus Nr. 25 (1994) der Zeitschrift Lettre International, die unter dem Titel „Poesie der Poesie“ poetologische Gedichte interna
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„So entsteht,“ heißt es auf dem Klappentext programmatisch, „gleichsam im lyrischen Spiel, ein vielstimmiger Beitrag zur Wesensbestimmung des Gedichts – und das in einer Zeit, die das Gedicht schon oft für tot erklären wollte, um freilich immer wieder feststellen zu müssen, daß es so lebendig ist wie eh und je.“67 Was auf den ersten Blick wie eine verlegerische Verlegenheit und editorische Zweitverwertung aussehen mag, erweist sich bei näherer Betrachtung als publizistischer Clou: Gedichte von Jürgen Becker, Elke Erb, Durs Grünbein und Gerhard Falkner stehen neben solchen von Charles Simic, Gerrit Kouwenaar, Lars Gustafsson und William Carlos Williams; die Experimente des ‚Oulipoten‘ Oskar Pastior neben denen des nicht minder experimentellen Charles Bernstein; Matthias Politicky wird konfrontiert mit der großen dänischen Lyrikerin Inger Christensen, Michael Krüger mit Michel Deguy oder Cees Nooteboom, Brigitte Oleschinsky und Jürgen Theobaldy werden flankiert von Joseph Brodsky und chinesischen Dichtern wie Yang Lian oder Thang Zao. Das breite internationale Panorama, angereichert um die poetologische Reflexion der Möglichkeiten von Lyrik im ausgehenden 20. Jahrhundert, hat eine immense katalysatorische Wirkung für die Arbeiten v. a. der nach 1960 geborenen AutorInnen. Von kaum geringerer Wirkung war – weit über das Jahr 1995 hinaus – eine Anthologie, die Enzensbergers Museum der Modernen Poesie (1960),68 dessen Exponate der internationalen Moderne der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nunmehr selbst kanonisch geworden waren, ausräumte und neu einrichtete bzw. sich selbst als „beweglichen Anbau an das frühere Museum“ begriff, als „Flügel, in dem die permanente Sammlung eines Stifters gezeigt wird“.69 Folgerichtig lautet der Titel von Joachim Sartorius’ Anthologie: Atlas der neuen Poesie.70
tionaler und deutschsprachiger Autoren versammelte – auch dort unter der Ägide von Joachim Sartorius. 67 So der Klappentext des C. H. Beck Verlags 1995. 68 Hans Magnus Enzensberger (Hg.): Museum der modernen Poesie. Frankfurt/M. 1960. 69 Joachim Sartorius: Vorwort. In: J. S: (Hg.): Atlas der neuen Poesie. Reinbek b. Hamburg 1995, S. 7–16, hier S. 11. 70 Ein Vorgängerprojekt war der von Harald Hartung herausgegebene Band: Luftfracht. Internationale Poesie 1940–1990. Frankfurt/M. 1991, der einer chronologischen Anordnung folgt. Sartorius’ Atlas führt eine Reihe in Buchform zusammen, die in den Jahren 1989 bis 1993 in der taz erschien; in seiner Disposition orientiert er sich an keiner Chronologie, folgt keinen Themen oder Konzepten, sondern kapitelweise (in „Mappen“, die je etwa drei bis sechs Gedichte von etwa fünf bis neun DichterInnen umfassen) den geographischen Längengraden: „Er fängt in Neuseeland und Australien an, geht über Japan, China, den Nahen Osten, den Maghreb und Europa nach Afrika, Lateinamerika und die USA. […] Der Kartograph vertraut darauf, daß der Leser, neugierig und kombinationswillig, selbst die Breitengrade – also die motivischen Stränge – herausfinden wird.“ (Sartorius: Vorwort, S. 12f.).
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Sartorius präsentiert 65 Lyriker und Lyrikerinnen aus 36 Ländern und 22 Sprachen; die Gedichte stammen aus den Jahren 1960 bis 1994, überwiegend jedoch aus den zurückliegenden zwei Jahrzehnten. Den Übersetzungen werden (in kleinerer Drucktype) die Originaltexte an die Seite gestellt. Die Anthologie ruft dazu auf, in der „Polyphonie der modernen Weltpoesie […] motivische Linien zu entdecken“: Wir finden Sprachspieler wie John Ashbery, Clark Coolidge, Édouard Glissant oder Inger Christensen; Analytiker wie Hans Magnus Enzensberger und Elizabeth Boship; Metaphysiker wie Gennadij Ajgi, Roberto Juarroz oder Hános Piliszky. Die Spuren des erzwungenen Exils finden sich bei dem Chinesen Bei Dao ebenso wie bei dem Maghrebiner Abdellatif Laâbi oder dem Ghanesen Kofi Awoonor; den Krieg denken Breyten Breytenbach wie Charles Simic. In der Tradition des Mediziners Gottfried Benn sezieren Gerhard Falkner, Durs Grünbein oder Lavinia Greenlaw die Anatomie des Innenlebens.71
Sartorius’ Atlas nimmt seinen Ausgang von der Feststellung einer grundlegend gewandelten Situation der internationalen Poesie und ihrer Interdependenz, einer fundamental veränderten politischen und Informationslage, eines produktiven Chaos, bedingt durch die politische Unabhängigkeit afrikanischer sowie asiatischer Staaten und den Zustrom bislang in Europa weitgehend unbekannter Dichtung aus Afrika, Asien und Lateinamerika. Die Unabhängigkeit der meisten Staaten des Maghreb sowie vieler afrikanischer Länder und der britischen Kolonien in Asien in den Jahren 1957 und 1960 „führte nach und nach auch zur Entdeckung ihrer Literaturen. Lyrikbände erschienen in Verlagen in Paris oder London, den Hauptstädten der ehemaligen Kolonialreiche, vermehrt aber auch in neugegründeten Verlagen in diesen Ländern.“72 Zudem führten die Öffnung des Eisernen Vorhangs und die noch immer andauernden Jugoslawienkriege zu einem verstärkten Interesse an der Lyrik Mittel- und (Süd-)Osteuropas, auf das besonders die Zeitschriften reagierten.73 Verstärkung findet diese Tendenz zur (im besten Sinne) ‚Globalisierung‘ der Lyrik durch wichtige Periodika. Entsprechend bekennt Sartorius in seinem Vorwort zum Atlas: „Literaturzeitschriften wie Akzente oder die horen haben uns diese fremden, noch unbekannten Poesien in Splittern und Fragmenten nähergebracht.“74
71 So der Klappentext des Rowohlt-Verlags, 1995. 72 Sartorius: Vorwort, S. 10. 73 Z. B. präsentiert Spr.i.t.Z. 1996 einen Schwerpunkt „Sarajevo für Anfänger“ (vgl. Spr.i.t.Z. 34 [1996], S. 77–108). 74 Sartorius: Vorwort, S. 10. Tatsächlich enthält die Zeitschrift Akzente (42/2 [1995]) eine Auswahl der irakischen Lyrik vom Zweiten Weltkrieg bis in die 90er Jahre. Die horen beschäftigen sich in
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Die neuen Medien verringern die Distanzen zwischen den jungen LyrikerInnen nicht nur innerhalb Europas, man nimmt sich nicht nur wohlwollend zur Kenntnis, sondern liest einander aufmerksam, schließt Freundschaft, vernetzt sich und trifft sich im Rahmen internationaler Festivals (etwa im Literarischen Colloquium Berlin) und Werkstätten. Das schon seit den achtziger Jahren bestehende wegweisende Übersetzungsbzw. Nachdichtungsprojekt Poesie der Nachbarn, bei dem alljährlich Dichter aus einem europäischen Gastland in Nachdichtungen deutscher LyrikerInnen und zweisprachigen Lesungen dem Publikum vorgestellt werden,75 bringt 1995 mit dem Gastland Frankreich starke (und sehr heterogene) Stimmen wie Jacques Roubaud (Mitglied der Gruppe OuLiPo) oder den maghrebinischen Mystiker und Islamkritiker Abdelwahab Meddeb sowie Henri Deluy, den Begründer der Zeitschrift Action Poétique, mit Ursula Krechel, Gregor Laschen, Joachim Sartorius und Jürgen Theobaldy zusammen. Die Personalunion LyrikerIn/ÜbersetzerIn wird um die Jahrtausendwende zu einem typischen (Über-)Lebensmodell eines Lyrikers, das Übersetzen zugleich ‚Brotberuf’, Schule des Handwerks und Inspiration – sind doch die Impulse, die von dieser Tätigkeit ausgehen, keineswegs zu unterschätzen. Nicht selten bilden sich dabei produktive Wahlverwandtschaften, da die LyrikerInnen ‚ihre‘ fremdsprachigen Autoren (wenn möglich) nach Neigungen bzw. poetologischen ‚Bedürfnissen‘ auswählen.76
den Jahren 1995/96 mit der Gegenwartsliteratur Nordeuropas; vgl. Hier ist die Welt, hier ist ihr Rand: Gegenwartsliteratur aus Nordeuropa (Island, Norwegen, Schweden, Finnland, Dänemark). In: die horen 185/1 (1996); Neue Poesie aus Island. In: die horen 181/1 (1996). Das Schreibheft, das seit 1982 avancierte Literaturkonzepte in internationalen Literaturen aufspürt, widmet Nummer 45 (1995) dem „große[n] amerikanische[n] Gedicht“, Nummer 46 (1995) neuer britischer und irischer Lyrik (Simon Armitage u.a.). Zwischen den Zeilen erscheint im März 1996 als Doppelheft (7/8): Fünf deutschsprachige Lyriker stellen neben ihren eigenen Werken Gedichte eines fremdsprachigen Autors ihrer Wahl in ihrer Übersetzung und im Original vor. Das erste Spr.i.t.Z.-Heft des Jahrgangs 1995 präsentiert in einem Schwerpunkt Lyrik aus Korea (vgl. Spr.i.t.Z. 33/1 [1995], S. 29–75), im zweiten findet sich ein Dossier „Neue Lyrik aus England“ (vgl. Spr.i.t.Z. 33/2 [1995], S. 147–188). 75 Poesie der Nachbarn. Dichter übersetzen Dichter lautet der Titel der zweisprachigen Anthologie zur gleichnamigen Übersetzerwerkstatt (http://www.kuenstlerhaus-edenkoben.de/poesie-dernachbarn.html; Abruf 10.1.2015). Die literarische Reihe, 1989 bis 2004 herausgegeben von Gregor Laschen, seither von Hans Thill, stellt Original und Nachdichtung nebeneinander. Die Bände 1–15 sind in der Edition die horen erschienen; im Jahr 2004 übernahm der Heidelberger Verlag Das Wunderhorn die Reihe. 76 Man denke an Enzensbergers Übersetzungen lyrischer Werke von Simic, Vallejo, Gustafsson oder Dalos, an Pastiors Chlebnikow, Falkners Übersetzungen aus dem Englischen (Hopkins, Yeats, Ashbery, Olson), Thills Übersetzungen von Gedichten der französischen Surrealisten
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Die deutschsprachige Lyrik archiviert und inventarisiert sich Bemerkenswert ist die Mitte der 1990er Jahre einsetzende Tendenz zur ‚Inventur‘ der deutschsprachigen Lyrik nach Ende des Zweiten Weltkriegs. Symptomatisch dafür ist die Gründung der ersten deutschen Bibliothek am 25.1.1995, die sich ausschließlich der Lyrik widmet.77 Aber auch die hohe Zahl von Anthologien, die die Lyrik des vergangenen Halbjahrhunderts in Ost und West rekapituliert, artikuliert (erstmals nach den drei wichtigen Anthologien der sechziger Jahre)78 das Bedürfnis nach einer Bestandsaufnahme – schließlich ist all das, was einmal inventarisiert und anthologisiert ist, zur Archivierung gleichsam als Kanon sicher-, zugleich oft aber auch: still-gestellt. Wenngleich diese Inventur keineswegs (wie G. Eichs berühmtes Gedicht) an einem der Zäsur 1945 entsprechenden vermeintlichen ‚Nullpunkt‘ der Historie ansetzt, so artikuliert sich darin dennoch das Bewusstsein einer Schwellensituation, scheint doch der resümierende Rückblick gewissermaßen Voraussetzung dafür, den Blick nach vorn richten zu können. Programmatisch und „einschüchternd“79 lautet der Titel einer von Jörg Drews herausgegebenen – und von den Autoren und Erben der Wiener Gruppe beherrschten – Anthologie „Das bleibt. Deutsche Gedichte 1945–1995“,80 in die
(Apollinaire und Goll) und von Raymond Queneau sowie Klings (Catull) und Grünbeins Übertragungen antiker Texte (Aischylos und Seneca). Besonders Gertrude Steins Gedichte werden zu einem inspirierenden Fundus, wie die Nachdichtungen u. a. von B. Köhler, U. Draesner, O. Pastior und U. Stolterfoht beweisen. Unter den Lyrikern der DDR gibt es eine länger zurückreichende Tradition intensiver Übersetzungstätigkeit. Schon in den 70er Jahren waren E. Erb und H. Czechowski als Nachdichter russischer Lyriker hervorgetreten (u. a. von Anna Achmatowa, Michail Lermontow, Marina Zwetajewa). 77 Ihr Bestand umfasste bei ihrer Eröffnung in Tübingen am 25.1.1995 zunächst ca. 3.500 Bände, darunter Lyrik aller Zeiten, Zeitschriften, Nachschlagewerke und Anthologien (vgl. Franz Josef Görtz, Volker Hage, Hubert Winkels (Hg.): Deutsche Literatur 1995. Jahresüberblick, Stuttgart 1996 [Chronik], S. 36). 78 Nämlich die von Walter Höllerer herausgegebene Anthologie Transit. Lyrikbuch der Jahrhundertmitte. Mit Randnotizen. Frankfurt/M. 1956; daneben die wichtigste Avantgarde-Anthologie der Nachkriegszeit: Walter Höllerer, Franz Mon, Manfred de La Motte (Hg.): Movens. Dokumente und Analysen zur Dichtung, bildenden Kunst, Musik, Architektur. Wiesbaden 1960; sowie Enzensbergers Museum der modernen Poesie. In den 1980er Jahren erscheinen (nur in der BRD) Anthologien, die auch die jüngeren Lyriker des Landes in der BRD einem breiten Publikum bekannt machten: Sascha Anderson, Elke Erb (Hg.): Berührung ist nur eine Randerscheinung. Neue Literatur aus der DDR. Köln 1985. 79 Braun: Ganz kleine Verschiebungen, S. 206. 80 Jörg Drews (Hg.): Das bleibt. Deutsche Gedichte 1945–1995. Leipzig 1995.
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(so der Herausgeber) diejenigen Gedichte Eingang gefunden haben, „die nach 1945 den Begriff und die Möglichkeiten der deutschen Lyrik verändert haben.“81 Bis zur Mitte des Jahrzehnts erscheinen zahlreiche Sammlungen mit unterschiedlichen regionalen und thematischen Schwerpunktsetzungen, deren wesentlicher die ‚DDR-Lyrik‘ darstellt.82 Aber auch die experimentelle Poesie der vergangenen Jahrzehnte wird in Sammlungen aufbereitet, die nicht selten von ihren (einstigen) Protagonisten und (geistigen) Nachfahren herausgegeben werden, etwa von Eugen Gomringer und Franzobel.83 Ähnliches widerfährt der Lyrik der ‚Neuen Subjektivität‘: Sie wird anthologiefähig – und damit gleichsam im Buch der Literaturgeschichte ‚abgelegt‘.84
81 Jörg Drews: Nachwort. In: J. D. (Hg.): Das bleibt, S. 245–265, hier S. 259. Doktrinäre und elitäre Auswahlkriterien kann man Drews nicht rundweg absprechen, zumal er keinen Hehl aus bestimmten Vorlieben und Aversionen macht: „Lyrik als Geschichtsschreibung, als Sammlung zum Beleg von geschmacklichen und politischen Gestimmtheiten“ schließt er aus seiner „Sammlung des Überlebens- und Überlieferungswerten“ (ebd., S. 251) ebenso aus wie Gedichte von geringer Innovativität, die einem bloßen „Wiederholungszwang“ unterliegen, kurzum: „alles, was nur Duplikat und Schlacke ist“ (ebd., S. 252). 82 Anna Chiarloni, Helga Pankoke (Hg.): Grenzfallgedichte. Eine deutsche Anthologie. Berlin, Weimar 1991; K. O. Conrady (Hg.): Von einem Land und vom andern. Gedichte zur deutschen Wende 1989/1990. Frankfurt/M. 1993; Joachim Rüdiger Groth (Hg.): Literatur im Widerspruch. Gedichte und Prosa aus 40 Jahren DDR. Köln 1993; Klaus Schuhmann (Hg.): Lyrik des 20. Jahrhunderts. Materialien zu einer Poetik. Reinbek b. Hamburg 1995. 83 Besonders die visuelle Poesie rückt ins Zentrum des (anthologischen) Interesses: Vgl. Franzobel (Hg.): Kritzi Kratzi. Anthologie gegenwärtiger visueller Poesie. Wien 1993; Eugen Gomringer (Hg.): visuelle poesie. anthologie. Stuttgart 1996; Eugen Gomringer: zur sache der konkreten. Bd. 2: theorie der konkreten poesie. texte und manifeste 1954–1997. Wien 1997. 84 Hans Heino Ewers (Hg.): Alltagslyrik und Neue Subjektivität. Stuttgart 1994. Die Tendenz zur Bestandssicherung spiegelt sich auch in der Vielzahl der Auswahl- und Werkausgaben, die Mitte der 1990er Jahre erscheinen und damit die Lyrikergeneration, die die vergangenen Jahrzehnte dominiert hat, etwa Volker Braun (Lustgarten. Preußen. Ausgewählte Gedichte. Frankfurt/M. 1996), die ‚Konkreten‘ Eugen Gomringer und Franz Mon (Eugen Gomringer: Vom Rand nach Innen, die Konstellationen 1951–1995. Gesamtwerk Bd. I. Wien 1995; Franz Mon: Gesammelte Texte. Bd. 2: Poetische Texte 1951–1970. Berlin 1995), die gesammelten Gedichte Wolf Biermanns (Alle Gedichte. Köln 1995), die Tagebücher Peter Rühmkorfs (1989–1991), und – zum 100. Geburtstag – Ernst Jüngers (Siebzig verweht IV. Tagebücher 1986–1990. Stuttgart 1995), in die Ruhmeshalle des Kanons aufnehmen – aber damit zugleich auch den Generationswechsel markieren, wenngleich einzelne von ihnen auch weiterhin vernehmbar bleiben.
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Die deutschsprachige Lyrik findet neue Formate und Milieus Eine Anthologie, die – geht man allein vom Titel aus – Mainstream und Underground einander anzunähern scheint, ist die von Andreas Neumeister und Marcel Hartges: Poetry! Slam! Texte der Pop-Fraktion (1996).85 Von den in der Anthologie versammelten JungautorInnen wie Karen Duve, Kathrin Röggla, Marcel Beyer, Franz Dobler entstammt jedoch (sieht man von Ausnahmen wie Enno Stahl ab) kaum eine(r) der Slam-Szene i. e. S., wenn man nicht der FAZ glauben will, dass Judith Hermann und Karen Duve „die Slammer der ersten Stunde“ waren.86 „Im weiteren Rap-Kontext zunächst in Amerika etabliert, wurde [die Slam-Bewegung] im Laufe der 90er weltweit und folglich auch nach Deutschland exportiert, wo sie zu großen Teilen mit der Social Beat Szene verschmolz.“87 Letztere war von Charles Bukowski inspiriert und versammelte Autoren wie Hadayatullah Hübsch (1946–2011), Kersten Flenter (*1971), Jan Off (*1967), Philipp Schiemann (*1969) oder Enno Stahl (*1962),88 pflegte aber auch Kontakte zum früheren DDR-Underground mit Exponenten wie Bert Papenfuß, der mit Slam!Poetry bereits 1993 die „Heftige Dichtung aus Amerika“ nach Deutschland eingeführt hatte.89 Social Beat und Slam Poetry durchliefen ebenfalls nach 1995 einen Prozess der Selbstreflexion und -vergewisserung, die sich bereits früh in Anthologien wie in denjenigen von Hadayatullah Hübsch: Social Beat D (1995)90 sowie von Michael und Achim Schönauer: Social Beat / Slam! Poetry (1997) niederschlug,91 bis hin zur großangelegten Summa der Slam- und Social Beat-Szene in Kaltland Beat (1999).92 Die Slam-Bewegung erlebte in Deutschland besonders nach Auftritten von Spoken-Word-Protagonisten aus den USA Mitte der 1990er und durch die Initiati
85 Andreas Neumeister, Marcel Hartges (Hg.): Poetry! Slam! Texte der Pop-Fraktion. Reinbek b. Hamburg 1996. 86 So Boris Kerenski spöttisch, zit. n. Johannes Ullmaier: Von Acid nach Adlon und zurück. Eine Reise durch die deutschsprachige Popliteratur. Mainz 2001, S. 148. 87 Ullmaier: Von Acid nach Adlon und zurück, S. 145. 88 Manifestcharakter hat die folgende Sammlung deutschsprachiger Beat-Texte: Roland Adelmann (Hg.): Downtown Deutschland. Underground Anthologie. Essen 1992. 89 Bert Papenfuß (Hg.): Slam!Poetry. Heftige Dichtung aus Amerika. Berlin 1993. 90 Hadayatullah Hübsch (Hg.): Social Beat D. Berlin 1995. 91 Michael u. Achim Schönauer (Hg.): Social Beat / Slam! Poetry. Die außerliterarische Opposition meldet sich zu Wort! Asperg 1997. Vgl. die kommentierte Bibliographie in Ullmaier: Von Acid nach Adlon und zurück., bes. S. 178f. 92 Boris Kerenski, Sergiu Stefanescu: Kaltland Beat. Neue deutsche Szene. Stuttgart 1999.
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ve von Veranstaltern, Aktivisten und Verlegern wie Boris Kerenski oder Yussuf M (deren Verlage Ithaka und Killroy Media im Jahr 1995 gegründet wurden) eine Blüte und in den Jahren 1995/96 einen Kulminationspunkt,93 bevor sie in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts zunehmend in deutschsprachigem Rap und HipHop, in Popmusik und -literatur bzw. im literarischen Mainstream aufging – und heute die Grenzen zwischen Slam und ‚Höhenkamm-‘ bzw. ‚huchelpreiswürdiger‘ Lyrik fließend sind.94 Wenngleich viele Slamtexte als solche lediglich Partituren sind, die erst im Vortrag zum Leben erweckt werden, in stiller Lektüre dagegen oft bemerkenswert konventionell anmuten, hat die Slam Poetry die Lyrik nach 1995 doch sichtbar/hörbar infiltriert95 bzw. bereits darin angelegte Impulse verstärkt – etwa die Arbeit an der lautlichen Dimension des Sprachmaterials, wie v. a. bei Thomas Kling, der ja bereits Mitte der 80er Jahre die Dichterlesung durch Auftritte bzw. ‚Performances‘ ersetzt hatte. Erschlossen die aus dem Underground in die Popkultur mündenden Texte und Veranstaltungsformen vor allem junge Rezipientenschichten,96 so wurde die
93 Vorläufer der Poetry Slams gab es in Deutschland bereits seit den 1980er Jahren, zunächst in Kneipen, Cafés und Clubs (später auch in Theatern und Literaturhäusern), z. B. in Frankfurt am Main („Jeder darf mal“ im Café der FH ab 1986, später auch im Club Voltaire), Hamburg („Urban Poetry“ im Mojo Club ab 1993), und Köln („Dichter in den Ring“ in der Rhenania ab 1993) oder in München (wo 1994 der Literaturslam als Mischform zwischen herkömmlicher Lesung und Slam aus der Wiege gehoben wurde). Die vier Städte trugen 1997 in Berlin erstmals eine gesamtdeutsche Poetry-Slam-Meisterschaft aus. Vgl. den materialreichen Wikipedia-Artikel „poetry slam“ (http://de.wikipedia.org/wiki/Poetry_Slam#cite_note-41; Abruf: 10.1.2015). 94 LyrikerInnen wie Michael Lentz (*1964) oder Nora Gomringer (*1980), die durch die Schule der Slam Bühnen gegangen sind, bevor sie Publikationen in renommierten Verlagen vorgelegt haben, exemplifizieren die Durchlässigkeit zwischen (einstigem) Underground und Höhenkamm im 21. Jahrhundert. 95 Z. B. die Lyrik eines Franzobel oder Albert Ostermaier, die durchdrungen ist von einem Moment „inszenierte[r] Mündlichkeit“, von „Oralität als Strukturelement lyrischer Textpartituren“. (Korte: Zurückgekehrt in den Raum der Gedichte, S. 16.) Nicht wenige Lyrikbände erscheinen künftig mit CD, etwa Thomas Kling: Fernhandel. Köln 1999; oder Albert Ostermaier: Heartcore. Gedichte. Frankfurt/M. 1999. 96 Wenn man das hier betrachtete Feld um das Grenzgebiet von Lyrik und Musik erweitert, so lässt sich ein Höhepunkt von erheblicher Wirkung auf die Jugendkultur ausmachen, der die These vom ‚Wendejahr 1995‘ stützt: In diesen Jahren erlebte die deutschsprachige Musikszene, die auf eine Verschränkung von reflektierter Sprache, avancierter Form, Engagement, ‚literarischen‘ Themen und Musik abhob, mit der sog. Hamburger Schule einen zweiten Höhepunkt nach der Neuen Deutschen Welle: Zwar waren die wegbereitenden Alben etwa von Kolossale Jugend sowie Cpt. Kirk &. bereits Ende der 1980er Jahre erschienen, in der öffentlichen Wahrnehmung erreichte die Bewegung ihren Höhepunkt jedoch nach dem Blumfeld-Album L’état et moi und Das bißchen Totschlag von den Goldenen Zitronen (beide 1994), mit Digital ist besser und Nach der verlorenen Zeit von Tocotronic (beide 1995) sowie – wiederum von den Zitronen – Economy Class und Posen
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andere Seite des gesellschaftlichen Spektrums (neben dem Literarischen Quartett) von einem auf der Spitze des Höhenkamms balancierenden Unternehmen bedient: Vom fortwährenden Appetit bildungsbürgerlicher Kreise auf Lyrik lebt die „immerwährende Frankfurter Anthologie, die von Marcel Reich-Ranicki in der FAZ allwöchentlich redigierte Poesie-Lektion […]. Trotz langjähriger Laufzeit erfreut sich die Reihe, wie noch der 22. Jahresband von 1999 zeigt, eines ungebrochenen Zuspruchs.“97 Seit 1974 erschien in jeder Samstagsausgabe der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ein Gedicht mit einem Kommentar eines Lyrikkenners. Das Motto dieses Projekts lautet: „Der Dichtung eine Gasse.“ 1995 fand unter diesem Motto am 12.2.1995 eine PR-Matinee des Insel-Verlags gemeinsam mit FAZ und HR statt, bei der Elisabeth Borchers, Clemens Eich, Ulla Hahn, Peter Rühmkorf, Albert von Schirnding, Karl Krolow und Hilde Domin vor großem und ausdauerndem Publikum rezitierten und interpretierten, flankiert vom Gastgeber Marcel Reich-Ranicki sowie von Peter von Matt, Siegfried Unseld und Peter Wapnewski.98 Lyrik als bildungsbürgerlicher lifestyle – so verstanden sie vermutlich auch die Herausgeber der Zeitschrift Das Gedicht, die im Editorial des 4. Heftes etwa eine Veranstaltung wie folgt annoncierten:
Diesen Herbst bietet sich übrigens wieder die Gelegenheit, [Paul] Wühr im Rahmen eines Colloquiums in Passignano persönlich kennenzulernen, mit ihm und anderen passionierten Lesern auf einer stillgelegten Allee zu diskutieren, Rotwein zu genießen und, mit Blick auf den Lago Trasimeno, etwas von der „fast magischen Gewalt“ (J. Sartorius) zu erfahren, von dem sinnlich-anarchischen Sprachumgang dieses vielleicht letzten Zauberers aus der Schule Ovids und seiner ‚Metamorphosen‘.99
Slam Poetry vs. Frankfurter Anthologie, Anarchismus und/oder Basisdemokratie vs. großbürgerliche Gediegenheit, Social Beat vs. ‚meet & greet‘ mit Dichter, Rotwein und Lago-Blick: gegensätzlicher konnten die Gesichter, mit denen sich
von Die Sterne (1996). Die Wirkung der Hamburger Schule auf die deutschsprachige Musikszene, den aufblühenden Indiepop (und für Bands von Tomte bis Kettcar) sowie die nachrückende Generation des Hochfeuilletons ist bis heute spürbar. 97 Elm: Einleitung, S. 15f. Die Frankfurter Anthologie ist jedoch keineswegs ein Forum für zeitgenössische Lyrik: Von den insgesamt 50 Gedichten, die in der FAZ in den Jahren 1994/95 erschienen und im 19. Bd. versammelt sind, stammt das Gros aus dem 19. Jahrhundert. Die ‚jüngere‘ Lyrik ist lediglich durch Ludwig Harig, Robert Schindel, Ulla Hahn und Durs Grünbein vertreten. Vgl. Marcel Reich-Ranicki (Hg.): Frankfurter Anthologie. Neunzehnter Band. Gedichte und Interpretationen. Frankfurt/M. 1996. 98 Vgl. Sonntagsvergnügen. In: Börsenblatt für den deutschen Buchhandel 29 (11.4.1995), S. 6–10. 99 Anton G. Leitner: Editorial. In: Das Gedicht 4 (Oktober 1996), S. 5.
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Gegenwartslyrik einer breiteren Öffentlichkeit präsentierte, kaum sein.100 Zwischen beiden Extremen – und gleichsam dispensiert vom erschöpfenden Bestreben nach Breitenwirksamkeit – fand und findet das Gros der Lyrik seit 1995 statt: in Klein(st)verlagen, Zeitschriften, auf mittelgroßen Festivals und kleinen Bühnen vor (oft noch) kleinerer Zuhörerschaft, in Literaturhäusern und Lyrikkabinetten. Statt um Bestätigung durchs Lesepublikum (qua Anbiederung oder Engagement), so ließe sich zugespitzt folgern, bemühte sich die Lyrik Mitte der 1990er Jahre um Selbstvergewisserung. Die befriedete Nischenexistenz (und das ‚Outsourcing’ von Anstrengungen wie Engagement, Massenkompatibilität und Bildungsbürgerzuwendung) eröffnete ihr die Möglichkeit einer Rückbesinnung auf ihr Material und ihre Traditionen, einer „Rückkehr in den Raum der Gedichte“101 – kurz: die Besinnung auf die Arbeit am Text und seiner Poetik.
Die deutschsprachige Lyrik nimmt die Arbeit 102 am ‚Sprachkörper‘ auf Die Lyrik der 1990er Jahre lässt sich nicht mehr (und vor allem nicht trennscharf gegenüber den Jahren vor/nach 1995) durch eine Inflation oder Deflation von Themen wie ‚Natur‘, ‚Liebe‘, ‚Tod‘ o. Ä. definieren, selbst wenn Korte ein Verschwinden der Liebeslyrik, eine Deflation der Naturlyrik oder eine Zunahme der Alterslyrik auszumachen glaubt.103
100 Bogdal registriert in seiner differenzierten soziologischen Betrachtung der Literatur der 1990er Jahre eine „Pluralität der Diskurse“ und die „Tendenz zur Differenzierung und Autonomisierung traditioneller Klassen und Schichten der modernen Industriegesellschaft zu Milieus“ und schließt daraus, „dass die hegemoniale literarische Öffentlichkeit […] zerfällt […]. An ihre Stelle treten milieuspezifische Öffentlichkeiten“. Klaus-Michael Bogdal: Klimawechsel. Eine kleine Meteorologie der Gegenwartsliteratur. In: Andreas Erb (Hg.): Baustelle Gegenwartsliteratur. Die neunziger Jahre. Opladen, Wiesbaden 1998, S. 9–31, hier S. 13f. 101 Korte: Zurückgekehrt in den Raum der Gedichte. 102 Vgl. Achim Geisenhanslüke: Altes Medium – Neue Medien. Zur Lyrik der neunziger Jahre. In: Clemens Kammler, Torsten Pflugmacher (Hg.): Deutschsprachige Gegenwartsliteratur 1989–2003. Zwischenbilanzen – Analysen – Vermittlungsperspektiven. Heidelberg 2004, S. 37–49, S. 41. Vor dem Hintergrund des fundamental veränderten Medienverständnisses zwischen den Generationen präsentiert Geisenhanslüke seinen differenzierten Überblick über die Lyrik der 90er Jahre „am Leitfaden der Themen Körperlichkeit, Sprachreflexion, Intertextualität und Geschichtlichkeit“ (ebd., S. 38). 103 Vgl. Korte: Zurückgekehrt in den Raum der Gedichte, S. 27–35. ‚Liebe‘ und ‚Natur‘ sind und bleiben m.E. Konstanten der Lyrik nach 1995 (wie seit Jahrtausenden), auch wenn sie da und dort
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Ein neues Thema, das zugleich auf formalästhetischer und thematischer Ebene in den Vordergrund rückt, ist hingegen die Konfrontation mit den Medien, die in (Lebens-)Praxis und Theorie omnipräsent werden. „Es liegt auf der Hand,“ so Erk Grimm, daß die an der Kontaktzone zwischen Körper und Medien entstehende Poesie kein saisonales Phänomen sein kann. Die seit geraumer Zeit erkennbaren Veränderungen, die Lyrikhistoriker geflissentlich übergehen, schneiden tief in die grammatische Substanz zeitgenössischer Dichtung.104
Zwischen der Lyrik der älteren Generation, die – wie Hans Magnus Enzensbergers Gedicht „Altes Medium“105 – den neuen Medien eine Absage erteilt und (mit Goethe-, Benn- und Gryphius-Zitaten) die alten Werkzeuge der Dichtung beschwört („Als hardware ein Bleistiftstummel – / das ist alles“),106 und den Gedichten der Jüngeren, die – wie bei Barbara Köhler oder Ulrike Draesner – „im Grenzbereich von Körpern und Maschinen arbeite[n]“,107 tut sich eine unüberwindbare Kluft auf. Halten die einen an einer distanzierten kulturkritischen Warte fest, „schreiben und trennen die [anderen] auf, was vernetzten Lesern am Bildschirm fortlaufend vor den Augen flimmert.“108 „Nichts“, so Geisenhanslüke, „kann den Bruch zwischen Enzensberger und den Tendenzen der neuen Gegenwartsliteratur besser erläutern als das veränderte Verständnis aller Medien, das die Lyrik der 1990er Jahre kennzeichnet.“109 Ulrike Draesners „Monolog“ ist einer, der sich in totaler Vereinzelung an Bildschirmen vollzieht, „monopol und monoman jeder am / Schirm, jeder für sich, so infam / die neue Sprachzungenverkettung […] und immer am Reden, / und jeder für sich.“110 Zugleich sprach- wie medienkritische Reflexion und poetische Subversion des allgegenwärtigen ‚Flimmerns’ sind Barbara Köhlers Gedichte wie „MISTWETTER“, ihre Gewährsleute – mit Wittgenstein und Mandelbrot, McLuhan und Barthes – (Sprach-)Philosophen und Medientheoretiker, Mathematiker und Meteorologen.
ironisch gebrochen erscheinen; und auch Alterslyrik wird es immer geben, solange LyrikerInnen altern und schreiben. 104 Grimm: Das Gedicht nach dem Gedicht, S. 292. 105 Hans Magnus Enzensberger: Altes Medium. In: H. M. E.: Kiosk. Neue Gedichte. Frankfurt/M. 1995, S. 96f. 106 Ebd., S. 97. 107 Grimm: Das Gedicht nach dem Gedicht, S. 310. 108 Ebd., S. 290. 109 Geisenhanslüke: Altes Medium – Neue Medien, S. 38. 110 Draesner: gedächtnisschleifen, S. 52.
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Es regnet es regnet die Erde wird blaß […] die Mehrung bunter Fronten auf Tokio scheint von einer Schmetterlingsplage befallen in allen drei Farben flimmernde Pixel die Bilder ergeben sich kampflos den aufheiternden Kommentaren bedroht vom Rauschen atmosphärischer Störungen wie Regen und Gewitter das Fernsehen beeinträchtigt den Empfang froher Botschaften sie kommen dazwischen ist der Regen ein Medium ist die message111
Durch Köhlers Hakenstil, der mit der Figur des Apo koinou und semantischen Polyvalenzen operiert (das ‚Rauschen‘ des Windes, Regens usw. vs. das ‚Rauschen‘ der Sprache (Barthes) oder das weiße Rauschen), verschmelzen Natur und Technik, Artikulationsorgane und Netzwerk, Medientheorie und Kinderlied, Schmetterlingseffekt und TV-Signal, Wetterkarte und durch Fraktalgeneratoren ermöglichte Visualisierung der Mandelbrotmenge. Ebenso wie jedes erdenkliche Thema in einem Gedicht Platz zu finden scheint, gibt es keine tradierte Form, die nicht gefüllt, unterlaufen, gebrochen oder radikal gesprengt bzw. verweigert werden könnte. Das Spektrum reicht 1995 von Sonetten und volksliedartigen kreuzgereimten Strophen in Krolows Die zweite Zeit bis zu Wührs verdichteten Figurationen, die auf einer Auflösung der herkömmlichen Syntax und einer systematischen Kombinatorik sprachlicher „Elementarteilchen“112 bzw. -phrasen beruhen,113 von Seilers prosanahen, oft im epischen Präteritum gehaltenen freien Versen in berührt/geführt114 bis zu Draesners sprachschöpferischen gedächtnisschleifen, die die totale Gegenwart medialer, körperlicher und sinnlicher Erfahrung evozieren, von Waterhouse’ haikuartigen, an Matsuo Bashô (1643–1694) angelehnten Dreizeilern in Die Schweizer Korrektur115 bis zu Grünbeins artifiziellen Adaptionen von historischen Vers- und
111 Barbara Köhler: Blue Box. Gedichte. Frankfurt/M. 1995, S. 27. 112 Volker Hoffmann: Paul Wühr. In: Munzinger Online/KLG – Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur (http://www.munzinger.de/document/16000000611; Abruf: 10.1.2015). 113 In Ob der Magus in Norden jeweils eingeleitet durch die Subjunktion „ob“ (vgl. Paul Wühr: Ob der Magus in Norden. München 1995). 114 Lutz Seiler: berührt/geführt. Gedichte. Berlin 1995. 115 Grünbein, Oleschinski, Waterhouse: Die Schweizer Korrektur, S. 3–47.
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Gedichtformen wie Hexameter und Epitaph in Falten und Fallen oder Den teuren Toten.116 Die Vielfalt der Stimmen, Stile, Formen und Themen der Gedichtpublikationen des Jahres 1995 ästhetisch oder gehaltlich auf einen Nenner bringen zu wollen, wäre – angesichts der Diversifikation, der Spaltung der Generationen, der Zersplitterung in Milieus, der Öffnung ins (außer)europäische Ausland – wahlweise ein einigermaßen illusorisches und vergebliches oder aber dogmatischselektives Unterfangen, nichtsdestoweniger soll abschließend der Versuch unternommen werden, zumindest einige Linien und neue Akzente exemplarisch herauszuarbeiten, die ab 1995 verstärkt ins Formen- und Themenrepertoire eingeschrieben werden. In schlagwortartiger Zuspitzung wären diese etwa mit folgenden drei Begriff(skomplex)en umrissen, die jeweils anhand eines charakteristischen Vertreters erhellt werden sollen: (1) Aufkündigung des ‚Ich-Reflexes‘, (2) Spracharbeit und (3) ‚neue Hermetik‘.
Aufkündigung des ‚Ich-Reflexes‘ 1995 legt Hans Thill seinen zweiten Gedichtband Zivile Ziele vor,117 der auf 92 Seiten ohne das Wort ‚ich‘ auskommt, nicht als contrainte (wie sie sich die Oulipo-Dichter auferlegten),
sondern schlicht und einfach als ausgleichende Gerechtigkeit, weil ich das Gefühl hatte, dass meine älteren Kollegen, Freunde oder nicht, zumeist Dichter der „Neuen Subjektivität“, in den letzten Jahren schon ziemlich oft, wenn nicht gar immerzu „ich“ gesagt hatten, vielleicht ein paar Male zuviel. […] Es war die Zeit der langsam schwindenden Verkündungsgewissheit unter den Lyrikern, der vielleicht angelesenen und dennoch eben neu erweckten Sprachzweifel, die einhergingen mit einer gewissen Skepsis vor dem Jammerwörtlein Ich. Es war die Zeit […], als die Gedichtbände von Thomas Kling und Bert Papenfuß erschienen, mit Texten […], die sich dem sprachlichen Material zuwandten.118
116 Durs Grünbein: Falten und Fallen. Frankfurt/M. 1994; D. G.: Den teuren Toten. 33 Epitaphe. Frankfurt/M. 1994. 117 Hans Thill: Zivile Ziele. Heidelberg 1995. 118 Das Zitat ist dem Vortrag „Der Text als Test“ entnommen, den Thill im Rahmen der Mainzer Poetikdozentur am 8.2.2013 gehalten hat. 1993 stellte sich Dirk von Petersdorff (damit vereint mit Lyrikern wie Mattias Politycki, Steffen Jacobs oder Robert Gernhardt) als Advokat postmoderner Ironie und eines ‚luftigen Ich‘ in Opposition zu den radikalen Spracharbeitern Jan Koneffke, Thomas Kling, Bert Papenfuß, Durs Grünbein und Barbara Köhler. Vgl. Dirk von Petersdorff: Was ist an Kitzbühel so schlimm? Junge Lyrik. Fünf Porträts, ein Essay, ein Gedicht. In: Neue Rundschau 3 (1993), S. 88–105.
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Das Unbehagen, das sich hier artikuliert, ist symptomatisch auch für das Gros der deutschen LyrikerInnen: Das der Sprache und seiner selbst mächtige (‚lyrische‘) Ich, das den Poststrukturalisten bereits ein bis zwei Dekaden zuvor abhandengekommen war, hat in den 1990er Jahren seinen Status als ‚Verkünder‘, Befindlichkeitsseismograph, poetische Schaltzentrale oder auch nur privilegierte Sprechinstanz endgültig verloren. Die „Jüngeren haben, mit einem Wort von Durs Grünbein, dem Cartesianischen ‚Ich‘ als ‚bedingtem Reflex‘ gekündigt. […] Denn das Ich hat à la longue seine Sinn-Versprechen nicht gehalten, es hat die Welt um ihren Sinn betrogen. Es hält keine wegweisenden Orientierungen vor.“119
Spracharbeit Die ‚Zuwendung zum sprachlichen Material‘ kennzeichnet die avancierte Lyrik der 1990er Jahre bis heute, mit dem sichtbaren Effekt, dass „die ungefälligen Schreibweisen von Thomas Kling, Thomas Gruber oder Bert Papenfuß […] mit dem normierten Standard-Deutsch nicht kompatibel“ sind.120 In Papenfuß’ Gedicht „breites volk auf schmalem grat“121 heißt es: „was texten wir einander zu / ausgekaspert & abgekanzelt / seid ihr denn homosexuell / mach hinne, jetzt aba schnell / ohm aufm roß & hinten im troß.“ Die in einer Art stenographischer Lautschrift fixierte Montage von Parolen und Paronomasien wird bei Papenfuß zum Ausdruck der „Erfahrung, dass Herrschaft und Macht an sublime Sprachspiele, Denkmuster und medial verbreitete Wahrnehmungsschemata gekoppelt sind“, deren Destruktion erst ein „Bewußtsein nichtdeformierter Sprache“122 herzustellen vermag. Der sprachkritisch-subversive Impuls der Lyrik von Bert Papenfuß ähnelt – wenngleich er, wie Uwe Kolbes drastische Abrechnung mit der deutschen Sprache in Nicht wirklich platonisch („Das deutsche Idiom ist Klinge im Hals, / symmetrische Kotze, röchelnder Schlund“123), einem völlig anderen Milieu entspringt – demjenigen eines Thomas Kling und seiner „sprachschöpferischen Wahlverwandten“124 wie Czernin, Egger, Köhler, Waterhouse oder Ulf Stolterfoht.
119 Elm: Lyrik Heute, S. 607. Das Zitat stammt aus Durs Grünbein: homo sapiens correctus. In: D. G.: Falten und Fallen, S. 75f. 120 Braun: Ganz kleine Verschiebungen, S. 211. 121 Bert Papenfuß: routine in die romantik des alltags. Mit Zeichnungen von Helge Leihberg. Berlin 1995, S. 58. 122 Braun: In aufgerissenen Sprachräumen, S. 277. 123 Uwe Kolbe: Daheim II. In: Nicht wirklich platonisch. Gedichte. Frankfurt/M. 1994, S. 14. 124 Braun: In aufgerissenen Sprachräumen, S. 277.
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‚Neue Hermetik‘ In Zwischen den Zeilen finden sich die ersten Gedichte aus Ulf Stolterfohts Fachsprachen, die ab 1998 in vier Bänden erscheinen.125 Sperrig wie die titelgebenden Fachsprachen folgen sie einem antisemantischen Impuls, verweigern sich weitgehend der Bedeutungszuweisung und führen Sprachskepsis in spielerisch-überraschendem Duktus vor, anstatt sie theoretisch zu entfalten. Das erste Gedicht beginnt: „eröffnet lebhaft: sätze gibt es. schließt behauptet: / wörter füllen sie auf. das sei dann auch schon alles. / im oberton ein lediglich wie was gewiß gemeinhin ist: / die gute wahrnehmung des obsts […]“126 Stolterfoht zitiert und montiert Zitate, (Fach-)Sprachen, auch entlegene Quellen aus Literatur und Linguistik, Kognitionspsychologie, Philosophie und (Pop-) Musik – gemäß dem von der Rockband Skeleton Crew geborgten Motto „You may hear unidentified voices at various moments.“127 Die verschiedenartigsten (Sprach-)Materialien werden inkorporiert und mit Wortspielen, Binnen- und Stabreimen versetzt; das Gedicht wird zum Sprachlabor. Das lyrische Sprechen, wie es Stolterfoht versteht, ist zugleich Fachsprache und ihr Gegenteil – insofern als Fachsprachen terminologische Präzision und definitorische Eindeutigkeit garantieren, während Stolterfohts Texte (wie der an Wittgenstein, Frege, Russell, Peirce u.a. geschulte Autor) um die Vergeblichkeit des Verstehens wissen und daraus Funken schlagen. Sie führen – in ungleich radikalerem Maße – genau das vor, was Grünbein für sein lyrisches Werk proklamiert: das „Konzept eines Schreibens am Schnittpunkt sehr vieler Stimmen“.128 Die verständlichen Botschaften, wie sie viele Gedichte der achtziger Jahre ‚transportierten‘,129 sind wie Ulf Stolterfoht vielen LyrikerInnen der 1990er Jahre suspekt. Sie alle eint die Überzeugung, die Thomas Klings programmatisch mit „Hermetisches Dossier“ überschriebener Aufsatz eröffnet: dass gerade das hermetische Gedicht engagiert und subversiv sein kann, insofern es sich dem massen-
125 Ulf Stolterfoht: fachsprachen I–IX. Basel, Weil/Rhein 2005 [zuerst 1998]; fachsprachen X– XIII. Basel, Weil/Rhein 2008 [zuerst 2002]; fachsprachen XIX–XXVII. Basel, Weil/Rhein 2005; fachsprachen XXVIII–XXXVI. Basel, Weil/Rhein 2009. 126 Ulf Stolterfoht: fachsprachen IV. In: Zwischen den Zeilen 6 (1995), S. 131–141, hier S. 132. 127 Stolterfoht: fachsprachen I-IX, S. 125. 128 Durs Grünbein: Drei Briefe. In: Spr.i.t.Z. 122 (1992), S. 172–180, hier S. 175. 129 Die Lyrik der 1970er und 1980er Jahre macht aus ihrer Aversion gegen das ‚Unverständliche‘ keinen Hehl und ruft ihr Ende aus, vgl. stellvertretend (auch für die sog. Neue Subjektivität) Jürgen Theobaldy: Anmerkungen zum Ende der hermetischen Lyrik. In: J. T., Gustav Zürcher (Hg.): Veränderung der Lyrik: Über westdeutsche Gedichte seit 1965. München 1976, S. 9–25.
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medialen Mainstream und seiner unterkomplexen Sprachverwendung widersetzt. „Was darf das Gedicht dieser Jahre keinesfalls sein? Ich meine laut: Rezeptionsund Unterhaltungsindustrie.“130 Am Ende des Jahrzehnts bleibt den Lyrikern nur die achselzuckende (und nonchalant-lakonische) Entschuldigung gegenüber dem Mainstream-Publikum: „es tut mir leid: gedicht ist nun einmal: schädelmagie“.131
Literaturverzeichnis Primärliteratur Adelmann, Roland (Hg.): Downtown Deutschland. Underground Anthologie. Essen: Isabel Rox Verlag 1992. Anderson, Sascha, Elke Erb, (Hg.): Berührung ist nur eine Randerscheinung. Neue Literatur aus der DDR. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1985. Barthes, Roland: Das Licht des Südwestens. In: Sinn und Form (1996) H. 3, S. 401–405. Becker, Jürgen, Brigitte Oleschinski: Korrespondenzen an den Rändern des Sprechens. Jürgen Becker antwortet auf einen Brief von Brigitte Oleschinski. In: Zwischen den Zeilen 5 (1994), S. 28–43. Beyer, Marcel: Falsches Futter. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1995. Biermann, Wolf: Alle Gedichte. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1995. Blumenberg, Hans: Aspekte der Epochenschwelle. Cusaner und Nolaner. Erw. und überarb. Neuausg. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1976. Braun, Michael, Hans Thill (Hg.): Das verlorene Alphabet. Deutschsprachige Lyrik der neunziger Jahre. Heidelberg: Wunderhorn 1999. Braun, Volker: Lustgarten. Preußen. Ausgewählte Gedichte. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1996. Chiarloni, Anna, Helga Pankoke (Hg.): Grenzfallgedichte. Eine deutsche Anthologie. Berlin, Weimar: Aufbau 1991. Conrady, Karl Otto (Hg.): Von einem Land und vom andern. Gedichte zur deutschen Wende 1989/ 1990. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1993. Czernin, Franz Josef: Marcel Reich-Ranicki. Eine Kritik. Göttingen: Steidl 1995. Czernin, Franz Josef: Zu Durs Grünbeins Gedichtband Falten und Fallen. In: Schreibheft 45 (1995), S. 179–188. Draesner, Ulrike: gedächtnisschleifen. Gedichte. München: Luchterhand 2008 [zuerst: Frankfurt/ M.: Suhrkamp 1995]. Drews, Jörg (Hg.): Das bleibt. Deutsche Gedichte 1945–1995. Leipzig: Reclam 1995. Egger, Oswald: Die Erde der Rede. Gedicht. Münster: Kleinheinrich 1993. Egger, Oswald: Gleich und Gleich. Zürich: Edition Howeg 1995. Eliade, Mircea: Initiation und Literatur. In: Sinn und Form (1996), H. 4, S. 627–630.
130 Thomas Kling: Hermetisches Dossier. In: T. K.: Itinerar. Frankfurt/M. 1997, S. 51–58, hier S. 51. 131 Kling: Fernhandel, S. 82.
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Franziska Schößler und Hannah Speicher
Statistiken, Stücke und (West-Ost)Debatten: 1995 im Theater und Drama Für das Theater (als Institution, nicht primär als Literatur) ist es nicht unbedingt naheliegend, sich auf ein Kalenderjahr samt seiner herausragenden Produktionen zu konzentrieren, denn eine Spielzeit umfasst zwei Kalenderjahre. Noch dazu werden Entscheidungen häufig in einer früheren Spielzeit getroffen, die erst in der nächsten zum Tragen kommen und somit ‚verspätet‘ als Ereignis wahrnehmbar sind. Darüber hinaus verhalten sich die Uraufführung und die Publikation von Theatertexten zeitlich komplex zueinander – nicht selten geht die Inszenierung der Veröffentlichung des Textes voraus, die weniger relevant sein kann als die Produktion. Verlage wie der Suhrkamp Theaterverlag sind entsprechend primär an der Theaterpraxis interessiert und nicht auf eine breite Öffentlichkeit ausgerichtet; Gegenwartsdramatik findet kaum Leser und Leserinnen. Gleichwohl können statistische Informationen über das Jahr 1995 ausgewertet werden, wie hier im ersten Teil des Beitrags. Aussagekräftig sind neben herausragenden Texten oder Inszenierungen (wie im Jahr 1995 Einar Schleefs Totentrompeten) die feuilletonistischen Debatten, institutionellen Entscheidungen und Spielplantendenzen, die zusammengenommen eine ‚dichte Beschreibung‘ des Jahres 1995 ergeben.
Stücke und Kulturpolitik Der Deutsche Bühnenverein veröffentlicht zu jeder Spielzeit1 die Werkstatistik Wer spielte was? und dokumentiert das Repertoire von rund 500 Bühnen aus Deutschland, Österreich und der deutschsprachigen Schweiz anhand von Inszenierungs-, Aufführungs- und Zuschauerzahlen.2 Grundsätzlich ist zu dieser Werk-
1 Da das statistische Material für die jeweiligen Spielzeiten zusammengefasst wird, ist das Bild unweigerlich ungenau. Im Folgenden wird die Spielzeit 1995/96 mit dem Theaterjahr 1995 gleichgesetzt, was deshalb zu vertreten ist, weil die Planungen der Spielzeit 1995/96 zum Großteil in der ersten Jahreshälfte von 1995 stattgefunden haben. 2 Nicht nur das Sprechtheater wird erfasst, sondern auch die großen Opern- und Landesbühnen sowie Privat- und Tourneetheater. Für die Spielzeit 1995/96 wurden 71.200 Aufführungen registriert. Vgl. Rolf Bolwin: Vorwort. In: Bundesverband deutscher Theater (Hg.): Wer spielte was? Werkstatistik 1995/96 des Deutschen Bühnenvereins. Darmstadt 1996, S. 3.
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statistik Folgendes festzuhalten: Autoren wie Shakespeare, Goethe, Brecht und Molière sind die meistgespielten Autoren in allen Jahrgängen der 1990er Jahre. Dass diese Autoren die Statistik quantitativ dominieren, ergibt sich aus der großen Anzahl an Bühnenklassikern, die im Rahmen des Bildungsauftrags der Theater feste Spielplanpositionen besetzen und über Jahre hinweg in den Repertoires verbleiben. Nur sehr selten erreichen einzelne zeitgenössische Autoren und Autorinnen diese Inszenierungswerte, und wenn, dann handelt es sich um Boulevard-Autoren wie Neil Simon oder aber etablierte Autoren und Autorinnen, die bereits eine Vielzahl an Stücken vorgelegt haben wie beispielsweise Tankred Dorst.3 Zudem finden sich in allen Spielzeitstatistiken sehr hohe Werte für Kinderund Jugendtheater: Pippi Langstrumpf war mit insgesamt 211.334 Zuschauern in 422 Aufführungen (an verschiedenen Bühnen) das meistgesehene Stück der Spielzeit 1995/96. Rolf Bolwin, der Direktor des Bühnenvereins, betont im Vorwort zur Ausgabe 1995/96, dass der Gesamtzuwachs an Zuschauern im Vergleich zur vorangegangenen Saison in erster Linie auf die Erfolge im Bereich Kinder- und Jugendtheater zurückzuführen sei.4 Auch was das meistinszenierte Stück betrifft, stellt die Spielzeit 1995/96 keine Ausnahme dar: Während im Jahr davor mit David Mamets Oleanna ein zeitgenössisches Stück diesen Titel inne hatte, erobert sich 1995/96 Shakespeares Sommernachtstraum (mit 31 Neuinszenierungen) diesen Rang zurück – 1994/95 war es das zweithäufigst inszenierte Drama – und wird in 460 Aufführungen von 163.393 Zuschauern gesehen. Betrachtet man die Aufführungszahlen der erfassten Stücke, ergibt sich ein spezifischeres Bild der Saison: Hinter der Boulevard-Komödie Dinner für Spinner von Francis Veber, die (ausschließlich an Privattheatern) 531 Mal gespielt und von 102.213 Zuschauern gesehen wird, rangiert das am 29. Oktober 1995 an der Berliner Schaubühne in Deutschland erstaufgeführte Stück „KUNST“ von Yasmina Reza, das allein dort in 74 Aufführungen von 31.279 Zuschauern gesehen und in der gesamten Spielzeit in 519 Aufführungen und 15 Inszenierungen von 107.755 Zuschauern besucht wird. Das Kammerspiel um drei Freunde, von denen einer ein vollständig weißes Bild für 200.000 Francs erwirbt, wurde 1994 in Paris uraufgeführt und avancierte schnell zu einem Welterfolg.5 Bereits zwischen Oktober und Dezember 1995 wird „KUNST“ sechs weitere Male im deutschsprachigen Raum inszeniert. Dieter Hadamczik hält im Vorwort zur Werkstatistik fest, dass der „sich anbahnende Bestseller“ die aktuelle Lage einer Gegenwartsdramatik spiegele, die „[a]uch in der Spielzeit 1995/96 […] wieder kein neues Werk [hervorgebracht hat], 3 Vgl. Dieter Hadamczik: Tendenzen. In: Bundesverband deutscher Theater (Hg.): Wer spielte was? Werkstatistik 1994/95 des Deutschen Bühnenvereins. Darmstadt 1995, S. 6. 4 Vgl. Bolwin: Vorwort, S. 3. 5 Vgl. Yasmina Reza: „KUNST“. In: Theater heute 3 (1996), S. 45–53.
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das herausragende Beachtung bei den Bühnen fand und zugleich zu einem gegenwärtig wichtigen gesellschaftspolitischen Thema Stellung bezieht“.6 Doch sieht es 1995 wirklich so finster für das Gegenwartstheater und seine gesellschaftliche Relevanz aus? Berücksichtigt man die regionalen Unterschiede, so ergibt der Vergleich der ‚Theatergroßstädte‘ München, Frankfurt, Hamburg und der neuen Theatermetropole Berlin folgendes Bild: In Hamburg am Deutschen Schauspielhaus spielt man 1995/96 (häufiger als an anderen Bühnen im deutschsprachigen Raum) Elfriede Jelinek ([→] Die Kinder der Toten), und zwar sowohl Raststätte oder sie machens alle als auch Wolken.Heim und (als Uraufführung) Stecken, Stab und Stangl (im April 1996). Alle drei Stücke zusammen werden von rund 11.500 Zuschauern in 64 Aufführungen gesehen – da zwei der Stücke auf der kleinen Bühne (Malersaal) gespielt werden, eine gute Auslastung. Am Frankfurter Theater am Turm wendet man sich bereits früh der internationalen Performance-Szene zu, zeigt 1995 zwei Arbeiten von Jan Fabre und kooperiert mit Needcompany. Das ‚große‘ gesellschaftspolitische Stück allerdings lässt sich in der Tat nicht finden. Gleichwohl zeigt sich an allen Bühnen außerhalb Berlins und besonders an den Münchner Kammerspielen ein großes Interesse an den ‚Volkstheaterstücken‘ von Werner Schwab und Franz Xaver Kroetz. Der Berliner Fall ist etwas anders gelagert und zeigt andere Tendenzen als das westdeutsche Feld. Die Wende führt zu einer fundamentalen Neukartierung der Theaterlandschaft in Deutschland, nicht nur zu Schließungen und Fusionen, sondern auch zu einer Verlagerung der Metropole. München muss Berlin als Theaterhauptstadt angesichts der sieben Sprechtheater weichen, über die die neue Hauptstadt unmittelbar nach der Wiedervereinigung verfügt: Ab 1990 bilden die drei westdeutschen Bühnen, die Freie Volksbühne, die Schaubühne am Lehniner Platz und das Schillertheater gemeinsam mit den vier Theatern im Osten, also mit dem Berliner Ensemble, dem Deutschen Theater, der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz und dem Maxim Gorki-Theater ein gemeinsames, in der Folge stark umkämpftes Feld. Die neue Hauptstadt profitiert ganz wesentlich von der Begegnung der ost- und westdeutschen Traditionen. Es entstehen innovative ästhetische Stile, neue Formen der Organisation (wie insbesondere an Frank Castorfs Volksbühne) und die vormals westdeutschen Institutionen, beispielsweise das Theatertreffen, erfahren eine Revitalisierung durch das Aufeinandertreffen unterschiedlich sozialisierter Künstler. Beispiele für diese kreative Konfrontation sind Christoph Marthalers legendärer Liederabend Murx den Europäer! Murx ihn, murx ihn ab! (UA 1993, in der Spielzeit 1995/96 noch von 15.081 Zuschauern gesehen), Castorfs Doppelinszenierung von Pension Schöller/Die
6 Hadamczik: Tendenzen, S. 6.
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Schlacht (seit der vorangegangenen Spielzeit im Spielplan) oder auch Heiner Müllers überaus erfolgreiche letzte Regiearbeit Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui. Allein in der Spielzeit 1995/96 verzeichnet das Berliner Ensemble 51.536 Zuschauer des Stückes, einen Wert, den kaum eine andere Inszenierung in diesem Jahr erreicht. Flankiert werden die ästhetischen Prozesse von grundlegenden Auseinandersetzungen im Feld der Kulturpolitik; es geht um Regieaufträge, Intendantenposten, die ästhetische Ausrichtung und den kulturpolitischen Auftrag der Häuser. Erster Höhepunkt dieser Konfrontation ist die unerwartete Schließung zweier westdeutscher Theater: Nach dem Subventionsstopp für die Freie Volksbühne im Juli 1992 veranlasst der Berliner Senat im Oktober 1993 die Schließung des Schillertheaters, eine – so Arno Paul – „ins kulturelle Mark der triumphierenden Bundesrepublik zielende Demontage“.7 Doch mit Blick auf das gesamtdeutsche Theaterfeld und die Theatertexte der 1990er Jahre kann von einem Siegeszug der Post-DDR-Dramatik keineswegs die Rede sein. Vergleicht man die Aufführungszahlen für die Spielzeit 1995/96 von Volker Braun (nur noch mit einer Inszenierung vertreten, [→] Der Wendehals), Christoph Hein (sieben Inszenierungen, jedoch keine im Westen) und Peter Hacks (zehn Inszenierungen, zur Hälfte Jugendtheaterstücke) mit jenen aus der Vorwendezeit, so sind die Genannten kaum noch vertreten.8 Selbst die Zahlen zu Heiner Müllers Stücken weisen auf eine zunehmende Marginalisierung hin, die durch seinen Tod im Dezember 1995 kurzfristig aufgehalten wird. 1995 spielen lediglich sechs Theater Dramen von Müller, für die Zeit nach seinem Tod weist die Statistik 16 (zumeist eilig ins Programm genommene) Inszenierungen auf, weshalb in der gesamten Spielzeit dann doch 40.000 Zuschauer Müller-Stücke sehen (Arturo Ui als eine Regiearbeit Müllers nicht mit einbezogen). Auch jüngere in der DDR geborene Autoren scheinen sich auf dem gesamtdeutschen Theaterfeld nicht etablieren zu können. Ausnahmen bilden allein Oliver Bukowski, dessen Stücke in 13 Inszenierungen gespielt werden, und Lothar Trolle, der in den 1990er Jahren mit Vorliebe von Dramaturgen als Repräsentant einer ‚verlorenen‘ DDR-Autorengeneration wiederentdeckt, aber auch schnell erneut vergessen wird. Festzuhalten sind also markante Unterschiede zwischen den Entwicklungen auf dem Buchmarkt und dem Feld des institutionalisierten Theaters. Anders als
7 Arno Paul: Vom Krebsgang des Stadttheaters. Trotz der nationalen Wiedervereinigung blieb das deutsche Schauspiel im Schatten der siebziger und achtziger Jahre. In: Forum modernes Theater 15.2 (2000), S. 97–112, hier S. 97. 8 Vgl. Jürgen Schröder: ‚Postdramatisches Theater‘ oder ‚neuer Realismus‘. Drama und Theater der neunziger Jahre. In: Wilfried Barner (Hg.): Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart. München 2006, S. 1080–1120, hier S. 1095.
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ostdeutsche Regisseure und Schauspieler setzen sich ostdeutsche Dramatiker im Theater der 1990er Jahre nicht durch, oder anders formuliert: Erfolgreiche ostdeutsche Schriftsteller wie Thomas Brussig ([→] Helden wie wir) oder Ingo Schulze ([→] 33 Augenblicke des Glücks) schreiben nicht für das Theater, obschon sie ‚Kinder der Theaternation DDR‘ sind.9 Ist 1995 also eine auffällige Häufung an aufsehenerregenden Prosa-(Erstlings-)Werken festzustellen, so mag diese Tendenz auch mit den Entwicklungen am Theater und seiner Schließung für ostdeutsche Autoren zusammenhängen. Zwar gibt es einzelne nachhaltige Erfolge wie Rezas „KUNST“ oder Müllers Arturo Ui, doch eine signifikante Zunahme an ästhetisch innovativen Stücken in der Spielzeit bleibt aus. Erweitert man jedoch die Perspektive über die engen Grenzen der Statistik hinaus, kann man die Spielzeit 1995/96 als End- bzw. Umschlagphase begreifen, in der das Verhältnis von Postdramatik und Realismus auf dem Theater neu austariert wird. Obwohl das Konzept und Phänomen Postdramatik10 die theaterwissenschaftliche Theorie und Forschung des gesamten Jahrzehnts dominiert,11 häufen sich in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre in den Spielplänen der Stadttheater Formen eines neuen realistischen Schreibens. Autoren und Autorinnen wie Roland Schimmelpfennig, Dea Loher, Anja Hilling und Falk Richter legen Dramen vor, die zwar an den postdramatischen Theatersprachen der 1980er und frühen 1990er Jahren geschult sind, jedoch vermehrt Rollen und Konflikte für ein Schauspielertheater anbieten, wie es das deutsche Stadttheater mit seinem tiefverankerten Ensembleprinzip repräsentiert. Zudem legen die jungen Dramatiker und Dramatikerinnen den Fokus auf soziale Themen wie Familie und Arbeit.12 Dieser neuen Stückgruppe wenden sich die Theater 1995 jedoch lediglich zaghaft
9 Eine Ausnahme bildet die Bühnenfassung von Helden wie wir, die 1996 am Deutschen Theater uraufgeführt und auch an anderen Häusern sehr erfolgreich wurde, nicht jedoch von Brussig selbst, sondern vom Regisseur der Uraufführung, Peter Dehler, erstellt wurde. 10 Vgl. u. a. Erika Fischer-Lichte et al. (Hg.): Transformationen. Theater der neunziger Jahre. Berlin 1999; Hans-Thies Lehmann: Postdramatisches Theater. Frankfurt/M. 1999; Gerda Poschmann: Der nicht mehr dramatische Theatertext. Aktuelle Bühnenstücke und ihre dramaturgische Analyse. Tübingen 1997. 11 Vgl. zum Beispiel zur Wiederentdeckung und Bedeutung des Chores im postdramatischen Theater der 1990er Jahre: Hajo Kurzenberger: Chorisches Theater der neunziger Jahre. In: FischerLichte et al. (Hg.): Transformationen, S. 83–92; Günther Heeg: Der Tod der Gemeinschaft. In: Fischer-Lichte et al. (Hg.): Transformationen, S. 93–100; Ulrike Haß: Im Körper des Chores. Zur Uraufführung von Elfriede Jelineks Ein Sportstück am Burgtheater durch Einar Schleef. In: Fischer-Lichte et al. (Hg.): Transformationen, S. 71–82. 12 Vgl. Christine Bähr: Der flexible Mensch auf der Bühne. Bielefeld 2012; sowie Franziska Schößler: Augen-Blicke. Erinnerung, Zeit und Geschichte in Dramen der neunziger Jahre. Tübingen 2004.
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zu; Theatertexte von Schimmelpfennig und Loher finden sich nur vereinzelt in den Spielplänen. Verschiebt man den Fokus von Deutschland nach England, so kann 1995 als markante symbolische Zäsur angesehen werden. Im Januar des Jahres feiert Sarah Kanes Blasted (Zerbombt) am Royal Court Theatre in London Premiere und Mark Ravenhill debütiert mit seinem Erstling Fist. Die innovative Kraft dieser jungen britischen Autoren und Autorinnen wird wenig später die Karriere des deutschen Regisseurs Thomas Ostermeier beflügeln: In der Spielzeit 1996/97 übernimmt er die Baracke des Deutschen Theaters, die 1998 von Theater heute als „Theater des Jahres“ ausgezeichnet wird. Ostermeier konzentriert sich auf die Stücke der British Brutalists und inszeniert seine Spielstätte als Gegenpol zu den postdramatischen und (ost-)avantgardistischen Theaterexperimenten, die zu dieser Zeit insbesondere an Castorfs Volksbühne stattfinden. Aus dem Umfeld der Baracke ergeben sich neue Impulse für das gesamtdeutsche Theaterfeld, doch die Theaterkritik führt diese Revitalisierung brisanterweise ausschließlich auf die englischen Einflüsse der British Brutalists zurück, ohne sichtbar zu machen, dass das Deutsche Theater, das die Experimente ermöglicht, das Staatstheater der DDR war. Auch ignorieren die Feuilletons die große Schnittmenge zwischen Ostermeiers Konzept und jenem Teil der DDR-Theaterkultur, der sich durch einen sozialen Auftrag und eine realistische Ästhetik auszeichnet. Es handelt sich also in gewissem Sinne um eine camouflierte Ost-West-Übersetzung. Von diesen Vorgängen aus betrachtet ist der Erfolg von Rezas Stück „KUNST“ mit seinem modernekritischen (und bisweilen auch kunstfeindlichen) Duktus sowie seiner scheinbaren ‚Ideologiefreiheit‘ weitaus symptomatischer für die Zeit, als eine erste Lektüre des Theatertextes vermuten lässt. Michael Eberth führt aus (und signalisiert damit Tendenzen der Theaterdebatten): Ich war im fünften Jahr Chefdramaturg am Deutschen Theater, dem einstigen Staatstheater der DDR, wo die Kunst-Debatten um die Frage kreisten, ob das „welke Seelengesülze“ des Westtheaters, das „abgeschlaffte Virtuosentum“ des Osttheaters oder etwas noch gar nicht benennbares Drittes den künftigen Kurs des Theaters bestimmen sollte, und hatte geglaubt, die Ansichten einer mir unbekannten Französin über Kunst und Nichtkunst könnten bei der Klärung dieser Frage allenfalls stören. […] Bei der Premiere der „KUNST“ musste ich erleben, dass die Kollegen vom Lehniner Platz einen Triumph einheimsten, und musste mir hinterher vorwerfen, das Stück mit den Augen der Abwehr gelesen zu haben.13
13 Michael Eberth: Zum Theater der Yasmina Reza. Gefallsucht bricht Leidenschaft. Online: http://nachtkritik.de/index.php?option=com_content&task=view&id=1115&Itemid=61; Abruf: 13.3.2013.
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Theaterdebatten: Müller, Schleef und Castorf als „Neue Rechte“? Nach 1989 und verstärkt im Jahr 1995 wird der Ost-West-Diskurs keineswegs ad acta gelegt, sondern aggressiv zugespitzt; er ist für die deutsch-deutsche Theaterkultur mit ihren Ästhetiken, Stilen und Praktiken geradezu prägend. In den Berliner Debatten der ersten Hälfte der 1990er Jahre kulminieren die harschen Auseinandersetzungen um Deutungshoheiten, Selbstverständnis der Intellektuellen – nach 1989 mussten sich die Ost-Intellektuellen neu definieren, weil ihre Allianz mit den Arbeitern demontiert worden war – und um den Umgang mit deutsch-deutscher Vergangenheit. Profiliert werden in den Debatten wie auch der Praxis die unterschiedlichen Schauspielstile in Ost- und West-Deutschland bzw. ihre stereotypen Imagines – der kalte, handwerklich perfekte Ost-Schauspieler steht dem sich einfühlenden, experimentierenden West-Schauspieler gegenüber –, zudem die unterschiedlichen ästhetischen Zielsetzungen beider Theaterkulturen, die auch nach 1989 aufgrund habitueller Dispositionen nicht aufgegeben werden: Spielt im Osten – zugespitzt formuliert – das Soziale eine zentrale Rolle, so im Westen das Artistisch-Innovative.14 Besonders heftig tobt der Ost-West-Kampf am Berliner Ensemble, wo anders als an den anderen Berliner Bühnen – von der Kulturpolitik forciert – der Versuch unternommen wird, starke Akteure aus Ost und West auf der Leitungsebene des Theaters zusammenzubringen. Das Haus wird von 1992 bis zum Tod von Heiner Müller im Dezember 1995 in Gemeinschaftsintendanz15 von fünf Theatermachern geführt. Zusammen mit den zwei (ästhetischen) Antipoden Heiner Müller und Peter Zadek teilen sich Peter Palitzsch, Matthias Langhoff (beide in den 1970er Jahren vom Osten in den Westen gegangen) und Fritz Marquardt die Leitung des Hauses. Die fünf Theatermacher wandeln das BE in eine GmbH um, an der jeder mit 20.000 DM beteiligt ist. In seiner 2010 veröffentlichten Autobiografie beschreibt Zadek die Konfliktlinien der Theaterarbeit am Haus wie folgt: Die Ex-DDR-Schauspieler sind in einer anderen Kultur, in einer anderen Welt großgeworden, in einer Welt, in der Kommandos gegeben und Sachen festgelegt werden.16
14 Vgl. Anja Klöck: Heiße West- und kalte Ost-Schauspieler? Diskurse, Praxen, Geschichte(n) zur Schauspielausbildung in Deutschland nach 1945. Berlin 2008; Skadi Jennicke: Theater als soziale Praxis. Ostdeutsches Theater nach dem Systemumbruch. Berlin 2011; Tanja Bogusz: Institution und Utopie. Ost-West-Transformationen an der Berliner Volksbühne. Bielefeld 2007. 15 Die Zusammensetzung der künstlerischen Leitung wechselt nahezu jedes Jahr. Als erster verlässt Matthias Langhoff die Gruppe. 16 Peter Zadek, Elisabeth Plessen: Die Wanderjahre. 1980–2009. Köln 2010, S. 278.
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Es heißt weiter: Es gab […] eine grundsätzliche Ablehnung für mein konzeptloses Theater, das […] [die] Schauspieler des Ost-Ensembles für oberflächlich hielten. Es mußte immer über den Kopf gehen. Ganz genau. Warum man das tut und warum man jenes tut. Und das war sehr schwierig. Dabei waren die Schauspieler am BE nicht schlecht, sie hatten nur diesen Knacks. Und ich dachte, man könnte den Knacks wegkriegen, und stellte dann fest, man kann es nicht.17
Die Positionskämpfe am BE entzünden sich in diesen Jahren des Öfteren an Einar Schleefs Theaterarbeiten und deren Verhältnis zur deutschen Vergangenheit – Schleef inszenierte seit den 1980er Jahren im Westen und wurde von Beginn an aufgrund der zum Teil aggressiv skandierenden Chöre von verschiedener Seite einer faschistischen Ästhetik bezichtigt. Zadek kritisiert insbesondere Schleefs Uraufführung von Rolf Hochhuths Wessis in Weimar 1993: Ich sah […] nur ein Teil des Resultats, denn nach der ersten Dreiviertelstunde marschierten SA-Männer auf der Bühne, die im Chor irgendetwas vor sich hin brüllten, und da ging ich raus. Ich konnte das nicht ertragen. Das ist eine Art von Theater, die mich an Nürnberg erinnert.18
In der Januar-Ausgabe des Spiegels 1995 erklärt Zadek, er habe sich nach diesem Erlebnis dagegen gewehrt, dass Schleef seine „Späße“19 weiterhin am BE treibe, und das, obwohl Wessis ein sehr erfolgreicher ‚Spaß‘ bzw. die bestbesuchte Inszenierung des Jahres war, die die Kritik vom Faschismus-Vorwurf durchaus entlastet hat. Zadek, der das Prinzip der Werktreue von Uraufführungen vertritt, solidarisiert sich auf diese Weise mit dem Autor Rolf Hochhuth. Denn auch Hochhuth, der juristisch gegen Schleefs Inszenierung vorzugehen versucht hatte, wirft Schleef unsinnige NS-Allusionen, die aggressiven, inhumanen Sprechchöre sowie die Streichungen und die Montage von Fremdtexten vor. Um die Spielerlaubnis für nur eine Saison zu erhalten, muss sich das BE deshalb verpflichten, jedem Premierenbesucher den Originaltext und eine Entgegnung Hochhuths auszuhändigen, was einem partiellen Sieg des West-Autors über den Ost-Autor und -Regisseur gleichkommt.20 Schleef seinerseits beschreibt die Ereignisse auf drastische Weise als Exklusions- und Vertreibungserfahrung:
17 Ebd., S. 277. 18 Ebd., S. 225. 19 Peter Zadek: Den Killern ein Alibi. In: Der Spiegel 4 (1995), S. 183. 20 Vgl. Nikolaus Müller-Schöll: Entstaltung der moralischen Anstalt. Zur Ausstellung der Sprachbildung im Trailer von Einar Schleefs Inszenierung Wessis in Weimar. In: Felix Ensslin (Hg.): Spieltrieb. Was bringt die Klassik auf die Bühne? Schillers Ästhetik heute. Berlin 2006, S. 252–267.
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Nach dem Hochhuth-Stück Wessis in Weimar vom deutschen Bruderkrieg, dessen Originaltext, nicht die von Hochhuth hinterher korrigierte Fassung, ich toll fand – einen der größten deutschsprachigen Entwürfe –, gibt es für mich keine Arbeit mehr in Berlin. Wenn ein Außenseiter einen größeren Erfolg hat, dann ist man intern verschnupft. Das geht über Bruderkrieg hinaus; ist schon Selektion. Beinahe Auschwitz.21
Auch Heiner Müller greift, zumindest indirekt, den Auschwitz-Vergleich auf und spricht davon, dass er und die DDR-Geschichte durch die Allianz Zadek/Hochhuth ausgelöscht werden sollten.22 Der Konflikt zwischen Ost und West wird also durch den Holocaust und seinen Opfer-Diskurs aggressiv aufgeladen. Der jüdische Regisseur Zadek beendet 1995 die Auseinandersetzung, indem er das BE verlässt. Schleef kann in der Spielzeit 1996/97, also nach Müllers Tod, mit seiner Inszenierung von Brechts Herr Puntila und sein Knecht Matti an das Berliner Ensemble zurückkehren. Parallel zu seinem Ausstieg initiiert Zadek eine mediale Debatte, in der er davor warnt, dass Castorf, Schleef und Müller23 gemeinsam mit Botho Strauß und anderen einen „neudeutschen Nationalismus einbimmeln“.24 Diese neu-rechte Allianz liefere – so Zadek – dem Antisemitismus ein Alibi. Es sei selbstverständlich, dass 40 Jahre Training im Osten einen Haufen Rechte hinterlassen habe.25 Heiner Müller ist hingegen der Auffassung (und orientiert sich
21 Gisela Bartens: „Jetzt sprechen Äxte“. Ein Widerspenstiger, ungezähmt. Theaterrebell Einar Schleef im Gespräch. Über anschellende [!] Bocksgesänge, über die Ex-DDR, über das Burgtheater und über die neuen Pläne. In: Kleine Zeitung (5.2.1995). Online: http://dramagraz.mur.at/dramagraz/produktionen/schleef/presse/presse_totentrompeten/950205_Kleine-Zeitung.pdf; Abruf: 15.03.14. 22 Vgl. Karl-Wilhelm Schmidt: Literaturdebatten des westlichen Feuilletons um Heiner Müller. Vom IM zum „Neuen Rechten“. In: Peter Monteath (Hg.): Kulturstreit – Streitkultur. German literature since the wall. Amsterdam 1996, S. 51–73, hier S. 53. Schmidt spricht von Hahnenkämpfen (S. 54) und arbeitet die Debatte in den führenden Zeitungen auf, die geradezu als Hetzjagd der westdeutschen Zeitungen auf die ostdeutschen Autoren wahrgenommen wurde. 23 Den ostdeutschen Theatermachern geht es in dieser Auseinandersetzung, die 1995 kulminiert, zugleich um eine Kritik am westlichen Intellektuellen der 1968er Jahre, der weiterhin die Deutungshoheit beansprucht. Frank Castorf, so Helmut Böttiger, richte sich gegen das gesamte linksliberale, sozialdemokratische Milieu und den Kulturbetrieb der alten Bundesrepublik. Der Habitus der 68er mache ihn ebenso aggressiv wie ihre „Betroffenheitsmaschinerie“, so Castorf; Helmut Böttiger: Brutstätte eines neuen deutschen Gefühls. Die Volksbühne im Herzen der Republik. In: Lothar Probst (Hg.): Differenz in der Einheit. Über die kulturellen Unterschiede der Deutschen in Ost und West: 20 Essays, Reden und Gespräche. Berlin 1999, S. 186–196, hier S. 189. 24 Doris Hacker, Urs Jenny: Theater ist feudalistisch. Dramatiker Heiner Müller über das Berliner Ensemble, DDR-Nostalgie und Rechts-links-Verwirrungen. In: Der Spiegel 12 (1995), S. 224–226, hier S. 225. 25 Zadek: Den Killern ein Alibi, S. 183.
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damit an Klaus Heinrich), dass man dem Nationalsozialismus allein dann auf den Grund käme, wenn man seiner Faszination nachspüre. 1995 wird auf dem Theater also verstärkt mit dem Umgang mit dem Nationalsozialismus gerungen. Der im Osten zementierte Mythos des antifaschistischen Widerstandskämpfers beginnt zu bröckeln und es scheint eine neue Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit einzusetzen, wie sie beispielsweise in Franz Xaver Kroetz’ Stück am BE Ich bin das Volk zum Gegenstand wird, ebenso in Johann Kresniks Ernst-Jünger-Abend an der Volksbühne (Premiere 30.12.1994), der die Gewaltbilder Jüngers subversiv zu überbieten versucht.26 Heiner Müller fasst die Positionen dieser Debatte wie folgt zusammen: Zadek hat Recht, wenn er sagt, dass im Westen der beflissene Philosemitismus den Antisemitismus mobilisiere, und ebenso hat bei uns der programmatische Antifaschismus eine Gegenbewegung hervorgebracht. Das Gefährliche ist der Schwund der Mitte. Was im Moment stattfindet, ist eine verzweifelte, blinde Suche nach Feindbildern. Ohne Feinbilder gibt es keine Politik.27
Castorf, Müller und Schleef sehen sich 1995 einem Diskurs ausgesetzt, der sie in Analogie zur Argumentation im deutsch-deutschen Literaturstreit zur „Neuen Rechten“ zählt. Diese ruft Botho Strauß in seinem Essay Der anschwellende Bocksgesang in dem Band Die selbstbewusste Nation ebenfalls aus.28 Müller und Castorf, Experten des Tabubruchs, provozieren und befeuern diese Zuordnung in ihren Interviews geradezu. Eine zentrale Figur, an der sich die Debatte über den Faschismus entzündet, ist Ernst Jünger ([→] Siebzig verweht), der 1995 seinen hundertsten Geburtstag feiert und für Sinn und Form-Chefredakteur Sebastian Kleinschmidt eine ebenso große Rolle spielt wie für Müller und Castorf. Die Gegenseite bezichtigt die vermeintlichen Apologeten Jüngers einer vitalistischen Zivilisationskritik, die sich durch ihre antiwestlichen, antimodernen und irrationalen Züge als reaktionär diskreditiert habe. Bereits im Verlauf des deutsch-deutschen Literaturstreits (1990/91) wurde den kritisch-loyalen DDR-Autoren und -Autorinnen (allen voran Christa Wolf, Heiner Müller, Volker Braun und Christoph Hein) die Nähe zur deutschen Zivilisations- und Modernekritik als systemstabilisierende Legitimationsstrategie für den Fortbestand des Sozialismus vorgeworfen und als Argument
26 Diese Inszenierung widerlegt die einfache Deutung, Castorf sei ein „Neuer Rechter“; schließlich zeichnet er als Intendant für Kresniks Engagement verantwortlich. 27 Hacker, Jenny: Theater ist feudalistisch, S. 225. 28 Botho Strauß: Anschwellender Bocksgesang. In: Heimo Schwilk (Hg.): Die selbstbewußte Nation: Anschwellender Bocksgesang und weitere Beiträge zu einer deutschen Debatte. Frankfurt/M 1994, S. 19–40.
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gegen die Qualität ihrer Texte ins Feld geführt. Die provokativ-emphatischen Bezüge zu Ernst Jünger, die Müller und Castorf Mitte der 1990er Jahre in Interviews herstellen, rufen dieses Argument erneut auf. Die ostdeutschen Theatermacher seien gefährlich, weil ihr Antikapitalismus antiwestlich und antiamerikanisch, antimodern und vitalistisch und daher tendenziell faschistisch und nationalistisch sei.29 Der mediale Diskurs kulminiert, als Frank Castorf 1995 mit seinem Ruf nach „neuen Stahlgewittern“ falsch zitiert wird. Er spricht an sich von seiner Sehnsucht in den 1980er Jahren in der DDR, die Stagnation durch die Aktion, wie sie Jünger in den 1920er Jahren propagiert hatte, aufzubrechen. Ernst Jünger30 steht mithin für einen Angriff auf Bürgerlichkeit, auf die langweilige kleinkrämerische Gesellschaft der Mitte. Die ostdeutschen Theatermacher kritisieren in seinem Namen den „importierten Kapitalismus“ der BRD mit entsprechenden Mentalitäten.31
Der Theatertext des Jahres 1995: Totentrompeten von Einar Schleef Das Jahrbuch 1995 des westdeutschen Magazins Theater heute, das mit Martin Wuttke als Arturo Ui (über den von Christo verkleideten Reichstag gebeugt) geziert ist, ruft Einar Schleef für sein Stück Totentrompeten zum Autor des Jahres aus. Für dieses Stück in der Inszenierung von Ernst M. Binder erhält Schleef 1995 zudem den Mülheimer Dramatikerpreis. Inszenierung des Jahres ist Castorfs Adaption von Elfriede Jelineks Raststätte oder sie machens alle am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg. Damit werden wesentliche Positionen in diesem Theaterjahr von ostdeutschen Theatermachern besetzt. Die Anerkennung, die dem kleinen Stück Totentrompeten zu Teil wird (vier Inszenierungen 1995/96 mit insgesamt 1.300 Zuschauern), ist vor dem Hinter
29 Vgl. zu dieser Argumentation Richard Herzinger: Werden wir alle Jünger? Über die Renaissance konservativer Modernekritik und die postmoderne Sehnsucht nach der organischen Moderne. In: Kursbuch 122 (1995), S. 93–117; sowie Richard Herzinger, Heinz-Peter Preußer: Vom Äußersten zum Ersten. DDR-Literatur in der Tradition deutscher Zivilisationskritik. In: Heinz Ludwig Arnold, Frauke Meyer-Gosau (Hg.): Literatur in der DDR. Rückblicke. München 1991, S. 195–209. 30 Der Aktionismus Jüngers lässt sich als Haltung der Avantgarde lesen, als reiner Aktionismus, den Enzensberger im Kontext der Historischen Avantgarden als ziellos und ohne inhaltliche Programmatik moniert. 31 Vgl. Böttiger: Brutstätte eines neuen deutschen Gefühls, S. 191.
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grund der skizzierten Diskurskonstellation bemerkenswert, denn der Theatertext setzt dem männlich-martialischen Ost-West-Streit und den offiziellen Erinnerungsdiskursen etwas anderes entgegen – eine kleine Geschichte von Frauen, ausschließlich von Frauen, die vom provinziellen Alltag in der Endphase der DDR erzählt und bis zum surrealen Exzess der Banalität getrieben wird. Schleef hat das Stück kurz nach seiner Republikflucht 1976 verfasst und etwa zehn Jahre später, 1987, veröffentlicht. Daraufhin dauerte es weitere acht Jahre, bis der Text zur Uraufführung gelangte. Am 28. Januar 1995 findet in Kooperation mit dem Forum Stadtpark Theater in Graz die Premiere von Totentrompeten auf der Kammerbühne des Mecklenburgischen Staatstheaters in Schwerin statt; Regie führt Ernst M. Binder.32 Schleefs ursprünglicher Plan war es, Binders Inszenierung zusammen mit zwei weiteren seiner Stücke, die „die Auflösung der DDR beschreiben“,33 am BE zu zeigen. Dieses Vorhaben wurde durch Zadeks Veto verhindert. Die Wahl für die Uraufführung fiel daraufhin auf das Mecklenburgische Staatstheater Schwerin und das Forum Stadtpark Theater. Mögen diese Häuser aus Berliner Perspektive weit an der Peripherie liegen, so kamen beide Institutionen (der Regisseur ein Österreicher, die drei Schauspielerinnen DDR-Größen) Schleefs Anspruch entgegen, „[g]enau das Gegenteil zu sonst [zu] machen. Mit nur […] [wenigen] Schauspielern. Keine Massen. Von innen her die Problematik aufrollen.“34 Wie in seinem fulminanten inneren Monolog Gertrud, der die Mutter in Sangerhausen samt ihrer drastischen physischen Selbstwahrnehmung, ihren Naturbegegnungen und Sehnsüchten porträtiert, wendet Schleef in Totentrompeten seinen Blick auf das Frauenleben und den Alltag in der DDR. Im Vorwort zum Text heißt es:
TOTENTROMPETEN. Das sind Pilze, die TOTENTROMPETEN, bläulich, violett, manchmal schwarz, auch braun, eßbar erscheinen sie nicht, abschreckend, schmecken dafür umso besser. Aber man muß sie kennen. Kennen auch die Trompeten, die eigenes Ende ankündigen. Ende? Dagegen heißt es sich zu stemmen, weglaufen können sie nicht, die 3 Alten, festgenagelt in der DDR und in meinem Buch GERTRUD. TOTENTROMPETEN auch für die DDR, für die Lebensumstände.35
32 Vgl. Wolfgang Behrens: Einar Schleef. Werk und Person. Berlin 2003, S. 174. 33 Bartens: „Jetzt sprechen Äxte“, S. 4. 34 Auch Emmanuel Béhague betont: „L’oeuvre dramatique chez Schleef se distingue clairement de la mise en scène“; Emmanuel Béhague: L’Histoire, vue d’en bas. Le cycle Totentrompeten d’Einar Schleef. In: Hilda Inderwildi (Hg.): Le théâtre contemporain de langue allemande. Écritures en décalage. Paris 2008, S. 129–141, hier S. 130. 35 Einar Schleef: Totentrompeten. In: Einar Schleef: Totentrompeten 1–4. Stücke und Materialien. Frankfurt/M. 2002, S. 7–56, hier S. 7.
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Es handelt sich bei dem Stück des Jahres 1995 also nicht um ein explizites Nachwendestück; Totentrompeten steht vielmehr in einem engen intertextuellen Bezug zu den dramatischen Endspielen der DDR-Literatur der 1970er und 1980er Jahre. Analog zu Schleef unternehmen in dieser Phase Autoren wie Georg Seidel (Villa Jugend) und Uwe Saeger (Jeder gegen jeden: die (De)Montage eines deutschdeutschen Traum(a)s) den Versuch, das Alltägliche und Provinzielle der DDR zu konservieren und „bis ins Detail aufzuzeichnen“,36 indem sie von „gescheiterte[n] Flucht- und Flugversuche[n] aus einer im Stillstand begriffenen […] Gesellschaft“37 erzählen. Was Schleef von diesen Autoren trennt, ist sein Bewusstsein für die Materialität der Sprache; das äußert sich mitunter in einem an Gerhart Hauptmann geschulten thüringisch-sächsischen Kunst-Dialekt.38 Zudem oszilliert das Stück zwischen Aphasie und Hochwertworten, zwischen inneren Monologen, minimalistischer Alltagsdiktion und lyrischen Eskapaden. Während Lotte im kompletten Stück die Sprache verweigert (nachdem sie sich aus Liebeskummer töten wollte), quasseln Trude und Elly ohne Unterlass, weit eher jedoch im Modus eines rhythmisierten fortwährenden Selbstgesprächs als dialogisch, so dass die Repliken in gewissem Sinne chorisch wirken. Dadurch verschwimmt auch die Grenze zwischen Sprache und Aktion, zumal es neben Szenenüberschriften kaum Nebentexte gibt – für die Umsetzung auf der Bühne eine Herausforderung, wie die Schauspielerinnen des Schweriner Theaters bestätigen.39 Die Überschriften gliedern den Text in 19 Szenen und hybridisieren Brecht mit Hanni und Nanni;40 nach Franz Wille bleibt unklar, ob Schleef Brecht durch diese Banalisierung überbieten oder vernichten wolle.41 In den Szenenüberschriften heißt es beispielsweise „1. Trude und Elly bratschen in Trudes Ehebett, jemand stromert ums Haus“, „2. Trude und Elly rennen zu Lotte“, „3. Trude und Elly knacken Lottes Wohnungstür, Lotte liegt dahinter“, bis hin zur letzten Überschrift „Trude und Elly besuchen Lotte in der Geschlossenen, Lotte ist hinter Glas.“ Was über die Figurenrede an Geschehen vermittelt wird, gleicht noch dazu häufig Slapsticks: Die drei Frauen fallen übereinander, schleppen sich in Wäschekörben aus der
36 Einar Schleef: Droge Faust Parsifal. Frankfurt/M. 1997, S. 485. 37 Behrens: Einar Schleef, S. 174. 38 Vgl. Schleef: Droge Faust Parsifal, S. 63, S. 81 u. S. 87. 39 Vgl. Martin Linzer: Sangerhausen in Schwerin. In: Schleef: Totentrompeten 1–4, S. 273–279, hier S. 273. 40 Zum Hanni und Nanni-Vergleich siehe Heike Oehlschlägel: Totentrompeten von Einar Schleef: Eine Erwiderung. In: Patrick Primavesi, Olaf A. Schmitt (Hg.): AufBrüche: Theaterarbeit zwischen Text und Situation. Berlin 2004, S. 267–272, hier S. 269. 41 Vgl. Franz Wille: Über Einar Schleefs Totentrompeten. Gespräch mit Martin Wuttke. In: Theater heute (Hg.): Jahrbuch Theater 1995. Berlin 1995, S. 102–106, hier 106.
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Klinik und durch den Wald – dynamische Aktionen, die die impliziten Regieanweisungen lediglich erahnen lassen. Gleichwohl ist die Grundkonstellation zwischen den Frauen recht deutlich: Trude und Elly wollen ihrer verstummten, suizidgefährdeten Freundin Lotte eine Reise nach Moskau abluchsen, die diese gemeinsam mit ihrem Ex-Liebhaber gebucht hatte. Schleef führt (ähnlich wie Werner Schwab in seinem „Wohnkuchl“-Drama Die Präsidentinnen) das Beziehungsgeflecht zwischen drei älteren Frauen vor und legt damit eine herunterdeklinierte Adaption von Tschechows Renner Drei Schwestern vor, was den Text ebenfalls eng mit dem DDR-Theater der 1980er Jahre verbindet. Denn „Nach Moskau, nach Moskau“42 sehnen sich nicht nur die Figuren der Totentrompeten, sondern auch die aus Volker Brauns Übergangsgesellschaft, einem der meistgespielten Theaterstücke der Wendezeit.43 Was Schleef und Braun voneinander trennt, ist jedoch zweierlei: Schleef gelingt es weit eher, sich von einem stereotypen männlichen Blick auf die Frauenfiguren zu lösen. Braun stellt zwar weibliche Figuren ins Zentrum, allen voran die Schauspielerin Mette, deren Theaterpraxis als Möglichkeit politischer Emanzipation vorgeführt wird. Doch Kehrseite dieser (scheinbaren) Aufwertung von Weiblichkeit ist ihre Reduzierung auf Antirationalität, Naturhaftigkeit und Körper. Zudem kommt Schleef ohne Brauns holzschnittartige Symbolik aus: In der Übergangsgesellschaft steht das Niederbrennen der Villa für den Untergang des Staatsgebäudes DDR und die Figuren verkörpern wie auf einem Tableau verschiedene Typen von DDR-Bürgern samt deren intergenerationalen Konflikten. Was Schleefs Diktion sowie der Verzicht auf leicht zu entschlüsselnde Symbole und die Diskursivierung von Raum und Aktion hingegen evoziert, ist eine Hermetik bzw. ein existenzieller Einschluss im Körper, der zugleich denjenigen in der DDR meint. Das Stück über drei alte (Haus-)Frauen, die unflätig über ihre körperlichen Gebrechen sprechen und den eloquenten Stil Tschechows konterkarieren, scheint in der öffentlichen Debatte merkwürdig deplatziert. Bei genauem Blick allerdings formuliert Schleef eine auch theoretisch ausgearbeitete Kritik am Theater, am west- wie ostdeutschen. In dem 1997 erscheinenden Essay Droge Faust Parsifal moniert er den Ausschluss der Frau aus der Tragödie sowie das Verschwinden des Chores. Schleef leitet aus Strauß’ Elektra ab, daß die Verdrängung der Frau und die Verdrängung des Chores engstens mit der Vertreibung des tragischen Bewußtseins zusammenhänge[], so, als wäre das tragische Bewußt-
42 Schleef: Totentrompeten, S. 55. 43 Vgl. Volker Braun: Die Übergangsgesellschaft. In: Peter Reichel (Hg.): Die Übergangsgesellschaft. Stücke der achtziger Jahre aus der DDR. Leipzig 1989, S. 63–92.
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sein, wenn es die Szene wieder beträte, Domäne der Frau und unsere Auseinandersetzung mit diesem Anspruch der andauernde Konflikt, den selbst die Operette in Szene setzt.44
Schleef unternimmt deshalb im Anschluss an Nietzsches Tragödien- und Pathosbegriff den Versuch, gegen die deutschen Klassiker [als Dramatiker des Individualismus] den antiken ChorGedanken zu beleben, die Rückführung der Frau in den zentralen Konflikt zu erreichen, die mit der Rückführung des tragischen Bewußtseins gekoppelt ist.45
Sein Stück über drei Frauen bereitet diese Reinklusion von Weiblichkeit in das Theater vor, auch wenn es mit tragikomischen Elementen arbeitet. Der Slapstick ermöglicht jedoch die Präsenz des Körpers, ganz ähnlich wie Schleef die Vergangenheit in seiner Inszenierung von Jelineks Ein Sportstück über exzessive Körperbilder thematisiert: Gerade weil Schleef weiß, daß historische Erinnerung nicht einfach über das Bewußtsein, sondern durch körperliche Innervation geschieht, verweigern sich seine Bilder der simplen moralischen oder politischen Ausdeutung. Sie verstören umso tiefer und erzwingen Reflexion: Körpergedächtnis, das sich mit einem Überfall auf das Sensorium des Zuschauers vereint.46
In Totentrompeten sind die Körper der Akteurinnen47 in hohem Maße gegenwärtig, ohne dass von Vergangenheit, genauer: vom Nationalsozialismus die Rede wäre.
44 Schleef: Droge Faust Parsifal, S. 9. 45 Ebd. 46 Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 165f. 47 Aufschlussreich ist auf der Ebene der theatralen Produktionsverhältnisse zudem, dass Schleefs Stück drei ältere Schauspielerinnen beschäftigt. Diese Position wird seit 1989, also mit der Prekarisierung der Theater, zunehmend durch Gäste ersetzt. Schleef hat sich bereits in den 1980er Jahren (auch im Westen) mit den Produktionsbedingungen des Theaters auseinandergesetzt. In der DDR herrschte insgesamt eine größere Wahrnehmung davon, dass ästhetische Artefakte die Produkte von Arbeit seien. Heiner Müller verstand das Theater als Modellfall freier Arbeit, auch wenn er die gegenwärtige Stadttheatertradition als feudalistische und damit nicht demokratische bezeichnete. Schleef bemüht sich erfolgreich darum, dass männliche und weibliche Darsteller nicht unterschiedlich bezahlt werden, wie im Westen und Osten üblich. An diese Praxis erinnert er 1995 in Theater heute, ebenso an die „Kritikverrohung“, die er am eigenen Leibe (vor 1989 und danach) erlebt habe. Er verspricht, das Preisgeld des Mülheimer Dramatikerpreis mit seinen drei Darstellerinnen zu teilen.
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Schleefs Theatertext markiert also insgesamt eine Leerstelle in der aggressiven Debatte um „Stahlgewitter“ und die Neue Rechte. Er verweist auf eine alternative, verschüttete Form von (weiblicher) Erinnerung – das Stück spielt ausdrücklich vor Glasnost –, so dass es (mit Heike Oehlschlägel) den radikalsten Gegenentwurf zu Müllers Hamletmaschine bezeichnet, der der Müller’schen „brachial-resignative[n] endspielartige[n] Emotionalität“48 und „[d]em tödlichen Hauruck-Affekt […] de[n] tägliche[n] Kampf um den Erhalt von Leben und Beziehung gegenüber[stellt]“.49 Das Jahr 1995 stellt auf dem Theater also durchaus einen Wendepunkt dar, zeichnet sich jedoch nicht durch eine Häufung markanter Theatertexte aus. Die enge Vernetzung von institutionellen Prozessen, Theaterkritik und ästhetischer Produktion führt vielmehr zu Unzeitgemäßheiten und alternativen Phasierungen bzw. Kulminationspunkten in den diversen Subfeldern. So lässt sich 1995 als ein Höhepunkt der medialen Ost-West-Auseinandersetzung bezeichnen, in der der Status von Erinnerung (an den Holocaust), der Habitus von Intellektuellen und die Kritik konflikthaft verhandelt werden, um die theatralen Traditionen (in Ost und West) zu legitimieren. Zeitgleich deuten sich Entwicklungen an, die in den nächsten Jahren die Theaterlandschaft mit weitreichenden Folgen verändern werden: Mit dem Erfolg Ostermeiers an der Baracke (1996) und dann an der Schaubühne setzt sich ein ökonomiekritischer Realismus durch – Top Dogs von Urs Widmer erscheint 1997 –, der den Ost-West-Diskurs im Angesicht zunehmender Prekarisierung (auch der Arbeitsverhältnisse am Theater) verschiebt und den sozialen Auftrag des DDR-Theaters adaptiert, ohne dass es zu einer Aufwertung ostdeutscher Theaterpraktiken käme.
Literaturverzeichnis Bähr, Christine: Der flexible Mensch auf der Bühne. Bielefeld: transcript 2012. Bartens, Gisela: Jetzt sprechen Äxte. Ein Widerspenstiger, ungezähmt. Theaterrebell Einar Schleef im Gespräch. Über anschellende [!] Bocksgesänge, über die Ex-DDR, über das Burgtheater und über die neuen Pläne. In: Kleine Zeitung (5.2.1995). Online: http://dramagraz. mur.at/dramagraz/produktionen/schleef/presse/presse_totentrompeten/950205_KleineZeitung.pdf, Abruf: 15.03.14. Béhague, Emmanuel: L’Histoire, vue d’en bas. Le cycle Totentrompeten d’Einar Schleef. In: Hilda Inderwildi (Hg.): Le théâtre contemporain de langue allemande. Écritures en décalage. Paris: Harmattan 2008, S. 129–141. Behrens, Wolfgang: Einar Schleef. Werk und Person. Berlin: Theater der Zeit 2003.
48 Oehlschlägel: Totentrompeten von Einar Schleef, S. 268. 49 Ebd.
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Das Jahr 1995 im (deutschsprachigen) Film Autonomieästhetische Selbstvergewisserungen 1995 ist ein besonderes Jahr für das deutsche wie für das internationale Kino gewesen – und 1995 ist ein recht durchschnittliches Filmjahr, verglichen mit allen anderen seit der Erfindung laufender Bilder im Jahr 1895. Der offenkundige Widerspruch, der hier als rhetorische Geste vorweg geschickt wird, ist naturgemäß nur ein konstruierter, denn für beide Positionen lassen sich hinreichend Belege finden, welche die eine – oder eben die andere These stützen. Zunächst einmal sollte 1995 ein besonderes Jahr gewesen sein, weil sich das ehemals neue Medium mit dem 100. Geburtstag quasi zwangsläufig historisieren musste – und das in zahlreichen Feierlichkeiten, spielerischen Dokumentationen oder mit aufwendigen Rekonstruktionen auch nachdrücklich getan hat (wunderbar die originale Farbfassung von Jacques Tatis Jour de fête, F 1949/1995 , wie die vollständige Erstaufführung von Joe Mays Asphalt). Das vielleicht schönste Beispiel dieser Rückschau bietet der fiktional-dokumentarische Film Die Brüder Skladanowsky, den Wim Wenders mit StudentInnen der Münchner Hochschule für Film und Fernsehen 1995 präsentierte. Er entwirft die Geburt des Kintopps aus dem Geist der Schaustellerei. Max, Emil und Eugen Skladanowsky, der Akrobat, zeigten der interessierten Öffentlichkeit am 1. November 1895 im Berliner Varieté Wintergarten die ersten auf eine Leinwand projizierten und bewegten Bilder mit ihrem selbst entwickelten Bioskop-Verfahren – und damit acht Wochen vor den Brüdern Lumière, die in Paris ihren Cinematographe am 28. Dezember 1895 einem zahlenden Publikum vorführten. Vor allem Max (gespielt von Udo Kier) gilt als der Erfinder und Tüftler, der ohne großes Kapital antrat, die boxenden Kängurus, den Jongleur oder die Serpentinentänzerin in möglichst gleichmäßigen Bewegungen darzubieten, begleitet von eingespielter Klaviermusik und einem live agierenden Conférencier. Selbstreflexion betreibt Wenders auch in seinem eigenständigen Film von 1995, Lisbon Story. In Lissabon wartet der Toningenieur Phillip Winter (Rüdiger Vogler) auf den Regisseur Friedrich Monroe (Patrick Bauchau), um ein verabredetes Filmprojekt zu realisieren. Doch der ist nicht am vereinbarten Ort. Erst nach drei Wochen treffen die beiden aufeinander. In der Zwischenzeit nimmt Winter die Töne und Stimmen der Stadt auf, begegnet der Gruppe Madredeus, die in der Tradition des Fado und unter dem Einfluss der Saudade musiziert, und er zeigt den Kindern der Umgebung die Imaginationskraft des Geräuschemachers, die den tönenden Film zu einer Vorstellungsmaschinerie im Kopf des Rezipienten
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macht. Zudem fängt der Film in poetischen Bildern die Schönheit der Stadt ein, die 1994 Kulturhauptstadt Europas war. In der abschließenden Begegnung mit dem Regisseur Monroe bringt der Film die Historisierung und die Selbstreflexion des Mediums zugleich voran – jetzt allerdings nur über die gesprochene Sprache. In einem alten Kinosaal, seinem „Filmmuseum“, räsoniert Friedrich Monroe über die Unschuld der Bilder (wie bei Angelopoulos, auf den wir noch zu sprechen kommen werden), hier aber in einem trivial zivilisationskritischen Sinne. Es gelte, die Bilder selbst zu schützen, sie vor dem Kommerz, ihrer geldlichen Vernutzung zu bewahren. Als könnte die Kamera, wie in der Theorie Siegfried Kracauers,1 wirklich die materiale Dingwelt retten, tritt der Regisseur als Verteidiger des ungesehenen Abbildes auf. Ein ganzes Archiv solcher Bilder hat er bewahrt, nicht einmal von ihm selbst gesehen. Gefilmt hat Friedrich Monroe nämlich automatisch, ohne den willensgesteuerten Zugriff, die ordnende Macht des zentrierten Selbst. Sogar die Kadrierung hat er sich deshalb versagt, die Zurichtung der Bilder nach den Perzeptionsgewohnheiten eines seit der Renaissance konditionierten Betrachters. Stattdessen hat er sich seine Kamera auf den Rücken montiert. Sie sieht, was ihm entgangen ist – und bleibt mit ihm doch körperlich verbunden. Der Leib steuert den frei gewordenen Blick: ohne die Kontrolle des Verstandes. Mit Jenseits der Wolken legt Michelangelo Antonioni 1995 seinen letzten Film vor, den er selbst nicht mehr zu Ende brachte: ein Wiedergänger des fiktiven Friedrich Monroe gewissermaßen, der seinerseits Friedrich Murnau und Marilyn Monroe im Kunstnamen synthetisiert. Antonioni reiht Episoden der aufkeimenden und stets scheiternden Liebe aneinander, zeigt Paare, die sich flüchtig finden, wechselseitig begehren, aber doch, in den entscheidenden Situationen, verfehlen oder verlassen.2 Die Verfehlung ist in allen Episoden des Films das zentrale Thema, in dem sogar Marcello Mastroianni und Jeanne Moreau noch einmal auftreten dürfen. Mastroianni spielt einen Maler, der das Landschaftsbild Le grand pin von Cézanne kopiert. Es geht wohl, wie schon bei Handke in der Erzählung Die Lehre der Sainte-Victoire, die dieses Bild kommentiert, um das Wirkliche, seine Wiederholung und Wiederkehr.3 Ein wenig hat man allerdings den Eindruck, als kopiere der Altmeister, damals schon 83 Jahre alt und nach einem Schlaganfall halbseitig gelähmt, nur noch sich selbst, nicht mehr das emphatisch Wirkliche. Spektakuläre Einstellungen, ungewöhnliche Kadrierungen, verwegene Top-Shots sind mehr Reminiszenz an ein (philosophisches) Kino
1 Vgl. Siegfried Kracauer: Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit [1960]. Frankfurt/M. 1985. 2 Ein weiterer Episodenfilm über die Liebe von 1995 ist Rendezvous in Paris, Regie: Eric Rohmer. 3 Vgl. Peter Handke: Die Lehre der Sainte-Victoire [1980]. In: P. H.: Langsame Heimkehr. Die Lehre der Sainte-Victoire. Kindergeschichte. Über die Dörfer. Berlin 1982, S. 165–249, hier S. 181.
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der Selbstreflexion, das Antonioni wie kaum ein zweiter repräsentiert,4 denn wirklich neue Einlassung. Der erotische Reigen ist hier einer des Verzichts, der Versagung und der verpassten Gelegenheit, durch den ein personifizierter Regisseur (John Malkovich) führt, der wiederum das Porträt von Paul Cézanne, Mann mit verschränkten Armen, zitiert. Für diese verbindenden Teile hat Wim Wenders die Regie übernommen – sein dritter Beitrag zum Kinojahr 1995.
Zeitgeist- und Beziehungskomödie Bislang haben wir einige alte Bekannte mit (kommerziell) wenig erfolgreichen Filmen betrachtet. Aber war 1995, neben dem Jubel-, auch ein Wendejahr? Trägt die These, wenn man die Filmproduktionen selbst anschaut, retrospektiv über die Festivals geht und die Preisverleihungen bedenkt, wenn man die technischen Innovationen würdigt und die Stilwechsel registriert – oder die Erfolge und Misserfolge an den Kinokassen verbucht? Schauen wir, zur Reduktion von Komplexität, also immer noch (fast) ausschließlich auf das deutsche Kinojahr 1995. Naturgemäß gibt es das gar nicht, weil es kaum je eine nationale Filmproduktion in Deutschland gegeben hat, die nicht zugleich international ausstrahlen wollte, entsprechend besetzt und finanziert war, spätestens seit den Tagen von Urban Gad und Asta Nielsen – oder den großen Ufa-Filmen aus Babelsberg. Verstehen wir hier also heuristisch unter dem deutschen Film erst einmal den deutschsprachigen (dann sind Österreicher und Schweizer, zumindest partiell, dabei), den von ‚deutschen‘ Regisseuren verantworteten und in Deutschland oder Europa produzierten Spiel- und Dokumentarfilm, so wird das Untersuchungsgebiet schon etwas klarer. Wolfgang Petersen (Outbreak – Lautlose Killer, 1995 ) und Roland Emmerich (Stargate, 1995 in dt. Kinos) wären dann nicht (mehr) dabei, weil sie in den letzten Jahrzehnten ausschließlich in Hollywood gearbeitet haben, Paul Harather und Michael Haneke hingegen schon, auch wenn letzterer häufiger im (fremdsprachigen) Ausland mit internationaler Besetzung dreht. Unter dem Filmjahr schließlich wollen wir in erster Linie das Jahr der beginnenden Kinoauswertung verstehen – bei deutschen Produktionen in aller Regel identisch mit der Erstaufführung des jeweiligen Films, bei fremdsprachigen Filmen allerdings liegen zwischen der Erstprojektion und dem Filmstart in Deutschland zum Teil deutliche Zeitspannen (wie bei Stargate) . Außerdem wird ein Filmjahr geprägt von den Filmpreisen, die nur nachträglich verliehen werden können. So kommen also auch einige Filme in
4 Man denke nur an Blow up.
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Betracht, die ihr Produktionsjahr und/oder die Erstaufführung mit 1994 angeben. Ein Vorgriff hingegen verbietet sich sinnvollerweise. 1995 war dann, alles zusammen genommen, das Jahr der neuen deutschen Komödie, die Beziehungsgeschichten in allen erdenklichen Schattierungen erzählte und damit eine Abkehr vom bis dahin dominanten Autorenkino vollzog. Das Vorgenannte zur Datierung in Rechnung gestellt, ist der erste Film der neuen deutschen Beziehungskomödie sicherlich Der bewegte Mann in der Regie von Sönke Wortmann. Etwas weniger erfolgreich, aber gleichfalls Vorreiter, ist die Singlegeschichte Keiner liebt mich, die Doris Dörrie verantwortet. Beide wurden bereits 1994 produziert. 1995 haben diese zwei Produktionen die Auszeichnungen des Deutschen Filmpreis fast im Alleingang abgeräumt: „Bester programmfüllender Spielfilm“ – dafür das Filmband in Gold für Der bewegte Mann, dessen Regisseur ebenfalls mit dem Hauptpreis geehrt wurde und Joachim Król zudem für seine schauspielerische Leistung. Keiner liebt mich kassierte das Filmband in Silber und eines in Gold für die Hauptdarstellerin Maria Schrader.5 Wortmann konnte auf die erfolgreichen Comics von Ralf König zurückgreifen und entwickelte daraus die turbulente Geschichte des Frauenhelden Axel (Til Schweiger), der nach einem seiner zahlreichen Seitensprünge von Freundin Doro (Katja Riemann) der Wohnung verwiesen wird – und dergestalt obdachlos bei einem schwulen Paar unterkommt (neben dem prämierten Joachim Król spielt Rufus Beck). Doro, schwanger von Axel, drängt auf Versöhnung – und muss ausgerechnet Norbert nackt im Schlafzimmerschrank entdecken, was ihre Zweifel an der heterosexuellen Ausrichtung des Kindsvaters begründet und sie einigermaßen irritiert. Man erkennt leicht die Grundzüge der amerikanischen screwball comedies,6 die hier um ein homosexuelles Paar erweitert wurden, das den Kampf der Geschlechter mit seinen Eigenheiten bereichert. Die Schwulen, will der Film suggerieren, sind längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Faktisch hat das dann doch etwas länger gedauert – und ist, was etwa das Adoptionsrecht und die Eheschließung anbelangt, noch längst nicht abgeschlossen. Bei Dörrie spielt Pierre Sanoussi-Bliss die Figur Orfeo de Altamar: einen deutlich anderen Homosexuellen, der okkulte Rituale praktiziert, die Zukunft voraussagt und die Ankunft von Außerirdischen erwartet. Zu eben diesem Nach-
5 Angaben bei: Lexikon des internationalen Films. Filmjahr 1995: Das komplette Angebot in Kino, Fernsehen und auf Video. Hg. v. Katholischen Institut für Medieninformation (KIM) und der Katholischen Filmkommission in Deutschland. Redaktion: Horst Peter Koll u. Hans Messias. Reinbek b. Hamburg 1996, S. 439. 6 Vgl. Hans J. Wulff: Screwball Comedies: Ein enzyklopädischer Artikel. In: Medienwissenschaft/ Hamburg: Berichte und Papiere 3 (2003): Screwball Comedy. Unter: http://www1.uni-hamburg. de/Medien//berichte/ arbeiten/0003_03.html.
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barn fühlt sich die Hauptfigur Fanny Fink (Maria Schrader), nach anfänglicher Skepsis, mehr und mehr hingezogen, die doch einen heterosexuellen Mann als Partner will – und auch mit ihrer beruflichen Position als Sicherheitsangestellte am Flughafen nicht recht zufrieden ist, was ihre Mutter Madeleine (Elisabeth Trissenaar), selbst Autorin, nur zu gut gegen die Tochter auszuspielen versteht. Fanny wiederum bereitet sich intensiv, in einem Selbsterfahrungskurs, auf das Sterben vor. Ihr von eigener Hand gefertigter Sarg ziert bereits das Wohnzimmer. Orfeo hingegen, der seinen Namen des Mythologems wegen trägt, ist lange schon todkrank, verschwindet am Ende auf mysteriöse Weise und lässt Fanny ohne den versprochenen Traumprinzen zurück, doch mit der Hoffnung, dass sie einen anderen – und jetzt den Richtigen – finden wird. Erfolgreichster deutscher Film 1995 in deutschen Kinos aber war (wie schon im Vorjahr Der bewegte Mann) eine Komödie mit Katja Riemann, nun unter der Regie von Rainer Kaufmann, als Radiomoderatorin Monika Krauss in Stadtgespräch. Wie bei Dörrie dreht sich alles um eine in Liebesdingen frustrierte, gutaussehende junge Frau um die 30, die hier allerdings schon dadurch ins komische Fach wechselt, dass sie im Radio frühmorgendlich Ratschläge in dem von ihr so wenig beherrschten Sujet erteilt. Als sie den perfekten Mann meint gefunden zu haben – ausgerechnet einen Zahnarzt (August Zirner), der, naturgemäß, nur eine Geliebte sucht –, verstrickt sich alles bis in die Rundfunkübertragungen hinein. Klar, dass auch bei diesem Film ein Blick ins Privatleben deutscher Schwuler nicht ausbleiben darf. Letztlich ziehen die beiden Frauen, betrogene Gattin (Martina Gedeck) und gewesene neue Geliebte, an einem Strang, verstoßen den Zahnarzt Erik und wohnen fortan – mit Monikas schwulem Bruder René (Kai Wiesinger) und dessen Freund Karl (Moritz Bleibtreu) zusammen – in Eriks luxuriösem Anwesen in Hamburg: elbnah, versteht sich. Nur über meine Leiche, der Debütfilm von Rainer Matsutani, bringt, neben der omnipräsenten Katja Riemann als Rita Hauser, die seit den 90er Jahren gefragte Tatort-Kommissarin Ulrike Folkerts7 in der Rolle der Charlotte Wischnewski. Es reproduziert sich zum dritten Mal die Geschichte der Kontaktanzeige respektive des Kontaktvideos; Riemann gibt wieder die unerhörte Schüchterne, Folkerts nun die Gattin, die ihren Mann und Schwerenöter Fred (Christoph M. Ohrt) von einem Profikiller ermorden lässt. Beide betreiben übrigens die Agentur „Amor“. Auf dem Weg ins Jenseits beschwatzt Fred den Fährmann – und er erhält sein Leben zurück, wenn es ihm gelingt, aus dem Zwischenreich von Leben und Tod agierend, drei Frauen den Glauben an die Liebe zurückzugeben. Selbst die zeitgenös
7 Als Lena Odenthal ermittelte Folkerts erstmalig 1989. Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/ Ulrike_Folkerts u. http://de.wikipedia.org/wiki/Lena_Odenthal#Filmografie.
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sische Kritik zeigte sich schon etwas strapaziert vom stereotypen Schema, mit dem die Narrationen abgespult wurden, auch wenn man hier zum Teil positiv das cross-over der Genres registrierte, das Elemente des Horror- und Fantasy-Films mit Slapstick und schwarzer Komödie kombiniere.8 Komplettiert wird der Strauß der Beziehungskomödien von dem Streifen Die Mediocren unter der Regie von Matthias Glaser. Die vier zentralen Figuren geben vor, mittelmäßig zu sein, und kaschieren diesen Sachverhalt doch gleich wieder in der ambitionierten Wahl der Bezeichnung. Damit überdeckten sie nur ihre eigene Perspektivlosigkeit und innere Leere […]. Eine inszenatorisch überraschend kurzweilige, betont ausgeflippt-fröhliche ‚Zeitgeist‘-Komödie mit einigen ironischen Spitzen, die sich aber weitgehend eines Kommentars enth[alte]. Sie beschreib[e] die Personen sowohl in ihrer Lebendigkeit als auch in ihrer Unfähigkeit, einen Sinn in ihrem Dasein zu finden. Dadurch wird der Film zwischen den Zeilen zum ebenso amüsanten wie alarmierenden Seismografen für seelische Erschütterungen und Defizite,
schreibt Horst Peter Koll.9 Vor allem Jasmin Tabatabai (Robin) und Jürgen Vogel (Leo) empfahlen sich in diesem moderneren Reigen der wechselnden Liebschaften dem deutschen Publikum. Etwas unmotiviert kommt allerdings der Verdacht auf, einer der Protagonisten sei in den Zeiten vor der Wende ein Stasi-Spion gewesen. Quer zum gängigen Publikumstrend steht – dennoch vergleichsweise erfolgreich – die österreichische Komödie Indien unter der Regie von Paul Harather. Heinz Bösel (Josef Hader), im Auftrag des Fremdenverkehrsamtes unterwegs zur Überprüfung der niederösterreichischen Gaststätten, erhält einen neuen Kollegen mit Namen Alfred Dorfer (Kurt Fellner). Während Bösel einerseits den schnitzelvertilgenden Spießer gibt – und trotzdem seine Gegend mit seinem Abfall vollmüllt –, ist der Neue, Dorfer, das pure Gegenstück: Vegetarier, leicht yuppiehaft in Kleidung und Verhaltensweisen, immerzu redend, preist er dem Schweiger Bösel indische Musik und die Idee der Seelenwanderung an, was naturgemäß zu einem Kulturschock führt. Trotzdem freunden sich die beiden auf ihren Fahrten durch die trübsinnige Provinz vorsichtig an; und als Dorfer die Diagnose „Hodenkrebs“ und die Voraussage seines baldigen Todes erfährt, ist es ausgerechnet Bösel, der ihm in den letzten Stunden beisteht. Alfred Dorfers Frau hat diesem – ohne große Worte – bereits zuvor den Laufpass gegeben und vergnügt sich schon mit dem Nachfolger. Das Schlussbild indessen gehört einem 8 Vgl. entsprechend Fischer Film Almanach 1996. Filme, Festivals, Tendenzen. Mit TV- und Video-Erstaufführungen. Hg. v. Horst Schäfer u. Walter Schobert. Frankfurt/M. 1996, S. 282. 9 Horst Peter Koll: Die Mediocren [Rez.]. In: film-dienst 48 (1995), H. 11 (= fd 31365); erneut in: Lexikon des internationalen Films. Filmjahr 1995, S. 217.
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‚wirklichen‘ Inder, dem einzigen im Film, der auf einer Parkbank sitzt – und eine Banane genau so verzehrt wie zuvor Dorfer. Bösel geht heiter gestimmt davon.
Gewaltverhältnisse Es gab auch andere Filme 1995, sogar in Deutschland. Die ästhetische Wende zur Berliner Schule steckt allerdings noch in den Kinderschuhen. Christian Petzold etwa hatte 1995 erst seinen Abschlussfilm an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin mit dem Titel Pilotinnen produziert. Interessanterweise erzählt er fast denselben Plot wie die Komödien, nur mit den Stilmitteln, die man später, bei Die Innere Sicherheit oder Yella zum Beispiel, so rühmen wird. Karin (Eleonore Weisgerber) muss erleben, wie die jüngere Sophie (Nadeshda Brennicke), Geliebte des neuen Junior-Firmenchefs, ihr als Assistentin zur Seite gestellt wird, voraussichtlich nur, um sie demnächst von ihrem Arbeitsplatz als Kosmetik-Vertreterin zu verdrängen. In ihrer Existenzangst bekämpft sie zunächst die neue Kollegin, um sich später mit ihr gegen alle Männer, und diesen einen insbesondere, zu verbünden, ja ihn sogar zu ermorden. So werden die Frauen, deren großer Traum es ist, Stewardessen zu werden, zu Pilotinnen des eigenen Lebens, das aber, nach Bankraub und Flucht, wiederum tragisch enden muss – durch einen Schusswechsel, bei dem Sophie in den Armen von Karin stirbt. Einer der erfolgreichsten deutschen Filme, wenn man die Kinoerlöse betrach10 tet, war Schlafes Bruder von Joseph Vilsmaier nach dem Roman von Robert Schneider. Die Kritik war nicht sonderlich gnädig mit dem Ergebnis, vielleicht zu Unrecht.11 Immerhin beschreibt ein Film des Mainstream die Entgrenzung der Erfahrungsräume. Beeindruckend ist der Soundtrack, der eine neue Dimension des Hörens erschließt, um das absolute Gehör bei Johannes Elias Alder (André Eisermann) zu reproduzieren: eigentlich eine unmögliche Aufgabe, der sich Vilsmaier aber respektabel annähert. Imaginär, durch eine metaphysische Sphäre des Auditiven, will unser Held der Enge der dörflichen Strukturen im 19. Jahrhundert entfliehen – und scheitert schließlich doch am Wunsch, bedeutend und (zugleich) geliebt zu sein. Sein Freund Peter (Ben Becker) gestattet sich einerseits nicht, die homoerotischen Neigungen offen zu zeigen, andererseits torpediert er alle Bemühungen der unglücklich liebenden Elsbeth (Dana Várová), die sich in ihrer Verzweiflung einem von ihr verachteten Dörfler hingibt. Alles eskaliert in
10 Vgl. N.N.: http://www.insidekino.com/DJahr/D1995.htm. 11 Vgl. etwa das Lexikon des internationalen Films. Filmjahr 1995, S. 290: „[E]ine protzige Großproduktion, die die Fabel unangemessen vereinfacht“. Sehr freundlich hingegen: Fischer Film Almanach 1996, S. 329f.
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einem von Peter gelegten Feuer, dass die Dorfgemeinschaft, nach der Verwüstung, auseinandertreibt, belastet zudem mit einem feigen Mord am vermeintlichen Brandstifter – der freilich, wie der Zuschauer weiß, unschuldig gewesen ist.12 Gewaltverhältnisse nicht auf dem rückständigen Land, sondern im scheinbar zivilen Raum der Großstadt Wien, beschreibt Michael Haneke mit seinen 71 Fragmenten einer Chronologie des Zufalls: lose aneinander gereihte Episoden, die erst im finalen Amoklauf des Studenten Max (Lukas Miko) zu einer (nicht lückenlosen) Auflösung kommen. Der Film gehört in eine Trilogie – neben Der siebente Kontinent und Bennys Video –, die nach ihrem Regisseur „Berichte vom Fortschreiten der emotionalen Vergletscherung“13 seines Landes sein sollen. Bestürzend wirkt der alltägliche Terror, den der Geldbote Hans (Branko Samarovski) gegen seine Frau verübt – und die Unfähigkeit der beiden, darauf überhaupt noch reagieren zu können. Scheinbar im Vordergrund steht das Schicksal eines Flüchtlingsjungen aus Rumänien (Gabriel Cosmin Urdes), der sich illegal in der österreichischen Hauptstadt aufhält und mit Betteleien und kleinen Diebstählen durchschlägt – aber letztlich sind alle, auch die Wohlsituierten, vereinsamte, unglückliche Menschen: auch das kinderlose Ehepaar Inge und Paul Brunner (Anne Bennent und Udo Samel), die sich um eine Kindesadoption bemühen. Ein „Wiener Reigen der Lieblosigkeit; eine Art apokalyptischer Schnitzler des 20. Jahrhunderts“, meint Heinz Schifferle.14 Und über allem droht das mediale Gemetzel der Abendnachrichten. Die Reportagen über die Kriege im ehemaligen Jugoslawien sind wie ein Spiegel der nur scheinbar befriedeten Verhältnisse vor Ort: der Generalbass der Arbeiten Hanekes bis in die Gegenwart. Die Gesellschaft rächt sich an den Bildern, die ihr zugemutet werden, indem sie deren Grausamkeiten umsetzt. Indirekt verweisen die schwarzen Sichtblenden schon auf die bevorstehende Katastrophe, die sich intermittierend und analog zur Sukzession in der Schnittfrequenz potenzieren.15
12 Vgl. entsprechend Fischer Film Almanach 1996, S. 329f. 13 Michael-Haneke-Trilogie [1990, 1993, 1995]. Wega-Film/Pierrot le Fou 2007. Der Text wird nach dieser DVD-Ausgabe (Abdruck in der Kassette) zitiert. 14 Hans Schifferle in seinem Beitrag zur Michael-Haneke-Trilogie: Fremde, wenn wir uns begegnen. 15 1994 taten sich der Produzent Stefan Arndt und die Regisseure Wolfgang Becker, Dani Levy und Tom Tykwer zusammen, um die Produktionsfirma X Filme Creative Pool zu gründen. Der erste Film kam allerdings erst 1996 auf den Markt. Insofern ist das ‚Wendejahr‘ 1995 nur kontextuell betroffen; dennoch scheint die Abwendung vom Filmverlag der Autoren signifikant. Haneke z. B. hat später Filme wie Liebe, Das weiße Band und Funny Games U. S. dort produziert und über X Verleih herausgebracht. Vgl. N.N.: http://www.x-filme.de/de/filme/null/null/0/ abgeschlossen.
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Ebenfalls zum Autorenkino zählt Romuald Karmakars Der Totmacher, der als Psychogramm auslotet, was Haneke in gewohnt distanzierter Haltung – und über die Vorstellungskraft des Rezipienten – nur andeutet. Götz George spielt – „mit darstellerische[r] Finesse“16 – den Hannoveraner Massenmörder Fritz Haarmann, der insgesamt 24 junge Männer brutal getötet, zerstückelt und anschließend fachgerecht entsorgt hat. Karmakar macht daraus ein beeindruckendes Kammerspiel, in dem, neben George, auch der Untersuchungsleiter Prof. Dr. Ernst Schultze (Jürgen Hentsch) brilliert, der die Zurechnungsfähigkeit des Untersuchungshäftlings zu beurteilen hat. Hans-Michael Rehberg gibt zudem den sehr überzeugenden Kommissar Rätz. Wie die Kamera die beiden Hauptakteure scheinbar unablässig in den ersten Minuten umkreist, so umspinnt Schultze den Haarmann mit einem Netz zunächst harmloser Fragen. Doch je mehr er den Delinquenten zum Geständnis treibt – und die Close-ups sich häufen –, desto ratund hilfloser ist der gesprächsführende Professor. George wurde für seine Leistung mit der Coppa Volpi als bester Darsteller der Filmfestspiele in Venedig 1995 geehrt. Die deutschen Filmpreise für Regie und Hauptdarsteller folgten erst 1996. Margarethe von Trotta hat mit Das Versprechen einen der wenigen wirklich thematischen Wendefilme fürs große Kino gedreht – neben Frank Beyers Nikolaikirche als Fernsehproduktion, der Verfilmung von Erich Loests Roman. Sie erzählt darin eine Liebesgeschichte, die über den Bau der Mauer in Berlin und den Prager Frühling bis zum 9. November 1989 führt, also 28 Jahre umspannt. Sophie und Konrad, die beiden ProtagonistInnen, werden darum doppelt besetzt mit Meret Becker und Corinna Harfouch sowie mit Anian Zollner und August Zirner. Die leichte Irritation, die der Wechsel auslöst, gehört zum Besten des Films – neben der überragenden Harfouch. Doch formal ist das alles andere als innovativ. Nach der rückblickenden Ansicht der Regisseurin war der Film ein Flop an der Kasse wie bei der Kritik17 – auch wenn Peter Schneider für das Drehbuch verantwortlich zeichnet und selbst die Nebenrollen prominent besetzt sind mit Tina Engel, Eva Mattes, Monika Hansen, Dieter Mann, Otto Sander und Hark Bohm. Vielleicht kam Das Versprechen zu früh, weil der Film ein Thema anschlug, das alle verhandelt wissen wollten, und das doch nur unbefriedigend eingelöst werden kann, so nah an den historischen Ereignissen. Hier reißt also die Gewalt der Verhältnisse zwischen den beiden deutschen Staaten ein Liebespaar auseinander, das fortan, wie die Königskinder, zueinander strebt, aber sich nicht erreichen kann. Als es sich dann endlich wieder findet in der Nacht auf den 10. November, an der Glienicker Brücke, sagen Blicke und Körperhaltung der beiden allerdings, dass es
16 Fischer Film Almanach 1996, S. 379. 17 Nach dem Interview im Bonus-Material der DVD von Das Versprechen. Leipzig 2007.
Das Jahr 1995 im (deutschsprachigen) Film
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für einen Neuanfang nun wohl zu spät sei. Das immerhin rettet die historische Lektion vor dem Abgleiten in den Kitsch. Ein Los, das der große Edgar Reitz in seiner Heimat 3 (von 2004) nicht zu verhindern wusste, die (eingangs) demselben Muster folgte.
Politik und mediale Selbstreflexion – internationale Ausblicke Wenn es tiefgreifende Veränderungen gab im Jubel- und Wendejahr, dann sind diese vor allem im internationalen Kino auszumachen. Von 1995 datiert das Dogma-Manifest,18 pünktlich zur Einhundertjahrfeier des Kinos in Paris vorgelegt,19 mit dem Faktualität und Fiktionalität tendenziell und programmatisch unterlaufen wurden. Authentizitätsstrategien sind seitdem neu zu definieren. Auch die eminent politischen wie selbstreferenziellen Spielfilme zu den Sezessionskriegen im ehemaligen Jugoslawien greifen anders, ungewohnt auf Wirklichkeit zu und gehören sicher zum Wichtigsten und Besten, was das Kino in diesem Jahr zu bieten hatte.20 Nur Handkes Einlassungen zum Krieg – mit Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien (zuerst Januar 1996) und dem Sommerlichen Nachtrag zu einer winterlichen Reise (1996) – oder allenfalls der Dokumentarfilm von Klaus Wildenhahn, Reise nach Mostar, wären von ‚deutscher‘ Seite hier als anschluss- und konkurrenzfähige (zeitgleiche) Artefakte zu nennen, in denen sich ebenfalls Fiktionalität und Wirklichkeitsbericht mischen. Wildenhahns sehr persönlicher, vorletzter Dokumentarfilm von 1995 begleitet Hans Koschnick: den EU-Administrator der kriegszerstörten Stadt, der für deren Wiederaufbau, die Koordination der Verwaltung und die Infrastruktur zuständig war. Er nähert sich der multiethnischen Kommune in Bosnien-Herzegowina als einem völlig fremden Gebilde, versucht zu verstehen, wie die Berichterstatter von der Front überhaupt zu Einschätzungen kommen können – wo es doch erst einmal darum geht, die eigenen Vorurteile zu hinter-
18 Vgl. Kristina M. Schulte-Eversum: Zwischen Realität und Fiktion. Dogma 95 als postmoderner Wirklichkeits-Remix? Konstanz 2007. Außerdem knapp dazu: Tiziana Maneljuk: Dogma 95 oder: Wie alles begann. In: film-zeit (20.7.2007). Im Netz unter: http://www.film-zeit.de/Themen-undListen/Thema/17/DOGMA-95-ODER-WIE-ALLES-BEGANN/Details/#page74. 19 Genau am 20. März 1995 nach N.N. in: http://de.wikipedia.org/wiki/Filmjahr_1995. 20 Vgl. ausführlicher zu Manchevski, Kusturica und Angelopoulos die partiell gleichlautenden Darstellungen in meinem Buch: Transmediale Texturen. Lektüren zum Film und angrenzenden Künsten. Marburg 2013, S. 62–65, S. 65–68 u. S. 68–71.
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fragen. Ein leiser, mutiger Film, der Medialität wie Beobachterstandpunkt gleichermaßen im Blick behält, der immer wieder zu Standbildern wechselt – und bei dem sich der Regisseur nie in den Vordergrund spielt. Ganz anders Marcel Ophüls, der mit Veillées d’armes / The Troubles We’ve Seen: A History of Journalism in Wartime den vielleicht gewichtigeren ‚Reisebericht‘, nun zu Sarajewo, vorgelegt hat. Doch ständig drängt sich der Gesprächspartner in den Vordergrund, inszeniert sich selbst, teils mit fiktional-spielerischen Elementen, rekurriert sogar auf den berühmten Vater, als ein Schaffner meint, seinen Namen zu kennen. Er vermischt die Ebenen Reisetagebuch, Essay und kritischer Kommentar mit Interview-Passagen, wenn er den Kriegsberichterstattern in ihrer Arbeit folgt. Aber die Verfahren der beiden Regisseure sind letztlich doch recht ähnlich. Auch Ophüls versteht es vortrefflich, den selbstreproduktiven Mechanismus der Bildberichte zu durchschauen, ihre nicht an der Wirklichkeit interessierte Eigendynamik zu fassen. Konzentrisch umkreist er, was andere für Wahrheit halten, kontrastiert und ironisiert das vermeintlich feststehende, politisch korrekte Statement.21 So dringt er doch, wie Wildenhahn, zum Wesen der Bilder vor, zu ihrem Verführungspotenzial – aber auch zu ihrer befreienden Wirkung, sofern sie sich nicht dem Zwang des Infotainments unterwerfen. Vor dem Regen, ein Spielfilm des Regisseurs Milcho Manchevski von 1994, verfolgt das nämliche Ziel wie Wildenhahn und Ophüls. Das zyklische Episodendrama des Mazedoniers behandelt die Entstehung von Hass und Feindbildern zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen – konkret zwischen Albanern und Mazedoniern – in einem kleinen Dorf, der Heimat des nun weltgewandten und weitgereisten Kriegsfotografen Aleksander Kirkov (Rade Šerbedžija). Der bemerkt, wie trefflich sich mit seinen ‚authentischen‘ Fotografien lügen lässt, um die eine oder eben die andere Seite zu diskreditieren. Allein weil er als Fotograf anwesend ist, stirbt ein Mensch im Gefangenenlager, damit das Bild eben jener Erschießung um die Welt gehen und Wirkung entfalten kann. Und im Dorf werden Nachbarn zu Feinden – auch wenn sich die schnell ausbrechende Gewalt eben nicht bei der nun dämonisierten Gegenseite, sondern in den eigenen Reihen findet. Alex und Zamira, die von ihm geschützt werden sollte, kommen so beide durch engste Verwandte ums Leben. Das alles ist so kunstvoll wie komplex als dreigliedriges, ineinanderlaufendes Rondo inszeniert – das aber letztlich nicht aufgeht: „Die Zeit stirbt nie, der Kreis ist nicht vollendet.“22
21 Vgl. entsprechend Fischer Film Almanach 1996, S. 393f. 22 So die dreimal wiederholte Formel des Films selbst. Rainer Gansera schreibt hingegen in seiner Rezension zu Vor dem Regen. In: epd Film 12 (1995), H. 10, S. 28f., hier S. 29: „Gewalt, die ‚Blutmühle der Geschichte‘, ist eine Spirale, die immer wieder in sich zurückläuft, eine Schleife der Verwüstung.“
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Anders als bei Manchevski handelt der Film von Emir Kusturica nicht nur vom momentanen Zerfall Jugoslawiens, sondern auch von dessen Vorgeschichte. In den Feuilletons, vor allem in Frankreich, etwa durch Alain Finkielkraut, warf man dem Film eine nationalistische, proserbische oder jugophile Tendenz vor, was sicherlich unzulässig verkürzt.23 Kusturicas Film von 1995, Underground, ist vielmehr eine vielschichtige politische Allegorie, die zwar den Verfall des Vielvölkerstaates unumwunden bedauert, in ihren ästhetischen Mitteln, in ihrer Ironie und verspielten Ambitioniertheit allerdings jede einseitige Parteinahme untergräbt. Der Film setzt 1941 ein, im Krieg gegen die Deutschen. Marko (Miki Manojlović), ein gerissener Schwarzmarktkönig und Waffenschieber, findet seinen Weg nach oben bis an die Seite Titos. Zu diesem Zweck, und um sich die schöne Natalija (Mirjana Jaković) nicht mit dem Rivalen teilen zu müssen, versteckt er den Kontrahenten Blacky und eine Reihe anderer Gleichgesinnter in einem großen unterirdischen Lager, das für Nachschub in der Waffenproduktion sorgen soll. Die Partisanen müssen nun im Glauben gelassen werden, permanent von den Deutschen bedroht zu sein. Diese Situation versteht Marko auch über das Ende des Krieges hinaus aufrecht zu erhalten, indem er die Radiomeldungen über angebliche deutsche Angriffe simuliert. Er beschallt den Keller mit Fliegerwarnungen, mit Reden Hitlers und Sirenengeheul oder dem Sehnsuchtslied deutscher Wehrmachtssoldaten – Lili Marleen: „Vor der Kaserne, bei dem großen Tor …“. Mehr braucht es nicht, um die Eingesperrten weiter unter Verschluss zu halten. Marko steigt auf zum großen Agitator, zum Funktionär und Helden des Volkes, während die Partisanen weiter knechten und selbst einen Panzer mit ihren bescheidenen Mitteln bauen. Ausgerechnet ein Schuss aus diesem Panzer durchschlägt die simulierte Wirklichkeit der Kellergewölbe. Als die Untergrundgemeinschaft den Schritt in die Gegenwart wagt, vermischt sich deren Wahrnehmung aber erneut mit der Verfilmung des Weltkrieges, in dessen Set sie sogleich geraten, zu einer nun gänzlich surrealen Szenerie. In seinem Film Der Blick des Odysseus von 1995 zeigt uns Theo Angelopoulos die Figur A., Harvey Keitel als Alter Ego des Regisseurs: ein später Nachfahre des rastlosen Odysseus, der nach Jahren im Ausland (wie bei Manchevski) in seine Heimat zurückkehrt. Zwischengeschnitten werden Dorffrauen gezeigt, die spinnen und weben und Zeit haben; ein Dokumentarfilm von 1905, der einerseits den Mythos evoziert (man denkt an die zu Hause gebliebene Penelope, die unermüd-
23 Vgl. die Darstellung bei Peter Handke: Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien. Frankfurt/M. 1996, S. 22–28 u. S. 130. Auch Claus Löser hält den „Patriotismus“ des Films für einen „A-priori-Zustand, der über seine Behauptung hinaus keinerlei Motivation bedarf“. In: film-dienst 48 (1995), H. 24, S. 26f., hier S. 26. (= fd 31644). Eine Kurzfassung auch in: Lexikon des internationalen Films. Filmjahr 1995, S. 340.
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lich webt und danach wieder auftrennt, um sich die Freier vom Halse zu halten und auf den Gatten zu warten). Andererseits verweisen diese frühen Bilder auf den Grund der Reise: die Suche nach den verlorenen Filmrollen der Brüder Manakis, den Pionieren des Films in Griechenland. Von Filmarchiv zu Filmarchiv führt die Recherche, immer tiefer hinein in eine durch Krieg verwüstete Welt: Nordgriechenland, Albanien, Rumänien, Serbien, Bosnien. In Sarajevo schließlich endet die Narration; das belichtete, noch nicht entwickelte Filmmaterial ist endlich gefunden. A., der Filmemacher, betrachtet erst ganz am Ende des Films die inzwischen entwickelten Streifen und sieht nichts als blendendes, mit Kratzern und Flimmern durchsetztes Weiß. Was der Film gegen die Zeit bewahren sollte, wird vernichtet durch eine Überdosierung des Mittels, das erst die Aufzeichnung möglich macht: Licht. A. sieht, was er zuvor gesehen und zugleich, im Nebel, der über der Stadt liegt, nicht gesehen hat: Die Gewalt der Zerstörung, das menschliche Leid, die Fassungslosigkeit – und ihr Verschwinden im Medium selbst. Er sieht die Verweigerung der Repräsentation in der Darstellung. Seine Reise ist zu Ende. Alle drei fiktional-narrativen Auseinandersetzungen mit den jugoslawischen Sezessionskriegen sind international produziert worden, zum Teil multilingual, Kusturicas und Angelopoulos’ Filme aber wurden, anders als derjenige Manchevskis, primär mit deutschem Geld realisiert. Sie gehören damit auch zum deutschen Filmjahr 1995. Mehr noch aber signalisieren diese herausragenden Produktionen den Übergang vom nationalen Neuen deutschen Film zum europäischen Film, in dem häufig deutsche Produzenten mitwirken oder sogar die Hauptlast der Finanzierung tragen – im Rahmen weit verzweigter multinationaler Konstellationen, in denen auch die Fernsehanstalten transnational eingebunden sind: sicherlich ein weiteres, wenn nicht das entscheidende Novum des Filmjahrs 1995 in Deutschland. Die drei Filme markieren zudem die Differenz zum reinen, selbstreflexiven Autorenkino à la Wenders, das sich im Jubiläumsjahr zwar auch auf sich selbst und seine Medialität besann, aber kaum etwas zu erzählen wusste –24 und vor allem nicht mehr Partei ergriffen hat. Kusturica, Angelopoulos und Manchevski hingegen mischen sich ein, nehmen Stellung – und reflektieren zugleich die Bedingung der Möglichkeit (audio-)visueller Abbilder in den Zeiten ihrer propagandistischen oder marktkonformen Verwertung. Und was gab es noch? Eine große Zahl beeindruckender, ja hervorragender Filme wie Ed Wood von Tim Burton, La haine von Mathieu Kassovitz, Death and the Maiden von Roman Polanski, La Cérémonie von Claude Chabrol, Smoke von Wayne Wang, Cyclo von Tran Anh Hung, Land and Freedom von Ken Loach, Dead
24 Am besten schneidet hier noch der erzählfreudige Film über Die Brüder Skladanowsky ab.
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Man von Jim Jarmusch und viele weitere. Guten Mainstream bot Michael Mann mit Heat, buntes Popcorn-Kino gab es bei Batman Forever von Joel Schumacher, in Golden Eye oder in Waterworld, unter der Regie von Kevin Reynolds und Kevin Costner entstanden. Beachtlich – und mittlere Erfolge – waren Apollo 13, Don Juan DeMarco, Exotica, Little Odessa und Se7en. Forrest Gump hat vermutlich mehr das Vertrauen ins filmisch bewegte Dokument erschüttert als Underground, weil er einen fiktionalen Helden in die Geschichte der USA implementierte – als sei er tatsächlich ihr Bestandteil gewesen. Kusturica macht mit seinem Marko exakt das Gleiche, ist aber weniger bekannt als der Hollywoodfilm. Pulp Fiction konnte das chronologische Erzählen durcheinanderwirbeln wie selten zuvor – mit Ausnahme des Autorenkinos, wie bei Angelopoulos. Beide US-Filme, vor allem aber Forrest Gump, wurden 1995 mit Oscars ausgezeichnet. Toy Story schließlich ist 1995 der erste, vollständig mit dem Computer generierte und abendfüllende Spielfilm, der die Ontologie des Films nachhaltig verändert, ja vielleicht revolutioniert hat. So fällt der Befund klar und doch widersprüchlich aus: Vor der Jahrtausendwende ist das Kinojubiläumsjahr eines der neuen Unübersichtlichkeit, die sich freilich später klären wird zum innovativen Potenzial im Mainstream25 und zur Loslösung vom indexikalischen, wirklichkeitsbezogenen Filmverständnis im Sinne von Peirce oder Kracauer. Und beide Bewegungen wurden 1995 zumindest vorbereitet.
Literaturverzeichnis Primärliteratur Handke, Peter: Die Lehre der Sainte-Victoire [1980]. In: P. H.: Langsame Heimkehr. Die Lehre der Sainte-Victoire. Kindergeschichte. Über die Dörfer. Berlin: Volk und Welt 1982, S. 165–249. Handke, Peter: Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1996. Handke, Peter: Sommerlicher Nachtrag zu einer winterlichen Reise. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1996.
25 Vgl. dazu u. a. Jennifer Henke et al. (Hg.): Hollywood Reloaded. Genrewandel und Medienerfahrung nach der Jahrtausendwende. Marburg 2013. Außerdem Oliver Schmidt: Hybride Räume. Filmwelten im Hollywood-Kino der Jahrtausendwende. Marburg 2012.
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Sekundärliteratur Fischer Film Almanach 1996. Filme, Festivals, Tendenzen. Mit TV- und Video-Erstaufführungen. Hg. von Horst Schäfer und Walter Schobert. Frankfurt/M.: Fischer 1996. Gansera, Rainer: Vor dem Regen [Rez.]. In: epd Film 12 (1995), H. 10, S. 28f. Henke, Jennifer et al. (Hg.): Hollywood Reloaded. Genrewandel und Medienerfahrung nach der Jahrtausendwende. Marburg: Schüren 2013. Koll, Horst Peter: Die Mediocren [Rez.]. In: film-dienst 48 (1995), H. 11 (= fd 31365); auch in: Lexikon des internationalen Films. Filmjahr 1995, S. 217. Kracauer, Siegfried: Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit [1960]. Frankfurt/ M.: Suhrkamp 1985. Lexikon des internationalen Films. Filmjahr 1995: Das komplette Angebot in Kino, Fernsehen und auf Video. Hg. v. Katholischen Institut für Medieninformation (KIM) und der Katholischen Filmkommission in Deutschland. Redaktion: Horst Peter Koll u. Hans Messias. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1996. Löser, Claus: Underground [Rez.]. In: film-dienst 48 (1995), H. 24, S. 26f. (= fd 31644); Kurzfassung auch in: Lexikon des internationalen Films. Filmjahr 1995, S. 340. Maneljuk, Tiziana: Dogma 95 oder: Wie alles begann. In: film-zeit (20.7.2007): http://www.filmzeit.de/Themen-und-Listen/Thema/17/DOGMA-95-ODER-WIE-ALLES-BEGANN/Details/#page74 Michael-Haneke-Trilogie. Wega-Film/Pierrot le Fou 2007. Text der DVD-Ausgabe (Abdruck in der Kassette). N.N.: http://www.insidekino.com/DJahr/D1995.htm N.N.: http://de.wikipedia.org/wiki/Filmjahr_1995 N.N.: http://de.wikipedia.org/wiki/Ulrike_Folkerts. N.N.: http://de.wikipedia.org/wiki/ Lena_Odenthal #Filmografie N.N.: http://www.x-filme.de/de/filme/null/null/0/abgeschlossen Preußer, Heinz-Peter: Transmediale Texturen. Lektüren zum Film und angrenzenden Künsten. Marburg: Schüren 2013. Schmidt, Oliver: Hybride Räume. Filmwelten im Hollywood-Kino der Jahrtausendwende. Marburg: Schüren 2012. Schulte-Eversum, Kristina M.: Zwischen Realität und Fiktion. Dogma 95 als postmoderner Wirklichkeits-Remix? Konstanz: UVK 2007. Wulff, Hans J[ürgen]: Screwball Comedies: Ein enzyklopädischer Artikel. In: Medienwissenschaft/Hamburg: Berichte und Papiere 3 (2003): Screwball Comedy. Online: http://www1. uni-hamburg.de/Medien/berichte/arbeiten/0003_03.html.
Filmografie 71 Fragmente einer Chronologie des Zufalls. A 1995. Reg. Michael Haneke. Al di là delle nuvole (Jenseits der Wolken). I, F, GB 1995. Reg. Michelangelo Antonioni u. Wim Wenders. Amour (Liebe). F, D, A 2010. Reg. Michael Haneke. Apollo 13. USA 1995. Reg. Ron Howard. Asphalt. D 1929/1995. Reg. Joe May.
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Batman Forever. USA 1995. Reg. Joel Schumacher. Before the Rain (Vor dem Regen). GB, F, MK 1994. Reg. Milcho Manchevski. Benny’s Video. A, CH 1992. Reg. Michael Haneke. Blow up. GB 1966. Reg. Michelangelo Antonioni. Cyclo. VN, F 1995. Reg. Tran Anh Hung. Das Versprechen. D, F, CH 1995. Reg. Margarethe von Trotta. Das weiße Band – Eine deutsche Kindergeschichte. D, A, F, I 2009. Reg. Michael Haneke. Dead Man. USA 1995. Reg. Jim Jarmusch. Death and the Maiden (Der Tod und das Mädchen). USA 1994. Reg. Roman Polanski. Der bewegte Mann. D 1994. Reg. Sönke Wortmann. Der Blick des Odysseus. D, GR, F, I 1995. Reg. Theo Angelopoulos. Der Siebente Kontinent. A 1989. Reg. Michael Haneke. Der Totmacher. D 1995. Reg. Romuald Karmakar. Die Brüder Skladanowsky. D 1995. Reg. Wim Wenders et al. Die Innere Sicherheit. D 2000. Reg. Christian Petzold. Die Mediocren. D 1995. Reg. Matthias Glasner. Don Juan DeMarco. USA 1995. Reg. Jeremy Leven. Ed Wood. USA 1994. Reg. Tim Burton. Exotica. CDN 1994. Reg. Atom Egoyan. Forrest Gump. USA 1994. Reg. Robert Zemeckis. Funny Games (Funny Games U. S.). USA, GB, F, A 2007. Reg. Michael Haneke. Golden Eye. GB, USA 1995. Reg. Martin Campbell. Heat. USA 1995. Reg. Michael Mann. Heimat 3 – Chronik einer Zeitenwende. D 2004. Reg. Edgar Reitz. Jour de fête (Tatis Schützenfest). F 1949/1995. Reg. Jacques Tati. Keiner liebt mich. D 1994. Reg. Doris Dörrie. La cérémonie (Biester.) F, D 1995. Reg. Claude Chabrol. La haine (Hass). F 1995. Reg. Mathieu Kassovitz. Land of Freedom. GB, D, E 1995. Reg. Ken Loach. Les rendez-vous de Paris (Rendezvous in Paris). F 1995. Reg. Eric Rohmer. Lisbon Story. D, P 1994/1995. Reg. Wim Wenders. Little Odessa. USA 1994. Reg. James Gray. Nikolaikirche. D 1995. Reg. Frank Beyer. Nur über meine Leiche. D 1995. Reg. Rainer Matsutani. Outbreak (Outbreak – Lautlose Killer). USA 1995. Reg. Wolfgang Petersen. Reise nach Mostar. D 1994/1995. Reg. Klaus Wildenhahn. Schlafes Bruder. D 1994/1995. Reg. Joseph Vilsmaier. Seven [Se7en] (Sieben). USA 1995. Reg. David Fincher. Smoke. USA 1995. Reg. Wayne Wang. Stargate. USA, F 1995. Reg. Roland Emmerich. Toy Story. USA 1995. Reg. John Lasseter. Underground. D, F, H, YU 1995. Reg. Emir Kusturica. Veillées d’armes (The troubles we’ve seen – Die Geschichte der Kriegsberichterstattung). F, D, GB 1994/1995. Reg. Marcel Ophüls. Waterworld. USA 1995. Reg. Kevin Reynolds u. Kevin Costner. Yella. D 2007. Reg. Christian Petzold.
Teil II: 1995 – Werkartikel
Viviana Chilese
Beyer, Marcel: Flughunde. Roman (Frankfurt/M.: Suhrkamp) 1 Entstehung und Kontext Marcel Beyer, 1965 im baden-württembergischen Taiflingen geboren, ist zweifelsohne eine der prominentesten und vielseitigsten Stimmen der zeitgenössischen deutschen Literatur. Schon während des Studiums der Germanistik, Anglistik und Literaturwissenschaft an der Universität Siegen, machte er als Herausgeber der Reihe Vergessene Autoren der Moderne (gemeinsam mit Karl Riha), als Autor eines Gedichtbandes (Walkmännin, 1990) und eines Romans (Das Menschenfleisch, 1991) auf sich aufmerksam und erhielt erste literarische Auszeichnungen. Sein Durchbruch als Autor gelang ihm im Jahr 1995 mit dem Roman Flughunde (= F), der mit zahlreichen Preisen, u. a. dem Berliner Literaturpreis (1996) und dem Uwe-Johnson-Preis (1997), geehrt wurde. Es folgten weitere Gedichtbände (Falsches Futter, 1997; Erdkunde, 2002; Graphit, 2014), eine Essaysammlung (Nonfiction, 2003), Erzählungen (Vergeßt mich, 2006; Putins Briefkasten, 2012) und Romane (Spione, 2000; Kaltenburg, 2008), die den Ruf Beyers als herausragenden Autor zementierten und mit weiteren Auszeichnungen wie dem Heinrich-BöllPreis (2001), dem Erich-Fried-Preis (2006), dem Kleist-Preis (2014), dem OskarPastior-Preis (2014) und dem Literaturpreis der Stadt Bremen (2015) gewürdigt wurden. Doch Marcel Beyers Interesse gilt nicht nur dem Experimentieren mit Lyrik und Spielarten der Prosa, sondern auch den Ausdrucksmöglichkeiten von Bildender Kunst und Musik, dem Zusammenspiel von unterschiedlichen Formen des wissenschaftlichen, besonders zoologischen und literarischen Forschens sowie der Interaktion von Erkenntnisprozessen bei Mensch und Tier (siehe literaturportal.de). Seine vielseitigen Interessen zeigen sich u. a. in zwei Opernprojekten mit dem Komponisten Enno Poppe (Interzone, Berliner Festspiele 2004 und Arbeit Nahrung Wohnen, Münchener Biennale 2008), in öffentlichen Gesprächen mit Wissenschaftlern unterschiedlicher Disziplinen und scheinen nahtlos in Beyers literarische Texten einzufließen.
2 Inhalt und Analyse Erst 1995, vier Jahre nachdem Marcel Beyer ein Kapitel von Flughunde bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt gelesen und damit den
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Ernst-Willner-Preis gewonnen hatte, erschien der komplette Roman. Die Geschichte spielt in den Jahren des Zweiten Weltkriegs – mit einem Nachspiel im Jahr 1992 – und ist durch zwei unterschiedliche Erzählstränge gekennzeichnet, die jeweils von zwei Erzählern getragen werden: von Helga Goebbels, der 1932 geborenen, ältesten Tochter des Reichspropagandaministers, und von Hermann Karnau, einem Akustiker im Dienste des Staatsapparates. Beide sind historisch verbürgte Figuren, deren erzählte Biographien allerdings fiktiv sind. Mit der Figur von Helga Goebbels führt der Roman eine Perspektive ein, die bislang wenig Interesse gefunden hat und für die außer wenigen Tonaufnahmen keine Dokumente aus erster Hand existieren. Aus dem realen SS-Mann namens Hermann Kernau, Wachmann im Berliner Führerbunker, entwickelt Marcel Beyer die fiktive Figur eines Tontechnikers mit der bizarren Idee, eine „Karte aller Stimmfärbungen“ anlegen zu wollen (F, 29). Im Vergleich zu Beyers erstem Roman Menschenfleisch, in dem die Sprache und der Körper das Thema des Erzählten darstellten, gehört in Flughunde allein der Stimme die wichtigste Rolle. Nicht von ungefähr waren die Stimmen Hitlers, Goebbels’ und anderer führender Figuren der Nazi-Zeit eines der bedeutendsten Mittel für die Machtübernahme und -erhaltung des Hitlers-Regimes (vgl. Atze, Kap. 5). In seinem Roman jedoch veranschaulicht Beyer nicht den mythischen Aspekt wichtiger nationalsozialistischer Redner, sondern thematisiert die Bedeutung der technisch-medialen Reproduzierbarkeit von Stimmen und leistet somit einen bedeutenden Beitrag zum Diskurs über das kulturelle Gedächtnis. Der Roman beginnt 1939 – „Es ist Krieg“ (F, 9) – mit der Schilderung der Vorbereitungen für die perfekte akustische Inszenierung einer propagandistischen Großveranstaltung, für die Hermann Karnau sämtliche technischen Vorkehrungen treffen soll. Der „Toningenieur der Macht“ (Atze, S. 356) versteht sich als ein Mensch ohne Geschichte, als jemand, „über den es nichts zu berichten gibt“ (F, 16):
Ich stehe mir selber gegenüber wie einem Taubstummen: Es gibt einfach nichts zu hören, und auch die Gesten und die Mimik kann ich nicht verstehen. Mit Ende Zwanzig eine noch ungravierte, glatte Wachsmatrize, wo sich andern längst unzählige Spuren eingeprägt haben […]. Keine erkennbare Vergangenheit, und nichts, das mir widerfährt, nichts in meiner Erinnerung könnte zu einer Geschichte beitragen (F, 18).
Der Tontechniker wird als leere Hülle ohne Inhalt präsentiert und wenn man bedenkt, dass über die historische Figur Karnaus kaum etwas bekannt ist (vgl. Simon, S. 127), kann man diese Passage als Beyers poetologisches Prinzip verstehen: Genau wie ein Historiker spürt Beyer den Nachhall der Geschichte auf und erschließt „das Unsichtbare ausgehend vom Sichtbaren“ (Ginzburg, S. 70). Aus dem Beobachten von Spuren rekonstruiert der Autor komplexe Folgen von Ereig
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nissen und organisiert sie als erzählende Sequenz. Dieses Verfahren, ein Charakteristikum der deutschen Literatur schon seit den 1960er Jahren, das allerdings ab den 90er Jahren – nicht zuletzt durch Beyers literarisches Werk – neue Impulse bekommt, greift bis hinein in die Konzeption der Figuren, die mit den Grenzen zwischen Finden und Erfinden spielt. So bekommt Hermann Karnau im Laufe des Romans durchaus seine Geschichte: Mehr durch Zufall als durch ideologisches Kalkül avanciert er vom einfachen Akustiker zum Denunzianten (F, 86 f.) bis hin zum Folterknecht (F, 153–157, 158–161). Dieser Werdegang nimmt seinen Ausgangspunkt in einer traumatischen Urszene: Als Kind wird Karnau mit seiner eigenen aufgezeichneten Stimme konfrontiert. Deren Klang unterscheidet sich derart von der inneren Wahrnehmung, dass er sie nie wieder hören will. Da für Karnau die Seele im Kehlkopf zu verorten ist (F, 21), erlebt er auch als Erwachsener seine Stimme „als abgetrennt von sich, als dem eigenen Ich nicht zugehörig“ (Löffler, S. 255). Diese Erfahrung mit der eigenen Stimme führt bei Karnau zu einer regelrechten Obsession für die Welt der durch Menschen geschaffenen Geräusche. Er wird „ein Stimmstehler“ (F, 123), der dank der deutschen Entwicklung auf dem Gebiet der Tonspeichertechnik (F, 222) zunächst fremde Stimmen, Laute, Äußerungen, Schreie etc. auf Tonträger bannt und später sogar Stimmbänder und Kehlkopf operativ manipulieren lässt. Mit Karnau konzipiert Beyer eine Figur mit einer strikten Arbeitsethik, die ihre archivarische und pseudo-medizinische Arbeit durch Josef Galls Theorie über die Bestimmung von Gehirnregionen anhand der Schädelform wissenschaftlich untermauert (F, 26 f.) sieht. Zugleich aber stellt Karnau Galls Phrenologie eine eigene, auf Aristoteles basierende Theorie zur Seite (Aristoteles, S. 113; vgl. Atze, S. 362):
Wir alle tragen Narben auf den Stimmbändern. […] Wir nehmen das nur darum nicht zur Kenntnis, weil wir die Narben niemals sehen können. […] Nur wenige Stimmen in dieser Welt sind narbenlos, oder sagen wir: von einer zarten, weichen Änderung überzogen. […] So bilden die Narben auf den Stimmbändern ein Verzeichnis einschneidender Erlebnisse, akustischer Ausbrüche, aber auch des Schweigens. Wenn man sie nur mit dem Finger abtasten könnte, mit ihren Fährten, Haltepunkten und Verzweigungen. Dort, in der Dunkelheit des Kehlkopfs: Das ist deine eigene Geschichte, die du nicht entziffern kannst (F, 21 f.).
Folgt man Karnaus Theorie, auch wenn sie jeder wissenschaftlichen Erkenntnis widerspricht, so könnte man anhand der Stimmbänder das Leben eines Menschen, seinen Lebenslauf und letztlich auch seine Verbrechen rekonstruieren. Der Kehlkopf würde ein Archiv der menschlichen Seele und der menschlichen Geschichte beherbergen, das man bloß entschlüsseln müsste. Dass dies nicht möglich ist, dass die vielschichtigen Narben der Geschichte sowie die verborgenen
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Geheimnisse der Seele nicht komplett beleuchtet werden können, wird nicht nur im vorigen Zitat suggeriert, sondern scheint auch durch das Scheitern des kartographischen Projekts und durch die Schlussszene des Romans thematisiert zu werden. Während eines Besuchs im Dresdner Zoo wird sich Karnau im Gespräch mit dem Freund und Tierexperten Moreau – die Anspielung auf H. G. Wells’ Roman Die Insel des Dr. Moreau ist hier und an anderer Stelle offensichtlich (F, 172–173) – dessen bewusst, dass die für Fledertiere hörbaren Ultraschallfrequenzen nicht von Menschen gehört werden können, auch wenn wir sie produzieren und körperlich wahrnehmen (F, 176–180). Für Karnau bleibt eine Stille, die zunächst rein metaphorisch zu sein scheint, aber am Ende des Romans von der sehr realen Stille, die der Tod der Kinder von Goebbels hinterlässt, ersetzt wird. Beyer spielt erneut mit den Grenzen zwischen Fakten und Fiktion, wenn er im Roman ein Schallarchiv entdecken lässt, das bis 1992 im Keller des städtischen Waisenhauses zu Dresden aufbewahrt wurde. In den aufgenommenen Stimmen klingen auch Jahre nach Kriegsende „das Heil und Sieg und Ja mein Führer“ durch (F, 230). Die Stimme wird somit im Roman zur Stütze des Erinnerns schlechthin und für Beyer weitaus wichtiger als fiktives oder reales fotografisches Material, das andere Autoren für ihre rekonstruierende Arbeit einsetzen (vgl. F, 230). Die menschliche Stimme, selbst die aufgenommene, ist nie vergangen, sondern stets gegenwärtig. Und selbst wenn der Tod ein Schweigen hinterlässt, bleibt doch das dumpfe Geräusch der Rille erhalten (F, 301), das wie eine Spur der Geschichte wirkt, eine Spur, die inhaltslos zu sein scheint, jedoch Raum für Deutungen offen lässt. Hermann Karnau thematisiert dieses Prinzip selbst: „die kurzen Andeutungen genügen, um die ganze Geschichte wieder aufzurufen“ (F, 283 f.). Dass Marcel Beyer dieses „Andeuten“ zum literarischen Prinzip erhebt und dass er die Toten wieder sprechen hören will, lässt sich auch in Helgas Erzählungen herauslesen. Die Erzählpassagen aus Helgas Perspektive beginnen im Jahr 1940, als die fünf ältesten Goebbels-Kinder mitten in der Nacht „bei einem Fremden“ (F, 38) – d. h. in Karnaus Haus – untergebracht werden. Diesem ersten Treffen zwischen Karnau und den Kindern folgen zwei weitere: eines in Dresden (F, 171–173) und das letzte, längere im Berliner Führerbunker (F, ab 250). In allen Passagen, die Helga als Erzählerin aufweisen, arbeitet der Roman auf einer doppelten Ebene: Einerseits lenkt der Text die Aufmerksamkeit auf die private Sphäre der Familie Goebbels, ohne dabei in eine Dämonisierung noch in eine Verharmlosung des Propaganda-Ministers zu verfallen; andererseits werden in den Kommentaren Helgas und in den Spielen der Kinder öffentliche, meist bekannte Verhaltensmuster oder Ereignisse wiedergegeben, die auf frappierende Weise demonstrieren, wie die Außenwelt das Verhalten der Kinder und ihren Sprachgebrauch infiziert. So erzählt Helga über einen Zoobesuch (F, 134–136) und über eine Auto
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fahrt mit dem Vater (F, 106–109) oder sie berichtet von einem Streit mit dem einzigen Bruder, bei dem sich der Vater auf die Seite des Sohnes stellte (F, 76–79). Solchen Geschichten aus dem Privatleben der Familie Goebbels, deren Quellen in den literarischen Kontext bis zur Unkenntlichkeit eingebettet sind, stehen andere Erzählungen gegenüber, die meist durch mehr oder weniger deutliche sprachliche Hinweise auf den Wiedererkennungseffekt beim Leser bauen. Wenn Helga ihren Vater fragt: „[…] was ist denn eigentlich Entwelschung?“ (F, 125), oder der Vater die Kinder fragt: „Hat irgendwer noch eine Werwolf-Nachricht?“ (F, 191), zielt der Text darauf ab, das Wissen über vergangene Ereignisse zu reaktivieren, ohne jedoch den Kontext näher zu erläutern. Genauso lässt sich Goebbels’ Berliner Rede vom „totalen Krieg“ betrachten, die als Paradebeispiel der Rhetorik der NS-Propaganda gilt, jedoch durch die kindliche Stimme und Aufmerksamkeit Helgas im Roman so wiedergegeben wird, als höre man zum ersten Mal davon (F, 157–158; 161–163; 165 f.; 168–170). Noch subtiler sind die Passagen, die die Spiele der Kinder erläutern. Wenn Helga von „Appell“ und „Aufseher“ spricht (F, 144) oder wenn sie Heddas Kinderwagen als „Panzer“ (F, 60) und die Kissen als „Granaten“ (F, 68) bezeichnet, wenn die Kinder „Taubstummen-Aufmarsch“ (F, 68–69) oder „spontane Aktion“ (F, 144) spielen: stets wird man durch Assoziationen an die Kriegsjahre und den Holocaust erinnert, auch wenn sie nicht explizit erwähnt werden. Wie Ulrich Simon zurecht anmerkt, deutet Helgas Kommentar des eigenen Spiels – „Nein, niemand darf erfahren, was wir mit den Kleinen angestellt haben, es gibt gewisse Dinge, die man zwar sehen, aber nicht hören darf, nicht aussprechen, sich nicht darüber unterhalten“ (F, 145) – „auf ein allgemeines Verhaltensmuster im Umgang mit den öffentlichen Verbrechen“ und liefert „mit der Opposition ‚öffentlich‘ und ‚privat‘ Ansätze eines impliziten Erklärungsmodells des Nationalsozialismus.“ (Simon, S. 130) Nicht von ungefähr antwortete Marcel Beyer auf die Fragen der Redaktion von Text+Kritik – „Ist das Unsagbare unsagbar?“ – zuallererst durch Zitate aus seinem Roman Flughunde. Und auch in der Dankesrede anlässlich der Verleihung des Uwe-Johnson-Preises lässt sich Beyers Position gegenüber dem Nazianalsozialismus herauslesen. Nach der Schweigegeneration, der Generation, die den Nationalsozialismus erlebt hat, und nach der Fragegeneration, die zur Antwortgeneration geworden sei, verlangt Marcel Beyer von sich und seiner Generation eine Haltung, die er als Haltung des Hörens bezeichnet (Preisrede, S. 259–268). Hier lehnt der Autor, in Anlehnung an Uwe Johnsons Über eine Haltung des Protestierens, die Antworten der Antwortgeneration ab – wiederholt zitiert Beyer in seiner Rede Johnsons berühmte Wendung „Die guten Leute sollen das Maul halten“ – und will nun wieder die Toten sprechen lassen, ohne Erwartungen oder Wertungen, lediglich bereit zuzuhören.
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3 Rezeption und Folgen Durch die Teilnahme an den Klagenfurter Tagen der deutschsprachigen Literatur im Jahr 1991 und die Verleihung des Ernst-Willner-Preises konnte Marcel Beyer viel Aufmerksamkeit auf seinen Roman Flughunde ziehen, lange bevor das Buch erschienen war. Als der Roman vier Jahre später veröffentlicht wurde, genoss er dementsprechend große Beachtung und wurde von den meisten Literaturkritikern sehr positiv oder gar mit Begeisterung aufgenommen. Das Interesse für den Roman erwachte erneut 1997 im Zuge der Verleihung des Uwe-Johnson-Preises und 2013, als Ulli Lust den Roman als Grundlage einer Comic-Adaption nutzte. Nach Angaben des Suhrkamp-Verlags wurde der Roman auch international positiv aufgenommen und ist in 14 Sprachen übersetzt worden. Die meisten Literaturkritiker würdigen zur Erstveröffentlichung des Romans Marcel Beyers „erzählerische Wahrheit“ (Karasek, S. 173), das Authentische und die Präzision beim Beschreiben der nationalsozialistischen Geschichte (Köhler; Mennemeier; Rauch, S. 159). Nicht nur werden die umfangreichen historischen Recherchen des Autors hervorgehoben, sondern auch sein sprachliches Können und die künstlerische Freiheit im Erfinden der zwei literarischen Figuren (Theobaldy). Bernd Künzig betont zu Recht, dass anfangs die meisten Kritiker den Roman im Kontext einer deutschen Nachkriegsliteratur gelesen haben, die Vergangenheitsbewältigung und eine Vergegenwärtigung des Geschehenen leiste (Künzig, 124). Weniger Kritiker haben indes Beyers Ablehnung „ein[es] moralisch gefütterte[n] Realismus“ (Halter) erkannt und seinen Roman in den Kontext eines medientheoretischen Diskurses gestellt (Winkels). Heute sind die Kritiken des Romans durchaus differenzierter, auch weil der Roman schnell Eingang in literaturwissenschaftliche Abhandlungen gefunden hat. In vielen Sammelbänden, die sich mit zeitgenössischer Literatur beschäftigen, finden sich Aufsätze, die dem Roman oder dem Werk Beyers gewidmet sind (z. B. Künzig und Thomas) und auf unterschiedliche Aspekte des Romans eingehen. Zum Beispiel geht Ulrich Simon auf den Holocaust-Diskurs ein, während Roman Pliske die Beziehung zwischen Wissenschaft und Wahnsinn erläutert. Auch ist der Roman im Kontext eines literaturgeschichtlichen Diskurses gelesen worden, wie etwa im Aufsatz von Sandra Schöll, der Flughunde in der Tradition des Nouveau Roman versteht. Aufgrund seiner ausgesprochen feinen Wahrnehmung haben einige Kritiker die Figur Karnaus in die Nähe ähnlicher literarischer Figuren der deutschen Gegenwartsliteratur wie Grenouille Baptiste aus Patrick Süskinds Das Parfüm oder Johannes Elias Alder aus Robert Schneiders Schlafes Bruder gerückt – trotz aller Unterschiede zwischen den erzählten Welten. Andere Kritiker haben hingegen in Karnau Ähnlichkeiten mit Peter Kien aus Elias Canettis Roman Die
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Blendung oder eine Verwandtschaft mit Clarisse aus Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften erkennen wollen (Pliske, S. 111–114). Wenn keine spezifischen Beiträge zu Flughunde zu finden sind, so wird doch der Roman je nach Anliegen der Autoren stets rezipiert (z. B. Agazzi, Atze, Braese). Es ist – auch angesichts des Alters des Autors – zu vermuten, dass viele weitere interessante Analysen den bereits existierenden folgen werden.
Literatur Beyer, Marcel: Das Menschenfleisch. Roman. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1991. Beyer, Marcel: Flughunde [1995]. Roman. Frankfurt/M: Suhrkamp 1996. Beyer, Marcel: Falsches Futter. Gedichte. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1997. Beyer, Marcel: Über eine Haltung des Hörens. Rede anläßlich der Entgegennahme des UweJohnson-Preises 1997. In: Internationales Uwe-Johnson-Forum, hg. v. Carsten Gansel u. Nicolai Riedel, Bd. 7 (1998), S. 261–268. Beyer, Marcel: Kommentar. Holocaust: Sprechen. In: Text+Kritik: Literatur und Holocaust, hg. v. Heinz Ludwig Arnold, H. 144 (1999), S. 18–24. Beyer, Marcel: Spione. Roman. Köln: DuMont 2002. Beyer, Marcel: Erdkunde. Gedichte. Köln: DuMont 2003. Beyer, Marcel: Nonfiction. Essays. Köln: DuMont 2003. Beyer, Marcel: Interzone. Opernlibretto. Berliner Festspiele 2004. Beyer, Marcel: Vergeßt mich. Erzählung. Köln: DuMont 2006. Beyer, Marcel: Kaltenburg. Roman. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2008. Beyer, Marcel: Arbeit Nahrung Wohnung. Bühnenmusik für vierzehn Herren. Opernlibretto. München Biennale 2008. Beyer, Marcel: Putins Briefkasten. Erzählungen. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2012. Beyer, Marcel: Graphit. Gedichte. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2014. Canetti, Elias: Die Blendung [1936]. München: Hanser 1992. Johnson, Uwe: Über einer Haltung des Protestierens. In: Kursbuch 9 (1967). Musil, Robert: Der Mann ohne Eigenschaften [1930, 1933]. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1978. Schneider, Robert: Schlafes Bruder. Leipzig: Reclam 1992. Süskind, Peter: Das Parfum. Geschichte eines Mörders [1985]. Zürich: Diogenes 2006.
Sekundärliteratur Agazzi, Elena: La memoria ritrovata. Tre generazioni di scrittori tedeschi e la coscienza inquieta di fine Novecento. Milano: Mondadori 2003. Atze, Marcel: „Unser Hitler“ Der Hitler-Mythos im Spiegel der deutschsprachigen Literatur nach 1945. Göttingen: Wallstein Verlag 2003. Braese, Stephan: Im Schatten der „gebrannten Kinder“. Zur poetischen Reflexion der Vernichtungsverbrechen in der deutschsprachigen Literatur der 90er Jahre. In: Corinna Caduff,
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Ulrike Vedder (Hg.): Chiffre 2000 – Neue Paradigmen der Gegenwartsliteratur. München: Fink 2005, S. 81–106. Ginzburg, Carlo: Die Wahrheit der Geschichte. Rhetorik und Beweis. Berlin: Wagenbach 2001. Halter, Martin: „Das Innere greifen, die Stimme angreifen“. In: Badische Zeitung, 05.04.1995. Karasek, Hellmuth: Schreien und Flüstern. In: Der Spiegel 27 (1995), S. 171–173. Köhler, Andrea: Im Kehlkopf der Macht. Marcel Beyers Roman Flughunde. In: Neue Zürcher Zeitung, 13.07.1995. Künzig, Bernd: Schreie und Flüstern – Marcel Beyers Roman Flughunde. In: Andreas Erb (Hg.): Baustelle Gegenwartsliteratur. Die neunziger Jahre. Opladen/Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 1998, S. 122–153. Löffler, Sigrid: Laudatio auf den Uwe-Johnson-Preisträger 1997 Marcel Beyer. In: Carsten Gansel, Nicolai Riedel (Hg.): Internationales Uwe-Johnson-Forum 7. Frankfurt/M.: Peter Lang 1998, S. 253–260. Mennemeier, Franz Norbert: Parabel des Nazi-Terrors. Zu Marcel Beyers Roman Flughunde. In: Neues Rheinland 6 (1995). Pliske, Roman: Flughunde. Ein Roman über Wissenschaft und Wahnsinn ohne Genie im „Dritten Reich“. In: Marc-Boris Rode (Hg.): Auskünfte von und über Marcel Beyer. Bamberg: Universitätsverlag 2003, S. 110–125. Rauch, Marja: Stimmenlandschaften – Todeslandschaften. Marcel Beyer: Flughunde. In: Neue deutsche Literatur. Zeitschrift für deutschsprachige Literatur und Kritik 502 (Juli/August 1995), S. 157–159. Schmidt, Thomas E.: Erlauschte Vergangenheit. Über den literarischen Stimmensucher Marcel Beyer. In: Thomas Kraft (Hg.): aufgerissen. Zur Literatur der 90er. München: Piper 2000, S. 141–150. Schöll, Sandra: Marcel Beyer und der Nouveau Roman. Die Übernahme der „Camera-Eye“Technik Robbe-Grillets in Flughunde im Dienste einer Urteilsfindung durch den Leser. In: Marc-Boris Rode (Hg.): Auskünfte von und über Marcel Beyer. Bamberg: Universitätsverlag 2003, S. 146–159. Simon, Ulrich: Assoziation und Authentizität. Warum Marcel Beyers Flughunde auch ein Holocaust-Roman ist. In: Marc-Boris Rode (Hg.): Auskünfte von und über Marcel Beyer. Bamberg: Universitätsverlag 2003, S. 126–145. Theobaldy, Jürgen: Tiefe Stimmen aus der Nacht. In: Frankfurter Rundschau, 01.07.1995. Thomas, Christian: Marcel Beyers Flughunde als Kommentar zur Gegenwart der Vergangenheit. In: Inge Stephan, Alexandra Tacke (Hg.): NachBilder des Holocaust. Köln: Böhlau 2007, S. 145–159. Winkels, Hubert: Der Mann ohne Stimme. In: Die Zeit, 07.04.1995.
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Francesco Aversa
Braun, Volker: Der Wendehals. Eine Unterhaltung (Frankfurt/M.: Suhrkamp) 1 Entstehung und Kontext Mit Der Wendehals (= WH) legt Volker Braun ein Werk vor, das eine Art Summa der stilistischen, philosophischen und politischen Anliegen des Autors darstellt. Das schmale Buch gliedert sich in zwei Teile. Der erste beträgt knappe hundert Seiten und ist „Der Wendehals oder Trotzdestonichts“ betitelt und wird gefolgt von sieben kurzen Prosaskizzen, die unter dem Haupttitel „Die Fußgängerzone“ auf zwanzig Seiten gesammelt sind. Der ausgebildete Philosoph und, seit Mitte der 1960er Jahre, aktiver und produktiver Dramaturg und Dichter spricht in diesem Buch eine Palette von Themen an, die seit den 1980er Jahren bis heute nie aufgehört haben, ihn zu beschäftigen: u. a. die den Verhältnissen innewohnende Dialektik zwischen Desiderata und der Realität sowie die Anwendbarkeit des revolutionären, kulturpolitischen Erbes und zahlreiche zivilisationskritische Komplexe, die die Widersprüche der ostdeutschen und gesamtdeutschen Seele im wiedervereinigten Deutschland aufzuzeigen versuchen. Rezensent Dieter Hildebrandt beklagt sich:
Also bitte! Jetzt, nach fünfeinhalb Jahren, noch immer die alte Leier? Die Wende noch einmal hin- und hergewendet? […] Ein weiteres Mal das Hochseil gespannt zwischen Marx und Markt und zum begriffsvirtuosen Zirkuskunststück angetreten? (Hildebrandt 1995)
Keineswegs enthusiastischer ist weiter in der Presse zu lesen: „Schwer zu sagen, was eigentlich man mit diesem Text vor Augen hat, und schon gar nicht erkennbar ist, wohin der Autor sich und die Leser lenken möchte.“ Am Ende seiner Rezension für die Süddeutsche Zeitung schlussfolgert Heinrich Vormweg: „Volker Braun ist offenbar längst nicht mit sich im reinen“ (Vormweg 1995). Was Hildebrandt und Vornweg am meisten stört, hatten schon einige Kommentatoren des frühen Braun’schen Nach-Wende-Werkes klargestellt: Er habe die Trauerarbeit um den Verlust seines Hass-Liebe-Objekts, der DDR, noch nicht überwunden, er sei immer noch vom furor melancholicus (Emmerich 2007, S. 460) gefesselt und gequält. Trotzdem sei es zugegebenermaßen „schwer zu sagen“, worum es in diesem Werk geht. Worum denn also?
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2 Inhalt und Analyse So lässt sich die grobe Rahmenhandlung des Haupttextes kurz zusammenfassen: Im wiedervereinigten Berlin setzt eine Art allegorischer Streifzug an, der die zwei sich miteinander unterhaltenden Personen – ICH und ER – vom Scheunenviertel über die Plattenbausiedlung in Hellersdorf bis zu einem Spargelfeld in Brandenburg führt. Vor ihren Augen tritt eine von Konsum geprägte Großstadt, deren Straßen einen Schauplatz für Gier, Opportunismus, Prostitution, Obdach- und Arbeitslosigkeit bilden. ICH und ER (Schaber genannt) unterhalten sich in einer Reihenfolge von Szenen, die – wie in einer städtischen, zentrifugalen Odyssee – sich an unterschiedlichen Orten des Berliner Ostens abspielen. Nur episodenhaft erfolgt die Erzählung, deren narrative Stränge eher den behandelten Themen untergeordnet sind, als dass sie eine kausale Anordnung folgten. So etwa wird die Warenüberflutung in der Kaufhausszene thematisiert, die zwecklose Gier im Restaurant, die Fremde und die Ausländerfeindlichkeit in Hellersdorf und die verfehlte Beziehung zur Natur auf dem Ackerfeld. Formal lässt sich das Werk als Mischform aus Erzählung, Drama und Aphoristik bezeichnen, denn Braun scheint hier keinen Abschied von jeder der genannten Gattungen nehmen zu wollen. Überwiegend ist man mit einer dramatischen Struktur konfrontiert, die regelmäßig von Prosa-Intermezzi und Monologen abgelöst wird. Dem ersten Teil sind zwei Mottos vorangestellt, die programmatisch zu deuten sind: Montaignes rhetorischer Frage – „Weiß man, ob nicht das menschliche Geschlecht seine Albernheiten begeht, weil ihm irgendein Sinn fehlt?“ – folgt Sancho Panzas Bekenntnis zu einem religiösen Fatalismus: „‚Liebe Frau‘, erwiderte Sancho, ‚wenn Gott es wollte, so wäre ich froh, nicht so heiter zu sein, wie du mich siehst‘“ (WH, 5). Das Duo Montaigne–Sancho Panza bereitet eine zweifache Antwort auf die wesentlichen Problemkomplexe des menschlichen Agierens auf eine Art und Weise vor, die auch für die Dialoge zwischen dem „ER“ und dem „ICH“ prägend wird. Wer sind ICH und ER? Die beiden Figuren verkörpern zwei Spielarten des Scheiterns. Der ICH bezeichnet sich als „Weltanschauer und Veränderer […], innerlich abgewickelt und entlassen von der zahlungsunfähigen Geschichte“, ein Intellektueller, der von sich behauptet: „Wie gut, daß ich keine Bücher schreibe […]. Ich unterhalte mich lieber“ (WH, 7). ER, Schaber, der ‚Wendehals‘, ist im real existierenden Sozialismus Vorgesetzter des ICHs gewesen, konnte aber mittels der Überprüfungskommissionen rehabilitiert werden, um sich in den allzu westlichen Aktivitäten eines Versicherungskaufmanns neu zu verausgaben. Schaber repräsentiert den zweifachen Opportunisten. Er ist jetzt im neuen System angekommen und hatte zu DDR-Zeiten seinen Treueid dem SED-System geleistet,
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wobei er keine echte Annäherung an die kulturellen und philosophischen Prinzipien des Sozialismus erlebt hatte. Das zeigt sich etwa in seinem Geständnis, er habe die marxistisch-leninistischen Bücher nie gelesen – wie es sich in der Szene herausstellt, in der er auf den Bücherhaufen auf seinem Hinterhof verweist. Hier befragt ihn ICH, ob er in Marx’ Kapital hineingesehen habe. „Ich schwöre: nein“ (WH, 39) gibt ER reflexartig an. Seiner ganzen Logik, Semantik und Syntax wohnt sein Scheitern bei; er ist dem ‚Wahnsinn‘, der EuphorieParole der Wendezeit, buchstäblich zum Opfer gefallen. So muss sein Gesprächspartner oft feststellen, ER sei sich mit sich selber und seiner Umgebung nicht im Klaren: „Was immer er sagen will, es sind keine zu-, keine rechnungsfähigen Worte“ (WH, 72). Die symptomatischen Auswirkungen des Wahnsinns sind am Beispiel seines semantischen Chaos zu finden – ER redet das ICH mit immer unterschiedlichen Titeln an – „Kommissar“, „Prokurist“, „Herr Kurator“, „Eminenz“, „Kommandant“, „Herr Literat“ –, so wie in seiner Unfähigkeit, dem Gesprächspartner aufmerksam zuzuhören. Die Interaktion des ICHs mit den nur lückenhaft zusammenhängenden Reden des Ersteren erzeugt eine Art Beckett-Effekt, indem die Unterhaltung des Paars als dramatisches Beispiel der Tragikomik des Nonsens betrachtet werden kann. ICH und ER wirken oft als Wiedergänger der kanonisierten Paare Estragon / Vladimir und Hamm / Clov. Bei Braun bleibt aber der Fokus vorwiegend aufs Geschichtliche gerichtet, da die meiste Komik eher durch Kalauer und Wortmodifizierungen entsteht, also nach einem Muster, das dem Leser in Kürze vertraut wird: Wir aber, sagt er dunkel, Kundschafter waren wir, keine Kundschaft / ICH Jetzt sind wir Kunden ohne Kunde. / ER Du meinst, wir brauchen die Weisheit / – er verliert den Satz, ohne mit der Wimper zu zucken: / die Verwaistheit der Massen (WH, 88).
Solch ein Verfahren beabsichtigt weniger eine Komik zu erzielen, es hat vielmehr eine sinnerzeugende Funktion: Auf den Wortassoziationen beruhen die thematischen Übergänge – noch ein Beispiel: ER Dazu stehe ich, Herr Intendant, diese Besetzung / ICH Besitzung … / ER Diese Besatzung – / Er glaubt sich wieder auf den Zahn gefühlt und sagt bedächtig: / Ich bin exmittiert, in Mitte (WH, 31).
Das Beckett’sche, das viel zum möglichen theatralischen Genuss beitragen könnte, entschärft sich jedoch durch eine für Braun typische Eigenschaft: Der Leser muss entziffern können, da der Autor mit einer Montagetechnik arbeitet, die sowohl eigene als auch fremde Texte einbaut. Textübergreifende Beziehungen
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dienen einer Erweiterung der Unterhaltung und erschließen, nach derer Entschlüsselung, weitere Ebenen des Dialogs. Es entstehen metatextuelle Dialoge zwischen dem Autor und seinen Vorlagen, die den Text zu einem philosophisch komplizierten Stück machen. Jill Twark kann man zustimmen, dass die philosophischen Einschübe im Text so exzessiv sind, dass dieser grotesk wird (vgl. Twark 2007, S. 209). Zwei Bezüge sind aber an dieser Stelle erwähnenswert. Jacques Diderots philosophischem Dialog Rameaus Neffe – an dessen „Moi“ und „Lui“ ER und ICH allzu offensichtlich erinnern – verdankt Braun den Handlungsrahmen und den ironischen, widersprüchlichen Ton des durch die Stadt irrenden Paares – „ein buch, das mir lieb wird aus vielen gründen“ (Braun 2009, S. 7) notierte Braun am 2. Januar 1977. Wie von Wilfried Grauert herausgearbeitet, verstärken die Parallelen zum Aufklärer Diderot die zivilisationskritischen Stellungnahmen bei dem Aufklärer Braun (vgl. Grauert 2004). Bringt man die Autoren Braun und Diderot in eine größere Nähe, so fällt es leicht, Analogien zwischen Lui-Rameau/ER-Schaber und Moi/ICH zu sehen. Die Kritik am Umgang mit der Natur – die sich schon 1988 in Bodenloser Satz ausgedrückt findet – wird aus dem Geist der Zivilisationskritik geboren, die Braun bereits mit Iphigenie in Freiheit (1991) und Böhmen am Meer (1993) vehement geübt hatte. Unter diesem Aspekt ist ein Zwischenspiel, eine Unterbrechung der dramatischen Erzählung zu verstehen, das zugleich auf eine weitere Quelle hinweist. Das Intermezzo trägt die Überschrift „Zur Orientierung (nach Schulze)“ und besteht aus fast wortwörtlichen Zitaten aus Die Erlebnisgesellschaft (1992) des Soziologen Gerhard Schulze. Brauns Kritik, mittels der Zitat-Montage aus Schulzes Bestseller, kann mit den Worten Grauerts so zusammengefasst werden:
[D]ie egozentrische Denkweise der Konsumenten, die Diffusität der Ziele, um deren Befriedigung es geht, die Reduktion des Verhaltens auf Reaktionen, das Interesse an einer Gewissheit jenseits der Beliebigkeit, der Verlust des Bezugs zu einem Ganzen, die Relativierung der Lüge (Grauert 2004, S. 145).
Die Erlebnisgesellschaft – deren Kritik metonymisch für diejenige an dem bundesdeutschen, westlichen System steht – versteht sich als planlos und zentrifugal, ein Modell, das auf jegliche Teleologie verzichtet und sich daher fern von einem zielorientierten Gedankengut, wie beispielsweise dem marxistischen situiert.
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3 Rezeption und Folgen Welchen Stellenwert besitzt nun diese dramatische Erzählung angesichts der Produktion Brauns vor und nach 1995? Der zivilisationskritische Gestus ist keinesfalls als unmittelbare Reaktion auf die neuen gesamtdeutschen Verhältnisse zu deuten. Wie Heinz-Peter Preußer belegt, hatten sich solche Motive, gekoppelt mit einem resignativen Ton, bereits in den 1980er Jahren als erschlossenes Terrain im Feld der DDR-Literatur der so genannten Reformsozialisten erwiesen (vgl. Preußer 2003). Bei Braun taucht solch ein Denkmuster, wenn auch nie in eindimensionaler Form, häufig in seinen essayistischen Werken und Reden (siehe beispielsweise die Rede „3. Oktober 1990“), neben seinen schon erwähnten Fiktionsstücken Iphigenie in Freiheit und Böhmen am Meer auf. Auch das philosophische Anliegen der Hegel’schen Herrschaft-Knechtschaft-Verhältnisse wurde wiederum nach Diderot’schem Muster im Hinze-Kunze-Roman bereits angewendet. Manche Motive des Wendehalses werden in den Veröffentlichungen nach 1995 wieder aufgenommen und erweitert, etwa in der intensivierten Beschäftigung mit der römischen Antike, bzw. dem Untergang des römischen Kaiserreichs, in den Gedichten „Plinius grüßt Tacitus“ (bereits 1995 während eines NeapelAufenthalts konzipiert, vgl. Braun 2014, S. 308) und „Lagerfeld“ aus dem Band Tumulus (1999) und im Stück Limes. Mark Aurel (2002), oder im Rückgriff auf die Metapher der Barbaren, um den Angriff der kapitalistischen Warenwelt zu schildern (vgl. den Vers „Salute, Barbaren“ aus „Lagerfeld“). Trotz Fortbestehens solcher Topik schafft es Braun ab 1996 mit der Erzählung Die vier Werkzeugmacher, über den Charakter des Melancholiker-Typus hinauszugehen. Der bemängelte und vermeintliche furor melancholicus, der sich u. a. im bruchstückhaften Stil, in vielschichtigen Zitatebenen und teilweise gewollter Ironie ausdrückte, lässt zugunsten einer in Der Wendehals nur streckenweise angedeuteten verständlicheren Prosa nach. Zwischen 1996 und 2008 entstehen seine vielleicht feinsten Prosawerke, hauptsächlich mit Das Wirklichgewollte (2000), Das unbesetzte Gebiet (2004), dem Roman Machwerk (2008) und der jüngsten Erzählung Die hellen Haufen (2011). Allen Veröffentlichungen ist gemeinsam, dass sich Braun neben den klassischen Themen der verfehlten Utopie intensiver denn je mit den hoch aktuellen Konflikten der prekären Arbeitswelt und der Migration auseinandersetzt.
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Literatur Braun, Volker: Der Wendehals. Eine Unterhaltung. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1995. Braun, Volker: Werktage, 1977–1989. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2009. Braun, Volker: Werktage 2. Arbeitsbuch 1990–2008. Berlin: Suhrkamp 2014.
Sekundärliteratur Emmerich, Wolfgang: Kleine Literaturgeschichte der DDR. Berlin: Aufbau 20073. Grauert, Wilfried: Nach der Natur leben. Zivilisationskritik in Volker Brauns Der Wendehals. In: Rolf Jucker (Hg.): Volker Braun in Perspective. Amsterdam, New York: Rodopi 2004, S. 137–156. Hildebrandt, Dieter: Letzte Lockerung des Wendehalses. In: Die Zeit 13 (1995). Preußer, Heinz-Peter: Letzte Welten. Deutschsprachige Gegenwartsliteratur diesseits und jenseits der Apokalypse. Heidelberg: Winter 2003. Twark, Jill E.: Humor, Satire and Identity. Eastern German Literature in the 1990s. Berlin, New York: De Gruyter 2007. Vormweg, Heinrich: Ziellos in der Fußgängerzone. In: Süddeutsche Zeitung, 05.04.1995.
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Brussig, Thomas: Helden wie wir. Roman (Berlin: Volk & Welt) 1 Entstehung und Kontext Thomas Brussig (Jahrgang 1965) ist gebürtiger Ostberliner. In der Endphase der DDR versuchte er sich in verschiedenen Berufen (etwa als Möbelträger, Museumspförtner, Fabrikarbeiter u. Ä.). Sein literarisches Debüt durfte er 1991 unter dem nom de plume Cordt Berneburger mit Wasserfarben feiern, einem coming-ofage-Roman à la Salinger, dessen aufmüpfiger Held, Anton Glienicke, an Holden Caulfield, Plenzdorfs Edgar Wibeau und Goethes Wilhelm Meister angelehnt zu sein scheint. 1993 nimmt Brussig ein Studium an der Filmhochschule „Konrad Wolf“ in Potsdam auf. Seitdem beschäftigt er sich gleichzeitig mit belletristischen und filmischen Produktionen. 1995 erscheint sein bis dato erfolgreichster und in mehrere Sprachen übersetzter Roman Helden wie wir (= H) und in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre widmet er sich wiederholt dem Schreiben für die Leinwand. 1995 schreibt er den ‚Großstadt-Western‘ Rache (Regie: Bernd Michael Lade) und später arbeitet er an den Verfilmungen eigener Romane mit dem Flop
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Helden wie wir (1999, Regie: Sebastian Peterson) und dem Blockbuster Sonnenallee (1999, Regie: Leander Haußmann). Außerdem liefert Brussig einen Teil des Drehbuchs für Edgar Reitz’ Heimat 3 (2004) sowie das Buch für das Erfolgsmusical Hinterm Horizont (2011). Mit Wie es leuchtet, seinem 2004 erschienenen Roman, distanziert sich der Autor vom Sound seiner adolescent novels, Helden wie wir und Am kürzeren Ende der Sonnenallee, zugunsten eines umfangreicheren Gesellschaftsporträts des Wende-Bienniums.
2 Inhalt und Analyse In Woody Allens Manhattan nimmt der Autor Isaac Davis die Ideen für seinen großen New-York-Roman mit einem Tonbandgerät auf. Über die Bedeutung der eigenen Worte sinnierend und auf einem Sofa in seiner Wohnung liegend, verrät Isaacs Pose die Stoßrichtung seiner Erzählung (und des ganzen Films): Er gibt den Versuch preis, die Wahrnehmungen seines Lebens einzuordnen und somit sich selbst zu therapieren bzw. zu psychologisieren. Ähnlich verhält sich Klaus Uhltzscht, der Held und Erzähler von Helden wie wir: Er spricht in ein Diktiergerät und erzählt von seiner Kindheit in einer bornierten und dysfunktionalen DDRFamilie. Die Deutung seiner auf sieben Tonbändern überlieferten Geständnisse sollte Mr. Kitzelstein überlassen bleiben, einem Journalisten der New York Times, dessen unüberhörbar jüdisch/jiddisch anmutender Name dem Typus des USamerikanischen Psychotherapeuten jüdischen Milieus entliehen ist. Außerdem verweist die Onomastik Kitzelsteins gleichzeitig auf eine Figur, die seinem Gesprächspartner (Klaus Uhltzscht) ‚die Story herauskitzelt‘ (vgl. Reimann 2008, S. 251) und spielt deutlich auf die Klitoris, vulgo ‚Kitzler‘, an. Die aus dieser Verbalisierung des Erfahrenen resultierende Therapie-Sitzung will der Ich-Erzähler als das Umschreiben der Geschichte der letzten DDR-Jahre verstehen. In einem von der eigenen Entwicklungsgeschichte in die große Historie übergehenden Crescendo setzt sich Klaus Uhltzscht zum Ziel, die ‚eigentliche‘ Chronik des Mauerfalls wiederzugeben. Wir erfahren nun, dass die Mauer allein aufgrund seines Penis fiel:
Ja, es ist wahr. Ich war’s. Ich habe die Berliner Mauer umgeschmissen. Aber wenn es nur das wäre – die Rezensionen der Historiker und Publizisten jedenfalls lesen sich so: „Ende der deutschen Teilung“, […] „Ende des kurzen Jahrhunderts“, „Ende des Kalten Krieges“, „Ende der Ideologien“ und „Das Ende der Geschichte“. […] Ich werde Ihnen erzählen, wie es dazu kam. Die Welt hat ein Recht auf meine Geschichte, zumal sie einen Sinn ergibt (H, 7).
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Auch wenn die Anamnese der Geschehnisse bereits im „1. Band“ verraten wird, müssen sich die Adressaten (Mr. Kitzelstein und die LeserInnen) doch circa 300 Seiten lang gedulden, um mit der dahin führenden Ätiologie vertraut zu werden. Klaus’ Selbstanalyse setzt in bester Freud’scher Manier an: Er malt den pathologischen Zustand seiner familiären Konstellation aus, die seine Kindheit so entscheidend geprägt hat. Allem voran offeriert er eine phantastische Schilderung der eigenen Geburtsstunde, die in die schicksalhafte Nacht des 20. August 1968 fällt. Sein Ankommen in der Welt geht mit dem Anfang der ‚Normalisierung‘ im Ostblock einher, mit der Niederschlagung des durch den Prager Frühling angekurbelten reformatorischen Schwungs. Dadurch wird klar, dass sich sein ganzes Leben in einem Staat abspielt, in dem alle Hoffnungen, dass die totalitären Apparate demokratische Räume zulassen würden, als endgültig verloren gelten. Die ins Groteske mündende Beschreibung der eigenen Entbindung stellt diese Ich-Instanz in eine Linie mit Grass’ Oskar Matzerath – den Bezug auf den Danziger Zwerg nahm bereits der Klappentext der Volk&Welt-Ausgabe des Romans – oder Sternes Tristram Shandy und verweist auf eine Dimension, die sich, von magischem Realismus gespeist, jeglichem Versuch verweigert, die tatsächliche Geschichte darzustellen. Stattdessen eröffnet sich ein Feld, in dem Historisches nur durch ironische, satirische, parabelhafte oder gar plakative Stellungnahmen wahrnehmbar wird. Der Plot des Romans versteht sich als die Schilderung eines Aufwachsens im real existierenden Sozialismus. Klaus Uhltzscht erzählt von seiner Kindheit und Jugend in der DDR der 1970er und 1980er Jahre, in einem System, das vornehmlich aus familiären, sozialen und institutionellen Dysfunktionen besteht. Doppelt belastet von der mütterlichen Hygieneobsession und von einer distanzierten, geheimnisvollen Haltung väterlicherseits, muss sich Klaus in einer Gesellschaft zurechtfinden, die unter ähnlichen Pathologien leidet. Der ‚Held‘, dessen überdimensioniertes Selbstbild als die umgekehrt proportionale Antwort auf seinen unterdimensionierten Penis zu deuten wäre, erzählt von der Entwicklung eines Außenseiters. Seiner angeborenen Neugierde und seinem Wissenshunger zum Trotz hält er sich für einen Versager:
Ich hatte den widerwärtigsten Namen, ich war der schlechtinformierteste Mensch, ich war Toilettenverstopfer, Sachenverlierer, Totensonntagsfick und letzter Flachschwimmer (H, 92).
Klaus Uhltzscht arbeitet am selbstbewussten Projekt, eine heldenhafte Persona aufzubauen, und betreibt einen Kampf um eine Selbstverwirklichung literarischer Art. Die Überarbeitung seiner Erinnerungen erfolgt mit dem Ziel, nichts weniger als einen Nobelpreis zu erringen:
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Die Geschichte des Mauerfalls ist die Geschichte meines Pinsels, aber wie läßt sich dieser Ansatz in einem Buch unterbringen, das als eine nobelpreiswürdige Kreuzung von David Copperfield und Ein Zeitalter wird besichtigt konzipiert ist? (H, 7).
Klaus’ monologisierendes, autobiographisches Interview mit Kitzelstein bietet dem Leser nicht nur die entscheidenden, ‚faktualen‘ Lebensetappen (Kindheit, Pubertät, Erwachsenwerden und Einsatz bei der Stasi), sondern auch Metareflexionen über die Erzählweise dieser Informationen. Im Vordergrund steht dementsprechend das psychologische Mäandern einer höchst komplexbeladenen Persönlichkeit. Sexualität bzw. das männliche Glied spielen eine zentrale Rolle in der Romanökonomie: Klaus spricht von „Woody Allens fundamentaler Entdeckung des Penisneides beim Mann“ (H, S. 58). Als der Sohn Lucie Uhltzschts erlebt er Sex, dessen Anfangsbuchstabe von der Mutter, der Hygieneinspektorin, stimmhaft, und sozusagen ‚sauber‘, wie in „6“ ausgesprochen wird, als einen in Perversionen ausufernden Komplex. Eine richtige Befriedigung, von einer Normalisierung des sexuellen Lebens ganz zu schweigen, bleibt ihm untersagt. Seine spärlichen sexuellen Annäherungen an Frauen zeugen von einem Fortdauern der über die Mutter vermittelten Komplexe und Schuldgefühle. Bezeichnend und für die Narration folgeträchtig ist folgende Episode: Klaus wird von einer unbekannten Frau, die er wegen ihres aufgedunsenen Aussehens „Wurstfrau“ tauft, in deren Wohnung mitgeschleppt und dort erlebt er die Erniedrigung, aufgrund der geringen Größe seines Penis abgewiesen zu werden. Nachdem die Frau ihn aus der Wohnung wirft, befindet sich Klaus im dunklen Treppenhaus eines Berliner Hauses, wo er dem Drang nachgibt zu masturbieren. Die drei Seiten starke Schilderung seiner Selbstbefriedigung wird mit der Verbalisierung eines imaginären Gesprächs mit Erich Mielke unterfüttert, in dem Klaus seine nächtliche Eskapade als Teil eines ebenso imaginierten großen Einsatzes rechtfertigt: „Minister Mielke war das Objekt meiner Wichsphantasien!“ (vgl. H, 196–198). Ein weiterer thematischer Kern des Romans besteht, wie gesagt, in der Sprachreflexion. Wenngleich dies stets vor der Folie einer hyperbolischen Haltung geschieht, bildet die ganze Spekulation um die Mittel der Sprache einen der am ausgiebigsten eruierten Aspekte des Ganzen. So fängt Klaus schon in seinen vorpubertären Jahren an, Mottos und „zitierfähige“ Aphorismen zu sammeln. Sein Ich bewegt sich kontinuierlich auf der Metaebene eines Berichts und erscheint in seinem Werden bereits als das eigene Beobachtungsobjekt. Wenn Uhltzscht zu einer geheimnisvollen Blutspende ins Krankenhaus geführt wird, deren mysteriöser Empfänger sich später als Erich Honecker entpuppt, weiß er an seinen Sterbeworten für die Nachwelt zu tüfteln: „Ich feilte an meinen letzten
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Francesco Aversa
Worten. Sie sollten zitierfähig sein und in deutscher humanistischer Tradition stehen“ (H, 265). Der Höhepunkt dieser obsessiven Sprachreflexion findet sich in den letzten zwei Kapiteln des Buches, nämlich in der Dekonstruktion der Christa Wolf. Klaus empört sich über die sozialistischen Parolen ihrer Rede vom 4. Oktober 1989 auf dem Alexanderplatz: In der Annahme, es handele sich um eine seiner Sexphantasien, Jutta Müller, die Trainerin von Katharina Witt, will Klaus auf die Bühne stürzen, um sein Unbehagen solchem Vokabular gegenüber kundzutun. Durch einen Besenstiel verletzt er während dieser Aktion seinen Penis, der spätestens jetzt das Prädikat des wahren Protagonisten der Erzählung gewinnt, und Klaus muss einige Tage im Krankenhaus verbringen. Infolge des Unfalls ist Klaus’ Penis nun dermaßen angeschwollen, dass er mit der Behauptung prunken kann: „Jeder Mann will den größten haben – aber ich hatte ihn!“ (H, 303) Bei der Bekämpfung von Zwangserektionen findet er ein Betäubungsmittel in der Prosa Christa Wolfs, insbesondere in Der geteilte Himmel. Wolf, die nochmal im letzten Kapitel – „Der geheilte Pimmel“ – persifliert wird, ragt als Ur-Mutter des Sozialismus und seiner erzieherischen Mission heraus. Lucie Uhltzscht, die „Wurstfrau“, Christa Wolf und die DDR: Sie sind die autoritären Frauen, die Klaus ständig bemuttern, die seine vitalistische Entfaltung gefährden und die sich in einer Art Mutter-System vereinigen. Gegen sie und ihre Normen richten sich Klaus’ Philippiken in besonders vehementer Weise. Das Buch lässt sich somit als ‚Abschied von den Müttern‘ (Geisenhanslüke 2000, S. 80) lesen, und zwar als Abschied von einem Matriarchat, das hier einen politisch und emotional repressiven Apparat verkörpert. Es liegt nahe, dass Brussig eine Schmähung gegen eine regelrechte „Gynaikokratie“ (Bachofen) verfasst. Klaus’ Mutter wird, vielleicht nicht ganz zufällig, auch „Hygienegöttin“ genannt (H, 25), während Christa Wolf den ironischen Titel „unsere Christa“ (H, 297) trägt, der offensichtlich eine satirische Umkehrung des christlichen – Christa! – Vaterunsers impliziert. Auch in der spöttischen Spitznamensgebung ist also ein anti-religiöses, anti-normatives Rebellieren leicht erkennbar (über die religiöse Prägung der Gynaikokratie siehe Bachofen 1984, S. 75–80). Die erzieherischen, als verbittert dargestellten Autoritätsinstanzen seines Lebens (die Mutter) und seines Landes (Christa Wolf, die pädagogische Autorin schlechthin) erleiden eine Entmythisierung und die lebensspendenden, mütterlichen Funktionen der DDR werden mithin an den Pranger gestellt. So fasst Geisenhanslüke zusammen: „Die Befreiung von der Mutter und den Zwängen des DDR-Systems gehen im Roman Hand in Hand“ (Geisenhanslüke 2000, S. 86). Die bei Brussig entstandene Gynaikokratie – könnte man behaupten – stellt einen Gegenpol zur Kolchis in Christa Wolfs Medea. Stimmen (1996) dar.
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An einer ähnlich inquisitorischen Position den Müttern gegenüber halten auch spätere Romane ostdeutscher Autoren fest: Die Figur der Rabenmutter, wenngleich anders als bei Brussig thematisiert, bevölkert bspw. Julia Francks Romane Die Mittagsfrau (2007) und Rücken an Rücken (2011), Peter Wawerzineks Rabenliebe (2010) sowie Angelika Klüssendorfs Das Mädchen (2011). Wie bereits angedeutet, schöpft die geschwätzige, nicht selten von Wiederholungen belastete Narration aus den Töpfen der Groteske. Stets betont der Erzähler, sein Umgang mit dem eigenen Körper sei im Zeichen von Perversionen zu deuten – Honecker spendet er sein „Perversenblut“ (H, 261). Das leibliche Zentrum solcher Perversionen sitzt selbstverständlich in seinem Glied – es handelt sich um einen regelrechten Fetisch. Und um einen Fetisch geht es bekanntlich bei den ‚klassischen‘ Vertretern der Groteske. Wie Gogols Die Nase oder Blaise Cendrars’ La main coupée einen einzigen, zum Fetisch gewachsenen Körperteil in den Mittelpunkt einer surrealistischen Geschichte stellen, so funktioniert Klaus’ Penis als ubi consistam seines Berichtes und ist demgemäß eine sinnstiftende Synekdoche, über die auf eine allumfassende Pervertierung angespielt wird, nämlich diejenige der Welt, die Klaus zu dekonstruieren versucht. Über seine Genitalien hinaus pflegt der Erzähler, die Erwartungen der Groteske erfüllend, von Kotausscheidungen zu berichten. Besonders beeindruckend sind Klaus’ Verbalisierungen des eigenen Stuhlgangs und seine Beschreibung vom Tod seines Vaters. Dieser stirbt an einer infolge einer Krebserkrankung aufgetretenen Fäkalstase: [D]ie Metastasierung war in einem Stadium, das keine Hoffnung mehr ließ, der Darmtrakt durch wuchernde Geschwülste verstopft, so daß sich mein Vater nicht mehr der Scheiße entledigen konnte, die er produzierte (H, 256).
Und weiter schwelgt Klaus in einer imaginären Schilderung: „Irgendwann hätte er sich wahrscheinlich zu einem einzigen Stück Scheiße verdaut, das hundertzehn Kilo schwer ist und mit einem Schlafanzug im Bett liegt“ (ebd.). In einer ähnlich übertreibenden, ad absurdum geführten Phantasie steigert sich der phallische Fetisch im Romanfinale zu einem monströsen Stück, dessen Anblick die Grenzpolizisten an der Bornholmer Straße zur Maueröffnung bewegt.
3 Rezeption und Folgen Mit Ausnahme von Sigrid Löffler (vgl. Löffler 1995) wird Helden wie wir 1995 sehr positiv bis enthusiastisch sowohl von der Kritik als auch vom Publikum auf-
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genommen. Mit schelmischer Schwärmerei rezensiert Wolf Biermann den Roman: „Verehrte Damen und Herren, das Werk ‚Helden wie wir‘ handelt vom Wichsen. Ich empfehle es Ihnen – das Buch –, es ist ein herzerfrischendes Gelächter“ (Biermann 1995).
Christoph Dieckmann verkündet in der Zeit: „Der junge Ostberliner Autor Thomas Brussig hat den heißersehnten Wenderoman geschrieben“ (Dieckmann 1995). Beachtung wird auch den grotesken und karnevalesken Aspekten geschenkt: Diese seien „von der intelligenten Unverschämtheit und dem treffsicheren Spott der Shakespeareschen Narren“ genährt (Brandt 1995). Der Erfolg von Brussigs Bestseller beruht auf zweierlei Faktoren. Einerseits gelingt dem Autor ein leicht verdauliches Buch, ein Pop-Roman, der über Direktheit und Alltagsbezüge den Erwartungshorizont einer breiten Leserschaft abdeckt. Andererseits bemüht der Text ein reiches literarisches Netz von Anspielungen und intertextuellen Bezügen, das zu ertragreichen literaturwissenschaftlichen Erörterungen einlädt. Ferner entwirft der Autor eine psychologische Anthropologie des westlichen Wissens- und Kontrolldrangs, der mit bis heute ungemildertem Voyeurismus in die ostdeutsche Befindlichkeit hineinsehen möchte. Schließlich ist der Nutznießer des Erzählten ein US-amerikanischer Journalist, Mr. Kitzelstein und dem westlichen Journalisten-Typus widmet Brussig 1997 diese Worte: Das müßte schon ein besonders seltsames Exemplar sein, das Lust hätte, ein paar dieser homo mures [!] [vielleicht ist hier homines muri gemeint, F.A.] zu beschreiben (Brussig 1997, S. 7).
Den homo muri kennzeichnet Brussig jedoch als Schelm, den er durch Einsatz von Groteske, Satire und Surrealismus (vgl. Twark 2007, S. 92–99) solcher Neugierde höhnisch entzieht.
Literatur Brussig, Thomas: Helden wie wir [1995]. Frankfurt/M.: Fischer 1998. Brussig, Thomas: „Vorwort“ in: Birgit Lahann (Hg.): Geliebte Zone. Geschichten aus dem neuen Deutschland. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 1997, S. 7–8.
Delius, Friedrich Christian: Der Spaziergang von Rostock nach Syrakus
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Sekundärliteratur Bachofen, Johann Jakob: Mutterrecht und Urreligion. Hg. v. Hans G. Kippenberg. Stuttgart: Kröner 19846. Biermann, Wolf: Wenig Wahrheit, viel Witz. In: Der Spiegel 1 (1995). Brandt, Sabine: Bleiche Mutter DDR. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.10.1995 Dieckmann, Christoph: Klaus und wie er die Welt sah. In: Die Zeit, 08.09.1995. Geisenhanslüke, Achim: Abschied von der DDR. In: Text + Kritik. Hg. v. Heinz Ludwig Arnold. München: Etk 2000, S. 80–91. Löffler, Sigrid: Anfänger. In: Süddeutsche Zeitung Magazin, 13.10.1995. Reimann, Kerstin E.: Schreiben nach der Wende – Wende im Schreiben? Literarische Reflexionen nach 1989/90. Würzburg: Königshausen & Neumann 2008. Twark, Jill E.: Humor, Satire, and Identity. Eastern German Literature in the 1990s. Berlin, New York: De Gruyter 2007.
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Delius, Friedrich Christian: Der Spaziergang von Rostock nach Syrakus. Erzählung (Reinbek b. Hamburg: Rowohlt) 1 Entstehung und Kontext Nach Die Birnen von Ribbeck wählte der westdeutsche Autor Friedrich Christian Delius mit Der Spaziergang von Rostock nach Syrakus (= SRS) nochmals einen ostdeutschen Stoff. Inspiriert wurde Delius durch die Lektüre eines Artikels in der Ostsee-Zeitung, in dem die wahre Geschichte des aus Sachsen stammenden DDRBürgers Klaus Müller erzählt wurde. Begeistert von Johann Gottfried Seumes Meisterwerk Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802 hatte Klaus Müller 1988 nach sieben Jahren Vorbereitung mit einer Segeljolle die DDR-Grenze über die Ostsee illegal überquert. Nach einem kurzen Aufenthalt in der BRD war Müller durch Italien zu seinem Zielort Syrakus weitergereist, und danach in die DDR zurückgekehrt. Delius hatte diesen Stoff schon 1994 für eine Radiosendung adaptiert.
2 Inhalt und Analyse Diese „unerhörte Begebenheit“ – dieser Terminus stammt aus einem Interview mit Delius – bot dem Autor viele Anregungen für eine novellistische Verarbeitung.
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Simone Costagli
Zunächst gab es den Bezug zum wichtigen Werk des Spätaufklärers Seume, der den Rahmen für ein narratives Spiel mit der literarischen Tradition im Sinne der postmodernen Literatur absteckte. Daneben eignete sich Klaus Müllers wahre Geschichte, die Delius mit kleinen Veränderungen zum Beispiel im Hinblick auf die Namen (Klaus Müller heißt hier Paul Gompitz) adaptierte, für eine sozialkritische Analyse sowohl der Existenzbedingungen innerhalb der DDR als auch des deutschdeutschen Verhältnisses. Paul Gompitz muss ein erstes Mal notwendigerweise in Znaim an der Grenze zwischen der Tschechoslowakei und Österreich Halt machen (SRS, 39). Zwei Drittel der Erzählung sind dann der Dokumentation der allmählichen Anfertigung von Fluchtplänen des Protagonisten gewidmet, womit sich Delius also von der Seume’schen Vorlage entfernt. Stattdessen stehen in seinen ersten neun Kapiteln überwiegend sozialkritische Motive im Vordergrund und Italien bleibt nur der utopische Fluchtpunkt im Sinne des ebenfalls von Gompitz verehrten Ernst Blochs. Neben der Kunst der Retardation, mit der der Seume-Bezug zunächst ausgeschaltet wird, sind auch die ironischen und humoristischen Elemente stilistisch von großer Bedeutung, die sich sowohl in dem Unternehmen an sich als auch in den vorbeugenden Gegenmaßnahmen gegen die Entdeckung durch die Stasi finden lassen. Des Weiteren verfremdet Delius die Darstellung mit Dialogen zwischen namenlosen Stimmen, die als Kommentar zur Handlung dienen. Den Beschluss, legal oder illegal nach Syrakus zu fahren, fasst Gompitz 1981; die Reise nach Italien findet aber erst 1988 statt. In diesen sieben Jahren verfolgt Delius Gompitz bei jedem seiner Schritte und bei jeder Überlegung in seiner endlosen Suche nach Lösungen zur Verwirklichung seines Plans. Zwei Hauptprobleme tauchen dabei unmittelbar auf: Der sicherste Weg, um über die Grenze zu kommen, ist über die Ostsee nach Dänemark, obwohl die bestmögliche Seeroute für einen unerfahrenen Seemann nicht einfach zu finden ist. Deshalb lässt er sich Jahr für Jahr im Sommer auf Hiddensee als Kellner anstellen, wo er jeden Augenblick Freizeit nutzt, um segeln zu lernen und um nach passenden Seerouten zu suchen. Er muss darüber hinaus Geld nach Westdeutschland schmuggeln, mit dem er sich für eine kurze Zeit behelfen könnte, falls er es doch einmal nach „Drüben“ schaffen würde. Deswegen fährt Gompitz regelmäßig nach Prag, wo er (vergeblich) versucht, zu westdeutschen Touristen, die ihm bei der Mitnahme von Westgeld helfen könnten, Kontakt aufzunehmen. Ein wichtiges Motiv der Erzählung besteht darin, dass Gompitz jede gefährliche Konsequenz sehr vorsichtig antizipieren muss. Zum Beispiel muss er das Segel dunkelblau färben, um nachts nicht gesehen zu werden. Das nötige Farbmittel kauft er in Dresden statt in Rostock oder Stralsund, denn „an der Küste kommen die Leute leichter auf den Gedanken, dass man mit einem dunklen Segel vielleicht flüchten will“ (SRS, 42). Die Informationen über die Radartechnik erhält er „im Stehen“ (SRS, 46) in den Buchhandlungen, wo er in militärtechnischen
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Büchern ganze Kapitel über das Thema liest. Bei aller Erfindungskunst setzt Gompitz die Hoffnung jedoch nicht nur auf einen illegalen Grenzdurchbruch. Sobald sich ein legaler Ausweg bietet, erprobt er auch diese Möglichkeit. So setzt er sein Vertrauen in den 1987 geschlossenen Freundschaftsvertrag zwischen Rostock und Bremen. Deshalb wendet er sich sofort an die Behörde der westlichen Hansestadt, aber selbst die positive Antwort des Bremer Bürgermeisters auf seine Bitte, ihn einzuladen, reicht nicht dafür aus, dass Rostock Gompitz die Erlaubnis zur Einreise erteilt. Was Gompitz am meisten hilft, ist seine angeborene Fähigkeit, über den Kontakt zu Menschen wichtige Informationen zu erhalten und dabei nicht allzu verdächtig zu wirken. Das Problem mit dem Radar erklärt ihm zum Beispiel ein Schiffskapitän, der ihm während eines entspannten Gesprächs bei Alkoholgetränken verrät, dass der Radarstrahl ein kleines Boot ohne Reflektoren nicht erwischen kann (SRS, 50). Als den Höhepunkt im novellistischen Sinn kann man die abenteuerliche Seefahrt mit der Jolle im zehnten Kapitel sehen. Gompitz erreicht damit zunächst Dänemark und betritt dann in Travemünde endlich westdeutschen Boden. Das Erreichen des Traumziels Italien lässt jedoch noch auf sich warten: Die folgenden zwei Kapiteln handeln nämlich von den Versuchen der Hauptfigur, in der BRD für eine kurze Zeit Fuß zu fassen. Auch hier steht die sozialkritische Analyse – diesmal des deutsch-deutschen Verhältnisses – im Mittelpunkt. Hier fängt auch der Erzählteil an, in dem Gompitz als Fremder durch eine ihm unbekannte Welt fährt. Genauso wie später in den Kapiteln über Italien richtet sich die Aufmerksamkeit auf die Eindrücke des Protagonisten, die oft durch Figurenreden und Fragen wiedergegeben werden, in denen von der Er- zur Ich-Erzählung gewechselt wird. Nach Travemünde sind die Stationen seiner Wanderung innerhalb der BRD Lübeck, Hamburg, Heiligenhafen, Bremen, Borkum, Helgoland, Bielefeld, Solingen und Bonn. Insgesamt läuft diese Begegnung mit dem westdeutschen System eher enttäuschend ab, weil Paul Gompitz gegen die Bürokratie und die Gesetze der Marktökonomie kämpfen muss. Trotz aller Mühe fühlt er sich in der BRD nicht heimisch: Auf dem Papier bin ich zwar auch ein Deutscher und kann mich auf das Grundgesetz berufen und kriege sogar einen Vorläufigen Hamburger Ausweis, […] aber ich werde das Gefühl nicht los, keiner braucht mich, keiner will mich… (SRS, 109).
Die Reise durch Italien ist Gegenstand von zwei längeren Kapiteln. Im September ist Gompitz in Wien, wo er sich also wieder auf Seumes Route befindet. Wie sein Vorgänger erreicht er von dort Triest und das Mittelmeer – allerdings nicht zu Fuß, sondern mit dem Zug. Nachdem er dort einige Tage verweilt hat, fährt er weiter nach Venedig, Terni, Rom und dann nach Sizilien. Gompitz schreibt seiner Frau und seinen Freunden Briefe und Postkarten über das Gesehene. Damit
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erinnert er im Ton an die Italienreisenden der deutschen Klassik. Syrakus stellt für ihn „über Jahrtausende überkommenes Hellas, Griechenland in seiner kulturellen Blüte“ dar (SRS, 124). Dieses lebendige Erbe hat in seinen Augen nichts von seinem kulturellen Wert eingebüßt, obwohl das moderne Bild Siziliens neben den Überresten der Antike Unrat, Armut und Unordnung zeigt, wie er an jeder Ecke feststellt. Seine Italienreise stimmt nur zum Teil mit derjenigen Seumes überein, denn einige Etappen werden von Gompitz ausgelassen. Auffallende Ausnahmen sind etwa zwei Städte, die nicht zu Seumes Reise gehören, die Gompitz auf der Rückreise besucht, weil diese ohnehin kulturell interessant für ihn sind: Stendhals Parma und Rigolettos Mantua. Im letzten Kapitel wird seine Rückkehr in die DDR erzählt: Dort erwartet ihn das Stasi-Verhör. Dieses Verhör dient als Rekapitulation der ganzen Handlung, in der Gompitz vor dem Stasi-Offizier über seine Gründe für die Flucht und über seine Reise berichtet. Der Vernehmer zeigt ab sofort Milde und Verständnis: Gompitz wird in das Aufnahmelager Röntgenthal bei Berlin geschickt, wo er bis zum Ende des Ermittlungsverfahrens bleiben muss. Zu einer Komödie – die das Buch auch ist – gehört auch ein happy ending. Weil keine weiteren Straftaten festgestellt werden, darf Paul Gompitz frei nach Hause zurückkehren und seine Frau und Freunde wiedersehen. Paul Gompitz ist von einer ganz einfachen Idee getrieben, die an die alte Vorstellung der Italienreise als Bildungs- und Pilgerfahrt anknüpft. So schlicht und so verwurzelt in der deutschen Kultur diese Idee auch sein mag, war sie in der DDR kaum vorstellbar. Aufgrund der Fluchtgefahr ist die Grenze der DDR eine der meist bewachten und gefährlichsten der Welt. Selbst wenn Gompitz nicht endgültig fliehen, sondern einfach ausreisen und dann zurückkehren will – es wird mehrmals betont, dass er keinen Ort mehr als seine Heimat versteht als die DDR –, bleibt ihm dieser Wunsch verwehrt. Er stellt erfolglos auch den Antrag, in die Sektion Italiens aufgenommen zu werden, die sich in der Liga für Völkerfreundschaft befindet. (SRS, 14) Delius beschreibt diese Situation sowohl aus westdeutscher Sicht als auch vor dem Hintergrund des Mauerfalls, und kann diese Angst des SED-Regimes als nichts anderes als sinnlos darstellen. In der Rückschau wird diese Sinnlosigkeit durch den grotesk-satirischen Ton literarisch zum Ausdruck gebracht, den Delius für die Erzählung der Fluchtvorbereitungen seiner Hauptfigur wählt. Ein wichtiger Aspekt dieses Themas besteht auch darin, dass die Unüberwindbarkeit der ostdeutschen Grenze das Interesse an der Geographie und dem Studieren des Atlas wachsen lässt. Ein deutsch-französisches Touristenpaar in Prag reagiert zum Beispiel erstaunt, als Gompitz ihnen zeigt, dass er die genaue geographische Lage ihrer kleinen französischen Stadt kennt (SRS, 36). Dass Gompitz nach dem abenteuerlichen Grenzdurchbruch nicht sofort nach Italien fährt, sondern eine Zeitlang in der BRD bleibt, kann als unnötige Ver-
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zögerung in der Handlung beurteilt werden. Eine Erklärung dafür bietet einer der wichtigsten Punkte der ganzen Erzählung, der gerade in der Behandlung des deutsch-deutschen Verhältnisses liegt. Gompitz nimmt sich schlicht als Deutscher wahr; er erfährt jedoch bereits bei seinen Kontakten zu Westdeutschen in Prag, dass es keine gesamtdeutsche Seele gibt. Sein sächsischer Akzent wird als verdächtigt empfunden. Wie er auch feststellt, „[wollen] die Leute nicht angequatscht werden, wen man anspricht mit Landsmann, der zuckt gleich zusammen“ (SRS, 39). Es ist also kein Wunder, dass sein Versuch, BRD-Bürger bei seinem Plan zur Hilfe zu rufen, zu einem mageren Ergebnis führt. Die Reise durch Westdeutschland im elften und zwölften Kapitel bestätigt später diesen Eindruck: Die BRD und die DDR bleiben zwei getrennte Welten, die mehr Unterschiede als Analogien aufweisen. Erst in Italien kann Paul das werden, „was er nie gewesen ist, ein Tedesco, ein Deutscher, ganz einfach“ (SRS, 115). Der Titel der Erzählung ist natürlich irreführend: Gompitz geht nicht zu Fuß nach Italien, wie es Seume ungefähr vor zwei Jahrhunderten getan hat, sondern er reist von der BRD aus mit dem Zug. Der Hinweis auf Seumes Titel läuft eher hinaus auf das Wiedererstehen der literarischen Tradition der Italienreise als Vervollkommnung der menschlichen Seele durch unmittelbaren Kontakt zur Kunst der Antike. Im Westen hatte diese alte Vorstellung keinen Grund mehr zu existieren, seitdem der Massentourismus diese Erfahrung allen Bürgern und nicht nur Künstlern und Adligen zugänglich gemacht hatte. Gerade deshalb kann diese Tradition nur in einem DDR-Bürger Sehnsucht wecken, da ihm eine solche Erfahrung verwehrt war. Seume ist als Vorbild vor allem wichtig, weil seine Reise „der erste ganz freie Entschluss von einiger Bedeutung“ in seinem Leben war, wie Gompitz im Vorwort seines Spaziergangs liest (SRS, 16). In seinem Beispiel findet Gompitz also Freiheit und Reiselust vereinigt. Auf das literarische Erbe der Italienreise wird ebenfalls durch die vielen Hinweise auf Goethes Werk angespielt, die vor allem in den Briefen an die Frau und an die Freunde vorkommen. Damit ist nicht nur die Italienische Reise als paralleler Reisebericht zu Seume gemeint. Mehrmals erwähnt wird auch die Faust-Tragödie. Gegen Ende des Buchs definiert Paul seine Handlungsweise sogar als „faustisch“ (SRS, 140). Die Tradition des bildungsbürgerlichen Italienkults kommt auch in der Mischung aus gesellschaftlicher Analyse und den Bezügen auf die klassische Kultur zum Ausdruck, welche die Berichte von Gompitz aus Italien stilistisch charakterisiert.
3 Rezeption und Folgen Der Spaziergang von Rostock nach Syrakus wurde in der Presse positiv aufgenommen. Die meisten Rezensenten zeigten sich jedoch mit dem ersten Teil zufriede-
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ner, und äußerten einige Kritik im Bezug auf den Teil über Italien. Ernst Osterkamp findet zum Beispiel die Erzählung bis zur Episode der Grenzüberwindung „bündig, witzig und spannend“. Im letzten Drittel des Buchs werde die Geschichte aber „weitgehend lustlos zu Ende“ gebracht. Wilfried Schöller schreibt in der Süddeutschen Zeitung, Delius habe „der Geschichte einen novellistischen Umriss gegeben“, in dem er „die komischen Listen und Einfälle eines geradezu ingenieurhaften Enthusiasten“ versammle. Von der Italienreise sei „nicht viel berichtet“. Die Möglichkeit, „sich an Seume und damit einem Stück vorscheinenden Altertums zu messen“, bleibe damit ungenutzt.
Literatur Delius, Friedrich Christian: Der Spaziergang von Rostock nach Syrakus. Erzählung. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1995.
Sekundärliteratur Battafarano, Italo Michele: Friedrich Christian Delius. Flucht nach Italien und Heimkehr in die DDR. In: I. M. B., Hildegart Eilert: Von Linden und roter Sonne. Deutsche Italienliteratur im 20. Jahrhundert. Bern u.a.: Peter Lang 2000, S. 233–244. Böttiger, Helmut: Von den unbotmäßigen Spaziergängen einer deutschen Idealfigur. In: Frankfurter Rundschau, 06.01.1996. Geißler, Cornelia: Das ist sein Buch. Ich bin der Müller (Interview mit F. C. Delius und Klaus Müller). In: Berliner Zeitung, 31.10.1995. Osterkamp, Ernst: Rigoletto für Segler. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.10.1995. Steinecke, Hartmut: Spaziergang mit Seume. Delius’ Erzählung Der Spaziergang von Rostock nach Syrakus. In: Manfred Durzak, H. S. (Hg.): F. C. Delius. Studien über sein literarisches Werk. Tübingen: Stauffenburg 1997, S. 207–217. Steinecke, Hartmut: Reisen über Grenzen. Ein DDR-Trauma in der Nachwende-Literatur. In: Manuel Köppen, Rüdiger Steinlein (Hg.): Passagen. Literatur – Theorie – Medien. Festschrift für Peter Uwe Hohendahl. Berlin: Weidler 2001, S. 147–164. Schöller, Wilfried F.: Komischer Held der Selbstbehauptung. In: Süddeutsche Zeitung, 10.10.1995.
Draesner, Ulrike: gedächtnisschleifen
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Achim Geisenhanslüke
Draesner, Ulrike: gedächtnisschleifen. Gedichte (Frankfurt/M.: Suhrkamp) 1 Entstehung und Kontext Ulrike Draesner, geb. 1962 in München, ist zunächst als Lyrikerin hervorgetreten, dann auch als Romanautorin, Essayistin und Übersetzerin. Mit dem Band gedächtnisschleifen (= GS), der 1995 im Suhrkamp Verlag erschienen ist, hat sie ihren ersten Lyrikband vorgelegt. Für ihr Werk ist sie mit vielen Preisen bedacht worden, u. a. 1995 mit dem Förderpreis zum Leonce- und Lena-Preis, 1997 mit dem Bayrischen Staatsförderpreis für Literatur und 2006 mit dem Droste-Preis der Stadt Meersburg.
2 Inhalt und Analyse Der Band gedächtnisschleifen ist der vielbeachtete lyrische Erstling von Ulrike Draesner. Sieben Zyklen unter den Titeln sekret, schnabelheim, rote rippen, rabatten sowie innerste brustwolle, augenschäden, musenpressen und verpflanzungsgebiet werden von den beiden Gedichten nachkriegsmensch und Rotten munter die riechenden toten in der Form eines Pro- bzw. Epilogs eingerahmt. Bereits die Titel deuten an, worum es bei Draesner im Wesentlichen geht: um eine historische Bestimmung des Menschen in seiner gegenwärtigen Situation sowie um das Thema der Körperlichkeit, verbunden mit einer Reflexion auf die Topoi der Liebe, die in der Geschichte der Lyrik einen so großen Platz einnehmen. „auffahrtsrampe gedächtnisschleifen:“, mit dieser Wendung beginnt der Gedichtband, der zunächst vom Thema der Erinnerung bestimmt ist: „der klipphaken am bh, schnallend, der mutter / klemmen die strapse“ (GS, 9). Die gedächtnisschleifen, die der Text thematisiert, führen in die Kindheit, in diesem Fall zur Erinnerung an die Mutter, aber auch in die Geschichte, zu den „wundern der wirtschaft“ (GS, 9) zurück. Nicht nur das Nachkriegswunder im Zeichen der Amerikanisierung Deutschlands findet durch den historischen Verweis auf „wiederbewaffnung ohne / bedenken, chewing, der personenanschluß, gum“ (GS, 9) einen ironischen Kommentar. In dem Gedicht dresden reflektiert Draesner auf die Nacht des 13./14. Februars 1945, um die Zerstörung der Elbstadt zugleich in die Sprache hineinzutragen: „pas sierte ein unglück / auf den stras sen umher“ (GS, 14).
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Achim Geisenhanslüke
„Unbewußt stockt der Bericht von der Zerstörung Dresdens im Februar 1945 bei allen Doppelkonsonanten, als ob die sprachliche Gestaltung des Grauens auch nicht die geringste Last aushalten könnte“ (Pirro 2008, S. 131), kommentiert Maurizio Pirro. So sehr Draesner in ihren Gedichten die individuelle und die kollektive Vergangenheit miteinander verschränkt, so sehr bleibt sie einer sprachkritischen Tradition treu, der es nicht darum geht, Geschichte zu repräsentieren, sondern darum, diese in das Gedicht selbst einzuschreiben, wie es etwa auch bei Thomas Kling der Fall ist. Die Sprachkritik, die den Umgang mit der Geschichte kennzeichnet – Draesner beruft sich im Anhang u. a. auf Mayröcker, Kling, Priessnitz, Grünbein und Hölderlin – zeigt sich besonders deutlich an dem zweiten bestimmenden Thema des Bandes, dem menschlichen Körper im Spannungsfeld von Wissenschaft und Erotik. In ähnlicher Weise wie Barbara Köhler (→ Blue Box), aber auf einer anderen theoretischen Grundlage als diese, entwickelt Draesner in ihren Texten eine spezifisch weibliche Form der Sprachreflexion, die bei beiden Autorinnen mit einer neuen Bestimmung traditioneller Liebeslyrik einhergeht, wie sich etwa in Draesners Gedicht musenpressen zeigt:
musenpressen reanimationsversuch am offenen mund künstlicher brustdruck die redekunst (beatmungsvorgang) wiederbeleben, flüstere ich, ein mehr einzelnes, mehr speichelndes verhalten gegen die mundverzellungen schlage ich vor, am offenen brustkorb, sagt er, braucht es innenzug durch kompression und drückt mir wieder die rippen zusammen, in anderen künsten tauche schließlich seit jahren hervorragende erpresskunst auf, sagt er, begehrte kriegsbeute, als er sich heftig und beugt, über mich. (GS, 89)
Wie bei Grünbein, mit dem sie in der Forschung oft verglichen wurde, dominiert bei Draesner eine Metaphorik des Körperlichen: „mundverzellungen“, „brustkorb“, „rippen“. Der Körper, um den es im Gedicht geht, erscheint zugleich als prekärer Gegenstand einer Beseelung, die auf doppelte Weise erfolgt: als erotischer wie als dichterischer Akt. In Anlehnung an die antike Dichtungstheorie des Enthusiasmus haucht der Musenkuss dem Körper das Pneuma ein: „redekunst (beatmungsvorgang)“. In Draesners Liebeslyrik hat Jörg Magenau daher zudem ein Gegengewicht zum Habitus der Kälte bei Grünbein erkannt:
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Draesner thematisiert Gefühl. Sie rückt den Körper nicht dinglich von sich weg wie Benn, sie macht ihn nicht zum toten Gegenstand, im Gegenteil: ihre Körper-Pflanzstätte bleibt höchst lebendig und affektgeladen, sie weint gar noch am eigenen Grab des toten Subjekts. In ihren Versen gibt es keinen Ort der Selbstvergewisserung mehr, und zugleich sind sie ein Einspruch gegen den technizistischen Traum von der Reproduzierbarkeit und Machbarkeit des Körpers (Magenau 1998, S. 112).
Der kalten Autopsie am menschlichen Körper, die Grünbeins Dichtung kennzeichnet, steht bei Draesner eine erotische Aufladung der Sprache im Kontext einer neuen Form weiblichen Schreibens gegenüber. Was Draesners Schreiben damit in den Blick nimmt, ist der menschliche Körper – der eigene wie der der anderen. Immer wieder thematisiert Draesner körperliche und medizinische Erfahrungen, den „Stoffwechsel“ als Grund dichterischer Sprachskepsis wie Sprachgewinnung: „auf dem Pythiastuhl habe kein Wort mehr heraus- / bringen, plötzlich den Mund nicht bewegen können“ (GS, 19). Draesners Muse ist der Körper, die dichterische Sprache auch eine Reaktion auf eine körperliche, geschlechtliche Erfahrung. Dementsprechend hat die Forschung auf die Bedeutung von Medizin und Anatomie bei Draesner hervorgehoben. So erkennt Anna Alissa Ertel in ihrem Werk einen „Beitrag zu einer Poetik des Wissens vom Körper“ (Ertel 2011, S. 147), die Grünbein und Draesner verbinde:
Die poetische Auseinandersetzung mit den Naturwissenschaften konzentriert sich sowohl bei Durs Grünbein als auch bei Ulrike Draesner auf den menschlichen Körper und seine Darstellung und Deutung in und durch die Lebenswissenschaften (Life Sciences), allen voran Medizin, Neurowissenschaften und Gentechnologie (Ertel 2011, S. 300).
In Gedichten wie autopilot wird diese poetische Auseinandersetzung mit den Naturwissenschaften besonders deutlich: autopiloten, wildes ausschlagen / aller meßinstrumente herz- / hirnexit vollkommenes organsterben mit / automatischer verpflanzungsgenehmigung am restfleisch sagt arzt zu schwester (GS, 102).
Der Gestus des Textes greift den Ton von Benns Morgue-Gedichten auf, gibt ihm dann aber eine andere Wendung: „hebe ich das herz heraus, zwei pulsende / lilien“, einen „bebenden herzvogel“ (GS, 102). Die Metapher des Herzens verbindet den kalten anatomischen Blick des Mediziners mit einem romantischen Ton, der aus der Liebeslyrik bekannt ist: „im / zitternden körper, meinem, schlägt dieses herz“ (GS, 104), heißt es zu Beginn von pflanzstätte (autopilot IV). Draesner gelingt es so, den antihumanistischen Zynismus, der viele Gedichte Benns und Grünbeins kennzeichnet, zu brechen. „Das Herz wird als Symbol genutzt, das den
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Achim Geisenhanslüke
Ort physischer Funktionstüchtigkeit und Lebenskraft einerseits, den Hort emotionaler Bindungen als klassischer Topos andererseits darstellt“ (Jagow/Steger 2004, S. 55.), kommentieren Bettina von Jagow und Florian Steger. In der beständigen Einbeziehung des lyrischen Ichs in die Sprach- und Körperreflexion, die gedächtnisschleifen charakterisieren, wird eine Aufwertung der eigenen, spezifisch weiblichen Stimme als Vermittlungsort von individueller und kollektiver Geschichte vorgenommen.
3 Rezeption und Folgen Draesners Gedichtband gedächtnisschleifen ist in den Feuilletons wie in der Forschung fast ausschließlich positiv wahrgenommen worden. Einen guten Überblick über die Rezeption gibt Gabriele Wild in ihrer Arbeit Schillernde Wörter. Eine Rezeptionsanalyse am Beispiel von Ulrike Draesners Lyrik (Wien/Berlin 2008, zur Rezeption von gedächtnisschleifen vgl. S. 64–82). Die Forschung, die sich in den letzten Jahren eher auf das erzählerische Werk Draesners eingelassen hat, betont insbesondere die Verbindung von Poesie und Naturwissenschaften bei Draesner. Stellvertretend dafür steht die Dissertation von Anna Alissa Ertel, die bereits durch den Titel Körper, Gehirne, Gene. Lyrik und Naturwissenschaft bei Ulrike Draesner und Durs Grünbein, Berlin/New York 2011 andeutet, dass es ihr um die Rolle der Anatomie bei Draesner wie bei Grünbein in der Tradition von Benn geht. So erkennt auch Anne-Rose Meyer in gedächtnisschleifen eine „medizinische Metaphorik“ (Meyer 2002, S. 110) am Werk, die Benn, Grünbein und Draesner verbinde. Die Fokussierung auf die Themen Körperlichkeit und Naturwissenschaften, die die Forschung bestimmt, ist sicher zunächst plausibel. Sie wäre aber zu ergänzen durch eine verstärkte Aufmerksamkeit auf die sprachlichen Verfahren Draesners, die eher in einer Nähe zu Mayröcker und Kling stehen.
Literatur Draesner, Ulrike: gedächtnisschleifen. Gedichte. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1995 (überarbeitete Auflage 2008).
Sekundärliteratur Ertel, Anna Alissa: Körper, Gehirne, Gene. Lyrik und Naturwissenschaft bei Ulrike Draesner und Durs Grünbein. Berlin, New York: De Gruyter 2011.
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Eich, Clemens: Das steinerne Meer
Jagow, Bettina von, Florian Steger: Bilder des Menschen zwischen Selbstbestimmung und Fremdsteuerung: Ulrike Draesners autopilot-Gedichte. In: Jagow/Steger (Hg.): Repräsentationen. Medizin und Ethik in Literatur und Kunst der Moderne. Heidelberg: Winter 2004, S. 51–62. Magenau, Jörg: Der Körper als Schnittfläche. Bemerkungen zur Literatur der neuesten ‚Neuen Innerlichkeit‘. Texte von Reto Hänny, Ulrike Kolb, Ulrike Draesner, Durs Grünbein, Thomas Hetteche, Marcel Beyer und Matthias Kleeburg. In: Andreas Erb (Hg.): Baustelle Gegenwartsliteratur. Die neunziger Jahre. Opladen, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 1998, S. 107–121. Meyer, Anne-Rose: Physiologie und Poesie: Zu Körperdarstellungen in der Lyrik von Ulrike Draesner, Durs Grünbein und Thomas Kling. In: Paul Lützeler/Stephan K. Schindler (Hg.): GegenwartsLiteratur. Ein germanistisches Jahrbuch 1 (2002), S. 107–133. Pirro, Maurizio: Die Stimmigkeit der lyrischen Stimme bei Ulrike Draesner. In: Fabrizio Cambi (Hg.): Gedächtnis und Identität. Die deutsche Literatur nach der Vereinigung. Würzburg: Königshausen & Neumann 2008, S. 125–134. Wild, Gabriele: Schillernde Wörter. Eine Rezeptionsanalyse am Beispiel von Ulrike Draesners Lyrik. Berlin, Münster, Wien: LIT Verlag 2008.
Dominik Schönecker
Eich, Clemens: Das steinerne Meer. Roman (Frankfurt/M.: S. Fischer)
1 Entstehung und Kontext 1995 erschien im S. Fischer Verlag mit Das steinerne Meer (= SM) das Romandebüt des deutsch-österreichischen Schriftstellers Clemens Eich, für das er im folgenden Jahr den Mara-Cassens-Preis des Literaturhauses Hamburg erhielt. Bevor er ab 1980 als Schriftsteller arbeitete, war Eich Schauspieler an mehreren deutschen Bühnen, lebte neben Hamburg und Frankfurt auch in Wien, wo er 1998 nach einem Sturz über eine U-Bahn-Treppe verstarb (vgl. Braun 2009, 16). Neben Das steinerne Meer hat Clemens Eich zu Lebzeiten den Lyrik-Band Aufstehn und gehen (1981) und die Kurzprosa aus Zwanzig nach drei (1987) veröffentlicht. Posthum wurde von seiner Witwe Elisabeth Eich und Ulrich Greiner das Fragment Aufzeichnungen aus Georgien (1999) herausgegeben. Eich wurde von der literarischen Öffentlichkeit als deutscher Autor wahrgenommen. So stellte er Das steinerne Meer zwar 1995 auf der Frankfurter Buchmesse vor, war aber nicht Teil des Österreich-Schwerpunktes. Thematik, Szenerie und Ton des Romans sind allerdings dezidiert österreichisch, zumal die Handlung hauptsächlich im Salzburger Land angesiedelt ist, „wo seit 1963 für gut zwei Jahrzehnte die Familie Ilse Aichingers und des 1972 gestorbenen Günter Eich zu Hause war“ (Hinck 1995).
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Dominik Schönecker
2 Inhalt und Analyse Die Handlung von Das steinerne Meer teilt sich in eine Rahmenhandlung und eine Binnenhandlung. Die Rahmenhandlung spielt im Winter 1963/64, in dem der zwölfjährige Valentin Reichardt mit seinem Großvater Michael Hader alleine im Haus der Familie ist. Die Eltern des Jungen sind verschollen und bleiben es. Auf dieser Ebene des Romans wird Hader zum Mörder an seiner früheren Geliebten Hanna. Dieser Mord löst bei ihm das Bedürfnis aus, „seinen Standpunkt millimetergenau zu bestimmen“ (SM, 57), was wiederum die eingefügte Binnenerzählung der Lebensgeschichte des Großvaters auslöst, die mit seiner Arbeit als Zöllner im Muna des Jahres 1938 endet, als es diese Grenze wegen des Anschlusses Österreichs an das Deutsche Reich schon nicht mehr gibt. Das Dorf Muna bezieht sich dabei recht eindeutig auf das Dorf Großgmain, in dem Clemens Eich einen großen Teil seiner Kindheit verbracht hat (vgl. Schönecker 2014, 120f.). Daraufhin wird die Rahmenhandlung wieder aufgenommen, in der Hader stirbt und Valentin beschließt, in das Steinerne Meer aufzubrechen. Hader, so zeigt sich, hat sich in sein Dasein gefügt, das ihm eine von außen auferlegte Begrenzung geworden ist. Valentin löst sich hingegen von seinem naiven Kindertraum, Abfahrtsweltmeister zu werden, und versucht letztlich, der Gewalt der Begrenzung, für die das Dorf Muna steht, zu entgehen (vgl. Schönecker 2014, 123ff.). Die Konstellation des Romans und seine reduzierte Handlung haben den Rezensenten seine Einordnung erschwert. Eine, wenn man sie auf ihre Handlung reduziert, reichlich unglaubwürdige, ja hanebüchene, zwischen einem Grusel- und einem Kriminalroman angesiedelte Geschichte (Kosler 1995).
Hinck sieht den Roman als „Kammerspiel“ (Hinck 1995), andere sehen in ihm eine Aktualisierung des Anti-Heimat-Romans. Erzählt wird das Geschehen nämlich zwischen drastischem Realismus, für den der Diskurs der Anti-Heimat-Literatur steht, und einer grotesken Vermischung der Perspektiven sowie der Raum- und Zeitebenen in den Träumen der Figuren, die dieses Konzept unterlaufen. Das Steinerne Meer als geographischer Raum ist ein Gebirgszug, auf dessen Hochplateau die Grenze zwischen Deutschland und Österreich verläuft. Das steinerne Meer ist aber gerade in der österreichischen Literatur auch ein Symbol für die Verflechtungen der Seele, für die Abgründe und Falten des Daseins und die Ablagerungen der Geschichte. Christoph Ransmayrs [→] Morbus Kitahara, in dem das Steinerne Meer eine nicht unbedeutende Rolle spielt, und Elfriede Jelineks [→] Die Kinder der Toten, nutzen ebenfalls die Symbolik des Steins und der Gesteinsschichten, um über verschüttete Erinnerungen und die Versteinerungen der Schuld zu schreiben (Vgl. Millner 2000). Diese beiden Ebenen, diejenigen
Eich, Clemens: Das steinerne Meer
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des tatsächlichen und des uneigentlichen Gebirges, bindet Eich in seinem Roman aneinander. Die Wirklichkeit zeigt sich dabei als Versteinerung, die sich im Grenzort Muna wie in seinen Einwohnern vollzogen hat, die sich Begrenzungen geopfert haben und ebenso wesenlos sind wie das Dorf. An den Grenzen des Raumes werden Grenzen einer Ordnung erfahren, die jenseits ihrer Funktion der Abgrenzung keinen Sinn haben. Die Bewohner dieser Grenze „leiden an dieser Einschreibung, die sie auf verschiedenen Ebenen (privat, körperlich, politisch, historisch) versteinern lässt.“ (Schönecker 2014, 123) Die Geschichte Haders ist deshalb die Geschichte der existenziellen Versteinerung einer ganzen Generation. Nach dem Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich 1938 muss Hader in Muna als Grenzer eine Grenze bewachen, die es nicht mehr gibt. Dieses Dasein als „Grenzer ohne Grenze“ (SM, 181) stößt ihn in die Paradoxie einer „verhundertfachte[n] Grenze“ (SM, 180f.) innerer Beschränkungen. Vor dem Hintergrund einer persönlichen Versteinerung erzählt Eich so die Geschichte der Schuld der Kriegsgeneration, die ihre unsichere Identität in der nationalsozialistischen Ideologie und dann in den Verkrustungen der Zweiten Republik zu sichern versucht hat. Die Versteinerungen Munas und seiner Bewohner werden zum Ausdruck der verschwiegenen Schuld einer ganzen Generation. Eich folgt dabei oberflächlich dem Muster des realistischen österreichischen Anti-HeimatRomans, indem er seine tatsächliche Heimat, ihren Umgang mit der eigenen Vergangenheit und damit scheinbar auch sich selbst in der Figur des Jungen Valentin zum Thema macht. (Schönecker 2014, 119f.)
Dabei bedient sich Eich typischer Beschreibungsmuster der Destruktion provinzieller Heimat, aber die Aufarbeitung persönlicher und kollektiver Schuld marschiert bei Eich eben nicht mit „im Troß des Antiheimatromans und der Gegenidyllen, der Konformität ihres in die Jahre gekommenen Nonkonformismus“ (Hinck 1995). Protagonist der Gegenbewegung zu Hader ist Valentin, der wie jeder österreichische Junge seiner Generation in seinen Wunschträumen Abfahrtsweltmeister ist. Damit steht Valentin für Eichs eigene Generation und deren Wunsch nach Aufbruch und Überschreitung, wofür am Ende des Romans die aus dem Zusammenhang von Sieg und Niederlage gelöste Abfahrt steht. „Abfahrt. Das Wort Abfahrt wollte er weiter hören. Ohne Sinn und Zusammenhang und vor allem ohne das Wort Sieg.“ (SM, 254) Das Aufbrechen der Versteinerungen erzählt Eich dabei als ein Brechen des Schweigens. Die innere Wunde des Großvaters – die Schuld seiner Generation – öffnet sich schließlich in der Romangegenwart, als Hader Hanna erschlägt. Dieses Aufbrechen der Erinnerung äußert sich sprachlich.
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Wörter stießen aus seinem Mund wie Schaumschwaden, wie bitteres Erbrochenes, gelblich und grünlich, Bäche dreckigen Abspülwassers, auf dem Haarbüschel, Blutkrusten und eitrige Pflaster schwammen, zur Unkenntlichkeit aufgeweicht. Die Satzstöße quollen und brachen hervor aus dem Schlamm einer verkrusteten Wunde (SM, 36).
Gleichzeitig öffnet sich diese Wunde aber auch auf Valentins Körper als nässendes Ekzem, das beunruhigende Ähnlichkeiten zu „steinerne[n] Inseln“ (SM, 195) hat und die drohende Selbstentfremdung Valentins und seiner Generation bezeichnet. So erscheint Valentin sein schmerzender Fuß „[w]ie ein großer, weißer, fremder Klumpen, der nicht mehr zu seinem Körper gehörte“ (SM, 39). In komplexer Weise sind die beiden Protagonisten spiegelbildlich aufeinander bezogen. Was sich bei Valentin äußert, bestimmt das innere Erleben des Großvaters, während umgekehrt Valentin die Taten seines Großvaters als Teil seiner eigenen Geschichte verinnerlicht (Ratmann 2014).
In einer Notiz beschreibt Eich seinen Roman deshalb als Dialog der Generationen und als existenzielles Schwanken zwischen Sinn und Sinnlosigkeit. Vom Vergehen der Zeit, vom Niedergang der Familien durch Generationen. […] Vom Dialog der jungen mit der Generation der Großväter, unter Aussparung der mittleren. Von der Sinnlosigkeit des Schifahrens als Sinn des Lebens. Von der Sinnlosigkeit des Lebens als Sinn des Schifahrens. Der Traum vom Schifahren (Eich 1991–1994).
Dieser Dialog, von dem Eich schreibt, ist im Roman ein „Krieg aus der Stille“ um die eigene Geschichte „zwischen einem Leben, das an seinem Beginn stand und hin zum Aufbruch drängte, und einem Leben, welches verlöschend an sein Ende ging“ (SM, 183). Vom Ende her erweist sich Haders Leiden an der Entfremdung als Symptom des Verschweigens seiner Schuld, die als ein Bekenntnis zum Verbleiben innerhalb fester Begrenzungen erscheint. Indem Hader erinnernd sein Leben erzählt, gibt er diesem Leben vom Ende her einen Sinn und bricht das Schweigen der Schuld. Die Träume stoßen an die Grenze der Wirklichkeit, und diese erweist sich oft als der noch schlimmere Albtraum. Dafür stehen Haders Erinnerungen an die Zeit des Nationalsozialismus. Die Schuld des Großvaters, die nun als Leiche zwischen den Kartoffeln im Keller liegt, wird schließlich vom Enkel begraben. Für Valentin offenbart schließlich das Leben seine Möglichkeiten, und seine Suche „nach dem Wichtigsten“ (SM, 49) – wie es zu Beginn für Hader heißt – beginnt am Ende des Romans. Bevor er aufbricht, stellt sich auch für Valentin die Sinnfrage als „Gefühl, daß irgend etwas in seinem kleinen, harten Koffer fehlte. Etwas Wichtiges. Aber irgendwas fehlt immer.“ (SM, 311) Lakonischer kann man
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die Sinnfrage nicht verweigern. Der Roman bricht ab, bevor Valentin in das Gebirge aufbricht. Sein Leben liegt vor ihm. Das Leben, das vor ihm lag, erschien ihm jetzt wie die halb verbaute, halb zerstörte Wiese, auf die er hinuntersah. Die Spule seiner Jahre lief vor ihm ab, bis von den Jahren nichts mehr da war. Er sah hinunter auf die halbverbaute Wiese. Er mußte fort aus Muna (SM, 269).
Das ganze Narrativ wird aber in einen Strudel gerissen, in dem die Gedanken, Erinnerungen und Träume der Figuren sich schichten und gespeichert werden wie in den Plateaus des Steinernen Meeres. Die vermeintlichen Sicherheiten der Grenzordnung verflüssigen sich im Fortgang des Romans, denn Eich löst diese Grenzen auf, indem er seinen Roman in einem Dialog aus Träumen erzählt. Das ist weiter nicht besonders, aber in Das steinerne Meer sind Traum und fiktionale Realität derart dicht miteinander verwoben, dass mitunter nicht mehr entschieden werden kann, ob die Realität einfach immer grotesker oder ob die Träume grausam realistisch werden (Schönecker 2014, 150).
3 Rezeption und Folgen Das steinerne Meer wurde nach seinem Erscheinen im Herbst 1995 in allen wichtigen Feuilletons besprochen und fast durchweg positiv aufgenommen (vgl. Greiner 1995, Hinck 1995, Kosler 1995, Rathjen 1996). Die Beschäftigung mit Eichs Roman lebte dann mit der Herausgabe der Gesammelten Werke 2008 erneut auf, erlahmte dann aber ebenso rasch wieder (vgl. Braun 2008 und Jung 2008). Die einzig negative Besprechung hierzu findet sich in der TAZ (vgl. Kuhlbrodt 2008, 15). Eine wissenschaftliche Rezeption Clemens Eichs und insbesondere von Das steinerne Meer hat erst in jüngster Zeit mit der Dissertation Schwarzes Ziel – Weiße Grenze von Dominik Schönecker eingesetzt, der Eichs Roman sowie seine weiteren Prosa-Schriften im Sinne einer speziellen Grenzerfahrung liest. Daneben stellen der Eintrag Annette Ratmanns im KLG sowie Ulrich Greiners Nachwort der Gesammelten Werke die einzigen im weiteren Sinne literaturwissenschaftlichen Sekundärtexte zu Werk und Autor dar. Interessant an den Besprechungen des Gesamtwerkes ist die Deutung des Romans als eines verspäteten Anti-HeimatRomans, die sich in den meisten Rezensionen aus den 90er Jahren nicht findet, und der sich auch Schönecker in seiner Dissertation nicht anschließt. Nach seinem Tod, so scheint es, ist Clemens Eich doch noch Österreicher geworden.
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Literatur Eich, Clemens: Das steinerne Meer. In: Gesammelte Werke Band I. Hg. v. Elisabeth Eich, Ulrich Greiner. Frankfurt/M.: S. Fischer 2008. S. 9–311. Eich, Clemens: Notizen zu „Das steinerne Meer“, Gedichte, Aphorismen, Elisabeth v. Arnim. Heft 1991–1994 (unveröffentl. Nachlass im Besitz der Familie Eich, Wien).
Sekundärliteratur Braun, Michael: Im Bann des steinernen Meeres. Zehn Jahre nach seinem Tod erscheinen die Gesammelten Werke des Dichters Clemens Eich. In: Stuttgarter Zeitung, 18.04.2008. Braun, Michael: Poor Boy. In: Der Freitag, 02.04.2009, S. 16. Greiner, Ulrich: Das Leben ein Sturz. In: Die Zeit, 08.09.1995. Greiner, Ulrich: Nachwort. In: Gesammelte Werke Band II. Hg. v. Elisabeth Eich, Ulrich Greiner. Frankfurt/M.: Fischer 2008. S. 341–349. Hinck, Walter: Kammerspiel im Randbezirk. Clemens Eich kann im Salzburger Land auch gut melancholisch sein. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.11.1995. Jung, Jochen: Bisweilen federleicht. Unvergessen: Der jung verstorbene Clemens Eich. Zum 10. Todesjahr erscheint eine Werkausgabe des Dichters. In: Die Zeit, 28.02.2008. Kosler, Hans Christian: Vom ungekonnten Dasein. Clemens Eichs Romandebüt „Das steinerne Meer“. In: Süddeutsche Zeitung, 13.12.1995. Kuhlbrodt, Detlef: Der Sohn in Moll. Sand sein, nicht Öl im Literaturgetriebe der Welt, das wollte Clemens Eich, einem Auftrag seines berühmten Vaters folgend. Nun wird das Werk des allzu früh verstorbenen Autors neu gewürdigt. In: die tageszeitung, 28.03.2008. S. 15. Millner, Alexandra: Versteinerungen. Geschichte im österreichischen Roman 1995. In: Die Lebenden und die Toten. Beiträge zur österreichischen Gegenwartsliteratur [Ergebnisse eines Symposions, das von 23.-25. November 1998 am Germanistischen Institut der ELTE Budapest stattfand]. Hg. v. Markus Knöfler. Budapest: ELTE Germanistisches Inst. 2000. S. 57–72. Rathjen, Friedhelm: Am Rande des Schlimmstmöglichen. In: Frankfurter Rundschau, 13.07.1996. Ratmann, Annette: Clemens Eich. Essay. In: KLG (Stand der Online-Ausgabe 2014). Schönecker, Dominik: Schwarzes Ziel – Weiße Grenze. Clemens Eichs Prosa. Würzburg: Königshausen & Neumann 2014.
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Enzensberger, Hans Magnus: Kiosk
Rainer Barbey
Enzensberger, Hans Magnus: Kiosk. Neue Gedichte (Frankfurt/M.: Suhrkamp) 1 Entstehung und Kontext Auch im literarischen Schwellenjahr 1995 zeigte sich Hans Magnus Enzensberger als ein Autor, der die verschiedenen Sparten des Kulturbetriebs geschickt zu beliefern weiß. Als Herausgeber der Anderen Bibliothek zeichnete er unter anderem für die Textsammlung Nie wieder! Die schlimmsten Reisen der Welt und W. G. Sebalds Die Ringe des Saturn verantwortlich. Aulis Sallinens Oper The Palace, zu der Enzensberger zusammen mit Irene Dische das Libretto beisteuerte, wurde uraufgeführt, er übersetzte das berühmte Langgedicht The Man with the Blue Guitar von Wallace Stevens und publizierte Essays über die deutsche Kulturpolitik im Ausland sowie das Thema Luxus. Als selbstständige Veröffentlichung erschien schließlich die Fernsehtheater-Talkshow Nieder mit Goethe! in einem Band mit dem, Clemens Brentanos Beziehung zu Auguste Bußmann thematisierenden, Requiem für eine romantische Frau. Auf dem Hörbuchmarkt war Enzensberger mit Esterhazy. Eine Hasengeschichte, bei der wiederum Irene Dische als KoAutorin fungierte, und der Lyrikanthologie Das somnambule Ohr vertreten. Letztere bietet zwar Gedichte aus vierzig Jahren, ein gutes Drittel der ausgewählten Texte entstammt aber dem parallel gedruckten Kiosk. Enzensbergers Gedichtband, der im späten dichterischen Werk der neunziger Jahre exakt die Mitte zwischen Zukunftsmusik (1991) und Leichter als Luft (1999) markiert und daher häufig als Teil einer Trilogie gesehen wurde, war 1995 also medial gleich mehrfach präsent und verdeutlicht damit einmal mehr den Anspruch des Autors, im Hauptberuf als Lyriker zu gelten – eine Tätigkeit, die zwar wenig reales, dafür um so mehr kulturelles Kapitel verspricht, wie Enzensberger selbst sehr wohl weiß:
Mein Steuerberater würde mir wohl raten, diesen Teil meiner Produktion als Werbekosten abzuschreiben. Aber im Ernst: Betriebswirtschaftlich gesehen ist Lyrik Unsinn, aber Betriebswirtschaft ist eben nicht alles (Hans Magnus Enzensberger: Zu große Fragen, S. 41).
2 Inhalt und Analyse Wie alle bislang vorliegenden Gedichtbände Enzensbergers ist Kiosk (= K) in mehrere Sinnabschnitte untergliedert, die vom Autor mit entsprechenden Kapitel-
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Rainer Barbey
überschriften versehen wurden und der Sammlung somit eine sorgfältig komponierte Struktur verleihen. Die ersten, unter „Geschichtsklitterung“ eingeordneten Texte des Bandes belegen zunächst, dass das Genre der politischen Lyrik entgegen der gängigen Meinung auch in Enzensbergers lyrischem Alterswerk eine gewichtige Rolle spielt. Die Gedichte thematisieren die paradoxe Vergeblichkeit der Reichtumsbekämpfung, die Allgegenwärtigkeit von Armut, ein arbeitsteiliges Wirtschaftsleben, das die verschiedensten menschlichen Tätigkeiten mit Geld entlohnt, diese dadurch aber auch austauschbar und fungibel macht, und stellen polemische Beobachtungen über karrierebedingte Deformationen der Funktionselite an. Privilegierte Tatbestände reagiert auf die Brandanschläge auf Asylantenheime in der Bundesrepublik zu Beginn der neunziger Jahre. Zusammen mit Schöner Sonntag, Der Krieg, wie und Asphodelen bildet der Text eine übergeordnete Einheit, die die Omnipräsenz von Gewalt im heutigen (Großstadt-)Alltag schildert und damit an Thesen aus Enzensbergers Essay Aussichten auf den Bürgerkrieg (1993) anknüpft. Geschichtsklitterung im engeren Sinn wird schließlich durch Gedichte betrieben, die persönliche Erinnerungen bzw. flüchtige Aperçus aus der postmodernen Lebenswelt mit der großen Menschheitsgeschichte konfrontieren. So werden etwa Kindheitseindrücke aus dem 2. Weltkrieg mit dem Lebenslauf von Hiram Maxim, dem Erfinder des Maschinengewehrs, kurzgeschlossen und der „warme[] Brotduft vor der Bäckerei“ (K, 17) wird zum Anlass, auf die Suche nach der verloren gegangenen Geschichte des Alten Europa zu gehen. Das Thema der erinnernden Rückschau wird im nächsten Abschnitt noch weiter fortgesetzt durch autobiographische Lyrik, die den Geist des Vaters beschwört oder sich selbstkritisch mit der politischen Harmlosigkeit der Studentenrevolte von 1968 auseinandersetzt (Ein paar müßige Zeilen). Der Titel dieser zweiten Gedichtgruppe, „Gemischte Gefühle“, referiert vor allem auf die Tradition der Erlebnisdichtung, die in Kiosk innovativ unterlaufen wird. Dies geschieht zum einen durch eine bewusst kunstlose, saloppe und lakonische Diktion, die bisweilen in einen höchst prosaischen, kolloquialen Plauderton verfällt, sich betont ahermetisch gibt und in formaler Nähe zum Aphorismus angesiedelt ist. Enzensberger entzaubert des Weiteren emotionales Pathos, das wahrnehmungspsychologische Konzept des Erhabenen und sentimentale Naturschwärmerei, wenn er danach fragt, „was so sublim ist / am bloßen Arsch einer Frau“ (K, 46), den „Schauder des eißig heißen Wassers / unter der Dusche“ zum „höchsten der Gefühle“ (K, 49) erhebt und dem „Vollmond über Stockelsdorf-Krumbeck, / Post Pronstorf, Landkreis Bad Segeberg“ (K, 60) arkadischen Charakter verleiht. Durchwegs werden erhabene Seelenlagen durch banale Alltäglichkeiten profaniert, das „falsche Gefühl / der wahren Empfindung“ (K, 49) durch den Hinweis auf die Brüchigkeit des Subjekts als emotionaler Instanz entlarvt – so gilt in der
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lakonischen Algebra der Gefühle, die der Autor, spielend mit dem scheinbaren Gegensatz von empfindsamem Affekthaushalt und logisch rationaler Mathematik, entwirft: „Die Menge der Gefühle ist abzählbar unendlich“ und selbst „das Gefühl nummeriert zu sein, / ist vermutlich längst nummeriert“ (K, 48f.). Aller Kritik am idealistischen Modell des sich selbst bewussten, einheitlichen Individuums zum Trotz propagieren die Gedichte des zweiten Teils jedoch auch eine Form der Lebenskunst, die in Konfrontation zum hektischen Aktionismus der Mitwelt die innere Unabhängigkeit des kontemplativen Einzelmenschen betont. Genau in diesem Sinne, nämlich dem Neben- und Ineinander verschiedener, zunächst unvereinbar scheinender Themen, Motive und Stilebenen, ist nicht zuletzt der Name des Werkes selbst zu verstehen: Gestützt auf die Etymologie (das türkische Wort „köşk“ kann mit „Gartenhäuschen“ übersetzt werden) verweist Enzensberger im Klappentext des Bandes darauf, dass Kioske im islamischen Kulturraum ursprünglich „zartgliedrige Pavillons“ bezeichneten. Als Produkt der Landschaftsarchitektur waren diese polygonalen Bauten „nicht im Zentrum der Städte zu finden, sondern in stillen Parks und weitläufigen Gärten“, ganz anders also als die heutigen urbanen Transiträume des flüchtigen Konsums. Der hier angelegte semantische Kontrast zwischen Hochkultur und Boulevard, Muße und Eile, Raffinesse und Primitivität bildet damit einen der Hintergründe, vor dem das in Sektion 2 des Kiosk entworfene Konzept meditativer Beschränkung gesehen werden muss. Allerdings: „Verzicht, Entsagung, Askese – / das wäre schon zu hoch gegriffen“ (K, 54). Fern von pauschaler, an jenseitigen Zielen orientierter Weltverneinung und leibfeindlicher Triebunterdrückung artikuliert dieses Minimalprogramm die Sehnsucht nach wunschlosem Glück, also unter gelassener Abstandnahme von dem geschäftigen Gebiet der Praxis sich einer Katze gleich „auf dem Teppich / zusammenzurollen, / unbedeutend anheimgegeben / dem unergründlich atmenden / Wechsel der Stoffe“ (K, 56). Propagiert wird ein in sich ruhendes, selbstgenügsames Dasein losgelöst von den Verstrickungen der Sinnlichkeit, dem Bedürfnis nach gesellschaftlicher Anerkennung und den Aktivitätsimperativen des ökonomischen Erwerbs. Enzensberger schreibt ein Loblied auf die Immobilität, die sich den alltäglichen Erfordernissen des Arbeits- und Reproduktionsprozesses wie Herman Melvilles Bartleby mit einem entschiedenen „Ich möchte lieber nicht“ (K, 41) verweigert – „Ich rühre mich nicht“ (K, 51) heißt es dann auch wahlverwandt am Ende eines Gedichts mit dem sprechenden Titel Sitzstreik, in dem der Sprecher der allgegenwärtigen Unruhe, die als apokalyptischer Todestrieb die moderne Zivilisation erfasst zu haben scheint, die eigene Unbeweglichkeit als unbestimmte Negation einer verhängnisvollen Dialektik des Fortschritts entgegensetzt. „Belustigungen unter der Hirnschale“, die nächste, nach einem Romanfragment Jean Pauls benannte Sektion, enthält eine Reihe von lyrischen Gedanken-
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Rainer Barbey
experimenten, die sich als selbstreflexive Wissenschaftspoesie darstellen und wohl am ehesten der Entstehungsgeschichte von Kiosk als Produkt eines zehnmonatigen Aufenthalts am Wissenschaftskolleg zu Berlin 1993/94 Rechnung tragen: Aus der Perspektive der Neurologie wird das Denken an sich thematisch; das „Gehirn, / das nicht redet / und jeder Wissenschaft spottet“ (K, 89), erscheint dabei allerdings als letztlich unerforschliches Mysterium, so dass es am Ende zwecklos bleibt, „über das Nachdenken nachzudenken“ (K, 73), und mithin auch in diesem Abschnitt das Ich als unsichere Größe erscheint. In Opposition zu den erkenntniskritischen Implikationen mancher Verse gestalten sich einige Gedichte als staunende Verbeugung vor der anatomischen Komplexität der menschlichen Physis, gegen die sich selbst die Technik als „Pfusch, Schrott, Gerümpel“ (K, 90) ausnimmt. Daneben wendet sich Enzensberger bevorzugt den kleinsten und unscheinbarsten Naturdingen zu und lässt diese in ihrer mikrologischen Schönheit für sich sprechen, indem er sie mit den Mitteln poetischer Sprache exakt, liebevoll und detailreich vergegenwärtigt. In dieser spezifischen Form der Naturlyrik erscheint der Dichter als getreuer Kopist, der die schöpferischen Hervorbringungen der natura naturans mit genau beobachtender Akribie sprachmalerisch nachahmt: Ich betrachte die Fliege, / beschreibe sie, / wie sie ihre Taster rührt, / die dreigliedrigen, / dicht gefiederten Fühler, / wie sie sucht, saugt, schöpft / mit den fleischigen Endlippen / ihres Rüssels. Die Flügel, / aschgrau geädert, / glänzend geschuppt / flimmern im Licht (K, 84).
Das Schlusskapitel „In der Schwebe“ handelt schließlich von den letzten Dingen, von Alter, Tod und metaphysischen Seinsfragen, die sich dem poetischen Subjekt, häufig ausgelöst durch ganz alltägliche Beobachtungen, in Form kleiner Epiphanien aufdrängen. In diesem Zusammenhang finden sich verstärkt Anklänge an christliche Inhalte. Die bereits im vorangegangenen Abschnitt unverkennbaren Gemeinsamkeiten mit der Physikotheologie eines Barthold Hinrich Brockes werden jetzt noch deutlicher: Ein Vorwurf etwa apostrophiert den Schöpfer angesichts der ungeheuren Vielfalt von „fiedernervigen, bunten Blättern“ (K, 122), die im Herbst unwiederbringlich verfaulen, als verschwenderischen, nichtsdestotrotz intelligenten Designer. Darüber hinaus verhandelt Enzensberger in seinen Texten theologische Begrifflichkeiten wie Gnade oder Nimbus, fragt nach dem unvergänglichen Teil im Körper des Menschen (Die Grablegung) und lässt in Die Visite sogar einen Engel erscheinen, der ein Alter ego des Dichters mit dessen Entbehrlichkeit konfrontiert. Dennoch geschieht der Rückgriff auf die Religion nicht völlig ungebrochen. Die Dankadressen des lyrischen Ich erreichen Gott nicht (Empfänger unbekannt – Retour à l’expéditeur). Das christliche Unsterblichkeitsversprechen, das der Titel des Gedichts Vom Leben nach dem Tode zu behandeln
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verspricht, widerruft der Text selbst in chiastischer Manier, indem er vom neu erstandenen Leben der Natur nach dem Tode des Menschen erzählt; die natürliche Zeit ist also in keinen heilsgeschichtlichen Horizont mehr eingelassen. Enzensberger blickt „ungläubig“ (K, 125) auf die Heiligenscheine.
3 Rezeption und Folgen Kiosk wurde von der Literaturkritik überwiegend positiv aufgenommen. Abwertend äußerten sich die Rezensenten allerdings zumeist über die im weitesten Sinn lehrhaft-aufklärerischen Texte des Bandes: Diese seien manchmal nicht viel mehr als „mit dem lauten Tusch des fabula docet didaktisch verhauene Gedichte“ (Schütte), kämen „der Diktion gehobener Leitartikel gefährlich nahe“ (Osterkamp) oder wirkten wie ein „versifizierter Essay mit abgewürgtem Blackout“ (Kaiser, alle 1995). Diese negativen Urteile dürften zu einem nicht unwesentlichen Teil dem zeitspezifischen Lyrikverständnis einer weitgehend entpolitisierten, von totalem Ideologieverdacht und postmodernem Ästhetizismus geleiteten Literaturkritik geschuldet sein. Ähnliches gilt für das Lob, das Enzensbergers Neuen Gedichten zuteil wurde, denn die Rezensenten hoben vor allem deren sprachliche Virtuosität und formale Meisterschaft hervor bzw. sprachen fasziniert von der selbstreflexiven Weisheit eines Dichters, der in seinen lyrischen Gedankenfluchten die conditio humana in einer unübersichtlichen Welt tiefgründig abbilde. Spätestens seit Mitte der 90er Jahre tritt somit in den Feuilletons an die Stelle des zornigen, jungen Mannes ein weiteres Rollenklischee: das des altersklugen, heiteren und gelassen über den Dingen schwebenden Ironikers. Lediglich Wiglaf Droste versuchte in der tageszeitung, diesem neuen Konstrukt des Literaturbetriebs eine subversive Seite abzugewinnen: Kiosk ist das Beharren auf dem Recht, als Schriftsteller in einem derart steindummen Land wie diesem in Weisheit altern zu können, ohne dabei die Billig-Buddhismus-Masche abziehen zu müssen, nach der man über den Wassern schwebt und nichts einen mehr juckt, nicht mal das eigene Fell (Droste 1995).
Relativ schnell erfolgten Übersetzungen des Lyrikbandes ins Dänische (1996) und, in Kooperation des Autors mit Michael Hamburger, ins Englische (1997), zudem liegt eine Auswahl der Neuen Gedichte auf Flämisch (1999) und Schwedisch (2005) vor, daneben wurden viele Einzeltexte in zahlreiche andere Fremdsprachen übertragen. In der germanistischen Forschung fand vor allem die religiöse Thematik (Ziebritzki 1997, Weber 2001, Diederich 2010 und – kritisch – Spoerhase 2010) Beachtung, untersucht wurden ferner die Wissenschaftspoesie (Reinhold Grimm 2005) sowie der spezifische Spätstil des Alterswerkes (Melin
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Rainer Barbey
2003). Erk Grimm (2002) verortet Enzensbergers poetische Produktion der neunziger Jahre im Literaturbetrieb des wiedervereinigten Deutschlands. Unter den Einzelinterpretationen hervorzuheben sind Arbeiten zum poetologischen Gedicht Altes Medium, das mit seinem Plädoyer für die virtuelle Realität traditioneller Schriftlichkeit als ein Zeugnis für den Medienkonservatismus Enzensbergers seit den achtziger Jahren gedeutet wurde (Fröhlich 2000, Brokoff 2005).
Literatur Enzensberger, Hans Magnus: Kiosk. Neue Gedichte. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1995. Enzensberger, Hans Magnus: Zu große Fragen. Interviews und Gespräche 2005–1970. Hg. v. Rainer Barbey. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2007.
Sekundärliteratur Brokoff, Jürgen: Tradition, Traditionsbruch und das alte Medium Gedicht. Zu einem Text von Hans Magnus Enzensberger. In: Zeitschrift für Deutsche Philologie 124/2 (2005), S. 243–260. Diederich, Alena: Mehr als nur ein Fremdwort. Zum Stellenwert der Religion in Hans Magnus Enzensbergers lyrischem Spätwerk. In: Dirk von Petersdorff (Hg.): Hans Magnus Enzensberger und die Ideengeschichte der Bundesrepublik. Heidelberg: Winter 2010, S. 123–133. Droste, Wiglaf: Buddhismus mit Sorgenfalten. In: die tageszeitung, 23.03.1995. Fröhlich, Monica: Sechsundzwanzig Tänzer im Dienste virtueller Realität. Zu Hans Magnus Enzensbergers Gedicht Altes Medium. In: Oliver Jahraus, Stefan Neuhaus, Peter Hanenberg (Hg.): Lyrik lesen! Eine Bamberger Anthologie. Wulf Segebrecht zum 65. Geburtstag. Düsseldorf: Grupello 2000, S. 259–262. Grimm, Erk: The Disappearance of Fury: H.M. Enzensberger’s Diplomatic Poetry of the 1990s. In: Germanic Review 77/1 (2002), S. 7–33. Grimm, Reinhold: Towards a Poetry of Chaos. In: Pembroke Magazine 37 (2005), S. 70–90. Kaiser, Joachim: Ein Poet nimmt Abschied vom Ich. In: Süddeutsche Zeitung, 16.03.1995. Melin, Charlotte Ann: Poetic Maneuvers. Hans Magnus Enzensberger and the Lyric Genre. Evanston, Illinois: Northwestern University Press 2003. Osterkamp, Ernst: Alter Dachdecker. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18.03.1995. Schütte, Wolfram: Am & im Kiosk. In: Frankfurter Rundschau, 25.03.1995. Spoerhase, Carlos: Dichter der ersten Dinge. Hans Magnus Enzensbergers Poesie und Ethik der Nähe (1991–2009). In: text + kritik 49 (3. Aufl., 2010), S. 39–57. Weber, Herrmann: „In der Schwebe“. Spuren der Transzendenz in Enzensbergers später Lyrik. In: Stimmen der Zeit 219/1 (2001), S. 55–62. Ziebritzki, Henning: Vielen Dank für mein sonderbares Gehirn. Bemerkungen zur religiösen Thematik in Hans Magnus Enzensbergers Gedichtband Kiosk. In: Neue Rundschau 108/3 (1997), S. 53–66.
Forte, Dieter: Der Junge mit den blutigen Schuhen
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Achim Geisenhanslüke
Forte, Dieter: Der Junge mit den blutigen Schuhen. Roman (Frankfurt/M.: S. Fischer)
1 Entstehung und Kontext Der 1935 in Düsseldorf geborene Dieter Forte ist durch Fernsehfilme und Theaterspiele, vor allem das Drama Martin Luther & Thomas Münzer oder Die Einführung der Buchhaltung aus dem Jahre 1970, mit dem er sich als Nachfolger von Friedrich Dürrenmatt am Theater in Basel etablieren konnte, einem größeren Publikum bekannt geworden. Mit dem Roman Der Junge mit den blutigen Schuhen hat er 1995 den Mittelteil einer Trilogie vorgelegt, die 1999 unter dem Titel Das Haus auf meinen Schultern erschienen ist. Mit dem Roman Auf der anderen Seite der Welt (2004) hat Forte den Zyklus zu einer Tetralogie erweitert. Für seinen Dramen und Romane hat er unterschiedliche Preise erhalten, so den Literaturpreis der Stadt Basel 1992 und den Bremer Literaturpreis 1999.
2 Inhalt und Analyse Als Mittelteil einer stark autobiographisch konzipierten Trilogie, an der Forte seit den achtziger Jahren gearbeitet hat, setzt Der Junge mit den blutigen Schuhen (= JbS) den ersten, 1992 erschienenen Teil mit dem Titel Das Muster voraus. Forte erzählt dort in einem Rückgang auf eine epische Erzählweise die Geschichte zweier Familien, der Fontanas, Seidenweber aus Italien, und der Lukacz, Bergbauern aus Polen. Beide Familienlinien werden am Ende des ersten Bandes durch die Hochzeit von Friedrich Fontana und Maria Lukacz, den Eltern des Erzählers, zusammengeführt. Das zentrale Thema der gesamten Trilogie ist das der Erinnerung. Mit den beiden Familien werden zwei unterschiedliche Erinnerungskonzepte vorgestellt: Auf der einen Seite steht der Fortschrittsglaube der Fontanas, die auf schriftliche Erinnerung vertrauen, deren Symbol das Musterbuch der Familie ist. Auf der anderen Seite steht ein zyklisches Geschichtsmodell der Lukacz, verbunden mit einer Tradition der mündlichen Erinnerung. Beide Formen der Erinnerung treffen im Erzähler zusammen und verschränken sich zu der großen Erinnerungsleistung, die der Roman insgesamt darstellt. Der erste Teil endet mit der Hochzeit von Friedrich Fontana und Maria Lukacz in Deutschland. Kontrastiert wird die Hochzeitsszene durch den Selbstmord des jüdischen Arztes Dr. Levi, der bereits auf das zentrale Thema des zweiten Teils
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Achim Geisenhanslüke
vorausverweist: das Aufkommen des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs. Unter dem Titel Der Junge mit den blutigen Schuhen steht der zweite Band im Zentrum der Trilogie. In der 1999 erschienenen Trilogie hat Forte den Titel indes zu Tagundnachtgleiche geändert. Der Band, der sich in drei Teile gliedert, beginnt mit der Geburt des Erzählers Paolo am schicksalsträchtigen Datum des 21. März 1933, dem Tag, an dem Hitler und Hindenburg sich die Hand reichten. Damit verknüpft der Roman von Beginn an die individuelle Lebensgeschichte des Erzählers mit der politischen Geschichte Deutschlands. Über die Einbeziehung akustischer Signale wie dem Glockenschlag der Kirche bei der Geburt, Schüssen, dem Radio, dem ersten Schrei des Kindes sowie Bildern und Fotographien reflektiert der Roman zudem auf die materiellen Träger der Erinnerung. Der Junge mit den blutigen Schuhen lässt sich zunächst als Fortsetzung des Familienromans Das Muster (1992) lesen. Im Zentrum der Familie stehen die Mutter Maria und, bedingt durch die häufigen Abwesenheiten des Vaters, der Großvater Gustav. Auf der anderen Seite ist Der Junge mit den blutigen Schuhen von Beginn an mehr als ein Familienroman. So verweist er mit der Familiengeschichte auch auf das Thema der Migration. Das Düsseldorfer Viertel Bilk, in dem der Junge aufwächst, präsentiert der Erzähler als eine republikanische Insel des Multikulturellen, in dem die Einwanderer aus Italien und Polen eine vom Erzähler nachträglich idealisierte Heimat finden. Der Roman spricht das „natürliche Chaos des Quartiers“ als „gewachsene Ordnung“ (JbS, 344) an, die Forte zeichnet:
Dieser kleine Kosmos mit seinen Anziehungs- und Abstoßungskräften, dieses Chaos, das wie ein dichtgeknüpftes Netz alle erhielt, beschützte und ernährte, auch die, die schon lange keine Arbeit mehr hatten oder niemals eine fanden, auch die, die alt oder krank waren, für alle, die darin lebten, ein Königreich, in dem jeder König war. (JbS, 345)
Das im Roman geschilderte Familienleben ist nicht nur geprägt durch den Kontrast zwischen dem leichtlebigen Friedrich und der lebensklugen Maria, sondern durch die beständige Erfahrung des Todes, der zunächst die zweieinhalbjährige Tochter Marija ereilt. Der Text stellt so einen Zusammenhang zwischen Tod und Erinnerung her, der den Ursprung der Erinnerung in das Totengedächtnis setzt: Der Junge stand am Sarg seiner Schwester, es war das erste, woran er sich später erinnern konnte, und er verstand nun, was die Erwachsenen meinten, wenn sie Tod sagten. (JbS, 362)
Der Roman lässt sich so insgesamt als eine barocke Allegorie auf den Tod lesen: „Alle Wahrheit liegt in der Vergangenheit der Gräber. Die Geschichte der Menschen beginnt mit ihrem Tod“ (JbS, 368), trägt der Großvater Gustav anlässlich des Todes Marijas in das Musterbuch der Familie ein.
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Das Leitthema des Totengedächtnisses führt der Roman anhand der Ermordung der Familienmitglieder Polka-Paul und Tante Josephine durch die Nationalsozialisten weiter aus. Daraus ergibt sich mithin die Aufgabe des Erzählers: „Und der Junge wußte, daß er das alles behalten sollte.“ (JbS, 397) Das Medium dieser Erinnerungsleistung wird der Roman sein. In der Nachfolge von Thomas Mann und Marcel Proust zeigt Dieter Forte Erinnerung als Grundlage der Selbsterfüllung einer schriftstellerischen Aufgabe. Geschichte als Korrelat der Erinnerung erweist sich in der allegorischen Darstellung des Romans durchgängig als karnevaleske Maskerade. Friedrich heiratet in einer geliehenen SA-Uniform und stellt sich damit leichtsinnig zwischen die Kommune und die Nationalsozialisten, vor denen er schließlich fliehen muss. Maria rettet Friedrich, der nach Frankreich flüchtet, vor der SA. Die Kristallnacht präsentiert der Roman als einen St. Martins-Umzug, an dem sich die SA-Männer die Gewänder der Rabbiner anziehen, als sie die Synagoge abfackeln (vgl. JbS, 420). Mit der Darstellung des barocken Totentanzes, die das Geschichtsbild des Romans bestimmt, erscheint Geschichte in ähnlicher Weise wie bei W. G. Sebald (→ Die Ringe des Saturn) oder Elfriede Jelinek (→ Die Kinder der Toten) als ein permanenter Zerstörungszusammenhang, dem die individuelle Erinnerungsleistung des Erzählers zu trotzen versucht. Der zweite Teil des Romans stellt das Zentrum des zweiten Teils der Trilogie dar. Sein bestimmendes Thema ist der Ausbruch des Krieges und die Bombardierung Düsseldorfs durch die alliierten Luftstreitkräfte. Forte greift damit auf die von W. G. Sebald initiierte Debatte um die fehlende Verarbeitung des Luftkrieges in der Nachkriegsliteratur voraus. Wiederum ist es der Zusammenhang von Erinnerung und Totengedächtnis, der im Mittelpunkt des Romans steht: „das Erzählen brachte ihn in die Nähe der Toten“ (JbS, 428), heißt es. Und weiter:
Es waren Zeiten, in denen die Erinnerung wichtig war, um weiterleben zu können, denn die Erinnerung sagte einem, daß es einmal anders war und daß es daher auch wieder anders werden könne, ja müsse. (JbS, 429)
Erinnerung erscheint so als Widerstand gegen den Tod und als Kraft der Lebensbewahrung. Den Bombenkrieg stellt Forte als ein akustisches und visuelles Inferno dar, in dessen Mittelpunkt die Stille und der eigene Atem stehen: […] eine Stille, die den Jungen ein Leben lang begleiten wird, weil er in dieser Stille, für immer unvergeßlich, seinen Atemzug hört und weiß, daß er lebt, daß es sein Atem ist (JbS, 456).
Die Metapher des Atems, die im Roman eng mit einer Lungenerkrankung des Jungen verbunden ist, erweist sich als Ausdruck des Lebens und als rhythmischer Grund der Erinnerung, in deren Mittelpunkt eine visuelle Erfahrung steht, die der
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Erzähler sprachlich umzusetzen versucht: „Das war das Todesbild, das der Junge nie mehr vergaß, das er sein Leben lang mit sich trug. Solange er lebte, würde er das vor Augen haben.“ (JbS, 467f.) Das Thema des Totengedächtnisses findet seine Zuspitzung in der Darstellung der Shoah. „Hundert Jahre nach dem Beginn der großen Zuwanderung, die das Quartier erschuf, wurden wieder Menschen aus ganz Europa in das Quartier transportiert.“ (JbS, 482) Der zentrale Schauplatz der Geschichte im Roman ist der Volksgarten, der in ein KZ umgewandelt wird. Die Erinnerungsorte des Romans sind zugleich die geschichtlichen Signaturen, die die Toten mit ihren Namen hinterlassen haben: „Varnas Loch, Odysseus’ Mauer, Quieters Graben, Lefahrts Todesstraße, Opa Winters Luftschacht“ (JbS, 513), lautet die Folge von Signaturen, die der Text versammelt. Im Mittelpunkt des abschließenden dritten Teils steht wiederum der Krieg und die damit verbundene Evakuierung der Familie nach Süddeutschland, das der Roman als Gegensatz zum republikanischen Düsseldorf konzipiert. Die Familie hält es dort zunächst nicht lange aus: Sie reisten ab. Die Bomben in der zerstörten Stadt waren ihnen lieber, im zerstörten Quartier durfte man alles sagen, und der Junge schwor, sich das alles zu merken und es nie zu vergessen, den Menschen, die, angeblich im Namen der Wahrheit, ihn mit ausgewählten Sätzen traktierten, nie mehr etwas glauben. (JbS, 553)
Dennoch müssen sie im Rahmen einer zweiten Evakuierung in den Süden zurückkehren. Neben der Lungenkrankheit des Erzählers steht seine Lesebiographie im Zentrum, die seine spätere schriftstellerische Berufung andeutet. Der unvermittelte Tod des jüngeren Bruders (vgl. JbS, 567), der sich tuberkulös infiziert, nimmt das Leitmotiv des Todes wieder auf, das den ganzen Roman bestimmt. Die Rückkehr nach Düsseldorf, mit der der Roman endet, geht nicht nur mit dem körperlichen Zusammenbruch des Jungen einher, den allein seine tatkräftige Mutter retten kann: […] wenn er diesen Berg überlebte, würde er alle Geschichten noch einmal erzählen, alles noch einmal von Anfang an erzählen, und der schwarzvereiste Berg wäre nur noch eine dieser Geschichten. (JbS, 616)
Der Schluss vereint die Familie am Heiligabend. Dennoch ist er alles andere als eine Tröstung. Das zeigt vor allem der dritte Teil der Trilogie, der unter dem Titel In der Erinnerung den Tod fast aller Protagonisten des Romans verzeichnet. Zunächst stirbt der nach dem Krieg verbitterte Vater, dann Elisabeth (JbS, 849), der Großvater Gustav (JbS, 853) und seine Freundin Fin (JbS, 853), schließlich die Mutter Maria (JbS, 853f.). Die traumatische Erfahrung von Krieg und Tod erweist
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sich somit als das zentrale Thema des Romans und Grund der großen Erzählleistung, die die Trilogie insgesamt vollbringt.
3 Rezeption und Folgen Dieter Fortes Romantrilogie hat in den Feuilletons wie der Literaturkritik eine vorwiegend positive Resonanz gefunden. Dabei standen auf der einen Seite die Versuche im Mittelpunkt, Forte neben Autoren wie Canetti, Grass oder Walser (Durzak 1999, S. 148) einen Platz in der Geschichte der Nachkriegsliteratur zu geben. So hat Eugen Spedicato den Vergleich zu Grass’ Im Krebsgang (2002) und Walsers Die Verteidigung der Kindheit (1991) gezogen (Spedicato 2011, S. 397), zugleich aber die Unterschiede hervorgehoben, indem er auf „die europäische Dimension dieses Werks“ hingewiesen hat: „Fortes Trilogie führt Erinnerungsliteratur weg von ihrem spezifisch deutschen Horizont“ (ebd., 398). Die jüngere Forschung hat eher einen Zusammenhang mit Kathrin Schmidts Die GunnarLennefsen-Expedition (1998) und Reinhard Jirgls Die Unvollendeten (2003) hergestellt (Eigler 2008, S. 88). In jedem Fall betont die Forschung die Bedeutung der Erinnerungsthematik des Romans, die zudem den Vergleich mit den 1995 erschienenen Werken von Sebald und Jelinek erlaubt. So stellt Spedicato fest, dass es sich um „keine verkappte Memoirenliteratur, sondern anspruchsvolle Gedächtnisliteratur“ (Spedicato 2011, S. 396) handle, um zu dem Schluss zu kommen: „Der eigentliche Protagonist der Trilogie ist das Gedächtnis selber“ (ebd., 403). Dass der Roman neben dem alles bestimmenden Thema der Erinnerung noch über andere Dimensionen verfügt, hat Klaus-Michael Bogdal gezeigt: „Man sollte nicht aus den Augen verlieren, dass Forte ein Migrantenepos erzählt.“ (Bogdal 2002, S. 317) Fortes Romanzyklus ließe sich daher auch mit solchen Texten in Verbindung setzen, in denen die Migrationsproblematik im Mittelpunkt steht, etwa Zaimoğlus [→] Kanak Sprak. Festzuhalten bleibt aber, dass er mit der umfassenden Darstellung von Geschichte als Zerstörungszusammenhang und den damit verbundenen barocken Bildern des Todes – vom „Totentanz des Lebens“ (Wucherpfennig 2007, S. 221) und der dazugehörigen karnevalesken Komik spricht Wolf Wucherpfennig, und auch Jürgen Ritte hat das „Motiv des Totentanzes“ (Ritte 2009, S. 89) herausgestellt –, bereits auf die 1997 einsetzende Debatte um die Darstellung des Luftkrieges in der deutschsprachigen Literatur und damit auf Notwendigkeit einer Neuordnung der Geschichte der Nachkriegsliteratur vorausweist, die Forte neben Sebald und Jelinek für sein Epos der Erinnerung einen zentralen Platz reservieren müsste.
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Literatur Forte, Dieter: Das Haus auf meinen Schultern. Romantrilogie. Frankfurt/M.: Fischer 2003.
Sekundärliteratur Bogdal, Klaus-Michael: Erhofftes Wiedersehen. Dieter Fortes Romantrilogie Das Haus auf meinen Schultern. In: Günter Helmes et al. (Hg): Literatur und Leben. Anthropologische Aspekte in der Kultur der Moderne. Festschrift für Helmut Scheuer zum 60. Geburtstag. Tübingen: Gunter Narr 2002, S. 305–318. Durzak, Manfred: Die drei Leben des Dieter Forte. Zum Abschluß seiner Romantrilogie. In: Neue Rundschau 110/2 (1999), S. 145–152. Eigler, Friederike: Zur Historisierung des Heimatbegriffs im Generationenroman: Dieter Fortes Trilogie Das Haus auf meinen Schultern. In: The Germanic Review: Literature, Culture, Theory, 83/2 (2008), S. 83–106. Ritte, Jürgen: Endspiele. Geschichte und Erinnerung bei Walter Kempowski, Dieter Forte und W. G. Sebald. Berlin: Matthes & Seitz 2009. Spedicato, Eugenio: In der Zange von Geschichte und Gedächtnis. Dieter Fortes Romantrilogie Das Haus auf meinen Schultern (1999) als Epos des beschädigten Lebens. In: Weimarer Beiträge 57/3 (2011), S. 395–413. Wucherpfennig, Wolf: Dieter Fortes Todesbegegnung und autobiographisches Schreiben. In: Christoph Parry, Edgar Platen (Hg.): Autobiographisches Schreiben in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Band 2: Grenzen der Fiktionalität und der Erinnerung. München: Iudicium Verlag 2007, 218–229.
Michele Sisto
Grass, Günter: Ein weites Feld. Roman (Göttingen: Steidl) 1 Entstehung und Kontext Als der 65jährige Günter Grass nach der Veröffentlichung von Unkenrufe (1992) beginnt, an Ein weites Feld (= WF) zu arbeiten, ist die Erinnerung an seine Niederlage in der öffentlich-politischen Auseinandersetzung um die Wiedervereinigung noch frisch. Sein Plädoyer für die Lösung „Zwei Staaten, eine Nation“, so wie Christa Wolfs Forderung einer Demokratisierung der DDR, war entschieden abgelehnt worden, und selbst das Recht der Schriftsteller, sich einzumischen, war in Frage gestellt worden. Seine Einträge zum Jahr 1990 im Tagebuch Von Deutschland zu Deutschland (2009) zeugen von einer schleichenden Depression. Das Bild
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eines weltweit etablierten, dennoch etwas ‚müden‘ Schriftstellers lässt viele Kritiker vermuten, dass sein Alterswerk nur eine Reaktion auf den vom Feuilleton immer wieder geäußerten Wunsch nach dem „ZEIGRODEURO“, dem „zeitgenössischen großen deutschen Roman“ (Platen), sein werde, von dem eine literarische, namentlich „getreue“ oder „realistische“ Verarbeitung der Wiedervereinigung erwartet wird. Was Ein weites Feld gerade nicht ist. Vielmehr steht der Roman in der Tradition der postmodernen Narrativik und nimmt als Hauptstrukturmerkmal seiner Gestaltung das Prinzip des fragmentarischen, rhapsodischen Vorgehens und des allegorischen Erzählens auf (Geisenhanslüke). Das 781 Seiten starke und in 5 Büchern und 37 Kapiteln gegliederte Werk vereinigt in sich einen Zeitroman und einen historischen Roman durch den Einfall einer allegorischen Hauptfigur: Theo Wuttke alias Fonty, ein „Wiedergänger“ des Schriftstellers Theodor Fontane, der genau ein Jahrhundert später dessen Lebensbahnen erneut durchläuft, also zur Zeit des Dritten Reiches, der DDR und der Wiedervereinigung. Die offenbar fiktive Natur dieser „Neuauflage“ des „Unsterblichen“ und dessen „ewigen Spitzels“ bzw. „Tagundnachtschatten“ Hoftaller, der von Hans-Joachim Schädlichs Roman Tallhover (1986) übernommen wurde, verleiht dem Roman, in dem sich Wirklichkeit und Fiktion ganz im Sinne von Linda Hutcheons historiographic metafiction mischen, einen künstlichen, anti-illusionistischen, selbst-reflexiven und amüsierten Charakter. Meisterhaft spielt Grass mal mit allerlei Romansubgenres, vom Künstler- bis zum Briefroman, vom Familien- bis zum Kriminalroman, mal mit Fontanes Werk, das ausführlich zitiert und quasi weitergeschrieben wird. Diese spielerische Haltung schließt aber das engagierte Eingreifen des Schriftstellers in den politischen Fragen nicht aus. Im Gegenteil: Da die Geschichte Wuttkes vom kollektiven „Wir“ der Angestellten des Theodor-Fontane-Archivs Potsdam erzählt wird, also von einer Gruppe von DDRBürgern, die den realsozialistischen Machtapparaten nahe stehen und ihr „Objekt“ wie Stasi-IMs ausspionieren, sind die häufigen Äußerungen zur Politik Helmut Kohls und zum ganzen Wiedervereinigungsprozess durchgehend kritisch, manchmal verbittert, wobei sie sehr oft mit Grass’ öffentlichen Stellungnahmen der Jahre 1989–91 übereinstimmen. Obwohl der Roman gerade deswegen von vielen Kritikern als „das letzte Westpaket“ (Dieckmann) abgelehnt wurde, soll man das „weite Feld“ (so bezeichnete der alte Briest jedes unlösbare Problem) nicht einfach als kritische Darstellung der Wiedervereinigungszeit betrachten, sondern vielmehr als eine (selbst)kritische Inszenierung des Verhältnisses zwischen Schriftsteller und Staat bzw. zwischen Literatur und Macht (was auch Fontane übrigens sehr wichtig war, mit dessen Aufsatz über „die gesellschaftliche Stellung der Schriftsteller“ Grass sich intensiv beschäftigt).
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2 Inhalt und Analyse Der Zeitroman schildert zwei Jahre (Dezember 1989 bis Oktober 1991) in der „verkrachten Existenz“ eines DDR-Intellektuellen, des 70jährigen Theo Wuttke. Aufgrund der totalitären Entwicklungen der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert schwankt er lebenslang zwischen Anpassung und Auflehnung hin und her und kann deshalb seine Berufung, Schriftsteller zu werden, nur bruchstückhaft verwirklichen. 1919 geboren, entscheidet er sich nach dem II. Weltkrieg, in dem er sowohl am deutschen (Attentat des 20. Juli) als auch am französischen Widerstand teilgenommen hat, für die DDR. Hier wird er Vortragsredner des Kulturbundes und damit zum Bestandteil der ostdeutschen Intelligenz. Er ist mit Bobrowski und Fühmann befreundet und ein Bekannter von Uwe Johnson, Heiner Müller und Christa Wolf. 1976 kommt seine künstlerische Karriere zu einem Ende, als er infolge der Biermann-Affäre zum Aktenboten im Haus der Ministerien degradiert wird. Am 4. November 1989 ist er aber wieder unter den Rednern am Alexanderplatz zu finden und er äußert sich entschieden gegen die Wiedervereinigung: „In Deutschland hat die Einheit immer die Demokratie versaut!“ (WF, 55). Im ersten Buch, das als Parodie eines Künstlerromans aufgebaut ist, wird ein Porträt des Künstlers als alter Mann entworfen, indem die Flâneries Wuttkes und Hoftallers durch die nunmehr ungeteilte Stadt Berlin beschrieben werden: vom Niemandsland beim Potsdamer Platz bis zum McDonald’s am Bahnhof Zoo. Obwohl Wuttke den Fall der Mauer ziemlich skeptisch betrachtet, hofft er, von der staatlichen Überwachung und Unterdrückung endlich befreit zu werden. Er wird aber enttäuscht, als Hoftaller, eine mephistophelische Allegorie der Staatsräson, sich im Besitz von Akten erklärt, die nicht nur die Tätigkeit aller Mitglieder der Familie Wuttke als IM bei der Stasi, sondern auch die Existenz eines unehelichen Kindes des Familienvaters beweisen. So setzt sich die schlichte Handlung des Romans in Bewegung: um sich seiner Mitverantwortung in der „kommoden Diktatur“ (WF, 325) und der Konsequenzen seiner Jugendsünden zu entziehen, aber vor allem aus Ekel vor einem nur durch das Geld vereinigten Deutschland, versucht Wuttke dreimal auszuwandern. Zweimal scheitert er. Als aber die Flucht beim dritten Mal erfolgt, kommt der Roman zu seinem Schluss. Nach jedem Fluchtversuch, wie schon in der Vergangenheit bei allen enttäuschenden Wendepunkten der DDR-Geschichte, etwa 1953, 1956, 1968 und 1976, verfällt er in ein Nervenfieber und wird durch die heilende Macht der Literatur wieder gesund: So schreibt jetzt Wuttke sein Spätwerk, einen Vortrag über seine Kinderjahre nach dem Beispiel der gleichnamigen Autobiographie Fontanes. Das zweite und das dritte Buch entwickeln sich als grotesker Familienroman, in dem Grass die ganze Familie Wuttke nach dem Muster der Familie Fontane nachbildet. Im Mittelpunkt stehen hier die sogenannten „Hineingeborenen“, die
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vier Kinder von Theo und seiner Frau Emmi: während die drei „Jungs“ aus der DDR geflüchtet sind, ist die Lehrerin Martha in der kleinen Elternwohnung in der Kollwitzstraße geblieben. Nach Jahrzehnten überzeugter Mitgliedschaft in der SED bekehrt sie sich zum Katholizismus und heiratet den westdeutschen Bauunternehmer Heinz-Martin Grundmann: Die Ehe, eine Allegorie auf die Vereinigung, scheitert aber nach wenigen Monaten, und Grundmann, der sich bald als skrupelloser Bauspekulant erweist, stirbt beim Zusammenstoß seines Mercedes mit einem Trabant. Die lebendige und detaillierte Darstellung des DDR-Alltags (samt Büchern, Schallplatten, Kleidung, FDJ-Liedern), die bei der Hochzeitsfeier und deren Vorbereitung ihren Höhepunkt erreicht, wirkt hier als literarische Strategie, der damals einsetzenden Delegitimierung der ganzen DDR-Erfahrung durch die Wiederaufwertung der kulturellen Erinnerung der Einzelnen zu widerstehen. Auch die verschiedenen Sprachen und deren Ideologien (Fontanes Plauderton, Emmis Berlinerisch, die Überwachungssprache der Stasi bei Hoftaller und die Wirtschaftssprache der neuen Machthaber bei Grundmann) stehen hier einander ironisch gegenüber und entlarven sich gegenseitig im Sinne Bachtins. Die auf einem Brief an Bernhard von Lepel (1849) basierende Vermutung, Fontane sei „Vater eines illegitimen Sprößlings“, gibt Grass den Anlass, den Familienroman mit der Figur Madeleine zu bereichern, einer französischen Enkeltochter, von deren Existenz Wuttke nichts ahnte. Während Marthas (deutschdeutsche) Hochzeit scheitert, gelingt die (gesamteuropäische) Versöhnung Wuttkes mit der Tochter seines 1944 in Lyon geborenen unehelichen Kindes Cécile und damit auch mit dem Leid des II. Weltkriegs: Obwohl Madeleines Großmutter für ihre Liebesgeschichte als „La pute à boches!“ (WF, 426) beschimpft und sozial stigmatisiert wurde, hat sie die Verdienste des jungen deutschen Berichterstatters in der Résistence nicht vergessen. So erhält Wuttke von Madeleine, die gerade im September 1990 in Berlin auftaucht, einen französischen Orden. Nur im Rahmen dieser politisch-familiären Versöhnung kann Wuttke, zusammen mit Madeleine und seiner Frau Emmi, an der Vereinigungsfeier des 3. Oktober am Brandenburger Tor, wenn auch nicht vorbehaltlos, teilnehmen. Im vierten Buch schlägt das Herz des Wenderomans. Zum einen weiten sich hier die Wanderungen Wuttkes und Hoftallers von der Stadt Berlin zu einer Vermessung des ganzen Gebietes der nunmehr aufgelösten DDR aus: Mal besuchen sie die ehemaligen Staatsgrenzen (die Glienicker Brücke bei Berlin und die Europa-Brücke in Frankfurt/Oder), mal den Abgrund des Tagebaus bei Altdöbern in der Lausitz, mal Fontanes Geburtsstadt Neuruppin mitten in Brandenburg. Da zum anderen die Treuhandanstalt, die das „volkseigene“ Vermögen des sozialistischen Staates „abwickeln“ soll, ihren Sitz gerade im Haus der Ministerien erhält, macht Grass seinen Held zu einem ihrer Angestellten, mit der „literarischen“ Aufgabe, für „abwickeln“ ein Tarnwort zu finden. In diesem Zusammen
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hang macht Wuttke die Bekanntschaft mit dem Chef der Treuhand, Detlef Karsten Rohwedder, bis dieser im April 1991 ermordet wird. Hier entwickelt sich der Zeitroman zu einem Krimi, der die politische Gewalt thematisiert, indem der „WirErzähler“ den Mord untersucht und einen möglichen Täter in der Putzfrau Helma Frühauf identifiziert, deren Familie vom Abwicklungsprozess hart getroffen worden war. Nach dem Tod Rohwedders, nach seiner Entlassung von der Treuhand, und nach dem Selbstmord seines Freundes Eckhard Freundlich, einem Universitätsprofessor, der als Kommunist und auch wegen seiner jüdischen Abstammung „wegevaluiert“ wurde, versucht der nunmehr arbeits- und trostlose Wuttke im fünften Buch zum zweiten Mal vergeblich auszureisen und verfällt dann erneut in ein Nervenfieber. Seine Genesung erfolgt durch zwei Ereignisse: die Vorlesung des „feurigen“ Vortrages über seine Kinderjahre vor der Intelligenz der ehemaligen DDR in der Berliner Kulturbrauerei und das erneute Auftauchen von Madeleine in Berlin, mit deren Hilfe Wuttke endlich in die Cevennes auswandern kann. Hier erscheinen also in ihrer letzten Verwandlung die beiden Hauptmotive des Romans. Einerseits entscheidet Grass die Auseinandersetzung zwischen Literatur und Macht utopisch zugunsten der ersten („Die Dichtung darf alles“, WF, 436): Während Wuttke in seinem Vortrag die diversen Brände im Werk des „Unsterblichen“ beschreibt, kommt plötzlich die Nachricht, dass die Treuhand in Flammen steht. Gerade in den Jahren des Triumphes der Literaturjournalisten des Feuilletons über den Schriftsteller im Kampf um die Deutungshoheit, zelebriert Grass die Vorstellungsmacht der Literatur und ihre Fähigkeit, alternative Visionen der Geschichte zu erzeugen. Zugleich singt er aber den Abgesang auf den engagierten Nachkriegsintellektuellen mit Anspruch aufs Universelle: Die neuen Schriftsteller der 90er Jahre werden andere Paradigmen, vom Popliterat bis zum poeta doctus, verfolgen. Andererseits kulminiert in Wuttkes Flucht Grass’ Gegenrede zum Jubel für das „Einigvaterland“ (WF, 474). Wirkungsvoller aber als die ‚waagerechte‘ Zeitkritik der Wiedervereinigung ist die ‚senkrechte‘ Kritik, die aus der Perspektive des historischen Romans herrührt. Die Doppelidentität der Hauptfigur ermöglicht eine Erweiterung des zeitlichen Horizonts, und damit ein Nachdenken nicht nur über die Wenden der deutschen Geschichte, sondern auch über unheimliche Kontinuitäten. Das Auf- und Absteigen des Paternosters im Haus der Ministerien „über die Wendepunkte“ wird zum „Symbol der ewigen Wiederkehr“ (WF, 526) von Chauvinismus, Militarismus, Rassismus, Antisemitismus, Gewalt, Diktatur, Zensur und Geldgier, sei es zur Gründerzeit, als die Spekulationen der „Raffkes und Schofelinskis“ (WF, 270) das Pendant zu Bismarcks Machtpolitik bildeten, sei es zur Zeit des Dritten Reiches, als „überall Besitz und Vermögen der Juden in Deutschland unter Treuhand gestellt“ (WF, 484) wurden.
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Als Urszene der deutschen Geschichte ist die karnevaleske Aufführung der Katte-Tragödie durch eine Schauspielergruppe zu lesen, der Wuttke und Madeleine in Potsdam anlässlich der Überführung der Särge Friedrichs des Großen und seines Vaters nach Sanssouci beiwohnen: Der preußische König wirft die Flöte und die Bücher des jungen, kunstberufenen Friedrich, der übrigens von einer Frau gespielt wird, ins Feuer, um dann dessen Freund Katte, der ihm bei seinem Fluchtversuch geholfen hatte, als „pädagogische Maßnahme“ (WF, 732) hinrichten zu lassen. Infolgedessen, so spielen die Mimen, wird Friedrich „herzzerbrochen“ und „toll“: Er machte clowneske Faxen, […] lief auf den Händen, […] brach zwischendurch sinnbildlich Kriege vom Zaun, zerfetzte Verträge, raubte Provinzen, […] wurde gescheucht und gab sich dennoch nicht geschlagen, war vielmehr ganz und gar König nach seines Vaters Willen, hatte die ihm erteilte Lektion begriffen (WF, 738).
Der Zerstörung des Mythos vom großen Staatsgründer entspricht die literarische Entgegensetzung zweier preußischer Muster der „Unsterblichkeit“: Kleists „Haß auf ästhetisch hohem Niveau“ (WF, 727) und Fontanes tolerante und selbstkritische Haltung. Indem Grass den Paternoster am Ende verbrennen und seinen Held sich der „Hoftaller’schen“ Erpressung entziehen lässt, wird die Hoffnung ausgedrückt, dass die deutsche Geschichte aus dem Kreislauf der „ewigen Wiederholung“ ausbricht und die Schriftsteller ihre „catilinarische“, d. h. gegen die Macht beschwörende, Funktion aufgeben, um eine neue, von der Geschichte nicht mehr so belastete „gesellschaftliche Stellung“ einzunehmen.
3 Rezeption und Folgen Obwohl das Buch erst im August erscheint, fangen die Lesungen, Interviews und Stellungnahmen zum lang angekündigten und vom Steidl-Verlag sorgfältig als event vorprogrammierten „Jahrhundertroman“ schon Ende April an: So wird Ein weites Feld mit 100.000 vorverkauften Exemplaren zum meistdiskutierten Buch des ganzen Jahres 1995 (Negt). Die durchweg negativen Besprechungen von Gustav Seibt (FAZ), Iris Radisch (Die Zeit) und Marcel Reich-Ranicki (sowohl im Spiegel, dessen Titelbild eine berühmt gewordene Fotomontage zeigt, in der der Kritiker den Roman wortwörtlich zerreißt, als auch in der TV-Sendung Literarischen Quartett, wo er permanent Sigrid Löffler ins Wort fällt, um unwidersprochen das Buch als „total wertlos und langweilig“ erklären zu können) geben nicht nur den Ton zur heftig umstrittenen Rezeption des Romans, sondern stellen einen wichtigen Moment des Kampfes um Deutungsmacht dar, der schon an Christa Wolf unmittelbar nach der Wende entbrannt war, und mit dem Sieg des neobürgerlich politisierten
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Feuilletons und der Abwicklung der Nachkriegsmuster des engagierten Schriftstellers enden musste. Trotzdem wird dem Roman im Jahr darauf der Hans-FalladaPreis für Werke, die „Probleme der Gegenwart mit politisch-sozialem Hintergrund behandeln“, verliehen, und Grass selber wird mit dem Thomas-Mann-Preis der Hansestadt Lübeck mit der Begründung ausgezeichnet, dass er „die deutsche Geschichte unseres Jahrhunderts wortgewaltig nachgeschrieben und auch ihre Schatten sichtbar gemacht hat“. Vier Jahre später, und 27 Jahre nach Heinrich Böll, wird der Schriftsteller zum 9. deutschen Nobelpreisträger für Literatur.
Literatur Grass, Günter: Ein weites Feld. Göttingen: Steidl 1995.
Sekundärliteratur Boßmann, Timm: Der Dichter im Schußfeld: Geschichte und Versagen der Literaturkritik am Beispiel Günter Grass. Marburg: Tectum 1997. Dieckmann, Christoph: Das letzte Westpaket. In: Die Zeit, 01.12.1995. Geisenhanslüke, Achim: Geschichtsbilder. Intertextualität, Allegorie und Wiederholung in „Ein weites Feld“. In: Françoise Lartillot (Hg.): Günter Grass: „Ein weites Feld“: Aspects politiques, historiques et littéraires. Nancy: Centre de Recherche Germaniques et Scandinaves de l’Université de Nancy II, 2001, S. 157–167. Geißler, Rolf: Ein Ende des „weiten Feldes“? In: Weimarer Beiträge 45/1 (1999), S. 65–81. Jameson, Fredric: Ramblings in Old Berlin. In: South Atlantic Quarterly 96/4 (1997), S. 715–727. Labroisse, Gerd: Politisch-Historisches in literarischer Form: zu Günter Grass’ Roman „Ein weites Feld“. Berlin: Weidler 2008. Negt, Oskar (Hg.): Der Fall „Fonty“: „Ein weites Feld“ von Günter Grass im Spiegel der Kritik. Göttingen: Steidl 1996. Platen, Edgar: Gegen eine Erlösung von der Geschichte: Einige Voraussetzungen der epischen Geschichtsdarstellung in Günter Grass’ „Ein weites Feld“. In: Literatur für Leser 22/2 (1996), S. 112–125. Radisch, Iris: Die Bitterfelder Sackgasse. In: Die Zeit, 25.08.1995. Reich-Ranicki, Marcel: …und es muß gesagt werden: Ein Brief. In: Der Spiegel, 21.08.1995. Schwan, Werner: Günter Grass: „Ein weites Feld“ – mit Neugier und Geduld erkundet. In: Poetica 28 (1996), S. 432–454. Seibt, Gustav: Die Uhr schlägt, das Käuzchen ruft. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18.08.1995. Stolz, Dieter: Nomen est omen. „Ein weites Feld“ von Günter Grass. In: Zeitschrift für Germanistik 7/2 (1997), S. 321–335. Zhang, Xinyi: Formen und Funktionen der Intertextualität in Erzählwerken von Günter Grass. Frankfurt/M. u.a.: Peter Lang 2009.
Haslinger, Josef: Opernball
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Haslinger, Josef: Opernball. Roman (Frankfurt/M.: S. Fischer)
1 Entstehung und Kontext Josef Haslinger, 1955 im ländlichen Niederösterreich geboren, hat sich in den 80er Jahren als Autor und literarisch-politischer Essayist (Politik der Gefühle, 1987) in Österreich etabliert. Mit dem Roman Opernball (= OB) wurde er 1995 erstmals einem breiteren Publikum bekannt. Dazu trug vor allem der Umstand bei, dass der im Roman dargestellte Terroranschlag auf den Wiener Opernball wenige Wochen nach dem Erscheinen auf beklemmende Weise von der Wirklichkeit eingeholt wurde, da ein ähnlich angelegtes Giftgasattentat in der Tokioter U-Bahn großes Aufsehen erregte. Seit 1996 wirkt Haslinger als Professor am Deutschen Literaturinstitut Leipzig und tritt neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit häufig mit essayistischen Beiträgen zu Schreibweisen und Poetiken der Gegenwartsliteratur an die Öffentlichkeit.
2 Inhalt und Analyse Die Grundkonstruktion von Opernball gleicht einem Kriminalroman oder einem „an innenpolitischen Fakten orientierten Politthriller“ (Christ 1995, S. 153), in dem sich die Hauptfigur Kurt Fraser, ein erfolgreicher Journalist des Fernsehsenders ETV (eine Art europäisches CNN), auf die Suche nach den Hintergründen des Anschlags auf den Wiener Opernball begibt, den eine rechtsextremistische Terrorgruppe verübt hat, und bei dem sein Sohn Fred ums Leben gekommen ist. Kurt Fraser, der als Sohn österreichisch-tschechischer Emigranten in England aufgewachsen ist und nun in Wien die Übertragung des Medienereignis’ Opernball verantwortet, konnte seinen Sohn erst kurz vor dem Attentat aus seiner Drogenabhängigkeit befreien. Die Erzählperspektive des Protagonisten Fraser wird durch Tonbandberichte anderer Beteiligter durchbrochen: Die wichtigste Gegenfigur zu Fraser ist dabei der Ingenieur, der als Mitglied der rechten Terrorgruppe „die Entschlossenen“ von ihrer zunehmenden Radikalisierung und den Anschlagsplänen berichtet. Deren fanatischer Anführer, im Roman stets nur als „der Geringste“ bezeichnet, ist stark von der österreichischen Traditionsklosterschule Kremsmünster geprägt und bastelt sich seine krude Ideologie aus sektiererischchristlichen und nationalsozialistischen Versatzstücken zusammen. Diese Grup
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pe der „Entschlossenen“ bereitet ein „Harmagedon“ vor, in dem durch Blausäure in der Belüftungsanlage Tausende von Besuchern des Wiener Opernballs zu Tode kommen. Weitere Tonbänder stammen von dem Revierinspektor Fritz Amon, der das repressive gesellschaftliche Umfeld in Österreich Mitte der 90er Jahre repräsentiert. Er macht sich für ein strenges Vorgehen gegen Ausländer und „Chaoten“ stark und hält Jup Bärenthal (der 2008 verstorbene FPÖ-Politiker Jörg Haider) für „die politische Hoffnung unseres Landes“ (OB, 95). Diese „differenzierende Polyphonie“ (Sonnleitner 2012, S. 61) der verschiedenen Erzählstimmen, die völlig ohne auktoriale Perspektive auskommt, wird ergänzt durch Berichte der Hausfrau Claudia Röhler, die während des Opernballs erkennen muss, dass ihr Vater, ein greiser Mathematikprofessor, zu den Profiteuren des NS-Regimes gehörte. Weiter existieren drei Tonbänder des Brotfabrikanten Richard Schmidleitner, der sich einen Wiener Aktionisten als Privatkünstler hält. „Fred ist tot“ (OB, 9), mit dieser Feststellung beginnt der Roman und gemäß dem Kriminalschema versucht der Journalist Fraser retrospektiv die Vorgeschichte und Umstände des terroristischen Attentats auszuleuchten. Obgleich die abschließende Konfrontation des positiven (Fraser) mit dem negativen (Ingenieur) Protagonisten auf Mallorca am Ende von Opernball zum Selbstmord des rechtsextremen Ingenieurs führt, bleiben wichtige Hintergründe des Anschlags für den Leser ungeklärt: Kurt Fraser selbst spekuliert darüber, ob der Fernsehsender ETV mit dem Anschlag etwas zu tun hat (vgl. OB, 329f.). Kontakte zwischen der Wiener Polizei und der rechten Terrorgruppe werden an mehreren Stellen im Text angedeutet. Zunächst lässt sich dieser Roman medienkritisch lesen, da er die extensive Gewaltdarstellung bzw. die „Wirklichkeitsproduktion“ durch das Medium Fernsehen problematisiert. Kurt Fraser, ein Katastrophenreporter, verdankt seine berufliche Karriere der Herstellung möglichst drastischer Gewaltaufnahmen von aktuellen Kriegsschauplätzen. Besonders deutlich zeigt sich dies im Bosnienkrieg zu Beginn der 90er Jahre. Fraser gelingt es, ein Mädchen zu filmen, das von einem Soldaten eine Granate erhält und dadurch zerfetzt wird. „Nach dem Granatenanschlag auf das Kind war meine Handkamera aber plötzlich mit Gold gefüllt, das ich keinem Risiko aussetzen wollte“ (OB, 165), stellt Fraser nüchtern fest, und er berichtet von der starken Nachfrage europäischer Fernsehsender nach solchen Szenen. Aufgrund seiner Fernsehkarriere entfernt sich Kurt Fraser stark von seinem Sohn Fred; als er ihn wieder stärker an sich binden will und ihm eine Stelle als Kameramann bei ETV verschafft, kommt er infolge seiner Arbeit beim Opernball ums Leben. Die interessante Pointe liegt nun darin, dass die Flut der Fernsehbilder vom Anschlag gerade nicht den Tod des Sohnes oder die Hintergründe der Tat aufklären kann. Daher muss Kurt Fraser im Roman zum Erzähler und Zuhörer (der Tonbänder) werden, um sich dem Unbegreiflichen anzunähern. „Seine Erzählung stellt wieder her, was seine professio
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nelle Bildvermittlung nie erreicht hat“ (Lengauer 1995, S. 107), so fasst eine Kritik diese Paradoxie des Textes treffend zusammen. Weiter entwickelt Opernball ein gesellschaftlich-politisches Bild Österreichs Mitte der 90er Jahre. Dabei spielt die wenig entwickelte Gedächtniskultur des Landes bzw. die noch andauernde Beschönigung der (NS-)Vergangenheit eine zentrale Rolle, die anhand zweier Figuren – Kurt Frasers Vater, einem jüdischen Emigranten, und dem alten Mathematikprofessor, einem Mitläufer des NSRegimes – thematisiert wird. Die rätselhafte Briefbombenserie, die Österreich zwischen 1993 und 1996 erschütterte und deren ein Jahr später gefasste Urheber Franz Fuchs, der sich mit den Ideen einer „bajuwarischen Befreiungsarmee“ gegen die angebliche Überfremdung des Landes wehren wollte, zeigt im Vorgehen und im ideologischen Umfeld zumindest Ähnlichkeiten mit dem von Haslinger geschilderten Anschlag auf den Wiener Opernball. Generell beschreibt Opernball die Omnipräsenz von Gewalt und verschiedenen Ressentiments in der österreichischen Gesellschaft, die sich vor allem seit dem Zerfall des Ostblocks 1989/90 in einer diffusen Angst gegenüber Ausländern niederschlagen. Mit der Wiener Staatsoper bzw. dem Opernball, dessen Tradition auf das frühe 19. Jahrhundert zurückgeht, beschäftigt sich der Roman mit einem zentralen Symbol österreichischer Identität und Geschichte. Indem er gerade dieses zum Schauplatz eines monströsen, rechtsextremen Anschlags werden lässt, unterläuft der Roman auf geschickte Weise etablierte politische Diskursmuster: Zum einen gibt es seit Jahrzehnten einen dezidiert linken Protest gegen den Opernball als Treffpunkt der Reichen und Mächtigen (gleichwohl wird diese Protestbewegung im Text selbst thematisiert), zum anderen bleibt letztlich zu fragen, weshalb sich der rechte Terror gerade gegen nationale Symboliken richtet, die nach 1989/90 zudem eine stärkere Aufwertung in der österreichischen Geschichtspolitik erfahren haben. Daneben ist Opernball auch als ein „Diskurs über Schuld“ (Colclasure, 1999, S. 110) zu verstehen. Neben der weitgehend ungeklärten Verantwortung für den Anschlag im Roman wird die Frage auf der Ebene der Protagonisten durchgespielt: Kurt Fraser reflektiert über seinen Anteil an der Schuld für den Tod seines Sohnes Fred, da seine Ehe gescheitert sei und er seine Vaterrolle lange Jahre nicht wahrgenommen habe (vgl. OB, 16f.). Als es Fraser schließlich gelingt, eine neue Bindung zu seinem Sohn aufzubauen, stirbt dieser während seiner Tätigkeit als Kameramann beim Anschlag auf den Opernball. Jetzt erkennt Fraser seine früheren Versäumnisse und möchte diese Schuld in Form einer ausführlichen Dokumentation über den Anschlag aufarbeiten: „Als er tot war, wollte ich ihn keinen Augenblick mehr alleine lassen, als könnte ich noch irgendetwas gut machen.“ (OB, 18) Wendelin Schmidt-Dengler sieht diese „prekäre Balance von Kindesrettung und Kindestod“ (Sonnleitner 2000, S. 60) in der Tradition von Adalbert Stifters
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Novelle Abdias. In engem Zusammenhang mit dem angesprochenen Schuldkomplex steht die im Roman mehrfach vorhandene Figur des gescheiterten Vaters (vgl. Colclasure 1999, S. 120ff.). Hier ist an erster Stelle der Protagonist Kurt Fraser zu nennen, aber ebenso dessen eigener Vater, der Wiener Kommunist und Emigrant in England, zu dem Fraser zeitlebens ein sehr distanziertes Verhältnis hat. In diese Reihe kann ebenso der greise Mathematikprofessor gestellt werden, dessen Karriere seit der NS-Zeit „auf die Vernichtung eines Freundes gebaut ist“ (OB, 367), und schließlich der Geringste, der Anführer der rechten Terrorgruppe, als der Ingenieur am Ende des Romans das Scheitern von dessen Ideenwelt eingestehen muss (vgl. OB, 471). Aus poetologischer Sicht kann der Roman Opernball laut Wendelin SchmidtDengler als das Ergebnis einer „umwegig entfalteten ästhetischen Reflexion“ gelten (Sonnleitner 2012, S. 67), die insbesondere in Haslingers Essayband Hausdurchsuchung im Elfenbeinturm (= HiE) aus dem Jahr 1996 zum Ausdruck kommt. Darin beklagt Haslinger die in der deutschsprachigen Kultur immer noch vorhandene „Arroganz der kulturellen Eliten gegenüber den populären Künsten und der Massenkultur“ (HiE, 94) und stellt für seine eigene schriftstellerische Arbeit den „emphatischen Begriff der Subjektivität“ (HiE, 121) in den Mittelpunkt. Insgesamt plädiert Haslinger mit aller Vorsicht dafür, eigene politische Wahrnehmungen beim Schreiben nicht auszublenden, da jede künstlerische Äußerung einer Öffentlichkeit bedürfe, und deren Zustand dem Künstler folglich nicht egal sein könne (vgl. HiE, 134). Insofern wäre Opernball – wie häufig in Kritiken konstatiert – als ein an amerikanische Vorbilder angelehnter Politthriller zu bezeichnen, der ein politisch-aufklärerisches Anliegen verfolgt.
3 Rezeption und Folgen Der Roman geriet nach seinem Erscheinen schnell auf die Bestsellerlisten, in den drei ersten Jahren wurden 200.000 Exemplare allein im deutschsprachigen Raum verkauft (vgl. Wischenbart 2006, S. 5). Es folgten Übersetzungen in alle wichtigen europäischen Sprachen. 1998 entstand eine aufwändige Verfilmung für das deutsche und österreichische Fernsehen. Die Literaturkritik war in der Grundtendenz positiv, das „kunstreiche Erzählmuster“ (Christ 1995, S. 154) des Textes wurde hervorgehoben; die Aktualität und Relevanz des verhandelten Themas nicht nur für Österreich betont Alexander von Bormann in seiner Rezension (vgl. von Bormann 1995, S. 95). Andere hingegen sahen eher einen „Professoren-Vergangenheits-Bewältigungsroman“, der mit seiner „Überdidaktisierung“ bzw. seinen Übertreibungen dem Leser zu viel zu erklären versuche (Lengauer 1995, S. 109). Gerade dem Figurenensemble des Romans werden „lieblos alle nur verfügbaren
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Klischees über[ge]stülpt“ stellte der österreichische Essayist Karl Markus Gauß in seiner Besprechung fest (Gauß 1995, S. 97). Haslingers nachfolgender Roman Das Vaterspiel (2000), der sich wiederum mit dem Nachleben der NS-Zeit in Österreich beschäftigte, wurde von der Literaturkritik wesentlich kritischer aufgenommen.
Literatur Haslinger, Josef: Das Vaterspiel. Frankfurt/M.: Fischer 2000. Haslinger, Josef: Hausdurchsuchung im Elfenbeinturm. Essay. Frankfurt/M.: Fischer 1996. Haslinger, Josef: Opernball. Frankfurt/M.: Fischer 1995.
Sekundärliteratur Acker, Robert: The Question of Cultural Identity in Josef Haslinger’s Opernball. In: Modern Austrian Literature (1999), H. 3, S. 100–108. Bormann, Alexander von: Aufklärende Unterhaltung. In: Literatur und Kritik 293/294 (1995), S. 94–95. Christ, Richard: Die Großwildjäger und ihr Publikum. In: Neue Deutsche Literatur (1995), H. 4, S. 152–155. Colclasure, David L.: „Die eigene Zukunft ist nur über den Verrat zu erlangen“ – Josef Haslingers Opernball. In: Modern Austrian Literature (1999), H. 3, S. 109–132. Gauß, Karl Markus: Unterhaltsame Ablenkung. In: Literatur und Kritik 293/294 (1995), S. 96–97. Lengauer, Hubert: Josef Haslinger Opernball. In: Wespennest 99 (1995), S. 106–110. Sonnleitner, Johann (Hg.): Wendelin Schmidt-Dengler: Bruchlinien II. Vorlesung zur österreichischen Literatur 1990 bis 2008. Sankt Pölten: Residenz 2012. Thorpe, Kathleen: Die Apokalypse im zeitgenössischen Roman. Millenarismus im Roman Opernball von Josef Haslinger. In: Ernest W.B. Hess-Lüttich (Hg.): Der Gott der Anderen. Interkulturelle Transformationen religiöser Traditionen. Frankfurt/M.: Peter Lang 2009, S. 147–160. Wischenbart, Rüdiger: Eintrag „Josef Haslinger“, In: KLG, hg. v. Heinz Ludwig Arnold. München, Text + Kritik 2006, S. 1–11.
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Hettche, Thomas: Nox. Roman (Frankfurt/M.: Suhrkamp) 1 Entstehung und Kontext Thomas Hettche (*1964) studierte Philosophie und Germanistik in Frankfurt am Main und war in den frühen 1990er Jahren als freier Schriftsteller und Journalist tätig. 1989 erschien sein Debütroman Ludwig muß sterben, 1992 folge der Prosaband Inkubation. In den 1980er Jahren wurde er zweimal mit dem Preis des Jungen Literaturforums Hessen ausgezeichnet. Bis 1995 folgten der HungertuchPreis (1987), der Preis der Kärntner-Industrie beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb (1989), der Rauriser Literaturpreis (1990), der Robert-Walser-Preis (1990) sowie der Ernst-Robert-Curtius-Förderpreis für Essayistik (1994). Von 1995 bis 1999 war er Mitglied der Jury des Klagenfurter Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs (vgl. Kozlowski 2007, S. 1). Nox (= N) ist sein zweiter Roman und wurde von Christian Döring für den Suhrkamp Verlag lektoriert. Er wurde bisher ins Spanische, Japanische, Niederländische und Französische übersetzt. Der Text markiert den Übergang vom stark metareflexiv und dekonstruktivistisch geprägten frühen Erzählen Hettches hin zu einem mehr wirklichkeitsbezogenen Schreiben (vgl. Kozlowski 2007, S. 5 f.).
2 Inhalt und Analyse Nox beginnt mit der Ermordung eines Autors – der namenlosen Erzählerfigur des Textes – durch eine unbenannte weibliche Figur am Nachmittag des 9. Novembers 1989. Ohne Erinnerung irrt die Mörderin im Anschluss an die Tat durch den städtischen Raum Berlins und sucht nach ihrer verlorenen Identität: „Welchen Namen, dachte sie, hat das Ding, das ich bin?“ (N, 43) Begleitet wird sie von einem geflohenen Grenzhund, der ihr am Ende des Romans ihren Namen zuflüstert, sowie von verschiedenen Figuren, die ihr während ihres Streifzugs in der Nacht des Mauerfalls begegnen: Lara Matern und der verstümmelte Masochist David, die Kellnerin Wibke und ihr Freund Christian Kirchberger, der Filmemacher Hajo Schween und sein Geräusche imitierender Sound-Assistent, Senatsmitglied Dr. Ewald Roll sowie die Ostdeutschen Heiko und Heike. Parallel zu den Geschehnissen um die Figur der Mörderin werden unfokalisiert Ereignisse des Tages eingeflochten, zum Teil als montierte Zeitdokumente. Der Tod des Ich-
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Erzählers – mit dem der von Roland Barthes eingeführte Topos vom ‚Tod des Autors‘ aufgerufen wird – erscheint hierbei als Bedingung eines scheinbar allwissenden Erzählens, als Angleichung der Physis des Autors an die Gegenständlichkeit einer sprachexternen Welt: Nur, wenn man tot ist, hört man, wie in einer Stadt alles die Steine zerfrißt. Nun den Dingen gleich, öffnete die Stadt sich hinein in meinen Kopf und mein Körper reflektierte ihren Lärm. (N, 27)
Im vorletzten Kapitel des Romans laufen alle Erzählstränge in der Berliner Charité zusammen, wo Carl Matern, Ehemann Laras und Direktor des Instituts für Pathologische Anatomie, die von Rudolf Virchow initiierte medizinhistorische Sammlung menschlicher Missbildungen betreut. Im „Theater der Anatomie“ (N, 122) kommt die Schilderung sadomasochistischer Rituale und sexueller Ausschweifungen, die den Wenderoman durchzieht, unter Einbezug aller Figuren zu einem Höhepunkt. Die Erzählung endet mit der Auferstehung des toten Erzählers, der zum Schluss den Namen der Protagonistin erfährt. Besonderes Kennzeichen des Textes ist seine ungewöhnliche Erzählsituation: Mit dem Einsetzen des detailliert beschriebenen Verwesungsprozesses wird die interne Fokalisierung der homodiegetischen Erzählinstanz zu einer Nullfokalisierung transformiert: Der ‚auktoriale Ich-Erzähler‘ berichtet fortan parallel von der Verwesung des eigenen, hermaphroditischen Körpers (vgl. Schößler 1999, S. 174), vom Streifzug der Mörderin durch die Wendenacht sowie von den medial vermittelten historisch-gesellschaftlichen Ereignissen des 9. November 1989. Die Körperlichkeit bildet hierbei eine Sinnebene, auf der gesellschaftlich-politische und medizinische Bezüge, individuelle wie kollektive Aspekte der Erzählung kurzgeschlossen werden. Der verwesende Leichnam des Erzählers, der beschriftete und verstümmelte Körper Davids, der weibliche Körper der Mörderin, deren Haut als „Topographie eines Krieges“ (N, 115) beschrieben wird, sowie die Sammlung von Monstrositäten in der Charité bilden ein instabiles System aus wechselseitigen, metaphorischen und metonymischen Bezügen, das mit den zentralen Metaphern des Romans korrespondiert: mit der Berliner Mauer als Narbe, dem Mauerfall als Aufklaffen der Wunde des monströsen Körpers der Stadt Berlin und der Wiedervereinigung als schmerzhaftem und masochistischem sexuellen Ritus:
Staunend sah sie zu, wie entlang der Mauer die Narbe, die mitten durch die Stadt lief, aufbrach wie schlecht verheiltes Gewebe. Wie man gleißend die Stelle ausleuchtete und eilig Wundhaken hineintrieb. Blitzenden Stahl ins Fleisch, um das unter der Anspannung blutleere und weißglänzende Bindegewebe der Narbe, die seit Jahrzehnten verheilt schien, nun vollständig aufzureißen. (N, 79)
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In dieser Hinsicht kann Nox als Allegorie auf die Überwindung der deutschen Teilung gelesen werden. Die Körpermetaphorik erlaubt es, hierbei die Themenfelder ‚Schmerz‘ und ‚Erinnerung‘, ‚Macht‘ und ‚Unterwerfung‘ zueinander in Beziehung zu setzen und dadurch psychosoziale und mythopoetische Tiefenschichten des politischen Vereinigungsprozesses sichtbar zu machen. Der Wunsch nach Wiedervereinigung wird etwa auf den platonischen Mythos von den Kugelmenschen bezogen, den Aristophanes in Platons Symposion berichtet. Vom Grenzhund, der als Mythenerzähler auftritt, erfährt der wiederauferstandene Autor am Ende des Romans die Geschichte vom Schnitt durch die Körper der „vollkommene[n]“ (N, 136), geschlechtlich nicht differenzierten Ur-Wesen und vom Eros als Mangelphänomen, das den Drang nach Wiedervereinigung begründet. Die Wiedervereinigung Deutschlands folgt nach dieser Metaphorik einer regressiven Ursprungsphantasie, die der Text an die platonische Liebestheorie koppelt: Ihre wahnsinnige Sehnsucht verwandelte und linderte sich in das, was ihr Liebe nennt. Den nicht endenden Versuch, die Wunde zu heilen, sagte der Hund. Dann schwieg er. (N, 136)
Die allegorischen Funktionen der Figuren kommen in der Schlüsselszene im „Theater der Anatomie“, dem Sektionssaal der pathologischen Anatomie in der Berliner Charité, pointiert zum Ausdruck. Die Protagonistin, die mit der Durchtrennung der Kehle, der sinnstiftenden Instanz des Autorkörpers, ihre Identität verliert, wird in ein sadomasochistisches Ritual eingebunden, das von Carl Matern inszeniert wird. Hierbei wird sie sich des medialen Charakters ihres Körpers bewusst: Meine Haut ist die Topographie eines Krieges, dachte sie. Pläne und Intrigen, Grabenkämpfe, Partisanentrupps, Bündnisse und Übergabeforderungen haben auf ihr Platz. Meine Haut ist das Gelände einer Schlacht, deren Verlauf ich nicht begreife. […] Doch immer lesbarer wird die Schrift, dachte sie und sah, wie die Feuchtigkeit um Davids Mund glänzte. (N, 116)
Schließlich wird sie gefesselt und an Haken gemeinsam mit dem Masochisten David aufgehängt, dessen Körper mit masochistischen Parolen beschriftet ist: „Ich lasse in meinen Mund scheißen und pissen. Schlagt mich hart.“ (N, 86) Die angestrebte Vereinigung zwischen den beiden Körpern, die als Chiffren für Ost und West gelten können, ist nur unter Schmerzen möglich, da Davids Penis durch einen Schnitt verstümmelt wurde (N, 39). Die Geschichte der Wiedervereinigung wird so zur Geschichte eines sadomasochistischen Rituals, nach dessen Vollzug die sinnstiftende Instanz des Autors wiederaufersteht und die Protagonistin ihre Identität wiedererlangt. Eine eindeutige Auflösung der Allegorie verhindert der Text durch die Vielschichtigkeit der reziproken Sinnbezüge und die komplexe Inszenierung von Paradoxien.
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Der diskursiv dominante Mythos von der gewaltfreien Wiedervereinigung Deutschlands wird mit der Repräsentation der Wende durch verletzte, monströse Körper und sadomasochistische Praktiken subvertiert. Dies deckt sich mit einer Bestimmung von Literatur als kritischem Medium, die Thomas Hettche an anderer Stelle formuliert hat. Literatur kann nach Hettche beschreiben, unter welchen Koordinaten wir wahrnehmen, kann zum Beispiel den ideologischen Charakter von Bildern zeigen, und genau das ist ihre Aufgabe (zit. n. Deupmann 2003, S. 214).
So zeigt Nox am Beispiel der Monstrositätensammlung Rudolf Virchows etwa die Verwurzelung der Wissenschaftlichkeit im mythischen Aberglauben und bringt zugleich das analytische Potenzial mythischer Referenzen zur Geltung. Hierdurch wird die Entgegensetzung von Mythos und moderner Rationalität, typisch für die Literatur der 1980er Jahre (vgl. Schößler 1999), tendenziell unterlaufen. Bilder aus der abendländischen Mythentradition werden gleich zu Beginn des Romans aufgerufen, als der Ich-Erzähler der Protagonistin zum ersten Mal begegnet. Die weibliche Figur fühlt sich durch einen Annäherungsversuch des Erzählers beschämt und geht zum Angriff über: Dann griff sie schnell, wie nach einer Waffe, was ihr zur Hand war, das Glas auf der Brüstung und schüttete mir den Wein ins Gesicht. Jetzt erzähl nur, du habest mich so gesehen. Wenn du noch erzählen kannst. (N, 20)
Diese Stelle zitiert eine Passage aus Ovids Metamorphosen, in welcher der Jäger Aktäon gegenüber der Göttin Diana unbeabsichtigter Weise eine Schamgrenze überschreitet, indem er sie beim Baden beobachtet (vgl. Deupmann 2003, S. 193 f.). Ovids Text inszeniert damit eine paradoxe Erzählsituation, in welcher Aktäon, der einzige Zeuge des Geschehens, stirbt, und damit die Erzählung des Mythos auf extradiegetischer Ebene ermöglicht (vgl. Schößler 1999, S. 177 f.; Deupmann 2003, S. 193 f.). Durch die Parallelisierung dieser Erzählsituation wird Nox bereits eingangs an den Mythos zurückgebunden, mit dem Unterschied, dass der Text die Differenzierung zwischen extra- und intradiegetischen Bezugspunkten auflöst. Indem der Roman hierbei, etwa in einer Passage über elektronische Speichermedien (N, 43 ff.), die eigene Medialität mitreflektiert, wird die Ununterscheidbarkeit zwischen intra- und extradiegetischen Bezügen mit der Diagnose konfrontiert, dass es im medienhistorischen Kontext des Romans kaum mehr möglich ist, zwischen medial vermittelten und realen Ereignissen zu unterscheiden (vgl. Hollmer/Meier 1999; Deupmann 2003). Nox erzählt somit unter Rückgriff auf den Mythos und den Mediendiskurs der 1990er Jahre auch von der Problematik, das ‚Medienereignis Wende‘ literarisch zu repräsentieren.
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Gleichwohl lässt sich die Protagonistin nicht nur als Diana-, sondern auch als Germania-Figur lesen. Anders als die Jagdgöttin trägt sie deutliche Züge einer Kriegerin, die den Erzähler eigenhändig tötet. Das schwarze Haar (N, 137), der an vielen Stellen genannte rote Lippenstift (N, 119) und dessen goldener Kubus (ebd.) verweisen auf die deutschen Nationalfarben, so wie die Wagner-Referenzen des Textes (vgl. Deupmann 2003, S. 196) implizit das Bild der ‚Schlachtenjungfer‘ aufrufen. Indem an die Stelle der Mutterschaft der Germania aber die Tötung der sinnstiftenden Instanz des Erzählers unter Rückgriff auf Ovid tritt, wird die Konstruktion deutscher Identität unterlaufen. Der Mythos wird gegen die Konstruktion deutscher Geschichte in der Nachwendezeit kritisch in Stellung gebracht.
3 Rezeption und Folgen Von der Literaturkritik wurde Nox überwiegend positiv aufgenommen. Hettches Erzählen gilt zwar als eher theorielastig und akademisch – etwa mit Blick auf die narrative Einbindung von Roland Barthes’ These vom ‚Tod des Autors‘ – allerdings überwiegt das positive Echo auf die ästhetische Durchdringung der Tiefenschichten des ‚Wendeereignisses‘ (Schmidt 1995). Auf partielle Ablehnung stoßen lediglich die expliziten sexuellen Darstellungen sowie das damit verbundene hohe Maß an symbolischer Aufladung. Andreas Schäfer (1995, S. 162) spricht von einem Übermaß an „Sinnaufladung“ hinsichtlich des „pathetischen Blut-, Skalpell- und Sextheater[s]“ am Ende des Romans. Auch Achim Nuber (1995, S. 195) konstatiert, dass sich die „Darstellung abweichender Sexualität […] verselbständigt und zum Selbstzweck wird.“ Für Bernhard Imhalsy (1995) ist die Darstellung der deutschen Einheit „als mythische Heilung und heilige Nacht voll dunkler Bedeutung“ zwar, wie „manches andere in diesem Buch, höherer Blödsinn – grundiert vom Rauschen der Datenautobahnen“, als „literarisches Nachspiel zu dem, was man ‚Wende‘ nennt“, sei der Roman jedoch herausragend. In der Literaturwissenschaft stand zunächst eine poststrukturalistische Lesart des Romans im Mittelpunkt der Analysen. Der Text sei ein Konglomerat von Zeichen,
das seinen Zusammenhang aus der Motivähnlichkeit vor dem Hintergrund des Leitmotivs „Zerfall“ gewinnt und jede Reduktion auf eine stringente Aussage verweigert – Zeichen „streuen“ nun einmal und bilden ebenso latente wie emergente, nie jedoch stabile Sinnbeziehungen untereinander aus (Hollmer/Meier 1998, S. 130).
Hier werde am Beispiel der Wende mit einem „Verfahren der narrativen Umsetzung literatur- und zeichentheoretischer Metaphern“ experimentiert, „das Hettche bereits in seinem ersten Roman angewendet hat“ (Deupmann 2003, S. 197).
Hettche, Thomas: Nox
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Besonders hervorgehoben wurden, hieran anknüpfend, die „Selbstbeobachtung der eigenen Medialität“ (Deupmann 2003, S. 200) des Textes sowie die Auslotung der „Grenze zwischen Fiktion und Wirklichkeit, Imagination und Realisierung“ (Bischoff 2005, S. 132). Nox verbinde „Mythen und technische Bilder, Realitäts- und fiktionale Effekte zu einer impliziten Geschichte der modernen Bildmedien“ (Deupmann 2003, S. 212). Ein anderer Aspekt, der ebenfalls mit dem spezifischen Einsatz des Mythos zusammenhängt, allerdings nicht bei der Konstatierung einer strukturell unmöglichen Entschlüsselung der Allegorie stehenbleibt, betrifft die Funktion von Literatur als einer Alternative zur Identitätsbildung über Geschichtsschreibung:
Die Revokation des Mythos läßt Geschichte zu Körpererfahrung werden, die einen Gegenentwurf zur verbindlichen Geschichtsschreibung formulierbar macht. (Schößler 1999, S. 182)
Die Körpermetaphorik wird so etwa als Subversion des modernen ‚Mythos Stadtkörper‘ in der Tradition Alfred Döblins lesbar und verweist auf die Problematik einer literarischen Repräsentation der Stadt Berlin in der Zeit der Nachwende (vgl. Bischoff 2005, S. 131 f). Hierbei kommen zugleich Vertauschungen und Entdifferenzierungen genderspezifischer Implikationen der Stadt-Körper-Metaphorik der Moderne (vgl. Bischoff 2005, S. 132 ff) sowie der Erzählinstanzen (vgl. Schößler 1999, S. 174) in den Blick.
Literatur Hettche, Thomas: Inkubation: Frankfurt/M.: Suhrkamp 1992. Hettche, Thomas: Ludwig muß sterben. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1989. Hettche, Thomas: Nox. Roman. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1995.
Sekundärliteratur Basse, Michael: Tiefer Schnitt ins deutsche Fleisch. Thomas Hettches Roman aus der Nacht, in der die Mauer fiel. In: Süddeutsche Zeitung, 05.04.1995. Bischoff, Doerte: Berlin Cuts. Stadt und Körper in Romanen von Nooteboom, Parei und Hettche. In: Gegenwartsliteratur 4 (2005), S. 111–142. Brueggemann, Aminia: Identity Construction and Computers in Thomas Hettche’s Novel Nox. In: The German Quarterly 72/4 (1999), S. 340–348. Deupmann, Christoph: „Es gibt keine Spur mehr jenseits der Speicher.“ Zur Paradoxie von Sehen und Erzählen in Thomas Hettches Roman „Nox“. In: Robert André, Christoph Deupmann, (Hg.): Paradoxien der Wiederholung. Heidelberg: Winter 2003, S. 193–214.
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Hollmer, Heide, Albert Meier: „Wie ich das mit der Mauer hingekriegt habe.“ Der 9. November 1989 in Thomas Brussigs ‚Helden wie wir‘ und in Thomas Hettches ‚Nox‘. In: Jahrbuch der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung 1998. Darmstadt, Göttingen: Wallstein 1999, S. 112–131. Imhalsy, Bernhard: Das Atmen der Dinge, das Dröhnen des Sterbens. Thomas Hettches Roman „Nox“. In: Neue Zürcher Zeitung, 23.05.1995. Nuber, Achim: Thomas Hettche: Nox [Rezension]. In: Deutsche Bücher. Forum für Literatur 25/3 (1995), S. 194–195. Schäfer, Andreas: Technoworld oder Der Mensch jenseits von Körper und Seele [Rezension]. In: Neue deutsche Literatur 43/4 (1995), S. 159–162. Schmidt, Thomas E.: Einigkeit und Schmerz und Geilheit. Thomas Hettches bizarrer Roman über die Nacht, in der in Berlin die Mauer fiel. In: Frankfurter Rundschau, 21.03.1995. Schößler, Franziska: Mythos als Kritik. Zu Thomas Hettches Wenderoman ‚Nox‘. In: Literatur für Leser 22/3 (1999), S. 171–182.
Anmerkung: Der Autor dankt Dr. Thomas Hettche für die freundliche Auskunft bezüglich einiger Fragen im Abschnitt „Entstehung und Kontext“.
Heribert Tommek
Jelinek, Elfriede: Die Kinder der Toten. Roman (Reinbek b. Hamburg: Rowohlt) 1 Entstehung und Kontext Die Kinder der Toten (= KdT) entstand in einer Zeit, in der sich nicht nur in Deutschland, sondern auch in Österreich eine zunehmend offene Fremdenfeindlichkeit zeigte, die mit direkten Gewalt- und Mordhandlungen verbunden war. Bereits 1993 gab es eine Briefbombenserie und im Februar 1995 wurden vier Roma durch eine Sprengfalle getötet. Unter diesen Eindrücken schrieb Jelinek, die selbst im Rahmen einer Wahlplakatkampagne von der FPÖ diffamiert wurde (vgl. Janke 2002, S. 88–93), das Theaterstück Stecken, Stab und Stangl (1995), das daher zum direkten Kontext des Romans gehört. Die Auseinandersetzung mit der verdrängten faschistischen Vergangenheit prägt Jelineks gesamtes Werk. Schon 1989 – mit Blick auf ihr Stück Wolken.Heim. (UA 1988) – erklärte Jelinek: „Das ‚Gedächtnis des Bodens‘ hält die Toten nicht in der Erde. Sie kommen immer wieder herauf“ (Jelinek 1989, S. 32). Dieses Grundthema führt der Roman weiter und verknüpft es mit anderen Leitthemen wie Natur, Tourismus, Sport, Ge
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schlechterverhältnisse, Politik und Religion. Die Kinder der Toten hat Jelinek wiederholt als ihr Hauptwerk bezeichnet. 1996 wurde es mit dem Bremer Literaturpreis ausgezeichnet.
2 Inhalt und Analyse Schauplatz der Handlung ist die Pension „Alpenrose“ in der Steiermark. Die drei Hauptfiguren sind die Philosophiestudentin Gudrun Bichler, die sich die Pulsadern aufgeschnitten hat, der ehemalige Ski-Profi Edgar Gstranz, der mit seinem Sportwagen tödlich verunglückt ist, und Karin Frenzel, die zu Beginn des Romans bei einem Autounfall lebensgefährlich verletzt wird und später in einem Wildbach ertrinkt. Alle drei kehren als Untote wieder, wobei Jelinek zahlreiche Doppelgängerfiguren in den Text einführt. Die untoten, sich verwandelnden oder verdoppelnden Protagonisten treiben Sport (Edgar), kopulieren oder masturbieren, suchen die Urlaubsgäste der Pension heim, morden und begehen kannibalische Akte. Sie selbst werden immer wieder heimgesucht von den Toten der Shoah und ihren zeichenhaften Hinterlassenschaften (Züge, Rampe, Gas, Öfen, Schornsteine, Brillen und Gebisse, Zähne, Koffer, Haare). Als anscheinend apokalyptischer Abschluss des Romans wird die Pension samt der umliegenden Gegend von einer Schlamm-Mure erfasst und vollständig zerstört, wobei Unmengen Haar an die Oberfläche treten und in den Ruinen eine große Anzahl an Toten gefunden werden, die bereits seit sehr langer Zeit verstorben waren. Der Roman thematisiert die kollektive Verdrängung der NS-Vergangenheit Österreichs, die in den neunziger Jahren neu verhandelt wurde. Die intertextuellen Beziehungen reichen von Hans Leberts Anti-Heimatroman Die Wolfshaut (1960, 1991 neu aufgelegt), über Thomas Bernhards Roman Frost (1963) bis hin zu Herk Harveys legendärem Horrorfilm Carnival of Souls (1962). Freuds Konzept des Unheimlichen als Verdrängung (Freud 1982) erklärt die innere Verbindung zur gewählten Gattung, dem (Anti-)Heimatroman als Gespenstergeschichte. Jelinek verzichtet darauf, einen erzählbaren historischen Ereigniszusammenhang zu gestalten. Ihr Roman ist strukturell offen, weil er den verdrängten Faschismus in ein strukturelles Aussagemuster im Sinne von Roland Barthes’ Mythos-Begriff überführt (Barthes 1964, bes. S. 85; vgl. Janz 1997, bes. S. 230). Das verdrängte und wiederkehrende ‚Gespenst‘ des Faschismus, seine mythische, leere Aussagestruktur als „sekundäres semiologisches System“ (Barthes 1964, S. 92) füllt Jelinek immer wieder aufs Neue mit einer in der Gegenwart situierten ‚Schuld-Zeit‘ aus, die auf die Zukunft hin offen angelegt ist. Der Erzählaufbau ist nicht-linear, lässt aber eine ‚musikalische‘ Kompositionsform mit einer Exposition (Prolog), Durchführung (Kap. 1–17), Variation (18–
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26), Reprise (27–35) und Coda (Epilog) erkennen (vgl. Mertens 2008, S. 129f.). Wie spätestens seit Wolken.Heim. für Jelineks Schreiben charakteristisch, wird mit „Sprachflächen“ gearbeitet, die die Figuren, die im Roman selbst nicht sprechen, mittels einer sprach-assoziativen Ästhetik in einem kontinuierlich metamorphotischen Gestaltungsprozess entstehen lassen. Durch intertextuelle Verfahren werden Subjektpositionen zusammengesetzt und zugleich wieder ‚verflüssigt‘, wobei auch ihre gesellschaftlichen und medialen Bedingungen sprachlich in Erscheinung treten. Die Aufhebung der Grenze zwischen Leben und Tod impliziert nicht nur eine Entleerung, Verflüssigung und Auflösung der Subjektidentitäten, sondern auch einen fließenden und springenden Zeitverlauf. Insgesamt ist der ‚Erzählverlauf‘ des sich über 667 Seiten erstreckenden Romans in einer zeitlichen ‚Falte‘ zwischen dem Busunglück in den Bergen am Anfang und dem Muren-Abgang auf die Pension Alpenrose am Ende, zwischen denen ca. 12 Stunden liegen, situiert. Darüber hinaus ist der Roman von Zeit-Loops einer filmischen Erzählweise geprägt: einerseits im Sinne von Zeit-Falten, die die Figuren plötzlich in neue Zeiträume (vor- oder zurück-)springen lassen (z. B. Gudruns traumhalluzinativer Sprung vom Korridor der Pension in einen „Container“-Raum fünfzig Jahre zurück, in dem sie in einer verlassenen Straße vor verschlossene Läden tritt und nur noch Fußspuren der Vertriebenen im Schnee entdeckt; KdT, 161–163); andererseits arbeitet der Roman mit polyperspektivisch wiederholten Sequenzen und Zeitlupen nach Art von Fernseh- und Comicserien oder auch Sportberichterstattungen mit mehreren an der ‚Rennstrecke‘ aufgestellten Kameras (vgl. Mayer/ Koberg 2007, S. 201f.). Angesichts des Nachlebens antisemitischer, faschistischer und xenophobischer Denk- und Sprachmuster in der Gegenwart, die sich mit den Bildern und Diskursen der Medien, der Konsum- und Leistungsgesellschaft, schließlich mit der symbolischen Gewalt in den Geschlechterbeziehungen verbinden, lässt sich Jelineks Anliegen als Ideologiekritik der Gegenwartsgesellschaft und als Problematisierung des verdrängten und zugleich traumatischen Shoah-Gedächtnisses unter ‚kulturindustriellen‘ Verhältnissen verstehen. Deutlich ist die Frontstellung gegen ein repräsentatives Auschwitz-Gedächtnis, das angeblich im Namen der Opfer, tatsächlich aber in Zusammenhängen einer gesellschaftlichen Besetzung und Aufhebung steht:
das Wort, das keiner mehr hören mag: DER ORT IN POLEN. Oh Gott, sofort ein Kloster hineinstopfen! Eine Kirche! Eine Kapelle! Ein Dom! Nonnen! Schulen! Spitäler! Noch mehr Nonnen! Rasch die Gottesmörder mit der Gottesmutter verdrängen! (KdT, 632)
Dem gesellschaftlich besetzten Gedächtnis, das die Opfer als Einzelne erneut verdrängt, stehen die literarischen Selbstzeugnisse eines Jean Améry, Sarah
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Kofman oder Primo Levi gegenüber (vgl. ebd.). Diese Zeugnisse stehen aber im Begriff zu verstummen. Dem gesellschaftlich toten Gedächtnis hält der Roman zwei unterschiedliche Erinnerungsverfahren entgegen, die sich auf den Barock zurückführen lassen. Die erste Erinnerungsstruktur ist vertikaler Art, d. h. sie adaptiert in einer Allegorese die barocke Ästhetik der Wiederkehr der Toten aus der Unterwelt in einer ihrerseits untergehenden Welt (vgl. Schnell 2000). Im Unterschied zu Benjamins Allegorie-Konzept wie auch Hegels „Furie des Verschwindens“ verfolgt der Roman jedoch weder eine geschichtsphilosophische noch gar eine messianische Tiefendimension, sondern Jelineks allegorisches Verfahren situiert sich in einer programmatischen Ästhetik der ‚Seichtheit‘, der Oberfläche (vgl. Jelinek 1990). So heißt es an einer Stelle in Anspielung auf Benjamin, dass die Geschichte „immer schneller rückwärts“ laufe, und der Katastrophenengel wate „mit in Blut eingeweichtem und vor der Kamera mit Ariel Ultra gewaschendem [sic] Gewand vorwärts“ (KdT, 643). Die Allegorese des Romans arbeitet vor allem mit horizontalen Erinnerungsund Repräsentationstechniken, die über den Begriff der „Falte“ und der „Faltung“ – im Unterschied zu einer linearen Struktur – ebenfalls an den Barock anschließbar ist (vgl. Vogel 2006 mit Verweis auf Deleuze 2000). Der Roman ist zum einen von der „Falte“ als Motiv durchzogen − angefangen bei der MesusaGrafik über das zentrale Motiv der Gebirgswelt, in dessen ‚Faltung‘ sich das mit der Ideologie einer ‚bei sich seienden‘ kulturellen Subjekt-Identität Unvereinbare zeigt, bis hin zum Kapitel acht, in dem das Thema der Erinnerung bzw. des Vergessens der Shoah mit Gegenständen in Gudruns Zimmer verbunden wird, die an einer „Falzstelle“ abbrechen (vgl. KdT, 141–157, hier: 152). Andererseits ist er auch erzähltechnisch durch das Verfahren der ‚Faltung‘ geprägt (vgl. Vogel 2006, S. 16f.). Figuren, wie die der Gudrun Bichler, existieren nur in Form der horizontal in die Gegenwart eingefalteten Erinnerung, ohne zeitliches (archäologisches) oder existentielles Tiefenfundament. Die Darstellung eines in der Gegenwart verschachtelten Geschichtsraumes ist schließlich geschlechtsabhängig (vgl. Kyora 2001): Denn im Roman, in dem es an einer Stelle heißt, dass der „Geschichtsraum […] eigentlich ein Geschlechtsraum“ sei (KdT, 266), ‚falten‘, d. h. vervielfältigen und spiegeln sich vor allem die Frauen (Gudrun und Karin) in ihrer deformierten und als ‚Fremde‘ ausgegrenzten Nicht-Identität. Dagegen bleibt der Mann (Edgar) als ruheloser Wiedergänger ‚bei sich‘ und strebt der Weiterführung seiner noch nicht abgeschlossenen, durch den Autounfalltod vorzeitig abgebrochenen Sportler-, d. h. Macher- und Phallus-Identität nach. Das ‚halbfertige‘, zombiehafte männliche Prinzip versucht seine Identität durch den permanenten, leer zirkulierenden Bewegungs-, Kopulations- und Onanierungsdrang zu füllen. Dabei dient ihm die Frau als Projektionsfläche. Sie hat eine unfertige Nicht-Identität und ist zugleich
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ein anderes, ein zur Passivität verurteiltes „Unwesen dritter Ordnung, dem etwas verkündet ist“ (KdT, 245). Dabei korrespondiert die Nicht-Identität der Frauen strukturell gesehen mit derjenigen, die ‚nicht (mehr) bei sich‘, aber doch anwesend sind: sowohl die Opfer der Shoah in der Vergangenheit als auch die ausgegrenzten oder zum Verschwinden gebrachten Fremden der Gegenwart (vgl. Kyora 2001, S. 52). In Karins Existenz einer Oberflächen-Überblendung von Original und Kopie (vgl. KdT, 350) in einer endlosen Serie des Sterbens und Wiederauferstehens ist ein „kinematographischer Gedächtnisraum“ angelegt, „in dem es von Todesarten nur so wimmelt“ (Arteel 2010, S. 161). In diesem Punkt überschneidet sich das Dilemma der Schattenexistenz von Karin mit demjenigen der Shoah-Opfer: Ihre existentielle ‚Wahrheit‘ existiert nur noch in einer medial flimmernden Vermittlung, die eine gefestigte Individualität und Authentizität verweigert. Die „Höhle“ Platons mit dem Schattenspiel der Wahrheit ist bei Jelinek zur Flimmerkiste des Fernsehers mit ihren Serienfiguren geworden (vgl. KdT, 446–462). Fünfzig Jahre nach Kriegsende lässt das gesellschaftlich besetzte und medial vermittelte Gedächtnis die Opfer als Menschen verschwinden und als Schatten repetitiv weiterleben. Damit stellt sich die Frage nach dem Verhältnis zwischen den Toten der Vergangenheit und den Untoten der Gegenwart, die schon mit der den Roman eröffnenden hebräischen Inschrift der Mesusa-Grafik aufgeworfen wird und übersetzt lautet: „Die Geister der Toten, die solange verschwunden waren, sollen kommen und ihre Kinder grüßen“. Geht man von den Protagonisten als Allegorisierungen herrschender Identitäts-Prinzipien in der Gegenwartsgesellschaft Österreichs aus, so sind die „Kinder der Toten“ nicht nur die Kinder der Opfer, sondern auch die der Täter. Diese paradoxe, ‚monströse‘ Verbindung bestätigt sich, wenn der Roman an verschiedenen Stellen suggeriert, dass die Geister der Shoah-Opfer die Untoten der Gegenwart, die Nachfahren der Täter, als Medium brauchen, um ihren Geist wieder mit einem Körper zu vereinen: In dieser Figur der körperlichen ‚Heimsuchung‘ ist sowohl das Schauerlich-Monströse als auch der Verweis auf das Versöhnliche angelegt: die versöhnende Verbindung des ruhelosen Geistes der Opfer, die im wörtlichen wie im übertragenen Sinne des Gedächtnisses ihres Körpers beraubt worden sind, mit den leeren, sinnlos sich ihrer Identität bestätigenden oder suchenden Körpern der Täter. Allerdings ist die körperliche Auferstehung der Toten im Roman wiederum gebrochen: Als Gudrun und Edgar in den Totengrund absteigen, werden sie zwar zum ‚Einfallstor‘ für die vergessenen toten Opfern, jedoch wollen diese gerade durch ihre Kleider zum Leben zurück kommen (KdT, 462). Das Motiv der Kleider verweist weniger auf eine körperlich-substanzielle Auferstehung als auf eine mediale Auferstehung der Bildlichkeit bzw. der Sprachlichkeit in einer Oberflächenästhetik. Damit ist die Aufgabe der Versöhnung, den Toten in der Gegenwart ein Leben, eine Stimme und ein ‚Kleid‘ zu geben, wiederum strukturell offen gehalten.
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3 Rezeption und Folgen Die Verknüpfung des verdrängten Faschismus-Themas mit den komplexen Formen einer Oberflächenästhetik und der horizontalen Erinnerungstechnik hat dem Roman schnell den Ruf der Unlesbarkeit eingebracht. Tatsächlich blieb er von der zeitgenössischen Literaturkritik auch weitgehend ungelesen und unverstanden. Auch in der Literaturwissenschaft haben sich zunächst wenige Untersuchungen mit diesem Roman intensiver auseinandergesetzt. Bald wurde allerdings Jelineks Aussage, dass es sich um ihr Hauptwerk handle, bestätigt. Im Zentrum der Studien steht die Gestaltung des Untoten und des Gedächtnisses. In der Forschung zu Shoah und Gedächtnis herrscht Konsens, dass der Roman versucht, den Opfern einen Platz im kulturellen Gedächtnis einzuräumen (Gsoels-Lorensen 2006, Wilson 2006). Jedoch bleibt eine gewisse Reserviertheit gegenüber Jelineks „tobsüchtige[r] Totenwache“ (Birkmeyer 2006), die vermeintlich die Grenze zwischen Tätern und Opfern und die Einzigartigkeit des jüdischen Völkermordes zu verwischen droht. Die Frage nach dem (moralisch-ethischen) Verhältnis zu den Opfern stellt sich auch im Zusammenhang mit der Intertextualität des Romans (Pontzen 2008). Die für Jelineks Schreiben allgemein charakteristischen intertextuellen Verfahren werden romanspezifisch als eine räumliche „Poetologie der Erinnerung“ im Sinne Renate Lachmanns gedeutet (Ortner 2010). Die Verfahrensweisen der Bildfindung zielen in dieser Perspektive auf ein Simulakrum, das sich jeder substantiellen Vereinnahmung verweigert. Dagegen sieht eine ideologiekritische Lesart gerade in der Ausstellung und Anwendung alltagsmythischer Verfahren die Destruktion des Mythos historischer „Unschuld“ (Janz 1997). Hieran schließt eine feministische Rezeption an, die die geschlechtsspezifische Kodierung des Gedächtnisraumes und der ‚untoten Identitäten‘ im Roman betont (Kyora 2001). In den letzten Jahren erfährt der Roman eine zunehmende Wertschätzung. Schnell sieht seine besondere Bedeutung „in der Rückgewinnung der Allegorie für das Erzählen“ (Schnell 2000, S. 252). Der Roman stehe für eine ganz neue Art der „Vermittlung von Mythos und Geschichte“, die einen mit James Joyces Finnegans Wake vergleichbaren Rang habe (Schnell 2010, S. 169). Der Roman gilt vor allem aufgrund seiner radikalen Ästhetik der (Ober-)Fläche, die feste Identitätsund Differenz-Setzungen überwindet, als wegweisend (Vogel 2006, Eder/Vogel 2010):
Diese Wiederkehr einer barocken, d. h. durch bewegliche Gesichtspunkte bestimmten Semiotik, die sich grenzenlos fortpflanzt, ohne zur Ruhe zu kommen, wird mit einem präzisen historischen Index versehen. Solange die Ermordung der Juden verdrängt bleibt, misslingt die Schaffung einer symbolischen Ordnung (Vogel 2006, S. 22).
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Insgesamt spiegeln Die Kinder der Toten ein in den neunziger Jahren situiertes und bis heute sowohl in der Gesellschaft als auch in der Literaturwissenschaft andauerndes Ringen um das Gedächtnis der Toten und um seine Hermeneutik bzw. Anti-Hermeneutik.
Literatur Jelinek, Elfriede: Die Kinder der Toten. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt [1995] 2004. Jelinek, Elfriede: „Ich will kein Theater – ich will ein anderes Theater“. Gespräch mit Anke Roeder, in: Theater heute, 1989, H. 8, S. 30–32. Jelinek, Elfriede: „Ich möchte seicht sein“. In: Christa Gürtler (Hg.): Gegen den schönen Schein. Texte zu Elfriede Jelinek. Frankfurt/M.: Neue Kritik 1990, S. 157–161.
Sekundärliteratur Arteel, Inge: Der Kampf um das Bild. Elfriede Jelineks Die Kinder der Toten im Dialog mit Franz Kafka und Gilles Deleuze. In: Eder/Vogel (Hg.): Lob der Oberfläche, S. 153–167. Barthes, Roland: Mythen des Alltags. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1964. Birkmeyer, Jens: Elfriede Jelinek. Tobsüchtige Totenwache. In: Norbert O. Eke, Hartmut Steinecke (Hg.): Shoah in der deutschsprachigen Literatur. Berlin: Erich Schmidt 2006, S. 302–310. Deleuze, Gilles: Die Falte. Leibniz und der Barock. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2000. Eder, Thomas, Juliane Vogel (Hg.): Lob der Oberfläche. Zum Werk Elfriede Jelineks. München: Fink 2010. Freud, Sigmund: Das Unheimliche. In: Ders.: Studienausgabe, Bd. IV, Frankfurt/M.: Fischer 1982, S. 241–274. Gsoels-Lorensen, Jutta: Elfriede Jelinek’s Die Kinder der Toten: Representing the Holocaust as an Austrian Ghost Story. In: The Germanic Review 81/4 (fall 2006), S. 360–382. Janke, Pia (Hg.): Die Nestbeschmutzerin. Jelinek & Österreich. Salzburg, Wien: Jung & Jung 2002. Janz, Marlies: „Die Geschichte hat sich nach 45 entschlossen, noch einmal ganz von vorne zu beginnen …“. Elfriede Jelineks Destruktion des Mythos historischer ‚Unschuld‘. In: Daniela Bartens, Paul Pechmann (Hg.): Elfriede Jelinek. Die internationale Rezeption. Dossier Extra. Wien, Graz: Droschl 1997, S. 225–238. Kyora, Sabine: Untote. Inszenierungen von Kultur und Geschlecht bei Elfriede Jelinek. In: Hanjo Berressem, Dagmar Buchwald, Heide Volkening (Hg.): Grenzüberschreibungen: „Feminismus“ und „Cultural Studies“. Bielefeld: Aisthesis 2001, S. 35–53. Mayer, Verena, Roland Koberg: Elfriede Jelinek. Ein Porträt. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 2007. Mertens, Moira: Die Ästhetik der Untoten in Elfriede Jelineks Roman „Die Kinder der Toten“ (Magisterarbeit an der Humboldt-Universität zu Berlin. Berlin 2008; http://www.univie.ac. at/jelinetz/images/b/bc/Mertens.pdf) Ortner, Jessica: Intertextualität als Poetologie der Erinnerung – eine Annäherung an Elfriede Jelineks Roman Die Kinder der Toten. In: Text und Kontext 32 (2010), S. 95–120.
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Jirgl, Reinhard: Abschied von den Feinden
Pontzen, Alexandra: Pietätlose Rezeption? Elfriede Jelineks Umgang mit der Tradition in Die Kinder der Toten. In: Sabine Müller, Cathrin Theodorsen (Hg.): Elfriede Jelinek − Tradition, Politik und Zitat. Wien: Praesens 2008, S. 51–69. Schnell, Ralf: „Ich möchte seicht sein“ − Jelineks Allegorese der Welt: Die Kinder der Toten. In: Waltraud Wende (Hg.): Nora verläßt ihr Puppenheim. Autorinnen des zwanzigsten Jahrhunderts und ihr Beitrag zur ästhetischen Innovation. Stuttgart, Weimar: Metzler 2000, S. 250–267. Schnell, Ralf: Stoffwechselprozesse. Oberfläche und Tiefenstruktur in Elfriede Jelineks Roman Die Kinder der Toten. In: Eder/Vogel (Hg.): Lob der Oberfläche, S. 169–179. Vogel, Juliane: „Keine Leere der Unterbrechung“ − Die Kinder der Toten oder der Schrecken der Falte. In: Modern Austrian Literature 39/3–4 (2006), S. 15–26. Wilson, Ian W.: Greeting the Holocaust’s Dead? Narrative Strategies and the Undead in Elfriede Jelinek’s „Die Kinder der Toten“. In: Modern Austrian Literature 39/3–4 (2006), S. 27–55.
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Jirgl, Reinhard: Abschied von den Feinden. Roman (München: Hanser) 1 Entstehung und Kontext Nach der „Wende“ hatte man erwartet, dass Autoren aus der DDR bislang unveröffentlichte Manuskripte aus der Schublade ziehen würden. Diese Erwartung erfüllte sich nur selten. Einer der Autoren, die tatsächlich mehrere unveröffentlichte Texte bereit hielten, war der bis dahin kaum bekannte Reinhard Jirgl (geb. 1953). Der Roman Abschied von den Feinden (= AF) wurde zwar erst nach der „Wende“ geschrieben, brachte aber für den Autor den literarischen Durchbruch. Jirgl, der von Heiner Müller schon in den achtziger Jahren gefördert wurde, aber noch immer als Techniker an der Berliner Volksbühne arbeitete, kündigte und widmete sich von nun an ganz seiner Schreibleidenschaft. Er erhielt zahlreiche Preise, unter anderem 1993 den Alfred-Döblin-Preis, 1999 den Joseph-BreitbachPreis, 2006 den Bremer Literaturpreis, 2010 den Georg-Büchner-Preis und 2011 den Sudetendeutschen Kulturpreis für Literatur.
2 Inhalt und Analyse Der Plot des Romans ist in gewisser Weise der eines kriminalistischen Psychothrillers. Retrospektiv wird von zwei Brüdern und ihrer Beziehung zu ein und derselben Geliebten erzählt, die auf mysteriöse Weise umgebracht wurde. Im Ost-
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Berlin der fünfziger Jahre geboren, werden die Brüder im Kindesalter von ihren Eltern gewaltsam getrennt. Der Vater war zuvor in den Westen geflohen und die Mutter wird infolgedessen vom Staat psychisch unter Druck gesetzt und schließlich in eine Psychiatrie verschleppt. Das Eindringen der Staatsmacht in den Familienraum – fremde Männer reißen die Mutter gewaltsam aus der Küche mit sich fort – durchzieht als traumatisches Urerlebnis in der Erinnerung des älteren Bruders den Roman (vgl. AF, 47–52). Die nun vater- und mutterlosen Kinder kommen zunächst in ein staatliches Kinderheim. Danach werden sie von einem aus dem Sudetenland vertriebenen Ehepaar adoptiert. In einer Mecklenburgischen Kleinstadt wachsen sie in einer kleinbürgerlichen, moralistischen Enge auf. Im Alter von sechs und zehn Jahren weist man die beiden Brüder wieder der inzwischen in Ost-Berlin lebenden Mutter zu. Wenige Jahre vor dem Mauerfall wiederholt sich schließlich der wie ein Fluch auf der Familie lastende Verrat: Der ältere Bruder flüchtet in den Westen und lässt seine Geliebte, im Roman „die Füchsin“ genannt, zurück. Diese beginnt daraufhin ein kurzes Verhältnis mit dem jüngeren Bruder, heiratet dann aber den einflussreichen Chefarzt einer Ostberliner Klinik, der ihr zunächst ein gutes Leben ermöglicht, sich jedoch nach der Geburt zweier Kinder ihrer durch Einweisung in eine Psychiatrie entledigt und ihr das Sorgerecht entziehen lässt. Es stellt sich heraus, dass er für die Staatssicherheit arbeitet. Nach ihrem Psychiatrie-Aufenthalt zieht „die Füchsin“ in die Kleinstadt zu den Adoptiveltern der beiden Brüder und lebt dort allein, bis sie im Jahr des Mauerfalls unter ungeklärten Umständen ermordet wird. Aus diesem Grund fährt der ältere Bruder wieder in den verhassten Ort seiner Kindheit im mittlerweile wiedervereinigten Deutschland, um sich über das Zustandekommen seines Schicksals, das untrennbar mit dem Fluch seiner Familie zusammenhängt, klar zu werden. Nach und nach zeichnen sich die Umstände des Mordfalles ab: Offenbar hat der jüngere Bruder, der als Arzt gescheitert war und sich als StasiSpitzel verpflichtet hatte, im Auftrag des Chefarztes und Ex-Mannes die „Füchsin“, seine ehemalige Geliebte, ermordet. Da er daraufhin von einer Klippe herabgestürzt war, liegt er nun im Krankenhaus. Der ältere Bruder besucht ihn dort und schneidet ihm aus Rache die Kehle auf. Der im Krankenhaus sterbende jüngere Bruder und der auf dem Rückweg nach Berlin im Zug sitzende ältere Bruder, in Fotos der Vergangenheit versenkt, bilden also die Ausgangspunkte der retrospektiven Erinnerungen. Schließlich endet der Roman mit dem Ausstieg des älteren Bruders aus dem auf freiem Feld stehenden Zug. Dieser Ausstieg bildet die Grundlage für die Fortsetzung der Geschichte in Jirgls zweitem Roman Hundsnächte (1997). Grundlage von Jirgls Schreiben ist eine sprach- und kulturphilosophische Theorie, die sich im Zeichen Nietzsches und Foucaults als Archäologie oder Genealogie einer Sprache der staatlichen, religiösen, moralischen, wissenschaftli-
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chen und technologischen Macht versteht. Die experimentelle, ‚alphanumerische‘ Schreibform, die bei vielen Lesern Befremden ausgelöst hat, erläutert Jirgl im Romananhang (AF, 325–328). Deren philosophische und ästhetische Implikationen, die er später in dem Essay „Die wilde und die gezähmte Schrift“ in einem großen kulturphilosophischen Entwurf dargelegt hat (vgl. Jirgl [2004] 2008), betonen den bild-materiellen, körperlich-allegorischen Charakter der Sprache. Dieser sei in der Geschichte der Verschriftlichung einem Rationalisierungs- und Disziplinierungsprozess unterworfen worden. Die Zeichen der Gewalt- und Machtdiskurse seien in einer schriftbildlichen Spur gespeichert. „Zum Verdeutlichen des Erscheinungsbildes eines Textes in seiner Physis, worin auch das erotische Moment eines Text(ab)bildes enthalten ist“ (AF, 326), führt Jirgl mehrere Beispiele an wie den Gebrauch unterschiedlicher Schreibformen der Konjunktionen, der Ziffern oder das Setzen von Frage-, Ausrufungs- und Interpunktionszeichen. Fünf Punkte stehen zum Beispiel für „eine unmittelbare, bevorstehende oder latent (schon ‚immer‘) vorhandene Bedrohung, im schlimmsten Fall die Vernichtung, den Tod – d. h. die Auflösung“ (AF, 328). Mit diesem Notationssystem hat sich Jirgl ein sprachliches Instrumentarium für eine in der Gegenwartsliteratur der neunziger Jahre weitgehend allein stehende, neoexpressionistische Literatur geschaffen, der ein barock-existentialistisches Memento mori eingeschrieben ist. Neben seiner expressiven Sprachgestaltung zeichnet sich der Roman durch die ungewöhnliche Gestaltung der Erzählperspektiven aus. Die kompliziert verschachtelte Handlung ist als traumatisches Erinnerungs- und Imaginationsgeflecht zu verstehen. Bei den inneren Monologen und Psychonarrationen stellt sich permanent die Frage, wer spricht. Nach und nach wird deutlich, dass der eine Bruder das Bewusstsein des anderen imaginiert und umgekehrt. Dieser halluzinatorisch die Wahrnehmungsgrenzen durchbrechende fließende Wechsel der Erzählperspektiven lässt sich als Technik eines ‚usurpierten Bewusstseins‘ charakterisieren, die entfernt an Uwe Johnsons Mutmaßungen über Jakob (1959) erinnert (vgl. Grimm 1997, S. 7). Ausgangslage für diese Psychonarration der wechselseitigen Bewusstseinsusurpation, die sich mit dem problematischen Wechselverhältnis zwischen staatlicher Bespitzelung und Literatur verbindet, wie dies auch in Wolfgang Hilbigs Ich-Roman (1993), Hans Joachim Schädlichs Tallhover (1986) und Günter Grass’ [→] Ein weites Feld oder in Florian Henckel von Donnersmarcks Film Das Leben der Anderen (2006) wiederzufinden ist, ist die in ihrem gemeinsamen Schicksal verbundene Existenz der Brüder. Von dieser geteilten, gleichsam schizophrenen Identität der Brüder wird der eine Teil getötet, während der andere den Schritt ins neue Leben versucht, indem er aus dem stillstehenden Zug, als klassisches Symbol der stillgestellten Geschichte (vgl. Ward 2002), aussteigt. Beides, die Abtötung des Alten und der Eintritt ins Neue, erweist sich in Jirgls Romanwelt jedoch als Illusion.
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Der Brudermord, auf den auch die auf das Kain-und-Abel-Motiv (vgl. Vollmeyer 2013) anspielende Abbildung auf dem Buchcover verweist, ist also der Versuch eines gespaltenen Ichs, den traumatisch-sprachlosen Teil seiner selbst hinter sich zu lassen, indem er ihn zum Sprechen bringt: Er, mein Bruder, wird mich aufhören. Ich werde mindestens 1 tödliche Stichwunde aufweisen […] Ich, zerlegt von meinem Mörder, das sagt man so, von meinem Bruder, das sagt man so, werde seine Existenz sein. Werde seine Sprache sein. !Vorsicht Falle. Wenn ich spreche werde ich ihn sprechen. Darauf achten. So sind die Regeln für dieses Spiel. (AF, 225)
Wie in Thomas Hettches zeitgleich erschienenem Roman [→] Nox, der die deutsch-deutsche Vereinigung als sadomasochistische Kopulations- und Verwundungsgeschichte einer Nacht ebenfalls retrospektiv im Prozess des Sterbens erzählt, wird auch in Abschied von den Feinden das poststrukturalistische Postulat vom „Tod des Autors“ (Barthes, Foucault) erzähltechnisch umgesetzt: Erzählen entsteht aus einem das einheitliche Subjekt auflösenden ‚Sprechen im Verschwinden‘. Dabei meint Jirgls Abschied von den Feinden im Unterschied zu Hettches Vereinigungs- und Verstümmelungsgeschichte nicht die Ost-West-Beziehung, sondern die von ihrer Feindschaft Abschied nehmenden Brüder stehen für zwei Bewusstseinsaggregate einer ostdeutschen Identität. Diese findet nur zu einer Sprache, indem sie einen Teil ihrer selbst tötet, der dann zum ‚sprechenden Medium‘ wird („Ich spreche meinen Mörder“; AF, 229). So lässt sich der Roman insgesamt als ein paradoxer literarischer Sprachfindungsprozess im Verschwinden lesen, wie auch aus dem Romanaufbau hervorgeht. Der Roman ist durch imaginierte „Szenarios“ (vgl. AF, 40) strukturiert und gliedert sich in vier Teile. Dazwischen sind „Berichte“ eingefügt, gleichsam als Zäsur und Taktgeber der erzählerischen Komposition: Die Berichte „vom Abschied“, „vom Vater“ und „vom Sprechen“, die den Einfluss von Brechts Epischen Theater zeigen, rahmen und strukturieren die ersten drei Teile, die vierzehn Kapitel umfassen. Der letzte, vierte Teil, der etwa ein Drittel des Gesamtumfangs ausmacht, ist nicht mehr unterteilt, und beginnt mit den Worten: „….und hat an diesem letzten Abend an dem Wir sie gesehen haben ganz plötzlich angefangen von !ihren beiden Kindern zu erzählen“ (AF, 233). Auch der Aufbau zeigt also an, dass der Roman von einem rhythmisierten Sprachfindungsprozess erzählt. Die im vierten Teil zur Sprache kommende (später ermordete) Frau erzählt in Ausschnitten ihre Geschichte des zunehmenden Verstummens. Da die personale Erzählperspektive jedoch weiterhin bei den beiden um das weibliche Lustobjekt (das als Mutter-Ersatz dient) konkurrierenden Brüdern liegt, erweist sich das gesamte Erzählen als Freilegungs-, zugleich aber auch Okkupationsprozess einer Sprache des (weiblich kodierten) Opfers durch
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die (männlichen) Täter. Wie so oft bei Erzählern aus der DDR, geht es hier einmal mehr um ein Herr-Knecht-Verhältnis. Der Bericht vom Abschied (AF, 7–12) intoniert bereits die für den Roman und für Jirgls gesamtes Werk zentralen Motive und die Ästhetik des Zerfalls: Die in den ersten Sätzen verwendete Motivik eines der Dunkelheit abgetrotzten Lichtschimmers bildet den Rahmen für die folgende, gleichsam filmische Erzähltechnik ‚skandierter Bilder‘ (vgl. AF, 10), die „die Möglichkeiten des spür- + fühlbaren Körpers“ in wachsendem Maße entrückt (ebd.). Der Verlust der körperlichen Präsenz bildet den Übergang in die lückenhaften Gedächtnis-Bilder des schizophrenen Subjekt-Bewusstseins, denen der „Stein“ als kaltes Medium eines Gedächtnisses der Massen entgegengesetzt ist (AF, 11). Der mit dem Gang in den Untergrund der Berliner U-Bahn verbundene Abschied bildet die Passage in das – erzähltechnisch dem expressionistischen Stummfilm nachgeahmte – Schattenreich einer sowohl individuellen als auch kollektiven Geschichte der verdrängten und immer wiederkehrenden traumatischen Bilder. Das Urbild der gewaltsamen Entfernung der Mutter (AF, 47–52) zeigt sich als ein gerahmtes, aber lückenhaftes Bild, das überdeutliche Einzeldetails konturieren. Das traumatisch sezierte Erinnerungsbild, in dem die Mutter zur Fremden wird, kommt in einer synästhetischen Darstellung, vor allem aber in einer lichtästhetischen Nahsicht, in Zeitlupe, Wiederholung und Variation zum Ausdruck. Fluchtpunkt des traumatischen Erinnerungsbildes ist der aufgerissene Mund der Mutter und ihr stummer Schrei (AF, 49), der – nach Edvard Munchs berühmten Bild – zum Buchstabenbild des „O“ erstarrt. Als sprachallegorischer Kern des Wortes „Tod“ durchzieht es mit dem Leitmotiv der Fliegen den Roman (vgl. Dannemann 2011). Die von der Spur der Gewalt sprachlich markierte Leerstelle ist zudem umstellt von den im wörtlichen Sinne immer wieder hochkommenden Satzbrocken der Täter als Partikel der letztlich vom Staat ausgehenden Diskurse der Macht (vgl. AF, 49, 51). Der Gedächtnisprozess skandierter, lückenhafter (Sprach-)Bilder und der Sprachfindungsprozess hängen also in Jirgls Erzählweise unmittelbar zusammen. So zielt der „Bericht vom Sprechen“ auf die Freilegung eines „Wissen[s] aus den dunklen Gefilden der Wörter“ (AF, 227). Das Gedächtnis der Wörter kommt für Jirgl – hier deutlich an Roland Barthes orientiert – durch ein „endloses Fading eines in einer glitzernden Schnur sich aufdröselnden Raunens“ zur Sprache (AF, 226). Dagegen ist das im Kern gnostische, sprachontologische „Raunen“ der Sprache vom ‚uneigentlichen‘, uniformen Sprechen der Masse zu unterscheiden. So verbindet sich mit Jirgls neoexpressionistischem ‚Raunen‘ das chorische Besingen einer feindlichen Opposition zwischen der Masse und dem abweichenden Individuum. Im dritten Kapitel des ersten Teils erklingt die Stimme des fremdenfeindlichen Wir-Kollektivs auf dem Lande in alliterativer,
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rhetorisch-tautologischer Prosodie: „Wir wissen was wir sagen Und wissen was wir von Fremden zu halten haben“ (AF, 19). Jirgl wendet hier ein aus der antiken Tragödie entlehntes chorisches Sprechen an, wie dies auch Jelinek in dieser Zeit entwickelt. Im Unterschied zu Jelineks dekonstruktivistischem Sprachfluss einer nationalen „Wir“-Identität in Wolken.Heim. (1988), die sich in der idealistisch-tautologischen Setzung als Leerstelle erweist, gründet sich bei Jirgl die chorische Darstellung auf die substanzielle Opposition von „Wir“ und „die Fremden“ (vgl. AF, 21, 45). Die „Mutmaßungen“, die einst Johnson mit den Mitteln des Nouveau roman literarisch gestaltete, haben sich zum Ressentiment der Masse gegenüber dem „Fremden“ gewandelt. Auch wenn an dieser Stelle deutlich auf die zeithistorischen Vorgänge in Hoyerswerda angespielt wird (vgl. AF, 19), geht es weniger um Rassismus als um das Ressentiment der Masse gegenüber dem abweichenden, souveränen Individuum im Sinne Nietzsches. Wie auch die folgenden Romane (z. B. Abtrünnig, 2005) deutlich zeigen, geht es Jirgl im Kern um das agonale Verhältnis zwischen einer alle Unterschiede nivellierenden Massenkultur, die das Nicht-Konforme ausschließt, und dem „abtrünnigen“, isolierten Menschen, der einen Kampf gegen die Konsens-, Mehrheits- und „Political-Correctness“-Gesellschaft führt. Die Massenmenschen in den Städten (die Söhne Kains) stehen im Begriff, das eigensinnige Subjekt (die Söhne Abels) zu vernichten bzw. zu okkupieren. Damit wird aber die dezisionistische Feind-Freund-Setzung im Sinne Carl Schmitts aufgehoben. In dieser Hinsicht meint „Abschied von den Feinden“ − ähnlich wie bei Heiner Müller – das geschichtsphilosophische Ende des tragischen Helden (vgl. die Parallelisierung der Handlung mit der Conquistador-Geschichte aus der Kindheit). Daher ist „Jirgls Hölle […] die des Kleinbürgertums der DDR“ (Böttiger 2011, S. 15), die sich in den folgenden Romanen erst gesamtdeutsch, dann global (Die atlantische Mauer, 2000) und schließlich kosmisch (Nichts von euch auf Erden, 2013) erweitert. Jirgls „Chronik der Deutschen“ ist letztlich eine zivilisationskritische, sehr deutsche Chronik einer universalen westlichen Katastrophengeschichte.
3 Rezeption und Folgen Im Feuilleton wurde Abschied von den Feinden im Kontext der Forderung nach dem deutsch-deutschen „Einheitsroman“ begeistert als Avantgardetext und „Wenderoman“ aufgenommen. Dagegen bemerkte Volker Hage – auch mit Blick auf Hettches Nox-Roman –, dass es sich bloß um ein Symptom handle für die „offenbar anhaltende Lust einiger Kritiker, dem Publikum als neu und bedeutsam anzudienen, was Avantgarde von gestern ist“ (Hage [1995] 1999).
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Auch die Jirgl-Forschung teilt sich tendenziell in zwei Lager: Die Befürworter sehen in den Romanen die ästhetisch eigensinnige und gelungene Umsetzung der genealogischen Machtanalyse Nietzsches und Foucaults für die Katastrophenzeit der Moderne bis in die Gegenwart (De Winde 2007, Dannemann 2009). Andere zeigen die spezifische DDR-Prägung dieser Sicht auf (Clarke 2007, Jürgensen 2005). Dagegen hinterfragt die kritische Jirgl-Forschung angesichts des emphatisch in den Romanen und Essays vertretenen avantgardistischen und kulturkritisch-prognostischen Anspruchs das ästhetische Gelingen und die intellektuelle Triftigkeit der verhandelten Probleme. Verwiesen wird auf die ahistorische Fortsetzung zivilisationskritischer und vitalistischer Deutungsmuster in der Tradition der deutschen Konservativen Revolution (insbesondere Oswald Spenglers) und den damit verbundenen Geschichtsrevisionismus, sowie auf einen sich auf Adornos Kritik der Kulturindustrie berufenden Kulturpessimismus (Cosentino 1997, Grimm 2007).
Literatur Jirgl, Reinhard: Abschied von den Feinden [1995]. München, Wien: dtv 1998. Jirgl, Reinhard: Die wilde und die gezähmte Schrift. Eine Arbeitsübersicht. In: Sprache im technischen Zeitalter 42 (2004), Nr. 171, S. 296–320 (wiederabgedruckt in: R. J.: Land und Beute. Aufsätze aus den Jahren 1996–2006. München: Hanser 2008, S. 92–124).
Sekundärliteratur Arnold, Heinz Ludwig (Hg.): Text + Kritik 189: Reinhard Jirgl. München: Text + Kritik 2011. Helmut Böttiger: Buchstaben-Barrikaden. Von Reinhard Jirgls Anfängen bis hin zu „Die Stille“ − ein in sich stimmiger ästhetischer Kosmos. In: Arnold (Hg.): Reinhard Jirgl, S. 14–24. Clarke, David, Arne De Winde (Hg.): Reinhard Jirgl. Perspektiven, Lesarten, Kontexte. Amsterdam/New York: Rodopi 2007. Clarke, David: Anti-Ödipus in der DDR. Zur Darstellung des Verhältnisses von Familie und Staat bei Reinhard Jirgl. In: Clarke/De Winde (Hg.): Reinhard Jirgl, S. 89–110. Cosentino, Christine: „Dieses Deutsche in den Deutschen“: Auflösung und Kontinuität in Reinhard Jirgls Alptraumroman ‚Abschied von den Feinden‘. In: Colloquia Germanica 30/4 (1997), S. 307–314. Dannemann, Karen: Der blutig-obszön-banale 3-Groschen-Roman namens „Geschichte“. Gesellschafts- und Zivilisationskritik in den Romanen Reinhard Jirgls. Würzburg: Königshausen & Neumann 2009. Dannemann, Karen: Die Spur des schwarzen O und der Schrei. Der Mensch als Opfer der Geschichte in Reinhard Jirgls Romanen. In: Arnold (Hg.): Reinhard Jirgl, S. 38–46. De Winde, Arne: Das Erschaffen von „eigen-Sinn“. Notate zu Reinhard Jirgls Schrift-Bildlichkeitsexperimenten, in: Clarke/De Winde (Hg.): Reinhard Jirgl, S. 111–150.
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Grimm, Erk: [Art.] Reinhard Jirgl. In: Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur (KLG), 55. Nachlieferung (01.01.1997). Grimm, Erk: Die Lebensläufe Reinhard Jirgls. Techniken der melotraumatischen Inszenierung. In: Clarke/De Winde (Hg.): Reinhard Jirgl, S. 197–226. Hage, Volker: Nacht mit Folgen. Wo bleibt der deutsche Roman zur Wende? In: V. H.: Propheten im eigenen Land. Auf der Suche nach der deutschen Literatur. München: DTV 1999, S. 144–149 (erstmals in: Der Spiegel, 10.04.1995). Jürgensen, Christoph: Im Herz der Finsternis: das „Irr-Wahna-DeDeR“ in Reinhard Jirgls Roman „Abschied von den Feinden“. In: Wirkendes Wort 55/2 (2005), S. 243–254. Vollmeyer, Johanna: „Soll ich meines Bruders Hüter sein“?: Gewaltdarstellungen und das Motiv der verfeindeten Brüder als Ausdruck der Erinnerungskonkurrenz in Reinhard Jirgls Roman „Abschied von den Feinden“. In: Elisa Goudin-Steinmann, Carola Hähnel-Mesnard (Hg.): Ostdeutsche Erinnerungsdiskurse nach 1989. Berlin: Frank & Timme 2013, S. 319– 333. Ward, Simon: „Zugzwang“ or „Stillstand“?: trains in the post-1989 fiction of Brigitte Struzyk, Reinhard Jirgl, and Wolfgang Hilbig. In: Stuart Taberner (Hg.): Recasting German identity. Rochester/NY: Camden House 2002, S. 173–189.
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Jünger, Ernst: Siebzig verweht IV [Tagebücher] (Stuttgart: Klett) 1 Entstehung und Kontext „Gut, wenn ein Tagebuch früh beginnt – besser noch, wenn es bis zum Ende fortgeführt wird, bis dicht vor dem Tod“ (Ernst Jünger: Siebzig verweht IV [= SV], S. 89). Getreu diesem Wahlspruch ist Ernst Jünger immer Tagebuchschreiber gewesen und als solcher feiert er 1995 nicht nur seinen 100. Geburtstag, sondern auch sein 75jähriges Autorenjubiläum. 1920 erscheint mit dem Kriegsjournal In Stahlgewittern die erste selbständige Buchpublikation und markiert den Beginn einer langen Tagebuchserie, die in Jüngers umfangreichem Werk vielleicht den wichtigsten Platz einnimmt. Die Reihe der Altersjournale Siebzig verweht I–V wird zwischen 1980 und 1997 publiziert, sie dokumentiert den Zeitraum von 1965 bis 1996, also eine Spanne von mehr als 30 Jahren. Lügen gestraft wird damit im Laufe des Schreibprozesses das titelgebende Motto, das sich Jünger, auf den 10. Vers von Psalm 90 anspielend, zu Anfang seines Unternehmens gewählt hatte: „Unser Leben währet siebzig Jahre, und wenn’s hoch kommt, so sind’s achtzig Jahre, und wenn’s köstlich gewesen ist, so ist es Mühe und Arbeit gewesen; denn es fähret schnell dahin, als flögen wir davon“.
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Siebzig verweht IV wird 1995 gleich viermal veröffentlicht: als Teilvorabdruck in der Beilage „Bilder und Zeiten“ der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 18. Februar, als achtseitiger Textauszug in einem Magazin mit dem Titel „Hundert Jahre und: Jünger“, das Klett-Cotta zu Werbezwecken verschickt, als LeinenHardcover und in einer limitierten, teilweise nicht für den Handel bestimmten Vorzugsausgabe von 300 in Halbleder gebundenen, signierten Exemplaren. Die beiden extremen Pole dieser Publikationsformen („vergängliche“ Tageszeitung und bibliophile Sonderedition) spiegeln dabei vielleicht durchaus gewollt die spezifische Poetik des späten Tagebuchschreibers zwischen flüchtigem Protokoll des Augenblicks und überzeitlichem Anspruch wider.
2 Inhalt und Analyse Der vierte Teil von Siebzig verweht, den Jünger zwischen Herbst 1993 und August 1994 für die Veröffentlichung redigiert, umfasst die Jahre 1986–1990. Wie die anderen Titel der Reihe beinhaltet das Buch ein Sammelsurium verschiedenster, kaleidoskopartiger Textbausteine: Aperçus aus dem Alltag des Schriftstellers, Traumnotate, Auszüge aus der Korrespondenz, Lektüreberichte, essayistische Reflexionen, Aphoristisches, Überlegungen zur Semantik, Etymologie, Syntax und Grammatik, Preisreden u.v.m. Nicht enthalten sind – und auch dies ist typisch für den späten Tagebuchschreiber – der Gattung selbst häufig inhärente Bekenntnisse intimen Charakters, private Enthüllungen, Ängste und Nöte, die für den Eingeweihten allenfalls zwischen den Zeilen durchschimmern. Kaum zur Sprache kommen außerdem Ereignisse der aktuellen Tagespolitik. Kurze Erwähnung finden der Protest gegen die Volkszählung, den Jünger als berechtigten Widerstand gegen die allumfassende „Verzifferung“ legitimiert, die Barschel-Affäre und die Rede des Bundestagspräsidenten Philipp Jenninger zum 50. Jahrestag der Reichspogromnacht. Etwas mehr Beachtung wird der ReaktorKatastrophe von Tschernobyl sowie den Geschehnissen um Wende und Deutsche Einheit geschenkt. Zum Datum des 3. Oktober 1990 existiert aber noch nicht einmal ein Tagebucheintrag und es ist bezeichnend für Jüngers auf große transhistorische Linien abzielende Perspektive, dass er den Fall der Mauer im Lichte seiner früheren Essays lediglich als Schritt auf dem Weg einer europäischen Vereinigung, als Begegnung von Ost und West oder als „das Einschmelzen der Grenzen innerhalb der allgemeinen Entwicklung zum Weltstaat“ (SV, 383) deutet. Der Blick in die Vergangenheit wird dem Langlebigen manchmal zum Fluch. Die Erinnerung an verstorbene Freunde beherrscht weite Teile von Siebzig verweht IV; hinzu tritt das Gedenken an tote Familienmitglieder. Das Wiedersehen mit dem Halley’schen Kometen im Jahre 1986 wird zum Anlass einer längeren Cha
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rakteristik des Vaters, 1987 jährt sich der Tod des Bruders Friedrich Georg zum zehnten Mal und immer wieder gedenkt der Autor, häufig in Form ritueller Friedhofsgänge, seines im Zweiten Weltkrieg gefallenen Sohnes oder seiner ersten Frau. Seine „Rolle als Türschließer“ (SV, 333) scheint Jünger mit stoischer Gelassenheit hinzunehmen, trotz aller Selbststilisierung ist sein Leiden an der Erinnerung jedoch gelegentlich spürbar, etwa in abgründig kalauernden Formulierungen über mögliche Vorzüge des Vergessens: „[D]ie Altersdemenz ist auch ein Aufräumen, für Widder leider kein Genuß. Eigentlich sollte man sich zur Ruhe setzen, bevor man sich zur Ruhe legt“ (ebd.). Beständig kreisen Jüngers Gedanken zudem um die beiden Weltkriege, selbst im Traum kehrt er, häufig in surrealer Verfremdung, ins Kampfgeschehen zurück, so dass die bedrückende Gegenwärtigkeit des Vergangenen nicht nur die individuelle Biographie, sondern ebenso die Katastrophengeschichte des 20. Jahrhunderts betrifft. Ob der in pessimistischen Stunden geäußerte Wunsch, „aus der Geschichte oder sogar der species humana zu emigrieren“ (SV, 217), ein geheimes Motiv von Jüngers umfangreicher Reisetätigkeit darstellt, wird mit letzter Sicherheit nicht zu beantworten sein. Fest steht, dass noch der hochbetagte Tourist vor allem auf seinen Fahrten in den Orient und Fernen Osten auf der Suche ist nach dem Ursprünglichen, dem Abenteuer, dem Exotischen, dem Ganz Anderen jenseits der westlichen Industriegesellschaft. Diese Suche gleicht jedoch – um mit einem Bild zu reden, das Jünger selbst in diesem Zusammenhang verwendet (vgl. SV, 124) – dem Wettlauf von Hase und Igel. Überall, wo der Reisende eintrifft, begegnet ihm ein globalisierter „Weltstil“ (SV, 28), uniforme Hotelketten, die „den letzten Komfort bis in die Urwälder“ (SV, 87) bringen und immer das Gefühl vermitteln, „dort schon einmal gewesen zu sein“ (SV, 160). Beständig wird der Wunsch, „zwei, drei von der Moderne ungetrübte Stunden genießen zu können“ (SV, 311), durch Motorisierung, urbanisierte Strände, die ökologischen Folgen des Massentourismus, kurz: das unaufhaltsame Vordringen der Zivilisation gestört. Die mediale Vermittlung durch moderne Technik tut ihr übriges: „Das spezielle Ortsbewußtsein schwindet; und es verwischen sich die Konturen von dem, was man auf Reisen, und dem, was man im Film gesehen hat“ (SV, 214). Paradoxerweise ist das Jünger’sche Streben nach Unmittelbarkeit der Erfahrung jedoch hochgradig textuell codiert, d.h. selbst in höchstem Maße medial vermittelt. Während des Reisens bricht der Schreibakt, also die schriftliche Reproduktion des Erlebten, so gut wie nie ab. Tagebuch führt Jünger beispielsweise auch im Transitort des Flugzeugs, der Natur ritzt er Erinnerungszeichen ein oder katalogisiert seine Insektenfunde in parallel geführten entomologischen Journalen. Lektüren vor, während und nach der Reise begründen ein Prinzip der Reiteration, der Wiederholung und Verdopplung des Geschehens. Der Besichtigung der Grotte von Lascaux geht das Studium von Batailles Monographie über die prä
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historische Malerei voraus, in Kuala Lumpur liest Jünger Hermann Hesses Aufzeichnungen Aus Indien, die letzten Reste des Numinosen, die sich in Sumatra erhalten haben, erinnern ihn an „Joseph Conrads Romane und die gefährlichen Inseln der ‚Tausendundeinen Nacht‘“ (SV, 305). Die Trauer um die Entzauberung der Welt resultiert mithin ein Stück weit aus der Diskrepanz von literarischer und tatsächlicher Wirklichkeit. Jünger, dem manischen Leser, ist dies dunkel bewusst, wenn er bilanzierend schreibt: Einen Tag ohne Lektüre kann ich mir kaum vorstellen, und ich frage mich oft, ob ich nicht im Grunde als Leser gelebt habe. Die Welt der Bücher wäre dann die eigentliche, zu der das Erlebnis nur die erhoffte Bestätigung darstellte – und diese Hoffnung würde stets enttäuscht (SV, 52).
Für den Verlust des Mythos macht Jünger, wenig überraschend, vor allem die modernen Wissenschaften mit ihren logisch-empirischen Erkenntnisprinzipien verantwortlich. Gegen die kopernikanische Wende verteidigt er in einer Notiz vom 10. Januar 1986 das geo- und anthropozentrische Weltbild der Astrologie als vorgeblich humaneres Deutungssystem, das in seinem spielerisch-unwissenschaftlichen Zugang das Geschichtsbewusstsein der Aufklärung überdauern werde. An anderer Stelle fragt der Tagebuchautor nach der „Unteilbarkeit des Individuums im Zeitalter der Herztransplantation“, denn durch diese medizintechnische Errungenschaft sei schließlich auch das Herz „entmythisiert“ (SV, 298) worden. Nicht zuletzt sieht Jünger rationalistische Tendenzen selbst in Disziplinen am Werk, die dem strengen Objektivitätsideal der Naturwissenschaften nicht genügen; „entmythisierende Theologen, die das Jenseits abbauen“ (SV, 142), verfallen dementsprechend dem Verdikt und stellen für ihn eines der vielen Zeichen für den allumfassenden Materialismus des Zeitalters dar. Exaktes wissenschaftliches Beobachten und Klassifizieren ist für die Poetik von Siebzig verweht paradoxerweise dennoch sehr wichtig. Zu nennen ist in diesem Kontext vor allem die Entomologie, deren Untersuchungsgegenstände bezeichnenderweise wiederum unter dem Paradigma der Lesbarkeit als „unmittelbare Bilderschrift“ begriffen und einer „ständigen und nie an Reiz einbüßenden Lektüre“ verglichen werden (SV, 59). Beim Lesen im Buch der Natur ist die Klasse der Insekten hauptsächlich als Beleg für die Unerschöpflichkeit des Mikrokosmos von Interesse. Diese versucht Jünger in den zahlreichen beschreibenden Passagen seines Journals mimetisch nachzuzeichnen und gleichzeitig in einen universellen Sinnzusammenhang zu stellen. Die „Begegnung zwischen Minima und Maxima in der Natur“ (SV, 13) bildet auf diese Weise einmal mehr die eigentümliche Dialektik der späten Tagebücher mit ihren aphoristischen Eintagsspekulationen über die Äonen der Erdgeschichte ab.
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3 Rezeption und Folgen In der Artikelflut zu Jüngers 100. Geburtstag wurde Siebzig verweht IV häufig nur en passant erwähnt. Die wenigen Einzelrezensionen äußern sich hingegen überwiegend positiv. In der Frankfurter Rundschau streicht Thomas Assheuer kritisch die Affizierung von Jüngers Sprache durch militärische Metaphern bis ins hohe Alter heraus, sieht den Tagebuchschreiber aber vom antibürgerlichen, reaktionären Intellektuellen der Weimarer Republik zum „altersmilden“, gütigen Autor geläutert. In Jüngers Affinität zur Tagebuchform erkennt Gert Mattenklott Egozentrik und Solipsismus: „Das wichtigste Sujet dieses Autors ist er selbst“. Zugleich betont der Rezensent aber die unpersönliche Anlage der Journale und lobt die „selbstreflexive, lesende und schreibende Autorschaft“ Jüngers sowie den „obsessiv literarischen Charakter“ seines Werkes (Mattenklott 1995). In der literaturwissenschaftlichen Forschung haben die fünf Bände von Siebzig verweht bislang nur vereinzelt Beachtung gefunden, was der unübersichtlichen Themenvielfalt, dem schwankenden Reflexionsniveau und der schieren Menge der insgesamt über 2500 Seiten Text geschuldet sein mag. Gattungstypologische Überlegungen zur Poetizität der Tagebücher finden sich bei Pekar (1998), der zu zeigen versucht, wie Jünger Gestaltlosigkeit, Fragmentcharakter und Trivialität des Genres positiv zu nutzen versteht. Seferens (1998) arbeitet die stereoskopische Wahrnehmung der empirischen Wirklichkeit als allumfassendes ästhetisches Gestaltungsprinzip des Altersjournals heraus und kritisiert dabei die zur Beliebigkeit tendierende Assoziationstechnik dieser Perspektive. Entgegen der These von Jüngers ideologischer Katharsis in der zweiten Werkhälfte legt er in einer ideologiekritischen Lesart auch die ungebrochen gegenaufklärerischen Gehalte der späten Texte offen. Den wissenschaftlichen Diskurs in Siebzig verweht untersucht Buhl (2003). Er erkennt in Jüngers spezifischer Weltbetrachtung ein vor allem an Spengler geschultes, morphologisches Verfahren, das einem die Einzeldisziplinen transzendierenden, universalistischen Programm und metaphysischen Synthesestreben verpflichtet ist. Eine linguistische Analyse zu Wortgebrauch und Wortschatzcharakteristik der Tagebücher liefert schließlich Gloning (2004).
Literatur Jünger, Ernst: Siebzig verweht IV. In: Sämtliche Werke Bd. 21: Tagebücher VIII. Strahlungen VI. Stuttgart: Klett 2001.
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Sekundärliteratur Assheuer, Thomas: „Das Altern ist ein verlängertes Gefecht“. Den armen Seelen gnädig: Ernst Jüngers Tagebücher Siebzig verweht IV. In: Frankfurter Rundschau, 25.03.1995. Buhl, Svend: „Licht heißt hier Klang“. Synästhesie und Stereoskopie als bildgebende Erzählformen in den Tagebüchern Ernst Jüngers. Bonn: Nenzel 2003. Gloning, Thomas: Ernst Jüngers Aufzeichnungen und ihr Wortschatz-Profil. In: Lutz Hagestedt (Hg.): Ernst Jünger. Politik – Mythos – Kunst. Berlin, New York: De Gruyter 2004, S. 145–165. Mattenklott, Gert: Das Unpersönliche an der Person. Ernst Jüngers Tagebücher Siebzig verweht IV. In: Neue Zürcher Zeitung, 30.03.1995. Pekar, Thomas: Ein lebenslänglicher Schreibprozess. Zur Literarizität von Ernst Jüngers Tagebuch Siebzig verweht (I bis V). In: Les carnets Ernst Jünger 3 (1998), S. 155–166. Seferens, Horst: Leute von übermorgen und von vorgestern. Ernst Jüngers Ikonographie der Gegenaufklärung und die deutsche Rechte nach 1945. Bodenheim: Philo 1998.
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Köhler, Barbara: Blue Box. Gedichte (Frankfurt/M.: Suhrkamp) 1 Entstehung und Kontext Barbara Köhler wurde 1959 in Burgstädt geboren. Sie hat zunächst in Chemnitz gelebt und ist nach der Wiedervereinigung nach Duisburg gegangen, wo sie heute lebt. Von 1985 bis 1988 hat sie ein Literaturstudium am Literaturinstitut Johannes R. Becher absolviert, 1991 mit Deutsches Roulette einen vielbeachteten Erstling vorgelegt, dem 1995 mit Blue Box (= BB) der zweite Gedichtband folgte. 1999 hat Köhler unter dem Titel Wittgensteins Nichte einen Band mit Essays publiziert, der ihre Poetologie umreißt. Neben kleineren Veröffentlichungen, die als Textinstallationen eine wachsende Nähe zur bildenden Kunst aufweisen, hat sie mit Niemands Frau. Gesänge zur Odyssee 1997 ihren bisher letzten Gedichtband veröffentlicht. Für ihre Arbeiten ist Barbara Köhler häufig ausgezeichnet worden, u. a. 1996 mit dem Clemens-Brentano-Preis, 1997 mit dem Förderpreis des Landes Nordrhein-Westfalen, 1999 mit dem Literaturpreis des Ruhrgebiets und 2008 mit dem Joachim-Ringelnatz-Preis. 2012 hat sie die neu eingerichtete Thomas-KlingPoetikdozentur der Rheinischen Friedrich-Wilhelms- Universität Bonn übernommen.
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2 Inhalt und Analyse Mit ihrem zweiten Gedichtband Blue Box hat Barbara Köhler eine der wichtigsten lyrischen Veröffentlichungen des Jahres 1995 vorgelegt. Der Band, der 43 Gedichte umfasst, entwickelt die Themen weiter, die bereits ihren Erstling Deutsches Roulette bestimmt haben, gibt ihnen allerdings eine pointiertere Wendung. Sprache, Raum und Geschlecht erweisen sich als die bestimmenden Motivfolgen, die Barbara Köhler in ihrem lyrischen Schaffen verfolgt. Blue Box beginnt mit einem kurzen Vorwort: Ich übe das Alleinsein, und ich denke, ich habe es darin schon ziemlich weit gebracht. Ich rede mit der Sprache, manchmal antwortet sie. Manchmal antwortet auch jemand anders. Ich rechne nicht mehr damit, verstanden zu werden. Mathematik ist nicht mein Fach (BB, 9).
Auf eine für die Lyrik der Moderne nicht untypische Weise kennzeichnet Köhler ihre Gedichte als einen Dialog mit der Sprache. In einer selbstreferentiellen Bewegung wird die Sprache zum eigentlichen Adressaten der dichterischen Rede. Das Zwiegespräch mit der Sprache ersetzt mithin den Bezug auf einen konkreten Adressatenkreis. In Blue Box tritt ein sprachmächtiges, dezidiert weibliches Subjekt auf, das sich einen autonomen Sprachraum verschaffen möchte, der frei ist von der Unterwerfung der weiblichen Stimme unter das männliche Diktat der Sprache. Das zeigt nicht zuletzt das Titelgedicht: Blue Box Woher so traurig Gerade noch sprachen wir Die eingebläute Lehre: nichts erwarten alles nehmen was kommt gehen was geht uns zwischen Kommen und Gehen die Mitte heißt Bleiben zwischen Nehmen und Geben gibts nichts zu erwarten Das sind Worte ist alles. Die Ausweglosigkeit des Sprechens. Die leere Mitte des ZwischenRaum die unbewohnbare Hoffnung. Es bleibt nichts übrig hinterm Trauerrand der Liebe nicht der Frau eines Mannes nicht dem Mann einer Frau Taten sächlich kann Gegen warten für ein Stück Blau laß mich bleiben: es (BB, 23)
Köhler geht es um eine Neubestimmung der Liebeslyrik im Zeichen des weiblichen Körpers, zudem aber um die Momente der Fremde und Verletzung, die mit der Reflexion auf die Geschlechtertrennung einhergehen. So fasst Helmut Schmitz in seinem Artikel zu Barbara Köhler im KLG zusammen:
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Köhler, Barbara: Blue Box
Die überwiegende Anzahl von Köhlers Gedichten sind Liebes- oder, besser gesagt, Beziehungsgedichte. Hinter der grundlegenden Abneigung, festgelegt, identifiziert zu werden, die sich in ihnen ausspricht, verbirgt sich eine Sprachkritik an dem im abendländischen Kulturraum üblichen Denken in Binäroppositionen von Subjekt-Objekt, Mann-Frau, KulturNatur, das die Frau als das „Andere“ des Mannes konstruiert (Schmitz, S. 3).
Köhlers Aufmerksamkeit gilt dem Abstand zwischen dem Ich und seinem Anderen, den ihre Texte immer neu erkunden. Wie Schmitz betont, erörtert sie die „Möglichkeit weiblicher Subjektivität“ in einer „Utopie der Ent-ortung des Subjekts, der ständigen Positionsaufweichung und -verschiebung“ (Schmitz, S. 4). In ähnlicher Weise wie bei Thomas Kling verbindet sich die Grammatik der Differenz, die Köhler in ihren Texten entwickelt, mit dem Thema der Sprachreflexion in der Tradition der Wiener Moderne: „Ein Versprechen schon ist Versagen / unhaltbar im freien Fall / der Fälle nicht auszuhalten / in aller Verschwiegenheit“ (BB, 16), formuliert Köhler in Anspielung auf Wittgensteins Tractatus-logicus philosophicus. In Wittgensteins Nichte, theoretischen und poetischen Texten, die in enger Auseinandersetzung mit Positionen der zeitgenössischen bildenden Kunst aus dem Jahre 1999 stehen, nimmt sie die sprachkritische Perspektive ihrer frühen Gedichte auf und führt sie weiter aus:
Der Sprachraum, anderweitig gesehen als Raum für Relationen, Proportionen, Verhältnisse (auch das im Sinne von logos), als Ort der Differenz […]. Sprache als Raum, der andere/ andres einbezieht, in dem Ich wird, indem es sich auf andere/andres bezieht, mehr als nur ein Zeichen: Physis, Körper, der Sprache produziert, der sie sich einverleibt sowie ihr eingeschrieben ist (Köhler 1999, S. 27).
Der Körper der Sprache und die Sprache des Körpers: In dieser Dialektik entfalten sich Köhlers Texte in einer beständigen Reflexion auf die Räumlichkeit des postmodernen Gedichts, die in Blue Box noch um die titelgebende Leitmetapher des Blau erweitert wird. Blue Box deutet nicht nur an, dass die Gedichte selbst als räumliche Installationen von Sprache verstanden werden. Mit der Leitmetapher des Blau sprechen die Gedichte eine Spannung von Trauer und Liebe und die damit verbundene Utopie einer Entgrenzung an, der Bildung von liminalen Räumen, in denen ein doppelter Dialog zwischen dem lyrischen Ich und der Sprache und dem männlichen Adressaten der Liebesrede möglich wäre. Die räumliche Bestimmung der Gedichte als Sprachinstallationen verbindet sich bei Köhler mit einer wiederum sprachkritisch begründeten Reflexion auf Bilder und die mediale Bestimmtheit der Dichtung. Schon zu Beginn des Bandes heißt es in dem Gedicht In the Movies: „sehe vor / lauter Bildern den Film nicht“ (BB, 11). Das Bild erscheint als ein mediales Zeichen der Verfremdung der weiblichen Subjektivität, der die Sprache der Dichtung kritisch begegnet: „gib mir mein Bild wieder“ (BB, 18), heißt es in Anima. Im Nachsatz für
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L.W. sucht die Stimme der Dichterin „eine entbilderte Sprache“ (BB, 55), die sich von den Zwängen der medialen Vermittlung freizusetzen weiß. Mit der Suche nach einer entbilderten Sprache greift Köhler nicht nur den Wittgenstein leitenden Unterschied zwischen Sagen und Zeigen auf. Im Mittelpunkt ihres Interesses steht die Idee einer Entpuppung, in der sich die Sprache freisetzt: „Ich habe das Sagen nicht. Ich lasse es / mir gesagt sein mir gefallen“ (BB, 43). Die derart freigesetzte Sprache verzichtet auf Interpunktionen, versteht sich selbst als ein utopischer Raum des Anderen, wie das Gedicht In anderen Räumen verdeutlicht: In anderen Räumen sind wir engel schöner im ungewissen zwischen hier und dort sind wir da sprechen miteinander durch apparate sind die stimmen im hörer das atmen am anderen ende welcher leitung sind in gedanken in erinnerungen auf fotos sehen wir festgehalten die im flug vergangene zeit sind wir aus schatten von berührungen zusammengesetzt handschriften unsichtbar in fleisch und in blut sind wir papiere die uns ausweisen als staatsbürger des paradieses LOST IN LOVE es ist raum für dich zwischen den worten ist raum für mich zwischen den bildern gehn wir einher wenn wir engel sind schöner so laß uns fallen (BB, 48)
Erneut fasst Köhler den Raum, den ihre Gedichte erkunden, als einen poetischen Raum der Liebe in einem unbestimmten „zwischen“. Die „apparate“ und „stimmen im hörer“ verweisen auf die medialen Bedingungen des Sprechens, die „hand-/schriften“ und das „fleisch“ und „blut“ auf die Körperlichkeit, die Barbara Köhlers Gedichte immer wieder ansprechen. Die utopische Dimension der Gedichte, die gleichwohl ironisch gebrochen wird, scheint in der Rede der „staatsbürger des paradieses“ auf: In den Gedichten Köhlers geht es um einen liminalen Raum, der in der Form einer sprachlichen Utopie Gemeinsamkeit stiften kann, wo sonst geschlechtliche, sprachliche, politische und andere Differenzen herrschen: „es ist raum für dich / zwischen den worten ist raum für mich“. So erscheint der Sturz aus dem Paradies in In anderen Räumen zudem als Verheißung der Schönheit, die die Sprache der Dichtung erfahrbar macht.
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3 Rezeption und Folgen Barbara Köhlers Gedichtband Blue Box ist von der Kritik meist positiv aufgenommen worden. Gemeinsam mit Thomas Kling, Durs Grünbein und Ulrike Draesner (→ gedächtnisschleifen) steht sie für ein neues Sprachbewusstsein ein, das die Lyrik der neunziger Jahre insgesamt kennzeichnet (vgl. Geisenhanslüke 2004). Mit Ulrike Draesner verbindet sie darüber hinaus die Frage nach der weiblichen Stimme der Dichtung im Kontext der Liebesrede. Dementsprechend hat die Forschung immer wieder die Momente der Räumlichkeit und der Körperlichkeit bei Köhler betont, so etwa Mirjam Bitter und Anneka Metzger: Köhlers Texte beschäftigen sich mit dem Machtverhältnis von Subjekt und Sprache, mit Rollenzuschreibungen durch die Sprache und im Sprachraum und machen insbesondere die prekäre weibliche Subjektposition zum Thema (Metzger 2011, S. 20).
In ähnlicher Weise argumentiert auch Indra Noël: „Wo das Ich in Köhlers Gedichten präzisere Konturen annimmt, ist es ein weibliches.“ (Noël 2007, S. 139) Im Blick auf die weitere Entwicklung Barbara Köhlers erkennt Metzger darüber hinaus eine immer größere Verschmelzung der Lyrik mit der bildenden Kunst, wie sie sich auch bei Thomas Kling beobachten lässt:
In diesem Sinne nähern sich die Gedichte Köhlers der Raumkunst an: In ihnen wird schon auf der Fläche der Seite ein Oszillieren zwischen Text und Typographie, zwischen Sukzession und Simultanität, zwischen Noch-Sprache und Schon-Bild und zwischen Schrift und Klang angestrengt (Metzger 2011, S. 125).
Barbara Köhler, so ist sich die noch nicht allzu umfangreiche Forschung sicher, kann damit für sich beanspruchen, eine der bedeutendsten lyrischen Stimmen des Jahres 1995 zu verkörpern.
Literatur Barbara Köhler, Blue Box. Gedichte. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1995. Barbara Köhler, Wittgensteins Nichte. Vermischte Schriften. Mixed Media. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1999.
Sekundärliteratur Bitter, Mirjam: Sprache Macht Geschlecht. Zur Lyrik und Essayistik von Barbara Köhler. Berlin: trafo 2007.
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Geisenhanslüke, Achim: Altes Medium – Neue Medien. Zur Lyrik der neunziger Jahre. In: Clemens Kammler, Torsten Pflugmacher (Hg.): Deutschsprachige Gegenwartsliteratur seit 1989. Zwischenbilanzen – Analysen – Vermittlungsperspektiven. Heidelberg: Synchron 2004, S. 37–49. Metzger, Anneka: Zur Rede Stellen. Die performativen Textinstallationen der Lyrikerin Barbara Köhler. Bielefeld: Aisthesis 2011. Noël, Indra: Sprachreflexion in der deutschsprachigen Lyrik 1985–2005. Berlin, Münster, Wien: LIT Verlag 2007. Paul, Giorgia, Helmut Schmitz: (Hg.): Entgegenkommen. Dialogues with Barbara Köhler. Amsterdam: Rodopi 2000. Schmitz, Helmut: Barbara Köhler. In: KLG.
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Kracht, Christian: Faserland. Roman (Köln: Kiepenheuer & Witsch) 1 Entstehung und Kontext Nach einem Studium am Sarah Lawrence College in Bronxville, NY, ist der Schweizer Autor und Journalist Christian Kracht (*1966) – Sohn des gleichnamigen ehemaligen Generalbevollmächtigten des Axel Springer Verlags – in den frühen 1990er Jahren zunächst für die Hamburger Zeitschrift Tempo tätig. Er verfasst Reiseberichte und Reportagen, Buch- und Plattenbesprechungen. 1993 wird er mit dem Axel-Springer-Preis für junge Journalisten ausgezeichnet (vgl. Birgfeld/ Conter 2009). Wie viele andere Tempo-Redakteure steht er ästhetisch dem New Journalism im Sinne Tom Wolfes und Hunter S. Thompsons nahe (vgl. Ruf 2009). Mit Faserland (= FL) legt er bei Kiepenheuer & Witsch ein vielbeachtetes Romandebüt vor. Heute gilt der von Martin Hielscher lektorierte Roman als einer der zentralen Texte deutschsprachiger Literatur der 1990er Jahre. 2011 erscheint Faserland gemeinsam mit den Folgeromanen 1979 (2001) und Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten (2008) in einer Hörbuchedition unter dem Titel Triptychon (Kracht 2011).
2 Inhalt und Analyse Faserland erzählt die Geschichte eines gut situierten, jungen Mannes, der von der nördlichsten Grenze Deutschlands auf der Insel Sylt ausgehend eine Reise in Richtung Süden antritt, die in der Schweiz am Zürcher See endet. Die Zwischen-
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stationen sind Hamburg, Frankfurt, Heidelberg, München und Meersburg am Bodensee, auf denen der Protagonist in mehr oder minder geselligen Situationen Freunde und Bekannte trifft, denen er nach kurzen Interaktionen jeweils den Rücken zukehrt. Den einzelnen, in acht Kapiteln geschilderten Fluchtbewegungen, gehen jeweils Enttäuschungssituationen voraus: das Scheitern von Beziehungen, Beobachtungen von Zerfall, Gefühle von Ekel und Melancholie. Den überwiegenden Teil der Erzählung steht der Protagonist unter Alkohol- und Drogeneinfluss. Die vorwiegend in singulativer Frequenz präsentisch erzählte Handlung wird von einigen Analepsen und reflexiven Einschüben des homodiegetischen Erzählers unterbrochen. Die von Rauschzuständen geprägte Wahrnehmung der Erzählerfigur sowie die an einigen Stellen zu Tage tretenden Wissenslücken zeichnen den Text zudem als Beispiel für ‚unzuverlässiges Erzählen‘ aus. Als Motto sind dem Roman zwei Zitate vorangestellt: ein Auszug aus Samuel Becketts Der Namenlose – dem letzten Teil der Molloy-Trilogie – sowie eine Textzeile aus dem Song Amaretto der britischen Indie-Pop-Band The Would-Be-Goods. Damit wird gleich zu Beginn ein Themenspektrum eröffnet, das von der klassischen Moderne bis zur Populärkultur des späten 20. Jahrhunderts reicht. Dem Topos der Auflösung des Individuums – zentrales Thema bei Beckett – folgt, im ironischen Duktus des Indie-Pop der 1980er Jahre, der Konsum von Rauschmitteln: „Give me, give me – pronto – Amaretto.“ (FL, 12) Der Roman verschränkt diese beiden Ebenen miteinander und fokussiert dabei die deutsche Alltagskultur der 1990er Jahre. Hierbei wird, für die 1990er Jahre eine Neuigkeit, im Ton populärer Zeitgeist-Magazine eine von Markenartikeln, Werbung, Luxus, ökonomischer Sorglosigkeit und diffusen Bildern deutscher Geschichte geprägte Welt beschrieben. Die Erzählerfigur entstammt einem wohlhabenden Milieu und grenzt sich permanent symbolisch von Figuren mit niedrigerem sozioökonomischen Status ab. Das dominante Thema des Romans ist Deutschland. Der ‚namenlose IchErzähler‘, der als ein Formzitat aus Becketts Der Namenlose gelten kann, durchquert das westdeutsche Bundesgebiet, überschreitet am Ende die südliche Grenze zur Schweiz und sucht schließlich auf dem Kilchberger Friedhof bei Zürich das Grab Thomas Manns, der bekanntermaßen den Satz geprägt hat: „Where I am, there is Germany.“ (o.A. 1938) Die Reise von Norden nach Süden, bei der Deutschland als geographischer, politischer und zugleich kultursemiotischer Raum durchquert wird, ruft die Topographie moderner Reiseromane auf, die im 20. Jahrhundert insbesondere – und auch für die Filmgeschichte folgenreich – von Jack Kerouacs On the Road (1957) beeinflusst wurde. Anders als bei Kerouac und den meisten Roadmovies steht in Faserland jedoch nicht die Identitätsbildung des Protagonisten über Praktiken der Freiheitssuche im Vordergrund, sondern viel
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mehr das Scheitern von Identität angesichts einer sinnentleerten Gegenwartskultur. Mehrere Stilmittel in Faserland sind an das Werk von Bret Easton Ellis angelehnt, wie etwa das sehr stark an Less than Zero (1985) erinnernde Motiv des Zigarettenrauchens als Übergangshandlung sowie die häufige Nennung von Markennamen, die den distanziert-narrativen Modus des Erzähltons unterstreicht, ähnlich wie bei Patrick Bateman in American Psycho (1991) (vgl. Mertens 2003). Der Raum ‚Deutschland‘ wird in Faserland unter anderem körpermetaphorisch codiert. Während der Ich-Erzähler durch Heidelberg fährt, hat der das Gefühl „das Herz Deutschlands zu durchgleiten“ (FL, 86). Dass am Ende des Romans Deutschland als „groß[e] Maschine, die sich selbst baut“ (FL, 153) beschrieben wird, also als selbstreplizierendes System, stellt zudem einen Bezug zur Science-Fiction-Literatur her. Deutschland wird zusammengenommen als geographischer Raum, als Körper, als selbstreplizierende Maschine und – wenn man den Titel Faserland wörtlich nimmt – auch als Gewebe, mithin als Text, sowie als Konglomerat kultureller Codes und Praktiken konzipiert. Die Körperlichkeit fungiert in der Tiefenstruktur des Textes als Bindeglied zwischen geographischem und kulturellem Raum sowie zwischen dem Protagonisten und seinem kulturellen Umfeld. So, wie der Protagonist den ‚Körper Deutschlands‘ „durchgleite[t]“ (FL, 86), ist er selbst in seiner Physis auch Träger kultureller Codes und Praktiken der ‚Maschine‘, die permanent zu heftigen Reaktionen wie Ekel und Erbrechen führen. Die Reflexion über Exkremente – etwa in einem eingeschobenen Exkurs über Sanitäranlagen in Zügen der Deutschen Bahn (FL, 27 f.) – ließe sich in Anlehnung an Alan Dundes’ zugleich als Ausdruck des mit Deutschland stereotypisch verknüpften ‚analen Charakters‘ lesen (Dundes 1984). Mit diesem Stereotyp sind – insbesondere im internationalen Raum – Verweise auf die jüngere deutsche Geschichte und den Nationalsozialismus verbunden. Diese zentralen Bezugspunkte deutscher Identität werden an vielen Stellen des Romans aufgegriffen. In mehreren Exkursen und Reflexionen des Protagonisten geht es um die Präsenz des Nationalsozialismus in der Kultur der Gegenwart. In Heidelberg, also in der Mitte, dem „Herz Deutschlands“ (FL, 86) – nicht zufällig befindet sich diese Stelle in der Mitte des Textes –, spiegelt sich der Protagonist in einem Werbeplakat zu Joseph Vilsmaiers 1993 erschienenem Kriegsfilm Stalingrad, nimmt dabei einen Stahlhelm über dem Spiegelbild seines Kopfes wahr und freut sich darüber, im „demokratischen Deutschland zu leben, wo keiner an irgendeine Front muß mit siebzehn.“ (FL, 97) Gegenwart und Geschichte werden hier bildlich übereinander geschoben. Der positive Bezug auf die BRD wird jedoch im gleichen Atemzug wieder zurückgenommen und als Ausdruck deliranter Entgleisung eingeordnet: „Das ist natürlich SPD-Gewäsch, was ich da denke, aber ich bin schließlich auch höllisch betrunken“ (ebd.).
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Die Kontrastierung von Geschichte und Gegenwart als ästhetische Differenz wird nicht eindeutig zu Gunsten der Gegenwart aufgelöst, sondern bleibt ambivalent. Die Produktion von kultureller und nationaler Identität in der Bundesrepublik, bei der Bilder vom Nationalsozialismus als ein konstitutives Außen fungieren, wird im Roman auf diese Weise dekonstruiert. Faserland verarbeitet unter Rückgriff auf Diskurselemente aus dem Mediensystem der 1990er Jahre die kulturelle Identitätskonstruktion unter Verweis auf die Omnipräsenz des Nationalsozialismus außerhalb und innerhalb des Kultursystems, in Vergangenheit und Gegenwart, als Text bzw. Erinnerung sowie, verkörpert durch die Generation der vor 1933 Geborenen, als faktisches Phänomen: Dieser Rentner […] sah sicher früher auch nicht aus wie ein Nazi. Und der Taxifahrer […] auch nicht. Dabei sieht man es ihm im Gesicht an, daß er einmal ein KZ-Aufseher gewesen ist oder so ein Frontschwein, der die Kameraden vors Kriegsgericht gebracht hat, wenn sie abends über den blöden Hitler Witze gemacht haben, oder daß er irgendein Beamter war, in einer hölzernen Schreibstube in Mährisch-Ostrau, der durch seine Unterschrift an einem Frühjahrsmorgen siebzehn Partisanen, ihre Frauen und ihre Kinder liquidieren ließ. Daran muß ich denken. (FL, 94)
In der internen Fokalisierung der Erzählung erscheint die Präsenz von Nationalsozialisten allerdings vorwiegend als ästhetisches Phänomen. Nicht nur die Generationenzugehörigkeit oder die Gesinnung werden als markantes Kennzeichen von ‚Nazitum‘ wahrgenommen, sondern insbesondere die jeweilige ästhetische und stilistische Inferiorität der Figuren. Der Protagonist fragt sich, „wie diese schönen Menschen“, die er aus alten Fotografien kennt, „es um Gottes willen denn fertigbringen, jetzt, fünfzig Jahre später, so erbärmlich auszusehen.“ (FL, 93) Schon mit der im Titel des Romans implizierten Referenz auf Robert Harris’ Alternativweltroman Fatherland (1992) deutet sich an, dass hinsichtlich des ‚Themenfeldes Nationalsozialismus‘ noch eine zweite Bedeutungsebene existiert. Das Aufscheinen von ‚Nazis‘ lässt sich als Manifestation eines Subtextes lesen, der gleichsam unterhalb der erzählten Welt, welche die Gegenwart der BRD in den 1990er Jahren schildert, als historisch-kontingente Möglichkeit präsent ist. Die Kontingenz von Geschichte, die Möglichkeit alternativer Welten – für Kracht auch in seinem Roman Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten (2008) das entscheidende Thema –, wird in Faserland an mehreren Stellen angedeutet. Die metaphorische Codierung Deutschlands als selbstreplizierende Maschine (FL, 153) kann in diesem Zusammenhang als eine Anspielung auf das Werk Philip K. Dicks gelten, der mit The Man in the High-Castle (1962) einen der prominentesten Alternativweltromane über die Möglichkeit eines Sieges Deutschlands im Zweiten Weltkrieg vorgelegt hat.
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Aus dieser Sicht erscheinen die eingeschobenen Reflexionen des Protagonisten, in denen es etwa um die Bombardierung Deutschlands durch die Alliierten oder um Anekdoten aus den 1930er und 1940er Jahren geht, nicht nur wie unbeholfene Versuche, mit dem kollektiven und schuldbehafteten Trauma der ‚Zäsur 1945‘ fertig zu werden. In ihnen kommt zugleich die Sehnsucht nach einem nicht vom Faschismus kompromittierten Verhältnis zur Nation zum Ausdruck. In der Mitte der Erzählung bewundert der Protagonist das von den Bombenangriffen der Alliierten verschonte Heidelberg: „So könnte Deutschland sein, wenn es keinen Krieg gegeben hätte und wenn die Juden nicht vergast worden wären. Dann wäre Deutschland so wie das Wort Neckarauen“ (FL, 85). Den Dystopien von Philip K. Dick und Robert Harris, in denen Deutschland den Zweiten Weltkrieg gewonnen hat, wird hier, ironisch vermittelt über den naiven Duktus des ‚unzuverlässigen‘ und nur mäßig gebildeten Erzählers, die romantische Utopie eines Deutschland entgegengesetzt, in dem es Weltkrieg und Holocaust nie gegeben hat. Die Auflösung des Politischen in Ästhetik, die für die Wahrnehmung des Faserland-Protagonisten typisch ist, zeigt sich ebenfalls im Hinblick auf die Darstellung linker Protestkultur. Über einen links-alternativen Taxifahrer sinnierend erörtert der Protagonist, dass er Demonstrationen gerne wegen der Atmosphäre besuche, also aufgrund ästhetischer Kriterien, nicht jedoch aus politischen Motiven. Zwar empfindet er Ekel gegenüber den von den Demonstranten kritisierten ‚herrschenden Zuständen‘, ebenso jedoch auch gegenüber den ästhetischen Ausdrucksformen der Demonstranten sowie, vor allem, gegenüber der medialen Berichterstattung:
[…] und dann stolpert ein Demonstrant, irgend so ein armes Schwein, der sich die Schnürsenkel an seinen blöden Doc Martens nicht gescheit zugebunden hat, und dann fallen ungefähr achtzig Polizisten über den her und prügeln auf ihn ein. Davon gibt es dann Fotos in der Zeitung, und dann wird wieder diskutiert, ob die Polizei zu gewalttätig ist, oder die Demonstranten oder beide und ob die Gewaltspirale eskaliert. Das ist wieder so ein unglaublicher Satz. Daran läßt sich doch alles ablesen über diese Welt, wie unfaßbar verkommen alles ist. Aber das würde der Taxifahrer nicht verstehen, weil er sonst ja auch ein Jackett von Davies & sons [sic!] tragen würde, sich die Haare anständig schneiden und kämmen und seinen Regenbogen-Friedens-Nichtraucher-Ökologen-Sticker von seinem Armaturenbrett reißen würde (FL, 30).
Ebenso wie sein Freund Nigel grenzt sich der Protagonist von allen Berufsgruppen und Milieus ab, die ihm in der Gegenwartsgesellschaft begegnen: „Linke, Nazis, Ökos, Intellektuelle, Busfahrer, einfach alle.“ (FL, 31) Der Text entwirft damit ein skizzenhaftes Portrait der Gesellschaft der BRD, welches vom Erzähler im Zuge einer Affektabwehr abgewiesen wird. Den Versuch seiner Freunde Nigel
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und Alexander, der Gegenwartskultur durch zeichentheoretisch informierte Subversionspraktiken oder die Verweigerung von Dialog zu begegnen, unternimmt er dabei ebenso wenig wie irgendeine andere Strategie. Seine Haltung ist vielmehr die des Zweiflers, der sich nicht positionieren kann, und in einer Fluchtbewegung, die zur Selbstauslöschung tendiert, letztlich verschwindet. Zu der Abwehrgeste gehört auch eine sozioökonomische Grenzziehung, die von milieuspezifischen Sinngrenzen überlagert wird. Die Menschen, zu denen der Ich-Erzähler gehört, sind „Auserwählt[e]“ (FL, 153), die keiner geregelten Arbeit nachgehen, ökonomisch sorgenfrei sind, und dabei – ganz in der Tradition des Fin de Siècle – an der Langeweile beinahe zugrunde gehen, „während alle um sie herum dasselbe tun, nur eben ein ganz klein wenig schlechter“ (ebd.). Es ist die ästhetische Abgrenzung gegenüber der als langweilig und stillos attribuierten Außenwelt, die eine zentrale Funktion für die Stabilität der hier geschilderten Subjektivität besitzt. Alle Strategien, angesichts des ‚Ennui‘ der Gegenwart ästhetisch zu existieren, werden vom Protagonisten verworfen. Übrig bleibt die Entfremdung vom sozialen und kulturellen Umfeld: Es gibt so Momente, in denen ich alles genau verstehe, so, wie mit Nigel und seinen T-Shirts, und dann plötzlich entgleitet mir wieder alles. Ich weiß, daß es mit Deutschland zu tun hat und auch mit diesem grauenhaften Nazi-Leben hier und damit, daß die Menschen, die ich kenne und gern habe, so eine bestimmte Kampf-Haltung entwickelt haben und daß es für sie nicht mehr anders möglich ist, als aus dieser Haltung heraus zu handeln und zu denken. Das verstehe ich ja noch. Aber manchmal verstehe ich den Ansatz dieser Haltung nicht, die Herangehensweise, und dann frage ich mich, ob das immer schon so war und ob ich nicht vielleicht auch so bin, eben für die anderen überhaupt nicht mehr nachvollziehbar (FL, 70).
Als der Ich-Erzähler die Grenze am Bodensee passiert, wird kurzzeitig – in Anlehnung an die Tradition des Philohelvetismus – die Schweiz als Lösungsmodell aufgerufen (vgl. Bühler/Marquard 2009). Mit dem ‚Modell Schweiz‘ wird in sämtlichen Dimensionen ein Gegensatz zum Deutschlandbild aufgebaut. Alles wendet sich plötzlich ins Positive: Der Protagonist beginnt regelmäßig zu essen, während vorher nahezu ausschließlich Exkretionen geschildert wurden, trinkt keinen Alkohol mehr, denkt darüber nach, mit dem Rauchen aufzuhören, und unternimmt Spaziergänge. Es handelt sich zugleich um die einzige Textstelle der Erzählung, an der die singulative Frequenz durch iterative Einschübe unterbrochen und so eine eindeutig codierte Zeitraffung eingeführt wird. Deutschland rückt dabei in das Außen der Wahrnehmung des Protagonisten: Es ist so, als habe sich das riesengroße Land einfach verflüchtigt, und obwohl die Menschen hier auch noch Deutsch sprechen und auf den Schildern überall deutsche Sätze stehen,
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scheint es mir so, als ob Deutschland nur noch eine Ahnung wäre, eine große Maschine jenseits der Grenze, eine Maschine, die sich bewegt und Dinge herstellt, die von niemandem beachtet werden (FL, 149).
Als der Erzähler in einer Zeitung über den Selbstmord eines Freundes liest, wird dieses Modell wieder in das Deutschlandbild integriert. Die Schweizer Grenze ist keine Grenze zu einem Außen mehr, sondern lediglich eine Konstruktion im Inneren der Maschine: ch denke daran, daß die Schweiz so ein großes Nivellier-Land ist, ein Teil Deutschlands, in dem alles nicht so schlimm ist. Vielleicht sollte ich hier wohnen, denke ich. […] Vielleicht ist die Schweiz ja eine Lösung für alles (FL, 151).
In diesem Zusammenhang wird eine konjunktivische Prolepse eingeführt, in der der Protagonist mit der David Lynch-Darstellerin Isabella Rossellini und mehreren Kindern in einer Holzhütte am Zürcher See lebt und – gleichsam in der Struktur einer mise en abyme – vom verschwundenen und vergangenen Deutschland berichtet: Von den Deutschen würde ich erzählen, von den Nationalsozialisten mit ihren sauber ausrasierten Nacken, von den Raketen-Konstrukteuren, die Füllfederhalter in der Brusttasche ihrer weißen Kittel stecken haben, fein aufgereiht. Ich würde erzählen von den Selektierern an der Rampe, von den Geschäftsleuten mit ihren schlecht sitzenden Anzügen, von den Gewerkschaftern, die immer SPD wählen, als ob wirklich etwas davon abhinge, und von den Autonomen, mit ihren Volxküchen und ihrer Abneigung gegen Trinkgeld. […] Von den Kellnern würde ich erzählen, von den Studenten, den Taxifahrern, den Nazis, den Rentnern, den Schwulen, den Bausparvertrags-Abschließern, von den Werbern, den DJs, den Ecstasy-Dealern, den Obdachlosen, den Fußballspielern und den Rechtsanwälten (FL, 153).
Bevor der Protagonist im Anschluss an diese Phantasie die letzte Grenze, die Mitte des Zürcher Sees passiert, wird mit Klopstock, Hölderlin und Thomas Mann die Tradition des bildungsbürgerlichen Kanons aufgerufen und gegen die für die Literatur nach 1945 kanonischen Autoren Max Frisch, Friedrich Dürrenmatt und Hermann Hesse – die drei ‚großen Schweizer‘ – abgegrenzt (FL, 154). Ohne weitere Begründung zieht es den Erzähler im letzten Teil des Romans zum Grab Thomas Manns. Die Anziehungskraft des Grabes kann hierbei auf mehreren Ebenen gelesen werden: Einerseits ist das Grab Manns – „Where I am, there is Germany“ – ein Symbol für das zuvor phantasierte Erinnern an ein vergangenes Deutschland. Zugleich steht Thomas Mann – der in den USA gegen den Nationalsozialismus polemisierte, sich der Remigration verweigerte und auch für die
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unmittelbare Nachkriegskultur nur wenig Sympathie hegte – für eine radikale Absage an den Nationalsozialismus und die BRD aus der Position eines Bildungsbürgers heraus. Die Szene am Ende des Romans, in der ein Hund auf dem Kilchberger Friedhof auf ein Grab abkotet, von dem wegen Dunkelheit nicht genau gesagt werden kann, ob es sich um das Grab Thomas Manns handelt, lässt sich einerseits als herablassende Geste gegenüber dem Hochkulturschema lesen, andererseits auch als Scheitern des Versuchs einer eindeutigen Sinnzuschreibung. Darüber hinaus deutet sich in der Szene an, dass das mit Thomas Mann aufgerufene Subjektmodell des Bildungsbürgertums angesichts der existenziellen Ausweglosigkeit des Protagonisten – ebenso wie die Schweiz oder die Anti-Haltung seiner Freunde – keine Lösung zur Verfügung stellen kann. Das zunehmende Erkennen des Scheiterns sämtlicher Strategien gegen die existenzielle Leere und die ästhetischen Zumutungen der Gegenwartskultur ist es, was die Bewegung des Romans letztlich in Gang hält und sie auf das Ende zusteuern lässt. In dem Moment, in dem der Protagonist seine Ausweglosigkeit als solche durchschaut, nachdem er versucht, das Grab Thomas Manns ausfindig zu machen, und dabei scheitert, nachdem keine Grenze mehr übrig bleibt, die überschritten werden könnte, verschwindet er endgültig. Das Auftauchen des Hundes am Ende der Erzählung schließt gewissermaßen einen symbolischen Kreis, der gleich in der Anfangsszene auf Sylt eröffnet wird, in der ebenfalls ein Hund exkretiert. Die Exkretion der Hunde bildet einen symbolischen Handlungsrahmen für die Versuche des Protagonisten, angesichts der Omnipräsenz von latentem Faschismus, Langeweile und Sinnleere ästhetisch zu existieren. Mit Gustav Seibt und Oliver Jahraus lässt sich die hieraus resultierende Position als die eines ‚ästhetischen Fundamentalismus‘ bezeichnen (vgl. Jahraus 2009), deren einzig möglicher Existenzmodus, paradoxer Weise, der des Verschwindens ist. Auch die Frage, ob die Schlussszene des Romans als Selbstmord lesbar ist, wird durch eine paradoxe Verschränkung von symbolischer Ebene und Handlungsebene im Zustand der Ambivalenz gehalten. Dass die Hauptfigur Selbstmord begehen will, als sie den Zürcher See überquert, wird durch die Aufrufung einer ‚Hades-Szene‘ nahelegt: Es gibt eine Charon-Figur, die Geld erhält, um den Protagonisten auf „die andere Seite“ (FL, 158) zu bringen. Der Text endet damit, dass das Boot „[s]chon bald“ (ebd.) die Mitte des Sees erreicht. Damit bleibt eine unüberbrückbare Differenz zwischen der Handlungsebene und dem Mythos bestehen. Überquert das Boot die Mitte des Sees, ist der Protagonist symbolisch im Hades, physisch aber unversehrt. Springt er in der Mitte des Sees ins Wasser, um zu ertrinken, wird die symbolische Überfahrt des Acheron unterbrochen. Der Selbstmord wird also auf beiden Ebenen zugleich behauptet und gleichsam
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‚durchgestrichen‘. Was bleibt, ist das Verschwinden als ästhetische Geste, als reines Movens.
3 Rezeption und Folgen Die zeitgenössische Literaturkritik stand Faserland zunächst überwiegend skeptisch bis ablehnend gegenüber. Für Gustav Seibt (1995) ist das Buch literarisch „ungefähr so wertvoll wie seine Titelpointe, die das Vaterland auf Klamotten und schlechte Aussprache reduziert“. Er konstatiert eine „Wiederkehr des Standesdünkels“ und stellt die Schilderung der „sinnleeren Oberflächenwelt“ in den Vordergrund (ebd.). Auch Christoph Vormweg (1995) hält den Roman allenfalls für die Bloßstellung der „Deutschlandimpressionen eines Reichen-Söhnchen“, die „so dokumentarisch wie unerträglich“ ist. Volker Marquard (1995) urteilt in der TAZ, der Roman suggeriere, dass „der Twen von heute und von Welt […] seine geistige Heimat in der Literatur und Haltung der Großväter“ suche; Krachts „Pennälerprosa“ schildere lediglich „die Bewusstwerdung eines Spießers“. Thomas Groß (1995) erkennt in Faserland die „Idee einer romantischen Subversion der Verhältnisse im Geiste des New-Wave-Dandyismus“ der 1980er Jahre, die in den 1990er Jahren allerdings an ihre Grenzen gerate. Kracht gelinge es, in Anlehnung an Bret Easton Ellis, J. D. Salinger und Joseph von Eichendorff ein handwerklich gut gemachtes Stück Prosa zu präsentieren, das allerdings nicht mehr sei als das Aufmotzen der „Dramaturgie des Tempo-Features mit etwas Bildung“ (ebd.). Im Kontext der Populärkultur avanciert Faserland hingegen innerhalb kurzer Zeit zum Erfolgsbuch. In den Debatten über Popliteratur, die in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre einsetzten, wird der Roman als eine Art ‚Gründungsdokument‘ gehandelt. Martin Hielscher konstatiert im Jahr 2001, dass Faserland ein Klima geschaffen hätte, welches den Erfolg von „Autorinnen und Autoren wie Elke Naters, Alexa Hennig von Lange, Benjamin von Stuckrad-Barre, Thorsten Krämer, aber auch Silvia Szymanski und Sibylle Berg, Sven Lager und Tobias Hülswitt“ überhaupt erst ermöglicht habe (Hielscher 2001, S. 41). Selten sei
ein Debütroman […] so schlecht und falsch, so voller Ressentiment und ideologischer Abwehr verworfen worden, während er gleichzeitig sehr schnell zu einem Kultbuch wurde, das aus der Literaturgeschichte nicht mehr wegzudenken sein wird (ebd.).
Auch in der literaturwissenschaftlichen Rezeption erscheint Faserland zunächst häufig als Gründungsdokument der neuen deutschen Popliteratur (Baßler 2002,
Kracht, Christian: Faserland
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S. 110; Ernst 2005, S. 72 f.; Seiler 2006, S. 280 f.). Hervorgehoben werden die Schilderung einer maßgeblich durch Marken semantisierten Alltagswelt (Brinkmann 2007; Gesche 2007; Stauffer 2009), der Bezug zur Populär- und Jugendkultur (Gesing 2001) sowie der für die 1990er Jahre ungewöhnliche Tonfall der Erzählstimme (Döring 2001). Seit Erscheinen von 1979 wird die Einordnung von Faserland als popliterarisches Manifest jedoch zunehmend relativiert (Hielscher 2004; Rauen 2009). Im Vordergrund stehen stattdessen Anknüpfungen an Traditionen wie die US-amerikanische Literatur des 20. Jahrhunderts (Beuse 2001; Steltz 2005; Mertens 2003), die deutschsprachige Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts (Meinen 2010) und, vor allem, den Dandyismus des frühen 20. Jahrhunderts (Biendarra 2002; Clarke 2005; Domsch 2009). Der Rückgriff auf das Sinnreservoir von Ästhetizismus und Decadence wird häufig auch im Kontext von Fragen der Autoreninszenierung verhandelt (Lettow 2001; Niefänger 2004). Gemeinsam mit dem für Kracht auf vielen Ebenen typischen Motiv des Verschwindens (Glawion/Nover 2009) entsteht so das Bild eines poetologischen Gesamtkonzepts, das unterschiedliche Diskurse und Medien aufgreift und spezifische Formen des Ästhetizismus (Jahraus 2009) sowie des posthistorischen Schreibens (Baßler 2010; Conter 2009) stark macht.
Literatur Dick, Philip K.: The Man in the High-Castle. New York: G. P. Putnam 1962. Ellis, Bret Easton: American Psycho. New York: Vintage Books 1991. Ellis, Bret Easton: Less than Zero. New York: Simon & Schuster 1985. Harris, Robert: Fatherland. London: Hutchinson 1992. Kerouac, Jack: On the Road. New York: Viking Press 1957. Kracht, Christian: 1979. Roman. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2001. Kracht, Christian: Faserland. Roman. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1995. Kracht, Christian: Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten. Roman. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2008. Kracht, Christian: Triptychon. Zürich: Swissandfamous Verlag 2011.
Sekundärliteratur Baßler, Moritz: Der deutsche Pop-Roman. Die neuen Archivisten. München: C. H. Beck 2002. Baßler, Moritz: „Have a nice apocalpyse!“ Parahistorisches Erzählen bei Christian Kracht. In: Stefan Bodo Würffel, Reto Sorg (Hg.): Utopie und Apokalypse in der Moderne. Paderborn, München: Fink 2010, S. 257–272.
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Michael Peter Hehl
Beuse, Stefan: „154 schöne weiße leere Blätter“. Christian Krachts ‚Faserland‘ (1995). In: Wieland u. Winfried Freund (Hg.): Der deutsche Roman der Gegenwart. München: Fink 2001, S. 150–155. Biendarra, Anke S.: Der Erzähler als „postmoderner Flaneur“ in Christian Krachts Roman ‚Faserland‘. In: German life and letters 55/2 (2002), S. 164–179. Birgfeld, Johannes, Claude D. Conter: Christian Kracht – Leben und Werk. Eine Chronologie. In: Dies. (Hg.): Christian Kracht. Zu Leben und Werk. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2009, S. 271–278. Brinkmann, Martin: Unbehagliche Welten. Wirklichkeitserfahrungen in der neuen deutschsprachigen Literatur, dargestellt anhand von Christian Krachts „Faserland“ (1995), Elke Naters „Königinnen“ (1998), Xaver Bayers „Heute könnte ein glücklicher Tag sein“ (2001) und Wolfgang Schömels „Die Schnecke. Überwiegend neurotische Geschichten“ (2002). In: Weimarer Beiträge 53/1 (2007), S. 17–46. Bühler, Patrick, Franka Marquard: Das „große Nivellier-Land“? Die Schweiz in Christian Krachts Faserland. In: Johannes Birgfeld, Claude D. Conter (Hg.) 2009, S. 76–91. Clarke, David: Dandyism and homosexuality in the novels of Christian Kracht. In: Seminar 41/1 (2005), S. 36–54. Conter, Claude D.: Christian Krachts posthistorische Ästhetik. In: Johannes Birgfeld, Claude D. Conter (Hg.) 2009, S. 24–43. Domsch, Sebastian: Antihumaner Ästhetizismus: Christian Kracht zwischen Ästhetik und Moral. In: Johannes Birgfeld, Claude D. Conter (Hg.) 2009, S. 165–178. Döring, Jörg: „Redesprache, trotzdem Schrift“. Sekundäre Oralität bei Peter Kurzeck und Christian Kracht. In: Christian Jäger, Thomas Wegmann (Hg.): Verkehrsformen und Schreibverhältnisse. Medialer Wandel als Gegenstand und Bedingung von Literatur im 20. Jahrhundert. Opladen: Westdeutscher Verlag 1996, S. 226‐233. Ernst, Thomas: Popliteratur. Hamburg: Europäische Verlagsanstalt 2005. Gesche, Janina: Versuch einer Selbst-Definition in der Konsum- und Spaßgesellschaft in Christian Krachts Roman „Faserland“. In: Moderna språk 101/2 (2007), S. 157–168. Gesing, Fritz: Blütenstaub im crazy Faserland. Stimmen der Jugend am Ende des 20. Jahrhunderts. In: Klaus-Michael Bogdal (Hg.): Jugend. Psychologie – Literatur – Geschichte. Festschrift für Carl Pietzacker. Würzburg: Königshausen & Neumann 2001, S. 323–350. Glawion, Sven, Immanuel Nover: Das leere Zentrum. Christian Krachts „Literatur des Verschwindens“. In: Tacke/Weyand 2009, S. 101–120. Groß, Thomas: Aus dem Leben eines Mögenichts. In: TAZ, 23.03.1995, S. 20. Hielscher, Martin: Aus dem Regen zurück. Die neue Lebendigkeit der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. In: Forum Deutsch 10/1 (2001), S. 39–42. Hielscher, Martin: Pop im Umerziehungslager. Der Weg des Christian Kracht. Ein Versuch. In: Pankau 2004, S. 102–109. Jahraus, Oliver: Ästhetischer Fundamentalismus. In: Johannes Birgfeld, Claude D. Conter (Hg.) 2009, S. 13–23. Lettow, Fabian: Der postmoderne Dandy. Die Figur Christian Kracht zwischen ästhetischer Selbststilisierung und aufklärerischem Sendungsbewusstsein. In: Ralph Köhnen (Hg.): Selbstpoetik 1800‒2000. Ich‐Identitäten als literarisches Zeichenrecycling. Frankfurt/M.: Peter Lang 2001, S. 285–305. Marquard, Volker: Genese eines Spießers. In: TAZ v. 28.2.1995, S. 23.Meinen, Iris: Wertherland: Krachts „Faserland“ in der Tradition des „Werther“. In: Helga Arend (Hg.): „Und wer bist du,
Kracht, Christian: Faserland
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der mich betrachtet?“ Populäre Literatur und Kultur als ästhetische Phänomene. Festschrift für Helmut Schmiedt. Bielefeld: Aisthesis 2010, S. 313–326. Mertens, Matthias: Robbery, assault, and battery. Christian Kracht, Benjamin v. Stuckrad‐Barre und ihre mutmaßlichen Vorbilder Bret Easton Ellis und Nick Hornby. In: Text + Kritik Sonderband: Pop‐Literatur (2003), S. 201‐217. Niefanger, Dirk: Provokative Posen. Zur Autorinszenierung in der deutschen Popliteratur. In: Pankau 2004, S. 85–101. Pankau, Johannes G. (Hg.): Pop, Pop, Populär. Popliteratur und Jugendkultur. Oldenburg: Universitätsverlag Aschenbeck & Isensee 2004. Rauen, Christoph: Schmutzige Unterhose wird sauberer Büstenhalter. Zur „Überwindung“ von Postmoderne und Pop bei Christian Kracht. In: Johannes Birgfeld, Claude D. Conter (Hg.) 2009, S. 116–130. Ruf, Oliver: Christian Krachts New Journalism. Selbst-Poetik und ästhetizistische Schreibstruktur. In: Johannes Birgfeld, Claude D. Conter (Hg.) 2009, S. 44–60. Seibt, Gustav: Trendforscher im Interregio. Für Bessergekleidete: Christian Krachts Deutschland. In: FAZ, 22.05.1995, S. 36. Seiler, Sascha: „Das einfache wahre Abschreiben der Welt“. Pop-Diskurse in der deutschen Literatur nach 1960. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006. Stauffer, Isabelle: Faszination und Überdruss. Mode und Marken in der Popliteratur. In: Alexandra Tacke, Björn Weyand (Hg.) 2009, S. 39–59. Steltz, Christian: Wie schreibt man sich in die Geschichte ein? Eine gattungspoetische Betrachtung von Christian Krachts Romandebüt Faserland. In: Corinna Schlicht (Hg.): Lebensentwürfe. Literatur‐ und filmwissenschaftliche Anmerkungen. Oberhausen: Verlag Karl Maria Laufen 2005, S. 33‐48. Tacke, Alexandra, Björn Weyand (Hg.): Depressive Dandys. Spielformen der Dekadenz in der Pop‐Moderne. Köln: Böhlau 2009. Vormweg, Christoph: Trübe Erben. ‚Faserland‘, Phrasenkatalog eines vermögenden Twen. In: Süddeutsche Zeitung, 05.04.1995.
Sonstiges [o.A.]: Mann finds US Sole Peace Hope. [Interview mit Thomas Mann]. In: New York Times, 22.02.1938, S. 13. Dundes, Alan: Life is Like a Chicken Coop Ladder: A Portrait of German Culture Through Folklore. New York: Columbia University Press 1984.
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Marja Rauch
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Lange-Müller, Katja: Verfrühte Tierliebe. [Erzählung] (Köln: Kiepenheuer & Witsch) 1 Entstehung und Kontext Katja Lange-Müller wurde 1951 in Ostberlin geboren. Zwischen 1979 und 1982 hat sie das Literaturstudium am Johannes R. Becher Institut absolviert, bevor sie 1984 die DDR verlassen konnte. Für ihr schriftstellerisches Werk hat sie zahlreiche Preise erhalten, u. a. 1986 den Ingeborg-Bachmann-Preis, 1995 den Alfred-Döblin-Preis sowie 2005 den Kasseler Literaturpreis für grotesken Humor.
2 Inhalt und Analyse Der Erzählband Verfrühte Tierliebe (= VT) erzählt in zwei fiktiv-autobiographischen Teilen von der Konfrontation der namenlosen Erzählerin mit der männlichen Autorität des Staates. Diese wird im ersten Teil mit dem Titel ‚Käfer‘ verkörpert durch den Biologielehrer, im zweiten Teil mit dem Titel ‚Servus‘ durch einen Kaufhausdetektiv. In beiden Erzählungen verknüpft sich der subjektive Widerstand gegen das politische System mit der Einsicht des Scheiterns der Befreiungsversuche. Damit entsteht ein äußerst kritischer Rückblick auf die DDR, der mit den Mitteln der literarischen Groteske und Satire das individuelle Erleben zum Anlass einer umfassenden Gesellschaftskritik nimmt. Der erste Teil der Erzählung widmet sich der Erinnerung an die Schule und die damit verbundene Sozialisation. Die Erinnerungen kreisen um den Beginn des achten Schuljahres, in dem mit dem Biologielehrer Bisalski eine Figur auftritt, der es zunächst gelingt, die erotische Aufmerksamkeit der namenlosen Ich-Erzählerin auf sich zu lenken. Eine Einladung zum Käfersammeln im nächsten Frühjahr nimmt sie daher gerne an. Zum Treffpunkt erscheint sie in einem „neuen Perlonfummel“ (VT, 46), der den Ausflug bereits vor seinem Beginn zu einem grotesken Erlebnis werden lässt, das seinen Höhepunkt findet, als die Erzählerin einen Apfelbaum schüttelt und von Rosenkäfern übersät wird. Von einem „überfallartig mich ergreifenden Ekel“ gepackt, flüchtet die Erzählerin, um bald darauf von Bisalski ein vernichtendes Urteil zu erfahren: „undiszipliniert, unselbständig, unaufmerksam, ichbezogen, zuchtlos, zimperlich und wehleidig, kurz gesagt, für die wissenschaftliche Arbeit in Wald und Flur ungeeignet“ (VT, 57f.), sei sie, so der Lehrer, der sie geradewegs in die Schule zurückschickt. Die Situation ist für
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die Erzählerin eine erste Erfahrung der Scham: „Tränen der Scham, auch der Wut gegen mich selbst quollen mir aus den Augen“ (VT, 55). Der Demütigung durch den Lehrer weiß sie nichts entgegenzusetzen. Nach den Herbstferien erhält sie völlig überraschend den Nachlass des plötzlich verstorbenen Bisalski, insbesondere seine Sammlung von Käfern. In einem Zustand der Trunkenheit öffnet die Erzählerin die Kästen, um die einmal etablierte Ordnung zu zerstören: Aus den verschiedenen Käfern fügt sie neue Hybride, wahre Monster zusammen, um sie stolz dem Biologielehrer zu präsentieren. An die Stelle des erhofften Triumphs tritt jedoch erneut eine äußerste Beschämung: Der Lehrer erkennt in ihrer kreativen, auf die eigene Erzählweise zurückreflektierenden Aktion einen „Verrat an der Wissenschaft“ (VT, 76), der die Erzählerin, die selbst zum Käfer mutiert und ihre „Greifinstrumente, Tentakeln, Fangarme“ (VT, 78) einsetzt, um die Tür zu öffnen, dazu bringt, die Schule unaufgefordert zu verlassen: „ich wußte, das würde ein Abschied für immer“ werden. (VT, 80) Die Schule erscheint in der Darstellung Lange-Müllers so als ein Ort der Disziplinierung, dem sich die Erzählerin vergeblich zu widersetzen sucht. Als Monster wie ihre Käferkreaturen erscheint sie den Autoritätspersonen zuletzt selber. Ihre berufliche Karriere ist beendet, bevor sie überhaupt begonnen hat. Die zweite Erzählung nimmt das Thema der Subversion einmal etablierter Ordnungsmuster wieder auf und radikalisiert es. Die nunmehr erwachsene Erzählerin wird im Kaufhaus in der Adventszeit beim Diebstahl ertappt. „Tief in Gedanken, aber eigentlich unbeabsichtigt, steckte ich gleich zwei Päckchen dieser Baumkerzen unter meinen Mantel“ (VT, 89). Die intentionslos vorgenommene Handlung hat desaströse Folgen. Der Kaufhausdetektiv, der sich selbst als unehrenhaft aus der Armee entlassener Offizier zu erkennen gibt, führt sie ab. Die peinliche Situation eskaliert, als er sie auffordert, ihm ihre Kleider für eine Leibesvisitation zu übergeben. Nackt in einer Bauarbeiterkabine eingesperrt, befindet sich die Erzählerin erneut in einer Schamsituation, die sich noch steigert, als sie bemerkt, dass ein Elektriker neben ihr zu onanieren beginnt. Aufgelöst wird die Situation erst, als nach Ladenschluss eine Horde von Putzfrauen die unbekleidete Erzählerin einer männlichen Autoritätsperson namens Helmut übergibt, der sie wiederum der Polizei überantwortet. Mit dem letzten Satz gibt die Erzählerin Aufschluss über die Motivation ihrer Erinnerung: Warum der Warenhausdetektiv, dessen Namen ich nicht kannte, der sich – was von Leuten seiner Art ja niemand erwartete – mir gegenüber weder mit einer Blechmarke noch mit einer amtlich gestempelten Pappe legitimiert, aber auch in keiner Weise zu erkennen gegeben hatte, daß er nicht der sei, für den ich ihn ausgab, nicht zurückgekommen war, habe ich nie erfahren können, nicht bei meiner ersten und einzigen Vernehmung auf der Polizeiwache, nicht bei der Gerichtsverhandlung, nicht Wochen später, als ich schon im Glühlampenwerk
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am Fließband saß, und, den Ausweis einer mir entfernt ähnlich sehenden Freundin in der Tasche, trotz schriftlichen Verbots drei Tage hintereinander stundenlang das Kaufhaus nach ihm absuchte, und auch nicht viele Jahre später, als ich ganz andere Möglichkeiten gehabt hätte, es jedoch vorzog, mich zu erinnern und ihn auf diesem Wege endlich zu vergessen (VT, 139).
Was die Erinnerung bezwecken soll, ist das Vergessen. Die Erzählerin erscheint in beiden Erzählungen als Opfer einer männlichen Willkürherrschaft, der sie sich nicht zu widersetzen weiß. Was das Leben in der DDR aus ihrer rückblickenden Perspektive kennzeichnet, ist eine Erfahrung der Beschämung, von der erst der Akt des Schreibens zu befreien verspricht. Mit den Mitteln der Groteske arbeitet sich die Erzählerin so einen Weg frei, der es ihr erlaubt, sich am Ende der Erzählung von der Vergangenheit zu verabschieden. Es ist, wie die Erzählerin schon im ersten Teil anmerkte, ein Abschied für immer.
3 Rezeption und Folgen Katja Lange-Müllers Band Verfrühte Tierliebe ist auf fast einhellig positive Resonanz gestoßen. Nicht umsonst hat sie 1995 den Alfred-Döblin-Preis für Verfrühte Tierliebe erhalten. Allerdings hat sich die Forschung mit dem Werk von LangeMüller wie mit Verfrühte Tierliebe bisher noch so gut wie gar nicht auseinandergesetzt. Neben der Einführung in ihr Werk, die Claude D. Conter vorgelegt hat, um eine „Eskalation des Widerstandes gegen die Macht, der aus einem gescheiterten Opportunismus kommt“ (Conter 2002, S. 125), zu diagnostizieren, hat sich Inez Müller mit den Geschlechterverhältnissen in der Erzählung auseinandergesetzt. Sie erblickt in der Geschichte „Ausschnitte aus der Sozialisationsgeschichte der Ich-Erzählerin im hierarchisch-autoritären Gesellschaftssystem DDR“ (Müller 2003, S. 236), in der „das Verhältnis der Geschlechter zueinander aufgrund der etablierten gesellschaftlichen Machtstrukturen und den entsprechend definierten Rollenvorgaben von Beziehungs-, Kommunikations- und Verständnislosigkeit geprägt“ (Müller 2003, S. 247) sei. Eine ausführliche Auseinandersetzung mit Lange-Müllers Verfrühte Tierliebe steht dagegen noch aus.
Literatur Lange-Müller, Katja: Verfrühte Tierliebe. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1995.
Lehr, Thomas: Die Erhörung
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Sekundärliteratur Conter, Claude D.: Eine kleine Einführung in Werk und Leben der Berliner Schriftstellerin Katja Lange-Müller. In: Deutsche Bücher 32/2 (2002), S. 121–127. Müller, Inez: Vom Spiel mit sozialen Rollen: Zur literarischen Darstellung emotionaler Kompensationsstrategien in Katja Lange-Müllers ‚Verfrühte Tierliebe‘. In: Literatur für Leser 26 (2003), S. 235–248.
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Lehr, Thomas: Die Erhörung. Roman (Berlin: Aufbau) 1 Entstehung und Kontext Als Thomas Lehr (Jahrgang 1957) 1992 für den Roman Zweiwasser oder die Bibliothek der Gnade mit dem Rauriser Literaturpreis für die beste deutsche Erstveröffentlichung und dem Mara-Cassens-Preis des Literaturhauses Hamburg geehrt wurde, ahnte kaum jemand, dass es sich hierbei nicht um das erstverfasste Buch des Autors handelte. So wie Zweiwasser, namensgebender Held des Romans, hatte auch sein Schöpfer in der Schublade ein fertiges Manuskript, für das er allerdings keinen Verlag finden konnte oder wollte. Erst 1995, im Zuge des Erfolgs von Zweiwasser, erschien der Roman Die Erhörung (= E) im AufbauVerlag, und sein Autor wurde prompt mit dem Förderungspreis Literatur der Akademie der Künste in Berlin und dem Rheingau Literatur Preis ausgezeichnet. Diese sind nur die ersten einer langen Serie von Literaturauszeichnungen (erwähnt seien aber noch der Wolfgang-Koeppen-Preis der Hansestadt Greifswald sowie der Berliner Literaturpreis gekoppelt an die Heiner-Müller-Poetikdozentur der Freien Universität zu Berlin), die Thomas Lehr für seine Werke erhielt. Obwohl Die Erhörung im Vergleich zu den darauffolgenden Werken (in primis den Romanen Nabokovs Katze, 42 und dem zuletzt erschienenen Roman September. Fata Morgana, aber auch der Novelle Frühling) als sperriges und schwieriges Werk gilt, finden sich bereits hier viele literarische und thematische Eigentümlichkeiten des Autors, die später in unterschiedlichen Formen und Ausprägungen wiederzufinden sind.
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2 Inhalt und Analyse Gegliedert in vier Teile, die die verheißungsvollen Titel „In dem nichts Deutliches geschieht“, „Etwas nähert sich“, „Die Ankunft“ und „Die Botschaft“ tragen und die ihrerseits betitelte Kapitel beinhalten, sowie mit einem abschließenden „letzten Bericht“, erzählt der Roman Die Erhörung rückblickend aus der Ich-Perspektive die Geschichte von Anton Mühsal. Der Roman beginnt in Jahr 1965 in G., einem kleinen Ort in der Nähe von München, mit der Rekonstruktion der letzten Augenblicke im Leben von Anton Mühsal senior, dem Großvater des Protagonisten, und springt im darauffolgenden Kapitel in das Jahr 1983 mit Anton Mühsal juniors Rückkehr nach G. Der erste Teil bietet somit eine erste zeitliche und räumliche Orientierung, präsentiert einige wichtige intertextuelle Bezugspunkte und legt zugleich die poetologische Konstruktion des Romans offen. Das in den folgenden zwei Teilen Erzählte wird romanimmanent durch das innere Bedürfnis Anton juniors gerechtfertigt, die Erlebnisse der letzten achtzehn Jahren zu verstehen: „Ich muß mir hier klarmachen, was ich hier schreibe, was ich vorhabe. Alles so zu erzählen, daß auch die Klapsmühlentheorie zu ihrem Recht kommen kann […]“ (E, 39). Jenseits der hier deklarierten Intention Anton juniors erschöpft sich der Roman keineswegs in der Rekonstruktion seiner erlebten Erfahrungen, sondern er umfasst einen größeren Geschichtsraum (von 1918 bis 1986), da auch einige Lebensetappen des Großvaters erzählt werden. Allerdings handelt es sich keineswegs um eine genealogische Erzählung im Stile der Familienromane. Der Autor verwendet zwar einige biographische Abschnitte des Großvaters, um den Zusammenhang der Generationen hervorzuheben, hierbei geht es aber weniger um die biologische Zugehörigkeit von Familienmitgliedern oder um das zeitliche Aufeinanderfolgen von Vor- und Nachfahren, sondern viel mehr um die simultane Präsenz von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in jedem einzelnen Augenblick im Leben einer Person. Zwischen 1965 und 1983 hat der Protagonist und Ich-Erzähler das Gymnasium besucht, in Berlin der ausgehenden 60er und beginnenden 70er Jahre Geschichtswissenschaft studiert, eine Promotion über die Frühphase der Weimarer Republik abgeschlossen, einen Aufenthalt in einer Anstalt für Psychisch-Kranke durchlebt, eine dreijährige Europareise unternommen, fünf Jahre als wissenschaftlicher Referent in einer Universitätsbibliothek gearbeitet und zwischendurch zwei zwanglose Affären mit der langjährigen Freundin Hanna und der verheirateten Frau Patrizia gehabt. Von der Mutter verlassen und nach dem Tod des Vaters Waise, von den Großeltern großgezogen, während des Studiums politisch aktiv, moralisch erhaben, wird Anton Mühsal im Roman als perfekter Vertreter der 68er Generation stilisiert. Er erlebt im Berlin der 60er und 70er Jahre das Attentat auf Rudi
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Lehr, Thomas: Die Erhörung
Dutschke, die Bewegung 2. Juni, Peter Lorenz’ Entführung und wohnt zeitweise mit einem chilenischen Studenten zusammen, sodass auch die Geschichte Chiles Eingang in den Roman findet. Doch es ist weniger diese quasi musterhaft dargestellte Biografie, die den Roman auszeichnet, sondern vielmehr eine eigentümliche Beschäftigung mit dem Zeitbegriff, die sich auch in den folgenden Romanen wiederfindet und die als bedeutendstes Kennzeichen des Autors betrachtet werden kann (Thomas Lehr im Gespräch mit Francisca Ricinski). Durch Lehrs Interesse für die Zeit nimmt Anton Mühsal in Die Erhörung die Züge eines promovierten Historikers an, der im Laufe der Erzählung eine zwanghafte Beziehung zur Vergangenheit entwickelt. Erste Anzeichen dieses gestörten Verhältnisses zeichnen sich während einer Reise durch Südfrankreich ab, auf der Anton ehemalige Mitglieder der Spanienkämpfer- und Résistance-Gruppe besuchen will, denen auch sein Großvater als freiwilliger Kämpfer bei den Milizen des Partido Obrero de Unificación Marxista angehört hatte. In einem Café trinkt er einen Peroquet, „eine leuchtend grüne Mischung aus Pfefferminzsirup, Likör und Wasser“ (E, 49), und diese Farbe wird das Symbol von Antons unaufhaltsamem psychischen Absturz. In Visionen und Träumen taucht das Grüne immer wieder in Form einer leuchtenden Flammenwand auf, hinter der Anton eine Masse dichtgedrängter und -drängender nackter Körper zu entdecken glaubt. Es sind die gesichtslosen Toten der Geschichte, die ähnlich wie in der Odyssee auf der Suche nach einem Autor sind, der ihre Biographien erzählen kann. Als „ewiger Historiker“ (E, 327), als „Chronist der Welt“ (E, 328), als „Auserwählter“ (E, 287) glaubt Anton dieser Autor sein zu können, der das „Gitter aus der Zeit“ (E, 313) nehmen und – einem Engel der Geschichte gleich – Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in Simultanbeziehung stellen kann. In wachem Traumzustand und begleitet von einem Engel, der „nichts mehr zu verkünden“ hat (E, 306), durchlebt er sogar einige Ereignisse der Weimarer Republik, vor allem die des sogenannten Januaraufstandes (9.–12. Januar 1919), wieder und wird daraufhin in eine Anstalt für psychisch Kranke eingeliefert. Was in der Schulmedizin „Schizophrenie“ genannt wird und als klinische Berichte des behandelnden Psychiaters in den Roman Eingang findet, dient Thomas Lehr als Basis für geschichtsphilosophische Reflexionen, die um die Fragen nach Erinnern und Vergessen, nach Verdrängen und Vergegenwärtigen, nach Leben und Tod und natürlich nach Wesen und Werten der Geschichtsschreibung kreisen. Romanimmanent werden Antons schizophrene Schübe durch verdrängte Ereignisse aus der Kindheit erklärt (er hat als Kind die Bilder über den spanischen Bürgerkrieg gesehen, die sein Großvater in einem leuchtenden grünen Ton gemalt hatte), doch die Fragen, die der Roman aufwirft, bleiben bis zum Schluss bestehen: Wie kann man die Weltgeschichte darstellen? Und wie viel Historie verträgt eine Person? Vier Jahre nach dem Erscheinen der deutschen Übersetzung von Hayden Whites Metahistory scheint der Roman Die Erhörung suggerieren zu wollen, dass
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das Problem der Geschichtsschreibung nicht so sehr deren narrativer Kern sei, sondern die Endlichkeit des menschlichen Lebens: Jedem Historiker mangelt es einfach an Zeit. Wäre er unsterblich, oder mit den Worten Anton Mühsals „ewig“, müsste er niemandem zu Diensten sein und hätte das Privileg „alle Herzen“ zu besitzen (E, 330), d. h. wie Odysseus der Gesamtheit der Toten gegenüber zu stehen. Die grausame Kehrseite dieses Gedankenexperiments wäre natürlich die absolute Einsamkeit des ewigen Historikers: Entweder wäre er „ein zynisches Monstrum, das bizarre Gesetze in ein bizarres Buch schreibt“ (E, 330), oder er müsste, „wenn er sein Mitgefühl nicht verlieren würde, unendlich traurig sein […]“ (E, 333). Geschichtsphilosophisch stehen hier dem Roman vor allem Friedrich Nietzsches zweite Unzeitgemässe Betrachtung. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben und Walter Benjamins Über den Begriff der Geschichte explizit Pate. Während für Nietzsche jedoch die Geschichte, bzw. ein Übermaß an Geschichte für die Menschen eine Krankheit darstellt, die das Leben schwächt, und die Historie dem Menschen nützlich sei, nur solange sie im Dienste des Lebens steht, kommen Anton Mühsal „die Massenbewegungen der Revolution von 1918 bestimmter und wichtiger vor als das unwiederbringliche, einmalige Dasein jetzt“ (E, 56). In Anlehnung an Benjamins Konzept des Historikers als rückwärts gekehrtem Propheten, der „der eigenen Zeit den Rücken [kehrt]“ und dessen „Seherblick […] sich an den ins Vergangene verdämmenden Gipfeln der früheren Ereignisse“ entzündet (Benjamin, S. 1235), treten Anton die geschichtlichen Ereignisse „blitzhaft in die Erscheinung“, werden realer und präsenter als die Gegenwart und bestimmen daher eine neue Konfiguration zwischen erzählter Zeit und Vergangenheit. Als mächtige Metapher für die gegenseitige Abhängigkeit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft tritt im Roman das vielschichtig kodierte Bild des Engels hervor, das teilweise in Anlehnung an Benjamins „Engel der Geschichte“ und teilweise an Rilkes Figur des schrecklichen Engels konzipiert ist. Beide Engelsfigurationen sind explizit im Roman thematisiert – dem Roman ist die zweite Duineser Elegie vorangestellt –, und beide erfüllen nicht mehr die in den drei monotheistischen Religionen verankerte Aufgabe der Engel als Vermittlungsinstanzen zwischen Gott und den Sterblichen, als Boten von Gottes Verbum. In Thomas Lehrs Roman sind die Engel grausame Erscheinungen, denen zwar die göttliche Sendung fehlt, die jedoch noch eine Botschaft überbringen können: „Alle Toten [sind] die Opfer aller Lebenden. Und umgekehrt: Alle Lebenden [sind] die Opfer aller Toten“ (E, 372). Diese Botschaft erklärt auch, warum ein Roman, der derart das Verhandeln mit der Vergangenheit fokussiert, die Gräueltaten des Nationalsozialismus nur peripher thematisiert. Literarisch nimmt der Roman nicht nur auf Novalis, Rilke, Marcuse, Nietzsche, Benjamin und Adorno mit expliziten intertextuellen Hinweisen Bezug und lässt sich somit in der deutschen Literatur und Philosophie verankern, sondern er
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behandelt auch das Gilgamesch-Epos, eine der ältesten überlieferten Dichtungen, sowie die archetypische Gestalt des grünen Khezr (auch Khidr, bzw. Chidr genannt) aus der islamischen Tradition, den auch Goethe im ersten Gedicht des West-Östlichen Divan thematisiert (Goethe, S. 7).
3 Rezeption und Folgen Im Vergleich zu anderen Büchern Thomas Lehrs ist der Roman Die Erhörung kaum rezipiert worden und hat die wenigen Rezensenten nicht unbedingt mit Begeisterung erfüllt. Eberhard Rathgeb spricht in seiner Sammelrezension von Zweiwasser und Die Erhörung zwar positive Wörter über das erzählerische Talent des Autors aus, bemängelt aber den intellektuellen Anspruch, der den „Geschichten ein Bein stellt, bevor sie überhaupt ins Laufen kommen“ (FAZ). Im Zuge des Erfolgs von 42 (2005 im Aufbau-Verlag erschienen), wo die Beschäftigung mit dem Zeitbegriff noch offensichtlicher hervortritt, hat der Roman eine kleine Renaissance erlebt, wobei der Autor selbst sich bemüht hat, die Parallelen zwischen den beiden Romanen zu unterstreichen. Weniger Schwierigkeiten hatten die Rezensenten mit dem jüngsten Roman Lehrs, September. Fata Morgana (2011 erschienen im Hanser Verlag), der auch sehr künstlich komponiert ist und wie Die Erhörung voller intertextueller Bezugspunkte steckt.
Literatur Lehr, Thomas: Zweiwasser oder die Bibliothek der Gnade. Berlin: Aufbau 1993. Lehr, Thomas: Die Erhörung. Berlin: Aufbau 1995. Lehr, Thomas: Nabokovs Katze. Berlin: Aufbau 1999. Lehr, Thomas: Frühling. Berlin: Aufbau 2001. Lehr, Thomas: 42. Berlin: Aufbau 2005. Lehr, Thomas: September. Fata Morgana. München: Hanser 2010. Benjamin, Walter: Über den Begriff der Geschichte. In: W. B.: Gesammelte Schriften. Bd. I.2. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1991, S. 691–704. Benjamin, Walter: Über den Begriff der Geschichte. Anmerkungen. In: W. B.: Gesammelte Schriften. Bd. I.3. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1991, S. 1223–1266. Goethe, Johann Wolfgang von: West-Östlicher Divan. In: J. W. v. G.: Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Bd. II. München: C. H. Beck 1982, S. 7–125. Nietzsche, Friedrich: Unzeitgemässe Betrachtungen II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben. In: F. N.: Sämtliche Werke. KSA I. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1988, S 243–334. Rilke, Rainer Maria: Werke. Kommentierte Ausgabe in vier Bänden. Hg. v. Manfred Engel u.a., Bd. 2: Gedichte. Insel, Frankfurt/M., Leipzig: Insel 1996.
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Sekundärliteratur Cacciari, Massimo: L’angelo necessario. Milano: Adelphi, 1986. Opitz, Michael: Hier ist die Zeit der Held. In: Büchermarkt, 09.01.2006, dradio: www.dradio.de/ dlf/sendungen/buechermarkt/456886/. (01.06.2012). Rathgeb, Eberhard: Schweig oder stirb. Phänomenologie der Dünnhäuter: Thomas Lehrs matte Helden. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.11.1995, S. 34. Ricinski, Francisca: Zeit und Zeitbegriff, Thomas Lehr im Gespräch. In: Matrix 2 (2008). Wiederabgedruckt in: Poetenladen: www.poetenladen.de/druckausgabe/printpage.php. (01.06.2012).
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Menasse, Robert: Schubumkehr. Roman (Salzburg: Residenz), Phänomenologie der Entgeisterung (Frankfurt/M.: Suhrkamp) 1 Entstehung und Kontext „Geschichte“ – der größte historische Irrtum ist nicht nur der Titel des Vortrags, mit dem Robert Menasse 1995 die Frankfurter Buchmesse eröffnete (vgl. Menasse 1997), sondern auch zentrales Thema seiner Trilogie der Entgeisterung, deren dritter Teil Schubumkehr (= SU) ebenso in jenem Jahr erschien wie der ihr zugeordnete Essay, die Phänomenologie der Entgeisterung (= PE). Menasse veröffentlichte den Roman Schubumkehr, für dessen Manuskript er 1994 den Marburger Literaturpreis erhalten hatte, zunächst im österreichischen Residenz-Verlag, wechselte aber kurz darauf mit der gesamten Trilogie zu Suhrkamp, wo ihr bereits 1997 ein umfassender Begleitband zur Seite gestellt wurde (vgl. Stolz 1997).
2 Inhalt und Analyse Die vielen Erzählstränge in Schubumkehr gruppieren sich um den 35-jährigen Intellektuellen Roman, der im Jahr 1989 nach längerem Aufenthalt in São Paulo nach Österreich zurückkehrt. Doch statt in das heimatliche Wien verschlägt es ihn nach Komprechts, ein kleines Dorf an der tschechischen Grenze, wo sich seine Mutter und ihr neuer, deutlich jüngerer Mann als Quereinsteiger in „biodynamische[r] Landwirtschaft und Viehzucht“ (SU, 37) versuchen.
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Das private und ökologisch-ökonomische Glück währt allerdings nur kurz: Die Ehe und der Bio-Bauernhof erweisen sich als ebenso zum Scheitern verurteilt wie die „Strukturreform“ (SU, 67), der das Dorf unter dem Motto „Komprechts 2000“ unterzogen wird. Da die Glasfabrik selbst mit billigen Arbeitskräften aus dem Osten kaum mehr rentabel ist, wird mit Hilfe einer Medienagentur an der Selbstdarstellung gefeilt, um Touristen an den „gestrafften Busen der Natur“ (SU, 128) zu locken: Fremdenzimmer werden gebaut, der Steinbruch wird zum Museum und „Abenteuersteinbruch“ umfunktioniert und das Seeufer neu gestaltet. Doch bald sind mehrere Todesfälle zu verzeichnen: Bruno Maria, der Sohn des Bürgermeisters König, wird aufgrund einer Verwechslung ermordet, die alte Frau Nemec, deren Haus am Steinbruch der Modernisierung ebenso weichen soll wie seine Bewohnerin, vergiftet König mit einer Pilzsuppe und folgt dem Bürgermeister mit Herrn Ölzant, dem letzten Arbeiter im Steinbruch, in den Tod. Der Außenseiter Roman nimmt an diesen Geschehnissen nur mittelbar teil, regrediert er doch zunehmend in seinem von Melancholie, Passivität, Einsamkeit und Depression geprägten Landleben. Seine einzige Beschäftigung besteht im wahllosen Filmen seiner Umgebung. So bedeutet dann auch seine letzte, leere Videokassette vom Oktober 1989 das Ende der Geschichte: das der privaten, weil Roman aus der Provinz abreist, und das der historischen, weil sich diejenige Grenze öffnet, die die Komprechtser Feuerwehr zu Beginn des Romans noch aus Versehen unbefugt überschritten hatte. Auch wenn Schubumkehr als Einzelwerk durchaus verstehbar sein mag (vgl. in diesem Sinne Liessmann 1997, S. 264), wird doch nur durch den Kontext der anderen Texte der Trilogie der Entgeisterung verständlich, dass dieses Buch den konsequenten Abschluss einer hoch artifiziellen Konstruktion darstellt (vgl. Krause 2005, z. B. S. 7ff.). So erschließt sich aus dem Zusammenhang mit den beiden Romanen Sinnliche Gewißheit (1988) und Selige Zeiten, brüchige Welt (1991), dass es sich bei dem nachnamenlosen Roman in Schubumkehr wohl um Roman Gilanian – und damit (neben Judith Katz und Leopold Joachim Singer) um eine der drei Hauptfiguren der Trilogie – handelt. Dass Roman seinen Nachnamen in Schubumkehr ebenso eingebüßt hat wie seinen Pass, der gleich nach seiner Ankunft in Komprechts von einem Ziegenbock aufgefressen wird (vgl. SU, 63), lässt sich als Zeichen eines Identitätsverlusts interpretieren, der sich auch in der veränderten Erzählperspektive widerspiegelt (vgl. Krause 2005, S. 67, Fn. 81; S. 84, 245f.): Ist Roman in Sinnliche Gewißheit noch der zu einem „Ich“ fähige autodiegetische Erzähler, spricht der Wechsel zu einem heterodiegetischen Erzähler in Selige Zeiten bereits für einen Verlust dieser Perspektive, der sich mit dem zersplitterten Erzählstil in Schubumkehr schließlich zu einer völligen Selbstentfremdung ausweitet (vgl. Grohotolsky 2004, S. 14; Menasse/Neuber 1995, S. 252).
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Das poetologische und geschichtsphilosophische Programm der Trilogie legt Menasse dagegen in der Phänomenologie der Entgeisterung. Geschichte des verschwindenden Wissens fest. Ihre Konzeption stellt nicht nur ein postmodernes Spiel mit der Grenze zwischen Fiktion und Realität, sondern auch mit der Frage der Autorschaft dar. So ist die Phänomenologie der Entgeisterung zwar einerseits klarerweise das Werk Menasses, andererseits aber ebenso das – sozusagen zur Realität gewordene – Werk des fiktiven Leo Singer, unter dessen Namen Menasse den Essay bereits 1991 veröffentlicht hatte. Noch mehr Verwirrung stiftet, dass es sich bei Singers Buch darüber hinaus um das Plagiat eines Plagiats handelt: Am Ende von Selige Zeiten (= SZ) begeht Leo einen (als Suizid getarnten) Mord an Judith – der beide Fassungen des Essays gewidmet sind! –, um sich als Autor der Manuskripte ausgeben zu können, die sie von seinen zahlreichen Vorträgen in Privatgesprächen angefertigt hatte. „Es löst sich alles in Paraphrasen auf. Wie schön, Originalkopien“ (SZ, 323; vgl. auch SZ, 300 und PE, 30f., 86f.; vgl. auch Meyer 1997). Doch damit nicht genug: Roman Gilanian steht sogar als Autor der gesamten Trilogie zur Debatte. Nicht nur, dass er in (der überarbeiteten Version von) Sinnliche Gewißheit (= SG) von der Niederschrift ebendieses Buches spricht (vgl. SG, 16), er formuliert dort auch das Programm für den „Rückentwicklungsroman“, als der Schubumkehr verstanden werden kann (vgl. z. B. Krause 2005, S. 277):
Ein Roman über den Rückschritt, ja, ein umgedrehter Entwicklungsroman, der am Beispiel eines Individuums zeigt, wie dessen Hoffnungen, Fähigkeiten, Talente […] dazu verurteilt sind zu verkümmern […], eine Geschichte […] von den Erlebnissen, kleinen Abenteuern und Erfahrungen eines jungen Mannes, der sich von der studentisch-marxistischen Allwissenheit zurück zum Bewußtseinsstand der – wie Singer es zu benennen mir nahegelegt hatte – Sinnlichen Gewißheit zurückentwickelt (SG, 214f.).
Was hier bereits anklingt, ist der gedankliche Überbau der vier Werke: Hegels Phänomenologie des Geistes ist Dreh- und Angelpunkt sowohl der fiktiven Gespräche als auch des literarischen Konzepts der Trilogie (das noch offensichtlicher wäre, wenn der zweite und dritte Roman gemäß Menasses ursprünglichem Wunsch Sittlichkeit und Bildung und Das absolute Wissen geheißen hätten). Die Idee der Umkehrung des Hegeltextes zu einer Phänomenologie der Entgeisterung erläutert Singer in Selige Zeiten dabei wie folgt: Hegel beschreibt in seiner Phänomenologie die Entwicklung des Bewußtseins von der primitivsten Stufe bis zum Absoluten Wissen. Aber mit dem Abschluß der Phänomenologie ist ja die Entwicklung des Bewußtseins nicht ebenfalls zum Abschluß gekommen, es hat sich fraglos weiter verändert und entwickelt. Wie? Welche neuen Gestalten hat das Bewußtsein angenommen? Das wolle er erzählen, Hegel nacherzählen, von Hegels Tod bis heute (SZ, 166).
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Und genau dies ist die Phänomenologie der Entgeistung: eine „Arbeit, die die Geschichte seit Hegel reflektiert und die Gegenwart auf den Begriff bringt“ (SZ, 299), indem sie, wie der Titel schon andeutet, Hegels Diagnose rückwärts liest. Beginnt Hegel bei der Sinnlichen Gewissheit, um die Geschichte – die bei ihm eine Geschichte des Geistes bzw. des Bewusstseins ist (vgl. Nüse 2007) – über die Stufen der Wahrnehmung, des Verstandes, des Selbstbewusstseins, der Vernunft und des Geistes über die Religion bis zum höchsten Ziel des Absoluten Wissens zu treiben (vgl. Hegel 1979, S. 11; vgl. auch SG, 185), kehrt Menasse diese Entwicklung um und zeigt in seinem Essay wie anhand seiner Romanfiguren die Rückentwicklung vom Absoluten Wissen zur Sinnlichen Gewissheit (vgl. Buerger 1995). Doch wie kommt es zu dieser „Kehrtwendung, warum ist der Geist von seiner Vollendung zum Ausgangspunkt zurückgeschritten? Durch den Anspruch, sich in der Praxis zu verwirklichen“ (SZ, 298f.). In der Umkehrung drückt sich also der Zweifel an der Übertragbarkeit der Ideen auf die Wirklichkeit aus (vgl. Hagner 1997). Dass sich die Stationen des Hegelschen Fortschritts allerdings ebenso in der richtigen Reihenfolge in den Romanen verorten lassen (vgl. den Beginn mit dem Text Sinnliche Gewißheit), zeugt erneut von der hohen Artifizialität der Konstruktion der Trilogie (vgl. Hagner 1997). Diese Umkehrungen verdeutlichen laut Singer,
daß Ausgangspunkt und Ziel identisch geworden sind, wir sind zum Anfang zurückgekehrt, das heißt, wir sind am Ende. […] Fortschritt? Vergeßt das. Wachsendes Bewußtsein? Lächerlich (SG, 165).
Natürlich hallen in der These, „Bewegung, Entwicklung und Geschichte [seien] zum Stillstand gekommen“ (PE, 86; vgl. PE, 84), die Worte Baudrillards und Gehlens zur Wiederkehr des ewig Gleichen nach (vgl. Jachimowicz 2006, S. 233ff.; Jachimowicz 2007, S. 127, 142ff.; Drynda 2003; Steiner 1997). Dieses Phänomen deutet sich nicht nur in der Rahmung von Schubumkehr an (vgl. Nuber 1995), Roman empfindet darüber hinaus bereits in Sinnliche Gewißheit in einer Vielzahl von Bars und Betten das Gefühl, „daß dieses Jetzt sich nicht wesentlich von vorangegangenen Jetzts unterschied. Alles schien schon einmal gesehen, schon gehört, schon erlebt“ (SG, 292). Die Themen, mit denen sich Menasse in der Phänomenologie der Entgeisterung ebenso wie in der Eröffnungsrede und in zahlreichen Essays kritisch auseinandersetzt, sind somit vor allem Hegels Totalitätsgedanke und seine Auffassung der Geschichte als einer fortschrittlichen und zielgerichteten (vgl. Hagner 1997; Holler 2003; Menasse/Neuber 1995; Menasse 1997). Wenn es also bei Hegel heißt, „[d]ie Weltgeschichte ist der Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit“ (Hegel
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1924), so heißt es bei Menasse: „Geschichte, der Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit, war in dem Moment, als sie begriffen, auch zu ihrem Ende gekommen“ (PE, 11). Damit zeigt sich zweierlei: Erstens ist die Phänomenologie der Entgeisterung nicht nur als Hegelexegese, sondern auch als Gegenwartsdiagnose zu verstehen. Und zweitens werden offenbar nicht nur die Romane durch den Essay, sondern umgekehrt auch der Essay durch die Romane verdeutlicht – eine Form der Wechselwirkung, die die Vermutung provoziert, dass es sich bei der Trilogie der Entgeisterung letztlich sogar um eine verkappte Tetralogie handelt (vgl. Liessmann 1997, S. 283; Krause 2005, z. B. S. 9; Jachimowicz 2007, S. 167). Auch wenn Menasse nicht müde wird, zu betonen, dass Hegelkenntnisse zum Verständnis seiner Romane nicht notwendig seien (vgl. z. B. Menasse/Neuber 1995, S. 244), lässt sich durch sie doch ein deutlicher Mehrwert erzielen. So werden die EntIndividualisierung der Erzählperspektive und die zunehmende Regression und Infantilisierung Romans, deren finale Phase in Schubumkehr kaum zufällig neun Monate dauert, als Zeichen wachsender Entgeisterung und als Rückfall in das Stadium der Sinnlichen Gewissheit interpretierbar (vgl. SU, 160; SG, 129–134, 144; PE, 84). In diesem Zustand befindet sich Roman aus Singers Sicht aber keinesfalls allein. Er ist vielmehr „ein Kind dieser Zeit, noch dazu ein studierter Mann, durchaus ein Exempel für das Bewußtsein am Stand unserer Zeit“ (SG, 128; vgl. SG, 68). Der Unterschied dieser aktuellen Sinnlichen Gewissheit zu ihrem Hegel’schen Vorbild besteht allerdings darin, dass sie das Kennzeichen der unmittelbaren Wahrheit eingebüßt hat: Die Erkenntnis des „Itzt und Hier“ ist in Schubumkehr nicht mehr die „wahrhafteste“ (Hegel 1997, S. 82), sondern zeigt sich relativiert durch ein (auch erzähltechnisch umgesetztes) Nebeneinander einer Vielzahl divergierender „hic et nunc“ (vgl. PE, 86; Nüse 2007; Millner 2007). In diesem Sinne ist wohl auch das subjektive „So sehe ich das“ (PE, 87) am Ende der Phänomenologie der Entgeisterung zu verstehen (vgl. Jachimowicz 2007, S. 170). Insgesamt gilt also tatsächlich Singers Gebot: „Hegel lesen! Wie oft muß ich es noch sagen?“ (SG, 165) Doch Hegels Phänomenologie stellt nicht die einzige Verbindung zwischen den vier Teilen der Trilogie dar. Neben dem Personal, das über die Romane hinweg relativ konstant bleibt, sind es vor allem mehrere Themen und Motive, die die Werke eng verzahnen und deshalb auch in Schubumkehr eine zentrale Rolle spielen (vgl. Jachimowicz 2007, S. 48ff.). Dies gilt erstens für die von allen Figuren empfundene Heimatlosigkeit. Schon der ständige Ortswechsel von Leo und Judith in den beiden ersten Romanen veranschaulicht, was Roman in Komprechts nicht weniger als im Ausland verspürt: „Heimweh, aussichtsloses Heimweh: Entwurzelung“ (SU, 43; vgl. auch SZ, 9, 140, 146; SU, 57). So wurde Schubumkehr wiederholt dem Genre des „Anti
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Heimat-Romans“ zugeordnet (vgl. Breitenstein 1997, S. 185; Drynda 2003, S. 67, Fn. 78), was auch deshalb plausibel erscheint, weil sich Menasse wie kaum ein anderer Autor über Jahre hinweg kritisch mit der österreichischen Mentalität auseinandergesetzt hat. Als Eröffnungsredner und damit als Repräsentant des Schwerpunktlandes Österreich war er deshalb freilich umstritten (vgl. Drynda 2003, S. 149; Holler 2003, S. 96ff.). Ein Kerngedanke seines oft missbilligenden Urteils lässt sich dabei anhand eines weiteren Motivs veranschaulichen, das die Romane durchzieht: Judith entwirft in Sinnliche Gewißheit einen umgekehrten „Engel der Geschichte“, der nicht der Vergangenheit zugewandt der Zukunft entgegengetrieben wird, wie es in der Benjamin’schen Erklärung zu Paul Klees Skizze der Fall ist (vgl. Benjamin 1978, These IX), sondern der mit dem Blick in die Zukunft in die Vergangenheit zurückgedrängt wird (vgl. Millner 2007, S. 219). Versinnbildlicht ist damit eine Gesellschaftsdiagnose:
Wir sind doch die, die den Auftrag von Kindheit an mitbekommen haben, niemals zu vergessen, was unmittelbar vor unserer Geburt war. […] Wir haben immer den Kopf umgedreht bekommen im Hinblick auf die jüngste Vergangenheit. Und gleichzeitig war es auch unsere Generation, die den Auftrag bekommen hat, eine bessere Zukunft zu bauen. Und in Wahrheit ist damit genau das passiert: Es wurde eine gesamte Generation mit dem Rücken voran in die Zukunft, aber mit dem Blick voran in die Vergangenheit, auf den Weg geschickt (Grohotolsky 2004, S. 16f.).
Eng verflochten mit dem Motiv des Engels ist so gleichzeitig ein weiteres romanübergreifendes Thema: der Umgang mit der Geschichte. Roman selbst zeichnet sich in Schubumkehr durch eine Unfähigkeit zur Erinnerung aus (vgl. SU, 72). Die Videoaufnahmen, die er permanent anfertigt, sprechen somit einerseits für den Versuch, diesem Prozess durch eine Art extrakorporales Gedächtnis entgegenzuwirken (vgl. Gerk 1997, S. 42). Andererseits erweist sich die Unfähigkeit zur Erinnerung aber auch als unabdingbare Voraussetzung für die Fähigkeit, zu vergessen (vgl. Drynda 2003; Jachimowicz 2007; Krause 2005; Hagner 1997). Dass sich Roman tatsächlich gar nicht erinnern will, weil er vor seiner unbewältigten Vergangenheit fliehen möchte – offenbar fühlt er sich für den Tod seines Vaters verantwortlich, den er sich in einer ödipalen Phase gewünscht hatte (vgl. SU, 106) –, zeigt sich weniger auf einer bewussten Ebene als in seinen Träumen (vgl. SU, 24, 74; PE, 81; vgl. dazu Breitenstein 1997; Posthofen 1996; Drynda 2003; Steinborn 2007). Auch der Ort Komprechts versucht, seine braune Vergangenheit mit dem Schwarz-Weiß des Werbeprospekts zu übertünchen (vgl. SU, 129, 127). Die Einzigen, die sich gegen die Modernisierung und das damit verbundene Vergessen wehren, sind Frau Nemec und Herr Ölzant und damit die beiden Personen, die noch direkt mit dem alten Steinbruch – und damit einem Vordringen in die
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tiefen Schichten der Vergangenheit – verbunden sind (vgl. SU, 140; Krause 2005, S. 82). Darüber hinaus weckt der Steinbruch Assoziationen zum Konzentrationslager Mauthausen [→ Ransmayr: Morbus Kitahara], die Häuser mit den neu angebauten Fremdenzimmern auf Romans Videobändern ergeben ein Hakenkreuz (vgl. SU, 125) und der Mord an Bruno Maria geschieht aus Fremdenhass. Komprechts wird damit – ähnlich wie Roman – zum Exempel, und zwar für Österreichs mangelnde Aufarbeitung der eigenen faschistischen Vergangenheit (vgl. z. B. SU, 74, 126) [→ Jelinek: Die Kinder der Toten]. Kritisiert wird neben dem Umgang mit der Geschichte aber auch die Zerstörung der eigenen Authentizität für den Tourismus, d. h. die „Musealisierungstendenz“ (Jachimowicz 2006, S. 251, Fn. 42) und die Inszenierung der Natur wie des Lebens der Bewohner. Die Kehrseite erhöhter Attraktivität und Modernisierung ist eine tiefe Entwurzelung, die sich an dem Rückfall der Komprechtser Bevölkerung ins Atavistische und Mythische ablesen lässt (vgl. SU, 130f., 143; Meyer 1997; Holler 2003, S. 197, Fn. 644, S. 230). Auf diese Gleichzeitigkeit der Gegensätze – von Moderne und Mythos, von Tourismus und Fremdenhass, von Erinnerung und Vergessen – weist schon der Titel des Romans hin, der aus einer Erklärung Niki Laudas zur Ursache eines Flugzeugabsturzes der Lauda-Air über Thailand am 26.5.1991 hervorging:
Wenn sich die Schubumkehr unerwartet einschaltet, dann hat man die Vorwärtsbewegung und Rückwärtsbewegung gleichzeitig – da muss es ja alles zerlegen (zit. nach Jachimowicz 2007, S. 136).
Dieses Aufeinandertreffen von Gegenkräften findet im Roman gleich mehrfach statt (vgl. Isenschmid 1995; Steinborn 2007; Jachimowicz 2006; Breitenstein 1997): Während Romans Mutter versucht, gesund zu leben und abzunehmen, wird der Kettenraucher Roman, dem „Gesetz des progressiven Rückschritts“ (SG, 230) folgend, immer fetter. Seiner undurchdringlichen Passivität läuft die übertriebene Aktivität seiner Umgebung ebenso entgegen, wie die Komprechts verordnete Zukunft von der Vergangenheit eingeholt wird. Das Ringen von alter und neuer Zeit in einer Umbruchsituation, […] auf der einen Seite: Modernisierung, Euphorie, Dynamik; auf der anderen Seite: Ängste, Aufleben archaischer Mythen und überlebter Ideologien (SU, 166).
Wenn Fortschritt und Rückschritt hier Hand in Hand gehen, zeigt sich, dass die Welt bereits vor der großen politischen Schubumkehr des Wendejahres aus den Fugen geraten ist – ein Bild, das darüber hinaus auch in dem bruchstückhaften und multiperspektivischen Erzählgestus aufgenommen ist. Komprechts erweist sich durch diese Verleugnung von Gegensätzen als Paradigma der von Menasse kritisierten Entweder-und-Oder-Republik Österreich (vgl. PE, 22).
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Angesichts dieser Analyse verwundert es wenig, dass auch das Phänomen der Grenze und ihrer Überschreitung eine zentrale Rolle in der Trilogie spielt. In Schubumkehr sind dies zum einen geographische Grenzen wie der Eiserne Vorhang oder auch diejenigen, die der „Untergänger“ Ölzant zwischen den Äckern absteckt (vgl. SU, 111f., 66, 141). In Frage stehen zum anderen aber auch die Geschlechtergrenze, die schon im Namen Bruno Maria aufgelöst erscheint, und die Grenze des guten Geschmacks, die bei der medial inszenierten Modernisierung Komprechts mehrfach überschritten wird (vgl. z. B. SU, 143). Darüber hinaus wird auch die Trennung zwischen Fiktion und Realität auf mehreren Ebenen aufgehoben, und zwar sowohl durch die Infragestellung der Autorschaft der Trilogie als auch in der Gestaltung der Figuren (vgl. Jachimowicz 2007, S. 43ff.): Leo und Roman ähneln Menasse, noch mehr verdichten sich bei Leo aber die Bezüge auf Georg Lukács, sodass die Grenzen seiner Individualität verschwimmen (vgl. PE, 84; Holler 2003, S. 203ff.). Die exzessive Verwendung von Zitaten verstärkt diesen Effekt noch zusätzlich: Während die Quellen in den ersten beiden Romanen in erster Linie philosophische und literarische Werke waren, sind die Urheber in Schubumkehr überwiegend österreichische Politiker und Würdenträger. Doch auch literarische Zitate aus Prousts À la recherche du temps perdu oder Stifters Nachsommer, aus Schnitzlers Reigen, Kleists Familie Schroffenstein sowie Verweise auf Brochs Schlafwandler-Trilogie und auf Doderer finden sich ebenso wie ein Selbstzitat aus Sinnliche Gewißheit (vgl. SU, 17; SG, 174; Aspetsberger 1997; Karasek 1995; Krause 2005). Auch das Motiv des Spiegels problematisiert letztlich genau diese Grenze zwischen Fiktion und Realität (vgl. Drynda 2003, S. 201ff.). Die Divergenz zwischen Selbst- und Abbild (vgl. SU, 72, 147) spielt dabei ebenso eine Rolle wie die Spiegelung als Erzählprinzip: Die Romane und der Essay spiegeln sich nicht nur gegenseitig wider, auch die Romane untereinander bespiegeln Aspekte der Realität aus unterschiedlichen Perspektiven (vgl. Krause 2005, S. 125ff.). Noch präsenter ist in Schubumkehr allerdings das Medium des Films. Dies stellt zweifelsohne einen weiteren intertextuellen Verweis dar, nämlich auf Baudrillards „Simulationstheorie“ (vgl. Jachimowicz 2006, S. 242; Jachimowicz 2007, S. 145ff.; Steiner 1997, S. 46ff.): „Das Videostadium hat das Simulationsstadium abgelöst“ (Baudrillard 1989, S. 120). Thematisiert wird die mediale Inszenierung der Wirklichkeit nicht nur durch das werbetechnisch veränderte Bild Komprechts, sondern auch durch zwei Theaterstücke, die die intradiegetische Grenze zwischen Fiktion und Realität verwischen: Eines führt durch einen vermeintlichen Brand zur Überschreitung der tschechischen Grenze, das andere zur Verhaftung des Regisseurs Trisko, der den Mord am Braunsee dramatisch vorweggenommen hatte. Noch deutlicher ist nur die Inszenierung des gefallenen Eisernen Vorhangs:
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„Den Grenzbalken mußten die beiden Außenminister drei- oder viermal heben, bis die Kameramänner und die Fotoreporter zufrieden waren.“ (SU, 180) Hier zeigt sich die „Simulation von Realität“ (SZ, 286) gepaart mit dem Phänomen der „Original-Kopien“ (SG, 116). Dass auf diese Weise „die Realität abgeschafft“ (PE, 80) ist und in zersplitterte Einzeldarstellungen zerfällt, spiegelt sich im postmodernen fragmentierten Erzählprinzip von Schubumkehr ebenso wie in den Videotapes. Während Roman in Sinnliche Gewißheit noch versucht hatte, die fehlenden Zusammenhänge selbst herzustellen (vgl. SG, 261, 113), analysiert er in Schubumkehr nur noch distanziert: Vielleicht war das wirklich ein Charakteristikum für den Menschen in der modernen Zivilisation: daß man mit emphatischem Glauben aberwitzige Zusammenhänge knüpfen muß, um ein Koordinatensystem zu bilden in der Leere, die man sonst nicht ertragen würde (SU, 84; vgl. Menasse/Neuber 1995, S. 252).
Die Videoaufzeichnungen repräsentieren also quasi die Hegelsche sinnliche Gewissheit auf höchstem technischen Stand: die Wahrnehmung einer Vielfalt von Dingen ohne die Fähigkeit, sich zu erinnern oder objektive Zusammenhänge herzustellen (Holler 2003, S. 188).
Denn obwohl die Aufnahmen durch die Auswahl des Gefilmten natürlich nicht jeder Individualität entbehren (vgl. Krause 2005, S. 123), zeugen Romans „[u]nunterbrochen langsame Schwenks“ (SU, 85), die nur selten ins Detail zoomen, doch deutlich davon, dass das Medium an die Stelle der direkten Wahrnehmung getreten ist. Wenn der Lektor und Schriftsteller Roman vom Medium der Schrift in dasjenige des Films wechselt, bedeutet dies – auch wenn die Videoaufnahmen in Schubumkehr sprachlich vermittelt sind (vgl. Steinborn 2007, v. a. S. 234) – einen Übergang vom Versuch des Verstehens zur bloßen Rezeption (vgl. SU, 55, 65f., 147f.; PE, 86; Gerk 1997, v. a. S. 42). Hier findet letztlich also auch eine Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten des „Kunstwerks im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ statt: Wie lassen sich Lebenswirklichkeit und -erinnerung authentisch beschreiben (vgl. Gerk 1997; Holler 2003; Krause 2005; Drynda 2003)? Romans Film jedenfalls „ist kein Leben gewesen, nur Ersatzmaterial, von nachvollziehbarer Bedeutung nur das Banalste“ (SU, 160; vgl. SG, 225, 339). Doch „Roman“ benennt auf selbstreflexive Weise auch Probleme dieser Gattung. So ist sein Name wie viele andere in Schubumkehr sprechend: Anders als der Bürgermeister König, der seinen tschechischen Namen Kral eindeutschen ließ, wehrt sich Frau Nemec gegen diese „Arisierung“ – lautete die Übersetzung ihres Namens doch paradoxerweise „Deutscher“ (vgl. SU, 139f.). Dass sich in „Nemec“ die griechische Mneme („Erinnerung“) ebenso andeutet wie die Nemesis, kommt einer selbsterfüllenden Prophezeiung ähnlich nahe wie der Braunsee,
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an dem der Mord aus Fremdenhass geschieht, und der Name Bruno Marias, der den Kleider- bzw. Geschlechtertausch, der zur tödlichen Verwechslung führt, bereits in sich trägt (vgl. Steiner 1997, S. 52f.; Jachimowicz 2006, S. 254). In „Komprechts“ lässt sich zudem nicht nur das komprimierte Österreich erkennen, sondern auch das Proust’sche „Combray“ aus der Recherche (vgl. SU, 32f.). Die wichtigsten Motive und Themen werden zuletzt auch in der Erzählweise von Schubumkehr wieder aufgenommen. Die wechselnden Perspektiven, die fragmentierten Versatzstücke und Erzählstränge, zwischen denen der Leser aufgefordert ist, selbst Zusammenhänge herzustellen, ähneln den Momentaufnahmen von Romans Videotapes (vgl. Breitenstein 1997; Gerk 1997): Die Kamera der Erzählung schwenkt zwischen den verschiedenen Figuren und Motiven, Romans Träumen und den Auswertungen seiner Aufnahmen durch zwei Ermittler hin und her. Doch die postmodernen Erzähltechniken – eine Unmenge an Zitaten, intertextuellen und selbstreferentiellen Verweisen, die fehlenden Zusammenhänge, die wechselnde Wahrnehmungsinstanz, die Subjektivität der Sinnlichen Gewissheit etc. – bringen nicht nur eine große interpretatorische Offenheit mit sich, sondern auch ein grundsätzliches theoretisches Problem (vgl. Nuber 1995): Wie nämlich kann ein Autor dieser Zeit – und damit der Zeit der Sinnlichen Gewissheit – auch nur versuchen, das Leben als Ganzes, und nicht nur in seinem jeweiligen Hier und Jetzt, zu beschreiben (vgl. Steinfeld 1997)? Eine derartige Geschichte kann
in dieser Form nicht geschrieben werden, denn sie müßte, ließe sie sich auf die Entwicklung vom absoluten Wissen hin zu den modernen Bewußtseinsformen wirklich ein, die dabei stattgefundene Destruktion des Bewußtseins zur eigenen Sache machen und im Zugrundgehen der Idee der Totalität selbst zu Grunde gehen […]. Dem Autor einer solchen Geschichte der Zerstörung der Vernunft würde dann zu Recht der Vorwurf gemacht werden können, daß sie viel mehr von der Zerstörung seiner eigenen Vernunft künde […]. Diese Arbeit trägt also ihr Scheitern schon in sich (PE, 8f.).
Nicht nur Schubumkehr, sondern auch die Phänomenologie der Entgeisterung ist also streng genommen „ein unmögliches Buch“ (Buerger 1995). Menasse zieht seinen Kopf aus dieser Schlinge, indem er sich auf den Standpunkt Hegels stellt: Die methodische Lösung […] kann nur sein, bei Hegel stehenzubleiben und die These vom verschwindenden Wissen wörtlich zu nehmen, d. h. dem Bewußtsein, wie es von Hegel in die Gegenwart fortgeht, nachzublicken (PE, 9f.; vgl. Buerger 1995; Liessmann 1997).
Nur so ist zu erklären, dass Schubumkehr trotz allem noch als großteils kongruente Geschichte wahrgenommen werden kann (vgl. Liessmann 1997).
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3 Rezeption und Folgen Schubumkehr ist der erste Roman Menasses, der in Österreich und Deutschland gleichermaßen rezipiert wurde. Für den Erfolg des Buches sprechen nicht nur die Übersetzungen in mehrere Sprachen, sondern auch die über dreißig Rezensionen allein im Erscheinungsjahr. Das Urteil fiel dabei überwiegend positiv aus (vgl. dazu Holler 2003, S. 273ff.). Vereinzelt wurde kritisch geäußert, Schubumkehr habe die „inhaltliche und sprachliche Dichte“ (Ernst 1995, S. 143) der Vorgänger nicht erreicht (vgl. Steinfeld 1997; Isenschmid 1995), mehrheitlich gilt der Roman aber als „humorig […], abwechslungsreich und unterhaltend“ (Aspetsberger 1997, S. 207) sowie als „wohldurchdachtes, einsichtsreiches und zeitdiagnostisch überaus interessantes Buch“ (Isenschmid 1995; vgl. auch Posthofen 1996). Dies wurde vor allem an der großen Themenvielfalt „von der Grünbewegung über latent esoterische Selbstfindungstendenzen, die Strukturprobleme und die Arbeitslosigkeit bis hin zur politischen Wende 1989“ (Holler 2003, S. 167) festgemacht. Die wiederholte Bezeichnung als „Wenderoman“ (so etwa bei Breitenstein 1997, S. 188f.; Millner 2007, S. 217) ist dennoch problematisch, steht die historische Wende doch so wenig im Mittelpunkt, dass Menasse mitunter sogar „Etikettenschwindel“ und „Motivverlegenheit“ (Isenschmid 1995; vgl. auch Kastberger 2004) vorgeworfen wurde. Insgesamt zeichnet sich Schubumkehr eher durch eine „Verschmelzung verschiedener Genres“ (Posthofen 1996, S. 138) aus. Das Buch lässt sich ebenso als Krimi (vgl. Meyer 1997, S. 73; Breitenstein 1997, S. 188) oder Satire (vgl. Karasek 1995, S. 218; Meyer 1997, S. 73) lesen wie „als postmoderne Intellektuellenodyssee, als amüsante[r] Generationenroman, als scheiternde Liebesgeschichte […], als intertextuelles Literaturrätsel“ (Gerk 2007, S. 37). Menasse selbst bezeichnet Schubumkehr darüber hinaus passend als „AntiBildungsroman“ (Menasse/Neuber 1995, S. 253) und seine Trilogie insgesamt als „umgekehrte Entwicklungsromane, […] Verkümmerungsromane“ (Menasse/Neuber 1995, S. 247; vgl. dazu Steinfeld 1997; Hagner 1997). Auch autobiographische Spuren lassen sich ausmachen (vgl. Breitenstein 1997, S. 185; Drynda 2003, S. 145), eine intensive Auseinandersetzung hat jedoch besonders mit Menasses Strategie stattgefunden, Methoden und Themen der Postmoderne bzw. Posthistoire zu verwenden, um sich gerade dadurch reflektiert davon zu distanzieren (vgl. Drynda 2003; Jachimowicz 2006 und 2007; Holler 2003; Steiner 1997). Mit der Phänomenologie der Entgeisterung hat sich die Kritik dagegen merklich schwer getan. Die wenigen Rezensionen versuchen sich vor allem darüber klar zu werden, wie ernst Menasse dieses Buch überhaupt gemeint haben kann (vgl. Buerger 1995; Holler 2003, z. B. S. 195). Um die Beurteilung des Gehalts der Thesen wird aber bis auf wenige positive Ausnahmen (vgl. Hagner 1997; Nüse
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Menasse, Robert: Schubumkehr
2007; Waller 2011) eher ein Bogen gemacht. Nenning bezeichnet das Buch sogar als „flüssig unverständlich“ (Nenning 1995) – eine Diagnose, die Romans eigenem Urteil über Singers Vorträge recht nahe kommt: Ich muß allerdings sagen, daß ich mir zu dem, was der Professor vortrug, nicht viel dachte, es erschien mir ein wenig simpel kulturpessimistisch und allzu idiosynkratrisch in seinem Blick und den Schwerpunkten, die er setzte. Es blieb nur eine gewisse Neugier, doch den Hegel wieder weiterzulesen, in den ich, von der Sinnlichen Gewißheit vielleicht selbst schon angekränkelt, ab und zu hineinschaute, so wie man auf einen Baum oder ein Haus schaut (SG, 166).
Literatur Baudrillard, Jean: Videowelt und fraktales Subjekt. In: Ars Electronica (Hg.): Philosophien der neuen Technologie. Berlin: Merve 1989, S. 113–131. Benjamin, Walter: Über den Begriff der Geschichte. In: W. B.: Gesammelte Schriften. Bd. 1/2. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1978, S. 691–704. Grohotolsky, Ernst: Gespräch mit Robert Menasse. In: Bartsch, Holler (Hg.) 2004, S. 9–23. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. Hg. v. Friedrich Brunstäd. Leipzig: Reclam 1924. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Phänomenologie des Geistes. In: G. W. F. H.: Werke. Band 3. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1979. Menasse, Robert: „Geschichte“ war der größte historische Irrtum. Gespräch mit Wolfgang Neuber am 16.3.1995. In: Deutsche Bücher 25 (1995), S. 240–254. Menasse, Robert: „Geschichte“ war der größte historische Irrtum. Rede zur Eröffnung der 47. Frankfurter Buchmesse 1995. In: Stolz (Hg.) 1997, S. 27–34. Menasse, Robert: Phänomenologie der Entgeisterung. Geschichte des verschwindenden Wissens. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1995. Menasse, Robert: Schubumkehr [1995]. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1997. Menasse, Robert: Selige Zeiten, brüchige Welt [1991]. Frankfurt/M.: Suhrkamp 20099. Menasse, Robert: Sinnliche Gewißheit [1988]. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1996.
Sekundärliteratur Aspetsberger, Friedbert: Ein reines Wesen. In: Dieter Stolz (Hg.) 1997, S. 194–207. Bartsch, Kurt, Verena Holler (Hg.): Robert Menasse. Graz, Wien: Droschl 2004. Breitenstein, Andreas: Heimkehr in die Fremde. Robert Menasses österreichischer Wenderoman „Schubumkehr“. In: Stolz (Hg.) 1997, S. 183–189. Buerger, Peter: Ein unmögliches Buch. In: Die Zeit, 10.02.1995. Drynda, Joanna: Schöner Schein, unklares Sein. Poetik der Österreichkritik im Werk von Gerhard Roth, Robert Menasse und Josef Haslinger. Poznań: Rys-Studio 2003. Ernst, Petra: Rezension. In: Passauer Pegasus 13/25 (1995), S. 142–144.
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Gerk, Andrea: Eine Geschichte des erinnerten Vergessens – Robert Menasses „Trilogie der Entgeisterung“. In: Dieter Stolz (Hg.) 1997, S. 37–49. Hagner, Joachim: „Ein intellektuelles Kompromißvergnügen“? Hegels „Phänomenologie des Geistes“ in Robert Menasses Roman-Trilogie. In: Dieter Stolz (Hg.) 1997, S. 234–251. Holler, Verena: Felder der Literatur. Eine literatursoziologische Studie am Beispiel von Robert Menasse. Frankfurt/M.: Peter Lang 2003. Isenschmid, Andreas: Komprechtser Jahrestage. In: Die Zeit, 17.03.1995. Jachimowicz, Aneta: Am Ende der Geschichte. Posthistoire-Theorien in Robert Menasses Schubumkehr. In: Convivium 2006, S. 229–263. Jachimowicz, Aneta: Das schwierige Ganze. Postmoderne und die „Trilogie der Entgeisterung“ von Robert Menasse. Frankfurt/M.: Peter Lang 2007. Karasek, Helmut: Busen der Natur, geliftet. Über Robert Menasses Wenderoman „Schubumkehr“. In: Der Spiegel 8 (1995), S. 216–219. Kastberger, Klaus: Rezension. In: Kurt Bartsch, Verena Holler (Hg.) 2004, S. 169–172. Krause, Kathrin: Robert Menasses Trilogie der Entgeisterung. Ein Beitrag zur Theorie des Romans. Bielefeld: Aisthesis 2005. Liessmann, Konrad Paul: Das absolute Wissen. Die Roman Gilanian-Trilogie. In: Dieter Stolz (Hg.) 1997, S. 264–284. Meyer, Jürgen: „Kein Mensch ist im Bilde“. Spiegel, Videos und Drogen als „Künstliche Wirklichkeiten“ im Werk Robert Menasses. In: Bernd Flessner (Hg.): Die Welt im Bild. Wirklichkeit im Zeitalter der Virtualität. Freiburg i. Br.: Rombach 1997, S. 73–95. Millner, Alexandra: Vom Fährtenlegen, Anekdotensammeln und Metaphorisieren. Geschichte(n) in Schubumkehr. In: Eva Schörkhuber (Hg.) 2007, S. 213–225. Nenning, Günther: Rezension. In: Focus, 24.04.1995. Nuber, Achim: Rezension. In: Deutsche Bücher 25 (1995), S. 109–112. Nüse, Dominik: „Das Paradies wäre eine Verbesserung, aber das Nichts wäre die Vollendung“. Robert Menasse, Hegel, Die Vertreibung aus der Hölle und das Kreuz mit der Geschichtsphilosophie. In: Eva Schörkhuber (Hg.) 2007, S. 156–172. Posthofen, Renate S.: „Es sind poetische Wälder – Gefallen findet, wer sie gefällt“: Robert Menasses Roman Schubumkehr. In: Modern Austrian Literature 29/3–4 (1996), S. 131–156. Schörkhuber, Eva (Hg.): Was einmal wirklich war. Zum Werk von Robert Menasse. Wien: Sonderzahl 2007. Steinborn, Robert: „Du sollst dir kein Bild mehr machen!“ Über die Konstruktion und Dekonstruktion von Weltbildern in Schubumkehr. In: Eva Schörkhuber (Hg.) 2007, S. 226–236. Steiner, Uwe C.: „68–89“. Literarische und mediale Wendungen der Wende. In: Jochen Hörisch (Hg.): Mediengenerationen. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1997, S. 16–59. Steinfeld, Thomas: Dumme Eule auf dem Turm. Klug: Robert Menasse denkt sich ein Ende ohne Ende. In: Dieter Stolz (Hg.) 1997, S. 190–193. Stolz, Dieter (Hg.): Die Welt scheint unverbesserlich. Zu Robert Menasses „Trilogie der Entgeisterung“. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1997. Waller, Stefan: Vom Verschwinden des Wissens: Robert Menasses Phänomenologie der Entgeisterung. In: Tobias Dangel, Cem Kömürcü, Stephan Zimmermann (Hg.): Dichten und Denken. Perspektiven zur Ästhetik. Heidelberg: Winter 2011, S. 129–142.
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Peltzer, Ulrich: Stefan Martinez
Achim Geisenhanslüke
Peltzer, Ulrich: Stefan Martinez. Roman (Zürich: Ammann) 1 Entstehung und Kontext Ulrich Peltzer, 1956 in Krefeld geboren, hat 1995 mit Stefan Martinez (= SM) seinen zweiten Roman nach Die Sünden der Faulheit aus dem Jahre 1987 vorgelegt. Im Mittelpunkt des Romans stehen die Stadt Berlin sowie die am Roman der Moderne geschulte Darstellung von zwei Tagen aus dem Leben des titelgebenden Protagonisten. Peltzer hat für sein literarisches Werk, das neben kleineren Arbeiten und dem Drehbuch zu einem Film fünf Romane umfasst, zahlreiche Preise erhalten, u. a. den Anna-Seghers Preis, den Literaturpreis der Stadt Bremen, 1992 das Bertelsmann-Stipendium des Klagenfurter Ingeborg-Bachmann-Preises für Stefan Martinez sowie 2011 den Heinrich-Böll Preis der Stadt Köln.
2 Inhalt und Analyse Ulrich Peltzers Stefan Martinez ist ein äußerst ambitioniertes Unterfangen, das zahlreiche Traditionslinien der klassischen Moderne in sich vereint. So ist Stefan Martinez zunächst als Großstadtroman zu verstehen, dessen eigentlicher Protagonist wie auch in den meisten anderen Werken Peltzers Berlin ist. Peltzer spricht in seinen Frankfurter Poetikvorlesungen selbst von „der Stadt, bzw. der Großstadt, als dem privilegierten Erfahrungsraum der Moderne“ (Peltzer 2011, S. 129f.). Er bezieht sich in diesem Zusammenhang weniger auf Döblin, mit dem ihn die Kritik aufgrund des Berlinhintergrundes immer verglichen hat, als vielmehr auf Joyce, mit dem er auch die stream-of-consciousness-Technik teilt, die immer wieder Einblicke in die Assoziationsräume des Protagonisten gewährt. Wie Christian Jäger gezeigt hat, lässt sich der Roman darüber hinaus als „a kind of Bildungsroman“, der sich zugleich „mimetic with respect to the city“ (Jäger 2004, S. 191) verhalte. Nicht nur der zusammengesetzte Name des Protagonisten verweist in der fiktionalen Rückführung auf eine deutsche Mutter und einen spanischen Vater auf die spezifische innere Zerrissenheit des Helden, die auf klassische Erzählmuster in der Tradition von Thomas Manns Tonio Kröger zurückgeht und diese zudem invertiert. Die Ausbildung von Stefan Martinez als Mathematiker sowie seine Suche nach Präzision und Gegenwärtigkeit, aber auch die Unentschlossenheit seines Denkens und Tuns „mit ihrer seltsamen Ortlosigkeit und
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ihrer ein wenig narzißtischen Eigenzeit“ (Preisendoerfer 2006), so Bruno Preisendoerfer in einer Rezension, stellen ihn darüber hinaus in die Tradition von Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften. Schließlich ist Stefan Martinez auch als Generationsroman zu begreifen, der die Geschichte einer in Westdeutschland sozialisierten Jugend mit dem Fluchtpunkt des Berlins vor der Wende erzählt. Wie ambitioniert dieses Unterfangen, unterschiedliche Strömungen der Klassischen Moderne in einem Roman der Gegenwart zu vereinen, geraten ist, zeigt nicht zuletzt die Tatsache, dass zwischen dem Erscheinen des ersten und des zweiten Romans von Peltzer acht Jahre liegen. Der Roman ist mit einem kurzen Motto von Vico versehen, in dem es um das Thema der Dauer im Wechsel und des Wechsels in der Dauer geht: „Ich scheine mir der gleiche zu bleiben; / aber im dauernden Auf und Ab der Dinge, / die in mich eingehen und mich verlassen, / bin ich in jedem Zeit-Moment ein anderer“ (SM, 5). Schon mit diesem Motto gibt sich Stefan Martinez als ein Zeit-Roman zu verstehen, der überdies nach der Konstitution von Identität fragt. Das macht sich erzähltechnisch in der Joyce abgelesenen Diskrepanz zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit bemerkbar: Auf 572 Seiten entfaltet Peltzer gerade einmal zwei Tage aus dem Leben von Stefan Martinez. Noch auf einer anderen Ebene aber ist der Roman vom Phänomen der Zeit bestimmt. Auf der einen Seite erzählt er einen extrem verdichteten Ausschnitt aus der streng gegenwartsbezogenen Lebenszeit des Stefan Martinez im Kreuzberger Berlin der achtziger Jahre. Das Leben des Protagonisten ist von einer fundamentalen Unbestimmtheit geprägt, wie sie aus dem neusachlichen Erzählen der zwanziger Jahre bekannt ist, das Siegfried Kracauer untersucht hat: Der studierte Mathematiker Stefan Martinez arbeitet zeitlich befristet in einem prekären Berufsverhältnis für ein Architektenbüro. Prekär ist auch seine emotionale Bindung an die Freundin Evelin, in deren Wohnung der Roman beginnt, wie sein Verhältnis zu unterschiedlichen Freunden, mit denen er meist durch das nächtliche Berlin zieht. Peltzer präsentiert Stefan Martinez als einen modernen, bindungslosen Großstadtmenschen, dem es in Berlin gelingt, seine eigene Existenz wie wohl in keiner anderen Stadt permanent in der Schwebe zu halten, ohne sich für etwas oder jemand dauerhaft entscheiden zu müssen. Auf der anderen Seite führt der Roman in Erinnerungsschleifen in die Vergangenheit zurück, sowohl in die Erfahrung der beiden Weltkriege, die das 20. Jahrhundert entscheidend geprägt haben, als auch in die Nachkriegsgeschichte, in die die Liebe der Mutter zu dem spanischen Gastarbeiter Martinez fällt. Peltzer gibt damit zu erkennen, dass ihm – in ähnlicher Weise wie Marcel Beyer (→ Flughunde) – an einer Bestimmung der Gegenwart gelegen ist, die durch die geschichtlichen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts vermittelt ist. Die Unbestimmt
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heit und Ortlosigkeit des Stefan Martinez entpuppt sich so als ein zeittypisches Phänomen des Rückzugs des Ichs auf die Insel Berlin, auf der es eine Heimat nur insofern findet, als hier die Erfahrung der Fremde nicht aufgehoben ist. Im Mittelpunkt des Romans stehen daher die Bewusstseinsvorgänge von Stefan Martinez, seine minutiöse Beschreibung des eigenen Fühlens und Erlebens wie der ihn umgebenden Dinge und Menschen. „Die Dinge gehen durch ihn hindurch. Was er sieht.“ (SM, 574) Mit diesem Satz endet der Roman, der programmatisch die Wahrnehmung seines Helden zum Ausgangspunkt des Erzählens nimmt. Kauernd nähert Stefan seine Augen dem Papier, um die in Längsrichtung (horizontal) sortierten, sich manchmal überschneidenden, oft ineinander verschachtelten Fundstücke besser erkennen zu können. Das Foto einer Libelle mit schwirrenden Flügeln vor nachtschwarzem Hintergrund. Genauso groß, das heißt wahrscheinlich verkleinert, eine Wiedergabe des bekannten Gemäldes von Botticelli, Geburt der Venus (oder so ähnlich) betitelt (SM, 9).
Unzählige Passagen des Romans wie diese erfassen minutiös Miniaturen der Dinge, lösen Wirklichkeit in Wahrnehmungssequenzen auf, um eine Dekonstruktion von Ich, Zeit und Raum voranzutreiben: Dezentrierungen, die auch die Texte erfassen, Unbestimmtheitszonen entstehen lassen, in denen sich Identitäten auflösen und eindeutige Zuordnungen vor den Augen des Lesers zu verschwimmen beginnen (Peltzer 2011, S. 132).
Das, so Peltzer, sei das Ziel des modernen und postmodernen Erzählens in der Tradition von Joyce, der er sich in seinen Frankfurter Poetikvorlesungen ausdrücklich verpflichtet. Die Statik, die in diesen nach Exaktheit suchenden Beschreibungsvorgängen angelegt ist, wird allerdings zum Schluss des Romans durch die Andeutung einer Entwicklung gebrochen, die den Protagonisten in der erinnernden Auseinandersetzung mit seiner Vergangenheit erfasst: Der während eines zweiwöchigen Italienaufenthaltes geäußerte Wunsch, das abgebrochene Studium wieder aufzunehmen, der „Gedanke, mit Evelin zu bleiben, mit ihr zu leben“ (SM, 570), weist in eine neue Richtung, in der die Orientierungslosigkeit ein Ende hätte – vielleicht. Mit Stefan Martinez hat Ulrich Peltzer einen Roman vorgelegt, der das zeitgeschichtliche Portrait einer Generation liefert, die in dem atopischen Bild des Berliner Westens vor der Wende ihren allegorischen Fluchtpunkt findet, ohne Ungewissheiten aufzulösen.
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3 Rezeption und Folgen Trotz oder vielmehr gerade wegen der großen Ambitionen seines Erzählprojektes ist der zweite Roman Peltzers nach seinem Erscheinen in den Feuilletons meist kritisch beurteilt worden. Der Hauptangriffspunkt der Kritik liegt in dem Missverhältnis zwischen dem erzählerischen Aufwand, den Peltzer betreibe, und dem ereignislosen Leben des Protagonisten, das er schildere. „Gedankenflucht“ (Jähner 1995) attestiert ihm darüber hinaus die FAZ, Martinez sei bloß ein Platzhalter, der Name eines Wahrnehmungsschauplatzes, an dem der Autor seine Alltagsbeobachtungen, seine Raisonnements, seine Gefühle und Erinnerungen niederlegt (Preisendoerfer 1996),
meint Preisendoerfer in der Zeit, um mit der Frage zu enden, wie sich das Berlin der Wende wohl 2010 würde erzählen lassen. Zwar fällt die Wende genau in die Entstehungszeit des Romans. Peltzer hat sich ihr auf der Ebene seines Romans aber konsequent verweigert. Wenn es den Titel der „Post-BRD-Literatur“ nicht gäbe, man müsste ihn für Stefan Martinez erfinden.
Literatur Peltzer, Ulrich: Stefan Martinez. Roman. Zürich: Ammann 1995. Peltzer, Ulrich: Angefangen wird mittendrin. Frankfurter Poetikvorlesungen. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2011.
Sekundärliteratur Jäger, Christian: Berlin Heinrichplatz: The Novels of Ulrich Peltzer. In: Stephen Brockmann (Hg.): Writing and Reading Berlin. Studies in Twentieth and Twenty-First Century Literature 28/1 (Special Issue, Winter 2004), S. 183–210. Jähner, Harald: Marx und Lenin sind jetzt Bettpfosten. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.11.1995, S. L3. Preisendoerfer, Bruno: Das war’s dann wohl. Ulrich Peltzers zweiter Roman Stefan Martinez. In: Die Zeit, 08.03.1996.
Ransmayr, Christoph: Morbus Kitahara
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Ransmayr, Christoph: Morbus Kitahara. Roman (Frankfurt/M.: S. Fischer)
1 Entstehung und Kontext Erst sieben Jahre nach Christoph Ransmayrs Welterfolg Die letzte Welt (1988) wurde auf der Frankfurter Buchmesse der Nachfolgeroman Morbus Kitahara (= MK) präsentiert. Die Pläne für ein Buch dieses Namens reichen bis ins Jahr 1984 zurück, als beim Autor selbst die titelgebende Krankheit diagnostiziert wurde. Dennoch hätte der Zeitpunkt des Erscheinens von Ransmayrs drittem Roman, für den er 1996 den Prix Aristeion der Europäischen Union erhält, nicht besser sein können: 1995 jährten sich nicht nur das Ende des Zweiten Weltkriegs zum fünfzigsten und das Bestehen des österreichischen Staatsvertrags zum vierzigsten Mal. Österreich steckte darüber hinaus, ausgelöst durch die „Waldheim-Affäre“ Ende der 80er Jahre und weiter befeuert durch den 1991 neu aufgelegten Roman Die Wolfshaut von Hans Lebert, mitten in einer verspäteten Auseinandersetzung mit der eigenen nationalsozialistischen Vergangenheit. Durch die Thematisierung von Schuld, Erinnerung und Vergessen und die ebenfalls auf das Jahr 1995 fallende Auszeichnung Ransmayrs mit dem Franz-Kafka-Preis war Morbus Kitahara also öffentliches Interesse garantiert.
2 Inhalt und Analyse Schauplatz des Geschehens ist Moor, ein gebirgiger, geographisch nicht genauer bestimmter Ort in Mitteleuropa. Dort kommt „in der einzigen Bombennacht“ (MK, 9) Bering zur Welt, dessen Geburt und Tod der Erzählung über drei Jahrzehnte den Rahmen geben. Geschützt vor dem Krieg verbringt das Kind die ersten Monate seines Lebens in einem abgeriegelten Raum in der Gesellschaft dreier Legehennen. Der frühkindlichen Prägung gemäß wird Bering bis ins Alter von sieben Jahren besser gackern als sprechen können. In der Zeit „nach dem Frieden von Oranienburg“ – eine Zeitangabe, die im Roman „nach Christus“ ersetzt – wird Moor nach den Regeln des Friedensplanes von Lyndon Porter Stellamour nicht nur entmilitarisiert, sondern völlig deindustrialisiert. Jegliche Zeichen von Technologie und Fortschritt werden aus dem einstigen Kurort entfernt. Zudem verordnen die Sieger regelmäßige Sühnerituale im Moorer Steinbruch, der zu Kriegszeiten als Arbeitslager diente.
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Die Zwangsmaßnahmen führen zu einer wachsenden Verrohung der Gesellschaft. Auch Bering kann sich dem Sog der zum Alltag gewordenen Gewalt nicht entziehen und begeht im Alter von 23 Jahren aus Notwehr seinen ersten Mord – zwei weitere, deutlich unmotiviertere werden folgen. Seine handwerklichen Fähigkeiten verhelfen ihm zu einer Anstellung als Schmied und Leibwächter bei Ambras. Dieser ist nicht nur Herr über eine Meute wilder Hunde, sondern auch Aufseher des Steinbruchs, in dem er einst selbst Zwangsarbeit und Folter ausgesetzt war. Über ihn, den „Hundekönig“, lernt Bering Lily kennen. Als Kind eines Kriegsverbrechers nach Moor verschlagen, träumt Lily, die „Brasilianerin“, von einer Zukunft im fernen Ausland. Sie allein kann sich frei über die Besatzungszonen hinweg bewegen, was ihr nicht nur eine Existenz als Schmugglerin, sondern auch als Scharfschützin ermöglicht. Prägender als die unerfüllte Liebe zu Lily wird für Bering, dass sich sein Gesichtsfeld zunehmend verdunkelt: Schwarze Flecken trüben ihm die Sicht. Dass dies die Symptome des titelgebenden „Morbus Kitahara“ sind, erfährt er später in Brand. In dieser modernen Stadt im Tiefland erlebt Bering darüber hinaus das endgültige Ende des Weltkrieges durch einen Atombombenabwurf über Japan. Fast zeitgleich endet auch das Leben in Moor. Der Steinbruch ist erschöpft, das Gebiet soll zum Truppenübungsplatz umfunktioniert werden. So reist das Trio zur Exploration eines noch ergiebigen Steinbruchs nach Pantano, Brasilien. Lily wird von dort aus in eine unbestimmte Zukunft weitertreiben, die beiden Männer aber finden den gemeinsamen Tod auf der „Hundsinsel“. Hier wird Ambras von seinen Erinnerungen an das Arbeitslager eingeholt und reißt den mit ihm über eine Leine verbundenen Bering mit in die Tiefe. Die Verunsicherung, die Morbus Kitahara bei den Kritikern hervorgerufen hat, ist durchaus verständlich, erweist sich der Roman doch als eine Vereinigung von Unvereinbarem, eine Annäherung von Gegensätzlichem und Unzusammengehörigem. Dies gilt zunächst für die Aspekte der Zeit und des Raumes. Bereits der erste Satz des Romans deutet auf eine eigentümliche Vermischung dieser beiden Komponenten hin: „Zwei Tote lagen schwarz im Januar Brasiliens“ (MK, 7). Dass sich erst im letzten Kapitel herausstellen wird, um wen es sich bei diesen Toten handelt, bedeutet darüber hinaus ein Zusammenfallen von Anfang und Ende: Am Beginn steht der Tod Berings, seine Geburt fällt mit dem Ende der Kriegshandlungen zusammen, dem Neu-Beginn in Pantano folgt der Tod der männlichen Protagonisten (vgl. Liessmann 1997). Doch auch die unterschiedlichen Räume und Zeiten selbst überlappen sich: Das portugiesische Pantano heißt nichts anderes als „Sumpf, sumpfige Wildnis, Feuchtgebiet“ (MK, 402) – Moor. Ebenso stellen der brasilianische Steinbruch und die dortige Hundsinsel eindeutige Parallelen zu den Lokalitäten des Ursprungs-
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ortes dar. Wie es die Kapitelüberschrift „Heimkehr“ (MK, 403) andeutet, führt die Reise der Figuren also paradoxerweise zu einer „geographischen Stagnation“ (lat. stagnum = Moor!), die wiederum einen zeitlichen Stillstand provoziert: Dass für Ambras – ähnlich wie für Berings Eltern – die Gegenwart durchsetzt ist von der Vergangenheit, zeigt sich am Ende mehr denn je (vgl. Spitz 2004). Dies gilt selbst für Bering, der „nur den Frieden“ (MK, 9) kennt. Die steinerne Inschrift, die die Sieger zum Gedenken an die „ELFTAUSENDNEUNHUNDERTDREIUNDSIEBZIG“ (MK, 33) Kriegsopfer im Steinbruch errichten ließen, die verordneten Bußrituale, in denen sich die Moorer „als Juden, als Kriegsgefangene, Zigeuner, Kommunisten oder Rassenschänder zu verkleiden“ (MK, 45) haben, die Geschichtskurse, die Plakate mit Bildern der Kriegsgräuel – all dies soll ein Vergessen oder Verdrängen unmöglich machen. Doch die in der Schrift und in den Bildern erstarrte Erinnerung steht dem neuen Leben entgegen. So führt der mediale Dauerbeschuss bei der Nachkriegsgeneration nicht zum gewollten Ergebnis (vgl. Cieślak 2007, S. 182f.): „Moors Kinder langweilten die Erinnerungen an eine Zeit vor ihrer Zeit. Was hatten sie mit […] der Botschaft der Großen Schrift im Steinbruch“ (MK, 176) zu tun? Auch bei Bering löst die Wut über die uneingeschränkte Freiheit der Stadt Brand eine Gegenreaktion aus. Er hält der zwangsverordneten Parole „Niemals vergessen“ (MK, 145) sein „Alles vergessen“ (MK, 336) entgegen:
Autos, Schienen, Flugpisten! Hochspannungsleitungen, Kaufhäuser! […] War das die Sühne, […] die der große Friedensbringer dem Tiefland zugedacht hatte? War das die Strafe? Ja? Scheiße, verdammte. Hatte es denn im Tiefland keine Barackenlager gegeben? Keine Kalkgruben voll Leichen? (MK, 333)
Die Moor auferlegten Maßnahmen sind keine gerechte Vergeltung, sondern erweisen sich als interessengeleitet. Der „Friede von Oranienburg“ ist nichts als eine Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln (vgl. von Schilling 1999, S. 10ff.; Schauer 2010): Dadurch, dass die Besatzer „immer neue Rituale der Erinnerung“ (MK, 44) ersinnen und die Repressalien kein Ende nehmen, verschwimmt die Grenze zwischen Siegern und Besiegten, zwischen Tätern und Opfern [→ Schlink: Der Vorleser]. So steht das Seil, das Ambras und Bering im Tod verbindet, nicht nur sinnbildlich für die Annäherung von Herr und Knecht, sondern auch von Opfern und Schuldigen. Dem erklärten Misslingen eines erzwungenen kollektiven Gedächtnisses wird allerdings die Unmöglichkeit entgegengesetzt, den individuellen Erinnerungen zu entfliehen. Die Narben, die fast alle Figuren haben, sind die körperlichen Zeichen der unauslöschlichen Präsenz der Vergangenheit (vgl. MK, 10, 69f., 117, 237, 256): Berings Vater wähnt sich nach wie vor in der Wüste Nordafrikas, für Ambras ist der Steinbruch ein bleibendes Trauma. So antwortet er auf die Frage,
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warum er an den Ort seiner Folter zurückgekehrt ist: „Ich bin nicht zurückgekommen. Ich war niemals fort.“ (MK, 210) Anwesenheit und Abwesenheit, Nähe und Distanz, Vergangenheit und Gegenwart gehören hier untrennbar zusammen. Das zentrale Symbol des Steins findet sich darüber hinaus auch in der Moor verordneten Devise „Zurück in die Steinzeit!“ (MK, 41) Das Denkmal für die Kriegsopfer ist also nicht nur wörtlicher „Stein des Anstoßes“, sondern gleichzeitig Zeichen einer erzwungenen Rückkehr in ein vorindustrialisiertes, vorzivilisatorisches Zeitalter: „Unaufhaltsam glitt Moor durch die Jahre zurück.“ (MK, 43) Der Verfall betrifft allerdings nicht nur die technischen Errungenschaften, sondern auch die Gesellschaft selbst: Gewalt und Aggression brechen sich Bahn. Der Untergang wird gleichsam zum Dauerzustand [→ Menasse; Schubumkehr]. Dem technischen und kulturellen Niedergang gegenüber steht die Rückeroberung der Räume durch die Natur. In Moor verfällt der Steinbruch – selbst über „die Große Schrift kroch das Moos“ (MK, 177) –, und auch in Pantano zerfließen die Übergänge zwischen Urwald und Zivilisation (vgl. MK, 416). Doch auch dem Natürlichen kommen sehr unterschiedliche Attribute zu: Einerseits pflegen Lily und Ambras eine deutlich bessere Beziehung zu den Hunden als zu ihresgleichen, und auch die Vielfalt der Vogelstimmen, die Bering als Kind nachahmen kann, kontrastiert merkwürdig mit seiner späteren Sprachlosigkeit (vgl. von Schilling 1999, S. 16ff.; Spitz 2004). Andererseits sterben Ambras und Bering aber gerade nicht in der kargen Moorer Umgebung, sondern im utopisch erträumten, üppig grünen Brasilien. Die natürliche Idylle ist trügerisch, auch sie trägt den Tod in sich. Das wohl entscheidendste Gegensatzpaar, das auf irritierende Weise zusammengeführt wird und die bisher genannten thematisch umfasst, ist dasjenige von Fakt und Fiktion. Die Frage, inwieweit in den Roman realweltliche Referenzen hineingelesen werden dürfen oder sogar müssen, hat Ransmayr selbst durch den Hinweis befördert, das Material des Romans stamme „aus den Kulissen“ (Gespräch mit Sigrid Löffler 1997, S. 215) seines eigenen Lebens. Gemeint ist damit nicht nur die Augenkrankheit, sondern vielmehr die Verortung der Geschehnisse im Nachkriegs-Österreich. So ließe sich Moor als die Stadt Gmunden identifizieren, der Steinbruch als Ebensee, ein Außenlager des Konzentrationslagers Mauthausen etc. Die Fülle möglicher Bezüge ist immens, denn selbst dort, wo Ransmayr die Geschichte maßgeblich „umgeschrieben“ hat, scheint er auf Bestehendes zurückgegriffen zu haben: Die Nachkriegssituation in Moor entspricht genau dem Bild, das Goebbels als Inhalt des „Morgenthau-Plans“ kolportiert hatte. Der Stellamour-Plan und diese „Morgenthau-Legende“ (vgl. Neumann 1997) ähneln sich auf frappierende Weise. Fiktion und Wirklichkeit sind unlösbar ineinander verstrickt (vgl. Kunne 2000; Stahl 2003, S. 77ff., besonders S. 86; Cvrkal 2007).
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Ransmayr, Christoph: Morbus Kitahara
Den Roman ausschließlich als alternativen Geschichtsentwurf zu interpretieren und damit zu unterstellen, Ransmayr erzähle lediglich, was unter anderen Vorzeichen hätte geschehen können, wäre allerdings zu kurz gegriffen. Dem tatsächlich Geschehenen zu verwandt sind die Bilder, die er entwirft. Selbst in der größtmöglichen Distanz zur Realität, im Kontrafaktischen, ist die Nähe zur Wirklichkeit unübersehbar (vgl. z. B. Widmann 2009, S. 309ff.). Im Zentrum steht also weder die Darstellung des Holocaust noch die literarische Ausdifferenzierung eines anderen Weltverlaufs unter dem Motto „Morgenthau statt Marshall“. Der Fokus liegt vielmehr auf den unauslöschlichen Folgen dieser Tragödie und der Frage der Vergangenheitsbewältigung. Es sind diese „Nachwehen“, die Ransmayr aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet: Sieger und Verlierer rücken ebenso ins Visier wie Kriegs- und Nachkriegsgeneration. In der Trias der Hauptfiguren vereinen sich Kriegsopfer, Kriegskind und Kriegsverbrecherkind, die mit ihrem je individuellen Schicksal doch archetypisch unterschiedliche Formen des Umgangs mit dem Erbe darstellen (vgl. Foster 1999; Cieślak 2007; Schauer 2010). Der „Morbus Kitahara“ lässt sich damit nicht nur als Zeichen „nervöse[r] Wachsamkeit“ (MK, 192) lesen, sondern auch als Metapher für die Versuchung, vor der Vergangenheit die Augen zu verschließen (vgl. Halsall 2000; Mosebach 2003). Berings Sicht ist eingeschränkt, weil er die einstigen Untaten ausblendet. „Morbus Kitahara“ wäre damit das physische Symptom einer psychologischmoralischen Defizienz. Denn obwohl sich an Bering, dem mehrfachen Mörder, ganz individuell das Scheitern der „Re-Education“ der Sieger zeigt, ist das „Wegsehen“ doch ein weit größeres Problem: Das Phänomen der Blindheit prägt die gesamte Umgebung und Gesellschaft Moors (vgl. z. B. MK, 31, 173). Entsprechend konstatiert der Sanitäter in Brand: „Du bist auch nur einer von vielen“ (MK, 351). Gerade mit diesem Motiv wird Morbus Kitahara auch zum „Anti-HeimatRoman“ (vgl. Foster 1999, v. a. S. 119ff.; Kunne 2000, S. 329f.; Stahl 2003, S. 40ff.; Spitz 2004; Cieślak 2007). Im Verhalten von Berings Vater, der nach seiner Rückkehr aus dem Krieg nur die Leiden wahrnimmt, „die er, er in diesem Krieg ertragen hatte“ (MK, 10), lässt sich Österreichs langjähriges Beharren auf der eigenen Opferrolle im Zweiten Weltkrieg erkennen [→ Jelinek: Die Kinder der Toten]. Morbus Kitahara ist somit ein Roman über diejenigen, die nicht hinsehen wollen, und diejenigen, die nicht mehr wegsehen können. Eine Antwort auf die Frage einer gelungenen Vergangenheitsbewältigung bietet er nicht.
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3 Rezeption und Folgen Als hätte das Strukturprinzip der Gegensätze auf die Rezeption übergegriffen, wurde Ransmayr zwar überwiegend als Sprachkünstler gefeiert, vereinzelt wurde aber auch massive Kritik an der sprachlichen Gestaltung geübt (vgl. etwa Czernin 2002). Der Vorwurf einer „Ästhetisierung von Gewalt“ (Janacs 1995, S. 101) sowie einer Beliebigkeit im Umgang mit der Geschichte wurde ebenso drastisch vertreten, wie ihm widersprochen wurde (vgl. Foster 1999; Halsall 2000). Und obwohl mehrheitlich von der „unrelieved gloominess“ (Foster 1999, S. 113) des Romans die Rede war, wurde er doch mitunter sogar als „höchst komisch“ (Winter 1995) wahrgenommen. Beim Lesepublikum war Morbus Kitahara trotz oder gerade wegen seiner Unzugänglichkeit erfolgreich (das Taschenbuch geht mittlerweile in die 6. Auflage). Auch das internationale fachwissenschaftliche Interesse ist – befördert durch die Übersetzung ins Englische unter dem Titel The Dog King (1997) – nie erlahmt. Dabei findet neben den bereits angesprochenen dominierenden Themen vor allem eine Auseinandersetzung mit den prä- und postmodernen Elementen des Romans statt (vgl. Niekerk 1997; Spitz 2004; Cvrkal 2007). Seltener werden Aspekte der Dystopie bzw. Utopie (vgl. Knoll 1997; Niekerk 1997; Stahl 2003) und des Mythos (vgl. Spitz 2004; Cieślak 2007) behandelt. Darüber hinaus wurde der Roman als anthropologische Kritik (vgl. Knoll 1997; Mosebach 2003), als Fortschrittskritik (vgl. Mosebach 2003; Spitz 2004) und als Kritik am staatlich verordneten Antifaschismus in der ehemaligen DDR gelesen (vgl. die Auflistung bei Neumann 1997, S. 190).
Literatur Ransmayr, Christoph: Morbus Kitahara. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1995. „…das Thema hat mich bedroht“. Gespräch mit Sigrid Löffler über Morbus Kitahara (Dublin 1995). In: Wittstock (Hg.) 1997, S. 213–219.
Sekundärliteratur Cieślak, Renata: Mythos und Geschichte im Romanwerk Christoph Ransmayrs. Frankfurt/M.: Peter Lang 2007. Cvrkal, Ivan: Zwischen Mythos und Gewalt – Zwei Romane, zwei verschiedene Wirklichkeiten: Zu einigen Problemen der Postmoderne bei Christoph Ransmayr. In: Anthony Bushell, Dagmar Košťálová (Hg.): Von aussen betrachtet. Österreich und die österreichische Literatur im Spiegel der Auslandsrezeption. Bern: Peter Lang 2007, S. 79–92.
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Ransmayr, Christoph: Morbus Kitahara
Czernin, Franz Joseph: Ein Rudel schwanzwedelnder Hunde. In: Friedbert Aspetsberger (Hg.): Ein Dichter-Kanon für die Gegenwart! Urteile und Vorschläge der Kritikerinnen und Kritiker. Innsbruck: Studien Verlag 2002, S. 192–213. Foster, Ian: Alternative History and Christoph Ransmayr’s „Morbus Kitahara“. In: Modern Austrian Literature 32 (1999), S. 111–125. Halsall, Robert: Christoph Ransmayr’s Morbus Kitahara: An Aestheticization of the Holocaust? In: Arthur Williams, Stuart Parkes, Julian Preece (Hg.): Literature, Markets and Media in Germany and Austria Today. Bern: Peter Lang 2000, S. 195–212. Janacs, Christoph: Die Verdunkelung des Blicks. In: Literatur und Kritik 30 (1995), S. 99–101. Knoll, Heike: Untergänge und kein Ende: Zur Apokalyptik in Christoph Ransmayrs Die letzte Welt und Morbus Kitahara. In: Literatur für Leser 4 (1997), S. 214–223. Kunne, Andrea: Heimat und Holocaust. Aspekte österreichischer Identität aus postmoderner Sicht. Christoph Ransmayrs Roman Morbus Kitahara. In: Henk Harbers (Hg.): Postmoderne Literatur in deutscher Sprache: Eine Ästhetik des Widerstands? Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik 49 (2000), S. 311–333. Liessmann, Konrad Paul: Der Anfang ist das Ende. Morbus Kitahara und die Vergangenheit, die nicht vergehen will. In: Uwe Wittstock (Hg.) 1997, S. 148–157. Mosebach, Holger: Endzeitvisionen im Erzählwerk Christoph Ransmayrs. München: Meidenbauer 2003. Neumann, Thomas: „Mythenspur des Nationalsozialismus“. Der Morgenthauplan und die deutsche Literaturkritik. In: Uwe Wittstock (Hg.) 1997, S. 188–193. Niekerk, Carl: Vom Kreislauf der Geschichte. Moderne – Postmoderne – Prämoderne: Ransmayrs Morbus Kitahara. In: Uwe Wittstock (Hg.) 1997, S. 158–180. Schauer, Hilda: Gedächtnis, Erzählen und Identität in Christoph Ransmayrs Morbus Kitahara. In: H. S.: Postmoderne Erzählweisen aus kulturwissenschaftlicher Sicht. Studien zu Sten Nadolny, Christoph Ransmayr, W. G. Sebald und Urs Widmer. Berlin: wvb 2010, S. 129–142. (Zuerst in: Jahrbuch der Ungarischen Germanistik [2005], Budapest/Bonn 2006, S. 97–109.) Schilling, Klaus von: Christoph Ransmayrs Morbus Kitahara. Die Überwindung des Aporetischen im artistischen Roman. Vaasa, Germersheim: SAXA 1999. Spitz, Markus Oliver: Erfundene Welten – Modelle der Wirklichkeit. Zum Werk von Christoph Ransmayr. Würzburg: Königshausen & Neumann 2004. Stahl, Thomas: Österreich am „Blinden Ufer“. Geschichte und Erinnerung in Christoph Ransmayrs spätem Nachkriegsroman „Morbus Kitahara“. Regensburg: NDL Ms. 2003. Widmann, Andreas Martin: Kontrafaktische Geschichtsdarstellung. Untersuchungen an Romanen von Günter Grass, Thomas Pynchon, Thomas Brussig, Michael Kleeberg, Philip Roth und Christoph Ransmayr. Heidelberg: Winter 2009. Winter, Michael: Welt auf dem Abstellgleis. In: Süddeutsche Zeitung, 10.10.1995. Wittstock, Uwe (Hg.): Die Erfindung der Welt. Zum Werk von Christoph Ransmayr. Frankfurt/M.: Fischer 1997.
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Michael Peter Hehl
Michael Peter Hehl
Schlink, Bernhard: Der Vorleser. Roman (Zürich: Diogenes) 1 Entstehung und Kontext Der 1944 in Bielefeld geborene Jurist und Schriftsteller Bernhard Schlink ist in den 1980er Jahren zunächst als Autor von Kriminalromanen hervorgetreten. Nach dem gemeinsam mit Walter Popp veröffentlichten Debüt Selbs Justiz (1987) und den Folgeromanen Die gordische Schleife (1988) und Selbs Betrug (1992) erscheint 1995 mit Der Vorleser (= V) Bernhard Schlinks bis heute erfolgreichster Roman. Er wurde mit mehreren Preisen ausgezeichnet – darunter dem Hans-Fallada-Preis (1998) und dem Prix-Laure-Bataillon (1997). Die amerikanische Übersetzung (1997) erreichte Ende der 1990er Jahre den ersten Platz der New York TimesBestsellerliste. 2008 wurde die Hollywood-Verfilmung von Stephen Daldry für fünf Academy Awards nominiert.
2 Inhalt und Analyse Im Mittelpunkt des Romans steht die sexuelle Beziehung zwischen der autodiegetischen Erzählerfigur, dem Schüler und späteren Juristen Michael Berg, und der mehr als zwanzig Jahre älteren Straßenbahnschaffnerin und ehemaligen KZ-Aufseherin Hanna Schmitz. Aus der Erzählgegenwart der frühen 1990er Jahre heraus erinnert Berg sich in drei Etappen an das für seine emotionale Entwicklung bis ins Erwachsenenalter prägende Verhältnis. Der erste Teil beschreibt die asymmetrische und ödipal konnotierte Beziehung des fünfzehnjährigen Schülers zur erwachsenen Hanna während der späten 1950er Jahre. Der zweite Teil zeigt die Wiederbegegnung der beiden Figuren während der Frankfurter Auschwitzprozesse, in denen Hanna Schmitz angeklagt und zu zwanzig Jahren Haft verurteilt wird. Der dritte Teil schildert das Ende der Haftzeit von Hanna Schmitz in den 1980er Jahren. Im Vordergrund der Darstellung der Beziehung der beiden Hauptfiguren im ersten Teil des Romans steht das Vorlesen literarischer Texte durch Michael Berg, das Hanna zu einer Bedingung ihres Verhältnisses macht und das sich zu einem festen Ritus entwickelt. Die Anerkennung von Bergs Maskulinität durch die ältere Frau bewirkt einerseits ein Wachstum seines Selbstbewusstseins. Andererseits wird die erfahrene Bestätigung durch wiederkehrende Demütigungen der domi-
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nanten Hanna Schmitz konterkariert. Im Kontext des Rituals „des Vorlesens, Duschens, Liebens und Beieinanderliegens“ (V, 51), rückt er in eine untergeordnete Position und wird nach etlichen Monaten der sexuell-emotionalen Abhängigkeit enttäuscht und irritiert zurückgelassen, als Hanna plötzlich und ohne sich zu verabschieden aus seiner unschwer als Heidelberg zu identifizierenden Heimatstadt verschwindet. Der masochistische Abhängigkeitskomplex und die emotionale Abstumpfung, die Berg als Reaktion auf die traumatische Enttäuschungserfahrung entwickelt, werden zur Folie für all seine späteren Liebesbeziehungen. Wie der Leser im zweiten Teil des Romans erfährt, ist Hanna Schmitz Analphabetin und hat während des Zweiten Weltkriegs als KZ-Aufseherin mit jüdischen Mädchen, bevor diese im Vernichtungslager Auschwitz ermordet wurden, einen Vorlese-Ritus vollzogen, der sich in der Beziehung zu Berg strukturell wiederholte. Etwa fünf Jahre nach Hannas Verschwinden beobachtet Berg als Jurastudent die Frankfurter Auschwitzprozesse und sieht seine ‚Jugendliebe‘ auf der Anklagebank. Erstmals mit Hannas beruflicher Vergangenheit konfrontiert, setzt beim Studenten Berg eine Reflexion über Gerechtigkeit und intergenerationelle Schuld ein, die im Roman aus der Erzählgegenwart der 1990er Jahre heraus – mit Bezug zum Themenkomplex ‚Vergangenheitsbewältigung‘ – rekonstruiert wird. Die Verbindung des „masochistisch besetzten Schuldkomplexes“ (Lewis 2006, S. 570) mit dem Verhältnis der ‚Nachgeborenen‘ zur Tätergeneration (vgl. Herrmann 2010, S. 110) kann als herausragendes Merkmal der im Roman geleisteten Erinnerungsarbeit gelten. Von früheren literarischen Auseinandersetzungen mit deutscher Geschichte unterscheidet sich der Vorleser unter anderem durch die Inbezugsetzung von Erotik, ‚Coming-of-Age‘-Thematik, intergenerationeller Schuld und der Verarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit Deutschlands aus der Perspektive der Nachwendezeit. Neben dem Schuldkomplex ist der Affekt der Scham zentral für die spezifische Verknüpfung von erotischem Begehren, emotionaler Bindung und historischer Schuld, die der Roman vorführt (vgl. Niven 2003). Nicht nur beginnt die Erzählung im ersten Teil mit einer Scham- und Ekelszene – der Protagonist übergibt sich in einen Hauseingang und begegnet in dieser Situation seiner späteren Liebschaft –, (vgl. V, 5 f.) im zweiten Teil ist es zudem die Scham davor, als Analphabetin ‚geoutet‘ zu werden, die Hanna Schmitz dazu treibt, juristisch mehr Schuld als notwendig aufzunehmen, indem sie ihren Analphabetismus konsequent verschweigt. Angeklagt wird sie gemeinsam mit ihren ehemaligen KZMitarbeiterinnen dafür, jüdische Frauen und Mädchen während einer Bombennacht in einer Kirche verbrannt haben zu lassen, anstatt sie aus dem brennenden Gebäude zu befreien. Die von Schlink konstruierte Situation lässt ihr schließlich die Wahl, sich zu ihrem Analphabetismus zu bekennen oder die strafrechtliche Hauptschuld der Anklage auf sich zu nehmen. Die im Text aufscheinenden
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rechtsphilosophischen Probleme hinsichtlich retrospektiver Rechtsprechung (vgl. Dreike 2002) und historisch-moralischer Schuld werden so durch die individualbiographische Scham- und Schuld-Problematik der Figur Hannas gekreuzt, vermittelt über die interne Fokalisierung auf die ihrerseits scham- und schuldgeplagte Figur Michael Berg. Mit dem Ritus des Vorlesens und dem Analphabetismus Hannas – sowie dessen Überwindung, die im dritten Teil des Romans thematisiert wird – berührt der Text zugleich die Frage nach dem Verhältnis bürgerlich-humanistischer Bildung zum ‚Zivilisationsbruch‘ des Nationalsozialismus. Nach der Trennung von seiner Ehefrau beginnt Berg in den 1970er Jahren damit, für Hanna Audiokassetten mit literarischen Klassikern aufzunehmen und sie ihr zuzusenden (vgl. V, 174 ff.). Er wiederholt damit partiell, vermittelt über das Speichermedium Audiokassette, die Kommunikationssituation der Affäre der späten 1950er Jahre – nun allerdings als unidirektionalen und von ihm kontrollierbaren Kommunikationsakt. Hanna ihrerseits nutzt den Aufzeichnungscharakter des Mediums, um mithilfe der Stimme Bergs im Gefängnis Lesen und Schreiben zu lernen, macht ihm bisweilen auch briefliche Mitteilungen, erhält im Gegenzug allerdings keine Briefe, sondern, kommentarlos, weitere Aufzeichnungen. Am Tag ihrer Entlassung erhängt Hanna Schmitz sich in ihrer Zelle. Die hierbei suggerierte Frage, ob sich Hannas moralisches Bewusstsein während ihrer autodidaktischen Bemühungen – sie liest, nachdem sie sich selbst alphabetisiert, unter anderem Jean Améry und Fachliteratur über Konzentrationslager – (vgl. V, 193) weiterentwickelt hat und schließlich zum Suizid zuspitzte, bleibt offen. Das Problemfeld ‚Bildung und Barbarei‘ wird zwar, wie auch das Thema ‚intergenerationelle Schuld‘, aufgerissen, allerdings ohne dass die Erörterung dabei zu einem Ergebnis kommt. Im Vordergrund stehen Entlastungs- und Verdrängungsstrategien der autodiegetischen Erzählerfigur Michael Berg hinsichtlich seines moralisch und psychosozial höchst ambivalenten Verhältnisses zur quasi-monströsen Figur Hanna Schmitz. Der Vorleser ist ein konventionell erzählter Roman, gewissermaßen ein ‚easy read‘ (vgl. Metz 2004, S. 300), und lässt sich insofern in die häufig konstatierte ‚Wiederkehr des Erzählens‘ in den 1990er Jahren einordnen (vgl. Förster 1999), die das für die 1980er Jahre typische, an avantgardistischen Schreibweisen orientierte, Erzählen ablöste. Möglichkeiten und Grenzen des Erzählens werden dabei im Roman selbst problematisiert (vgl. V, 205 f.), so dass der Vorleser zugleich als Beispiel einer leicht konsumierbaren, aber dennoch metareflexiven Erzählprosa gelten kann. Im Verhältnis zur Tradition der ‚Vergangenheitsbewältigungsliteratur‘ der Nachkriegszeit markiert der Roman eine Wende im Umgang mit dem ‚Themenkomplex Nationalsozialismus‘, da er die Frage nach moralischer und juristisch-strafrechtlicher Schuld – erstens – aus der Perspektive eines in den 1940er Jahren Geborenen, mithin eines Mitgliedes der 1968er Generation, auf
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greift und dabei – zweitens – einen für die frühen 1990er Jahre ungewöhnlichen Zugriff über die Liebes- und Coming-of-Age-Thematik vollzieht. Der Roman hat kontroverse Diskussionen über die Möglichkeiten und Grenzen der literarischen Repräsentation des Holocaust und die Relativierung historischer Schuld ausgelöst. Neben Texten wie Martin Walsers Paulskirchenrede (1998), Sebalds Luftkrieg und Literatur (1999) oder Jörg Friedrichs Der Brand (2002) gilt der Vorleser heute als wichtiges Dokument einer Veränderung des Blicks auf die deutsche Vergangenheit im Zeichen des ‚wiedervereinigten‘ Deutschland. Als Text über den Holocaust, der zumindest partiell eine gewisse Empathie gegenüber den Tätern nahelegt, bildet der Vorleser gewissermaßen einen Gegenpol zur opferzentrierten Holocaust-Literatur wie etwa Ruth Klügers Weiter leben (1992).
3 Rezeption und Folgen Der Roman wird nach seinem Erscheinen zunächst überwiegend positiv aufgenommen (vgl. Köster 2000, S. 19 ff). Hervorgehoben werden die kurzweilige Erzählweise sowie der Verzicht auf eine „moralische Bevormundung“ (Fuld 1995) des Lesers hinsichtlich der Frage nach intergenerationeller Schuld. Die „Selbstgerechtigkeit der Söhne“ (Löndorf 1995), die mit der kritischen Aufarbeitung des Nationalsozialismus im Zuge der soziokulturellen Transformationen um 1968 einhergeht, werde hier das erste Mal ihrerseits kritisch unter die Lupe genommen. Mit dem großen kommerziellen Erfolg des Vorlesers mehren sich seit den späten 1990er Jahren auch Skepsis und negative Urteile über den Roman (vgl. etwa Adler 2002). Einige Autoren sprechen von einer Relativierung der historischen Schuld Deutschlands, die der Vorleser vorantreibe; Willi Winkler bezeichnet den Text in einer vielbeachteten Rezension in der Süddeutschen Zeitung abwertend sogar als „Holo-Kitsch“ (Winkler 2002). Vorgeworfen wird Schlink, das Thema Nationalsozialismus im Rahmen einer reichlich abstrusen, effekthascherischen Liebesgeschichte abzuhandeln und durch den – ebenfalls als sehr konstruiert erscheinenden – Analphabetismus Hannas typische Entschuldigungsstrategien der ‚Tätergeneration‘ zu reproduzieren. Der Widerspruch zwischen der emotional-libidinösen Bindung der 1968er-Generation an ihre Elterngeneration und der Verurteilung der Eltern zu Scham und Schuld werde bei Schlink nicht aufgelöst, sondern zum Schuldabbau instrumentalisiert. In der literaturwissenschaftlichen Rezeption des Vorlesers steht, im Anschluss an die literaturkritischen Debatten, die spezifische Verarbeitung des Nationalsozialismus im Vordergrund. Während die Germanistik der deutschsprachigen Länder hierbei häufig die erinnerungspolitische Funktion des Textes vor dem Hintergrund gedächtnistheoretischer Überlegungen relativ wohlwollend in
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den Blick nimmt (vgl. hierzu etwa Herrmann 2010, S. 109 ff.), herrscht in der angelsächsischen Germanistik ein kritischerer Ton vor (vgl. Donahue 2001, Lewis 2006, Niven 2003). Vor allem William C. Donahue analysiert – zuletzt im Rahmen einer gänzlich diesem Thema gewidmeten Monographie (vgl. Donahue 2010) – die Funktion des Vorlesers im Rahmen der literarischen und populärkulturellen Repräsentation des Holocaust und kommt unter anderem zum Ergebnis, dass die Parallelisierung der ermordeten jüdischen Mädchen und Michael Berg als Opfer der ‚moralisch illiteraten‘ Hanna Schmitz – als Repräsentantin des nationalsozialistischen Täterkollektivs – einer ethischen Restituierung der Deutschen als Opfergemeinschaft Vorschub leiste (vgl. ebd, S. 133 ff.). In Deutschland war es Manfred Durzak, der als einer der ersten das Verhältnis von Opfern und Tätern im Vorleser problematisiert und in die literaturwissenschaftliche Debatte eingeführt hat (vgl. Durzak 2000).
Literatur Friedrich, Jörg: Der Brand. Deutschland im Bombenkrieg 1940–1945. Berlin, München: Propyläen Verlag 2002. Klüger, Ruth: Weiter leben. Göttingen: Wallstein 1992. Schlink, Bernhard, Walter Popp: Selbs Justiz. Roman. Zürich: Diogenes 1987. Schlink, Bernhard: Der Vorleser. Roman. Zürich: Diogenes 1995. Schlink, Bernhard: Die gordische Schleife. Kriminalroman. Zürich: Diogenes 1988. Schlink, Bernhard: Selbs Betrug. Roman. Zürich: Diogenes 1992. Sebald, W. G.: Luftkrieg und Literatur. München: Hanser 1999. Walser, Martin: Erfahrungen beim Verfassen einer Sonntagsrede. Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 1998. Mit d. Laudatio v. Frank Schirrmacher. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1998.
Sekundärliteratur Adler, Jeremy: Bernhard Schlink and „The Reader“. In: Times Literary Supplement, 22.03.2002, S. 17. Cornelia, Marie: Memory Play: Bernhard Schlink’s The Reader. In: Christine Cosentino, Wolfgang Ertl, Wolfgang Müller (Hg.): An der Jahrtausendwende. Schlaglichter auf die deutsche Literatur. Frankfurt/M.: Peter Lang 2003 (= Frankfurter Forschungen zur Kultur- und Sprachwissenschaft, Bd. 6), S. 117–124. Donahue, William Collins: Illusions of Subtlety. Bernhard Schlink’s Der Vorleser and the Moral Limits of Holocaust Fiction. In: German Life and Letters 54/1 (2001), S. 60–81. Donahue, William Collins: Holocaust as Fiction. Bernhard Schlinks „Nazi“ Novels and Their Films. New York, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2010. Dreike, Beate M.: Was wäre denn Gerechtigkeit? Zur Rechtsskepsis in Bernhard Schlinks Der Vorleser. In: German Life and Letters 55/1 (2002), S. 117–129.
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Schmidt, Kathrin: Flußbild mit Engel
Durzak, Manfred: Opfer und Täter im Nationalsozialismus. Bernhard Schlinks Der Vorleser und Stephan Hermlins Die Kommandeuse. In: Literatur für Leser 23/4 (2000), S. 203–213. Förster, Nikolaus: Die Wiederkehr des Erzählens. Deutschsprachige Prosa der 80er und 90er Jahre. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1999. Fuld, Werner: Drama eines zerstörten Lebens. In: Focus, 30.09.1995. Garbe, Joachim: Deutsche Geschichte in deutschen Geschichten der neunziger Jahre. Würzburg: Königshausen & Neumann 2002. Hall, Katharina: The Author, the Novel, the Reader and the Perils of ‚Neue Lesbarkeit‘: A Comparative Analysis of Bernhard Schlink’s Selbs Justiz and Der Vorleser. In: German Life and Letters 59/3 (2006), S. 446–467. Herrmann, Meike: Vergangenwart. Erzählen vom Nationalsozialismus in der deutschen Literatur seit den neunziger Jahren. Würzburg: Königshausen & Neumann 2010 (= Epistemata. Würzburger Wissenschaftliche Schriften. Reihe Literaturwissenschaft; Bd. 691). Köster, Juliane: Bernhard Schlink. Der Vorleser. München: Oldenbourg Wissenschaftsverlag 2000 (= Oldenbourg-Interpretationen, Bd. 98). Lewis, Alison: Das Phantasma des Masochisten und die Liebe zu Hanna. Schuldige Liebe und intergenerationelle Schuld in Bernhard Schlinks „Der Vorleser“. In: Weimarer Beiträge 52 (2006), S. 554–573. Löhndorf, Marion: Die Banalität des Bösen. In: Neue Zürcher Zeitung, 28.10.1995, S. 6. Metz, Joseph: „Truth Is a Woman“: Post-Holocaust Narrative, Postmodernism, and the Gender of Fascism in Bernhard Schlink’s Der Vorleser. In: The German Quarterly 77/3 (2004), S. 300–323. Niven, Bill: Bernhard Schlink’s Der Vorleser and the Problem of Shame. In: The Modern Language Review 98/2 (2003), S. 381–396. Winkler, Willi: ‚Vorlesen, Duschen, Durcharbeiten‘. In: Süddeutsche Zeitung, 30./31.03.2002, S. 16.
Achim Geisenhanslüke
Schmidt, Kathrin: Flußbild mit Engel. Gedichte (Frankfurt/M.: Suhrkamp) 1 Entstehung und Kontext Kathrin Schmidt, geboren 1958 in Gotha, hat nach dem Studium der Psychologie und der Tätigkeit als Kinderpsychologin ein Sonderstudium am Literaturinstitut Johannes R. Becher in Leipzig absolviert. Sie ist zunächst als Lyrikerin aufgetreten, ist einer größeren Öffentlichkeit aber vor allem durch ihre Romane bekannt geworden. Neben vielen weiteren Auszeichnungen hat sie 1988 den Anna-Seghers-Preis erhalten, 1993 den Leonce-und-Lena-Preis, 2001 den Deutschen Kritikerpreis und 2003 den Droste-Preis der Stadt Meersburg.
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Achim Geisenhanslüke
2 Inhalt und Analyse Flußbild mit Engel (= FE) ist der dritte Lyrikband von Kathrin Schmidt. Ihre ersten beiden Veröffentlichungen fielen 1982 und 1987 noch in die Zeit der DDR. Mit Flußbild mit Engel tritt sie das erste Mal als Lyrikerin nach der Wende auf. Der Band ist frei von aller Ostalgie durch eine kritische Auseinandersetzung mit Deutschland gekennzeichnet, die sich sowohl auf die ehemalige DDR und die BRD als auch auf das ‚wiedervereinigte‘ Deutschland bezieht. Die Kritik an Deutschland, die den gesamten Band kennzeichnet, zeigt sich schon im ersten Gedicht. Auf eine für Schmidt charakteristische sprachspielerische Weise spielt schon der Titel des Eingangsgedichts desertion auf den Akt des Desertierens wie die Wüste an, das ‚waste land‘, als das sich Deutschland dem lyrischen Ich präsentiert – „das land deiner qual“ (FE, 9), heißt es abschließend in desertion, „mein land hat mir geschrieben“ in dem folgenden Gedicht landnahme: „sehr fremder worte ist die sprache voll“ und „was sie deutsch bezeichnet, wächst hier nicht“ (FE, 10). Das Misstrauen gegenüber der neuen politischen Situation äußert sich in der Sprachskepsis: Dem lyrischen Ich ist die eigene Sprache fremd geworden. Aufgefangen wird die Befremdung durch eine sinnliche Metaphorik der Natur: nichts „wächst“. Immer wieder greift Schmidt auf Bilder des natürlichen Wachstums zurück, um von dort aus geschichtliche Prozesse in den Blick zu nehmen. Am deutlichsten geschieht das in dem Gedicht mein blähland mein blühland:
mein blähland mein blühland ob abgeschissen oder aufgemalt: die bilder gleichen sich wie die verlorenen farben so unterm rost von liebesmüh vor holderblüh kommt immer nur ein lauer winter der die insekten in den sommer jagt und eh der herbst naht es noch mit dem august treibt wo planjahrfünft getauscht in markscheinquader wächst mir ein traumhaus übern scheidenweg es schwillt der bauch ich weiß noch wie’s vergeht und schneide mir ein loch… wie damals zu gebären gelingt mir nicht
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Schmidt, Kathrin: Flußbild mit Engel
das land ist bläh und blüh und für mein totgeborenes ist es zu früh (FE, 13)
Schmidt greift auf eine drastische Metaphorik zurück, die schon den Titel bestimmt und in der Eingangszeile mit dem „abgeschissen“ noch weitergeführt wird. Es ist eine sinnliche, körperliche Metaphorik des Gebärens, die den Leitfaden bildet: „es schwillt der bauch“, heißt es in der Zusammenführung des körperlichen und poetischen Aktes des Gebärens. Allerdings endet der Geburtsakt mit dem Eingeständnis einer Ohnmacht, die gleichwohl ironisch aufgefangen wird: „wie damals zu gebären, gelingt mir nicht“, konstatiert das lyrische Ich, um zu der kritischen Zeitdiagnose zurückzukehren: „das land ist bläh und blüh“. Schmidt verzeichnet präzise die Wendezeit als eine Zeit des Zwischen, eine Schwellenzeit, in der die eigene Sprache fremd geworden und eine neue noch nicht gefunden ist. Nicht nur eine kritische Auseinandersetzung mit der DDR wird in den Gedichten deutlich, ohne dass diese jemals in Ostalgie umschlagen würde: „nie hast du pisa gesehen / nur potsdam verschlafen bei nacht / zwischen den östlichen knochen / dir östliche kinder gemacht“ (FE, 12). Der Sehnsuchtsort der Deutschen, Italien, wird auch in anderen Gedichten wie novemberalmanach aufgerufen, „wo die Zitronen / einen Sommer lang wie immer blühten.“ (FE, 18) Die utopische Vorstellung, „alles sei / in Zukunft sehr viel schöner“, wird aber schnell zurückgenommen: „was wie ein immer erschien / ergab sich letztlich als november“ (FE, 18). Schmidt entwirft in ihren Gedichten ein dystopisches Szenario der Gegenwart, dem die eigene lyrische Sprache souverän als Gegenwort begegnet: „im deutschen teiln sich immerzu gewalten: / aus eins mach zwei. so fort. alles beim alten“, so das Sonett halteverbot. Die Sprache erscheint in diesem Zusammenhang als ein „wortbruch“ (FE, 33), jedoch auch als Grund für einen spielerischen Umgang mit der Tradition lyrischer Formen und literarischer Figuren: „kopf hoch lady machsbesser“ (FE, 50) ruft sich das lyrische Ich zu. Maurizio Pirro hat daher eine „unbändige Lust an ungewöhnlichen Sprachkonstruktionen“ und eine „rhizomatische Textur“ (Pirro 2007, S. 296) in Schmidts Gedichten erkennen können. Schmidt verschreibt sich allerdings keiner postmodernen Ästhetik der Körperlichkeit. Ihr Zugang zum Körper wie zur Sprache ist von einer unmittelbaren Sinnlichkeit und Lust im Sinne von Rabelais’ karnevaleskem Schreiben geprägt, die sie von Lyrikerinnen wie Barbara Köhler oder Ulrike Draesner unterscheidet und ihr eine eigene Stimme sichert.
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3 Rezeption und Folgen Kathrin Schmidts Flußbild mit Engel ist – neben vielfältigen Rezensionen, die trotz meist positiver Stimmen u. a. „a tone of nostalgic recollections of private moments“ (Donahue 1996, 396) bemängeln – von der Forschung bisher kaum wahrgenommen worden. Als Gegengewicht zum Intellektualismus, der viele Gedichte Grünbeins, aber auch die philosophisch aufgeladene Lyrik Köhlers (→ Blue Box) kennzeichnet, ist Kathrin Schmidts lyrische Arbeit, die von der großen Aufmerksamkeit, die auf ihre Romane gefallen ist, vielleicht ein bisschen überschattet wurde, noch immer zu entdecken.
Literatur Schmidt, Kathrin: Flußbild mit Engel. Gedichte. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1995.
Sekundärliteratur Donahue, Neil H.: Kathrin Schmidt, Flußbild mit Engel, Frankfurt/M. 1995. In: World Literature Today 70 (1996), S. 396. Pirro, Maurizio: Hermeneutik der Vergangenheit bei Kathrin Schmidt und Barbara Köhler. In: Karen Leeder (Hg.): Schaltstelle. Neue deutsche Lyrik im Dialog. Amsterdam, New York: Rodopi 2007, S. 293–310.
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Schulze, Ingo: 33 Augenblicke des Glücks. Aus den abenteuerlichen Aufzeichnungen der Deutschen in Piter [Erzählungen] (Berlin: Berlin Verlag) 1 Entstehung und Kontext Ingo Schulzes Erstlingswerk 33 Augenblicke des Glücks (= AG) liegt ein halbjähriger Aufenthalt des Autors in Sankt Petersburg im Jahre 1993 zugrunde, wo er im Auftrag eines Geschäftsmannes eine Annoncezeitung gründete. Als Prä-Text des Erzählungsbandes darf eine Reihe von Fax-Briefen an den schwerkranken Alten-
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Schulze, Ingo: 33 Augenblicke des Glücks
burger Freund, den Grafiker Helmar Penndorf betrachtet werden, die Ingo Schulze tagtäglich geschrieben hat und die seine ersten Eindrücke der Stadt schildern. Der Band mit Schulzes Briefen und den Zeichnungen von dem mittlerweile verstorbenen Penndorf ist zunächst in limitierter Ausgabe im Jahre 1994 bei einem kleinen Leipziger Verlag und dann im Jahre 2000 in der Friedenauer Presse unter dem Titel Von Nasen, Faxen und Ariadnefäden erschienen. Dem eigentlichen, ebenfalls Penndorf gewidmeten Text ist eine Einführung vorangestellt, die sich als Herausgeberfiktion ausnimmt, das poetologische Prinzip des Bandes verkündet und den vielleicht wichtigsten intertextuellen Bezug expliziert: Ein nicht näher genannter Herr lernt in einem Zugabteil nach Petersburg einen deutschen Kaufmann namens Hofmann kennen, der am nächsten Tag zwar verschwunden ist aber eine Mappe mit Erzählungen hinterlässt, die der in Freiburg lebende Herr an einen in Berlin wohnenden I. S. (Ingo? Schulze?) sich nennenden Autor schickt, mit der Bitte „diesen Phantasien“ seinen Namen zu leihen, d. h. sie zu veröffentlichen, woraufhin besagter I. S. sich entschliesst, die Mappe herauszugeben, eigentlich nur um „die anhaltende Diskussion um den Stellenwert des Glücks zu beleben“ (AG, 9). Vor seinem Verschwinden erklärt Hofmann seinem Gesprächspartner sowie nachmaligen Zulieferer des I. S., er habe „tägliche Aufzeichnungen“ von Petersburg nach Deutschland geschickt (was wiederum als expliziter Verweis auf Schulzes Faxe gedeutet werden kann). Zur Poetologie: Während des Gesprächs am Vorabend seines Verschwindens erklärt Hofmann, er habe sich
mehr und mehr der Neigung hingegeben, die Erfindung anstelle der Recherche zu setzen. Denn für ihn – so Hofmann – sei etwas Ausgedachtes nicht weniger wirklich als ein Unfall auf der Straße (AG, 8).
Somit erhält der Leser eine präzise Lenkung, die folgenden Texte eher als Beispiele von phantastischer Literatur denn als dokumentarische Momentaufnahmen zu lesen aus einer Stadt im sozialen und politischen Umbruch, worauf der Untertitel des Textes hinweisen könnte („Aus den abenteuerlichen Aufzeichnungen der Deutschen in Piter“; hierzu sei zu erwähnen: a) die Pluralform „der Deutschen“, die einen Anspruch auf panoramatische Vollkommenheit auszudrücken scheint und b) die Bezeichnung „Piter“, das ist der russische Kosename für Sankt Petersburg). Zum wichtigsten intertextuellen Bezug: Gemeint ist selbstverständlich E.T.A. Hoffmann (Marx, S. 167–173), der Name des verschwundenen Kaufmanns Hofmann spricht schon Bände, dazu kommen noch Herausgeberfiktion, der Untertitel, welcher auf den Untertitel der Fantasiestücke in Callots Manier hinweist, das dialektische Verhältnis zwischen Realismus und Phantastik, wovon in der Einführung die Rede ist. Ein Hoffmann’scher Text wird explizit in der 27. Geschichte zitiert, die als Kontrafaktur von den Abenteuern der Silvesternacht
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zu lesen ist. Zu Ende des Textes finden sich „Ausgewählte Anmerkungen des Herausgebers“ (AG, 269–270), die auf einige der mehr oder weniger expliziten, manchmal sehr verfremdeten intertextuellen Bezüge hinweisen. Mit der Ausnahme von Hoffmann handelt es sich dabei ausschließlich um russische bzw. sowjetische Autoren, die in Sankt Petersburg bzw. Leningrad gelebt haben und/oder die Stadt in den Mittelpunkt ihrer Werke gesetzt haben (Andrej Bjely, Vladimir Nabokow, Daniil Charms etc.). Zu nennen wären aber auch die sogenannten „Moskauer Konzeptualisten“, mit denen Schulze sich eingehend beschäftigt hat (vor allem mit Vladimir Sorokin und mit Boris Groys, dem wichtigsten Theoretiker der Konzeptualisten). Es handelt sich also um ein postmodernes Werk, das Roland Barthes’ Theorem vom Tod des Autors als eine Selbstverständlichkeit hinnimmt („Schließlich bekommt der Leser nur das Werk in die Hand, und der Autor spielt keine Rolle“ oder „Die These von der Abschaffung eines Autors ist auch schon ein alter Hut“, so Ingo Schulze in einem seiner ersten längeren Interviews, Geiger, S. 114–115). Hinzu kommt noch Schulzes wiederholte Behauptung (zunächst in der Döblin-Preisrede im Jahre 1995), er verfüge über keinen eigenen, erkennbaren, persönlichen Stil, der Stil käme nur vom jeweiligen Stoff. Der kulturtheoretische Spiritus rector der 33 Augenblicke des Glücks dürfte aber Michail Bachtin sein und dessen Begriff des Karnevalesken (Geiger, S. 114), ein Gutteil von Schulzes Geschichten lässt sich als „Literarisierung Bachtinscher Theoreme“ (ebd.) lesen, wie Markus Symmank in seiner grundlegenden Studie bewiesen hat.
2 Inhalt und Analyse Das Buch besteht aus 33 titellosen Texten unterschiedlicher Länge. Als Titelersatz dürften die ersten Worte gelten, die in Kapitalbuchstaben geschrieben sind. Es sind Namen (z. B. IWAN TOPORYSCHKIN, VIKTORIA FEDEROWNA, SERJOSCHA), elliptische Satzanfänge (z. B. WIE OFT, MÖCHTE ICH, ES VERGING), Dialogbruchstücke, die von Anführungsstrichen eingeleitet sind (z. B. „ACH DIE…“, „HM“, SAGTE, „NEIN, NEIN…“). Der kürzeste Text (HENRY JONATHAN) ist eine halbe Seite, der längste (SEHR VEREHRTE) ist 24 Seiten lang. Ein kohärenter Strukturprinzip – ein etwaiges Alternieren von kürzeren und längeren Erzählungen, von Geschichten realistischer und phantastischer Art, von szenisch-dialogischen und diegetisch-deskriptiven Stücken – lässt sich allerdings nicht erkennen. Eine gute Hälfte der in den Augenblicken des Glücks enthaltenen Stücken wird aus der Perspektive eines (deutschen) Ich-Erzählers erzählt, der einige unübersehbare Berührungspunkte sowohl mit dem Autor als auch mit Hofmann, dem Verfasser der im Zuge liegen gelassenen Mappe, aufweist. Dadurch erweist sich die ethnographische Ebene des Textes als prioritär: In zahlreichen Erzählungen wird
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Sankt Petersburg als Ort eines mal wunderlich-wunderbaren, mal aggressiven interkulturellen Clash präsentiert, bei dem der westliche Reisende, der deutsche Gast sich prinzipiell von jedem Enthusiasmus à la Hoffmann fernhält. Als Beispiel dürfte der Beginn der zu Recht sehr bekannten vierten Geschichte gelten, die bezeichnenderweise mit „RUSSLAND“ anfängt. Hier wird ohne jegliche interkulturelle Diskretion, mit zahlreichen, übrigens in ziemlich allen Texten vorhandenen Orientalism-Schablonen (russische Mafia, käufliche Weiber, Waffenhandel etc., Chiarloni, S. 109–113) über das Negative des russischen Lebensstils, über die permanente Schikanierung des (westlichen) Reisenden gewettert mit einer bei Schulze – einem Autor, der sonst zur minimalistischen Lakonie und zum elliptischen Stil neigt, siehe unten – eher seltenen, akribischen Lust an der Accumulatio. Dazu ein kurzes Beispiel:
Bis auf Brot und Tee ist kaum etwas genießbar. Jeder Bissen quillt im Mund, und wieder hat man eine Sünde gegen seinen Körper begangen. Selbst die Milch ist muffig, der Sekt verzuckert, das Bier sauer. Egal, wo man sich umschaut, es gibt nichts, was nicht verbeult, defekt, geflickt, verbogen, abgeschabt, schief, locker, schmutzig ist, als stammte alles von einer Müllhalde und wäre wieder notdürftig zusammengebastelt (AG, 32).
Die vierte Geschichte darf jedoch gleichzeitig als Beispiel jenes plötzlichen Einbruchs des Karnevalesken gelten, der manchen Geschichten gemeinsam ist und den jeweiligen Gast und Erzähler in eine andere Welt, in eine andere Zeit-RaumKonstellation entführt: Hier reicht ein bloßer Wetterumschlag, um dem Reisenden eine neue, bis dahin unerwartete Bereitschaft zu verleihen, sich den Gelüsten der russischen Marktweiber zur Verfügung zu stellen und den eigenen Körper zum heidnischen Altar, ästhetischen Exponat und zur heiter-unheimlichen kafkaesken Schreibfläche werden zu lassen. Der Einbruch der hie und da doch leicht zum Unheimlichen neigenden Welt des Anarchistisch-Karnevalesken (Symmank, S. 52–72) in Form von Re-Naturalisierung des sozialen Raums (WIE OFT, AG, 20– 31), post-dadaistischer Aphasie (WAR DAS, AG, 233–38), gewalttätigem Tod (SCHLIEßLICH, AG, 45–55; HABEN SIE GESEHEN, AG, 76–90; DIE EINZIGE ZEIT, AG, 68–71) ‚ heiterer Anthropo- (SEHR VEREHRTE, AG, 116–139) bzw. Koprophagie (SERJOSCHA, AG, 14–19), heiliger Nekrophilie (ICH HATTE, AG, 257–266) ist jedoch nicht immer mit dem interkulturellen Element, d. h. mit einem Zivilisationskonflikt verbunden, auch weil nicht alle Geschichten kohärent aus dem Standpunkt eines deutschen Reisenden erzählt werden. Die deutschen Ich-Erzähler werden darüber hinaus manchmal zu Zeugen bzw. zu Zuhörern von Bekenntnissen älterer Russen, die in der Hauptsache mit elegischem Ton von ihren Erfahrungen aus der sowjetischen Zeit erzählen. Somit verhandelt Schulzes Text wenn auch nicht prioritär den ganzen „Ostalgie“-Komplex (z. B. in ALS DIE KOMMUNISTEN, AG, 104–108; in „ACH DIE“, AG, 156–167;
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in VIKTORIA FEDEROWNA, AG, 168–187; oder in „DA IST JA“, AG, 239–245). Der elegische Ton kommt übrigens auch in den wenigen und im Durchschnitt auch erheblich kürzeren Skizzen des Bandes zum Ausdruck, die eher in der Tradition Hessel’scher-Benjamin’scher Flânerie stehen (z. B. IN DEN NIEDERUNGEN, AG, 64–67 oder DER SCHNEE, AG, 73–75). Als Spezifikum von Schulzes (nachmaligem) Stil sei schließlich auf die vordergründige Rolle des Dialogs in den Augenblicken des Glücks hingewiesen. Fast ein Drittel der Texte fängt mit einem eher schnörkellosen, manchmal desorientierenden und pointenlosen Dialog an, was ab Simple Storys (1998) zum Hauptmerkmal von Schulzes Schreibart werden wird. Den Höhepunkt wird der Autor in dem fast ausschließlich aus Dialogen bestehenden Roman Adam und Evelyn (2008) erreichen.
3 Rezeption und Folgen Noch vor dem Erscheinen wurde Schulzes Text, der als Vorabdruck in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ veröffentlicht wurde und im Jahre 1995 gleichzeitig den Ernst-Willner-Preis beim Bachmann-Wettbewerb, den Aspekte-Literaturpreis sowie den Förderpreis des Alfred-Döblin-Wettbewerbs erntete, enthusiastisch und einhellig gefeiert als „literarische Entdeckung des Jahres“ (Martin Lüdke in „Focus“, 15.10.1995). Ralph Dutli („F.A.Z.“, 11.11.1995) operiert mit Ausdrücken wie „gekonnt“, „perfekt“, „hervorragend“, bezeichnet Schulze als einen „ausgezeichneten Beobachter“ und definiert die AG als „Meisterstücke“. Ähnliche hymnische Töne finden sich bei Helmut Böttiger („Frankfurter Rundschau“), Susanne Meyer („Die Zeit“) oder Sibylle Cramer („Neue Zürcher Zeitung“). Das Buch wurde in 16 Sprachen übersetzt, darunter: französisch, US-amerikanisch, englisch, spanisch, italienisch und selbstverständlich russisch. Im deutschen Feuilleton und auch in der Forschung wurde das Buch jedoch bald vom Erfolg der für sämtliche (Wieder-)Vereinigungsdiskurse wichtigeren Simple Storys in den Schatten gestellt. Die literaturwissenschaftliche Rezeption hat sich in der Hauptsache auf Themenkomplexe wie die Wiederentdeckung des Ostens/Russlands (Chiarloni, Ilina), E.T.A. Hoffmann-Zitate (Marx) und karnevaleske Konfigurationen (Symmank) konzentriert. Eine systematische Untersuchung der intertextuellen Bezüge bleibt allerdings noch aus.
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Literatur Schulze, Ingo: 33 Augenblicke des Glücks. Aus den abenteuerlichen Aufzeichnungen der Deutschen in Piter. Berlin: Berlin Verlag 1995.
Sekundärliteratur Chiarloni, Anna: Sguardo a Oriente. La Russia nella letteratura tedesca successiva al 1989. In: A. C. (Hg.): La prosa della riunificazione. Il romanzo in lingua tedesca dopo il 1989. Alessandria 2002, S. 97–117. Geiger, Thomas: Wie eine Geschichte im Kopf entsteht. Interview mit Ingo Schulze. In: Sprache im technischen Zeitalter 148 (1999), S. 108–123. Ilina, Janet: Das Russlandbild in Lothar Kusches ‚Kein Wodka für den Staatsanwalt‘ und in Ingo Schulzes ‚33 Augenblicke des Glücks‘. In: Elke Mehnert (Hg.): Russische Ansichten. Frankfurt/M. u.a.: Peter Lang 2007, S. 36–46. Marx, Friedhelm: E. T. A. Hoffmann in der Gegenwartsliteratur. Ein Streifzug durch das Werk Ingo Schulzes. In: E.T.A. Hoffmann-Jahrbuch 17 (2009), S. 166–173. Michalzik, Peter: Wie komme ich zur Nordsee? Ingo Schulze erzählt einfache Geschichten, die ziemlich vertrackt sind und die alle lieben. In: Thomas Kraft (Hg.): Aufgerissen. Zur Literatur der 90er. München, Zürich: Piper 2000, S. 25–38. Symmank, Markus: Karnevaleske Konfigurationen in der deutschen Gegenwartsliteratur. Untersuchungen anhand ausgewählter Texte von Wolfgang Hilbig, Stephan Krawczyk, Katja Lange-Müller, Ingo Schulze und Stefan Schütz. Würzburg: Königshausen & Neumann 2002, S. 52–72. Urupin, Innokenty: 33 Augenblicke des Glücks. Überlebenschancen im Raum von Sankt Petersburg. In: Germanistische Mitteilungen 57 (2003), S. 29–40.
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Schwanitz, Dietrich: Der Campus. Roman (Frankfurt/M.: Eichborn) 1 Entstehung und Kontext Dietrich Schwanitz, der 1940 im westfälischen Werne an der Lippe geboren wurde, weist eine äußerst ungewöhnliche Bildungsbiografie auf. Nach frühen Kindheitsjahren in einer Mennonitengemeinde in der Schweiz – in deren Obhut die Mutter den jüngsten Sohn gegeben hatte, um nach ihrem verschollenen Mann und Dietrichs beiden Brüdern zu suchen – kam Schwanitz erst als Elfjähriger in den Genuss eines regelmäßigen Schulbesuchs. Dennoch erlangte er das Abitur,
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an das er ein Studium der Anglistik, Geschichte und Philosophie in Münster, London und Philadelphia anschloss. An der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg promovierte er in der anglistischen Literaturwissenschaft mit einer Arbeit zu George Bernard Shaw. Es folgte eine Habilitationsschrift mit dem Titel „Die Wirklichkeit der Inszenierung und die Inszenierung der Wirklichkeit“ sowie eine anschließende Assistenz an der Universität Mannheim, bis er 1978 den Ruf der Universität Hamburg als Professor für Englische Literatur und Kultur annahm. Mit Der Campus (= DC) hat Schwanitz 1995 ein viel beachtetes literarisches Debüt feiern können, das dem Hamburger Anglisten neben der öffentlichen Aufmerksamkeit auch einen beträchtlichen wirtschaftlichen Gewinn eingebracht hat: Mit einer Auflagenstärke von 500.000 Exemplaren eröffnete der Romanerstling dem Literaturwissenschaftler die Möglichkeit, sich weiteren literarischen Projekten zu widmen, die eher mit seiner Parkinson-Erkrankung zu vereinbaren waren als der Universitätsalltag. Bis zu seinem Tod im Dezember 2004 folgten der ebenfalls im Universitätsmilieu angesiedelte Roman Der Zirkel. Romantische Komödie (1998, Eichborn) und eine von Schwanitz herausgegebene KurzkrimiSammlung mit dem Titel Amoklauf im Audimax (1998, Rowohlt). Daneben war Schwanitz mit seinem zweiten Bestseller Bildung. Alles, was man wissen muss und den weiteren populärwissenschaftlichen Sachbüchern Die Geschichte Europas (2000, Eichborn) und Männer: Eine Spezies wird besichtigt (2001, Eichborn) erfolgreich.
2 Inhalt und Analyse Der Roman erzählt vom Fall des Universitätsprofessors Hanno Hackmann. Der Soziologe wird als Vertreter eines neuen Typs Professor eingeführt, der sich bewusst von seinen Vorgängern und Kollegen distanziert, indem er seine wissenschaftliche Tätigkeit auf stark leistungsbezogenen Prinzipien aus Wirtschaft und Politik aufbaut. Die Vermarktung von soziologischen Forschungsergebnissen gehört ebenso zu seinen akademischen Routinen wie das erfolgreiche Einwerben von Drittmitteln und die Anhäufung symbolischen Kapitals durch Fernsehinterviews u. Ä. Der Roman setzt an einem Punkt der maximalen Fallhöhe an: Als Hauptvertreter eines „Neokonstruktivismus“ ist Professor Hanno Hackmann „ein akademischer Guru geworden“, den man mit „Ehren überhäuft hatte“ (DC, 6). Von Kollegen als „Olympier“ (DC, 6) gewürdigt und als Festredner gefragt, wird er im Privatleben von seiner frustrierten Ehefrau Gabriele, die auf eigenen Wunsch nur Gabrielle genannt wird, permanent gedemütigt. Die Folge ist eine Affäre mit der Studentin Barbara Clauditz, die jedoch an einem Punkt angelangt ist, an dem sie
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dem Vorzeigewissenschaftler zu gefährlich erscheint. Er beschließt, die sexuelle Beziehung unter dem Vorwand zu beenden, dass die Betreuung von Barbaras geplanter Diplomarbeit und ihre Liaison ihn in einen unauflösbaren Rollenkonflikt versetzen würden. Tatsächlich hat er einfach Angst, dass seine Frau von der Affäre erfahren könnte. Barbara lässt sich jedoch nicht täuschen. Da sie ohnehin beschlossen hat, das Soziologiestudium zugunsten einer neu entdeckten Affinität zur Schauspielerei aufzugeben, trifft sie Hackmanns Sinneswandel nicht allzu schwer. Inspiriert von dem Theaterstück, in dem sie die Hauptrolle bekommen hat – „Medea heißt es, ist aber nicht der Klassiker, sondern ein modernes Stück von einer Engländerin, Jessica Wilson oder so ähnlich“ (DC, 75), – nötigt sie Hackmann zum Geschlechtsverkehr: „Ein letztes Mal, zum Abschied. Ich verschwinde dann aus deinem Leben“ (DC, 82). Allerdings weicht das Drehbuch der erotischen Begegnung von den Routinen der bisherigen Treffen ab. Die Studentin fordert ihren baldigen Ex-Geliebten heraus: „Ja, wir spielen, komm, jag mich. Du bist ein schauriger Macho und Vergewaltiger! Jag mich! Reiß mir den Slip herunter!“ (DC, 82) Der anschließende Liebesakt auf dem professoralen Schreibtisch wird von fünf Bauarbeitern von einem Baugerüst vor dem Bürofenster aus beobachtet, womit die Romanhandlung alle wichtigen Voraussetzungen für spätere Ent- und Verwicklungen zusammengestellt hätte. Die exponierte Stellung in der Öffentlichkeit und sein rabiater Umgang mit seinen Mitmenschen bescheren Hackmann freilich nicht nur Freunde; dennoch ist die Intrige, die zu seinem beruflichen und privaten Fall führt, weniger ein zielgerichtetes Komplott als das Zusammenspiel zahlreicher unabhängiger Faktoren, was sich auf die Darstellungsebene des Romans auswirkt. So wird die Handlung aus verschiedenen Blickwinkeln erzählt. Neben der Hauptfigur werden der Romanistik-Professor Bernd Weskamp und ein Studienabbrecher und Journalist namens Martin Sommer fokalisiert. Aus Weskamps Perspektive wird die Handlung vorangetrieben, da er als Vorsitzender des Disziplinarausschusses der Universität durch eine Meldung der Frauenbeauftragten mit den Geschehnissen konfrontiert wird. Barbara Clauditz hat während der Probe der Vergewaltigungsszene aus dem Medea-Stück geäußert, dass sie eben eine solche Szene, wie sie geprobt wurde, erst vor kurzem selbst an der Universität erlebt habe. Danach hat sie einen Nervenzusammenbruch und wird in die Psychiatrie eingeliefert, was die Professorin für Schauspiel und Sprechtheaterregie Brigitte Schell zu einer Meldung bei der Frauenbeauftragten veranlasst. Als es dem demotivierten Weskamp, von dem es ausdrücklich heißt: „[d]ie akademische Arbeit schien ihm schal und leer; was ihn faszinierte, war die Macht. Ja, die Macht“ (DC, 36), dämmert, dass er mit dieser Angelegenheit ein Politikum auf dem Tisch hat, das ihn endgültig von dem akademischen Abstellgleis, auf dem er sich wähnt, befördern und ihm einen
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hochschulpolitischen Aufstieg ermöglichen könnte, stürzt er sich mit manipulativen Absichten auf den Fall. Ebenso wie Weskamp hofft auch der unbedarfte Martin Sommer, den mutmaßlichen Vergewaltigungsfall an der Universität zu seinem eigenen Vorteil zu nutzen. Mit seiner Naivität ist der Neuling für den gewieften Historiker Schäfer ein gefundenes Fressen. Er spielt ihm Informationen und Dokumente zu, um ihn von seinen aktuellen Forschungsaktivitäten, der Edition der verlorenen Riezler-Tagebücher, abzulenken. So gelangt der Fall in die Presse, und die Universität gerät unter öffentlichen Druck. Neben diese Figuren treten die Mächtigen der Universität wie ihr Präsident Hans Ulrich Schacht und sein Stab, „der sich ja nach Bedarf in ein Wahlkampfbüro, ein Beratergremium, ein Oberstes Gericht oder auch eine Feuerwehr verwandeln konnte“ (DC, 86), bestehend aus dem Leitenden Verwaltungsbeamten Seidel, dem persönlichen Referenten des Präsidenten Dr. Peter Schmale, dem Leiter der Rechtsabteilung Dr. Erich Matte sowie aus zwei Mitarbeitern der Pressestelle, die universitätsweit als Castor und Pollux bekannt sind. Im Hintergrund bemüht sich Heribert Kurtz, genannt Sahib, der Leiter des Bereichs Deutsch als Fremdsprache, der politisch und wirtschaftlich bestens vernetzt ist, um das Vertuschen und Manipulieren von Beweisen und Zeugen. Aufgrund der persönlichen Kontakte dieses „capo di tutti capi“ (DC, 154), die bis in den Senat reichen, gewinnt die Intrige eine politische Dimension. Zu seinem Gegenspieler steigt der Journalist Hirschfeld auf, der als Chefredakteur der Abendpost angesichts der Hetzkampagne des JOURNALS, für das Martin Sommer arbeitet, sich auf die Seite Hackmanns schlägt. Hirschfeld sorgt zunächst dafür, dass die Bauarbeiter ihre Aussagen aus Angst, sie könnten selbst wegen unterlassener Hilfeleistung belangt werden, zurückhalten. Als sie Hackmann nach intriganten Gegenmaßnahmen von Seiten Weskamps und des JOURNALS schließlich doch vor dem Disziplinarausschuss, der seine Sitzung der Öffentlichkeit medienwirksam preisgibt, belasten, knickt Hackmann ein und berichtet, was sich wirklich zugetragen hat. Seine Frau reicht die Scheidung ein, er verliert Ämter und Würden, bleibt der Universität Hamburg jedoch als akademischer Outcast erhalten, der Studierende der Sozial- und Kulturwissenschaften „in einer Mischung aus alternativer Sprechstunde und Kolloquium“ berät und „bei öffentlichen Auftritten die Selbstdarstellung des Präsidenten durch subversive Auftritte“ (DC, 378) unterminiert.
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3 Rezeption und Folgen Die Rezensionen des Romans kommen unisono zu dem Urteil, dass er komisch geschrieben und durchaus unterhaltsam sei. So zeichne den Roman ein „[t] reffender Sprachwitz und gelungene Situationskomik“ aus (Frank 1995), lediglich „die Hemmungslosigkeit der Einfälle (Kind fällt Treppe hinunter) und der überreiche Einsatz des schmückenden Beiworts [gingen dem Leser] auf die Nerven“ (Apel 1995, S, 42). Weitaus kritischer als das Feuilleton ist die literaturwissenschaftliche Forschung mit dem Text umgegangen. Die häufig klischeehafte Figurenzeichnung wird angemahnt. Vor allem Studierende seien bei Schwanitz bloße Karikaturen (vgl. Durrani 2000, S. 428), so dass insgesamt der „Eindruck ausgeprägter akademischer Hybris [entstehe], gemäß dem Motto, Studenten sind dumm, faul, aufsässig, und der Mensch fängt frühestens beim Doktoranten [sic] an“ (Fischer 2010, S. 18). Neben der hier monierten arroganten Haltung Studierenden gegenüber ist dem Roman Chauvinismus vorgeworfen worden. Dass „[l]ediglich ausgewählte Studentinnen [als Objekt professoraler Begierde] intensiv wahrgenommen“ (ebd.) werden, passt zu dem Gesamtbild, das der Roman von der Universität zeichnet. Diese ist gefangen zwischen der Forderung nach Political Correctness und der Willkür von Frauenbeauftragen, die sich – wie es der Leiter der Rechtsabteilung sagt – an deutschen Universitäten omnipotent fühlen können „weil sie natürlich jeden Widerstand gegen sich als weiteres Beispiel männlicher Unterdrückung denunzieren können“ (DC, 96). Fischer kommt diesbezüglich gar zu dem Schluss, dass der Roman „seine eigentliche Bedeutung […] aus der faszinierenden Dichotomie zwischen dem Ort der Handlung und der Figurengestaltung“ (Fischer 2010, S. 19) gewinne. So habe die Universität als Geburtshelferin des politisch-korrekten Gender-Bewusstseins unserer Zeit fungiert, das der Roman mit seinen „Klischees, [die] mitunter […] unüberbietbar schlicht sind“ (ebd., S. 25), unbewusst unterwandert. Gerade damit werde „die Notwendigkeit solcher Diskurse unterstrichen, die [im Roman] häufig eine lächerliche Note bekommen“ (ebd., S. 19). Gemein ist Literaturkritik und Forschung die Neigung, den Roman als Adaption des angelsächsischen Campusromans zu begreifen und Schwanitz in die Tradition von Kingsley Amis und David Lodge (Frank 1995) oder auch Vladimir Nabokov und Malcolm Bradbury (Fischer 2010, S. 18) zu stellen. Mit Schwanitz habe sich ein Wandel in der deutschsprachigen Literatur vollzogen (vgl. Durrani 2000, S. 427), da es zuvor keine Romane gegeben habe, die den Universitätscampus als sozialen Raum erschlossen und dabei Selbstironie und Humor im Blick auf „die Macken der eigenen Zunft“ (Albers 1996, S. 21) bewiesen hätten, wie dies bei den angelsächsischen Vorbildern der Fall sei.
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Erwähnenswert ist auch, dass Rezeption und Erfolg des Romans maßgeblich an die gleichnamige Verfilmung von Regisseur Sönke Wortmann gebunden sind, die mit Heiner Lauterbach und Sandra Speichert in den Hauptrollen namhafte Schauspieler aufweist. Der Kinostart im Jahr 1998 hat die Verkaufszahlen des Romans angekurbelt und deutlich dazu beigetragen, dass das Werk ein Bestseller geworden ist.
Literatur Schwanitz, Dieter: Der Campus. Roman. Frankfurt/M.: Eichborn 1995.
Sekundärliteratur Albers, Volker: Tatort Universität. In: Das Sonntagsblatt, 15.03.1996. Apel, Friedmar: Dem Grauen entbunden. Weltneuheit: ein lustiger Roman aus der deutschen Universität. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 31.03.1995, S. 42. Durrani, Osman: The Campus and its Novel: Dietrich Schwanitz’s Literary Exploration of German University Life. In: Susanne Stark (Hg.): The Novel in Anglo-German Context. Cultural CrossCurrents and Affinities. Amsterdam, Atlanta: Rodopi 2000, S. 425–436. Fischer, Carolin: Campusromane der Gegenwart oder die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. In: Komparatistik (2010), S. 15–26. Frank, Franziska: Saatgrund. Dietrich Schwanitz: Der Campus. In: Süddeutsche Zeitung, 15./16./ 17.05.1999.
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Sebald, Winfried G.: Die Ringe des Saturn. Eine englische Wallfahrt (Frankfurt/M.: Eichborn) 1 Entstehung und Kontext Die Ringe des Saturn (= RS) erschien als Band 130 der von Hans Magnus Enzensberger herausgegebenen Anderen Bibliothek und war das dritte Prosawerk W. G. Sebalds. Die verschiedenen Phasen der Entstehung und Niederschrift sind in den Text selbst hineingeschrieben worden. Gleich am Anfang erwähnt der IchErzähler eine Fußreise durch die ostenglische Grafschaft Suffolk, die im August
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1992 stattfand (RS, 11). Die Niederschrift sei „gleich ein Jahr“ nach dieser Reise erfolgt, als der Autor ins Krankenhaus von Norwich eingeliefert wurde (RS, 12). „Mehr als ein Jahr nach der Entlassung aus dem Spital“ (RS, 14) habe der Autor mit der Reinschrift angefangen. Am Schluss steht dann die Anmerkung: „Heute, da ich meine Aufzeichnungen zum Abschluss bringe, schreibt man den 13. April 1995“ (RS, 348). Es lässt sich trotzdem nicht mit Sicherheit feststellen, ob dieser Bericht bis in die Einzelheiten glaubhaft ist. Sebald reiste eigentlich mehrmals zwischen 1992 und 1993 durch Suffolk mit der Absicht, zehn Reportagen für die Frankfurter Allgemeine Zeitung zu schreiben. Interviews mit dem Autor scheinen einige Details dieses Berichtes zu bestätigen, wie etwa die „in einem Zustand nahezu gänzlicher Unbeweglichkeit“ (RS, 12) erfolgte Niederschrift. Lediglich die fast zyklische, von Jahr zu Jahr periodisierte Einteilung der Phasen deutet eher eine mythische als eine realistische Zeitkonstruktion an. Es geht Sebald offensichtlich darum, die Leser durch ein Schwanken zwischen Objektivität und Fiktion in den Schreibprozess mit einzubeziehen. Diese Absicht lässt sich auch damit begründen, dass die Selbstthematisierung der Schrift zu den Kernmotiven der Ringe des Saturn gehört.
2 Inhalt und Analyse Der Untertitel weist auf einen Reisebericht hin, und sein Anfang versetzt die Leser ebenfalls in Aufbruchsstimmung: Im August 1992, als die Hundstage ihrem Ende zugingen, machte ich mich auf eine Fußreise durch die ostenglische Grafschaft Suffolk in der Hoffnung, der nach dem Abschluß einer größeren Arbeit sich ausbreitenden Leere entkommen zu können (RS, 11).
Jedoch wird die Fußreise im ersten Kapitel nicht mehr erwähnt. Es wird stattdessen zunächst von zwei vor Kurzem verstorbenen Kollegen Sebalds berichtet; dann geht der Erzähler in einem längeren Exkurs auf die Figur des Arztes und Naturforschers Thomas Browne ein, der im 17. Jahrhundert in Norwich gelebten hat. Der oben angekündigte Reisebericht beginnt erst im zweiten Kapitel mit der Besichtigung des alten englischen Adelssitzes von Somerleyton. Spätere Etappen sind in den folgenden Kapiteln verzeichnet: Lowestoft, Dunwich, Southwould, Middleton, Woodbridge, Orford usw. Damit lassen sich die Bewegungen des IchErzählers einerseits kartieren, so dass man die Route genau verfolgen kann. Andererseits wäre eine Inhaltswiedergabe jedoch ohne die vielen Abschweifungen (Ex-kurse) nicht vollständig, in denen von beiden für die Gattung der Reiseliteratur bestimmenden Elementen – der berichtende Ton und der Chronotopos des ‚Wegs‘ – abgewichen wird, um in kleineren oder längeren Erzählsplittern zu
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unterschiedlichen literarischen Stilen überzugehen: dem Stil des Essays, der Biographie, der Autobiographie, der Bildbeschreibung, der historischen Rekonstruktion und der literaturstilistischen Analyse. Mit der Verwendung von Fotografien und Bildern wird der traditionelle Literaturbegriff sogar überschritten. Sebald verknüpft diese oft scheinbar unzusammenhängenden Textteile innerhalb einer Struktur, die der Autor in Anlehnung an Claude Levi-Strauss’ Begriff des ‚Bastelns‘ beschrieben hat. Gemeint ist damit eine „Technik des fortwährenden Umbaus, in der sich Konstruktion und Destruktion miteinander verbinden“ (Öhlschläger). Zudem verweisen kleinere, auf den ersten Blick unscheinbare Details auf Zusammenhänge, die im Verlauf des Texts nochmals ausführlicher aufgegriffen werden. Im Exkurs über Thomas Browne sind zum Beispiel Hinweise für das Verstehen des ganzen Texts verstreut: Der Schädel steht als Symbol für die barocke vanitas; der sezierte Arm in Rembrandts Bild Die Anatomie des Dr. Tulp (Sebald zufolge habe Thomas Browne mit aller Wahrscheinlichkeit die reale Obduktion gesehen) deutet auf die zerstörerische Kraft der rationalistischen Wissenschaft hin. Sebalds Poetik eines durch unendlich viele Kreuzverweise charakterisierten Hypertexts ist analog zu dem von Thomas Browne „in der anscheinend unendlichen Vielfalt der Formen“ entdeckten Muster des Quincunx aufzufassen, „das gebildet wird von den Eckpunkten eines regelmässigen Vierecks und dem Punkt, an dem Diagonalen sich überschneiden“ (RS, 31). In dieser gebastelten Struktur fungiert die Reiseerzählung als Bindeglied unterschiedlicher Themenfelder. Die kleinen Provinzstädte, die alten Schlösser sowie die sich im Verfall befindenden Landsitze, die maroden Befestigungstürme am Strand, die unbenutzten Brücken und die sterbenden Wälder lösen eine melancholische Stimmung aus, wie der Hinweis auf den Planeten der Melancholie im Titel bereits bezeugt. Obwohl Melancholie, wie die Forschung wiederholt betont, sicherlich zu den Hauptthemen zählt, interessiert sich der Erzähler bei der Betrachtung solcher Landschaften insbesondere für einen ganz anderen Zusammenhang. Mit dieser Reise verbindet er vor allem die Erinnerung an das lähmende Grauen, das mich verschiedentlich überfallen hatte angesichts der selbst in dieser entlegenen Gegend bis weit in die Vergangenheit zurückgehenden Spuren der Zerstörung (RS, 11).
Melancholie und Zerstörung sind im Text weitgehend verknüpft, wie etwa die flüchtige Erwähnung von „dem bewegungslos unter den Werkzeugen der Zerstörung verharrenden Engel der Dürerschen Melancholie“ (RS, 18–19) zeigt. Diese Bildbeschreibung weckt Assoziationen an Paul Klees Angelus Novus und an die berühmte Bildallegorese Walter Benjamins, von dessen Thesen über den Begriff der Geschichte sich Sebalds Konzept der Naturgeschichte der Zerstörung nach Meinung vieler Interpreten ableitet. Eine alternative, vielleicht noch aufschluss-
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reichere Quelle ist Theodor W. Adornos früher Vortrag Die Idee der Naturgeschichte (1931). Adorno sah die Schnittstelle zwischen Geschichte und Natur in ihrer „Vergänglichkeit“ – was übrigens an die im Bezug auf Thomas Browne bereits angeführte vanitas erinnert: Natur und Geschichte seien deshalb verklammerte Kräfte, die sich gegenseitig durchdringen. Natur sei nicht als „zeitlos“ und „unveränderlich“ zu verstehen, sondern sie sei ebenfalls wie die Geschichte Zuwachs- und Zerfallszyklen untergeordnet. Sebald radikalisiert diese Auffassung, indem er den Natur- und Kulturzerfall als Produkt nicht nur des sich selbst vollendenden geschichtlichen Prozesses, sondern auch des menschlichen Handelns durch technologischen Fortschritt, Krieg und ökonomische Ausbeutung ansieht. Exemplarisch wird das Motiv im Somerleyton-Landhaus dargestellt, das in der Mitte des 19. Jahrhunderts als künstliches Paradies umgebaut wurde, um den Besuchern „die Illusion einer vollkommenen Harmonie [….] zwischen natürlichem Wachstum und Fabrikation“ (RS, 46) zu vermitteln. Während das Landhaus dieses prächtige Aussehen noch heute teilweise behalten hat, findet man an den am Rande gelegenen Wegen „niedergesunkene Weidenbäume und zerfallende, wie Mahnmale einer zugrundegegangenen Zivilisation sich ausnehmende Ziegelkegel“ (RS, 42). Im Gespräch mit dem Ich-Erzähler erinnert sich der Schlossgärtner von Somerleyton, William Hazel, an die während des Zweiten Weltkriegs über seinen Kopf fliegende Royal Air Force sowie an die von ihm auf der Landkarte gesuchten Namen der bombardierten deutschen Städte. Mit diesem Hinweis auf das Thema seiner späteren Zürcher Vorlesungen tritt das Motiv der Zerstörung durch Krieg im Zusammenhang mit der Naturgeschichte auf. Die ‚Naturgeschichte des Herings‘, die Gegenstand des dritten Kapitels ist, beschreibt einerseits die Ausrottung der Natur; andererseits spielt sie in der Wortwahl auf den Holocaust an. Höhepunkt ist die im achten Kapitel behandelte Halbinsel Orfordness, wo die englische Regierung im Kalten Krieg militärische Geheimexperimente durchführen ließ. Ihre Landschaft ist jetzt gekennzeichnet durch „mit Unmengen von Steinen zugeschütteten Betongehäuse, in denen […] Hundertschaften von Technikern an der Entwicklung neuer Waffensysteme gearbeitet hatten […]“ (RS, 281). Das einzige Lebewesen, dem der Erzähler begegnet, ist ein verängstigter Hase. In der Stille hört man nur das Sirren der Radiomasten. In Orfordness kehrt die thematische Verknüpfung von Zerstörung und Melancholie wieder. Der Mann, der Sebald mit seinem Boot nach Orfordness bringt, erklärt ihm, dass „die Gottverlassenheit dieses ins Nichts vorgeschobenen Postens […] tatsächlich zu langanhaltenden Gemütskrankheiten geführt habe“ (RS, 279). Mit der Naturgeschichte des Seidenbaus im zehnten Kapitel wird eine Variation dieser leitmotivischen Verkettung eingeführt. Sebald beschreibt einerseits
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die Verbreitung des Seidenbaus von China bis zu den europäischen Ländern als einen tausendjährigen Prozess, bei dem Zivilisation und Fortschritt sich in einem respektvollen Verhältnis zur Natur entwickelt haben. Krieg und Despotie konnten deswegen oft mit der Seidenzucht nicht in Einklang gebracht werden. Der Herzog von Sully wollte seinem König Heinrich IV. von der Einführung der Seidenzucht in Frankreich abraten, weil diese „einem […] kaum eine Anstrengung abfordert“, und deswegen für die kräftige Konstitution des französischen Landvolks schädlich sei, „aus dem seit jeher die besten Musketiere und Kavalleristen sich rekrutierten“ (RS, 331). In Deutschland scheiterte die Einführung der Seidenzucht an der „despotischen Weise, in der die deutschen Landesherren, koste es was er wolle, sie voranzubringen suchten“ (RS, 340). Ein negatives Beispiel ist der Versuch der Nationalsozialisten, den Seidenbau mit nationalen Interessen und vor allem mit ihrer aggressiven Expansionspolitik zu verbinden. Darüber hinaus zeigt Sebald durch ein in den Text eingeschobenes Bild die peniblen Arbeitsbedingungen der im 18. und 19. Jahrhundert in England tätigen Weber, die „in einer eigenartigen Symbiose“ mit ihren „an Käfige oder an Folterinstrumente“ erinnernden Webstühlen leben mussten. Die Weber verweisen darüber hinaus auf einen weiteren thematischen Schwerpunkt, indem Sebald sie zum Inbegriff intellektueller Arbeit macht: Sie seien zu „andauernd scharfem Nachdenken und endlosem Überrechnen weitläufiger künstlicher Muster“ gezwungen; es lasse sich schwer ein Begriff davon machen, „in welche Ausweglosigkeiten und Abgründe“ das Fadenspinnen sie getrieben habe (RS, 335). Assoziativ wird hier die Verknüpfung der thematischen Felder ‚Melancholie‘ und ‚Schrift‘ präsentiert, die durch die Doppeldeutigkeit des kurz davor erwähnten Begriffs ‚Gewebe‘ bekräftigt wird, der auch als ‚Text‘ zu verstehen ist. Auf dasselbe Motiv verweisen die vielen in Die Ringe des Saturn verstreuten Biographien von Schriftstellern, die als Individuen eine isolierte Existenz abseits der gesellschaftlichen Konventionen wählten. Das mit Seide metaphorisch assoziierte Themenfeld ‚Schrift‘ impliziert ein Erlösungsmoment, in dem die Naturgeschichte der Zerstörung in der literarischen Schöpfung stillgelegt wird. Es besteht jedoch zugleich auch eine enge Verknüpfung zwischen Schrift und Zerstörung, weil Schreiben „an sich eine andere Form der Selbstzerstörung“ ist, wie in der Biographie des englischen Poeten Charles Swinburne gesagt wird. Zugleich zeigt das Beispiel Conrads, der an der kolonialen Ausbeutung des belgischen Kongos teilnahm, dass eine Schriftstellerbiographie nicht per se frei von zerstörerischen Aspekten ist. Schrift kommt als Thema ebenfalls an den metaliterarischen Stellen vor, an denen Sebald über sein Schreiben reflektiert. Der halbfiktive Bericht über die Entstehung des Buchs und das Quincunx wurden schon oben erwähnt. Auf das Verhältnis zwischen Dokument und Fiktion deutet die häufige Erwähnung von Borges’ Erzählung Thlon, Uqbar, Orbis Tertium hin, in
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der ein imaginärer Ort in eine Enzyklopädie aufgenommen wird. Derselbe Ort bekommt dadurch für den Erzähler einen realen Charakter. Eine offensichtliche Selbstdarstellung von Sebalds Prinzip der textuellen Bastelarbeit ist schließlich der im neunten Kapitel beschriebene Bau vom Modell des Jerusalemtempels, an dem der Prediger Alec Garrard seit Jahren arbeitet.
3 Rezeption und Folgen Als Die Ringe des Saturn erschien, war Sebald noch nicht der weltbekannte Autor, zu dem er seit dem Erscheinen von Austerlitz und vor allem seit seinem Tod geworden ist. Die Rezensionen von Die Ringe des Saturn waren nichtsdestoweniger im Allgemeinen positiv. Jörg Drews zufolge sei Sebald „ein diesseitiger Dichter, er beschwört nie eine Transzendenz, eine Hinterwelt herauf, und doch wird er gerade dadurch ein metaphysical poet“. Indem er auf die „Leere“ als Thema in Sebalds Werk hinweist, fügt Andreas Isenschmid hinzu: „Sebalds Leere hat es in sich. Sein Buch ist einer der erfülltesten und welthaltigsten der Saison“. Andere Rezensenten zeigten sich mit Sebalds Stil weniger zufrieden (vgl. etwa die Charakterisierung von Sebald als „Promeneur im Proseminar“ in der „Zeit“-Rezension von Joachim Fritz-Vannahme).
Literatur Sebald, Winfried G.: Die Ringe des Saturn. Eine englische Wallfahrt [1995]. Frankfurt/M.: Fischer 1997.
Sekundärliteratur Albes, Claudia: Die Erkundung der Leere. Anmerkung zu W. G. Sebalds „Englischer Wallfahrt“. Die Ringe des Saturn. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 46 (2002), S. 279–305. Baumgärtel, Patrick: Mythos und Utopie. Zum Begriff der „Naturgeschichte der Zerstörung“ im Werk W. G. Sebalds. Frankfurt/M. [u. a.]: Peter Lang 2010. Drews, Jörg: Gang über die Leichenfelder. In: Süddeutsche Zeitung, 11.10.1995. Fritz-Vannahme, Joachim: Promeneur im Proseminar. W. G. Sebalds allzu beschauliche englische Wallfahrt. In: Die Zeit, 13.10.1995. Hutchinson, Ben: W. G. Sebald. Die dialektische Imagination. Berlin, New York: De Gruyter 2009. Isenschmid, Andreas: Melancholische Merkwürdigkeiten. In: Die Weltwoche, 09.11.1995. Johannsen, Anja K.: Kisten, Krypten, Labyrinthen. Raumfigurationen in der Gegenwartsliteratur: W. G. Sebald, Anne Duden, Herta Müller. Bielefeld: transcript 2008.
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Marja Rauch
Öhlschläger, Claudia: Der Saturnring oder etwas vom Eisenbau. In: Michael Niehaus, C. Ö. (Hg.): Politische Archäologie und melancholische Bastelei. Berlin: Erich Schmidt 2006, S. 189–204. Schütte, Uwe: W. G. Sebald. Zur Einführung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2011. Siedenberg, Sven: Anatomie der Schwermut: Interview mit W. G. Sebald. In: Rheinischer Merkur, 19.04.1996. Zisselsberger, Markus (Hg.): The undiscover’d country: W. G. Sebald and the poetics of travel. London: Camden House 2010.
Marja Rauch
Seiler, Lutz: berührt / geführt. Gedichte. Graphiken von Carmen Schmidt (Berlin: Oberbaum) 1 Entstehung und Kontext Lutz Seiler wurde 1963 in Gera/Thüringen geboren. Er absolvierte zunächst eine Lehre als Baufacharbeiter, arbeitete anschließend als Zimmermann und Maurer. Nach dem Militärdienst begann er das Studium der Germanistik in Halle und Berlin. Seit 1997 ist er Leiter des Literaturprogramms im Peter-Huchel-Haus in seinem Wohnort Wilhelmsforst bei Berlin. Für seine Arbeiten hat er zahlreiche Preise erhalten, u. a. den Kranicher Literaturpreis 1999; den Dresdner Lyrikpreis 2000, den Anna-Seghers-Preis 2002, den Ernst-Meister-Preis 2003, den Bremer Literaturpreis 2004, 2007 den Ingeborg-Bachmann-Preis sowie 2014 den Deutschen Buchpreis für sein Romandebüt Kruso. Seit 2011 ist er Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung.
2 Inhalt und Analyse Lutz Seilers Weg zur Lyrik ist ein besonderer. Nach der Lehre als Maurer und der Arbeit als Zimmermann hat er sich erst spät der Literatur zugewandt. Diese innere wie äußere Verspätung macht sich auch an der Rezeption des ersten Gedichtbandes mit dem Titel berührt /geführt (= BG) bemerkbar, der 1995 mit Grafiken von Carmen Schmidt illustriert im Chemnitzer Oberbaum Verlag erschienen ist. Der Band, der 44 Gedichte umfasst, blieb zunächst fast unbemerkt. Seiler erprobt dort seine eigene Sprache und verweist fast beiläufig auf die literarische Tradition von Julio Cortázar, Peter Huchel, Henry Wickham, Hans Henny Jahnn, E. E.
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Cummings, denen er seine Referenz zu erweisen sucht. Autobiographisches Material, intertextuelle Verweise und die Suche nach einer eigenen poetischen Sprache verschmelzen zu einer Form, die sich wie die Texte von Thomas Kling, Durs Grünbein, Barbara Köhler (→ Blue Box) oder Ulrike Draesner (→ gedächtnisschleifen) durch ein hohes Maß an Sprachreflexion auszeichnet: „wir hatten / ja die ganze zeit / nur oben in der kammer gesessen / über den notizen dieses / bei uns nun herzlich fremd / und elternlos gewordenen gedichts…“ (BG, 33), heißt es in dem Gedicht Wölfe, das mit dem Oxymoron „herzlich fremd“ das bestimmende Thema des Erstlingsbandes nennt: die Dialektik von Heimat und Fremde, die bei Seiler weniger mit der Wendeerfahrung zusammenhängt als vielmehr mit der schon zu DDR-Zeiten verschwundenen Heimat der Uranbergwerke Thüringens. „Die Heimat als Gangart, auch im Vers“ (Seiler 2001, S. 11), wie Seiler in seinem Essay Heimaten anmerkt:
Abwesenheit, Müdigkeit und Schwere prägten diese Zeit. Wahrnehmungszustände der Kindheit, die später wie affine Medien wirken, in denen man die Welt am Unmittelbarsten zu spüren vermeint. Deshalb werden daraus Textqualitäten, präpoetologische Axiome, wenn man will, von Kindsbeinen an. (Seiler 2001, S. 10f.)
Abwesenheit, Müdigkeit und Schwere verweisen nicht nur auf den geographischen Raum der Heimat um den einstigen thüringischen Ort Culmitzsch, sie werden zum Fundament einer Dichtung, die sich in lyrischen Exkursionen die Welt im Medium einer selbstgesetzten Langsamkeit aneignet (vgl. Rauch, o.J.). Im Vergleich zu der kühlen Großstadtpoetik Durs Grünbeins zeichnen sich Seilers Gedichte durch eine Verhaltenheit aus, die in ihrer Reflektiertheit immer wieder zu einfachen lyrischen Formen wie dem Kinderlied zurückfinden. Seilers Lyrik erscheint so als Heimat- wie Antiheimatdichtung zugleich. Die Erinnerung an die verlorene Heimat Culmitzsch verwebt Seiler in dem Gedicht pech & blende, das zum Titel des zweiten Gedichtbandes wurde, in den acht Gedichte aus dem fast unbemerkten Erstling eingegangen sind, mit der Figur Gagarins, der auch Barbara Köhler und Durs Grünbein in ihren Texten nachgegangen sind: „Wir hatten / gagarin, aber gagarin / hatte auch uns“ (BG, 42). Der russische Weltraumheld Gagarin, dessen Land für den Abbau der Uranvorkommen in Thüringen verantwortlich war, erscheint in Seilers Gedichten nicht nur als eine Ikone des Ostens. Sein Weltraumflug wird zu einem in den Himmel verbannten Fluchtversuch vor der Erdenschwere, die die Heimat belastet. In der Wiederaufnahme der romantischen Topographie von Stern und Blume stehen Gagarin und der Vater als himmlisches und irdisches Licht über den Gedichten Seilers: wo warst du, gagarin fragt Seiler, um mit der resignierten Antwort fortzufahren: „am ende stehen / wieder nur wir selbst / noch da“ (BG, 42). Die anschließend einsetzende Schilderung eines kindlichen Eierlaufens weitet sich zum Schluss des Gedichts zu
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einer apokalyptischen Vision aus: Mit Löffel und Ei eilen die Kinder „bis über den oberen viehweg hinaus / bis ronneburg, bis großenstein / bis daß die welt in scherben fällt – “ (BG, 38). Mit den Bildern einer verschwundenen, für immer zerbrochenen Welt ruft Seiler eine Erinnerungswelt auf, die zwischen dystopischer Zerstörung der Landschaft und utopischer Kindheitserfahrung oszilliert. So steht auf der einen Seite das Thema der Verstrahlung im Mittelpunkt der Gedichte. In pech & blende ruft Seiler das „geiger zähler herz“ (BG, 45) des Vaters aus, der von der uranhaltigen Pechblende verstrahlt und so zum lebendigen Geigerzähler geworden ist. Andererseits wendet sich der Band immer wieder Kindheitserinnerungen zu, die in Gedichten wie dreiundsechzig um das eigene Geburtsjahr kreisen, an das Haareschneiden durch die Mutter erinnern wie in der kleine sklave (BG, 29) oder aber, bisweilen genau datiert, auf Begegnungen mit Freunden oder Verwandten zurückgehen: „wir saßen im jardin du luxembourg“, heißt es zu Beginn von amor/ tumor, das eine Erinnerung an eine Liebe thematisiert, die in eben dem Zeichen der Abwesenheit steht, die auch die Erfahrungswelt um Culmitzsch herum bestimmt: „seine abwesenheit / erbat ihre anwesenheit“ (BG, 48), mit diesem Rückblick auf den 8.10.1990 wendet sich das lyrische Ich einer Liebe zu, die sich nicht hat realisieren lassen: Der Amor frisst sich als Tumor durch das Herz. Damit wird bereits ein epischer Ton angeschlagen, der sich nicht nur in den späteren Gedichtbänden, sondern auch in den Erzählungen und Essays Seilers wiederfinden lässt.
3 Rezeption und Folgen Lutz Seilers Erstlingsband berührt / geführt – der Titel geht auf einen Begriff aus dem Schach zurück – ist so gut wie unbeachtet geblieben. Erst mit dem Erscheinen des zweiten Bandes pech & blende aus dem Jahre 2000 hat eine breitere Rezeption seines Werkes eingesetzt.
Literatur Seiler, Lutz: berührt / geführt. Gedichte. Berlin: Oberbaum Verlag 1995. Seiler, Lutz: pech & blende. Gedichte. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2000. Seiler, Lutz: Heimaten. Essay. Göttingen: Wallstein 2001.
Sekundärliteratur Rauch, Marja: Lutz Seiler. In: KLG 3/13, S. 223–238.
Sparschuh, Jens: Der Zimmerspringbrunnen
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Sparschuh, Jens: Der Zimmerspringbrunnen. Ein Heimatroman (Köln: Kiepenheuer & Witsch) 1 Entstehung und Kontext Als im Jahre 1995 Jens Sparschuhs Der Zimmerspringbrunnen (= ZSB) erscheint, hat der Autor (1955 in Karl-Marx-Stadt geboren, in Ost-Berlin aufgewachsen) schon einiges hinter sich: eine unterbrochene Universitätskarriere (Studium der Logik und Philosophie in Leningrad und Assistentenstelle an der HU), drei Romane, drei Kinderromane, ein Dutzend Hörspiele. Von den Romanen ist der erste, postmodern angelegte, historische Roman – Der große Coup. Aus den geheimen Tage- und Nachtbüchern des Johann Peter Eckermann – 1987 erschienen, der zweite, ein fantastischer Gegenwartsroman – Kopfsprung. Aus den Memoiren des letzten Gedankenlesers – nach zahlreichen Schikanen kurz vor der Wende veröffentlicht worden. Und der dritte, auch ein historischer Roman – Der Schneemann – ist im Jahre 1993 bei Kiepenheuer & Witsch erschienen, der seitdem Sparschuhs Verlag geblieben ist. Der große Coup hat es in der KiWi Taschenbuchausgabe auf 8000 Exemplare geschafft (hinzufügen müsste man eigentlich auch die in der DDR verkauften Hardcover-Exemplare, über die jedoch keine Angaben zur Verfügung stehen) – er war bis 1995 Sparschuhs größter Verkaufserfolg. Dann kommt aber sein vierter Roman Der Zimmerspringbrunnen heraus, der mit den anderen drei Texten nicht viel gemeinsam hat, sich 30.000 Mal verkaufen wird und den bis dahin eher unbekannten Autor plötzlich berühmt macht.
2 Inhalt und Analyse Hinrich Lobek ist eine für die damalige Zeit, für eine anno 1995 den Realismuskonventionen entsprechende „Wendeliteratur“ (und auch Wendefilm) typologische Figur: ein Abgewickelter. Ein ehemaliger Beamte der Kommunalen Wohnungsverwaltung (KWV), der nun arbeitslos geworden ist und den ganzen Tag zusammen mit seinem Hund Freitag (sic!) vor sich hinlebt und -brütet. Die einzige Ablenkung ist das Ausspionieren – nach guter alter Stasi-Manier – seiner Frau Julia, die sich im Gegensatz zu ihm beruflich neu positioniert hat im Post-Wende-Berlin (Frauen in der „Wendeliteratur“ sind flexibler, lockerer, agiler). Aus seiner paranoiden Schläfrigkeit plötzlich erwachend bewirbt Hinrich
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Matteo Galli
sich für eine Vertreterstelle als Verkäufer von Zimmerspringbrunnen der Westdeutschen Firma P ANTA R HEIN . Er wird in den Schwarzwald eingeladen zur alljährlichen Vertreterkonferenz und wird wohl nur aufgrund einer naiven Ratlosigkeit à la Mr. Chance (Hal Ashby, Being There, von 1979 mit Peter Sellers in der Titelrolle) angenommen. Dass der von ihm vertriebene Artikel nicht gerade zu einem Hit wird im Ost-Berlin der frühen 1990er Jahre, kann man sich ohne große Mühe vorstellen. Die unverkauften Kartons sammeln sich in der Wohnung, die ratlose Julia zieht aus. Dann aber die Wende, Hinrichs Wende. Der Hund leckt das Wasser des Ausstellungsexemplars JONA ab, und der Protagonist – ein leidenschaftlicher und begabter Bricoleur, ein abgewickelter Homo faber, ein Robinson in Duodez – muss sich etwas einfallen lassen, um das Objekt zu retten: „Später bin ich oft gefragt worden, wie ich damals auf die Idee gekommen bin, ob vielleicht ‚Auferstanden aus Ruinen‘ mich inspiriert hätte? Ich weiß es nicht“ (ZSB, 94): An einer Ecke der rechteckigen Kupferplatte bricht ein Stück heraus, „so daß sich wie von selbst die DDR-Form“ (ZSB, 104) ergibt. Dem Zufall wird aber gewaltig nachgeholfen: Hinrich nimmt aus einer Gadget-Packung aus der VorWende-Zeit einen Kugelschreiber in Form des DDR-Fernsehturms: schraubte man so einen Kugelschreiber auseinander und nahm Mine und Feder heraus, ergab sich eine ideale Hohlform, in die der JONA-Wasserleitungsschlauch genau hineinpaßte! (ZSB, 96)
Das Modell JONA wird umgetauft: „Ebenso war es beim Namen. Als ich, spät nach Mitternacht […] den ersten Probelauf durchführte, wußte ich schon: es muß ATLANTIS heißen“ (ZSB, 95). Damit wird der Zimmerspringbrunnen zum ostalgischen Kult-Produkt, zum Verkaufsrenner, Hinrich wird zum Vertreter für die neuen Bundesländer ernannt und glaubt über diesen beruflichen Erfolg die Liebe von Julia zurück zu erlangen, was aber nicht geschieht. Hinrich verabschiedet sich vom Leser in einer Szene, die stark an Heinrich Bölls Ansichten eines Clowns erinnert: Er verbringt das Weihnachtsfest zusammen mit einigen Pennern am Bahnhof in der vergeblichen Hoffnung Julia zu treffen. Er ist und bleibt ein Loser. Der Roman ist sehr dialektisch angelegt – schon im Untertitel, denn er lautet: „ein Heimatroman“. Ein Roman also, der Heimatwerte zelebriert? Und wenn ja, welche Heimat? Und auf einmal, ich wußte nicht, wie, kam es über mich, und ich mußte hier, im Aufenthaltsraum des „Föhrentaler Hofs“, unter dem imitierten Holzbalken der Decke, eingerahmt von Schwarzweißfotografien des Schwarzwalds, vor mir auf dem Tisch einen verjährten Fahrplan, dem längst alle Züge davongefahren waren – mußte ich plötzlich, ohne mich dagegen wehren zu können, wie zwanghaft, einen Satz sagen, der mir so bisher noch nie
Sparschuh, Jens: Der Zimmerspringbrunnen
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von den Lippen gekommen war: „Ich liebe meine Heimat, die Deutsche Demokratische Republik“. (ZSB, 54f.)
Ist Hinrich Lobek ein Laudator temporis acti, ein (N-)Ostalgiker? Wohl schon: Mit der Wende hat er einiges verloren: seine Arbeit, seine Frau, seine Identität. Ihm bleibt nur noch wenig übrig: Listen (KWV-Kunden), unnütze Objekte (Kugelschreiber), geübte Praktiken (das Ausspionieren) – und Freitag, der Hund. Ist Der Zimmerspringbrunnen also ein (n)ostalgisches Buch? Dies ist schwer zu sagen: Die ganze (n)ostalgische Isotopie wird über das Erzähler-Ich verhandelt, eine paranoide Figur, die nur bedingt den Leser zur Empathie, zur Identifikation einlädt. Und trotzdem werden über die Figur des Hinrich Lobek schon einige typische Aspekte ostalgischer Stimmung von Sparschuh hervorgehoben: der oberflächliche Westen, die gewaltige Umstrukturierung urbaner Räume, das Verschwinden jeglicher Orientierungspunkte im Leben der ehemaligen DDR-Bürger – „Ohne auch nur den Fuß vor die Tür zu setzen, hatte ich mein altes Heimatland verlassen (bzw. – es mich)“ (ZSB, 38). Dazu kommen ostalgische Mythen, siehe unten. Sparschuhs ironisch-dialektische Ostalgie oder ostalgische Dialektik und Ironie hat sicherlich zum Erfolg des Buchs beigetragen. Sogar der große Einfall des Hinrich Lobeks – die Erfindung und Vermarktung vom Modell Atlantis – ist eminent zweideutig: eine unbewusste Handlung, die einer persönlichen, noch nicht verheilten Wunde Ausdruck verleihen will oder eine zynische Tat, die aus den Sehnsüchten einer bestimmten Zielgruppe Profit schlagen möchte? Sparschuhs Ironie – im Zimmerspringbrunnen und auch in anderen früheren und späteren Werken – artikuliert sich auf zwei Ebenen: anhand einer Situationskomik, die aus der Skurrilität der Figuren resultiert sowie durch eine sprachliche Komik, welche sich in der starken Neigung zum Kalauer manifestiert. Im Zimmerspringbrunnen ist die erste Art sicherlich vorherrschend, was dem Buch gut tut. Aus der bipolaren Disposition – Größenwahn und Paranoia – des Protagonisten (der Dynamik des Protagonisten von Brussigs Helden wie wir oder mancher Woody Allen-Figuren nicht unähnlich) weiß Sparschuh einen beträchtlichen Gewinn zu ziehen. Das Werk, das aus zehn betont szenisch gestalteten Kapiteln besteht, markiert diese Situationskomik, die des Öfteren von (sprachlichen und/ oder mimetischen) Pointen gekrönt wird. Die Situationskomik hängt übrigens von den jeweiligen Einfällen ab, die nicht immer treffend sind – daher finden sich einige unübersehbare Tiefpunkte im Text (wie z. B. die lange, allzu lange Episode im Studio Manuela – im vorletzten Kapitel). Achtzehn Jahre nach seinem Entstehen wäre Der Zimmerspringbrunnen lediglich ein ganz netter Roman mit einigem witzigen Plot, der in der Lage ist, eine ostalgische Stimmung um die Mitte der 1990er Jahre ironisch abzubilden, wenn dem Autor gleichzeitig nicht gelungen wäre, auf der Ebene der DDR- und Post
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DDR-Mythopoiesis einen originellen Beitrag zu leisten (siehe hierzu die entsprechenden Seiten in Aversa: 2015). Hervorzuheben ist z. B. die in der oben zitierten „Atlantis“-Stelle evidente Koppelung von Gründungs- und Untergangsmythos: Die Schaffung des zu Anfang lediglich als Unikat gedachten Modells ATLANTIS wird bewusst oder unbewusst mit Johannes R. Bechers Text verlinkt, also von der DDR-Hymne inspiriert. Man braucht bloß an Claude Lévi-Strauss zu denken, um die Rolle der Bricolage in der Rekonstruktion und Interpretation (vergangener) fremder Kulturen zu betonen. Oder: Lobeks Arbeit erinnert zudem an die Arbeit eines Archäologen, der mittels unterschiedlicher und ‚zufälliger‘ Fundstücke (hier z. B. die Kugelschreiber) eine verschwundene Kultur wieder auferstehen lässt. Dass die von Lobek (und Sparschuh) gewählte – und auch hier angenommene – Abkürzung für Zimmerspringbrunnen ZSB lautet, könnte übrigens als ironische Drehung von SBZ=Sowjetische Besatzungszone interpretiert werden.
3 Rezeption und Folgen Die ostalgisch-ironischen Töne in Der Zimmerspringbrunnen sind auch in zwei feuilletonistischen Prosasammlungen zu finden, die Sparschuh in den folgenden Jahren veröffentlicht hat: Ich dachte, sie finden uns nicht (1997) und Ich glaube, sie haben uns nicht gesucht (2005): Miniaturskizzen, Flâneries, Impressionen – es handelt sich um ein Genre, das dem Autor besonders liegt und das er besonders gut meistert. Die mythopoietische, archäologische Arbeit wird im Sparschuhs sechstem Roman fortgesetzt, Eins zu eins aus dem Jahre 2001. Der fünfte, Lavaters Maske (1999), ist eher in einer Reihe mit dem Großen Coup und mit einigen Hörspielen zu lesen, in denen der Autor sich betont postmodern mit historischen oder erfundenen Figuren aus der Kulturgeschichte beschäftigt. In Eins zu eins verschwindet der Redakteur eines Reisebuch-Verlags – eine Figur mit dem sprechenden Name Gruber – auf der Suche nach den Spuren der Wenden und deren mythischer Hauptstadt Rethra. Schon über das an sich ein wenig billige Sprachspiel „die Wende/die Wenden“ verhandelt Sparschuh die Koppelung: Kolonisation der slawischen und heidnischen Wenden durch die christlichen deutschen Stämme = Kolonisation der DDR und der neuen Bundesländer durch die aggressive ökonomische Macht des Westens. Der Zimmerspringbrunnen ist ausschließlich im Rahmen der ironischen, satirischen, grotesken, pikaresken Verarbeitung der Wende gelesen worden – von Christine Cosentino, Jill Twark, Frank Thomas Grub, Julia Kormann und anderen. Drei Desiderate der Forschung: a) eine kohärente sprachwissenschaftliche Ana-
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lyse von Lobeks Idiolekt und dessen unüberhörbaren DDR-Spuren; damit verbunden b) eine systematische Entzifferung aller Literatur- und Kulturzitate im Text, womit vielleicht bewiesen werden könnte, dass auch im Zimmerspringbrunnen nicht wenige postmoderne Allüren zu entdecken wären; c) eine Analyse des Zimmerspringbrunnen im Kontext einer neuen Heimatliteratur ostdeutscher Prägung.
Literatur Sparschuh, Jens: Der Zimmerspringbrunnen. Ein Heimatroman. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1995.
Sekundärliteratur Aversa, Francesco: La Torre, l’Atlantide e l’Inferno. Miti e motivi nella recente letteratura tedescoorientale. Milano, Udine: Mimesis 2015. Cosentino, Christine: Scherz, Satire und Ironie in der ostdeutschen Literatur der neunziger Jahre. In: The Journal of English and German Philology 10 (1998), S. 467–487. Grub, Frank Thomas: „Wende“ und „Einheit“ im Spiegel der deutschsprachigen Literatur. Berlin, New York: De Gruyter 2003. Kormann, Julia: Satire und Ironie in der Literatur nach 1989. Texte nach der Wende von Thomas Brussig, Thomas Rosenlöcher und Jens Sparschuh. In: Volker Wehdeking (Hg.): Mentalitätswandel in der deutschen Literatur zur Einheit: 1990–2000. Berlin: Erich Schmidt 2000, S. 165–176. Twark, Jill: Humor, Satire and Identity: Eastern Germany Literature in the 1990s. Berlin, New York: De Gruyter 2007, S. 58–72.
Christian Steltz
Zaimoğlu, Feridun: Kanak Sprak. 24 Mißtöne vom Rande der Gesellschaft (Berlin: Rotbuch) 1 Entstehung und Kontext Kanak Sprak. 24 Mißtöne vom Rande der Gesellschaft (= KS) ist Feridun Zaimoğlus literarisches Debüt, das dem bis dahin unbekannten Kieler Autor rasch den Ruf einbrachte, als Malcolm X der Türken, so der Titel eines Artikels von Joachim
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Christian Steltz
Lottmann (Lottmann 1997), eine Identifikationsfigur mit hohem politischen Stellenwert zu sein. Zur inhaltlichen Außenseiterposition der Mißtöne vom Rande der Gesellschaft passt die Tatsache, dass Kanak Sprak im Rotbuch-Verlag erschienen ist, also am Rande des Literaturbetriebs. Im Jahresüberblick des Reclam-Verlags taucht der Name Zaimoğlu dementsprechend auch nicht auf (vgl. Deutsche Literatur 1996). Der spätere Verlagswechsel zu S. Fischer wird als Nobilitierung des Autors gesehen (vgl. Galli 2005, S. 322).
2 Inhalt und Analyse Die 24 in Kanak Sprak zusammengefassten Einzeltexte erteilen verschiedenen Sprechern das Wort, die im Rahmen nachgestellter und ästhetisch überformter Interviewszenen mit der Frage „Wie lebt es sich als Kanake in Deutschland“ (KS, 9) konfrontiert werden. Da Zaimoğlu den in Kanak Sprak zusammengetragenen „Protokolle[n]“ (KS, 15) im Vorwort konstatiert, dass sich in ihnen „die einzelnen Kanak-Subidentitäten zunehmend übergreifender Zusammenhänge und Inhalte bewusst“ würden, was „[a]nalog zur Black-consciousness-Bewegung in den USA“ (KS, 17) vonstattengehe, hat er den Beinamen ‚Malcolm X der Türken‘ zum Teil selbst zu verantworten. Im Vorwort skizziert der 1964 im anatolischen Bolu geborene Autor das eigene Vorgehen: Mittels „‚detektivischer‘ Nachforschungen im ‚Milieu‘“ (KS, 15) und verschiedener „Bürgen“,die ihn begleitet und ihren „Brüdern als ‚unseresgleichen‘“ (KS, 16) vorgestellt hätten, habe er ein Vertrauensverhältnis zu den Gesprächspartnern aufbauen und die Gespräche führen können. Somit sind die Sprecher sowohl kulturell als auch vom Milieu her auf Schwellen angesiedelt. Zudem stellen sie ein sprachliches Schwellenphänomen dar (vgl. Begemann 1999, S. 211). Das Verdienst des Autors liegt nach eigenem Bekunden darin, die Sprache der Interviewten ins Deutsche zu übersetzen, wobei es ihm um ein „in sich geschlossenes, sichtbares, mithin ‚authentisches‘ Sprachbild“ (KS, 18) gegangen sei. Auf „ausdrücklichen Wunsch der Gesprächspartner“ (ebd.) habe er die Tonbandaufnahmen jedoch löschen müssen. Gerade dieses übertrieben deutliche Bemühen um Authentizität hat die Forschung dazu bewegt, die Texte als fingierte Sprachzeugnisse anzusehen, die die „Konstrukthaftigkeit der typisierten Kanaken“ (Bodenburg 2006, S. 132) ausstellen. Vom Rande der Gesellschaft berichten verschiedene männliche Sprecher, beispielsweise aus der Hip Hop-Szene (Rapper, Breaker) und dem Rotlicht-Milieu (Zuhälter, Gelegenheitsstricher, Gigolo, Türsteher) ebenso wie Außenseiter auf dem Arbeitsmarkt (Arbeitslose, Streuner, Müllkutscher, Kfz-Geselle) oder andere Minoritäten (ein Transsexueller, ein Junkie und ein psychisch Erkrankter). Die
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grundlegende Gemeinsamkeit der Berichtenden – bei den Sprechern handelt es sich vermutlich ausnahmslos um Türken – ist die Opposition zu jener deutschen Aufnahmegesellschaft, welche die Eltern der Sprechenden einst als Gastarbeiter herbeigerufen hat und die Kinder nun als „‚Kümmel‘ und ‚Kanaken‘“ (KS, 12) ausgrenzt. Was den sozialen Rang der Figuren angeht, fallen zwei Figuren entgegen der Ankündigung im Vorwort, keine „sozial verträglich[en]“ Integrierten zu Wort kommen zu lassen, da diesen die „gesellschaftliche Sprengkraft“ (KS, 18) fehle, ein wenig aus dem Rahmen. Der Soziologe Kadir und der Dichter Memet können durchaus als Intellektuelle angesehen werden. Doch auch diese beiden jungen Männer sprechen die Sprache der Ausgegrenzten. Alle Männer reagieren mit ihren Misstönen auf die gemeinsam erfahrene soziale Ablehnung. Die Texte sind „als Antworten auf eine zuvor stattgefundene Diskriminierung und Beleidigung“ (Keck 2007, S. 106) konzipiert, weshalb Anette Keck sie in der Tradition einer Rhetorik der Invektive liest, die wie das Ideal der ‚Realness‘ im Hip Hop Theatralität und Authentizität miteinander verbinden könne (vgl. ebd., S. 107). Mitunter lesen sich die Reaktionen gar wie Kampfansagen an die Adresse der Unterdrücker. Der Dichter Memet, dessen Position auch aufgrund seines Alters die größte Nähe zu Zaimoğlus eigener Haltung aufweisen dürfte, schließt seine Hassrede z. B. mit folgender Ankündigung:
Solange dieses land uns den wirklichen eintritt verwehrt, werden wir die anomalien und perversionen dieses landes wie ein schwamm aufsaugen und den dreck ausspucken. Die beschmutzten kennen keine ästhetik (KS, 113f).
Wird hier als konkrete Ursache für das ‚Dreckausspucken‘, das als Metapher für die kollektive Redeabsicht der Texte gelesen werden kann, der Ausschluss aus der Gesellschaft genannt, so steht die Aussage Memets in Einklang mit derjenigen des Autors Zaimoğlu im Vorwort, nach welcher die Gemeinsamkeit der Randexistenzen in einem „negative[n] Selbstbewußtsein“ (KS, 17) bestehe, das in dem beleidigenden Hetzwort ‚Kanake‘ seinen Ausdruck finde. In Kanak Sprak wird dieses Schmähwort „zum identitätsstiftenden Kennwort“ (ebd.) für die Gruppe der jungen Türken, die der Dichter Memet als „das wahre Lumpenproletariat“ (KS, 109) in einen soziologischen Kontext stellt. Hierbei vollzieht Memet auf der rhetorischen Ebene die Bewegung von einer stigmatisierenden Schmähung von außen hin zu einer ins Positive gewendeten Selbstzuschreibung, die auch den Bedeutungswandel der Bezeichnung ‚Kanake‘ ausmacht, wenn er über die als ‚Kanaken‘ bezeichneten Individuen sagt: Sie sind menschenmüll, eine verschwendung in den straßen der metropolen, sie haben das spiel verloren, weil die karten gezinkt sind, die man ihnen in die hand drückt. Deshalb sind sie kanaken, deshalb bin ich ein kanake, deshalb bist du ein kanake. Wir sind bastarde,
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freund, das heißt, daß wir gedanken und empfindungen haben, für die wir nichts können (KS, 109f).
Der Determinierung des Einzelnen durch soziologische Faktoren (‚für die wir nichts können‘) erinnert ebenso wie die Rede vom „Lumpenproletariat“ (KS, 109) an marxistische Gesellschaftsentwürfe und daher mag es nur wenig überraschen, wenn sich in der zitierten Passage das sprechende Ich (‚deshalb bin ich ein kanake‘) mit dem vermeintlichen Interviewer und zugleich mit dem impliziten Leser verbrüdert (,deshalb bist du ein kanake‘), um aus der despektierlichen Fremdzuschreibung (‚Deshalb sind sie kanaken‘) eine semantisch neu bewertete, positive kollektive Identität (‚Wir sind bastarde, freund‘) zu generieren.
3 Rezeption und Folgen Vor dem Hintergrund der politischen und soziologischen Entwicklungen nach der Wende markiert die Veröffentlichung von Kanak Sprak nicht nur einen entscheidenden Punkt im Migrationsdiskurs (vgl. u. a. Tuschick 2000, S. 107), sie ist auch als Reaktion auf die ausländerfeindlichen Gewalttaten von Neonazis zu Beginn der neunziger Jahre zu bewerten: Kanak Sprak kann soziologisch betrachtet als Anwesenheitsbekundung der Gastarbeiterkinder der zweiten und dritten Generation gelten, einer Gruppe also, die in Schulzes Erlebnisgesellschaft überhaupt nicht berücksichtigt wird. Literaturhistorisch kann der Titel ebenfalls einen paradigmatischen Stellenwert beanspruchen, da er als Wendepunkt von der sogenannten Gastarbeiterliteratur hin zur Migrantenliteratur angesehen wird (vgl. Galli 2005, S. 315 sowie Dörr 2008, 2010). Diese Sichtweise hat sich durchgesetzt, nachdem zunächst verschiedene konträre Deutungsansätze erkennbar waren, die Thomas Ernst im Einzelnen nachgezeichnet hat (vgl. Ernst 2010, S. 248 und Ernst 2013, S. 304–327). Zu nennen wären diesbezüglich eine anfängliche Verortung des Textes in der „Tradition der Protokoll-Literatur“ (Skiba 2004, S. 186f.) sowie die Auffassung, dass es sich bei der Textsammlung um Gastarbeiterliteratur handele, die einen „Ethnolekt“ (Rösch 2005, S. 230) dokumentiere. Dem entgegen stehen Textdeutungen, die auf den artifiziellen Charakter der Zaimoğlu’schen Kanak Sprak und darauf hinweisen, dass diese Sprache nicht mit der realen im Alltag gesprochenen Jugendsprache verwechselt werden dürfe (vgl. z. B. Abel 2006, S. 300). Julia Abels narratologische Untersuchung der Stimme kommt zu dem Ergebnis, dass es weder fiktive Erzähler sind, die in den Einzeltexten sprechen, noch „‚authentische‘ Stimmen realer Menschen“ (Abel 2006, S. 303). „Authentizität“, so lautet das Fazit, „scheint nichts Gegebenes zu sein, sondern muß offenbar erst erzeugt werden“
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(ebd.). In eine ähnliche Richtung geht Klaus-Michael Bogdals Kategorisierung der Kanak Sprak als „poetisches Ereignis“, dem darüber hinaus ein gesellschaftspolitischer Charakter zugesprochen wird, da sie „die Teilhabe an der Kultur in Deutschland [beansprucht], die sie mit ihrem Erscheinen zugleich ein Stück verändert“ (Bogdal 2004, S. 240). Im Akt der Performanz, im einzelnen Text als Sprechakt, entsteht der ‚Kanake‘ als Typus; dies wird bereits im Vorwort angekündigt, wenn es über die folgenden Sprechakte heißt: „Und über die einzelne charakteristische Gebärde hinaus signalisiert der Kanake: Hier stehe ich und gebe mit allem, was ich bin, zu verstehen: Ich zeige und erzeuge Präsenz“ (KS, 14). An das Erzeugen der Gruppenidentität im Sprechakt selbst knüpfen jüngere Analysen an, die den Text mit neueren Theorien in Verbindung setzen. Bodenburg liest Kanak Sprak z. B. vor dem Hintergrund von Butlers Politik des Performativen (vgl. Bodenburg 2006). Ebenfalls auf Butler verweist Kati Röttger (vgl. Röttger 2003), die in der semantischen Neubewertung des Schimpfwortes eine Entmachtung durch Rekontextualisierung erkennt und damit einen Schutz vor verletzender Sprache. „Kanaken entwenden den Begriff ‚Kanake‘ dem rassistischen Diskurs, sie dekontextualisieren ihn und eignen ihn sich als ‚richtigen‘ Namen an“ (vgl. Bodenburg 2006, S. 134). Gemeinsam ist Röttger und Bodenburg zudem der Rückgriff auf Stuart Halls kulturwissenschaftliche Studien, nach denen man sich Identität „als eine ‚Produktion‘ vorstellen [muss], die niemals vollendet ist, sich immer in einem Prozeß befindet“ (Bodenburg 2006, S. 134). Damit stimmen zahlreiche weitere Forschungsbeiträge überein (z. B. Abel 2006, S. 315; Gymnich 2003, S. 31). Punktuell wird die Analyse der sprachlichen Ausschlussstrategien um Saids OrientalismusKonzept (Röttger 2003, S. 293) und Bhabhas Die Verortung der Kultur erweitert (Ernst 2010, S. 246). Mit dem zeitlichen Abstand von mehr als 15 Jahren erscheint insbesondere der Schlusstext der Sammlung in einem anderen Licht. Unter dem Titel „Im Namen des Allerbarmers“ kommt mit dem 22jährigen Yücel jemand zu Wort, der als „Islamist“ (KS, 137) vorgestellt wird. Berücksichtigt man die globalen Entwicklungen insbesondere seit dem Terroranschlag auf das World Trade Center, schließt die Textsammlung mit einer beinahe prophetischen Gegenüberstellung des Eigenen und des Fremden. Direkte Auswirkungen auf das weitere literarische Schaffen Zaimoğlus hatte Kanak Sprak insofern, als dass in dem Band nur männliche Migranten zu Wort kommen. Das logische Nachfolgeprojekt, auch weibliche Stimmen der sogenannten dritten Generation einzufangen, wurde 1999 unter dem Titel Koppstoff veröffentlicht. Dazwischen liegt der Roman Abschaum – Die wahre Geschichte des Ertan Ongun (1997), der die Produktionsweise der pseudo-dokumentarischen
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Milieustudie der Kanak Sprak-Texte fortführt. Beide Bücher sind ebenso wie der Erstling bei Rotbuch erschienen. Einen Schub in der öffentlichen Wahrnehmung bekam der literarische Outsidertitel Kanak Sprak im Jahre 1998, als das Junge Theater Bremen die Texte in einer Bühnenadaption inszenierte. In diesem Zusammenhang war Zaimoğlu in der Talkshow „3nach9“ (NDR) zu Gast. In der Diskussion, an der u. a. die Politiker Heide Simonis (SPD) und Norbert Blüm (CDU) sowie Liedermacher Wolf Biermann beteiligt waren, wurde die Literarizität des Werkes größtenteils ausgeblendet. Stattdessen drehte sich die Diskussion auf der inhaltlichen Ebene um die Frage der Integration von Migranten: Der artifizielle Charakter von Zaimoğlus Kunstsprache wurde übersehen (vgl. hierzu Cheesman 2004, S. 93). Seither ist die Rezeption gespalten: Wird auf der einen Seite vom Anfangspunkt einer Entwicklung gesprochen, die Galli „die Kabarettisierung des Kanaken“ (Galli 2005, S. 321; vgl. auch Cheesman 2004) nennt, weisen andere Forscher darauf hin, dass die Kanak Sprak deutlich von den „Comedy Kanaken“ (Keck 2007, S. 103) differenziert werden müsse, also nicht mit popkulturellen Phänomenen wie dem Duo Erkan und Stefan oder der Was guckst Du!?-Show verwechselt werden dürfe, da die „Popularisierung, Kommerzialisierung und Vereinnahmung des rebellischen ‚Kanaken‘ die Entpolitisierung der Kategorie ‚Kanak‘ zur Folge“ habe (Bodenburg 2006, S. 139; vgl. zu „Kanak-Chic“: Cheesman 2004, S. 90). Als politische Auswirkung darf die Gründung der Gruppe „Kanak Attak“ im Jahr 1998 gelten. Ob und inwiefern sich Zaimoğlu zwei Jahre später durch die Titelgebung der Verfilmung von Abschaum von dieser Gruppierung distanzieren wollte, – der Film heißt Kanak Attack (D, Regie: Lars Becker 2000) und weicht in der Schreibweise von der politischen Gruppierung ab – lässt sich nicht sagen. Klar ist jedoch, dass sich Zaimoğlus literarisches Werk in der Folge deutlich wandelt. Versucht Liebesmale, scharlachrot (2000) noch die Grenze zwischen Zuwandererkindern und Aufnahmekultur durch eine ästhetische Anlehnung an Goethes Die Leiden des jungen Werther verschwinden zu lassen, so spielt der ‚Kanake‘ als literarischer Typus danach eine zunehmend geringere Rolle. German Amok (2002) und Leinwand (2003) sind in jenem Künstlermilieu zu verorten, in dem sich auch der Autor im Rahmen verschiedener Theaterprojekte bewegt. Die Rückkehr zum Themenkomplex Migration wird 2006 mit dem Roman Leyla vollzogen. Hier wird konventionell von der Migrationserfahrung der Elterngeneration, der vermeintlichen Gastarbeiter, erzählt. Mit der Erinnerung nimmt die Migrantenliteratur hier einen zentralen Wesenszug der Gegenwartsliteratur allgemein auf (vgl. Brunner 2009). Dass sich jüngste Werke wie Ruß (2011) in keine der vorgefertigten Kategorien fügen, spricht indes für die Wandelbarkeit des Autors, dessen Bildungsweg vom Malcolm X der Türken zum Literaten sich von nunmehr 17 Literaturpreisen bezeugen lässt,
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darunter der Preis der Jury beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb (2003), der Adelbert-von-Chamisso-Preis (2005) und die Corine (2008).
Literatur Zaimoğlu, Feridun: Kanak Sprak. Hamburg: Rotbuch 1995. Zaimoğlu, Feridun: Abschaum – Die wahre Geschichte des Ertan Ongun. Hamburg: Rotbuch 1997. Zaimoğlu, Feridun: Koppstoff. Hamburg: Rotbuch 1999. Kanak Attack. Reg. Lars Becker. Concorde, 2000.
Sekundärliteratur Abel, Julia: Konstruktionen „authentischer“ Stimmen. Zum Verhältnis von „Stimme“ und Identität in Feridun Zaimoğlus „Kanak Sprak“. In: Andreas Blödorn (Hg.): Stimme(n) im Text. Narratologische Positionsbestimmungen. Berlin, New York: De Gruyter 2006, S. 297–320. Begemann, Christian: ‚Kanakensprache‘. Schwellenphänomene in der deutschen Literatur ausländischer AutorInnen der Gegenwart. In: Frank Möbus, Nicholas Saul, Daniel Steuer (Hg.): Schwellen. Germanistische Erkundungen einer Metapher. Würzburg: Königshausen & Neumann 1999, S. 207–220. Bodenburg, Julia: Kanaken und andere Schauspieler. Performative Identitäten bei Feridun Zaimoğlu und Yadé Kara. In: Voix étrangères en langue allemande 38 (2006), S. 129–140. Bogdal, Klaus-Michael: Wo geht’s denn hier nach Kanakstan? In: Monika Schmitz-Emans (Hg.): Literatur und Vielsprachigkeit. Heidelberg: Synchron 2004, S. 237–248. Brunner, Maria E.: Parallele kulturelle Identifikationsräume in F. Zaimoğlus „Leyla“ und E. S. Özdamars Roman „Das Leben ist eine Karawanserei“ oder Absorption von Textteilen? In: Gabriela Racz (Hg.): Der deutschsprachige Roman aus interkultureller Sicht. Wien: Praesens 2009, S. 31–52. Cheesman, Tom: Talking „Kanak“. Zaimoğlu contra Leitkultur. In: New German critique 92 (2004), S. 82–99. Deutsche Literatur. Jahresüberblick. Hg. v. Franz Josef Görtz, Volker Hage, Hubert Winkels. Stuttgart: Reclam 1996. Dörr, Volker C.: Deutschsprachige Migrantenliteratur. Von Gastarbeitern zu Kanakstas, von der Interkulturalität zur Hybridität. In: Karin Hoff (Hg.): Literatur der Migration – Migration der Literatur. Frankfurt/M.: Peter Lang 2008, S. 17–33. Dörr, Volker C.: Multi-, Inter-, Trans- und Hyper-Kulturalität und (deutsch-türkische) „Migrantenliteratur“. In: Dieter Heimböckel (Hg.): Zwischen Provokation und Usurpation. Interkulturalität als (un)vollendetes Projekt der Literatur- und Sprachwissenschaften. München: Fink 2010, S. 71–86. Ernst, Thomas: „Kanak Sprak“ and Union Suspecte. Scandals around hybrid and multilingual literature in Germany and Belgium. In: Migration and literature in contemporary Europe (2010), S. 243–258. Ernst, Thomas: Literatur und Subversion. Politisches Schreiben in der Gegenwart. Bielefeld: transcript 2013 (= Literalität und Liminalität 16).
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Galli, Matteo: Feridun Zaimoğlu. Der Schriftsteller als Dealer. In: Laura Auteri, Margherita Cottone (Hg.): Deutsche Kultur und Islam am Mittelmeer. Göppingen: Kümmerle 2005, S. 315–333. Gymnich, Marion: Individuelle Identität und Erinnerung aus Sicht von Identitätstheorie und Gedächtnisforschung sowie als Gegenstand literarischer Inszenierung. In: Astrid Erll, Marion Gymnich, Ansgar Nünning (Hg.): Literatur – Erinnerung – Identität. Theoriekonzeptionen und Fallstudien. Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier 2003, S. 29–48. Keck, Annette: „Pop is ne fatale Orgie“. Zu Konstruktion und Produktivität der Figur des „Kanaken“ in Gegenwartsliteratur und Populärkultur. In: Peter-Weiss-Jahrbuch für Literatur, Kunst und Politik im 20. und 21. Jahrhundert 16 (2007), S. 103–118. Lottmann, Joachim: Ein Wochenende in Kiel mit Feridun Zaimoğlu, dem Malcolm X der deutschen Türken. In: Die Zeit 47 (1997). Rösch, Heidi: Migration in der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur. In: Michael Scheffel (Hg.): Literatur und Migration. Text + Kritik. Sonderband. München: text + kritik 2006, S. 222–232. Röttger, Kati: Kanake sein oder Kanake sagen? Die Entscheidungs-Gewalt von Sprache in der Inszenierung des Anderen und des Selbst. In: Christopher Balme (Hg.): Theater als Paradigma der Moderne? Positionen zwischen historischer Avantgarde und Medienzeitalter. Tübingen: Francke 2003, S. 289–299. Skiba, Dirk: Ethnolektale und literalisierte Hybridität in Feridun Zaimoğlus ‚Kanak Sprak‘. In: Klaus Schenk, Almut Todorow, Milan Tvrdík (Hg.): Migrationsliteratur. Schreibweisen einer interkulturellen Moderne. Tübingen, Basel: Francke 2004, S. 183–204. Tuschick, Jamal: „Bruder, du bist meine Stimme“. Feridun Zaimoğlu, Kombattant im Kulturkampf. In: Thomas Kraft (Hg.): aufgerissen. Zur Literatur der 90er Jahre. München: Piper 2000, S. 105–111.
Personenregister Abel, Julia 504f Adelmann, Roland 287 Adorno, Theodor W. 126, 136, 141, 253, 415, 444, 491 Aebli, Kurt 276 Aichinger, Ilse 97, 119, 135, 191f, 367 Ajgi, Gennadij 283 Albus, Anita 117 Allemann, Urs 275 Allen, Woody 351–353, 499 Allert-Wybranietz, Kristiane 277 Altenburg, Matthias 116 Améry, Jean 404, 472 Amis, Kingsley William 487 Anderson, Sascha 115, 268, 276, 285, Angelopoulos, Theo 319, 327–331 Antonioni, Michelangelo 319f Apollinaire, Guillaume 3, 285 Arp, Han 280 Artmann, H. C. 272 Ashbery, John 283f Assheuer, Thomas 83, 420 Assmann, Aleida 56f, 85, 240–243 Assmann, Jan 33, 47, 83 Astel, Hans Arnfrid 252, 274 Atwood, Margaret 95 Awoonor, Kofi 283 Ayim, May 168 Bachmann, Ingeborg 271, 274, 396, 438, 459, 482, 494, 507 Bachmann-Medick, Doris 175 Bachtin, Michail 20, 213, 387, 480 Balzac, Honoré de 93 Barthes, Roland 16, 21, 278, 291f, 397, 400, 403, 412f, 480 Bartsch, Kurt 115 Bashô, Matsuo 292 Baßler, Moritz 21f, 134, 139, 147, 195, 434f Bateman, Patrick 21, 428 Baudrillard, Jean 126, 183, 278, 449, 453 Becher, Johannes Robert 103, 167, 201, 421, 438, 475, 500
Beck, Rufus 321 Becker, Ben 324 Becker, Jürgen 273–277, 282 Becker, Jurek 127, 157 Becker, Lars 506 Becker, Meret 326 Beckett, Samuel Barclay 130, 347, 427 Bekes, Peter 35 Bektaş, Habib 159 Bellow, Saul 115 Benjamin, Walter 4, 11, 17, 36, 47, 122, 405, 444, 451, 482, 490 Benn, Gottfried 128, 271, 283, 291, 365f Bennent, Anne 325 Berg, Sibylle 136, 434 Bernhard, Thomas 98, 119, 188f, 194, 403 Bernstein, Charles 282 Bessing, Joachim 141, 144 Beuse, Stefan 116f, 435 Beuys, Joseph 263 Beyer, Frank 326 Beyer, Marcel 1, 32–36, 46, 51, 57–64, 113, 120, 233, 242, 253, 262f, 274, 276, 287, 337–343, 460 Bhabha, Homi K. 505 Biermann, Pieke 113 Biermann, Wolf 107, 115, 118, 200, 268, 271, 286, 356, 386, 506 Biller, Maxim 57, 77f, 82, 87f, 112, 116, 198 Binder, Ernst M. 310f Biondi, Franco 156, 159 f. 164 Bismarck, Otto von 388 Bitter, Mirjam 425 Bjely, Andrej 480 Bleibtreu, Moritz 322 Bloch, Ernst 241, 358 Blüm, Norbert 506 Bobrowski, Johannes 386 Boetticher, Dietrich von 102 Bogdal, Klaus-Michael 2, 17, 31, 38f, 136f, 145, 158, 203, 290, 383, 505 Bohm, Hark 326 Böhmer, Paulus 274 Bohrer, Karl Heinz 19, 112, 203
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Personenregister
Böll, Heinrich 4, 106, 115, 118, 127, 201, 254, 337, 390, 459, 498 Bolli, Rudolf 60 Bolwin, Rolf 300f Borchers, Elisabeth 274, 276, 289 Borges, Jorge Luis 44, 47, 492 Bormann, Alexander von 394 Boship, Elizabeth 283 Bossong, Nora 10 Böttiger, Helmut 308, 310, 414, 482 Bourdieu, Pierre 2, 9, 93, 135 Boyle, T. C. 117 Bradbury, Malcolm 487 Brandner, Uwe 139 Brandt, Jan 113 Brandt, Willy 240f, 244, Brasch, Thomas 78, 115 Braun, Michael 3, 19, 200, 269, 277–279, 285, 294, 367, 371 Braun, Volker 18, 31, 51, 107, 165, 207, 212, 262, 272, 274, 276, 286, 303, 309, 313, 345–349 Brecht, Bertolt 119, 129, 165, 301, 308, 312, 412 Bremer, Jan Peter 113 Brennicke, Nadeshda 324 Brentano, Clemens 373, 421 Breytenbach, Breyten 283 Brinkmann, Rolf Dieter 134, 137–143, 150 Broch, Hermann 453 Brockes, Barthold Hinrich 376 Brodsky, Joseph 282 Brumlik, Micha 75, 77, 95 Brumme, Christoph D. 116 Brussig, Thomas 1, 19f, 31, 51, 102f, 113f, 207, 212, 214, 219–223, 249, 253, 257, 261–263, 304, 350–356, 499 Bruyn, Günter de 205, 262 Buchheim, Lothar-Günther 106 Buchwald, Christoph 281 Büchner, Georg 1, 14, 107f, 124, 128–131, 203, 210, 271–273, 279, 409 Buhl, Svend 420 Bukowski, Charles 115, 150, 287 Bukowski, Oliver 303 Burkhardt, Jörg 275 Burmeister, Brigitte 206f, 251 Burton, Tim 330
Bußmann, Auguste 373 Butler, Judith 243, 505 Calvino, Italo 117 Canetti, Elias 117, 119, 157, 342, 383 Carré, John Le 115 Casement, Roger 45 Castorf, Frank 302, 305–310 Caulfield, Holden 350 Celan, Paul 4, 14, 81, 119, 128, 157 Cendrars, Blaise 355 Cézanne, Paul 319f Chabrol, Claude 330 Charms, Daniil 213, 480 Chiellino, Carmine 157–165, 168 Chotjewitz, Peter O. 138 Christensen, Inger 282f Çırak, Zehra 116 Conrad, Joseph 45, 419, 492 Conradi, Arnulf 95 Conrady, Karl Otto 270, 272, 286 Conter, Claude D. 426, 435, 440 Coolidge, Clark 283 Corino, Karl 101 Cortázar, Julio 494 Cosentino, Christine 415, 474, 500, Cosgrove, Denis 185 Costner, Kevin 331 Covelty, Gion Mathias 120 Cramer, Sibylle 482 Csiba, László 167 Cumart, Nevfel 166 Cummings, E. E. 494f Czechowski, Heinz 274, 285 Czernin, Franz Josef 275–281, 294, 468 Dahlmeyer, Jörg André 150 Dal, Güney 159 Daldry, Stephen 470 Dalos, György 167, 284 Dao, Bei 283 Dean, Martin Rolf 117 Deguy, Michel 282 Deleuze, Gilles 278, 405 DeLillo, Don 116 Delius, Friedrich Christian 103, 167, 179, 184, 200, 205, 275, 357–362
Personenregister
Deluy, Henri 284 Demant, Danny 79 Demirkan, Renan 115 Derrida, Jacques 126, 278 Dick, Philip K. 429f Diderot, Jacques 348f Dieckmann, Christoph 356, 385 Diederichsen, Diedrich 141, 146, 149 Dietrich, Kerstin 200 Diez, Georg 144 Dikmen, Şinasi 164 Diner, Dan 75, 95 Dische, Irene 373 Dischereit, Esther 74–82, 88 Dobler, Franz 139f, 287 Döblin, Alfred 16, 95, 164, 401, 409, 438, 440, 459, 480, 482 Doderer, Heimito von 453 Dohrmann, Ralph 113 Domin, Hilde 289 Donahue, William C. 474 Donhauser, Michael 117, 275 Donnersmarck, Florian Henckel von 411 Döring, Christian 8, 11, 121–125, 277f, 396 Döring, Jörg 144, 175f, 178f, 435 Döring, Stefan 276 Dörrie, Doris 321f Dorst, Tankred 301 Drach, Albert 107, 117 Draesner, Ulrike 15, 114, 120, 242, 260, 274, 277, 285, 291f, 363–366, 425, 477, 495 Drawert, Kurt 113, 205, 275 Drews, Jörg 5, 285f, 493 Droste, Wiglaf 377 Duden, Anne 275 Dürer, Albrecht 43, 490 Dürrenmatt, Friedrich 379, 432 Dundes, Alan 428 Durzak, Manfred 383, 474 Dutli, Ralph 482 Dutschke, Rudi 442f Duve, Karen 113f, 287 Eberth, Michael 305 Eckert, Guido 116 Edvardson, Cordelia Maria 117 Egger, Oswald 274–276, 294
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Eich, Clemens (Witwe: Eich, Elisabeth) 43, 119, 225, 227, 230, 289, 367–371 Eich, Günter 285, 367 Eichendorff, Josef von 434 Eisermann, André 324 Elias, Norbert 254 Ellis, Bret Easton 21, 108, 428, 434 Elm, Theo 268f, 275f, 289, 294 Elsner, Gisela 127, 143 Emmerich, Roland 320 Emmerich, Wolfgang 205, 207, 209, 213, 268, 345 Endler, Adolf 274, 276 Engel, Tina 326 Engeler, Urs 271, 277f Enzensberger, Hans Magnus 4, 8, 14, 119, 165, 201, 272, 274, 276, 282–285, 291, 310, 373–378, 488 Erb, Elke 274, 276, 282, 285 Ernst, Thomas 134, 137–140, 143, 156, 435, 504f Ertel, Anna Alissa 365f Fabre, Jan 302 Falkner, Gerhard 275, 282–284 Faulkner, William 204 Fauser, Jörg 150 Fellner, Kurt 323 Fichte, Hubert 138 Fiedler, Leslie A. 137 Finkielkraut, Alain 329 Fischer, Carolin 487 Fischer, Joschka 144 Flenter, Kersten 287 Folkerts, Ulrike 322 Fontane, Theodor 18, 179, 258, 385–389 Ford, Richard 95 Forte, Dieter 16f, 32f, 36–43, 46f, 51, 119, 256, 263, 379–383 Foucault, Michel 16f, 35, 44, 126, 137, 209, 240, 243, 257, 278, 410, 412, 415 Franck, Julia 355 Franzobel [d. i. Griebl, Franz Stefan] 108, 113, 120, 274, 286, 288 Frege, Gottlob 295 Freud, Sigmund 352, 403 Fried, Erich 81f, 166, 271, 337
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Personenregister
Friedländer, Saul 53 Friedrich, Heinz 160 Friedrich, Jörg 473 Frisch, Max 119, 432 Fritsch, Werner 120 Fritz, Marianne 196 Fritz, Michael G. 252 Fritz, Walter Helmut 274 Fritz-Vannahme, Joachim 493 Fuchs, Franz 393 Fühmann, Franz 276, 286 Fürst, Peter 117 Gaarder, Jostein 104 Gad, Urban 320 Gagarin, Juri 211, 495 Gall, Josef 339 Galli, Matteo 11, 21, 108, 199, 502, 504, 506 Ganzfried, Daniel 74, 83–87 Gates, Bill 101 Gauß, Karl Markus 395 Gedeck, Martina 322 Gehlen, Arnold 449 Geiger, Arno 118 Geisenhanslüke, Achim 3, 14, 17, 254, 260, 290f, 354, 385, 425 Genette, Gérard 185 Gennep, Arnold van 239, 243 George, Götz 326 George, Stefan 211, 280 Geppert, Hans Vilmar 52 Gernhardt, Robert 167, 274, 293 Gess, Nicola 60 Glaser, Matthias 323 Glissant, Édouard 283 Gloning, Thomas 420 Goebbels, Joseph (Tochter: Helga) 36, 57, 221, 233, 338– 341, 466 Goethe, Johann Wolfgang von 45f, 93, 107, 117, 130f, 167, 291, 301, 350, 361, 373, 445, 506 Goetz, Rainald 72f, 139, 141, 151 Gogol, Nikolai Wassiljewitsch 213, 355 Gomringer, Eugen 274, 286 Gomringer, Nora-Eugenie 288 Gordimer, Nadine 95 Gräf, Dieter M. 120, 274
Graf, Karin 96 Grass, Günter 1, 4, 18, 31, 51, 64–68, 97, 103, 105, 109, 179–184, 200–205, 212, 241, 252, 256, 258f, 262f, 279, 352, 383, 384–390, 411 Grauert, Wilfried 348 Green, John 117 Greenlaw, Lavinia 283 Greiner, Ulrich 19, 188, 194, 202, 367, 371 Grimm, Erk 210, 278, 291, 378, 411, 415 Groß, Thomas 143, 434 Groys, Boris 480 Grub, Frank Thomas 102, 251, 500 Gruber, Thomas 294 Grünbein, Durs 1, 14, 106, 108, 120, 124f, 128–132, 203, 262, 270–283, 285, 289, 292–295, 364–366, 425, 478, 495 Grünzweig, Dorothea 275 Grzimek, Martin 118 Gstrein, Norbert 1, 54, 119 Günzel, Stephan 176 Gumbrecht, Hans Ulrich 3f Gustafsson, Lars 282, 284 Guterson, David 95 Habermas, Jürgen 202 Hachmeister, Lutz 148, 202 Hacker, Katharina 120 Hacks, Peter 303 Hadamczik, Dieter 301f Hader, Josef 323 Hage, Volker 6, 36f, 93, 112f, 161, 201, 242, 248, 254, 285, 414 Hahn, Ulla 68, 271, 276, 289 Haider, Jörg 1, 98, 195, 392 Halbwachs, Maurice 32 Hall, Stuart 505 Hamburger, Michael 377 Handke, Peter 11, 98, 108, 119, 136, 138, 188, 191, 194, 319, 327, 329 Händler, Ernst-Wilhelm 94, 108, 219, 222, 229 Haneke, Michael 320, 325f Hänny, Reto 113 Hansen, Monika 326 Harather, Paul 320, 323 Harfouch, Corinna 326
Personenregister
Harig, Ludwig 117, 289 Harris, Robert 234, 429f Hartges, Marcel 140, 150f, 287 Härtling, Peter 119 Hartung, Harald 274, 282 Harvey, Herk 403 Haslinger, Josef 1, 10, 103f, 192–195, 391–395 Haufs, Rolf 117 Hauptmann, Gerhart 312 Haußmann, Leander 351 Haverkamp, Anselm 44 Heaney, Seamus Justin 117 Hebbel, Friedrich 163, 218 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 16, 129, 191, 349, 405, 448–450, 454–457 Hegemann, Helene 113 Hehl, Michael Peter 114, 143, 246 Hein, Christoph 303, 309 Hein, Jakob 213, 262 Heine, Heinrich 166 Heinichen, Veit 95 Heinrich, Klaus 309 Heißenbüttel, Helmut 274 Helbig, Holger 206f Hell, Bodo 196 Henning, Peter 116 Hensel, Kerstin 120 Hentsch, Jürgen 326 Hermann, Judith 142, 287 Hermlin, Stephan 107 Herzog, Roman 106 Hesse, Hermann 119, 419, 432 Hettche, Thomas 1, 16, 18, 51, 103, 120, 219, 232, 241–249, 257, 262f, 396–401, 412, 414 Heym, Stefan 206f Hielscher, Martin 115f, 135–137, 426, 434f Hikmet, Nâzım 165 Hilbig, Wolfgang 119, 124–128, 131f, 204f, 209, 273, 275f, 411 Hildebrandt, Dieter 345 Hilling, Anja 304 Hinck, Walter 367–369, 371 Hindenburg, Paul Ludwig Hans Anton von 380 Hitler, Adolf 72, 257, 329, 338, 380, 429 Hochhuth, Rolf 307f
513
Hodjak, Franz 113, 168 Høeg, Peter 117 Hoffmann, E. T. A. 213, 479–482 Hofmannsthal, Hugo von 119, 272 Hölderlin, Friedrich 117, 165, 204, 364, 432 Höllerer, Walter 274, 279, 285 Hölscher, Lucian 55 Honecker, Erich 353, 355 Honigmann, Barbara 78 Hoppe, Felicitas 63, 113 Hörisch, Jochen 121f Horkheimer, Max 106, 126, 141, 253 Huchel, Peter 128, 211, 273–276, 494 Hübsch, Hadayatullah 287 Hülswitt, Tobias 117, 136, 434 Hummelt, Norbert 10f Hung, Tran Anh 330 Hutcheon, Linda 52, 385 Illies, Florian 141, 143 Imhalsy, Bernhard 400 Isenschmid, Andreas 452, 456, 493 Izambard, Georges 212 Jaccottet, Philippe 117 Jäger, Christian 459 Jagow, Bettina von 366 Jahnn, Hans Henny 494 Jahraus, Oliver 19, 433, 435 Jaković, Mirjana 329 Jandl, Ernst 98, 196, 269 Jansen, Johannes 119 Jarmusch, Jim 331 Jaśkiewicz, Grzegorz 205 Jasper, Willi 117 Jauß, Hans Robert 2f Jean Paul [d. i. Johann Paul Friedrich Richter] 375 Jelinek, Elfriede 1, 15, 32f, 47, 51, 74, 82, 98, 139, 188, 191–195, 230, 232, 245, 248, 253, 256f, 262f, 302, 304, 310, 314, 368, 381, 383, 402–408, 414, 452, 467 Jenninger, Philipp 417 Jirgl, Reinhard 1, 17f, 51, 68, 103, 118, 205, 207–211, 214, 252–256, 261, 263, 383, 409–415 Johansen, Hanna 113, 117
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Personenregister
Johnson, Uwe 4, 119, 212, 337, 341f, 386, 411, 414 Joyce, James 16, 407, 459–461 Juarroz, Roberto 283 Judt, Tony 56 Jünger, Ernst 106–109, 209, 286, 309f, 416–420 Kafka, Franz 3, 106, 119, 130, 157, 463 Kaiser, Joachim 377 Kane, Sarah 305 Kant, Hermann 101, 206f Karas, Yadé 162 Karasek, Hellmuth 104, 248, 342, 453, 456 Karasholi, Adel 165–167 Karmakar, Romuald 326 Karnau, Hermann 35f, 57–62, 233, 338–342 Kassovitz, Mathieu 330 Katte, Hans-Hermann von 389 Kaufmann, Rainer 322 Keck, Anette 503, 506 Kehlmann, Daniel 9 Keiner, Sabine 156 Kempowski, Walter 40, 149 Kerenski, Boris 150, 287f Kerouac, Jack 427 Kertész, Imre 53 Kirsch, Sarah 107, 272–276 Kittler, Friedrich 35, 278 Kiwus, Karin 275 Klee, Paul 451, 490 Kleinschmidt, Sebastian 309 Kleist, Heinrich von 117, 165, 337, 389, 453 Klemperer, Victor 102 Klever, Ralph 195 Klima, Eva Maria 117 Kline, Franz 208 Kling, Thomas 1, 13f, 273–276, 281, 285, 288, 293–295, 364, 366, 421, 423, 425, 495 Klopstock, Friedrich Gottlieb 107, 432 Klüger, Ruth 53f, 86f, 473 Klüssendorf, Angelika 117, 355 Kluge, Alexander 107, 214 Kofman, Sarah 404f Kohl, Helmut 106, 385 Köhler, Andrea 8, 112, 198, 342
Köhler, Barbara 14, 260, 275f, 285, 291–294, 364, 421–425, 477f, 495 Köhn, Lothar 199 Kolbe, Uwe 275–277, 294 Koll, Horst Peter 321, 323 Koneffke, Jan 293 König, Ralf 321 Königsdorf, Helga 205 Kool Savas (d. i. Savaş Yurderi) 149 Kormann, Julia 500 Korte, Hermann 13, 128, 267–269, 272, 275–277, 288, 290 Koschnick, Hans 327 Koselleck, Reinhart 180, 185 Kouwenaar, Gerrit 282 Kracauer, Siegfried 319, 331, 460 Kracht, Christian 1, 21, 108, 114, 116, 134f, 140, 143f, 148, 151, 181f, 234, 246, 257, 263, 426–435 Krämer, Thorsten 136, 434 Kraus, Karl 119 Krauß, Angela 185, 207, 245f, 249f, 253f Krechel, Ursula 275, 284 Kresnik, Johann 309 Kroetz, Franz Xaver 302, 309 Król, Joachim 321 Krolow, Karl 274, 276, 279, 289, 292 Krüger, Michael 118, 276, 282 Krupp, Ute-Christine 120 Küchler, Sabine 274 Kühn, Johannes 118 Künzig, Bernd 35, 342 Kumpfmüller, Michael 117 Kundera, Milan 117 Kunert, Günter 102, 107, 117, 119, 276 Kunze, Heinz Rudolf 148, 276 Kurbjuweit, Dirk 108 Kurt, Kemal 162 Kuruyazici, Nilüfer 162 Kusturica, Emir 327–331 Laâbi, Abdellatif 283 Lacan, Jacques 126, 138, 278 Lachmann, Renate 44, 213, 407 Lade, Bernd Michael 350 Lager, Sven 136, 434 Lange, Alexa Hennig von 136, 141, 145, 434
Personenregister
Lange-Müller, Katja 103, 116, 207, 242, 254, 438–440 Langhoff, Matthias 306 Lappin, Elena 117 Laschen, Gregor 273, 284 Lau, Jörg 83 Lauda, Niki 452 Lauterbach, Heiner 488 Le Carré, John 115 Le Clezio, Jean-Marie Gustave 115, 117 Lebert, Benjamin 117, 138, 141 Lebert, Hans 403, 463 Ledig, Gert 36 Lehnert, Christian 120 Lehr, Thomas 441–445 Lentz, Michael 10, 288 Lenz, Jakob Michael Reinhold 131 Lepel, Bernhard von 387 Lethen, Helmut 129 Lettau, Reinhard 102 Levi, Primo 405 Lévi-Strauss, Claude 117, 490, 500 Lian, Yang 282 Liebmann, Irina 115 Link, Jürgen 21, 72 Loach, Ken 330 Lodge, David 487 Loest, Erich 103, 206f, 252, 326 Löffler, Hans 117 Löffler, Sigrid 104, 190, 212, 339, 355, 389, 466 Loher, Dea 304f Lorca, Federico García 165 Lorenz, Maren 239, 243 Lorenz, Matthias 4 Lorenz, Peter 443 Lottmann, Joachim 139, 502 Lowry, Malcolm 281 Lützeler, Paul Michael 123f, 241 Lukács, Georg 453 Lumière, Auguste Marie Louis Nicolas u. Louis Jean 318 Lunkewitz, Bernd F. 101 Lust, Ulli 342 Lustiger, Gila 74, 81 Lyotard, Jean-François 126, 278
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Magenau, Jörg 66, 364f Magris, Claudio 188 Malkowski, Rainer 274, 276 Mamet, David 301 Manchevski, Milcho 327–330 Mandelbrot, Benoît 291f Manea, Norman 117 Mann, Dieter 326 Mann, Heinrich 119 Mann, Michael 331 Mann, Thomas 9f, 20, 40, 47, 106, 119, 123, 246, 381, 390, 427, 432f, 459 Manojlović, Miki 329 Marcuse, Herbert 444 Maron, Monika 101, 119, 205f, 251 Marquard, Volker 434 Marquardt, Fritz 306 Márquez, Gabríel Garcia 115 Marthaler, Christoph 302 Martin, Marko 116 Marx, Karl 345, 347 Massaquoi, Hans-Jürgen 168 Mastroianni, Marcello 319 Matsutani, Rainer 322 Matt, Peter von 289 Mattenklott, Gert 420 Mattes, Eva 326 May, Joe 318 Mayröcker, Friederike 13, 98, 196, 272, 274, 364, 366 McKnight, Edgar 218, 224 McLuhan, Marshall 243, 278, 291 Meckel, Christoph 118, 274 Meddeb, Abdelwahab 284 Meinecke, Thomas 141, 151 Melville, Herman 375 Menasse, Eva 113 Menasse, Robert 1, 16, 50f, 63, 68, 76–79, 97f, 103, 136, 189–195, 225f, 248, 253, 446–457, 466 Metzger, Anneka 425 Meyer, Anne-Rose 366 Meyer, Clemens 103, 113 Meyer, Susanne 482 Mickel, Karl 274 Miko, Lukas 325 Miller, Hillis J. 175f, 185
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Personenregister
Mitscherlich, Margarete 251 Mitterrand, François 106 Molière [d. i. Jean-Baptiste Poquelin] 301 Mon, Franz 274, 285f Monikova, Libuse 117 Monroe, Marilyn 319 Montaigne, Michel Eyquem de 93, 346 Moreau, Jeanne 319 Moretti, Franco 175f Moritz, Karl Philipp 46 Moritz, Rainer 8, 112, 198 Morsbach, Petra 108 Mosbach, Bettina 46, 183 Mosebach, Martin 95, 467f Müller, Heiner 1, 107f, 115, 201, 205f, 263, 272, 303f, 306–310, 314f, 386, 409, 414, 441 Müller, Herta 102, 124, 167 Müller, Inez 440 Mulisch, Harry 117 Munch, Edvard 413 Murnau, Friedrich 319 Musil, Robert 190, 192, 343, 460 Nabokov, Vladimir 213, 480, 487 Nadolny, Sten 9 Naidoo, Xavier 149 Naipaul, V. S. 115 Naoum, Jusuf 156, 160, 162 Naters, Elke 117, 136, 141, 145, 434 Nenning, Günther 457 Neruda, Pablo 165 Neumann, Gerhard 47 Neumeister, Andreas 139–141, 150f, 287 Nickel, Eckhart 116, 144 Nielsen, Asta 320 Nietzsche, Friedrich 17, 209, 314, 410, 414f, 444 Noël, Indra 425 Noll, Chaim 78 Nooteboom, Cees 282 Nora, Pierre 32, 47, 186 Novak, Helga M. 274 Novalis [d. i. Georg Philipp Friedrich von Hardenberg] 444 Nuber, Achim 400, 449, 455 Nünning, Ansgar 52f, 218, 223
O’Hara, Frank 138 Oates, Joyce Carol 115 Oehlschlägel, Heike 312, 315 Off, Jan 287 Ohler, Norman 116 Ohrt, Christoph M. 322 Oji, Chima 168 Oleschinski, Brigitte 273–278, 282, 292 Ondaatje, Michael 117 Opaschwoski, Horst 110 Ophüls, Marcel 328 Opitz, Michael 199, 212 Ören, Aras 159, 164f Ortese, Anna Maria 117 Osterhammel, Jürgen 31f, 178 Osterkamp, Ernst 210, 362, 377 Ostermaier, Albert 108, 120, 274, 288 Ostermeier, Thomas 305, 315 Ovid 166, 289, 399f Özakın, Aysel 159 Özdamar, Emine Sevgi 113, 115, 161f, 165f Özdogan, Selim 163 Palitzsch, Peter 306 Pamuk, Orhan 117 Panofsky, Erwin 43 Papenfuß[-Gorek], Bert 270, 275f, 287, 293f Pastior, Oskar 273f, 282, 284f, 337 Paul, Arno 303 Pazarkaya, Yüksel 160 Peirce, Charles Sanders 295, 331 Pekar, Thomas 420 Peltzer, Ulrich 113, 253, 459–462 Pennac, Daniel 116 Penndorf, Helmar 479 Petersdorff, Dirk von 274, 276, 293 Petersen, Wolfgang 320 Peterson, Sebastian 351 Petzold, Christian 324 Peymann, Claus 195 Pfennig, Jörn 277 Piliszky, Hános 283 Pirro, Maurizio 4, 364, 477 Platon 82f, 245, 398, 406 Plenzdorf, Ulrich 350 Plessner, Helmuth 241 Pliske, Roman 342f
Personenregister
Ploog, Jürgen 140, 150 Polanski, Roman 330 Politycki, Matthias 136, 293 Popp, Walter 470 Poppe, Enno 337 Poschmann, Marion 275 Postman, Neil 95 Preisendoerfer, Bruno 460–462 Preußer, Heinz-Peter 202, 310, 349 Priessnitz, Reinhard 195, 281, 364 Proust, Marcel 47, 165, 381, 453, 455 Puschkin, Alexander Sergejewitsch 213 Rabelais, François 212, 477 Rabinovici, Doron 74–79, 82, 113, 120, 195 Radisch, Iris 198, 389 Ransmayr, Christoph 1, 16, 32, 43, 47, 98, 119, 191–194, 219–223, 368, 452, 463–468 Rathenow, Lutz 276 Rathgeb, Eberhard 445 Rathjen, Friedhelm 121f, 371 Ratmann, Anette 370f Ravenhill, Mark 305 Reber, Sabine 116 Reckwitz, Andreas 142 Rehberg, Hans-Michael 326 Reich-Ranicki, Marcel 9, 18, 104–108, 122, 149, 279, 289, 389 Reitz, Edgar 327, 351 Remarque, Erich Maria 115, 118 Rembrandt van Rijn 490 Reynolds, Kevin 331 Reza, Yasmina 301, 304f Richter, Falk 304 Riemann, Katja 321f Riha, Karl 337 Rilke, Rainer Maria 3, 165, 444 Rimbaud, Arthur 212 Ritte, Jürgen 40, 383 Roc, Zé do 140, 167 Rodiek, Christoph 218–220, 223, 233 Röggla, Kathrin 1, 287 Rosa, João Guimarães 116 Rosenlöcher, Thomas 206, 275 Rossellini, Isabella 261, 432 Roszinsky-Terjung, Arnd 100 Roth, Gerhard 97f
517
Roth, Joseph 115, 118 Roth, Philip 117 Röttger, Kati 505 Roubaud, Jacques 284 Rühm, Gerhard 274 Rühmkorf, Peter 241f, 245, 259f, 263, 271–274, 276, 286, 289 Rüsen, Jörn 64, 68f Ruge, Elisabeth 95 Ruge, Eugen 113 Rusch, Claudia 213 Rushdie, Salman 108, 212 Russell, Bertrand 295 Sachs, Nelly 81 Saeger, Uwe 312 SAID 160, 166 Said, Edward W. 505 Salinger, J. D. 350, 434 Sallinen, Aulis 373 Samarovski, Branko 325 Samel, Udo 325 Sander, Otto 326 Sanoussi-Bliss, Pierre 321 Sarraute, Nathalie 115 Sartorius, Joachim 271, 275, 281–284, 289 Sartre, Jean-Paul 126 Saxl, Friedrich 43 Schabert, Ina 52 Schädlich, Hans Joachim 18, 207, 242, 263, 385, 411 Schäfer, Andreas 400 Schallié, Charlotte 85f Schami, Rafik 118, 156, 160–162 Scharang, Michael 191 Schedlinski, Rainer 268 Schiemann, Philipp 287 Schifferle, Heinz 325 Schiller, Friedrich 41, 130, 259 Schimmel, Annemarie 108 Schimmelpfennig, Roland 304f Schindel, Robert 73–81, 289 Schirnding, Albert von 289 Schirrmacher, Frank 108, 112f, 202 Schleef, Einar 300, 306–315 Schlink, Bernhard 1, 22, 33–36, 46, 51, 61–64, 103, 242, 263, 465, 470–474
518
Personenregister
Schlögel, Karl 177f, 185 Schmatz, Ferdinand 276 Schmidt, Carmen 494 Schmidt, Harald 149 Schmidt, Kathrin 117, 260, 275, 383, 475–478 Schmidt-Dengler, Wendelin 188, 193–196, 393f Schmitt, Carl 414 Schmitz, Helmut 422f Schmitz, Hermann 242, 251 Schneider, Peter 200, 205, 326 Schneider, Robert 9, 324, 342 Schneider, Rolf 117 Schnitzler, Arthur 325, 453 Schöller, Wilfried 362 Schöll, Sandra 342 Scholten, Rudolf [xxx] Schönauer, Achim u. Michael 287 Schönburg, Alexander von 144 Schönecker, Dominik 368–371 Schrader, Maria 321f Schreiner, Florian 60 Schroeder, Bernd 116 Schrott, Raoul 1, 113, 273–276, 281 Schulz, Manuela K. 60 Schulze, Gerhard 181, 198, 348, 504 Schulze, Ingo 20, 95f, 108, 113f, 207, 213f, 304 478–482 Schumacher, Joel 331 Schwab, Werner 194, 302, 313 Schwanitz, Dietrich 22, 103f, 483–488 Schweiger, Til 321 Schweikert, Ruth 113 Schwitters, Kurt 280 Sebald, Winfried Georg 16f, 32f, 36f, 41–47, 63, 68, 119, 182–184, 373, 381, 383, 473, 488–493 Seferens, Horst 420 Seibt, Gustav 21, 108, 203, 272, 389, 433f Seidel, Georg 312 Seiler, Lutz 108, 114, 207, 211, 214, 274, 292, 494–496 Semprún, Jorge 53f Șenocak, Zafer 162f Šerbedzija, Rade 328 Seume, Johann Gottfried 179, 184, 357–362 Shakespeare, William 43, 301, 356
Shaw, George Bernard 484 Simic, Charles 282–284 Simon, Neil 301 Simon, Ulrich 338, 341f Simonis, Heide 506 Skladanowsky, Emil, Eugen u. Max 318 Soja, Edward W. 177f Sokrates 82f Sontag, Susan 117, 141 Sorokin, Vladimir 480 Sparschuh, Jens 20, 31, 103, 115f, 185, 207, 242, 252–254, 497–501 Spedicato, Eugen 40, 383 Speer, Albert 208 Speichert, Sandra 488 Spengler, Oswald 209, 415, 420 Spinnen, Burkhard 113 Stahl, Enno 141, 150, 287 Stanišić, Saša 103, 113 Stefanescu, Sergiu 287 Steger, Florian 366 Stein, Benjamin 74, 81, 108, 114 Steinaecker, Thomas von 113 Sterne, Laurence 212, 352 Steven, Wallace 373 Stifter, Adalbert 393, 453 Stolterfoht, Ulf 275, 285, 294f Stolz, Dieter 446 Strauß, Botho 117, 119, 136, 308f, 313 Strauss, Claude Lévi 117, 490, 500 Strittmatter, Erwin 166 Struzyk, Brigitte 275 Stuckrad-Barre, Benjamin von 117, 136, 140f, 144–147, 151, 434 Süskind, Patrick 9, 342 Swinburne, Charles 492 Symmank, Markus 480–482 Szymanski, Silvia 136, 434 Tabatabai, Jasmin 323 Tabori, George 117, 119 Tabucchi, Antonio 117 Tamaro, Susanna 104 Tati, Jacques 318 Taufiq, Suleman 156, 160 Tawada, Yoko 276 Tetzlaff, Michael 213
Personenregister
Teufel, Erwin 106 Theobaldy, Jürgen 275, 282, 284, 295, 342 Theunissen, Michael 42f Thielmann, Tristan 175f Thill, Hans 269, 284, 293 Thome, Stephan 113 Thompson, Hunter S. 426 Timm, Uwe 115, 119, 136 Tišma, Aleksandar 117 Tommek, Heribert 2, 5, 10, 23, 201, 203 Trakl, Georg 280 Tranströmer, Tomas 117, 277 Treichel, Hans-Ulrich 10, 276 Trissenaar, Elisabeth 322 Trojanow, Ilija 108, 113, 116, 118, 161 Trolle, Lothar 303 Trotta, Margarete von 326 Tschechow, Anton P. 213, 313 Tschinag, Galsan 167 Turrini, Peter 188, 191 Tuschick, Jamal 163, 504 Twark, Jill 348, 356, 500 Ullmaier, Johannes 139, 147, 287 Unger-Soyka, Brigitte 106 Unseld, Joachim 94f Unseld, Siegfried 95, 112, 289 Urdes, Gabriel Cosmin 325 Utrillo, Maurice 208 Vanderbeke, Birgit 113 Várová, Dana 324 Veber, Francis 301 Viart, Dominique 11f, 20, 22 Vico, Giambattista 460 Vilsmaier, Joseph 324, 428 Virilio, Paul 183, 278 Vogel, Jürgen 323 Vormweg, Christoph 434 Vormweg, Heinrich 345 Waco, Laura 88 Wagner, Richard 168 Walcott, Derek 117 Walser, Alissa 113 Walser, Martin 147, 383, 473 Wang, Wayne 330
519
Wapnewski, Peter 289 Waterhouse, Peter 275–278, 292, 294 Wawerzinek, Peter 113, 207, 355 Weber, Peter 119f Weigel, Sigrid 175 Weil, Simone 117 Weisgerber, Eleonore 324 Weiss, Peter 119 Wellbery, David E. 4 Wellersdorf, Dieter 119, 136 Wells, Herbert George 340 Welzer, Harald 22, 55 Wenders, Wim 207, 318, 320, 330 Werner, Markus 119 White, Hayden 443 Wickham, Henry Steed 494 Widmann, Andreas M. 219–224, 467 Widmer, Urs 315 Wieland, Christoph Martin 107 Wiesel, Elie 53 Wiesinger, Kai 322 Wild, Gabriele 366 Wildenhahn, Klaus 327f Wilkomirski, Binjamin [d. i. Bruno Dössekker] 83 Wille, Franz 312 Willemsen, Roger 112 Williams, William Carlos 281f Winkels, Hubert 6, 35, 61, 93, 161, 239, 242, 248, 254, 285, 342 Winkler, Willi 473 Wischenbart, Rüdiger 97f, 190, 192, 394 Wittgenstein, Ludwig 14, 192, 291, 295, 423f Wittstock, Uwe 8–12, 112, 121, 123, 125, 200, 276 Wolf, Christa 18f, 105, 115, 200–202, 204, 206, 212, 261, 309, 354, 384, 386, 389 Wolf, Gerhard 209 Wolf, Ror 274 Wolfe, Tom 426 Wondratschek, Wolf 139 Wortmann, Sönke 321, 488 Wucherpfennig, Wolf 39, 383 Wühr, Paul 117, 274, 289, 292 Wuttke, Martin 310
520
Personenregister
Yussuf M. [d. i. Schönauer, Michael] 288 Zadek, Peter 306–311 Zaimoğlu, Feridun 1, 20, 108, 114, 140, 158f, 162–166, 168, 383, 501–507 Zander, Judith 113 Zao, Thang 282
Zeh, Juli 10, 103 Zeiner, Monika 113 Zieger, Ulrich 207–209, 214 Zirner, August 322, 326 Zoderer, Joseph 118 Zollner, Anian 326