Narrative kultureller Transformationen: Zu interkulturellen Schreibweisen in der deutschsprachigen Literatur der Gegenwart 9783839443460

Das Weltbild der Moderne umfasst mit dem Begriff »Zeitgeist« Versuche, die Denkweise und Eigenart einer bestimmten Epoch

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German Pages 532 Year 2019

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Table of contents :
Editorial
Inhalt
Vorwort
Prolog
1. Einleitung
1.1 Interkulturelle Schreibweisen einer postmodernen Literatur
1.2 Einbettung in den Forschungskontext
1.3 Analysematerial – Fragestellung
1.4 Herangehensweise und methodische Ausrichtung
1.5 Migration und das kulturelle Gedächtnis der Literatur
1.6 Hypothesen
1.7 Aufbau der Studie
2. Migration im Diskurs der Literaturwissenschaft
Einleitung
2.1 Migrationsliteratur: Kulturen eines Begriffspessimismus?
2.2 Migrationsliteratur: Begriff – Geschichte – Kontroverse
2.3 Kulturtheoretische Grundlage zur Analyse interkultureller Schreibweisen
2.4 Literarische Formen eines deutsch-iranischen Migrationsgedächtnisses
2.5 Zusammenfassung und Ausblick
3. Mediale Bilder interkultureller Identitätsarbeit
3.1 Das postmoderne Subjekt oder die Freiheit des Ich, nicht Ich zu sein
3.2 Die Freiheit des Subjekts, Ich-s zu werden
3.3 Identitätsarbeit im Spiegel narrativer Motive
3.4 Identitätsarbeit zwischen politischem Verdruss und individuellem Verlust
3.5 Individuelle Prozesse der Selbstfindung
3.6 ›Rethinking German Culture‹ – Fallbeispiele kulturellen Umdenkens
3.7 Zusammenfassung
4. Der Mythos Europa – die Metapher der Heimat – die Macht der Sprache
Einleitung
4.1 Der Mythos Europa
4.2 Die Metapher der Heimat
4.3 Die Macht der Sprache
4.4 Plurikulturelle Schreib-Szenen
4.5 Zusammenfassung
Epilog
Literaturverzeichnis
Personenverzeichnis
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Narrative kultureller Transformationen: Zu interkulturellen Schreibweisen in der deutschsprachigen Literatur der Gegenwart
 9783839443460

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Hamid Tafazoli Narrative kultureller Transformationen

Interkulturalität. Studien zu Sprache, Literatur und Gesellschaft | Band 14

Hamid Tafazoli

Narrative kultureller Transformationen Zu interkulturellen Schreibweisen in der deutschsprachigen Literatur der Gegenwart

»Und es gibt so viele Geschichten zu erzählen, zu viele, solch ein Übermaß an ineinander verwobenen Leben Ereignissen Wundern Orten Gerüchten, solch ein unentwirrbares Gemisch aus Unwahrscheinlichkeitem und Alltäglichem!« (S.R.)

Meinen Eltern gewidmet.

Der Druck dieses Buches wurde durch die finanzielle Förderung der Alexander von Humboldt-Stiftung und des Fonds National de la Recherche Luxembourg ermöglicht.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http:// dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2019 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat: Ralf Krautkrämer, Saarbrücken Satz: Justine Buri, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4346-6 PDF-ISBN 978-3-8394-4346-0 https://doi.org/10.14361/9783839443460 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Editorial Differenzen zwischen Kulturen – und die daraus resultierenden Effekte – sind seit jeher der Normalfall. Sie zeigen sich in der Erkundung der »Fremden« schon seit Herodot, in der Entdeckung vorher unbekannter Kulturen (etwa durch Kolumbus), in der Unterdrückung anderer Kulturen im Kolonialismus oder aktuell in den unterschiedlichen grenzüberschreitenden Begegnungsformen in einer globalisierten und »vernetzten« Welt. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit »Interkulturalität« erfuhr entscheidende Impulse durch die »anthropologische Wende« in den Geisteswissenschaften und durch das seit den 1970er Jahren etablierte Fach der Interkulturellen Kommunikation. Grundlegend ist dabei, Interkulturalität nicht statisch, sondern als fortwährenden Prozess zu begreifen und sie einer beständigen Neuauslegung zu unterziehen. Denn gerade ihre gegenwärtige, unter dem Vorzeichen von Globalisierung, Postkolonialismus und Migration stehende Präsenz im öffentlichen Diskurs dokumentiert, dass das innovative und utopische Potenzial von Interkulturalität noch längst nicht ausgeschöpft ist. Die Reihe Interkulturalität. Studien zu Sprache, Literatur und Gesellschaft greift die rege Diskussion in den Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaften auf und versammelt innovative Beiträge, die den theoretischen Grundlagen und historischen Perspektiven der Interkulturalitätsforschung gelten sowie ihre interdisziplinäre Fundierung ausweiten und vertiefen. Die Reihe wird herausgegeben von Andrea Bogner, Dieter Heimböckel und Manfred Weinberg.

Hamid Tafazoli (Dr. phil. habil.), geb. 1968, ist Privatdozent für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft der Universität Bielefeld. Er habilitierte sich an der Universität Bielefeld (2017), promovierte an der Universität Münster (2006), war Feodor Lynen Fellow der Alexander von Humboldt Stiftung am Department of Germanics der University of Washington (Seattle, WA) und Senior Researcher am Institut für deutsche Sprache, Literatur und für Interkulturalität der Universität Luxembourg.

Inhalt Vorwort................................................................................................................... 9 Prolog..................................................................................................................... 13 1. Einleitung........................................................................................................ 21 1.1 Interkulturelle Schreibweisen einer postmodernen Literatur.........................................21 1.2 Einbettung in den Forschungskontext............................................................................28 1.3 Analysematerial – Fragestellung....................................................................................32 1.3.1 Auswahl des Analysematerials..............................................................................33 1.3.2 Fragestellung.........................................................................................................43 1.4 Herangehensweise und methodische Ausrichtung........................................................48 1.4.1 Die Narrative interkultureller Schreibweisen........................................................53 1.4.2 Erzählen im Film....................................................................................................59 1.5 Migration und das kulturelle Gedächtnis der Literatur................................................... 62 1.6 Hypothesen..................................................................................................................... 67 1.7 Aufbau der Studie...........................................................................................................68

2. Migration im Diskurs der Literaturwissenschaft............................................ 71 2.1 Migrationsliteratur: Kulturen eines Begriffspessimismus?............................................ 72 2.1.1 Die Figur der Wertorientierung..............................................................................73 2.1.2 Symbole der Wertorientierung............................................................................... 76 2.1.3 Zusammenfassung und Ausblick........................................................................... 79 2.2 Migrationsliteratur: Begriff – Geschichte – Kontroverse................................................84 2.2.1 Zum Begriff Migrationsliteratur.............................................................................88 2.2.2 Problematisierung des Begriffes Migrationsliteratur.............................................91 2.2.3 Zusammenfassung und Ausblick.......................................................................... 119 2.3 Kulturtheoretische Grundlage zur Analyse interkultureller Schreibweisen..................122 2.3.1 Literatur und die ästhetische Erfahrung des Kulturwandels............................... 131 2.3.2 Literatur jenseits von Reduktion und Exklusion...................................................135 2.4 Literarische Formen eines deutsch-iranischen Migrationsgedächtnisses...................137 2.5 Zusammenfassung und Ausblick.................................................................................. 143

3. Mediale Bilder interkultureller Identitätsarbeit............................................ 147 3.1 Das postmoderne Subjekt oder die Freiheit des Ich, nicht Ich zu sein..........................148 3.1.1 Der Mensch und die Welt.......................................................................................150 3.1.2 Das Subjekt als Vielfalt.........................................................................................152

3.1.3 Das Subjekt als Konstruktion................................................................................157 3.1.4 Das Subjekt als Fragment.....................................................................................159 3.2 Die Freiheit des Subjekts, Ich-s zu werden....................................................................160 3.2.1 Barrieren der Subjekt-Emanzipation.................................................................... 161 3.2.2 Identitätsarbeit jenseits des Rollenzwangs..........................................................162 3.2.3 Identitätsarbeit im Modus des Erzählens.............................................................164 3.2.4 Erzählte Identitäten als interkulturelle Praxis.....................................................166 3.3 Identitätsarbeit im Spiegel narrativer Motive...............................................................167 3.3.1 Metamorphose und erzählte Identitätsarbeit.......................................................168 3.3.2 Blume und bunte Identitäten................................................................................170 3.3.3 Die Praxis der Schreib-Szene...............................................................................172 3.4 Identitätsarbeit zwischen politischem Verdruss und individuellem Verlust.................182 3.4.1 Der Vereinsamte....................................................................................................183 3.4.2 Der gescheiterte Rückkehrer................................................................................194 3.4.3 Der rückkehrende Gescheiterte............................................................................196 3.4.4 Scheitern als Motiv der Selbstfindung..................................................................198 3.5 Individuelle Prozesse der Selbstfindung.......................................................................198 3.5.1 Geschichten einer Selbstfindung..........................................................................199 3.5.2 Erfahrungsmomente der Identitätsarbeit...........................................................233 3.5.3 Identitätsarbeit im Modus des Werdens.............................................................. 256 3.6 ›Rethinking German Culture‹ – Fallbeispiele kulturellen Umdenkens..........................283 3.7 Zusammenfassung........................................................................................................322

4. Der Mythos Europa – die Metapher der Heimat – die Macht der Sprache.....329 4.1 Der Mythos Europa........................................................................................................333 4.1.1 Europa als illusorischer Ort.................................................................................337 4.1.2 Europa als Feld politischer Revolten...................................................................352 4.2 Die Metapher der Heimat...............................................................................................364 4.2.1 Heimat: Denken – Schreiben – Erzählen..............................................................365 4.2.2 Potentiale deutschsprachiger Heimat-Diskurse.................................................. 374 4.2.3 Heimat verwahren – Heimat gestalten.................................................................380 4.2.4 ›Wenn die Elbe ins Kaspische Meer fließt‹: Konstruktionen einer plurikulturellen Heimat......................................................421 4.3 Die Macht der Sprache...................................................................................................441 4.3.1 Sprache als Ort der Begegnung........................................................................... 442 4.3.2 Der polyphone Ort der Sprache............................................................................445 4.3.3 Sprach-Bilder des deutsch-iranischen Migrationsgedächtnisses......................449 4.4 Plurikulturelle Schreib-Szenen.....................................................................................466 4.5 Zusammenfassung........................................................................................................468

Epilog.............................................................................................................................. 475

Literaturverzeichnis....................................................................................................485 Primärliteratur....................................................................................................................485 Forschungsliteratur............................................................................................................489 Online-Ressourcen und Pressetexte...................................................................................523 Personenverzeichnis................................................................................................... 527

Vorwort Wie Begriffe haben auch Bücher ihre Geschichte. Als dieses Buch zwischen den Jahren 2013 und 2015 Gestalt gewann, lebten wir noch in einem ›vereinten‹ Europa. Es war keine Rede von einem Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union; ebenso wenig war das Erscheinen von politischen Figuren, die mit den Regeln der diplomatischen Rhetorik und des zivilisierten Handelns – mit Grundsätzen Europas seit 1945 – brechen und die freiheitlich-demokratische Grundordnung untergraben, im weltpolitischen Horizont denkbar. Der untergründig geformte Rechtspopulismus hatte die Oberf läche des Öffentlich-Politischen noch nicht erreicht. Seit dem Jahr 2015 ist Europa gesellschaftspolitischen Herausforderungen ausgesetzt, die je auf eigene Weise einen Wandel der europäischen Kultur erkennen lassen. Migration ist eines der Kriterien, das den Wandel verursacht und widerspiegelt. Sie tritt in den Debatten der Öffentlichkeit nur oberf lächlich in Erscheinung und liefert dabei eine Projektionsebene der politischen Rhetorik zur Artikulation homogenisierender und reduktionistischer Bedeutungen. Je nach Mode werden bestimmte Ethnien ins Visier genommen. Folglich wird der Blick auf die Fragen nach Ursache und Wirkung unsres Handelns, die wir in Europa zu stellen gelernt haben, gesperrt. Homogenisierenden und reduktionistischen Debatten scheint die grundlegende Diskussion über die Mechanismen von Ursache und Wirkung viel zu anspruchsvoll; leichter fällt es ihnen aber der Gewinn von Wählerstimmen. Der Erfolg der öffentlich-politischen Rhetorik lässt sich vornehmlich in dem durch sie konstruierten Bedeutungsfeld des Begriffes Migration beobachten. Dieser Begriff wurde semantisch auf eine Weise negativ angereichert, so dass er mit der Migration einen vermeintlichen Kulturverfall assoziiert. Dass die Menschheitsgeschichte nicht allein eine Geschichte der Sesshaftigkeit, sondern auch eine Geschichte der Migration ist, scheint kaum von öffentlichem Belang zu sein. In den Diskursen der Geistes- und Kulturwissenschaften gewannt die Figur des Migranten spätestens seit der Millenniumswende so viel an Macht, dass sie die traditionsreiche Figur des Fremden abzulösen vermochte. Sahen die von der Hermeneutik inspirierten Kulturtheorien sich einst zum Verstehen des Fremden berufen, nimmt sich die Interkulturalitätsforschung heute den Migranten vor. So ist er auch in meinem Buch die lebendige Figur. Die Auseinandersetzung mit Migration stand Ende des Jahres 2011 auf meiner wissenschaftlichen Agenda. Wir haben zwischen den ausgehenden siebziger und den endenden neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts mehrere Migrationswellen erlebt: Die Kriege in Afghanistan, im Irak, im Iran, im Balkan und nicht zuletzt in Syrien schlugen in dem vermeidlichen Ziel zur Demokratisierung

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der Länder und Regionen zwar fehl, konnten aber den dort lebenden Menschen den Heimatboden entziehen und sie in Richtung demokratischer Länder – allen voran der Bundesrepublik Deutschland – bewegen. An diesen heimatlos gewordenen Migranten wurde die neokoloniale Perspektive im Westen präfiguriert. Wer den Wandel seit dem Jahr 1979 neugierig und aufmerksam verfolgt hatte – und dies taten etwa Frank Bösch, Michael Lüders, Ian Kershaw –, er konnte in den Ereignissen seit dem Jahr 2011 die logische Folge einer westlich-hegemonialen Politik erkennen. Die genannten Beispiele für die Migration aus dem Nahen und Mittleren Osten wie aus den Gebieten des östlichen und südöstlichen Europas zeigen zusammen mit der Arbeitsmigration, der Umsiedlung von Russlanddeutschen in der Bundesrepublik und den Migrationsprozessen aus Afrika, dass unsere Geschichte der Globalisierung auch eine Geschichte der Migration ist. Nur mit gebotener Ironie sollte auf die öffentlich-politischen Debatten reagiert werden, wenn diese Migration und Migranten nach wie vor als ein Phänomen, das hauptsächlich den gefährlichen Außenraum unserer eigenkulturellen Wahrnehmung ausmacht, betrachten. Die Gründe für die ›drohende Gefahr der Migration‹ liegen, denke ich, in den Bildern der Migration als Ergebnissen sprachlicher Produktionen und in der unendlichen Vorstellungskraft der Produzenten. Sprachliche und bildliche Konstruktion der Migration machen den Forschungsgegenstand der Komparatistik und der postkolonialen Studien aus. So habe ich mich in diesem Buch für die Auseinandersetzung mit den medialen Repräsentationsformen der Migration entschieden. Die Durchführung dieses Plans sah sich mit der Tatsache konfrontiert, dass diese Repräsentationsformen bestimmte Bilder beleben, die in der Figur des Fremden bereits ihre Projektionsf läche gefunden haben. Diese Figur prägt die abendländische Literatur und bereichert diese mit ihren Modifikationen rhetorisch und inhaltlich. Zu diesen Modifikationen gehören auch diejenigen Techniken, welche die Kriterien, nach denen die Figur des Fremden kulturalisiert wird, aufzeigen. Mit der Übertragung dieser Techniken ließe sich die Figur des Migranten zwar erfassen, aber die Figur des Fremden durch die des Migranten bloß zu ersetzen, würde zu keiner kulturtheoretischen Erkenntnis führen. So stellte sich für mich die schwierige Frage nach den Unterscheidungskriterien der Repräsentationsformen der Figuren des Fremden und des Migranten sowie nach dem analytischen Potential ihrer unterschiedlichen Repräsentationsformen. Diese Frage konfrontierte mich mit einer noch schwierigeren Aufgabe, die darin bestand, das weite Feld der Primär- und Sekundärliteratur über Migration einzugrenzen und theoretisch auszuarbeiten. Dabei stellte ich fest, dass die Migrationsprozesse aus dem Iran zwar aus der sozialogischen und historischen Perspektive teilweise diskutiert worden sind, jedoch nicht aus der Perspektive der Literaturwissenschaft, obwohl iranische Autoren bereits seit den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts deutschsprachige Werke publizieren. Hinzukam die Tatsache, dass die Iraner erst seit den ausgehenden 1970er Jahren immer mehr ihr Land verließen und heute noch verlassen. Gründe für ihre Migration liegen auf der Hand: die Islamische Revolution (1979), der Irak-Iran-Krieg (1980-1988) und die Etablierung der theokratischen und fundamentalistischen Islamischen Republik nach 1979. So lässt sich die erste Migrationswelle in der modernen Geschichte des Landes auf die ausgehenden siebziger Jahre datieren. Folgt man Frank Böschs jüngst erschienener Studie Zeitenwende 1979, so fallen die Migrationsprozesse iranischer Staatsbürger in eine Zeit, in der »die Welt von heute begann« (Bösch). Es schien mir also nicht sinnvoll, literarische Repräsentationsformen der Migration

Vorwort

am Beispiel der deutschsprachigen Autoren aus dem Iran losgelöst von ihren historischen Hintergründen zu diskutieren, zumal die Geschichte der Islamischen Revolution auch eine westliche Komponente hat. Als Ausdruck für diesen Zusammenhang steht in meinem Buch der Begriff Migrationsgedächtnis. Theorien aus dem Bereich des kulturellen Gedächtnisses eröffneten mir die Möglichkeit, in der literarischen Produktion des Migrationsgedächtnisses der Frage nach dem Stiften dieses Gedächtnisses nachzugehen. Dabei entdeckte ich, dass die deutschsprachige Literatur ein Gedächtnis der iranischen Migration offenlegt, das von der Literaturwissenschaft nur bedingt befragt wird, weil es sich von dem beliebteren Gedächtnis der Arbeitsmigration absolut unterscheidet. Mit der Erkenntnis über dieses Desiderat im literarischen Gedächtnis zweier historisch und literarisch eng miteinander verbundener Kulturen wie der deutschen und der persischen war die Absicht der Studie erkannt. Sie soll am Beispiel des deutsch-iranischen Migrationsgedächtnisses auf die Diskurse der Migration in der Literatur zum einen und auf die in der Literaturwissenschaft zum anderen abzielen. Das Aufarbeiten dieser Diskurse überraschte durch die Tatsache, wie stark die Feindbilder aus dem vergangenen Jahrhundert nun in der globalen Staaten- und Gesellschaftsordnung abermals belebt werden. Handel, Austausch und Migration – aber auch Krieg und Migration – sind mit unserer Zivilisationsgeschichte verf lochten und stellen darüber hinaus die Folgen der Industrialisierung und Modernisierung dar. Die sozialen und politischen Antimigrationsbewegungen jedoch durchwandern nach einem Jahrhundert wie ein Poltergeist unsere Gesellschaft und erinnern dabei an die dunklen Seiten der Vielfalt der europäischen Geschichte. Je vertiefter mein Blick wurde und je mehr ich lernte, umso deutlicher wurde mein Bedürfnis nach dem Geschichtsbewusstsein, dessen Mangel heute beklagt wird. Um die Unverzichtbarkeit des Geschichtsbewusstseins für das Verständnis des kulturellen Wandelns hervorzuheben, wählte ich den Begriff der Transformation. Ein Literaturwissenschaftler verließe aber den Geltungsbereich seines Faches, würde er beginnen, Geschichte zu schreiben. Der in der germanistischen Literaturwissenschaft geläufige Begriff der Narration sollte den literaturwissenschaftlichen Anspruch hervorheben und diesen von dem des Historikers abgrenzen. Damit ist auch gemeint, dass es nicht um die Geschichte selbst, sondern um das Erzählen von Geschichten geht. Dass der Forschungsplan realisiert wurde und Ergebnisse erzielt werden konnten, verdanke ich einer Reihe von unterschiedlichen und miteinander zusammenhängenden Forschungsaufenthalten. Das Verhältnis von Mensch und Raum, das sich vor allem in der Frage nach Heimat wiederspiegelt, bildete den Gegenstand des Sammelbandes Außenraum – Mitraum – Innenraum. Heterotopien in Kultur und Gesellschaft, der im Jahr 2012 von Richard Gray und mir herausgegeben wurde. Insbesondere wurde die Studie Narrative kulturellen Transformationen an den Universitäten Bielefeld und Luxembourg durchgeführt. Finanziell wurden sie und ihre Veröffentlichung durch die Alexander von Humboldt Stiftung und Fonds de la Recherché Luxembourg großzügig unterstützt. Der Universität Bielefeld und der Universität Luxembourg danke ich für die institutionelle und administrative Unterstützung in Lehre und Forschung. Die Liste von Freunden und Kollegen, denen ich zu Dank verpf lichtet bin, ist zu lang. Ich möchte es aber nicht versäumen, mich bei denjenigen zu bedanken, ohne deren Hilfe die Studie in dieser Form hätte nicht entstehen können. Richard Gray und Todd Kontje möchte ich vor allem dafür danken, dass sie mich für Fragen der kulturellen Identität sensibilisiert haben. Dieter Heimböckel danke ich dafür, dass er mich

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an das Institut für deutsche Sprache, Literatur und für Interkulturalität aufnahm und mir ermöglichte, meine Studie auf ein interkulturelles Fundament aufzubauen. Klaus-Michael Bogdal bin ich zu Dank verpf lichtet, dass er mich aus der University of Washington (Seattle, WA) an seinen Lehrstuhl aufnahm und mir die Möglichkeiten zur Gestaltung und Entfaltung meiner Schwerpunkte in Forschung und Lehre eröffnete. An der Universität Bielefeld wurde die Studie Narrative kultureller Transformationen als Habilitationsschrift eingereicht (September 2016) und angenommen (Juli 2017). Das vorliegende Buch ist eine aktualisierte und modifizierte Fassung meiner Habilitationsschrift, die nun nach mühsamer Überwindung von finanziellen und administrativen Schwierigkeiten im transcript Verlag erscheinen konnte. Ich danke Andrea Bogner, Dieter Heimböckel und Manfred Weinberg für die Aufnahme meines Buches in die Reihe Interkulturalität. Studien zu Sprache, Literatur und Gesellschaft. Den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des transcript Verlags danke ich für ihre Unterstützung und für den reibungslosen Ablauf der Buchproduktion. Ralf Krautkrämer danke ich für das Lektorat meines Manuskriptes. Meiner Familie und meinen Freunden, die mich in hohen und tiefen Momenten meiner akademischen Lauf bahn unterstützend begleitet haben, bin ich zu verbindlichstem Dank verpf lichtet. Hamid Tafazoli Münster, April 2019

Prolog Das meiste, was geschieht, geschieht, bevor Ideen zu leben beginnen, könnte man in Anlehnung an Goethes Gespräch mit Schiller über Idee und Erfahrung nach der Jenaer Sitzung der Naturforschenden Gesellschaf t am 20. Juni 1794 behaupten, insbesondere wenn mit dem Begriff der Urpf lanze ein gedankliches Konstrukt gemeint ist, das dem Italien-Reisenden beim Besuch – also der Erfahrung – im öffentlichen Garten von Palermo am 17. April 1787 in den Sinn gekommen sein dürfte. Mit der Urpf lanze verbindet Goethe keinen Gegenstand der wissenschaftlichen Empirie, sondern ein gedankliches Konstrukt, mit dem er einen Ursprung, ein Urphänomen im platonischen Sinne, assoziiert. In diesem Zusammenhang wird sie zu einem Bild der Anschauung, das mit dem Auge zu sehen wäre, wobei hier nicht das Auge als Organ gemeint ist, sondern das innere Auge des Erkennenden. Es ist das Mit-Dem-Auge-Sehen, das das Erfassen des Bildes – die Idee – ermöglichen soll. Diese offenbart sich nur dem sehenden Geiste, wenn er die Pf lanzengestalten in ihren mannigfaltigen Formen zu überschauen vermag und das Gemeinsame an ihnen verstehen lernt. Das Konstrukt der Umpf lanze erschließt sich dem sehenden Geiste demnach diskursiv. Anders aber denkt Schiller, denn er betrachtet Idee und Erfahrung als zwei getrennte Welten. Die Urpf lanze stellt für ihn nicht das Ergebnis eines diskursiven, logisch ableitenden Denkens, sondern das einer unmittelbaren intuitiven Anschauung dar.1 Im Medium Literatur wird die Fähigkeit gesehen, Bilder und Ideen zu produzieren. Die Frage, die sich auf der Folie des erwähnten Gesprächs stellt, wäre also, wie es um den Zusammenhang von den durch die Literatur als Kunstform produzierten Ideen und den zu machenden oder gemachten Erfahrungen steht. Darum soll es in diesem Buch gehen. Die globale Erfahrung des Menschen als Grenzgänger prägt spätestens seit den beginnenden neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts das europäische Gesellschaftsbild, das der Ökonomie vorausgehend bereits im Diskurs der Literatur seit dem 18. Jahrhundert Ausdruck gefunden hat. Die Ausdrucksformen des Grenzgänger-Phänomens entdecken zunächst den Text, später aber auch den Film als Medien ihrer Entfaltung. Einer auf Text und Film beschränkten intermedialen Analyse möchte sich diese Studie mit dem Ziel annehmen, an den Identitäts-, Heimat- und Sprachbildern die individuelle und kulturelle Identitätsarbeit des Grenzgänger-Phänomens aufzuzeigen. Für die literarischen Figurationen des Grenzgängers stellt der historische Kontext eine Fülle von Begriffen zur Verfügung – wie etwa der Pilger, Missionar, der Entdeckungsreisende, der Handelsmann etc. Aber ein Begriff hat den mo1  Weizsäcker: Einige Begrif fe aus Goethes Naturwissenschaft, 2002, 543.

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dernen Diskurs des Grenzgängers besonders nachhaltig geprägt, nämlich der Migrant. Seine Omnipräsenz in den gesellschaftlichen Debatten unserer Gegenwart lässt sich nicht leugnen. Um die Perspektive ein wenig einzugrenzen, verbindet die Studie mit dem Begriff des Migranten eine literarische Figur, ohne die Referenzbereiche ihrer Existenz aus einer außertextuellen Wirklichkeit ableiten zu wollen. Sie begreift die Migranten-Figur keineswegs als eine empirisch nachweisbare Gegebenheit; viel mehr entdeckt sie in ihr eine Figur, die Ergebnisse poetischer Erfahrungs- und Ref lexionsmomente nicht nur trägt, sondern auch produktiv vereint. Wenn die vorliegende Studie die literarische Migranten-Figur in den Mittelpunkt stellt, so versucht sie, mit einem kritischen Rekurs auf die Gesellschaftsdiskurse der Migration auf begriff liche Verengungen aufmerksam zu machen, die sozialen und kulturellen Homogenisierungen Ausdruck verleihen und individuelle wie kulturelle Erscheinungen nur reduktionistisch zu erklären suchen. Als solch einen Ausdruck begreift die Studie den Begriff Migrationsliteratur. In ihrer Kritik an diesem Begriff möchte sie die These begründen, dass die Literatur mit der Migranten-Figur zwar das Bild eines kosmopolitischen und ref lektierenden Grenzgänger-Typus modelliert, der Diskurs der Literaturwissenschaft jedoch dieses Bild aus seiner medialen Konstruktion ablöst, indem er es am Horizont einer außertextuellen Determination auf die Kriterien des Ursprungs, der Herkunft und der Nationalität bezieht. Die explizite Analyse der Diskrepanz in den Diskursen der Literatur und Literaturwissenschaft macht den theoretischen Teil aus. Die tragende These lässt sich zunächst in drei Punkten formulieren. Erstens: Es gibt Literatur, die sich mit Migration befasst. Zweitens: Auch wenn diese Literatur teilweise von Migranten selbst geschaffen wird, so darf diese Tatsache keineswegs zu der Annahme einer Migrationsliteratur verleiten. Drittens: Denn die Geschichte dieses Begriffes semantisiert Migration stets negativ und veranlasst die Literaturwissenschaft zur unref lektierten Übernahme dieser Semantik. Der Begriff Migrationsliteratur reduziert literarische Ref lexionen auf den Herkunftsaspekt der Autoren und entspricht deshalb nicht den diskursiven Regeln literarischen Analysierens. In seiner Entwicklungsgeschichte amalgamiert er die Vorstellung einer nationalen Ursprungsliteratur, wobei die Nation, die sich in dieser Literatur wiederzufinden angibt, sich ebenso wenig präzise erfassen lässt wie der Begriff selbst. Das Auseinanderklaffen von Gegenstand und Begriff zeigt sich im Wesentlichen darin, dass der Gegenstand das Bild einer global konstruierten, sich stets verändernden Welt vermittelt, der Begriff aber Akteure der globalen Erfahrung und ihr künstlerisches Repertoire reduktionistisch und homogenisierend durch den Fixpunkt des Ursprungs definiert. Ein globales Bild erfasst Migration als ein kulturelles Phänomen. Sie geschieht, wenn Menschen sich auf die Suche nach besseren Lebensbedingungen begeben, kann erzwungen werden, wenn es um Flucht und Vertreibung, und gesetzlich geregelt werden, wenn es um die Anwerbung von Arbeitskräften geht. Diese möglichen Formen der Migration gehören inzwischen zum obligatorischen Erfahrungsbereich des modernen, global denkenden und handelnden Individuums. Diesem Erfahrungsbereich liegt die Vorstellung einer Welt zugrunde, in der Individuen ihre Identifikation zusammen mit einer offenen und sich wandelnden Kultur suchen und nicht nur unterschiedliche, sondern auch gegen-

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sätzliche Elemente mit anzweifelndem Tenor vorgeben.2 Der Begriff Migrationsliteratur aber erfasst diesen Erfahrungsbereich auf eine merkwürdige Weise, weil sie die globale Erfahrung in den Schatten der begriff lichen Dominanz stellt. Präzisiert wird die Kritik an diesem Begriff durch einen Rückgriff auf seine in der germanistischen Literaturwissenschaft gängigen Theoriebereiche. Seine theoretische Präzisierung soll die These darüber begründen, dass mit dem Begriff Migrationsliteratur die dialogische, sogar widersprüchliche Kultur in einen monologischen, einseitigen, spezifischen, ja unabänderlichen Kompromiss umgedeutet wird. Die grundlegende Frage lautet also, wie es um den Zusammenhang des literarischen Erfahrungsbereichs Migration und dessen theoretischer Analyse steht. Mit Stuart Hall (1932-2014), auf dessen Idee, nicht alles sei Text oder Diskurs, aber ohne Diskurs gebe es keine Kultur, die Konzeption dieses Buches zurückgeht, wird der Theoriebereich problematisiert. Studien über Migration und Literatur gehen bei der Etablierung des Begriffes Migrationsliteratur prinzipiell von drei Erfahrungsbereichen aus: Identität, Heimat und Sprache seien diejenigen Themen, die eine Migrationsliteratur sui generis definierten. Eine andere, entgegengesetzte Lesart schlägt diese Studie vor, indem sie die genannten Bereiche zum Kernthema der literarischen Moderne zu erklären und literarische Darstellungen der Migration auf diese Weise aus ihrem begriff lichen Korsett der Migrationsliteratur zu befreien sucht. Auf dieser Grundlage versucht die Studie, eine Poetik der Migration aufzuzeigen. Sie wendet den Blick auf literarische Modellierungen der Migration von einem essentialistischen Kulturenzwang hin zu der Perspektive kultureller Transformationen und nimmt die gegenseitige Veränderung von Migration und Kultur in den Blick. Einen Einblick in die europäische Literaturgeschichte der Moderne verschafft Paul Michael Lützeler mit Die Schrif tsteller und Europa (1992), Kontinentalisierung (2007) und Postmoderne und postkoloniale deutschsprachige Literatur (2005) und liefert dabei den überzeugenden Beweis dafür, dass die Literatur der Moderne sich schon immer für die Erfahrungsbereiche der Identität, Heimat und Sprache interessierte. Aus diesen Studien lässt sich für das vorliegende Buch die wegweisende Erkenntnis gewinnen, nicht von den erwähnten Themenbereichen per se auszugehen, um durch sie eine Migrationsliteratur zu definieren. Transformationen des Kulturellen3 werden in Lützelers eingehenden Studien auf eine besondere Weise diskutiert, so dass es angebracht wäre, die genannten Themenbereiche innerhalb von Wandlungsprozessen der Moderne zu analysieren und darauf hin zu prüfen, inwiefern die Themenbereiche sich selbst in ihrem literarischen Diskurs verändern und auf die Kultur zurückwirken. Die deutschsprachige Literatur als Untersuchungsgegenstand wird in diesem Zusammenhang besonders ertragreich sein. Die Studie bestreitet keineswegs, dass sich kaum eine scharfe Grenze zwischen Identität, Heimat und Sprache ziehen lässt. Sie geht einen Schritt weiter und behauptet, dass die beiden Letzteren sogar die Konstruktion des Ersteren ermöglichen, und das Erstere die Letzteren benötigt, um überhaupt erfahrbar werden zu können. Alle drei entstehen in sozialen Praktiken und in aus einem Dialog heraus entstehenden 2 So im Anschluss an die Interpretation von Schillers Europa-Bild in Lützeler: Kontinentalisierung, 2007, 51f. 3 Siehe zur Diskussion über den Kulturwandeln in der interdisziplinär angelegten Studie Hepp et al. (Hgg.): Transformationen des Kulturellen, 2013.

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Synthesen, deren Grundlagen, Bedeutungen und Dimensionen in der Kultur zu suchen sind, die sie gestaltet und von ihnen auch gestaltet wird.4 Bei der Analyse der kulturellen Bedeutungen und Dimensionen sozialer Praktiken spielt die Auseinandersetzung mit Dif ferenz nach wie vor eine tragende Rolle.5 Es wäre jedoch mit Blick auf die problematischen und komplexen Phänomene der Globalisierung und Zentralisierung die Frage angebracht, wie es denn um Ähnlichkeiten bestellt ist. Nehmen wir mit William E. Scheuermans Definition von Globalisierung in der Stanford Encyclopedia of Philosophy an, dass Globalisierung in einem akademischen Diskurs einen fundamentalen Wechsel in räumlichen wie zeitlichen Konturen der sozialen Existenz bedeute, so gewinnt die Frage nach den Möglichkeiten menschlichen Handelns innerhalb solcher Konturen, nach deren Wechsel und nach Bedeutungen, die das Handeln hervorbringt, an Relevanz. Mit ihrer Beantwortung geht die Feststellung einher, dass der handelnde Mensch der Globalisierung sich stets einer überwältigenden Herausforderung gegenübersieht, die ihn an den normativen und autarken Systemen, die ihn nach John Rawls Theorie der Gerechtigkeit (1971) beim Erreichen von wesentlichen Zielen seines Lebens fördern sollten, zweifeln lässt. Dort, wo Globales sich zu vollziehen verspricht, verblasst das Normale und wird funktionsunfähig. Der Vollzug des Globalen und die Unfähigkeit des Funktionalen erschüttern den Boden des Normativen. Die Erschütterung des Normativen verursacht den Zusammenbruch des sicheren Gehäuses menschlicher Existenz. Die noch herrschenden Ansichten über die Gültigkeit des über Zeiten hinaus geltenden, festen und Sicherheit versprechenden Normativen finden im Begriff Migrationsliteratur ihren Ausdruck. Seine Lesart lässt die Interpretation zu, dass Migrationsliteratur unterschwellig Implikationen eines Literatur-Nationalismus offenlegt. Keiner der Begriffe – weder der des Normativen noch der des Nationalen – kann ohne die Hervorhebung des entscheidenden Faktors Dif ferenz existieren, so dass dem Begriff Migrationsliteratur der Zusammenprall des Differierenden und des Nationalen inhärent zu sein scheint. Aus der Überlegung heraus, Literatur, will sie wirken, nähme sich Themen an, die den Gesellschaftsdiskurs gestalten, folgt die Frage, was die Idee einer Migrationsliteratur mehr als 30 Jahre nach dem Epoche machenden Fall der Berliner Mauer und der Sowjetunion, die Globalisierungs- und Migrationsprozessen in West- wie Osteuropa den Weg bahnten, noch leisten kann. Im Zeitalter des globalen Denkens von einer Migrationsliteratur zu sprechen und damit eine Literatur zu etikettieren, die von nicht-deutschsprachigen oder nach Deutschland immigrierten Autoren geschrieben ist, steht im Widerspruch zum Zeitgeist. Denn wozu sollte eine Erscheinung als etwas Besonderes hervorgehoben werden, auf der kulturelle Praktiken bereits längst beruhen. Literatur drückt nicht nur poetische Ref lexionen über Verbindungen und Kontinuitäten aus, sondern auch über Differenzen, Brüche und Veränderungen. Diese Poetiken werden am Beispiel des deutsch-iranischen Migrationsgedächtnisses beschrieben. Literarische Konstruktionen dieses Gedächtnisses spiegeln den Zeitgeist wider, in dem die Bundesrepublik sich selbst aber auch seine europäische Wirkung erneut zu entdecken beginnt. Die achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts bringen in ihrem Ausgang die deutsch-deutsche Wiedervereinigung hervor und machen zu4  Hall: Die Zentralität von Kultur, 2002, 113. 5  Hall: Das theoretische Vermächtnis der Cultural Studies, 2003, 46.

Prolog

gleich die Folgen der Migrationsbewegungen in der wiedervereinten Bundesrepublik sichtbar. Das deutsch-iranische Gedächtnis trägt Erinnerungen an die Migration wie an kulturellen Herausforderungen Deutschlands im Herzen Europa. Mit der Schwerpunktsetzung auf dem deutsch-iranischen Migrationsgedächtnis kann einerseits ein seit den ausgehenden achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts theoretisch bestehender interkultureller Kontext bedient werden; anderseits dürfte dieser das Augenmerk auf Desiderate richten, die der Begriff Migrationsliteratur offenlegt. Dieser scheint mir in allem, was er zu bezeichnen glaubt, ein mit Fremdheit konkurrierender Begriff zu sein, um den einst feindlichen Fremden nun freundlicher als Migranten zu adressieren. Mir scheint es, dass er mit aller Mühe auf ein Zeitalter der Globalisierung, aber nicht auf ein globalisiertes Zeitalter hindeutet. Ersteres wäre ein bloßes Etikett; im Letzteren sehe ich eine Denkweise, ja eine Idee, welche die Literatur der europäischen Moderne längst prägt. Menschen mit einer globalen Denkweise haben Ansprüche und stellen in beinahe jedem kulturellen Kontext Herausforderungen für sich und für die Gesellschaft dar. Eine dieser Herausforderungen schlägt sich im Verständnis von Kultur und Gesellschaft nieder, das nicht nur auf Differenzen, sondern auch auf Ähnlichkeiten beruht. Werden mit Differenzen trennende »Unterscheidungsmerkmale« suggeriert, so bestehe bei der Hervorhebung von Trennungsmerkmalen die Gefahr des Fundamentalismus; dieser transformiere »Unterscheidungsmerkmale in Trennungsmerkmale«; um entgegenzuwirken, müsse »das Recht auf Differenz vom Recht auf Ähnlichkeit abgelöst werden«.6 Die theoretischen Überlegungen zu dieser Ablösung werden der These über plurikulturelle Lebensformen zugrunde gelegt. Diese seien nämlich »durch die Betonung der Ähnlichkeit in der Diversität und nicht durch die Einheit trotz der Diversität« charakterisiert.7 Allerdings bedeutet, lässt sich kritisch anmerken, eine radikale Ablösung von Differenzen zugunsten der Ähnlichkeiten auch das Ende interkulturellen Denkens, denn dieses nimmt seinen Ausgangspunkt in der Annahme von Differenzen und betrachtet sie für interkulturelle Erscheinungsformen als existenziell. Wäre, so die Frage, das Denken der Differenz und der Ähnlichkeit in einem Balanceakt trotzdem vorstellbar? Läuft die grenzenlose Ausübung des Rechts auf Ähnlichkeit nicht Gefahr, Differenzen zu vereinnahmen oder sie gänzlich aufzuheben? Würde diese Ablösung nicht zu einem universalistischen Kulturkonstrukt führen? Die Antwort sucht diese Studie in der Auseinandersetzung mit dem kulturellen Gedächtnis8 der Migration. Am deutlichsten lässt sich der Ähnlichkeitsaspekt dort ausarbeiten, wo Literatur ein gemeinsames kulturelles Gedächtnis schafft. Das gemeinsame Gedächtnis der Literatur wird im Falle dieser Studie am Thema der Migration, am deutsch-iranischen Migrationsgedächtnis als Referenzbereich dieses Themas und an ästhetischen Formen dieses Gedächtnisses rekonstruiert. Am Gewebe des deutsch-iranischen Migrationsgedächtnisses wird die Ansicht problematisiert, als gehe es doch um zwei an den Migrationsprozessen beteiligte Entitäten. Der Eindruck ist nur bedingt richtig: Die 6  Bhatti: Heterogenität, Homogenität, Ähnlichkeit, 2015, 131. 7 Ebd., (Hervorhebung von H.T.). Siehe zu Ähnlichkeit als kulturtheoretischem Paradigma Anil Bhatti et al.: Ähnlichkeit, 2015, 7-26. 8   Siehe zum Begriff des kulturellen Gedächtnisses im Medium der Schrift Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, 2005.

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Erfahrungen der Migration vollziehen sich innerhalb von zwei Kulturbereichen des deutschen und des iranischen. Doch diese sind bei Weitem keine Entitäten, sondern werden erst in der Literatur konstruiert. Es gilt, die Differenz- und Ähnlichkeitsmomente dieser Konstruktion im individuellen Gedächtnis der an den Prozessen von Migration und Transformation beteiligten Figuren zu untersuchen, aus dem kulturellen Gedächtnis der Literatur Momente der Ähnlichkeit und der Differenz zu rekonstruieren und ihr Verhältnis zueinander darzustellen. Der anvisierte Zeitraum setzt im Deutschland des Wirtschaf tswunders ein und erfasst dann die Zeitspanne der beginnenden achtziger Jahre, in der sich ein deutsch-iranisches Migrationsgedächtnis erst zu gestalten beginnt. Durch den Fall der Berliner Mauer (1989) beginnt schließlich eine neue Phase des deutsch-iranischen Migrationsgedächtnisses. Mit anderen Worten wird der Fall der Berliner Mauer als Symbol dienen, an dem der Balanceakt von Differenzen und Ähnlichkeiten im kulturellen Gedächtnis hergestellt werden kann. An den Rekonstruktionen des kulturellen Gedächtnisses dieser Zeitspanne wird sich die Generationsfrage als besonders ertragreich erweisen. Auf diese Frage geht Paul Michael Lützeler ein und diskutiert sie im Anschluss an Walter Scotts Charakterisierung des historischen Romans. Gattungsspezifisch befasste sich der historische Roman mit den früheren Phasen, die mindestens sechzig Jahre, d.h. etwa zwei Generationen, zurückliegen müssen, der Zeitroman aber mit den naheliegenden Phasen des kulturellen Gedächtnisses.9 Zwar geht es mir nicht um eine gattungsspezifische Analyse, aber die Unterscheidung der Vergangenheitsabschnitte wird bei der Generationsfrage im kulturellen Gedächtnis der Literatur eine wichtige Rolle spielen.10 Im Vordergrund steht also die Frage danach, welche Rolle der Generationsaspekt bei der Entstehung von ähnlichen und differierenden Momenten des kulturellen Gedächtnisses spielt. Da das kulturelle Gedächtnis der Literatur ausschließlich im Erzählen Ausdruck findet, wird die Figur des Migranten – der Protagonist bei Inszenierungen von Erinnerungen – auch im Kontext narrativer Fiktionen erfasst. In diesem Kontext wird sie in erster Linie durch Erfahrungen des Verlustes lokaler, ethnischer, kultureller und persönlicher Bindungen positioniert. Im literarischen Raum dieser Erfahrungen sind Migration und ihr erzähltes Gedächtnis das einzig verbindliche Narrativ. Verlusterfahrungen werden aber durch das Einschreiben des Migranten in eine neue Gemeinschaft mit einem anderen Gedächtnis verarbeitet, ja zum Teil überwunden. Wenn die Figur des Migranten selbst zu Wort kommt, um ihre Geschichte zu erzählen, so geht es um die Erprobung dieser Geschichte in narrativen Techniken und um die Momente der Differenz und Ähnlichkeit bei der Codierung und Decodierung des kulturellen Gedächtnisses in der Erzählung. Die Analyse dieser Momente in Korrelation zu anderen ermöglicht einen Blick auf die Migration als kulturelles Phänomen. Migrations- und Flüchtlingsdebatten unserer Zeit haben zunächst die Diskussionen in den neunziger Jahren wieder belebt. Sie haben aber auch gezeigt, wie relevant die Auseinandersetzung mit dem Thema der Migration und der Frage nach kultureller Identifikation in einem Europa zwischen Industrialisierung und Globalisierung ist. Die aktuellen Grenzziehungen lassen sich nicht nur geographisch beobachten, sondern auch in den politischen und mit Einschränkung auch in den intellektuellen Debatten. 9  Lützeler: Bürgerkrieg und Legitimität, 1997, 21-50; Lützeler: Kontinentalisierung, 2007, 186f. 10   Siehe zu diesem Aspekt mit Blick auf die deutschsprachige Gegenwartsliteratur nach 1989 Gansel: Formen der Erinnerung in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, 2010, 19-35.

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Auf Konfrontationskurs, lässt sich vereinfacht feststellen, begeben sich Ideologien und Wertvorstellungen. Beide sind dem Faktor der Zeit und somit auch der Relativität unterworfen, was häufig unbeachtet bleibt. Den Anhänger des Ideologischen scheint sich Europa immer mehr zu einem identitätslosen Gebilde zu entwickeln, in dem der Staat und die nationale Gesetzgebung immerfort an Souveränität zu verlieren drohen. Migranten, so zeigt zumindest die Literatur, sind Akteure dieser Veränderungsprozesse, obwohl sie ihre eigenen Geschichten haben, die selten eine europäische sind. Sie werden deshalb im gesellschaftspolitischen Diskurs als Sonderfall betrachtet. Dieser Annahme, in der sich auch der Begriff Migrationsliteratur entwickelt hat, wird hier widersprochen. An der Migranten-Figur lässt sich eine zweifache Fähigkeit ablesen: Sie ist in der Lage, einerseits Europa und seine Geschichten mit sich selbst zu konfrontieren und anderseits Geschichten neuer, zusammengesetzter Gemeinschaften in Europa zu erzählen. In diesen Geschichten wird das eingefordert, was Europa einst versprach, nämlich Werte wie Auf klärung, Freiheit und Gerechtigkeit. Literarische Schilderungen dieser Fähigkeit gestalten eine Erzählwelt, in der stets ein dynamisches Spannungsfeld zwischen Vergangenheit und Gegenwart beobachtet wird. Wenn die kulturwissenschaftlich orientierte Narratologie in der Erzählung die »Grundform von Kultur« und einen »zentrale[n] Mechanismus der Verfeinerung und Konsolidierung menschlicher Praktiken und Diskurse«11 ausmacht, so müsste, um diese erst begreifen zu können, nach dem Spannungsfeld des Geschichtlichen und Gegenwärtigen gefragt werden. Geleitet wird dieser Versuch insbesondere durch den theoretischen Zugang und durch die Hierarchie der Texte (1) in der Postmoderne und in den postmodernen Kulturtheorien der Literaturwissenschaft (Paul Michael Lützeler), (2) durch Verknüpfungen der in der Germanistik bereits etablierten kulturtheoretischen Zugangsmöglichkeiten zur Analyse literarischer Texte mit denen der Cultural Studies (Stuart Hall) und der Postcolonial Studies (Homi Bhabha) trotz Differenzen der anglo-amerikanischen und deutschsprachigen Forschungsansätze in der Germanistik, (3) durch das von diesen Differenzen herrührende Potential in der germanistischen Interkulturalitätsforschung,12 (4) durch konstruktive und anregende Diskussionen über Literatur als Diskurs, Literaturwissenschaf t als Disziplin (Leslie Adelson) und (5) nicht zuletzt durch Potentiale kultursemiotischer Analysemodelle (Umberto Eco) in der germanistischen Erzähltheorie (Albrecht Koschorke). Auf dieser Grundlage ist beabsichtigt, Migration als nur ein Thema neben vielen anderen Themen, für die sich Literatur seit der Moderne interessiert, zu betrachten. In diesem Sinne wird Migration zum Gegenstand literarischer Beobachtung und nicht zum Element kulturellen Absorbierens. Im literarischen Diskurs der Migration wird diese beschreib-, konstruier- und interpretierbar und kann nicht ausschließlich durch Kausalität, sondern durch Korrelation und Kohäsion kultureller Verhältnisse erfasst werden. Migration gilt in diesem Zusammenhang als Grundthema der Kultur; der Status der Migranten-Figur als Sonderling im Sinne des Begriffes Migrationsliteratur verliert demnach an Funktion und Bedeutung.

11  Breithaupt: Kultur der Ausrede, 2012, 10. 12 Wenn im Folgenden von der germanistischen Interkulturalitätsforschung gesprochen wird, so ist mit ihr nicht das Fach der interkulturellen Germanistik, sondern die germanistische Forschungsrichtung, die etwa an den Universitäten Luxemburg, Trier und Hamburg praktiziert wird, gemeint.

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Auf die Korrelation und Kohäsion der kulturellen Verhältnisse im literarischen Diskurs der Identitätsarbeit zielt auch der Titel der Studie ab. Wenn er von Narrativen kultureller Transformationen spricht, so legt er den Schwerpunkt auf Erzähltechniken der Migration und visiert dabei die Fragen an, wie Erzählungen Kultur erzeugen und wie Migration in der medialen Kulturerzeugung erzählt wird. Die Pluralform der Transformation spielt auf transmissive Verhältnisse – hier auf die von Migration und Kultur – an. Während Migration zu kulturellen Veränderungen führt, wird sie selbst von Kultur beeinf lusst.

1. Einleitung 1.1 Interkulturelle Schreibweisen einer postmodernen Literatur »Es ist falsch, über Autoren nur mit dem Blick auf die Nationalliteratur zu reden, der sie angehören«, bekräftigt Salman Rushdie (*1947, Mumbai)1 und spricht von einer internationalen Republik der Autoren2 jenseits der National- und Sprachgrenzen, die »eine andere Art von Land« verkörpere, dessen Bürger Schriftstellerinnen und Schriftsteller seien.3 Dieses Land sei nach Rushdie ein Ort der Zusammenführung von Literatur und Literaten: Die internationale Republik der Autoren spiegelt zum einen keinen topographischen Ort wider, sondern konstruiert einen fiktiven, an dem zum anderen die Auffassung von Nation kein Trennungsmerkmal suggeriert. Vielmehr scheint dieser fiktive Ort Nationen in ein verbindendes Verhältnis zueinander zu setzen. Die internationale Republik der Autoren konstruiert in Rushdies Gebrauch eine Metapher, die auf keinen »vorher existierenden Raum« hindeute, sondern »ihn allererst« eröffne.4 Genauso wenig, wie sie einen topographischen Ort widerspiegelt, repräsentiert sie in ihrem metaphorischen Gebrauch politische oder ökonomische Prämissen, denn in ihr interagieren Autoren lediglich durch ihre Literatur. Die internationale Republik der Autoren stehe, so fährt Rushdie fort, für ein gemeinsames Interesse am literarischen Engagement, dessen besonderes Merkmal, lässt sich daran anschließen, im Umgang mit liminalen und porösen Räumen der Kultur zum Vorschein kommt, die einerseits den postmodernen und demokratischen Gesellschaften einen Spiegel vorhalten und sie andererseits auf diese Weise zugleich repräsentieren und kritisieren.5 Mit der Metapher der internationalen Republik der Autoren wird der konservative, national orientierte und normierende Blick auf Literatur in Frage gestellt. Für diese 1   Wenn ich Schriftsteller mit ihrem Geburtsjahr und Geburtsort nenne, so geht es mir nicht darum, diese Daten in die Interpretation einfließen zu lassen. Keineswegs soll aus diesen Angaben für die Werkinterpretation Kapital geschlagen werden. 2   Bei Personenbezeichnungen, solange es sich nicht um eine spezifische Person oder Figur als Referenz der Aussage handelt, habe ich mich in den folgenden Formulierungen aus Gründen besserer Lesbarkeit für die Verwendung des generischen Maskulinums entschieden, mit dem sowohl auf das weibliche als auch auf das männliche Geschlecht verwiesen wird. 3   Rushdie: Der Boden unter meinen Füßen, 2013, 16. 4   Martyn: »Schiffe der Wüste«, 2005, 724. 5   Ich verwende den Begriff der Liminalität im Sinne von Turner (Hg.): Liminalität und Communitas, 1998, 251-264, den Begriff der porösen Räume im Sinne von Foucault: Die Heterotopien, 2005, 10.

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Lesart spricht Rushdies Rezeption des Goethe’schen Weltliteratur-Begriffes in demselben Beitrag. Der Zusammenhang zwischen der Republik der Autoren und dem Begriff der Weltliteratur lässt sich sowohl aus dem Bedeutungsreservoir des Weltliteratur-Begriffes selbst ableiten als auch aus dem, was Rushdie mit ihm verbindet. Mit dem Begriff der Weltliteratur artikulierte Goethe bereits 1827 eine Idee (und keine empirische Erfahrung), Literatur nicht national zu betrachten, sondern in ihr eine grenzüberschreitende Prozesshaftigkeit zu erkennen. Diese beschreibt der West-östliche Divan (1819/1827), in dessen Zusammenhang der Begriff Weltliteratur die literarische Öffentlichkeit erreichte, unter anderem am Beispiel der Übersetzung. Als Idee gewinnt der Begriff Weltliteratur einen »Avantgardecharakter«, weil er in seiner Entstehungszeit eine andere Idee widerlegen sollte, die bereits durch Herders nationale Kulturauffassung salonfähig geworden war.6 Indem Rushdie nun die Republik der Autoren an die Idee der Weltliteratur anschließt, intendiert er die Prozesshaftigkeit der Literatur durch ihre Inter-Nationalisierung, auf die es auch Goethe ankam. Die Korrelation zwischen Internationalisierung und Weltliteratur ist keine isolierte Erscheinung, sondern spiegelt sich auch in den Auseinandersetzungen mit anderen, vornehmlich orientalischen Kulturen wider, was sich später als exemplarischer Gegenstand von Kulturtheorien profilieren konnte.7 Der Begriff der Weltliteratur dient in diesen Theorien dazu, über Wechselwirkungen der Literaturen hinaus auch für eine Poetik zu diskutieren, die Vertreibung, Exil, Diaspora, Migration und nicht zuletzt Verschiebungen des Kulturellen symbolisch festhält.8 Verschiebungen des Kulturellen durch Poesie näherzubringen und Poesie als Medium zu verstehen, das Verschiebungen gar verursacht, lässt sich als das entscheidende Erweiterungskriterium in den Kultur- und Literaturwissenschaften auffassen, auf das sich die Poetik der Migration konzentrieren sollte. Auf fiktive Orte des Literarischen und auf ästhetische Erfahrungen kultureller Verschiebungen dürfte auch Goethe angespielt haben, würde man der Lesart des Weltliteratur-Begriffes als »eine[r] Art internationaler literarischer Republik«9 zustimmen. Der Weltliteratur-Begriff konstruiert in Rushdies Auslegung den weiten Horizont, in dem Schriftsteller schreiben und gelesen werden sollten. Mit ihm sei der Zusammenhang zwischen dem Weltliteratur-Begriff und der internationalen Republik der Autoren nicht als Loslösung der Autoren von ihren jeweiligen Denkhorizonten zu verstehen. Er ermöglicht die Vernetzung ihrer Denkhorizonte und bringt durch sie etwas Neues hervor, das sich in literarischer Produktion und Rezeption zu erkennen gibt, die sich nicht allein an einer singulären Denkweise abmessen, sondern den Blick in mehrere unterschiedliche Richtungen führen sollen, die sich in einer Welt, wie sie der Divan zu gestalten angibt, begegnen. Ihre Koexistenz und Kohäsion bestehen, wie aus der Metaphorik der Republik hergeleitet werden kann, in dem Aufeinandertreffen von Ähnlichkeiten und Differenzen an einem Ort. Dieser poetische Ort zeichnet sich dadurch aus, dass sich Ähnlichkeiten und Differenzen in ihm entfalten und durch ihre Entfaltung eine Dynamik erzeugen können, mit der die Produktion und Konstruktion von liminalen Räumen einhergeht.

6  Lützeler: Kontinentalisierung, 2007, 87. 7 Siehe hierzu bspw. Bhabha: The Location of Culture, 2000, 12. 8  Bhabha: Nation and Narration, 1990, insbesondere 291-322. 9  Lützeler: Kontinentalisierung, 2007, 106.

1. Einleitung

Als ein solcher Ort lässt sich die internationale Republik der Autoren verstehen. An diesem Ort ist der weite Denkhorizont jedes einzelnen Autors als Entstehungsgrundlage seiner Literatur zwar erkennbar, seine Literatur aber lässt sich nicht allein auf jene einzelne Denkweise beschränken. Rushdies Beispiel des West-östliche Divan ist in diesem Zusammenhang aus zwei Gründen berechtigt: Zum einen ist im Kontext des West-östlichen Divan auch der Weltliteratur-Begriff entstanden. Zum anderen gestaltet der Divan einen Ort, der Liminalität, Porosität, Ambivalenz und Polyvalenz poetisch ref lektiert. Er führt durch Über-setzung den Horizont eines einst schöpferischen, aber zeitlich wie räumlich weit entfernten persischsprachigen Dichters mit dem eines in der Gegenwart des Werkes produktiven deutschsprachigen Dichters zusammen und schafft aus dieser Zusammenführung ein Werk weltliterarischen Ranges. Sein Symbol ist nach Anspielungen des Dichters das Ginkgo-Biloba-Blatt, das die Poesie des Divan als eins und doppelt in Erscheinung treten lässt.10 Dieses Symbol zeigt das Zusammentreffen von Differenzen und Ähnlichkeiten gleichzeitig – für das Verständnis des heutigen Lesers auch gleichörtlich – und legt zudem offen, dass dieses Zusammentreffen ohne Prozesse der Über-setzung undenkbar wäre. Dass eine Weltliteratur ohne Übersetzung keine internationale Wirkung erzielt, geht aus Goethes wiederholten Ausführungen in der Einleitung11 und im Abschnitt Übersetzung12 in den Noten und Abhandlung zu Besserem Verständnis des West-östlichen Divan hervor. Der »Wechseltausch« des Übersetzens leitet in einem Brief an Carlyle vom 15. Juni 1828 zu einem Gedanken über, dass »der Übersetzer nicht nur für seine Nation allein arbeitet, sondern auch für die[,] aus deren Sprache er das Werk herüber genommen« habe.13 Die »Bezüge vom Original zur Übersetzung« werden in einem früheren Brief an Carlyle vom 1. Januar 1828 in eine Beziehung zueinander gesetzt, »welche die Verhältnisse von Nation zu Nation am allerdeutlichsten aussprechen und die man zur Förderung der vor- und obwaltenden allgemeinen Weltliteratur vorzüglich zu kennen und zu beurtheilen hat«.14 Übersetzung wird in Goethes Verständnis zu einem Phänomen der Grenzüberschreitung und der Erzeugung von liminalen Räumen. Rushdies und Goethes Symbolik bringt die Idee über die poetische Gestaltung von Differenzen und Ähnlichkeiten zum Ausdruck und gibt bei der Erörterung der Frage, wie sich solch eine Idee in der kulturellen Praxis möglicherweise entfalten könnte, Impulse. Die internationale Republik der Autoren ließe sich als Metapher für eine kulturelle Praxis der Postmoderne verstehen, an der auch die Darlegung gesellschaftlicher Mängel und Desiderate abgelesen werden könnten. Diese Praxis besitzt ein (selbst-) kritisches Potential, das die jüngsten Studien der Kulturwissenschaften in dem Akt der »Befreiung der Gesellschaft«15 von ihren Mängeln und in der Regulierung von asymmetrischen Verhältnissen sehen. Ein solcher Akt lässt sich mit Bhattis Interpre-

10  Tafazoli: Heterotopie als Entwurf poetischer Raumgestaltung, 2012, 53f. 11   Goethe: FA I, 3, 138f. 12 Ebd., 280-283. 13   Goethe: FA II, 10, 620. 14   Goethe: WA IV, 43, 222. 15  Bhatti: Kulturelle Ähnlichkeit bedeutet nicht, daß unsere Hemden gleich sind, 2011, 71.

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tation von Goethes Begriff der Metamorphose als Prozess kultureller Transformationen begreifen.16 Im Diskurs der Differenz und Ähnlichkeit als Anliegen interkultureller Betrachtungsweise widmet sich die vorliegende Studie konkret der Analyse der Poetik kultureller Verschiebungen, Veränderungen und Über-setzungen. Sie versucht, den Beweis dafür zu erbringen, dass kategoriale Bestimmungen, auf deren Basis der Begriff Migrationsliteratur entstanden ist, den genannten Kriterien kaum Aufmerksamkeit schenken, weil dieser Begriff Unterscheidungsmerkmale in Trennungsmerkmale umwandelt. Angestrebt wird auch der Beweis dafür, dass Migration zwar nicht als Kategorie, aber als Thema Schreibweisen offenbart, die an sich interkulturell sind und deshalb zu Trennungsmerkmalen des Begriffes Migrationsliteratur im Widerspruch stehen. Das Verständnis über interkulturelle Schreibweisen benötigt einleitend einige Präzisierungen. Was bedeutet die interkulturelle Schreibweise, oder besser gefragt: Was ist an dieser Schreibweise interkulturell? Wie ist das Verhältnis zwischen einer interkulturellen Schreibweise und ihrer Zuordnung zu einer Epoche geregelt? Das Verständnis der interkulturellen Schreibweise und seine notwendige Einschränkung ergeben sich aus den Kriterien, welche diese Schreibweise aufweist. Dass mit dem Interkulturellen als Label wissenschaftlich wie pragmatisch umgegangen wird und dass die Umgangsweisen sich größtenteils voneinander unterscheiden, steht außer Frage17 und soll im Zusammenhang mit der vorliegenden Studie nicht diskutiert werden. Hingegen werden Analysemodelle der germanistischen Interkulturalitätsforschung anvisiert, die für Offenheit und Vielfalt auf zweifache Weise plädieren: Zum einen geht es um das »Verstehen von Texten als einem offenen Prozess der Interkulturalisierung, welcher durch die Interpretierenden fortgeschrieben wird«,18 und zum anderen um die Auffassung von der »kulturellen Differenz als eine der elementaren Antriebskräfte literarischer Produktivität überhaupt«.19 Diese grundsätzliche Aufgabenzuschreibung kann allerdings nur dann ertragreiche Ergebnisse versprechen, wenn sie an konkreten Beispielen präzisiert wird. Während das semiotische Verständnis eines Text-Modells und eines Labyrinths der Interpretation20 in dem »offenen Prozess der Interkulturalisierung« methodisch nicht ausgereift ist, herrscht über die theoretische Hinwendung der Germanistik zu diesem Prozess im Sinne ihrer »Neuorientierung […] hin zu einer Philologie kultureller Differenzkonstruktion« Konsens.21 Das Spannungsverhältnis zwischen Theorie und Methode will die Studie für sich gewinnen. Es werden also 16  Bhatti: Heterogeneities and Homogeneities, 2014, 17. – »Europe proceeds from the homogeneity of many post enlightenment nation-states to a larger heterogeneous political and cultural entity called Europe« (Bhatti: Language, Homogeneities, Heterogeneities and Similarities, 2015, 3). 17   Siehe zur Diskussion Gutjahr: Interkulturalität als Forschungsparadigma der Literaturwissenschaft, 2012, 17-22. 18 Ebd., 19. 19  Honold: Die interkulturelle Situation und ihre poetische Produktivität, 2012, 24. 20 Siehe ausführlich Eco: Lector in fabula, 1987, 83-106; zu diskursiven Strukturen des Text-Modells ebd., 107-127; Eco: Die Grenzen der Interpretation, 1992. 21   Gutjahr: Interkulturalität als Forschungsparadigma der Literaturwissenschaft, 2012, 17. – Bereits 1987 wies Norbert Mecklenburg auf das besondere Interesse der interkulturellen Perspektive an kultursemiotischen Ansätzen hin (Mecklenburg: Über kulturelle und poetische Alterität, 1990, 80-102). Dieses Inter-

1. Einleitung

die Ebenen der Produktion und Rezeption angesprochen, was die Konzentration auf sprachliche und ästhetische Konstruktionen kultureller Differenzen und deren Verständnis bei den Prozessen der Verschiebungen, Veränderungen und Über-setzungen fordert. Fremdbeschreibungen und Alteritätskonstruktionen werden nicht als per se gegeben aufgefasst; in ihnen werden vielmehr die Darstellungen von Formen der Liminalität, Transformation, Durchdringung, Mischung und Kreuzung offengelegt.22 Diskussionen und Entwicklungen der interkulturellen Ansätze seit deren Etablierung in den 1980er Jahren verdeutlichen,23 dass Auseinandersetzungen mit (post-) nationalen, (post-)kolonialen und (post-)migratorischen Erscheinungsformen stets eine Reihe von sprachlichen Mustern abrufen, durch die interkulturelle Phänomene beschrieben werden. Damit erfolgt der Übergang zur Frage nach der Bedeutung der interkulturellen Schreibweise. Sie lässt sich anhand sprachlicher Muster, Ausdrücke und Bilder auf der Seite der »poetische[n] Produktivität«24 beantworten. Einen umfassenden Einblick in Möglichkeiten und Varianten interkultureller Schreibweisen verschaffen bereits die Beiträge des Bandes Interkulturalität als Herausforderung und Forschungsparadigma der Literatur und Medienwissenschaft. Ihnen gemeinsam ist die Herausarbeitung mehrerer sprachlicher Mittel im Hinblick auf die kulturelle Differenz und poetische Produktivität. Hieraus lassen sich die zuvor angesprochenen möglichen Ausdrucksweisen und sprachlichen Mittel, an denen sich der Umgang mit kulturellen Differenzen ablesen lässt, als Kriterien ableiten.25 Mit Blick auf interkulturelle Schreibweisen im Sinne von poetischer Produktivität kann der Übergang zum letzten Teil meiner Fragestellung erfolgen: Wie ist es um das Verhältnis der interkulturellen Schreibweise und ihrer epochalen Zuordnung bestellt? Es herrscht darüber Einigkeit, die interkulturelle Schreibweise als wesentliches Kriterium der Literatur seit der Moderne zu betrachten; sie wird sogar mit der Auffassung einer ›Zweiten Moderne‹ in Verbindung gebracht.26 Setzt man mit Reinhart esse greife ich auf, lenke es aber nicht wie Mecklenburg auf das Phänomen der kulturellen Alterität, sondern auf das der kulturellen Identität. 22 Ebd., 18. 23 Leggewie et al.: Was heißt Interkulturalität?, 2010, 11-32. 24  Honold: Die interkulturelle Situation und ihre poetische Produktivität, 2012, 24. 25   Weiterhin zählen zu den Kriterien der interkulturellen Schreibweisen Mehrsprachigkeit, narrative Figurationen kultureller Begegnungen, Artikulationen des Verhältnisses zwischen dem kulturellen Gedächtnis und dem Text als dessen Medium, Symbolik und Metaphorik der Grenzüberschreitung, die Versprachlichung von Migrationserfahrungen, Konstruktionen von Doppel-Figuren, Übersetzungen, liminale Räume, Versetzung von Handlungsszenen beispielsweise in heterogene Kulturen, Ein- und Ausgrenzung sowie hybride Konstruktion von Kommunikation und Interaktion (Siehe zur Diskussion Schenk et al. (Hgg.): Migrationsliteratur. Schreibweisen einer interkulturellen Moderne, 2004). 26  Andreotti: Die Struktur der modernen Literatur, 2014, 82-85. Allerdings existieren über die Frage danach, wo literarische Themen, Motive und Gattungen im Spannungsfeld des Klassischen und des Modernen zu verorten seien, Bände (Schweikle et al. (Hgg.): Metzler Literatur Lexikon, 1990, 239f., 308f.). Geht man in der Beschäftigung mit der Moderne von dem Begriff selbst aus, der sich im Jungen Deutschland einbürgerte, so sei auf den Philosophen Theodor Mundt (1808-1861) hinzuweisen, der die Moderne mit »ein[em] Verzweigen und Ineinandergreifen der verschiedenen Richtungen der Literatur« kennzeichnet, die »unsere gegenwärtige Entwicklungsstufe gegen alle früher dagewesenen eigenthümlich charakterisiert« (Mundt: Kritische Wälder, 1833, VI). Hier findet man lediglich eine allgemeine Grundlage vor, auf die sich literarische Strömungen historisch, typologisch und ästhetisch nur allge-

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Koselleck (1923-2006) die Prämisse, »jede Modernität [sei] dazu bestimmt […], sich selbst zu überholen«,27 so würde jede Gegenwart der Moderne auf hören, als abgrenzbarer Fixpunkt zu existieren; vielmehr »erscheint sie als Fülle ständig neuer Perspektiven«.28 Entscheidend ist, die »nominelle Gleichheit aller Menschen und das Streben nach Demokratie« als »wesentliche Bestandteile« der Moderne zu betrachten.29 Dazu gehört infolge der Industrialisierung und der nunmehr erforderlichen großen Zahl an Arbeitskräften auch Mobilität. Dieses Phänomen ist die historische Voraussetzung für die Analyse der Migrationsprozesse. Die Bezeichnung ›Zweite Moderne‹ scheint aus Kosellecks historischem Blickwinkel zu Recht verwirrend, ja überf lüssig, zumal sie die gerade nicht unproblematische These von der »Verlängerung der Moderne in die Postmoderne«30 andeutet. Ursprünglich wurde der Begriff ›Zweite Moderne‹ von dem Kunsthistoriker und Architekturtheoretiker Heinrich Klotz (1935-1999) geprägt.31 Der Soziologe Ulrich Beck (1944-2015) verwendet ihn mit der Betonung der Aspekte der Selbstref lexion, Ökologie und Risikofreude für seine Thesen über eine sich im Zuge der wirtschaftlichen und gesellschaftspolitischen Globalisierung verändernde Welt.32 Becks Begriff ›Zweite Moderne‹ bedeutet aus dem kritischen Blickwinkel des Literaturwissenschaftlers Paul Michael Lützeler eine »Neu- bzw. Andersformulierung«, die »nur eine Akzentuierung der Moderne in der Postmoderne« erzielt, wobei der Begriff Postmoderne stärkere Tendenzen der Revision und der kritischen Distanz abverlangt als der der ›Zweiten Moderne‹.33 Lützeler fasst das postmoderne Wissen in der Betonung der »Bedeutung des Geschichtlichen«, in der Stärke der »demokratische[n] Pluralismusauffassungen« wie in der Förderung der »emanzipatorische[n] Kulturdiskurse«34 und versteht im Anschluss an Lyotards Studie La condition postmoderne (Paris, 1979)35 die Postmoderne als »Problematisierung der Moderne«.36 Ästhetisch drückt sich dies bei Lyotard in der literarischen Form der Kurzerzählung aus. Ein weiteres Kennzeichen der Postmoderne leitet Lützeler aus Ihab Hassans und Leslie Fielders These über »die Doppelt- und Mehrfachkodierung der postmodernen Literatur« ab.37 Für die Postmoderne wären

mein berufen können. Charakteristisch ist diese Definition der Moderne nur deshalb, weil sie zeigt, dass die Bestimmung dieses Begriffes wie die der Epoche selbst mit Blick auf Dimensionen der Vergangenheit und der Gegenwart immer wieder neu bestimmt werden muss (Koopmann: Das Junge Deutschland, 1993, 40-48). Die Auseinandersetzung mit diesem Spannungsfeld ist hier nicht das Ziel. Vielmehr beschränke ich mich auf einen gemeinsamen Kontext, der die interkulturelle Schreibweise im Sinne des Projekts Moderne begreifen lässt. 27  Koselleck: Das Zeitalter der europäischen Revolution, 1969, 303. 28   Müller: Moderne, 2004, 467. 29 Ebd., 467. 30 Becker et al. (Hgg.): Literarische Moderne, 2007, 11. 31  Klotz: Kunst im 20. Jahrhundert, 1994. 32 Beck et al. (Hgg.): Riskante Freiheiten, 1994; Beck et al.: Reflexive Modernisierung, 1996. 33  Lützeler: Postmoderne und postkoloniale deutschsprachige Literatur, 2009, 18f., hier 19. 34 Ebd., 10. 35 Der deutsche Titel lautet: Das postmoderne Wissen (Wien, 2005). 36  Lützeler: Postmoderne und postkoloniale deutschsprachige Literatur, 2009, 12. 37 Ebd., 17.

1. Einleitung

also Pluralismus, Multikultur und die Doppel- und Mehrfachkodierung die zentralen Aspekte. Mit der Diskussion dieser Gesichtspunkte in der Literaturwissenschaft setzt sich das zweite Kapitel dieses Buches auseinandersetzt (2.3) und unterzieht sie im Kontext von Stuart Halls Kulturtheorie einer konstruktiven Kritik. Dem Pluralismus wirft Hall Dominanz vor, dem Multikulturalismus Ideologie und der Mehrfachkodierung der Kultur die unendliche Kette analysebedürftiger Interrelationen.38 Betrachten wir mit Lützeler die Problematisierung der Moderne durch die Postmoderne, so sind Halls kulturtheoretische Ansätze bei der Auseinandersetzung mit der Postmoderne durchaus ertragreich, denn um die Problematik der Moderne und der Postmoderne zu erörtern, müsste man die umstrittenen Aspekte differenziert betrachten, um ihr Potential für eine kulturtheoretische Diskussion der interkulturellen Schreibweisen ausarbeiten zu können (2.3.1-2.3.2). Auf die Mehrfachkodierung der Kultur und die unendliche Kette analysebedürftiger Interrelationen medialer Kulturbeschreibungen ist das Augenmerk gerichtet. Das bereits in die Diskussion eingebrachte Vorwort des Bandes Schreibweisen einer interkulturellen Moderne verweist auf die interkulturelle Vielfalt, die zwar seit 1900 die literarische Moderne prägt,39 heute aber unter dem Vorzeichen des Sprach- und Kulturaustauschs durch Migranten einerseits und durch die institutionalisierte Förderung (zum Beispiel in Hamburg, Luxemburg und Trier) andererseits neue Töne anschlägt. Mit der institutionalisierten Förderung geht eine diskursive Regulierung einher,40 die nur eingeschränkt zur Förderung beiträgt und deshalb kritisch untersucht werden muss. Diese Kritik basiert in der vorliegenden Studie auf folgender Überlegung: Der Band Schreibweisen einer interkulturellen Moderne geht davon aus, dass Migration als eine historisch, politisch oder sozial motivierte und gesteuerte Bewegung zugleich auch eine kulturelle Performanz bedeute, die sich in einer spezifischen Schreibweise ausdrücke.41 Dieser Ausgangspunkt bringt uns der Auseinandersetzung mit der Relation dieser Schreibweise zu den kulturellen Strömungen, in denen sie entsteht und sich realisiert, näher. Wenn die Frage nach einer Literatur gestellt wird, die sich in ihrer Schreibweise konstituiert, so werden unter der Prämisse der Relation Aspekte wie Ursprung und Herkunft einer solchen Literatur keine entscheidende Rolle spielen. Vielmehr wird die Literatur in einem ihrer wesentlichen Kriterien betrachtet, was die Neugier postmoderner Analysemethoden überhaupt erweckt, nämlich die ästhetischen Formen ihrer Schreibweisen. Ihre Dynamik gewinnen sie im Wechsel von Differenz und Ähnlichkeiten. Differenz gilt als wesentliches und Orientierung bietendes Kriterium der Alteritätstheorien und findet in diesem Zusammenhang in die Interkulturalitätsforschung Eingang.42 Hingegen ist das Kriterium der Ähnlichkeit kaum Aufmerksamkeit geschenkt worden. Ähnlichkeit beruht auf einer Teil-Gleichheit und ist stets auch mit Unähnlichkeit vermischt. Das Verhältnis von Differenz und Ähnlich38  Hall: Kulturelle Identität und Diaspora, 26-43; Hall: Die Frage der kulturellen Identität, 1994, 180-222; Hall: Die Frage des Multikulturalismus, 2004, 188-227. 39 Schenk et al. (Hgg.): Migrationsliteratur, 2004, V. 40  Weigel: Literatur der Fremde – Literatur in der Fremde, 1992, 182-229; Amodeo: ›Die Heimat heißt Babylon‹, 1996; Chiellino: Interkulturelle Literatur in Deutschland, 2000. 41 Schenk et al. (Hgg.): Migrationsliteratur, 2004, VIII. 42 Siehe beispielsweise Kostka et al.: Alteritätsforschung/Interkulturalitätsforschung, 2009, 33-70.

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keit ist nur scheinbar kontrastierend und ist in der Interkulturalitätsforschung deshalb produktiv, weil in ihrer Denkweise »konkurrierende Dualitäten nicht in Synthese aufgehen«.43 Die Produktivität dieser Denkweise schöpft das vorliegende Buch aus der Perspektive der Mehrfachkodierungen und Interrelationen. Grundlegend für solch eine Denkweise ist, wie es oben bereits dargestellt wurde, zunächst das Verständnis der Moderne und Postmoderne, von dem das Epochenverständnis der vorliegenden Studie ausgeht. Zygmunt Bauman spricht von der Postmoderne und Moderne nicht als konkurrierenden Denkmodellen, sondern bespricht, dass die Postmoderne mit Pluralismus und Ambivalenz der Moderne zur vollen Entfaltung verholfen habe.44 Aus in der Literaturwissenschaft geht es bei der Moderne und der Postmoderne nicht um oppositionelle Konzepte der »Negation und Überwindung«.45 Vielmehr wird die Postmoderne als »Stadium der Moderne in ihrer Selbstkritik und Selbstref lexion«46 aufgefasst. Zwischen ihnen besteht also kein Bruch; das Verhältnis der Postmoderne zur Moderne wird in der Funktion vermittelnder Konzepte der »Entfaltung und Transformation« im Sinne von »Kritisieren, Korrigieren, Differenzieren und Redigieren« beschrieben.47 Diese Beziehung wird von anderen Diskursen wie Feminismus, Multikultur und Postkolonialismus aufgegriffen. In ihrer kulturwissenschaftlichen Interdisziplinarität geben diese Diskurse die konzeptionelle Richtung von binären Oppositionen zu einer »Akzeptanz der Mischungen und Übergänge« vor.48 Postmoderne Interpretationsversuche werden folglich von »monistischen Erklärungen hin zu einer Vielfalt« und von einer »Tendenz zur Einheit zu einer Pluralität und Heterogenität der Denkweisen« geführt.49 Diese Erweiterung zeigt zum einen, dass es sich bei der Postmoderne nicht um eine bereits abgeschlossene Epoche handelt, sondern um eine Reihe von Prozessen, die nun in die Diskurse der Globalisierung münden. Sie lässt zum anderen den oben diskutierten Zweifel an einer ›Zweiten Moderne‹ als berechtigt erscheinen. Die Existenz von Mischungen und Übergängen, von Vielfalt und Heterogenität und die grundsätzliche Offenheit kultureller Prozesse bedeuten für den Diskurs der Ähnlichkeiten und Differenzen, diese nicht in einem Exklusionsmodell im Sinne von Entweder-Oder zu verorten, sondern im Modell der Koexistenz, ja Kohäsion im Sinne von Sowohl-Als-Auch. Auf diesem Modell beruht meine These eines deutsch-iranischen Migrationsgedächtnisses.

1.2 Einbettung in den Forschungskontext Die Auf lösung binärer Oppositionen und der Versuch, vielfältige Prozesse in der Kultur aufzuzeigen, liegen den interkulturellen Theorien der germanistischen Literaturwissenschaft zugrunde und bilden den Gegenstand meiner Diskussion (2.3). Der Aus43  Lützeler: Postmoderne und postkoloniale deutschsprachige Literatur, 2009, 10. 44  Bauman: Intimations of Postmodernity, 1992, siehe zum Aspekt der Ambivalenz XVI (Einleitung), 120 und zu dem des Pluralismus 22f., 31-35. 45  Lützeler: Postmoderne und postkoloniale deutschsprachige Literatur, 2009, 12. 46 Ebd., 14. 47 Ebd., 12. 48 Ebd., 32 49 Ebd., 33.

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druck interkulturelle Schreibweise, das dürfte klargeworden sein, soll die ästhetischen Ausdrucksformen dieser Prozesse bezeichnen. Für ihre Analyse sind drei Fragen zielführend: Was ist die »ästhetische Botschaft«50 dieser Schreibweise, nach welchen Kriterien erfolgt ihre Codierung und was ist die theoretische Basis ihrer Encodierung?51 Der Begriff Migrationsliteratur52 benennt lediglich eines der Deutungsmuster; gerecht wird er seiner Aufgabe im Wissenschaftsdiskurs nicht. Ich werde diesen Begriff kritisch hinterfragen und dabei zeigen, dass es sich bei der deutschsprachigen Migrationsliteratur um ein ausgesprochen heterogenes Phänomen handelt, das durch den Begriff aber reduktionistisch erfasst wird und die Polyvalenz literarischer Produktion und Rezeption an den Rand drängt. Der Beitrag über die Migrationsliteratur in dem jüngst erschienen Handbuch Postkolonialismus und Literatur (2017) versucht eine Differenzierung des Begriffs Migrationsliteratur unter Berücksichtigung von vier Kriterien: 1) Orientierung an der Abstammung oder Herkunft des Autors, 2) Zuordnung zu einer bestimmten Einwanderungsgeneration, 3) Ungleichgewicht gattungsspezifischer Einteilung, 4) Wahl des Schauplatzes als Ausgangpunkt.53 Sie legen exemplarisch den Versuch offen, Migrationsliteratur durch Kategorisierung und Reduktionismus als etwas Sonderbares jenseits der deutschsprachigen Literaturgeschichte zu begreifen. Der Versuch lässt sich bis auf die Definition und die Wirkung der Gastarbeiterliteratur zurückverfolgen (2.2). Ich werde am Begriff Migrationsliteratur eine Entwicklungsgeschichte aufzeigen, innerhalb derer der Begriff die Literatur kulturalisiert. Die Kulturalisierung lässt sich insbesondere an der reduktionistischen Einbettung der Literaturanalyse in die außertextuellen Kategorien des Autors, der Biographie, Herkunft und des spezifischen Lebensumstands (Gastarbeit, Migration) ablesen. Während sich Historiker, Sozial-, Politik- und Wirtschaftswissenschaftler mit den Kategorien des Migranten und des Gastarbeiters in ihren sozialen und historischen Formierungen auseinandersetzen, sollte eine literaturwissenschaftliche Analyse auch ohne die reduzierenden Kategorien der Herkunft, des Ursprungs, der Nation u. ä. auskommen. Der Begriff Migrationsliteratur suggeriert, dass solch eine Literatur durch Migranten entsteht bzw. von Migration per se handelt. So wird das Thema der Literatur entweder auf den Herkunftsaspekt des Autors reduziert oder durch die determinierende Hervorhebung der Migration im Kompositum als etwas Sonderbares deklariert. Im Gegensatz hierzu sollte jedoch diskutiert werden, wie Migration im Diskurs der Literatur spezifische Migrationscodes generiert. Migration ist daher keine bereits bestehende Referenz, sondern ein noch herzustellendes ästhetisches Konzept und kann als Verfahren des Poetischen betrachtet werden. Die Prämisse lautet also: erst der Text, dann die Migration. Einleitend möchte ich meine Kritik an dem Begriff Migrationsliteratur exemplarisch näher erklären. Zunächst noch einmal die Kritik: Entgegen der Poetik der Migration setzt der Begriff Migrationsliteratur Strategien des Reduktionismus und der Essentialisierung durch, indem er Aspekten der außertextuellen Wirklichkeit mehr 50  Eco: Einführung in die Semiotik, 1972, 145-167, hier 145; Eco: Semiotik, 1991, 347-398. 51  Eco: Einführung in die Semiotik, 1972, 157. 52 Ich verzichte ich auf die einfachen Anführungszeichen, die eine distanzierte Haltung graphisch darstellen sollen. Um diese Distanz dennoch kenntlich zu machen, spreche ich nicht schlicht von einer Migrationsliteratur, sondern von dem Begrif f oder von der Kategorie der Migrationsliteratur. 53   Bay: Migrationsliteratur, 2017, 323-332.

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Aufmerksamkeit schenkt als dem ästhetischen Konzept ihrer Konstruktion. Er rückt den Ursprungsaspekt des Autors in den Vordergrund und wirkt der Gestaltungsfreiheit des poetischen Raumes entgegen, anstatt das Interesse an Motiven, Symbolen und Metaphern, aus denen die Poetik der Migration gewonnen wird, zu erwecken. Vorarbeiten zur Analyse einer Poetik der Migration lieferte bereits die Diskussion über das Werk von Güney Dal (*1944, Çanakkale) an der Symbolik der Berliner Mauer.54 Dabei wurde eine doppelte Strategie bemerkt, die Dals Werk zu einem Projektionsfeld von »national literary histories«55 der Bundesrepublik und der Türkei macht. Diese Analyse ermöglichte, das nationale Verständnis der Kultur und die Verortung der literarischen Arbeit in einer Nationalgeschichte zu problematisieren.56 Dass im Sammelband Deutsch-türkische Literatur und türkische Literatur (2013) einerseits von einer deutschsprachigen Literatur in einer binären deutsch-türkischen Konstruktion gesprochen wird und andererseits von einer »Überwindung klischeehafter Bilder des Deutschen wie des Türkischen«,57 verschärft die Problematik fast ein Jahrzehnt später wieder. Als problematisch gilt über die binäre Bezeichnung hinaus insbesondere auch der Bindestrich in »deutsch-türkisch«, der auf hybride Verhältnisse hinweisen soll. Diese Doppelbezeichnung entsteht nach dem US-amerikanischen Vorbild. Was aber nicht hinreichend diskutiert wird, ist der Gedanke, dass Migrationsprozesse in der Bundesrepublik Deutschland des 20. Jahrhunderts anders als in den Vereinigten Staaten von Amerika im 18. Jahrhundert nicht zur Staatsgründung geführt haben. Sowohl historisch als auch kulturgeschichtlich sind im Zusammenhang dieses Vergleiches Diskrepanzen vorhanden, die sich mit einem einfachen Bindestrich nicht ohne Weiteres überwinden lassen. Solche Doppelworte sind auch rechtlich gesehen »Muster ohne Wert«, vermitteln zwar den Eindruck, »es handle sich bei den so bezeichneten Personen um Doppelstaater«, verdecken aber zugleich die »wahre Sachlage«.58 Literarisch könnte man den Bindestrich im Falle seiner Notwendigkeit anders auslegen: Er kann nämlich auf das Potential einer Literatur anspielen, die Unterscheidungsmerkmale nicht in Trennungsmerkmale umwandelt.59 Auf diese Weise wird Migration nicht von Prozessen des Kulturwandels getrennt, sondern als Teil dieser Prozesse begriffen. Folglich wird Migration auch nicht als gesellschaftlicher Bruch und als soziale Diskontinuität verstanden, sondern als vorläufiges und Epochen bedingtes Ergebnis kultureller Transformationen. Migration im literarischen Diskurs kultureller Transformationen würde die Erprobung poetischer und ästhetischer Techniken in Darstellungen der Wandlungsprozesse erfassen. Der medialen Erfassung der Transformationen liegt die theoretische Annahme über »Kultur als Text«60 zugrunde, die wiederum erlaubt, aus der medialen Gestaltung der Migration eine Kultur der Migration zu rekonstruieren. Das Verständnisproblem des Bindestrichs lässt sich vielleicht dahingehend beheben, ihn dif ferie54  Dal: Chronik der Auswanderung, 1986, 16f. 55  Adelson: Migrants and Muses, 2004, 914. 56   Siehe zu diesem Aspekt in der deutschen Kulturgeschichte Gardt (Hg.): Nation und Sprache, 2000; in Bezug auf Dals Werk Adelson: Migrants and Muses, 2004, 915. 57 Hofmann et al. (Hgg.): Deutsch-türkische Literatur und türkische Literatur, 2013, 8. 58   Münch: Die deutsche Staatsangehörigkeit, 2007, XX. 59  Bhatti: Heterogenität, Homogenität, Ähnlichkeit, 2015, 131. 60   Bachmann-Medick: Kultur als Text, 1996.

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rend und verbindend zugleich aufzufassen und in ihm ein Zeichen für die Kontinuität kultureller Umwandlungen zu sehen. Er zeigt vielleicht die Korrelation, nicht aber die Kohäsion im Sinne des Kultur-Werdens. Auf dieses Werden zielt mein Verständnis vom kulturellen Gedächtnis. Um dieses Verständnis zu verdeutlichen, wird das deutsch-iranische Migrationsgedächtnis zusammen mit einigen wenigen Beispielen aus dem deutsch-türkischen Migrationsgedächtnis diskutiert. Das interkulturelle Prinzip des Kultur-Werdens erlaubt bei der Überprüfung, die künstlerische Kreativität kulturellen Umgangs nicht aus einer wie auch immer ontologischen Perspektive zu betrachten, sondern stets vergleichend. So werden Voraussetzungen von Vergleichbarkeit berücksichtigt, die zur Gestaltung einer interkulturellen Perspektive notwendig sind. Eine Untersuchung über die Kultur der Migration heißt folglich, die Überprüfung von Vernetzungen, an denen Migrationsprozesse auf andere kulturelle Prozesse treffen und sich an diesen entwickeln zum einen, von vergleichbaren Erscheinungen in der Kultur, die Differenzen und Ähnlichkeiten innerhalb unterschiedlicher Migrationsprozesse kenntlich machen zum anderen. Wie literarische Darstellungen kultureller Transformationen vonstattengehen, auf welche Art und Weise Literatur die Vergleichbarkeit kultureller Phänomene erfasst und wie sich anhand dieser Phänomene Transformationen beschreiben lassen, wird in dieser Studie exemplarisch an den thematischen Schwerpunkten Identität (Kapitel 3), Europa (4.1), Heimat (4.2) und Sprache (4.3) erörtert. Die Analyse dieser Themenbereiche beruht auf der zugrunde gelegten Frage nach den interkulturellen Schreibweisen. Die Aktualität des Themas Migration in wissenschaftlichen Disziplinen belegen zahlreiche Konferenzen und Diskussionsbeiträge.61 Zusammenfassend lassen sich folgende Gesichtspunkte erkennen: In einem allgemeinen Blick auf die Kulturanalyse wird die Meinung vertreten, von der ontologisch- und ethnisch-kulturellen Differenzierung der Gesellschaft unter den gegebenen globalen Voraussetzungen ein für alle Mal Abschied nehmen zu müssen. Die radikale Distanzierung führt zum Plädoyer für eine Forschungsrichtung, die gesellschaftliche und akademische Diskussionen über Kultur daran hindern sollte, in die ethnische und ontologische Sackgasse einer Kulturdefinition zu geraten, denn hieraus folgt keine kulturtheoretische Analyse. Es wird vielmehr nach ethnischen, religiösen, sprachlichen und anderen Trennungsmerkmalen gesucht, die Begründungen kultureller Überlegenheit erneut belegen sollen. Die Analyse interkultureller Schreibweisen hat deshalb die Aufgabe, Erkenntnisse über ein Umdenken über Kultur zu gewinnen. Diese Analyse beschränkt sich in meiner Arbeit auf Lyrik, Erzählprosa und Roman mit Blick auf die Wirklichkeit der Erzählwelt und ihre Dissoziation, auf das Subjekt und dessen Dezentralisierung und Fragmentierung. Diese Einschränkung ergibt sich aus der zeitlichen Einordnung der Studie im Kontext der literarischen Moderne mit ihrer Kritik an traditionellen Denkmodellen. Sie 61 Im Hinblick auf die deutschsprachige Literatur lässt diese Aktualität sich an einem Beispiel aufzeigen. 2014 befasste sich eine Reihe von Diskussionsbeiträgen der German Studies Association mit dem literarischen Diskurs der Migration und richtete die Perspektive auf interdisziplinäre Zusammenhänge unter dem Aspekt Rethinking Migration and German Culture. Hierzu gehörten Themen wie Travel, Migration and Otherness: Writing about German Culture and Identity, Turkish German oder Asia German Studies. Rethinking Migration and German Culture. Dass Migration, Globalisierung und ihre Folgen für Neuüberlegungen hinsichtlich des Individuums und dessen Rolle in einer sich stets verändernden Gesellschaft kaum an Aktualität verloren haben, zeigen nicht nur die soziopolitischen Debatten der Gegenwart, sondern auch die medialen Reflexionen über das Individuum und dessen kulturelle Verortung.

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richtet sich insbesondere gegen das noch weit verbreitete »Ideal eines mit sich und der Welt harmonisch vermittelnden Menschen [!]«, spricht jedoch nicht allein von der »Erfahrung des menschlichen Identitätsverlustes und der Selbstentfremdung«,62 sondern sieht in jedem Verlust auch das Potential einer Neu-Findung. Aus der Analyse individueller Erfahrungen der literarischen Figur, die sich um gesellschaftliche Anerkennung bemüht, ergeben sich Kriterien der Wirklichkeits- und der Ich-Dissoziation, der Identitäts- und Sprachkrise. Diese Analyse soll darüber hinaus das Spannungsfeld von Individuellem und Kulturellem verdeutlichen, das sich in literarischen Ref lexionen über das Motiv der Suche ausdrückt, die Neu-Findung als temporäre Angelegenheit erscheinen lässt, und Herausforderungen individueller Krisenbewältigung und Selbstfindung offenlegen. Die endlose Suche hat zwei Variablen: Sie schließt an die Vergangenheit des Subjekts der Migration an, die lediglich im Medium des Gedächtnisses existiert, und blickt auf die im Text erfahrbare Gegenwart, die den Zugang zum Gedächtnisinhalt – die Erinnerungsarbeit – ermöglicht. Betrachtet man den Begriff Migrationsliteratur vor dem Hintergrund der Wirklichkeits- und der Ich-Dissoziation, der Identitäts- und Sprachkrise sowie der Dynamik der Fragmentierung, Kohäsion und Neuorientierung, so findet die Kritik, er setze stillschweigend die Existenz einer harmonischen Wirklichkeit, die sprachlich vollkommen einzufangen sei, voraus und betrachte das Subjekt innerhalb dieser Wirklichkeit frei von jeglicher Herausforderung, ihre Bestätigung. Migration suggeriere demnach einen Bruch, d.h. das, was die im Vorfeld angenommene Harmonie störe. Wenn aber Migration laut soziokulturellen Studien schon immer die Lebensweise des Menschen gestaltete, dann wäre die Auffassung von einem Bruch durch Migration an sich paradox. Diese Auffassung legt vielmehr eine traditionelle Betrachtungsweise einer Ich-Figur als repräsentativen bzw. exemplarischen Ich einer bestimmten Kultur nah. Mit anderen Worten ist solch eine Ich-Figur keine Ref lexion der modernen Kulturprozesse, sondern eine Repräsentation ontologischer Muster der Ich- und Weltauffassung.

1.3 Analysematerial – Fragestellung Auf die Notwendigkeit ästhetischer Untersuchungen, die sich für Poetiken der Migration jenseits von reduktionistischen Fragen der Herkunft und der ethnischnationalen Grenzziehungen interessieren, wurde bereits hingewiesen. Die reduktionistische Perspektive auf die Autoren-Herkunft führt zu einem Forschungsdesiderat (2.1.2): Diese Perspektive erfasst die Literatur, die sich als Folge von primär wirtschaftspolitischen Entwicklungen etablierten und sich wirkungsgeschichtlich als post-migrantisch63 verorten konnte (1.3.2); dabei ignoriert sie diejenigen literarischen Darstellungen der Migration, die zwar existieren, jenen Schemata aber nicht entsprechen. Mit dieser Herangehensweise geht unter dem Begriff Migrationsliteratur ein monoperspektivisches Verfahren der Textanalyse einher, das diesen Begriff in seiner Entstehungsgeschichte problematisch erscheinen lässt. Dass die (deutschsprachigen) Werke der aus dem Iran in die Bundesrepublik immigrierten Autoren in der 62  Andreotti: Die Struktur der modernen Literatur, 2014, 57. 63  Brandt: Schnitt durchs Auge, 2006.

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germanistischen Literaturwissenschaft bislang nicht diskutiert worden sind, liefert hierzu den Beweis. Dieses Forschungsdesiderat war für die Auswahl des Analysematerials also ausschlaggeben. An dieser Auswahl versuche ich, zum einen meine Kritik am Mono-Perspektivismus des Begriffs Migrationsliteratur zu begründen und zum anderen für ein Migrationsgedächtnis zu plädieren, das die Migration als kulturelles Phänomen und ihre Repräsentationen als dessen ästhetische Formen zu begreifen erlaubt. Mit der Auffassung von einem Gedächtnis der Migration wird Migration als Phänomen im kulturellen Gedächtnis verortet, das sich nur polyperspektivisch lesen, d.h. entziffern lässt. Die Polyperspektivität der Lesarten des kulturellen Gedächtnisses wird am deutsch-iranischen Migrationsgedächtnis exemplifiziert (2.4). Mit der Auswahl literarischer Werke, welche diese Auffassung bestätigen, geht auch die Datierung des deutsch-iranischen Migrationsgedächtnisses seit den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts einher. Dies ist der Zeitraum, in dem auch das Fach Germanistik sich allmählich den Auseinandersetzungen mit den ästhetischen Formen der Migration offen zeigt. Vor dem Hintergrund der kulturgeschichtlichen Entwicklungen strebt die vorliegende Studie das Ziel an, die Anfänge des deutsch-iranischen Migrationsgedächtnisses aufzuzeigen. Die Frage stellt sich daher zunächst nach der zeitlichen Einordnung der Literatur, aus der das deutsch-iranische Migrationsgedächtnis zu rekonstruieren ist (1.3.1), sodann nach den kulturhistorischen Voraussetzungen ihrer Entstehung, nach ihrer Poetik und schließlich nach ihrer Bedeutung und Wirkung für die germanistische Literaturwissenschaft (1.3.2). An der Analyse der poetischen Stilmittel wird der literaturwissenschaftliche Diskurs kultureller Transformationen geführt.

1.3.1 Auswahl des Analysematerials Die erste Generation der aus dem Iran stammenden Autoren beginnt, ihr deutschsprachiges Werk in einer Zeit zu publizieren, in der sich einige Schriftsteller – allen voran Hans Magnus Enzensberger mit seinem Essay-Band Ach Europa (1987) – kritisch zu den Brüsseler Plänen einer Europäischen Gemeinschaft äußerten.64 Schon an diesem Beispiel lassen sich die achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts als Umbruchsphase europäischer Entwicklungen und somit auch als zeitliche Orientierung in meiner Frage nach dem deutsch-iranischen Migrationsgedächtnis interpretieren. Gerrit Wustmann, der Herausgeber der Anthologie Hier ist Iran. Persische Lyrik im deutschsprachigen Raum (2011), beantwortete die Frage, warum iranische Lyrik zu Deutschland gehöre, hauptsächlich mit historischen Argumenten,65 welche die Zusammenhänge des deutsch-iranischen Verhältnisses zwar aufzeigen, der Frage nach deren Ästhetik jedoch kaum Aufmerksamkeit schenken. Dabei sind die ästhetischen Formen dieser Gedächtniskonstruktion mannigfaltiger Art. SAID (*1947, Teheran) ist einer der ersten Autoren, die seit den achtziger Jahren zu den Fragen aus Gesellschaft und Kultur Position beziehen. Sein Werk umfasst Ly64  Lützeler: Kontinentalisierung, 2007, 37. – Anke S. Biendarra betrachtet in ihrer Studie Germans Going Global (2012) die Globalisierungsprozesse, ihre Auswirkungen auf den Inhalt und die Ästhetik des Erzählens. Im Zentrum ihrer Analyse stehen Werke von Judith Hermann, Ingo Schulze, Elke Naters, Johan von Düffel, Christian Kracht und Kathrin Röggla. 65 Siehe hierzu das Interview Hier ist Iran, 2011 (Online-Ressource).

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rik, Prosa, Hör- und Kinderbücher.66 SAID ist das Pseudonym eines Autors, der sich in der Bundesrepublik zu einem Schriftsteller deutschsprachiger Literatur profilierte. Sein bürgerlicher Name bleibt der Öffentlichkeit verborgen. Die Schreibweise seines Pseudonyms in Großbuchstaben behalte ich bei.67 1965 kam er zum Studium nach Deutschland, lebte zunächst in Frankfurt a.M. und später in München. Anfangs hatte sich SAID den im Deutschland der 1960er und 1970er Jahre organisierten linksorientierten iranischen Studentenbewegungen gegen die Monarchie im Iran angeschlossen; später distanzierte er sich von ihnen. Kurz nach der Islamischen Revolution im Iran besuchte er Teheran im März 1979, kehrte aber nach drei Monaten wieder nach Deutschland zurück. Nach der Rückkehr in die Bundesrepublik beginnt seine literarische Produktivität, aus der auch die Abwendung von der linken Politik ersichtlich wird. SAID gehört zu derjenigen Generation von Iranern, die sich in Europa während ihres Studiums politisiert und schließlich die freiwillige Entscheidung für ein Leben im Ausland getroffen hat. Dieses Leben wird in seinem Werk mit Exil68 assoziiert. In der Bundesrepublik wurde er Mitglied der 1960 gegründeten und 1971 im Iran verbotenen Conföderation iranischer Studenten/National-Union (CISNU), 1973 deren Generalsekretär.69 Ihre politische Aufgabe definierte CISNU in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre in links-oppositionellen Bewegungen gegen Schah Mohammad Reza Pahlavi (1919-1980, reg. 1941-1979).70 Die Reise von 1979 und der Aufenthalt im Iran werden in Der lange Arm der Mullahs (1995) in einer »Collage von verschiedenen Erzähleinheiten«71 tagebuchähnlich beschrieben. In SAIDs Leben und Werk spielt die Teheraner Reise eine zentrale Rolle; in ihrer literarischen Schilderung spiegeln sich nämlich nicht nur Ref lexionen über Erfahrungen des Scheiterns und der Resignation wider, sondern auch die bewusste Entscheidung eines Individuums für ein Leben im freiwilligen Exil. Somit bildet das Exil einerseits den poetologischen Rahmen einer literarischen Produktivität und andererseits wird selbst zu einem literarischen Motiv gestaltet. Exil wird für SAIDs Ich-Figur zu einer Erfahrung, die einerseits von Gegenreaktionen und Enttäuschungen, andererseits von Wiederfindung und Neu-Identifikation geprägt ist.72 An dieser doppelten 66   Ein Verzeichnis von SAIDs Werk findet sich in Di Bella: SAID – Ein Leben in der Fremde, 2014, 25. Daher verzichte ich auf eine ausführliche Auflistung der Werke. 67   Mit SAID stehe ich erst seit einigen Jahren in einem intensiven Dialog. Ihm danke ich an dieser Stelle für die Korrespondenz und den Gedankenaustausch. 68   Christian Palm diskutiert den Begriff Exil und dessen literarisches Anwendungspotential in der Relation zu den benachbarten Begriffen wie Migration, Asyl etc. (Palm: Exil und Identitätskonstruktion in deutschsprachiger Literatur exilierter Autoren, 2017, 45-109). Ausgehend von Palms Klassifizierung des Exil-Begriffs wird Exil in meinem Zusammenhang als Metapher für die Überwindung kriesenhater Situationen begriffen. 69 Siehe hierzu SAID: In Deutschland leben, 2004, 19, 29, 56. 70   Siehe zur Geschichte der Confederation of Iranian Students (National Union) Ghaseminia: Iraner und Iranerinnen in Deutschland, 1996, 125-133. 71 Das Werk erfährt in der Literaturkritik unterschiedliche Bezeichnungen und Wertungen (siehe hierzu Di Bella: SAID – Ein Leben in der Fremde, 2014, 29-40, hier 29). 72 Siehe zu SAIDs Werk unter dem Exil-Aspekt Palm: Exil und Identitätskonstruktion in deutschsprachiger Literatur exilierter Autoren, 2017, 253-408; Palm: Migrant versus Exilant, 2012, 283-295. Palm verweist zu Recht darauf, dass die »Exilthematik der Texte im Gegensatz zur Exilerfahrung ders Autores kein bindesndes Zugehörigkeitsmerkmal zur ›Exilliteratur‹ darstellt« (Palm: Exil und Identitätskonstruktion in

1. Einleitung

Erfahrung entfaltet sich in SAIDs Werk ein starker intertextueller Bezug, der Einblicke in eine Poetik gewährt, die Momente individueller Resignationen der Ich-Figur, ihr verlorengegangenes Ideal und ihre Hoffnung auf eine bessere Zukunft beschreibt.73 SAIDs erstes Erzählwerk Wo ich sterbe ist meine Fremde (1983) und sein Hörspiel Ich und der Schah. Die Beichte des Ayatollah (1987) kündigen eine Autorenkarriere an, die mit dem kleinen Lyrikband Liebesgeschichte (1989) und in Selbstbildnis für eine ferne Mutter (1992) fortgesetzt wird. Der thematische Schwerpunkt seines Werks liegt nach dem Kritischen Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur in der »Trauer- und Erinnerungsarbeit« sowie in der »Tradition des engagierten Autors«.74 Sein politisches und literarisches Engagement, das mit einer Reihe nationaler und internationaler Preise ausgezeichnet wurde,75 zeigt sich vor allem Mitte der neunziger Jahre in seiner Funktion als PEN-Beauftragter des 1960 gegründeten Writers-in-Prison-Committee. Individuelle und kulturelle Identifikation erfolgt in der Erinnerungsarbeit des lyrischen oder des erzählenden Ich bei der Verarbeitung politisch-öffentlicher oder/ und individuell-privater Erfahrungen in wechselnden gesellschaftlichen Kontexten zu Tage und wird zu einem spezifischen Aspekt literarischen Schreibens. Neben Exil ist Liebe eines der zentralen Themen in SAIDs lyrischem Werk.76 Die Erfahrung der Liebe ref lektiert ebenfalls Enttäuschungs- und Resignationsmomente, so dass die Gestaltung der Liebe als literarisches Motiv die Liebe selbst in die Nähe von Exil rückt. Die Suche des Ich in beiden Welten ist eine fortwährende Angelegenheit des Autors. Darüber hinaus kreist SAIDs Werk um die Themen Fremdheit, Einsamkeit, Heimat, Sprache und Tod. Über die Motive hinaus stellen auch Verfremdungsstrategien, die lexikalisch, semantisch, syntaktisch und auch graphemisch77 den intertextuellen Zusammenhang her. Die Markierung der Intertextualität durch die Orthographie ist ein auffälliges Merkmal. Was dem Leser schon bei erster Lektüre ins Auge sticht, ist die konsequente Kleinschreibung aller Wörter. Dieses Charakteristikum tritt erst im Bestiarium Dieses Trier, das es nicht gibt (1999) in Erscheinung und zeugt vom »bewusst freien Umgang

deutschsprachiger Literatur exilierter Autoren, 2017, 44). Hinzukomme, so Palm weiter, dass der Begriff der Exilliteratur »fälschlicherweise ausschließlich« denjenigen Autoren vorbehalten sei, die während des Dirretn Reiches exiliert waren (ebd.). Dass diejenigen, die aus nichtdeutschsprachigen Ländern ins deutsche Exil gegangen sind und im Deutschen dichten, sei ein Beweis dafür, dass »der exilierte Autor nicht immer seiner Muttersprache verhaftet bleibt« (ebd., 45). 73 Den ersten Versuch einer Kontextualisierung von SAIDs Werk und Leben unternimmt Baginski: Von Mullahs und Deutschen, 2001, 22-36; Baginski: SAID, 2004, 442-446; siehe auch Di Bella: SAID – Ein Leben in der Fremde, 2014, 21-25. 74  Knaap: SAID – Essay, 2007; siehe zur Rezeption von SAIDs Werk in Deutschland und in Italien auch Di Bella: SAID – Ein Leben in der Fremde, 2014, 11-19. Weniger werk- als vielmehr autorenbezogen bespricht Di Bella SAID innerhalb der Autorengenerationen mit Blick auf ihr Ausländer-Dasein (ebd., 12). 75   Darunter der Literaturpreis der Landeshauptstadt München (1986), Civis-Hörfunkpreis (1992), Premio Letterario Internazionale »Jean Monnet« (1994), Preis der Stadt Heidelberg »Literatur im Exil« (1996), Stipendium Villa Aurora, Los Angeles, California, USA (1997), Hermann-Kesten-Medaille des PEN-Zentrums Deutschland (1997), Literaturstipendium der Landeshauptstadt Graz (1998), Adelbert-von-Chamisso-Preis (2002), Goethe-Medaille (2006), Literaturpreis des Freien Deutschen Autorenverbands (2010), Bundesverdienstkreuz (2014) und Friedrich Rückert Preis (2016). 76   Siehe zu diesem Motiv Di Bella: SAID – Ein Leben in der Fremde, 2014, 100-274. 77   Siehe hierzu Jäger: Sprache, 2013, 14-16, 19f.

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mit der deutschen Rechtschreibung«78. Allerdings greift diese auf der Oberf läche der Sprache getroffene Feststellung zu kurz. SAIDs Versuche, die deutsche Sprache in Abgrenzung zur persischen Sprache79, die eine Groß- und Kleinschreibung nach dem Rechtschreibmuster der deutschen Sprache nicht kennt, zu positionieren, ruft Fremdheitsgefühle bei dem Rezipienten hervor, die diesem die Befindlichkeit der Ich-Figur in der Fremde bewusstwerden lassen.80 Vor dem Hintergrund der Charakterzüge seiner rebellischen Ich-Figur, die sich gegen Konventionen und Normen erhebt, kann der freie Umgang mit der Sprache als Widerstand gegen jegliche erzwungene Normierung und als Anspruch auf poetische Freiheit verstanden werden. Die hier für die Analyse getroffene Auswahl orientiert sich nicht an gattungsspezifischen und chronologischen Merkmalen, sondern bewegt sich entlang thematischer, systematischer, intertextueller Aspekte und versucht, die Frage zu beantworten, wie sich die Themenbereiche Identität, Heimat, Europa und Sprache in der anonymen Perspektive des stets namenlos bleibenden Protagonisten (trans-)formieren. Relativierungen, ein immer wiederkehrender Perspektivenwechsel und die Infragestellung normativer Muster bilden den Referenzrahmen von SAIDs literarischer Arbeit. Seine Ich-Figur durchbricht die Grenzen zwischen Politik, Sprache und Liebe als den Polen ihrer Identitätsarbeit. Sie besitzt keine Identität, sondern sucht und (er-)findet sie erzählend. Im Prozess der Suche zeigt sich die »konstitutive Bedeutung des Erzählens für die Identitätsbildung«.81 Der Selbst-Entwurf der Ich-Figur ergibt sich aus der Verf lochtenheit der Erzählung, Lebensgeschichte und Identitätsarbeit sowie aus den mit diesen einhergehenden Krisen, Niederlagen und Aufstiegsmöglichkeiten. Ihre Geschichten werden im Erzählen erfahrbar, und ihre Erinnerungen beim Erzählen gebildet. Das Erzählen profiliert sich einerseits als literarische Form, als Darstellungs- und Ausdrucksmedium, andererseits als phänomenologischer und kognitiver Modus einer Selbst- und Welterkenntnis. Zu den Autorinnen der achtziger Jahre zählt TORKAN mit vollständigem Namen Torkan Daneshfar-Pätzoldt (*1941, Azarschahr).82 Vor ihrer Immigration in die Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1964 studierte sie Anglistik und Pädagogik an der 78 Di Bella: SAID – Ein Leben in der Fremde, 2014, 28. 79 Die persische Sprache – vereinfacht Persisch oder das Persische – bezeichnet die Hauptsprache in der Nachfolge des Persischen Reiches und ist seit 1000 die native form der Sprache Irans (Paul: Persian Language, 2013; Talattof: Persian oder Farsi, 1997). 80   SAIDs Technik kann auf diese Weise im Kontext der semiotischen Auffassung von Schrift und Sprache betrachtet werden (Eco: Einführung in die Semiotik, 1972, 23). Dem deutschsprachigen Leser dient die Unterscheidung von Groß- und Kleinschreibung nach heutigen Konventionen zur Erleichterung des Lesens. Die Basis der Schrift stellt für den heute als deutschsprachig bezeichneten Raum die römische Kapitalis dar, die ausschließlich aus Majuskeln bestand (Jansen-Tang: Ziele und Möglichkeiten einer Reform der deutschen Orthographie, 1988, 206). SAIDs Gebrauch einer reinen Minuskelschreibweise irritiert den deutschsprachigen Leser. So sucht das Auge nach der vertrauten, Ordnung schaffenden Großschreibung. Dem Leser fällt die Lektüre schwerer als bei einem gewohnten, regelkonformen Text. 81  Nünning: Wie Erzählungen Kulturen erzeugen, 2013, 32. – Vor allem die Techniken des autobiographischen Schreibens (Eakin: How our Lives Become Stories, 1999, 100) regeln hierbei die Identitätsarbeit der Ich-Figur. 82   Azarschahr ist die Hauptstadt des gleichnamigen Bezirks (Asarshahr County) in der Provinz Ost-Aserbaidschan im Nordwesten Irans.

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Universität Teheran und arbeitete im Anschluss als Lehrerin. Über die Biographie der heute in Hamburg lebenden Autorin ist wenig bekannt. Ihr Werk, das unter ihrem Vornamen – geschrieben in Großbuchstaben – erschienen ist, umfasst die drei Erzählungen Tufan. Brief an einen islamischen Bruder (1983), Kaltland (1984), Allnacht (1987) und die Übertragung der biblischen Geschichten in das profane Erzählen in La Bibla. Die Botschaf t der Isa (1995). Auf die drei erst genannten Erzählwerke konzentriert sich meine Studie. La Bibla ist ein Text individueller Ref lexion auf – mit Einschränkung – religiöse Auseinandersetzungen. Ohne einen bewussten Rückgriff anzugeben, positioniert TORKAN ein weibliches Pendant zu der geschlechts- und namenlosen Ich-Figur SAIDs. Das soziale und kulturelle Umfeld ihrer Figur wechselt ebenfalls zwischen dem Iran und der Bundesrepublik. Die Perspektive auf soziokulturelle und politische Veränderungen der siebziger Jahre wird durch die literarischen Ref lexionen über Erfahrungen der ersten Auswanderergeneration der Iraner in der Bundesrepublik gestaltet. Die Figurenperspektive umfasst hauptsächlich die Zeit vor und während der Islamischen Revolution. Damit blickt die Autorin in eine historische Welt individueller Identitätsarbeit zurück, die insbesondere durch Exil und Fremdheitsbewältigung geprägt ist, und hinein in eine Gegenwart, in der die Suche des Ich nach sich selbst erfolgt. Aus TORKANs Werkreihe fand einzig die Erzählung Tufan Eingang in die deutschsprachige Rezeption. Ihrem Schreiben bescheinigt Leslie Adelson, etwas anderes zu umfassen als »nur das Verhalten der Deutschen, die Ausländer schlecht behandeln«; dieses Andere solle die Leserschaft zur Anerkennung einer Welt bewegen, die »für Menschen innerhalb des deutschen Alltags auch außerhalb existiert«.83 Tufan stelle, fährt Adelson fort, kein allgemeingültiges Beispiel einer ethnozentrischen Reduktion dar, sondern vielmehr ein konkretes Beispiel »westdeutscher Literatur der 80er Jahre«.84 Trotz dieser These wird Tufan elf Jahre später merkwürdigerweise als Minoritätenliteratur der achtziger Jahre bezeichnet.85 TORKANs Erzählungen handeln von alltäglichen und persönlichen Erfahrungen, Erlebnissen und Erkenntnissen einer weiblichen Figur in einem als deutsch-iranisch konstruierten Spannungsfeld. Erzählt wird ohne Höhen und Tiefen. Tufan und Kaltland lassen sich gattungsspezifisch insofern an SAIDs Werk anschließen, als sie, obwohl keine Briefromane, ihre Erzählwelt in der vermeintlichen Privatheit des Briefes gestalten. Sie unterscheiden sich aber auch von demselben, indem sie die Erzählwelt monologisch aus der Erzählperspektive und zugleich dialogisch aus der Figurenperspektive formen. Über die scheinbare Privatheit hinaus beschreibt der Brief die Widerspiegelung des Subjektiven wie die Verschränkung von Schreiben und Erleben und organisiert Augen- und Rückblicke zur gleichen Zeit. Motive, Orte, Zeiten und Erzähltechniken wiederholen sich in allen drei Erzählungen und tragen so zu einer reibungslosen Herstellung eines intertextuellen Zusammenhangs bei. Im Mittelpunkt meiner Analyse stehen, wie oben erwähnt, die beiden ersten Erzählungen Tufan. Brief an einen islamischen Bruder (1983) und Kaltland (1984). Ihre Motive, Symbole und Inhalte kehren

83  Adelson: Migrationsliteratur oder deutsche Literatur, 1991, 71. 84  Ebd. 85   So lautet der Titel von Arens Monographie, in der sie sich auch mit Tufan beschäftigt (Arens: Kulturelle Hybridität in der deutschen Minoritätenliteratur der achtziger Jahre, 2000).

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in Allnacht (1987) wieder und stellen hier wiederum einen engen intertextuellen Bezug her. Wie die Konstruktionen eines deutsch-europäischen und eines deutsch-iranischen Gedächtnisses ineinandergreifen, zeigen Fahimeh Farsaie und Abdolreza Madjderey. Während die literarische Produktivität des Arztes Abdolreza Madjderey (*1940, Tus) vergleichsweise gering ist und hier nur exemplarisch am Gedicht Sprachnomadenleben (1986) vorgestellt wird, steht Fahimeh Farsaie (*1952, Teheran) mit einem Roman im thematischen Fokus meines Interesses. Farsaie hatte Kunstgeschichte und Jura im Iran studiert, bevor sie im Jahre 1983 in die Bundesrepublik kam. Literarisch engagiert sie sich seit dem Ende der achtziger Jahre. Von ihr liegen mehrere Erzählungen und Romane in persischer und deutscher Sprache vor, die hauptsächlich von Flucht und vom Leben in der Fremde handeln. Thematisch interessant ist der hier diskutierte Roman Eines Dienstags beschloss meine Mutter Deutsche zu werden (2006), weil er eine Fluchtgeschichte nur als historischen Erzählrahmen einer überaus aktuellen Geschichte konstruiert: Die Mutter der Protagonistin bemüht sich um den Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft. In diesem Werk richtet Farsaie das Augenmerk auf das deutsche Staatsbürgerschaftsrecht in der politischen Diskussion über seine Reform. Kontextualisiert werden Herausforderungen des Lebens außerhalb der historischen Heimat aber auch in Farsaies ersten Erzählungen wie in dem aus dem Persischen ins Deutsche übersetzten Erzählband Die gläserne Heimat (1989).86 In den neunziger Jahren beginnt Mohammad Hossein Allafis (*1952, Kerend-e Gharb)87 literarische Tätigkeit. Allafi kam 1978 nach dem Abitur (1971) und der Ausbildung im Maschinenbau bei der Teheraner Raffinerie (1973-1978) zum Studium in die Bundesrepublik und begann hier wie SAID seine politischen Aktivitäten in der links-alternativen Szene. Er studierte Soziologie, Pädagogik und Sozialpsychologie an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt a.M. und wurde 1985 mit einer Arbeit zum Thema Peripherer Fordismus im Iran. 3 Jahrzehnte Widersprüche in der Regulation eines teilmodernisierten Landes (1952-1982) – erschienen 1990 – im Bereich der Gesellschaftswissenschaften promoviert. Von 1991 bis 2005 unterrichtete Allafi Soziologie an der Johann Wolfgang Goethe-Universität. Sein Versuch, an iranischen Universitäten Soziologie zu lehren, scheiterte, worauf hin er die Entscheidung traf, sich in Frankfurt niederzulassen. Seitdem arbeitet er dort als Autor, Übersetzer und Herausgeber moderner iranischer Autoren.88 1994 gründete er den Glaré Verlag in Frankfurt, in dem auch seine eigenen Bücher erscheinen. Seine Studienjahre in Frankfurt, sein politisches Engagement und seine soziologische Ausbildung prägen seinen literarischen wie politischen Blick auf die Islamische Revolution und auf das Auf kommen des politischen Islam in den Folgejahren. Die intensive Auseinandersetzung mit dem politischen Islam und der Moderne mündet in 86 Siehe zum Leben und Werk die Internetseite der Autorin www.farsaie.de. 87   Kerend-e Gharb ist die Hauptstadt des Landkreises Dalahu, Kermanshah, Iran. 88 Nennenswert sind unter den Anthologien Das kleine Geschenk (1994), Ein Bild zum Andenken (1997), Östliche Brise (1998) und Mina mit dem blauen Kleid. Moderne Erzählungen iranischer Frauen (1999) sowie unter den Übersetzungen Simin Daneshwars Drama der Trauer (1997) und Erzählungen Frag doch die Zugvögel (2012), Ahmad Mahmuds Die Rückkehr (1997), Esmail Fassihs Winter ›83 (1998) und Moniru Ravanipurs Die Steine des Satans (1996). Darüber hinaus veröffentlicht Allafi auch Arbeiten über die iranische Literaturgeschichte wie etwa Ein Fenster zur Freiheit (2000).

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seinem Buch Islam, Gesellschaf t und europäische Moderne (2002). Sein literarisches Werk in den neunziger Jahren umfasst den Roman Es schneit im Zagros-Gebirge. Ein Leben in Kurdistan (1991), dem die Erzählung Die Nähmaschine (1994), die 1996 unter dem Titel Unter Strom vom Theaterhaus Frankfurt uraufgeführt wurde, thematisch folgt. Von hier aus wird die Erzählwelt der späteren Werke auf die Orte Teheran und Frankfurt a.M. erweitert. Im Vorwort von Es schneit im Zagros-Gebirge formuliert der Autor sein Ziel im bewussten und kritischen Umgang mit Vorurteilen und Stereotypen durch Literatur – ein Ziel, das vor allem durch die lebensnah erzählten Geschichten und das Aufgreifen kontrovers diskutierter Themen verfolgt wird. Allafis erste Werke Es schneit im Zagros-Gebirge und Die Nähmaschine handeln vom kleinbürgerlichen Leben in den iranischen Dörfern an der Schwelle der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Reformen. Seine Geschichten erzählen deren Auswirkungen auf das Leben der Einwohner und beschreiben die Modernisierungsprozesse im Iran aus dem Blick einfacher Menschen. Seine Aufmerksamkeit gilt insbesondere dem Agrarsektor und der Landreform in den ausgehenden fünfziger Jahren.89 Neben der Thematisierung der Binnenmigration im Iran als einer der Erscheinungsformen der Moderne in den früheren Werken gewinnt das Thema der Migration von Iranern ins Ausland in seinem späteren Werk an Relevanz. Unter dem Eindruck des religiösen Fanatismus und der Gewalt im Islam steht Allafis Erzählung Nalan. Ein Mensch ohne Gnade (2009). Die Novelle Verloren (1996) erzählt die Geschichte einer jungen Kurdin während der Islamischen Revolution aus der weiblichen Perspektive der Hauptfigur Nassrin. Im Roman Leyla. Auf der Suche nach Freiheit (2005) konstruiert Allafi die inzwischen transkulturelle Figur Leyla, in der ich einen intertextuellen Bezug zu TORKANs weiblicher Figur sehe. Allafis Werk an der Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert charakterisiert zuallererst der Schauplatzwechsel von Kermanschah und der Großstadt Teheran in die Metropole am Main. An diesem Ort geschieht die Handlung der drei Romane Die Nächte am Main (1998), Die letzte Nacht mit Gabriela (2000) und Gabriela findet einen Stapel Papier (2012). Über das Kriterium des Raumes hinaus stehen diese Romane thematisch und inhaltlich in einem engen Zusammenhang, der vor allem durch die Figurenkonstellation hergestellt wird. Insofern bezeichne ich diese Romane als Frankfurter Trilogie. Mahmood Falaki (*1951, Ramsar) ist ein weiterer Autor aus dieser Generation. Er studierte Chemie und Bibliothekswissenschaft im Iran und immigrierte 1983 in die Bundesrepublik.90 Hier begann er mit dem Studium der Germanistik und Iranistik an der Universität Hamburg und wurde mit einer Arbeit zum Thema Goethe und Hafis. Verstehen und Missverstehen in der Wechselbeziehung deutscher und persischer Kultur (2013) promoviert. Nach eigenen Angaben war Falaki von 1976 bis 1979 im Ewin-Gefängnis 89   Auf Anordnung von Mohammad Reza Pahlavi wurden mehr als 500.000 Hektar Land an 30.000 besitzlose Familien vergeben (Villiers: Der Schah, 1975, 460). Unter der Regierung von Premierminister Manouchehr Eghbal (1909-1977, Premierminister 1957-1960) wurde dem Parlament am 6. Juni 1960 der Gesetzentwurf zur Landreform vom damaligen Landwirtschaftsminister Jamshid Amuzegar (*1923) vorgelegt und angenommen, aber in seiner Umsetzung von den Vertretern der Großgrundbesitzer blockiert. Im Januar 1963 konnte schließlich eine vom Landwirtschaftsminister Arsanjani entworfene Ergänzung des Gesetzes verabschiedet werden. Mit der Landreform wurde das aus der Kadscharen-Zeit stammende Feudalsystem im Iran beendet. 90   1983 drohte ihm die Verhaftung. 1986 wurde sein Asyl-Antrag anerkannt. Seitdem lebt er als Schriftsteller und Dozent in Hamburg; siehe zu näheren Informationen www.m-falaki.com.

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inhaftiert und wurde beim Ausbruch der Islamischen Revolution freigelassen. Die Revolution feierte er in seinem persischsprachigen Gedichtband Sichel über dem Weizen (1980).91 Falakis literarisches Werk, das kaum aus der poetologischen Perspektive untersucht worden ist,92 setzt sich aus Erzählungen, Gedichten sowie Romanen in persischer und deutscher Sprache zusammen. Wie in SAIDs In Deutschland leben bilden auch in Falakis Erzählband Verirrt (1992) Heimat, das Leben in der Fremde, der Verlust der individuellen Geschichte und die kulturelle Mechanismen der In- und Exklusion den thematischen Schwerpunkt von vierzehn Geschichten, die sich teils im Iran, teils im deutschen Exil abspielen. Falakis Figuren in Lautlos f lüstern (1995), Klang aus der Ferne (2008) und Ich bin Ausländer und das ist auch gut so (2013) erfahren den Gaststatus und spielen hierauf durch Ironie an, die an Motiven und Symbolen abgelesen werden kann. Der Roman Die Schatten, der 1997 in der ersten und 2003 in der zweiten Auf lage erschien, handelt von den Themen Identität, Heimat, Geschichte und Erinnerung und schildert ihren Zusammenhang in einem perspektivisch reichen literarischen Stoff. Die Novelle Carolas andere Tode (2009) verlegt den interkulturellen Diskurs in eine Liebesgeschichte. Navid Kermani (*1967, Siegen) ist in meiner Werkanalyse mit seinem im Jahre 2014 erschienenen Roman Große Liebe vertreten, dem der Roman Sozusagen Paris im Jahre 2016 folgte. Nach dem Abitur war Kermani Hospitant am Theater an der Ruhr und studierte anschließend Orientalistik, Philosophie und Theaterwissenschaften in Köln, Kairo und Bonn. 1998 wurde er an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität promoviert, 2005 im Fach Orientalistik habilitiert.93 Der Autor lebt heute in Köln. Für sein akademisches und literarisches Werk wurde Kermani vielfach ausgezeichnet u.a. mit der Buber-Rosenzweig-Medaille (2011), dem Hannah-Arendt-Preis (2011) und dem Kleist-Preis (2012). Im Oktober 2015 wurde ihm der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels zuerkannt. Kermanis Erzählkunst greift das Thema Identität unter Berücksichtigung der Verf lochtenheit von Differenz und Ähnlichkeit im kulturellen Gedächtnis in einer literarisch anspruchsvollen Weise auf und kreist um menschliche Grenzerfahrungen. Der bereits im Jahre 2011 erschienene Roman Dein Name handelt von einer west-östlichen Familiengeschichte zwischen Teheran, Kabul und Köln. Es ist die Geschichte eines iranischen Arztes, der seine Frau zunächst in eine iranische Provinz, dann nach Deutschland mitnimmt. Der Sohn dieser Familie sieht sich mit Fragen nach Individuum, Gesellschaft, Religion, Sexualität, Geschichte und Tod konfrontiert und setzt sich in ihren Verschränkungen mit seiner Identitätsarbeit auseinander. Im Kontext meiner Studie steht weniger der autobiographische Aspekt des Autors im Roman Dein Name im Zentrum als vielmehr die Figur des Sohnes, die in Große Liebe explizit auftritt. Der Fünfzehnjährige spricht hier – anders als die Hauptfigur in Dein Name – kaum über seine fernliegende Vergangenheit; vielmehr bedient er sich einer Symbolik, die auf eine andere Welt als die im Roman verweist. Diese andere Welt wird durch die persische Mystik gestaltet.

91 Nach dem iranischen Kalender 1359. 92   Hingegen existiert eine Reihe von Rezensionen, die nur einen allgemeinen Einblick in Falakis Werk geben. 93   Reflexionen aus dieser Zeit finden sich in Kermani: Was Verstehen bedeutet, 2001.

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Sozusagen Paris erzählt von einer Liebe ohne den Höhepunkt. Hier scheint es weniger um die Liebe zu gehen als vielmehr um das Sich-Verlieben, was die Thematik dieses Romans in die Nähe von Große Liebe rückt; auch die weibliche Hauptfigur trägt in beiden Romanen den gleichen Namen. Und noch mehr: Der Ich-Erzähler in Sozusagen Paris spricht wiederholt den Leser an und liest ihm aus dem Roman Große Liebe vor. Die Liebeserfahrung ohne den Höhepunkt zielt auf die Mystifizierung der Liebe ab und wird in meinem Zusammenhang in Roman Große Liebe eingehend diskutiert, so dass ich auf die Analyse des Romans Sozusagen Paris verzichte, um Wiederholungen zu vermeiden. Für die intermediale Analyse, die im Abschnitt zur methodologischen Ausrichtung noch erläutert wird, werden zwei Filmbeispiele aufgrund ihrer kulturellen Bedeutung und ihres analytischen Potentials herangezogen: Salami Aleikum (2009) von Ali Samadi Ahadi (*1972, Täbris) und Almanya. Willkommen in Deutschland (2011) von Yasemin (*1973, Dortmund) und Nasrin Samderelis (*1979, Dortmund). Die intermediale Analyse intertextueller Verhältnisse untermauert nicht nur die Bestimmung des thematischen Spektrums, sondern strebt auch die zuvor genannte Überprüfung von vergleichbaren Erscheinungen im deutsch-iranischen und deutsch-türkischen Migrationsgedächtnis an. Darüber hinaus begründet sie den Generationsaspekt unter Berücksichtigung kultureller Umwandlungen. Der Generationsaspekt wird in den Filmen Salami Aleikum und Almanya wie in Yadé Karas (*1965, Çayırlı) Roman Selam Berlin (2003) durch vielschichtige Figurenkonstellationen und Erzählmöglichkeiten gestaltet. Am Beispiel der Familie werden die Generationen, deren kollektives Gedächtnis und dessen Relation zum kulturellen Gedächtnis zueinander in Beziehung gesetzt. Dass sich hier die Auswahl auf das deutsch-türkische Migrationsgedächtnis ausweitet, wirkt vielleicht irritierend. Aber eben diese Erweiterung liefert den Beleg für die Homogenisierung und Reduktion, die vom Begriff Migrationsliteratur ausgehen. Dieser Begriff umfasst, wie der zweite Teil des folgenden Kapitels zeigt, hauptsächlich Werke, die infolge der Arbeitsmigration entstanden sind. Davon wären Werke mit einem deutsch-iranischen Migrationsgedächtnis per definitionem ausgeschlossen. Geht man aber von der Werkanalyse aus, so lässt sich meine These über Korrelation und Kohäsion mit Hilfe von Narrativen Identität, Heimat, Europa und Sprache begründen. Das Aufzeigen korrelativer und kohäsiver Zusammenhänge wäre also die eine Aufgabe. Die andere ist, auszuarbeiten, wie aus der Analyse des deutsch-türkischen und der deutsch-iranischen Migrationsgedächtnisses am Beispiel des Generationsaspekts kulturelle Transformationen abzuleiten sind. Die Konstruktion des kulturellen Gedächtnisses mit Hilfe der deutsch-iranischen und der deutsch-türkischen Identitätsarbeit ermöglicht unter Berücksichtigung des methodischen Zusammenhangs von Text und Film die Feststellung von Unterscheidungsmerkmalen und Ähnlichkeitsreferenzen bei der kulturellen Identifikation. Die Werkanalyse insgesamt verspricht die Verdeutlichung einer Doppelstrategie: die eine der Erzählwelt, die andere der Rezeptionsseite. Die Erzählwelt konstruiert Handlungs- und Ref lexionsmomente, die historisch durchaus unterscheidbar sind. Die historische Unterscheidbarkeit bei der Gestaltung der Erzählwelt suggeriert jedoch keineswegs Trennungsmerkmale. Vielmehr wird sich die Unterscheidbarkeit im Erzählverlauf als Grundlage, besser gesagt, als Motivation zur Gestaltung gemeinsamer Interaktionsprozesse durch die Figuren herausstellen. Die Momente der Unterscheidbarkeit werden in der Forschungsliteratur nicht selten auf ihre Trennungsfunk-

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tion reduziert. Die Reduzierung der Erzählwelt auf die historische Unterscheidbarkeit der Geschichte verlöre aber an regulierender Funktion und Bedeutungshoheit, wenn die Analyse dieser Welt aus der Figurenperspektive erfolgte. Es scheint also, als erzeuge die Adressierung der Rezeptionsseite erst das binäre Verhältnis einer National- und Migrationsliteratur.94 Wie ist die Konstruktion dieses binären Verhältnisses denkbar? In einem Interview des Deutschlandfunks über die Liebesgeschichte in Parlando mit le phung (2014) fragte Sandra Hoffmann SAID: »Sie sind ein Schriftsteller iranischer Herkunft, deutscher Dichter, […] und ich habe mich gefragt, in welcher Tradition sehen oder fühlen Sie sich beim Erzählen […]?«95 SAIDs Antwort lautete: »In keiner Tradition, weder iranisch noch deutsch«.96 SAID pointiert weiter: Er sei der Meinung, »Literatur muss auch, Betonung auf auch, Geständnis sein«.97 Durch diese Antwort wird insofern eine differenziertere Sprache gesprochen, als sie die Außenperspektive eines Diskurses in eine Innenperspektive des Gedächtnisses umwandelt. Hoffmanns Versuch, SAID in einer Tradition zwischen Herkunft und Ankunft zu verorten, SAIDs klare Absage an das Schreiben in solch einer bestimmten Tradition und die Forderung zur Individualisierung seines Werks in einem durch das Gedächtnis konstruierten kollektiven Kontext verdeutlichen die Problematik. Mit dieser Einstellung steht SAID keineswegs alleine. Guðbergur Bergsson (*1932, Grindavík) – um vielleicht noch ein Beispiel zu nennen – schreibt in seinem Essay Die Kunst, sich zu erneuern Ähnliches: Ich glaube nicht, dass ein Romanautor während der Arbeit darüber nachdenkt, welcher Nationalität er angehört. Wahrscheinlich beschäftigt sich ein Schriftsteller noch weniger mit der Frage, von welchem Kontinent seine Werke stammen, oder ob seine eigene Natur einer anderen möglichen Welt entspringt als jener, die in seiner Seele existiert, und die er in so etwas wie Inseln zu verwandeln sucht.98 Das Verb glauben relativiert in Bergssons Äußerung das Ergebnis der Ref lexion über die Bedeutung einer ausschließlich nationalen Zugehörigkeit in der literarischen Produktivität. Die Aufforderung, Literatur müsse Gedächtnis sein, dürfte auf der Rezeptionsseite bewirken, die Literaturlektüre nicht zwingend am Horizont ethnischer, territorialer und nationaler Bezogenheit zu vollziehen. Durch das Gedächtnis, das selbst erst durch die Sprache – und sofern es ästhetisch konstruiert ist – auch durch die Literatur zugänglich gemacht wird, lässt sich Literatur ebenfalls in unterschiedlichen Sphären des Gedächtnisses verorten. Die Rezeptionsseite kann aus den unterschiedlichen Sphären des Gedächtnisses im besten Falle eine fragmentarische Welt rekonstruieren, deren Gestalt dem Bild von »Inseln« entspräche. Vor dem Hin94   Das binäre Bezeichnungssystem existiert außerhalb literaturwissenschaftlicher Kreise auch in der bibliothekarischen Erfassung. Der Katalog der Deutschen National Bibliothek führt bspw. Hamid Sadrs Romane trotz der Originalsprache Deutsch mit dem Sachgruppenzusatz »Literatur in anderen Sprachen«. Auf dem Umschlag des Romans steht: »Die Freiheit des Fremden ermöglicht dem iranischen Exilautor einen ganz eigenen Zugang zu unserer Geschichte« (Hervorhebungen von H.T.). 95   Hoffmann: Literatur muss auch Geständnis sein, 2014. 96  Ebd. 97  Ebd. 98  Bergsson: Die Kunst, sich zu erneuern, 2003, 45.

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tergrund dieser Idee wird sich – das lässt zumindest die Interpretation des Analysematerials feststellen – die Bindung eines Autors an seinen Ursprung und seine Herkunft als problematisch erweisen, weil dieser Bindung erst ein territoriales Denken vorangehen müsste. Das territoriale Denken in Europa ist Klaus-Michael Bogdal zufolge »ein bewusster Akt der Desintegration aus den […] entstandenen sozialen, rechtlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Systemen«.99 Es bedeutet, von einem Denken auszugehen, das Menschen und Boden in »Besitz- und Eigentumsverhältnissen« betrachtet und diese als »entscheidende Ressourcen des Fortschritts, Wohlstands und der Macht« auslegt, wonach die »territoriale Verortung und Akzeptanz unauf lösbar miteinander verknüpft« werden.100 Argumentum e contrario bedeutet das territoriale Herkunftsverhältnis, wer in einem gemeinsamen Territorium nicht erfasst wird, wird auch nicht akzeptiert. Dagegen wendet sich die Auffassung, Literatur müsse Gedächtnis sein, denn sie verortet Literatur in einem fiktiven Raum, in den sie auch hingehört. Mit der Determinierung des binären Verhältnisses werden Aspekte definiert, die weniger das Ästhetische als vielmehr das Nationale in den Vordergrund rücken.101 Projektionen des Nationalen sind der wesentliche Grund dafür, dass die Rezeption der deutschsprachigen Literatur aus der Feder der in die Bundesrepublik Deutschland migrierten Autoren schwierig war und ist. Der Begriff Migrationsliteratur verstärkt diese schwierige Rezeption insbesondere durch die Implikation des Verständnisses von der nationalen Verortung der Literatur, die der Entscheidung über das Normative, von dem aus alles andere als Norm-Relativierung bzw. Norm-Abweichung bestimmt wird, erleichtern würde.102 Um eine andere Analyse ist meine Studie bemüht: Sie geht von dem Vorschlag aus, Literatur jenseits von »departure and debt«103 zu betrachten, und beschreibt ihr Zuhause-Sein an dem Ort des Gedächtnisses und an den Netzorten dessen Artikulationen.

1.3.2 Fragestellung Zunächst müsste erklärt werden, warum der Begriff Migrationsliteratur in den kulturwissenschaftlichen Migration-Diskursen Binarität erst schafft und deshalb auch andere Betrachtungsweisen im Diskurs der Literaturwissenschaft erschwert. Den Gegenstand des theoretischen Schrittes bildet die Begründung meiner Kritik am Begriff Migrationsliteratur. Die Interpretation des Analysematerials wird meine Kritik insofern unterstützen, als sie Migration als Phänomen der Kultur begreift, die selbst im Medium des Erzählens Gestalt gewinnt. Im Erzählen nehmen Figuren direkt oder 99  Bogdal: Europa erfindet die Zigeuner, 2011, 45. 100 Ebd., 45. 101 Siehe zur Diskussion Albrecht: Literaturkritik, 2001. 102   Dass Literatur auf vielfältige Weise für »Erfahrung von Fremdheit« (Grabes: Einführung in die Literatur und Kunst der Moderne und Postmoderne, 2004, 19) sorgt, liegt in ihrem Wesen als Kunstform. Im Hinblick auf Fremdheitserfahrung in der Kunst verweist Herbert Grabes darauf, es sei aus heutiger Sicht schwer vorstellbar, »dass die später so populär gewordene Malerei der Impressionisten zunächst [1874] schockierte« (ebd., 20). In dieser Feststellung liegt der Hinweis auf die Revision von Wertesystemen und Maßstäben. Eine Kunstform, die herausfordern will, vermeidet nicht die »Konfrontation mit alternativen Wirklichkeiten und ungewohnten Darstellungen zugleich« (ebd., 22). 103   Certeau: The Writing of History, 1992, 318.

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indirekt auf das Phänomen der Migration Bezug, betrachten diese aber nicht als Entität, die Außen- und Innenräume der Kulturen determiniert, sondern als Gegenstand kultureller Prozesse. In den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts entstanden die ersten, für die Literaturanalyse entscheidenden Ansätze, das Phänomen der Migration im deutschsprachigen Raum literarisch zu erfassen. Weil die ersten Migrationsprozesse in der Bundesrepublik im Rahmen der Anwerbung von Gastarbeitern erfolgten, wurden literarische Ref lexionen über Migration Gastarbeiterliteratur genannt. Diese entwickelte sich zu einem Terminus, der die zeitgenössische Literaturanalyse maßgeblich prägen sollte. Arbeitsmigration wird von den prominenten Autoren, darunter auch Aras Ören (*1939, Istanbul), zu Beginn mit »meta-fictional ref lections on modern narrative«104 zusammengebracht. Diese Verf lechtung führt dazu, dass Phänomene der außertextuellen Wirklichkeit in die ästhetische Wirklichkeit des Textes f ließen, was auf dem ersten Blick nicht problematisch erscheint. Das Problem entsteht lediglich dort, wo die Interpretation der Ästhetik sich auf die Kriterien der außertextuellen Wirklichkeit beschränkt. Die Folge ist beispielsweise, dass die iranische Migration in den literaturwissenschaftlichen Migrationsdiskursen vernachlässigt wird.105 Unter dem Einf luss der Arbeitsmigration finden in den literaturwissenschaftlichen Diskurs nur Werke Eingang, die sich Themen aus dem unmittelbaren Bereich der arbeitsbedingten Migration annehmen. Allen voran stehen Ref lexionen der aus der Türkei stammenden Schriftsteller.106 An den theoretischen Schritt schließt sich der interpretatorische in den Kapiteln drei und vier an. Er verfolgt das Ziel, den soeben erwähnten Rahmen durch die Konzentration auf die Erzählwelt zu durchbrechen. Die Erzählweltanalyse nimmt sich der Positionierung von Figuren an, welche die Verschiebung der Perspektive von dem ethnisch-nationalen und territorialen hin zu einem individuellen Blick auf die Kultur veranschaulichen. Weil sich diese Verschiebung aus Figurenkonstellationen ableiten lässt, so muss erst danach gefragt werden, wie das Erzählen107 die Figur des Migranten überhaupt positioniert. Von hier aus lassen sich dann unterschiedliche Figurenperspektiven ausmachen, die je nach ihrer Semantiken die Erzählwelt sinnvoll gestalten. Diese gewinnt wiederum ihre Dynamik dadurch, dass die Figuren in ihr sprechen, handeln, interagieren und gestalten. Erst die nähere Betrachtung figurativer Interaktionen ermöglicht, Spuren der Migrationsgeschichten zu rekonstruieren und zu prüfen, ob Figuren bei ihren Interaktionen und Positionierungen überhaupt Erfah-

104  Adelson: Migrants and Muses, 2004, 916f. 105   In dem von Chiellino herausgegebenen Sammelband Interkulturelle Literatur in Deutschland (2007) entstehen die ersten Einblicke in die Migrationsliteratur in fast allen Gruppen der in Deutschland lebenden Minderheiten seit den 1950er Jahren. Ein Beitrag über die deutsche Literatur mit Bezug auf die iranische Migrationsgeschichte fehlt. Gleiches gilt für den Sammelband Chiellino et al. (Hgg.): Bewegte Sprache, 2014; Meier-Braun et al. (Hgg.): Deutschland Einwanderungsland. Begrif fe – Fakten – Kontroversen, 2013. Ferner gibt es bis heute noch keine kultur- und literaturwissenschaftlich relevante Studie, die sich der deutschsprachigen Literatur mit Migration als Thema am Beispiel Irans annimmt. Nach dem Informationsstand im September 2015 sind Dissertationen im Entstehen begriffen, die eine Annäherung an das Thema wagen, so etwa an den Universitäten Bonn und Namur. 106  Bower: Made in Germany, 2014, 357f. 107  White: The Value of Narrativity in the Representation of Reality, 1981.

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rungen einer Migration teilen und wenn ja, inwiefern sich diese Erfahrungen ähneln, sich unterscheiden und sich verändern. Das Ergebnis der Figurenanalyse ist, dass Figuren des deutsch-iranischen Migrationsgedächtnisses, die von der Erzählwelt aus nur teilweise als Migranten-Figuren bezeichnet werden, eine Identifikation mit dem Herkunfts- und Ursprungsort nur bedingt zulassen. An diese Erkenntnis schließt sich die Frage nach den Modi der Identitätsarbeit an. Diese Frage wird sich insofern als relevant erweisen, als ihre Beantwortung die Integration des deutsch-iranischen Migrationsgedächtnisses in das Gedächtnis der europäischen Auf klärung ermöglicht. Geht man von Transformationen des Kulturellen aus, so müsste man fragen, inwiefern sich diejenigen Werte der Auf klärung, auf denen die Idee einer europäischen Gemeinschaft beruht, seit den achtziger Jahren verändern und wie die Literatur den Diskurs kultureller Transformationen führt. Die Narrative, an denen kulturelle Transformationsprozesse aufgezeigt werden, sind – das dürften die bei der Vorstellung der Werkauswahl erwähnten Themenschwerpunkte verdeutlicht haben – Identität, Europa, Heimat und Sprache. Angestrebt wird die Begründung der Annahme, dass der Migrationsdiskurs der deutschsprachigen Literatur in den ausgehenden siebziger und beginnenden achtziger Jahren Grenzen des Reduktionismus und der Kategorisierung zu sprengen versuchte und neue Sichtweisen auf die Darstellungsmöglichkeiten kultureller Transformationen eröffnen wollte. Dieser Versuch lässt sich an Poetiken der Migration ablesen, die in der deutschsprachigen Literatur jener Zeit einen Avantgarde-Charakter besaß. Was die deutschsprachige Literatur des 20. Jahrhunderts mit Migration in Verbindung brachte, ergab sich hauptsächlich aus literarischen Formen, mit denen gegen den Nationalsozialismus Position bezogen wurde. Im Diskurs der Literaturwissenschaft erfasst Exilliteratur begriff lich diese spezifische Form der Migration aus den deutschsprachigen Ländern in das Ausland zwischen 1933 und 1945.108 In den ausgehenden siebziger und beginnenden achtziger Jahren aber betraten diejenigen Autoren das literarische Feld, die nicht aus der, sondern in die Bundesrepublik immigrierten. Der Avantgarde-Charakter ihrer Werke zeichnet sich insbesondere dadurch aus, dass sie das bereits vertraute Verhältnis des Eigenen und Fremden aus dem Gleichgewicht bringen. Mit ihren literarischen Ref lexionen über die Migration in einem Zeitalter, in dem sich die Gesellschaften in der Bundesrepublik Deutschland und Europa den Weg von einer Europäischen Gemeinschaf t zu einer Europäischen Union zu bahnen bemüht sind, gestalten die in die Bundesrepublik immigrierten Autoren eine Poetik, in der die Bilder der Migration in der deutschen Sprache nur scheinbar als Fremden-Bilder betrachtet werden können. Die germanistische Literaturwissenschaft musste sich des Diskurses dieser Bilder erst annehmen (2.2). Die Werke der in die Bundesrepublik immigrierten Autoren führen und gestalten den Migrationsdiskurs in einer Weise, dass sie binäre und ontologische Mechanismen kultureller Zuschreibungen hinterfragen und für das In-Beziehung-Setzen von Kulturen eintreten. An das In-Beziehung-Setzen von Kulturen in der Poesie lässt sich der Schwerpunkt im deutsch-iranischen Migrationsgedächtnis nach folgenden Gründen anschließen. Erstens: Literarische Werke mit dem Thema Migration im Kontext des deutsch-iranischen Migrationsgedächtnisses sind bislang nicht erschlossen worden. Zweitens: Ihr Entstehungskontext ist ein anderer als der einer Arbeitsmigration, wie sie 108 Spalek (Hg.): Deutschsprachige Exilliteratur seit 1933, 1976-2010.

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in der Literaturwissenschaft häufig diskutiert worden ist. Drittens: Die Unterschiedlichkeit der Kontexte bestätigt die These über das Manko des Begriffes Migrationsliteratur in der Umwandelung von Unterscheidungsmerkmalen in Trennungsmerkmale. Viertens: Diese Werke ref lektieren kulturelle Herausforderungen der Gegenwart und konfrontieren Deutschland und Europa mit sich selbst. In den Ref lexionen werden Deutschland und Europa zum Gesprächspartner und zum Gegenstand zugleich. Den Kontext dieses Gesprächs gestaltet das Ineinandergreifen des kulturellen und des individuellen Gedächtnisses. An dem »Gewebe«109 des Gedächtnisses partizipieren Kultur und Individuum und konstruieren mit Hilfe von Unterscheidungs- und Ähnlichkeitsmerkmalen einen Erinnerungsraum110 des deutsch-iranischen Migrationsgedächtnisses. In den Erinnerungsräumen treffen das fernliegende und historisch gewordene Gedächtnis der Migranten-Figur auf das Gedächtnis einer Kultur, der sie sich anzunähern versucht, auf einander. So sind beide Gedächtnishorizonte in der Migranten-Figur präsent: Der eine setzt sich aus Erinnerungen zusammen, die in der Wirklichkeit des Textes zugänglich gemacht werden, der andere bildet sich in der Wirkung der Figur in der Jetztzeit der Erzählung und erfährt erst hier eine identitätsstiftende Bedeutung. Die Figur des Migranten ist darum bemüht, am Gewebe dieses Gedächtnisses mitzuwirken und ein gemeinsames kulturelles Gedächtnis zu stiften, auf das sie selbst und die Kultur, in der das Gedächtnis entstanden ist, sich berufen können. Aus der Perspektive der Hauptfigur, an den Gestaltungsmodi der Erzählwelt und an den ästhetischen Stilmitteln lässt sich im Anschluss an die im Prolog in den Vordergrund gestellte Kardinalfrage nach der Poetik der Migration ein Bündel weiterer Fragen zusammenstellen, die eine Orientierung durch die Arbeit ermöglichen: Wie wird Migration im Modus des Erzählens konstruiert und wie ist ihre Relevanz in der Erzählwelt einzuschätzen? Was sind diejenigen Stilmittel, welche die Poetik der Migration konstruieren und wie wird ihr Verhältnis zueinander dargestellt? Inwiefern lassen diese Stilmittel Erfahrungen von Verlust regionaler, ethnischer, kultureller und persönlicher Bindungen als Folge von Migration erkennen? Geht es tatsächlich um Verlust oder vielmehr um Enttäuschungen und Erkenntnisse, die Neuorientierungen am Ort der Migration steuern? Wenn die Verlusterfahrung durch das Einschreiben des Migranten in eine neue Gemeinschaft verarbeitet wird, in was für ein Verhältnis setzt die Literatur die Migranten-Figur und die vergangene wie neu gewonnene Gemeinschaft zueinander? Wenn im Modus des Erzählens einerseits Erinnerungen zugänglich gemacht werden und eine Vorstellung über die historische Identitätszuweisung vermitteln, andererseits aber identitätsbildende Erinnerungen gestiftet werden, in was für einem Verhältnis stehen diese Erinnerungsräume zueinander? Wie lässt sich dieses Verhältnis literaturtheoretisch beschreiben? Die Auseinandersetzung mit diesen Fragen am Beispiel des deutsch-iranischen Migrationsgedächtnisses verspricht Einblicke in die Rekonstruktion identitätsbildender Erinnerungen und thematisiert diese im Kontext kultureller Transformationen. Den kulturellen Wandel am Migrationsgedächtnis abzulesen, bedeutet diejenigen Narrative auszuarbeiten, an denen Erfahrungen der Migration dargestellt werden. Diese Narrative erzeugen Semantiken, die sich im diachronischen Verlauf des literarischen Migrationsdiskurses verändern. Wie sich die narrativen Semantiken der Migration im kreativen Verfahren literari109  Barthes: Leçon/Lektion, 1978, 25. 110  Assmann: Erinnerungsräume, 1999.

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scher Gestaltung verändern und wie sie dabei neue Bedeutungen produzieren, wird in der Auseinandersetzung mit der Frage nach den Kulturen, in denen sich Migrationsprozesse vollziehen, erhellend sein. Aus der Menge von erzählerisch gestalteten Themenbereichen habe ich mich für Identität, Europa, Heimat und Sprache entschieden, weil ich der Meinung bin, dass diese Bereiche bei den Fragen nach der kulturellen Verotung des Individuums in turbulenten Zeiten wie die gegenwärtigen nicht nur entscheidend, sondern auch existentiell sind. Die genannten Themenbereiche stellen in meiner Diskussion die grundsätzliche diskursive Logik dar. Ihre Analyse im dritten und vierten Kapitel wird nachweisen können, dass die ausgewählten Themenbereiche schon immer den Gegenstand künstlerischer und literarischer Ref lexionen gebildet haben und sich nicht zwangsläufig als Phänomene einer Migrationsliteratur profilieren. Was aufgezeichnet werden kann, ist ihr Wandel in den Diskursen der Literatur. Am Beschreiben dieses Wandels sollte die Literaturwissenschaft ein maßgebliches Interesse haben, denn an Wandel, Akzentuierung, Modifikation, Neubildung und Neuorientierung lassen sich Transformationen des Kulturellen ablesen. Die konstruierte Geschichte dieser Transformationen schreiben die Figuren eines deutsch-iranisches Gedächtnisses, nicht weil sie aus dem Iran stammen, sondern weil ihre Welten das Migrationsgedächtnis narratorisch als deutsch-iranisch codiert. Wenn ich dieses Gedächtnis in der Erzählwelt lese, so erfolgt meine Lesart in einer textimmanenten Welt. Ihre Konstruktion lässt diese Welt als semantische Explikation verstehen. In ihr kann nach Theorien der Kultursemiotik eine »ausgestattete Welt«111 gesehen werden. Mit ihr wird ein »Zustand von Dingen« beschrieben, der »von einer Gesamtheit von Propositionen ausgedrückt wird«.112 Wenn propositionale Handlungen diese Welt im Medium des Erzählens gestalten, so kann von einer ausgestatteten Erzählwelt gesprochen werden, in der propositionale Handlungen durch Figuren, die am Gewebe der Erzählwelt partizipieren, miteinander verbunden werden und in der jeweiligen Figurenwelt ihre eigenen Semantiken erzeugen. In dieser Welt werden Handlungen aus der Perspektive der Handelnden, d.h. der Figuren und aus den Semantiken ihrer Weltstrukturen gedeutet. Die Analyse der Narrative ermöglicht einen Zugang zu der ausgestatteten Erzählwelt und führt mit Blick auf das Migrationsgedächtnis zu der Erkenntnis, dass die Unterscheidungsmerkmale im individuellen und kulturellen Gedächtnis der Figuren und deren Welten zwar existieren, aber in anderen konstruierten Zusammenhängen aufgehen als im Kontext einer kulturellen Gegenpositionierung im Sinne des Einheimischen und Migranten. Ein Beispiel hierfür lässt sich in der Erzählstrategie beobachten, durch welche der Iran, Europa und die Bundesrepublik Deutschland zusammenfinden. Auf welche Art und Weise sich diese Zusammenführung im deutsch-iranischen Migrationsgedächtnis erzählerisch vollzieht, lässt sich über einen Umweg diskutieren, der den Blick zunächst auf die sogenannte Islamische Republik lenkt. Diese kann 111  Eco: Lector in fabula, 1987, 154-181, hier 155. 112   Ebd., 162. »Eine Welt als solche besteht aus einer Gesamtheit von Individuen, die mit Eigenschaften ausgestattet sind. Da einige dieser Eigenschaften oder Prädikate Handlungen sind, kann eine mögliche Welt auch als Ablauf von Ereignissen angesehen werden. Da dieser Ablauf von Ereignissen nicht aktuell, sondern eben möglich ist, muß er abhängig sein von den propositionalen Handlungen dessen, der jenen Verlauf bestätigt, ihn glaubt, träumt, ihn wünscht oder voraussieht etc.« (Ebd.)

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nämlich als eine kulturelle Praxisebene betrachtet werden, welche die in Europa diskutierten Konzepte und Ideen über Freiheit, Brüderlichkeit, Gleichheit, Kommunismus und Sozialismus zwar aufgriff, sie aber mit den in sich widersprechenden Ideologien färbte und diese wiederum im Sinne einer ›islamischen‹ Staatsführung in die Praxis umsetzte. Die Ideologie der Revolution im Iran der ausgehenden 1970er Jahre wurde nach dem französischen und russischen Vorbild vertreten. Als Religion war der Islam im Iran über Jahrzehnte präsent, zur Staatsreligion entwickelte er sich jedoch erst zu Beginn des 16. Jahrhunderts. Auf das europäisch-islamische Erbe berief sich die Ideologie der Islamischen Revolution und erzeugte in ihrer Doktrin ein Paradox, das sich aus der Zusammensetzung der Republik und der Religion ergab. Es entsteht also der Widerspruch zu der Auffassung über den säkularen Staat im Sinne der Französischen Revolution. Die enge ideologische Auslegung von Kommunismus und Sozialismus vollzog sich nach Modellen der Sowjetunion und der Oktoberrevolution, die im Iran durch die Aktivitäten der radikalen Tudeh-Partei vertreten wurden. Auch in diesem Kontext bestand ein Widerspruch in der Zusammenführung von Republik und Ideologie.113 Die Deutung der Ideologie nach semiotischen Kulturtheorien sieht in ihr eine Weltanschauung, die von vielen Sprechern und im äußersten Fall von einer ganzen Gesellschaft geteilt wird. Diese Auffassung wird von Umberto Eco (1932-2016) als »Aspekte des globalen semantischen Systems« und als eine »schon segmentierte Realität« betrachtet.114 Hinsichtlich des globalen semantischen Systems der ideologischen Wirklichkeit stellt sich die Frage danach, wie segmentierte Codes in der Wirklichkeit der ausgestatteten Erzählwelt zueinander in ein semantisches Verhältnis gesetzt werden. Ausgehend von meiner textimmanenten Lesart und der Überlegung, Handlungen aus der Perspektive der Handelnden und den Semantiken ihrer Weltstrukturen zu deuten, betrachte ich das Verhältnis der segmentierten Codes in der Wirklichkeit der ausgestatteten Erzählwelt als Resultat einer subjektiven Arbeit der Figuren an der Erzählwelt.115 Sie stellen in ihr aus diesen Codes ein Wertesystem zusammen, das die Gegenüberstellung der aus Sicht des empirischen Subjekts fern voneinander liegenden Realitäten in der Erzählwelt ermöglicht. Die Leistung der Figuren, aus deren Perspektive die ausgestattete Erzählwelt betrachtet wird, besteht darin, dass sie durch ihre Identitäts- und Erinnerungsarbeit die kulturelle Praxis in der ausgestatteten Erzählwelt herstellen und sie insofern kritisch hinterfragen, als sie Europa, Deutschland und den Iran in einem deutsch-iranischen Gedächtnis in Beziehung setzen.

1.4 Herangehensweise und methodische Ausrichtung In der ohnehin interdisziplinär ausgerichteten germanistischen Interkulturalitätsforschung hat sich ein Methodenpluralismus bereits etabliert. Die Kehrseite des Methodenpluralismus, sollte er zielführend sein, besteht in der Notwendigkeit der Beschränkung auf nur bestimmte, ausgewählte Theorien, die der Analysepraxis dienlich sein können. Diese vollzieht sich in meiner Studie auf der Grundlage der kulturse113 Siehe zu Hintergründen und Diskussionen Wahdat-Hagh: Die Islamische Republik Iran, 2003. 114  Eco: Einführung in die Semiotik, 1972, 168. 115  Eco: Semiotik, 1991, 399-403, hier 401.

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miotischen Methode. Da ich vom Erzählen als Darstellungsmedium des kulturellen Gedächtnisses ausgehe, müssten die Verbindungspunkte der Kultur- und Erzähltheorie ausgearbeitet werden. Mit der Ausarbeitung setze ich mich im dritten Abschnitt des zweiten Kapitels auseinander. Dabei werden die Begriffe Erzählung und Narration ohne inhaltliche Diskrepanz verwendet. Gefragt wird bei der Auseinandersetzung mit der Kultur- und Erzähltheorie nach einem kulturwissenschaftlichen Diskurs der Narratologie. Theoretische Ansätze, die aus den Diskussionen über Techniken und kulturelle Felder des Erzählens hervorgegangen sind, unterstreichen die Notwendigkeit einer kulturtheoretischen Analysepraxis, die nicht nur die bereits angesprochenen Erkenntnisse über Transformationen des Kulturellen (2013) aufgreift, sondern Transformationen des literarischen Feldes (2012)116 auf eigene Weise untermauert. Methodische Überlegungen ergeben sich aus den Erkenntnissen aktueller Diskussionen über den Stellenwert von Erzählung als Verfahrensweisen der Kultur-Erzeugung117 und über Konstruktionen, die bei diesen Verfahrensweisen entstehen und ihre eigenen Funktionen bei der Kultur-Erzeugung erfüllen.118 An diesen Aspekten orientiert, stellt sich in der kulturwissenschaftlichen Erzählforschung die Frage nach Kulturen als »Erzählgemeinschaften, die sich gerade im Hinblick auf ihr narratives Reservoir unterscheiden«.119 Die theoretische Analyse dieser Frage erklärt Überlegungen über eine »narratologisch orientierte Kulturtheorie«120 oder »eine narrativistische Theorie der Kultur«121. Eine solche Analyse sieht ihre Aufgabe nicht in einer bloßen Wiederbelebung erzähltheoretischer Ansätze des Strukturalismus, sondern in der Integration konzeptioneller und methodologischer Ansätze anderer Literatur- und Kulturtheorien.122 Erörtert wird das Vorhaben sowohl im Hinblick auf das Desiderat eines narrative turn in den Kulturwissenschaften wie einer kulturwissenschaftlichen Narratologie als auch auf das produktive Potential einer wechselseitigen Zusammenführung von Kulturwissenschaften und Narratologie,123 wobei die Erkenntnis über Er116 Tommek et al. (Hgg.): Transformationen des literarischen Feldes in der Gegenwart, 2012. 117   Müller-Funk: Die Kultur und ihre Narrative, 2008, 17. 118  Eibl: Kultur als Zwischenwelt, 2009, 27. 119   Müller-Funk: Die Kultur und ihre Narrative, 2008, 14. 120 Ebd., 15. 121 Ebd., 175. 122 Siehe zur Diskussion Herman: Basic Elements of Narrative, 2009; Schmid: Elemente der Narratologie, 2014; 123 Siehe hierzu Nünning: Wie Erzählungen Kulturen erzeugen, 2013, 20-26. – Versuche über die Verortung der Erzähltheorie in kulturtheoretischen Ansätzen erfolgen nach der u.a. von Brian Richardson ins Gespräch gebrachten Diskussion über Narrativität als »basic vehicle of human knowledge« (Richardson: Recent Concepts of Narrative, 2000, 168). Auf diesem Anspruch basierend setzt sich die kulturtheoretische Narratologie zum Ziel, über die kulturelle Bedeutung von Literatur und über das Verständnis von Kulturen in Abhängigkeit voneinander Aufschluss zu geben (Erll et al.: Kulturgeschichtliche Narratologie, 2002). Das kulturtheoretische Potential der Erzähltheorie weckt das Ergänzungsbedürfnis erzähltheoretischer Analysemodelle (Nünning et al.: Von der strukturalistischen Narratologie zur ›postklassischen‹ Erzähltheorie, 2002, 1-9) unter einer breitgefächerten Begriffssammlung. Dazu gehören nach dem Handbuch Neue Ansätze in der Erzähltheorie etwa kontext- und themenbezogene Ansätze, transgenerische und intermediale Applikationen und Erweiterungen der Erzähltheorie, pragmatische und rhetorische Narratologie, kognitive und rezeptionsorientierte (Meta-)Narratologien, postmoderne und poststrukturalistische Dekonstruktionen, linguistische Ansätze, philosophische Erzähltheorien

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zählung als sprachliches Ausdrucksmedium, als literarische Form aber auch als phänomenologischen und kognitiven Modus der Selbst- und Welterkenntnis weiterhin als Prämisse gelten soll.124 Gewinnbringend ist dieses theoretische Konzept deshalb, weil es zur Weiterentwicklung der Narratologie für die Kulturwissenschaften beiträgt.125 Die Frage, die den produktiven Pakt von Erzähl- und Kulturtheorie schmiedet, richtet sich danach, »wie Erzählungen Kulturen erzeugen«126. Gegenstand der Analyse ist die ausgestattete Erzählwelt, die in einer Gesamtheit von Propositionen Ausdruck findet.127 In diesem Zusammenhang ist auch das zu verstehen, was Narration ausmacht. Narration soll hier als Gruppierung von Handlungselementen betrachtet werden, die jenseits der Unterscheidung von literarischen Gattungen (Prosa, Drama und in den meisten Formen der Lyrik) auch in den nicht-literarischen Formen wie Alltagserzählungen existiert. Narration legt die ästhetische Erfahrung in der ausgestatteten Erzählwelt offen, indem sie das Netzwerk mannigfacher Kommunikationsakte herstellt. Die Kommunikationsakte erzeugen in verschiedenen Modi unterschiedliche Reaktionen oder rufen diese hervor,128 operieren auf verschiedene Art und Weise, erfassen kulturelle Felder, modellieren die erzählte Zeit und das, was für sie von Bedeutung ist.129 Die Gestaltung dieses Netzwerks vollzieht sich auf zwei ästhetischen Erfahrungsebenen, der des Produzenten und der des Rezipienten. Die sprachliche Verfasstheit und die kommunikative Bedingtheit der ausgestatteten Erzählwelt implizieren die Frage nach deren Vermittelbarkeit. Wo immer Bedeutsames mitgeteilt wird, wirkt das Erzählen über kulturelle Grenzen hinweg.130 Die Geschichtswissenschaft sieht die Relevanz des Erzählens darin, dass jeder Verund andere interdisziplinäre Erzähltheorien (Nünning et al.: Von der strukturalistischen Narratologie zur ›postklassischen‹ Erzähltheorie, 2002, 9-19). Nicht alle Kategorien werden hier als Analyseverfahren eingesetzt. Das Prinzip der Interdisziplinarität eröffnet zwar das Feld der Narratologie, führt aber zugleich zu einer kategorialen und begrifflichen Unschärfe. Daher rührt auch das konstruktive Potential neuerer Ansätze der Erzähltheorie (siehe hierzu auch Fludernik: Einführung in die Erzähltheorie, 2006). 124  Bruner: The Narrative Construction of Reality, 1991, 1-21. – Um Missverständnisse bereits hier auszuräumen, sollte darauf hingewiesen werden, dass es unter Berücksichtigung von Kulturwissenschaften und Narratologie – vice versa – primär nicht um die Ausarbeitung theoretischer Ansätze der Narratologie geht, sondern um die Frage, wie das Erzählen Kultur erzeugt und wie am Erzählen kulturelle Transformationen abgelesen werden können. Theoretische Impulse zu einer kulturwissenschaftlichen Narratologie sind anderenorts gegeben (Nünning: Wie Erzählungen Kulturen erzeugen, 2013, 2653) und werden hier nur am Rande gestreift. Für eine kulturwissenschaftliche Narratologie grundlegend ist der semiotische und bedeutungsorientierte Kultur-Begriff, von dem ich ausgehe. 125 Drei Dimensionen dieser Weiterentwicklung werden unterschieden, nämlich das breite interdisziplinäre Interesse am Erzählen, die Erweiterung von Erzählen und Erzählung als spezifisch literarischem Phänomen auf die nichtliterarischen Kontexte und schließlich das Verständnis von Erzählungen und Erzählformen als kulturbedingter, bedeutungstragender und kognitiver und identitätsstiftender Modi der Weltkonstruktion (Nünning: Wie Erzählungen Kulturen erzeugen, 2013, 17f.). 126  Nünning: Wie Erzählungen Kulturen erzeugen, 2013, 19; siehe zur Diskussion 20-53. 127  Eco: Lector in fabula, 1987, 162. 128  Eco: Semiotik, 1991, 347-368, hier 347. 129  Koschorke: Wahrheit und Erfindung, 2012. 130  White: The Value of Narrativity in the Representaion of Reality, 1981, 2.

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such, Vergangenes zu rekonstruieren und es retrospektiv in historischen Prozessen zu kontextualisieren, notwendigerweise auf der Bildung von Narrativen beruht.131 In diesem Zusammenhang findet das Erzählen als Darstellungsstrategie durch den New Historicism Eingang in die Geschichtswissenschaften132 und wird durch den narrative turn auch in den Sozialwissenschaften einbezogen.133 Als sprachliches Artefakt, das sich auf linguistisch-kognitive Leistungen hin befragen lässt, fällt die fachliche Zuständigkeit für das Erzählen in den Bereich der Literaturwissenschaft, die im Erzählvorgang kognitive, emotive, evaluative Komponenten wie divergente Stilhaltungen, Sprechweisen, Redepositionen und Fokalisierungen unterscheidet.134 Die Komplexität des Erzählvorgangs und die Frage nach dem Verhältnis der erzählten und der realen Wirklichkeit zueinander motivieren literaturwissenschaftliche Erzähltheorien, eine Art Universalität zu beanspruchen, die jedoch ohne eine entsprechende Kulturtheorie an Funktion und Bedeutung verlöre.135 Die Verbindung zwischen der Erzähl- und Kulturtheorie besteht in Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie (2012) darin, dass »das Erzählen nicht nur eine Sonderwelt der wirklichen Welt hervorbringt, sondern in die gesellschaftliche Praxis hineinwirkt und selbst ein bestimmendes Element dieser Praxis ist«.136 Demzufolge bestehe zwischen »dem Erzählstoff und dem Wirkungszusammenhang seiner Mitteilung« ein transmissives Verhältnis und keine klare »Ebenentrennung«.137 Trotz dieser Erkenntnis ist der Leser im Zusammenhang mit dem Wirklichkeitsbezug narrativer Texte mit zwei möglichen Analyseverfahren konfrontiert. Das eine, häufig bei der Rezeption autobiographischer Texte praktizierte Verfahren befasst sich mit dem Verhältnis von realitäts- und fiktionalitätsbezogenen Aspekten der Erzählwelt und das andere mit der Beschreibung der Semantik und der Dynamik narrativer Sinndimensionen.138 Vor dem Hintergrund des transmissiven Verhältnisses zwischen dem »Erzählstoff und dem Wirkungszusammenhang seiner Mitteilung« richtet sich die Analyseperspektive von der Sonderwelt des Erzählten hin zu einer Beschreibung möglicher Welten.139 Demnach geht es bei der Analyse der ausgestatteten Erzählwelt nicht um die bloße Bewertung des Faktischen und des Fiktiven, 131   Rüsen: Historische Orientierung, 1994. 132  White: Metahistory,1973; Veeser (Hg.): The New Historicism, 1989; Baßler (Hg.): New Historicism, 1995; siehe zum Aspekt der Darstellungsweise Greenblatt: The Swerve, 2011; zu weiterer Forschung siehe auch Kreiswirth: Tell Me a Story, 1995, 61-87; Isernhagen: Amerikanische Kontexte des New Historicism, 1999, 176f., 180. 133   C zarniawska: Narratives in Social Science Research, 2004. 134  Koschorke: Wahrheit und Erfindung, 2012, 20. 135 Ebd., 9-25. 136 Ebd., 25. 137 Ebd., 106. 138   Siehe zum Spannungsverhältnis zwischen dem Fiktionalen und dem Realen in der Narratologie-Forschung Schaeffer: Fictional vs. Factual Narration, 2009, 98-114. 139 Diese Behauptung beruht auf der Annahme neuerer Forschungen über Fiktion und Fakt. Neuere Literaturtheorien betrachten diese nicht in einem absoluten Gegensatz zueinander; die Fiktion entstehe durch die Kombination von Fakten und freien Erfindungen. Die Determinierung von Fakten, Fiktion und Erfindung setzen die Fähigkeit des Lesers und dessen Bildung und Wissen voraus (siehe zur Diskussion Iser: Das Fiktive und das Imaginäre, 1991; Berthold: Fiktion und Vieldeutigkeit, 1993). Die Narratologie-Forschung summiert die theoretischen Konzepte unter dem Begriff possible-worlds theory (Surkamp: Narratologie und possible-worlds-theory, 2002, 153-183).

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sondern um die Hervorhebung von Unterscheidungsmerkmalen möglicher Welten, die erst im Erzählten Gestalt gewinnen. Die Durchlässigkeit der Erzählwelt und der Zusammenhang zwischen Erzählen und kulturellen Prozessen fordern, dem Aspekt des Narrativen im kulturellen Feld systematisch Aufmerksamkeit zu schenken. Das bedeutet, Erzählung als sprachliches Medium aufzufassen, das der Kultur und mit ihr auch deren Transformationen Ausdruck verleiht, indem sie sie ästhetisch darstellt.140 Die Realisierung des Transformationellen im Prozess des Erzählens erzeugt Dynamiken eines kontinuierlichen »Fort- und Umbildens von Erfahrungshorizonten«,141 an deren Gestaltungen die Figuren beteiligt sind. Damit wird das Erzählen selbst zu einem »Modus der Erzeugung«142 und der Gestaltung; sie generiert in der Erzählwelt differierende Bilder, die Relationsmechanismen erst in Gang setzen. Hierauf beruhen meine Überlegungen über die Analyse ästhetischer Erfahrung des Kulturwandels jenseits von Exklusion und Reduktion (2.3.2). Von der ausgestatteten Erzählwelt zu sprechen, bedeutet differierende Bilder der außertextuellen Wirklichkeit an den Rang zu drängen. Die Verortung des Eigenen und des Fremden wird demnach nicht kategorial vorgenommen, sondern relational. Diese Auffassung erlaubt, nach Modalitäten und Varianten der Relation, die die ausgestattete Erzählwelt als interkulturell markieren, Ausschau zu halten und die Fragen danach, welche ästhetische Qualität eine interkulturell ausgestattete Erzählwelt besitzt und was ihre Figuren als interkulturell profiliert, zu beantworten. Interkulturell profilierte Figuren werden hier Akteure mit einem häufigen Erscheinen an den Schauplätzen genannt, die das Geschehen aus einer bloßen Gegebenheit befreien und in eine Konstruktion von Relationen versetzen, deren Unterscheidungsmerkmale beschreiben und erfahrbar werden lassen. Differierende Relationen lassen sich aus Positionierungen von Figuren in verschiedenen Erzählsituationen ableiten. Wie diese Positionierungen selbst vonstattengehen, hängt unmittelbar mit der Verortung der erzählenden Instanz zusammen, die in der Welt ihres Interagierens variieren kann.143 Darüber hinaus entscheidet die Antwort auf die Frage nach dem Sehen, Sprechen und Wissen der Figuren über ihre Relevanz bei der Strukturierung wie Ordnung der Erzählwelt. Erst das Einbeziehen dieser Komponenten lässt erkennen, wie die gegebenenfalls kollektiven Subwelten der Erzählung sich bilden, wie die Machtverhältnisse geregelt sind und was sich in dieser Welt als eigen und was als fremd (trans-)formiert.144 Die Frage nach Gestaltungsmodi der Erzählwelt lässt sich auf zwei miteinander korrespondierenden Ebenen untersuchen: auf der Ebene der Erzählsituation und auf der des Erzählverfahrens. Die Analyse des hier zu besprechenden Materials lässt hinsichtlich der Erzählsituation zunächst die auktoriale Erzählsituation feststellen, in 140   In diesem Zusammenhang wird von Erzählung als »Medium für Wandel und Entwicklung« gesprochen (Koschorke: Wahrheit und Erfindung, 2012, 102). 141 Ebd., 103. 142 Ebd., 103. 143   Weder von einer absoluten und unveränderbaren Erzählinstanz ist hier die Rede, denn diese variiert in komplexen und miteinander verflochtenen Erzählsituationen, noch wird der Erzähler als Subjekt angesprochen; die Positionierung des Erzählers ergibt sich erst aus der Perspektive des Rezipienten. Wie seine Entscheidung ausfällt, hängt von der Machtverteilung in der Erzählung ab. 144  Koschorke: Wahrheit und Erfindung, 2012, 84-101.

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welcher der Erzähler selbst als Urheber und Vermittler der Geschichte in Erscheinung tritt. Er konstruiert mit Pro- und Contra-Positionierungen seiner Figuren ein Orientierungssystem, das die bejahende und verneinende Identifikation des Rezipienten mit Figuren ermöglichen soll. Sympathie, Empathie und Antipathie wären beispielsweise die Modi solch einer Identifikation.145 Hinzu tritt außerdem die Feststellung von identitätsstiftenden Momenten. In ihnen dominieren Hauptfiguren mit einer personalen Erzählsituation und mit selbstref lexiven Wendungen. Gekennzeichnet wird die personale Erzählsituation insbesondere dadurch, dass die Anwesenheit des Erzählers dem Leser nicht völlig bewusstwird. Dieser erfährt die Geschichte aus der Perspektive einer Ref lektorfigur, die eine unmittelbare Identifikation des Lesers mit dem Geschehen möglicherweise erschwert. Schließlich wird die Feststellung einer Ich-Erzählsituation getroffen, in der der Erzähler mit einer Figur meist identisch ist und mit in die Handlung eintritt. Gefühlszustände, Meinungen und Wertungen werden hier oftmals durch direkte Rede mitgeteilt. Die hier zur Diskussion stehenden Erzählwelten sind unterschiedlich gestaltet. Ihre Gestaltung variiert zwischen der auktorialen, personalen und der Ich-Erzählsituation, wobei eine Überlappung der Erzählperspektiven zur Dynamik des Erzählens beiträgt. Diese Dynamik entfaltet sich im Erzählverfahren, das sich in der Analyse ebenfalls als vielschichtig erweist. Figuren werden zum einen direkt charakterisiert, indem entweder der Erzähler oder die anderen Figuren sich explizit über sie äußern. Ihre Charakterzeichnungen fallen zum anderen indirekt auf, indem Zusatzinformationen implizit in die Romanwelt einf ließen. Bei der Charakterisierung von Figuren in ihrer Interaktion sind Leitmotive wie Topoi im Sinne von klischeehaften Denk- und Sprachbildern im Erzählverfahren von entscheidender Wirkung. Nicht unwesentlich ist die Deviationsästhetik und damit auch die Frage danach, wie der Autor in das Sprachsystem eingreift, dessen Regeln und Normen nach persönlicher Erfahrung und Auslegung bis zu einem gewissen Grad beeinf lusst und hierdurch die Kommunikation fördert oder erschwert.

1.4.1 Die Narrative interkultureller Schreibweisen Wenn ich von der interkulturell ausgestatteten Erzählwelt ausgehe, so geht es mir darum, in ihr Narrativen interkultureller Schreibweisen zu untersuchen und dabei Vorschläge auszuarbeiten, die Antworten auf Techniken literarischer Erfassung kulturellen Wandels zur Verfügung stellen. An den Narrativen interkultureller Schreibweisen lassen sich Prozesse des Kulturwandels in ihrer Ästhetik ablesen. Ohne auf die Komplexität und auf die ausführlichen Theoriediskussionen über die gegenseitige Beeinf lussung von erzähltheoretischen Ansätzen hier einzugehen, sollte die entscheidende Entwicklung in der Geschichte der Erzähltheorie hervorgehoben werden. Sie verläuft von den (post-)strukturalistischen und dekonstruktivistischen Abläufen der beginnenden neunziger Jahre146 hin zu den neueren transmedialen Ansätzen kulturwissen-

145  Breithaupt: Kulturen der Empathie, 2012. Das »In-die-Haut-des-anderen-Schlüpfen«, umfasst »das Mitgefühl, das unwillkürliche oder willkürliche Miterleben und das Einnehmen der Perspektive eines anderen« (ebd., 8). Dies erklärt das Prinzip der Ähnlichkeit als Bedingung für Empathie (ebd., 8-25). 146 Hühn et al. (Hgg.): Handbook of Narratology, 2009.

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schaftlicher Erzähltheorien.147 Die so häufig als »Renaissance der Erzähltheorie«148 bezeichnete Wende spiegelt sich in den wesentlichen Fragen nach dem Verhältnis von Autor und Leser, nach der Erzählwelt und Erzählperspektive, nach der außertextuellen Wirklichkeit, nach Kohärenz und Kohäsion und nicht zuletzt auch nach kognitiven Aspekten der Erzählwelt wider.149 Nicht die einzelnen Entwicklungsabläufe, Tendenzen und ihre bald ähnlichen, bald divergenten Überschneidungen stehen in meinem Fokus, sondern die kulturwissenschaftliche Erkenntnis dieser Abläufe. Ausgegangen wird von den bereits in der Literaturwissenschaft ausführlich diskutierten erzähltheoretischen Schwerpunkten auf Handlungssequenzen,150 Erzählvorgang151 und experientiality.152 Der Ausgangspunkt lenkt den Blick also auf den »weiten Begriff der Narrativität«,153 der der gegenwärtigen erzähltheoretischen Analysepraxis ermöglicht, textuelle Phänomene nicht, wie oben angedeutet, in einem engen strukturalistischen Verfahren zu sehen, sondern zielgerichtet nach Verbindungen von Erzähl- und Kulturtheorie zu suchen. Verbindungsmöglichkeiten lassen sich beispielsweise bei der Untersuchung erzähltheoretischer und kultursemiotischer Ansätze nachweisen, welche die Relevanz der Bedeutungs- und Inhaltsanalyse stark in den Vordergrund rücken. Das kultursemiotische Konzept geht in diesem Zusammenhang von einer dialektischen Methode aus, aus der ein Modell erwächst, das bei der Analyse von Bedeutungen sowohl einen theoretischen Leitfaden zur Verfügung stellt als auch die eigenen Widersprüche aufzeigt.154 Das hieraus entwickelte »semiotische Feld«, das sich für Eco in all seiner Vielfalt und Verwirrung präsentiert,155 ermöglicht dem Semiotiker die Unterscheidung von Elementen mit einer objektiven Existenz und der Struktur des Feldes als »Verfahrenshypothese«.156 Die Semiotik betrachtet die kulturellen Objektivationen als Bestandteil der materiellen Dimension von Kultur, die se-

147 Alber et al. (Hgg.): Beyond Classical Narration, 2014. 148 Nünning et al.: Von der strukturalistischen Narratologie zur ›postklassischen‹ Erzähltheorie, 2002, 1. 149 Ebd., 20-26. 150   Genette: Narrative Discourse Revisited, 1988. 151  Stanzel: Theorie des Erzählens, 1995. 152  Fludernik: Towards a ›Natural‹ Narratology, 1996. 153 Nünning et al.: Produktive Grenzüberschreitungen, 2002, 7. Der weite Begriff der Narrativität ermöglicht die Anwendung narrativer Analysepraxis auf den Film. In diesem Sinne wurde Narratologie im Film und in der fiktionalen Darstellungswelt bereits als ›Wissenschaft‹ bzw. ›Theorie des Erzählens‹ verstanden (Chatman: Coming to Terms, 1990, 1). 154  Eco: Einführung in die Semiotik, 1972, 17f.; Gleiches in Eco: Semiotik, 1991, 27. Eco entwirft sein theoretisches Konzept auf der Grundlage einer interpretativen Semiotik hauptsächlich in den folgenden Schriften Einführung in die Semiotik (1972), Semiotik und Philosophie der Sprache (1984), Semiotik. Entwurf einer Theorie der Zeichen (1987), Lector in fabula. Die Mitarbeit der Interpretation in erzählenden Texten (1987), Im Labyrinth der Vernunft. Texte über Kunst und Zeichen (1989), Die Grenzen der Interpretation (1992), Kant und das Schnabeltier (2000) und Quasi dasselbe mit anderen Worten. Über das Übersetzen (2006). – Grit Fröhlich unternimmt eine umfassende Analyse von Ecos philosophischen und ästhetischen Theorien Ihre Monographie gibt einen Abriss von Ecos Denken und Schaffen in dessen biographischer und akademischer Laufbahn und beleuchtet sie im Diskurs der Philosophie Italiens und der Ästhetik (Fröhlich: Umberto Eco. Philosophie – Ästhetik – Semiotik, 2009). 155  Eco: Einführung in die Semiotik, 1972, 18. 156  Ebd.

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miotischen Gesetzen gehorcht.157 Darauf gründet auch ihre Analysemethode für die Literatur, wenn sie in literarischen Texten Formen von Objektivationen kultureller Narrative mit Bedeutungscodes untersucht und literarische Texte als Teile eines Wirklichkeits- und Selbstdeutungsprozesses einer Kultur betrachtet.158 Aus dieser Auffassung gewinnt Eco die Grundlage einer Theorie der Kultur, die von Zeichen »nur im Kontext von Kultur« und von Kultur umgekehrt als Ausdruck von Zeichen ausgeht.159 Für Eco liegt eine semiotische Untersuchung nur dann vor, »wenn vorausgesetzt wird, daß alle Kommunikationsformen als Sendung von Botschaften auf der Grundlage von zugrundeliegenden Codes funktionieren«.160 Mit dieser Voraussetzung wird auch die Aussage über die »Metasprachen« der Kommunikation getroffen.161 In der medienund literaturwissenschaftlichen Forschung weiterführend sind Ecos semiotische Ansätze der Interpretation in Opera aperta (1962) und I limiti dell’interpretazione (1990).162 Das Verfahren der Interpretation ähnelt in Ecos Auffassung einem »Gang durch das Labyrinth«.163 Die Metapher des Labyrinthes besagt, dass die Verbindungsmöglichkeiten von Zeichen, ihren Bedeutungen und Kombinationen vielfältige und komplexe Interpretationsversuche fördern. Auf diese kultursemiotische Annahme gründet auch Koschorkes Allgemeine Erzähltheorie mit Blick auf die kulturelle Funktionsweise des Erzählens im Spannungsfeld des Produzenten und des Rezipienten im Diskurs der Semiotik.164 Die semiotischen Analysemodelle wurden unter Berücksichtigung von »Kultur als Kommunikation«165 durch die Impulse der Postcolonial Studies weiter ausgeführt. Edward Saids Orientalism (1978) begründete beispielsweise die Theorie, dass die Codes einer erzählten Welt nicht zwangsläufig denen einer Welt in der außertextuellen Wirklichkeit entsprechen müssten. Die Erzählwelt beschreibt für Said am Beispiel des Orients nicht ausschließlich eine existente, harmonische und intakte Kultur, sondern eine – mit Eco gesprochen – »ausgestattete Welt«166 mit all ihren Widersprüchen. Die »ausgestattete Welt« ist in Orientalism einem kolonialen Blick entgegengesetzt.167 Das Paradigma der Entgegensetzung ist in der ausgestatteten Erzählwelt für die Be157  Eco: Semiotik, 1991, 53. 158  Posner: Kultur als Zeichensystem, 1991. 159   Mersch: Umberto Eco, 1993, 7. 160  Eco: Einführung in die Semiotik, 1972, 19. 161   Angenommen wird dabei, dass »jeder Akt von kommunikativer ›performance‹ sich auf eine schon bestehende ›competence‹ stützt« (Eco: Einführung in die Semiotik, 1972, 19). 162   Die deutschen Übersetzungen liegen unter den Titeln Das of fene Kunstwerk (1973) und Die Grenzen der Interpretation (1992) vor. Mit einer Analyse aus der Perspektive philosophischer und literaturwissenschaftlicher Fragestellungen befasst sich Schalk: Umberto Eco und das Problem der Interpretation, 2000. 163   Mersch: Umberto Eco, 1993, 123. 164  Koschorke: Wahrheit und Erfindung, 2012, 116-202. 165  Eco: Einführung in die Semiotik, 1972, 19, 38. 166  Eco: Lector in fabula, 1987, 155. 167   »Die Entgegensetzung zwischen Orient und Okzident« bedeutet in Doris Bachmann-Medicks Anmerkungen zum Orientalism »eine modellhafte Orientierungssache. Sie diente in der westlichen Geschichte jahrhundertelang dazu, das europäische Bild von sich selbst zu profilieren, es zu privilegieren und gerade mit Hilfe des ›Paradigmas‹ der Entgegensetzung zwischen Selbst und Anderen

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schreibung der Positionierung von Figuren in ihren Interaktionsräumen und Handlungssequenzen relevant. Mit einer intertextuellen und intermedialen Analyse unter Berücksichtigung der Entgegensetzung als Erzählpraxis möchte ich zeigen, wie die Praxis der Entgegensetzung dichotomische Kategorisierungen und hegemoniale Kulturperspektiven in Stereotypen und in kulturellen Zuschreibungen kritisch beschreibt und die Vereinnahmung der Migranten-Figur nach Modellen des Orientalism problematisiert (2.2.2.3). Für die Figur des Migranten aus dem ›Orient‹ belebt ihre Verortung in einem europäischen Horizont die vorherrschenden Bedeutungssysteme der Exklusion, wie sie in der Forschung bereits in der Dichotomie des Eigenen und Fremden bekannt ist. Der Orientale als Migrant dient, so meine These, zu einer Inszenierung der individuellen und kulturellen Identifikation Europas,168 die den literarischen Diskurs der Migration mit den Diskursen der Postcolonial Studies verbindet169 und in dem Migranten stets den Fremden sieht (2.2.2.2). Die kritische Untersuchung des In-Beziehung-Setzens des Orientalen und des Migranten verspricht die Erkenntnis, dass der literarische Diskurs des deutsch-iranischen Migrationsgedächtnisses die Figur des Migranten innerhalb einer sich bewegenden Welt verortet wissen will, die – wie die Migranten-Figur selbst – stets im Wandeln begriffen ist und sich fortwährend neu finden muss (2.3.1-2.3.2). Das transmissive Verhältnis zwischen dem »Erzählstoff und dem Wirkungszusammenhang seiner Mitteilung« (Koschorke), die Wirklichkeit wie der Selbstdeutungsprozess der ausgestatteten Erzählwelt und das multiperspektivische Erzählen in den interkulturell konstruierten Erzählwelten rechtfertigen die Vorgehensweise insofern, als das Erzählte nicht einer außertextuellen Wirklichkeit zum Zweck der Überprüfung der Faktizität bzw. des historischen Wahrheitsgehalts entgegengesetzt und nach einem »Abbildverhältnis«170 des Faktischen und des Fiktiven gesucht wird. Die poetische Aussage wird also nicht nach dem Modell der Reduktion als Voraussetzung einer elementaren Operationsmöglichkeit untersucht, sondern nach dem Prinzip der Schemabildung, der Diversifikation und dem Verfahren der Selektion.171 Stellt man vor dem Hintergrund dieses Prinzips die Frage nach der Semantik der poetischen Aussage anhand von ästhetischen Stilmitteln, so wird sich die Analyse dieser Semantik entlang von Prozessen der Bedeutungskonstruktion und Bedeutungsdechiffrierung der ästhetischen Stilmittel in der ausgestatteten Erzählwelt vollziehen und ihre Auswirkungen auf die Rezeptionsseite näher betrachten.

einen überdauernden hegemonialen Diskurs zu begründen« (Bachmann-Medick: Einleitung, 1996, 38). 168 Birk et al.: Go-Between, 2002. – Die Analyse der individuellen und kulturellen Identifikationsarbeit stellt die theoretische Schnittstelle zu den Cultural Studies her (Hall: Die Frage der kulturellen Identität, 1994, 180-222; Hall: Der Westen und der Rest, 1994, 137-179; Hall: Wer braucht ›Identität‹, 2004, 167-187). 169   Das dialektische Verhältnis der postkolonialen Ansätze und der Hybridität und ihre Relevanz für interkulturelle Literaturwissenschaft wird hier vorausgesetzt (Dubiel: Dialektik der postkolonialen Hybridität, 2007). – Themenbereiche, die den postkolonialen Diskurs erweitern, sind im Hinblick auf das Analysematerial Feminismus und Emanzipationsdiskurse sowie kritische Diskurse der Multikultur (siehe zu Erweiterungsaspekten im Kontext der Postcolonial Studies Lützeler: Postmoderne und postkoloniale deutschsprachige Literatur, 2009, 10, 23-31). 170  Koschorke: Wahrheit und Erfindung, 2012, 28-38, 51-60, hier 28. 171  Ebd.

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Mit den Fragen nach der Auswirkung poetischer Aussage auf die Rezeptionsseite beschäftigen sich die kognitiven Ansätze der Erzähltheorie. Die Annahme, dass ohne »die konstruktive Aktivität des Lesers, lediglich auf der Basis seiner Sprachkenntnis […]  narrative Texte vermutlich sinnlos erscheinen«172 würden, führt die kognitive Narratologie als konzeptuelles, theoretisches und transmedial anwendbares Analysemodell zur Untersuchung von »mind-relevant« Aspekten in der Praxis von »storytelling« ein.173 Unter dem Oberbegriff der kognitiven Narratologie wird die »relation between narrative and the human mind« verstanden.174 Diese Beziehung wird mit Blick auf die Interaktionen zwischen den textuellen Merkmalen auf der Produktionsseite und den kognitiven Prozessen der Rezeptionsseite mit der Frage danach hergestellt, wie der Leser die Erzählwelt einerseits versteht und wie er sie andererseits in seinem eigenen Verständnis konstruiert und gegebenenfalls wiedergibt. Damit geht ferner die Frage einher, wie eine Erzählwelt so geschaffen wird, dass sie mit den kognitiven Prozessen des Rezipienten auch erfassbar ist, d.h. im Grunde, wie sich die Bedeutungsvarianten der Erzählwelt und das (Vor-)Wissen des Rezipienten semantisch zueinander verhalten,175 denn die Untersuchung der semantischen Verhältnisse der inneren Struktur des Textes ist mit der Wahrnehmung und der Rekonstruktion textueller Signale durch den Rezipienten verbunden. Meine Analyse erfolgt nicht nach dem simplifizierenden Modell, das in einer Figur wie Hassan und in einer Erzählwelt, die von dieser Figur gestaltet wird, den Orient zu entdecken sucht, wie dies vielfach in der Forschung betrieben wird. Sie begreift die Erzählwelt als Operations- und Gestaltungsraum von Figuren. Für die Figurenanalyse bedeutet dies eine Untersuchung der Figuren als Artefakte. Ihre Analyse befasst sich nicht mit bestimmten und zu erwartenden Realitäts-Vorstellungen des Lesers, sondern erfolgt ausgehend von der poetischen Aussage dessen, was in der ausgestatteten Erzählwelt in Szene gesetzt wird. Das In-Szene-Setzen von Figuren und ihren Welten vollzieht sich innerhalb von Strukturen, in denen sich die eine oder die andere Figur bewegt, d.h. wiederum in Szene setzt. Techniken der Figureninszenierung entscheiden über die Relevanz, die Macht und die Wirkungskraft der jeweiligen Figuren in der Erzählwelt. Von dieser Entscheidung hängt dann die Frage nach der Erzählperspektive und Erzählsituation ab.176 Textuelle Signale, Formen expliziter und impliziter Figurencharakterisierungen, Konstitutionen, Korrelationen und Kohäsionen einzelner Figurenperspektiven und Schemata sind bei der Analyse der Erzählwelt nach Modellen der kognitiven Narratologie in hohem Maße von kognitiven Strukturen der Leser abhängig,177 die sich erweitern können, wenn die Praxis der Entgegensetzung nicht auf eine polare eigen- und fremdkulturelle Verortung beschränkt bleibt. Eine solche Erweiterung strebt die vorliegende Studie an und untersucht die ausgestattete Erzählwelt auf der Grundlage der kognitiven und der kulturellen Narratologie. Die kognitive Narratologie ist an Verbin172   Martinez et al. (Hgg.): Einführung in die Erzähltheorie, 2002, 145. 173  Herman: Cognitive Narratology, 2009, 30. 174  Nünning: Introduction to Cognitive Approaches to the Study of Narratives, 2013, 23. 175  Zerweck: Der cognitive turn in der Erzähltheorie, 2002, 231; Eder: Narratology and Cognitive Reception Theories, 2003, 277-301. 176  Zerweck: Der cognitive turn in der Erzähltheorie, 2002, 233f. 177 Siehe zur Ausführung und Diskussion Prince: Reader, 2009, 398-410; im Hinblick auf Schemata siehe Emmott et al.: Schemata, 2009, 411-419.

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dungsmomenten zwischen textuellen Signalen und kognitiven Prozessen zwischen dem Text und dem Rezipienten interessiert. Im Vordergrund meiner Überlegungen steht die Frage, wie es einem Text gelingen kann, Geschichten zu erzählen bzw. zu vermitteln und den Rezipienten dazu zu bringen, diese Geschichten zu (re-)konstruieren.178 Die kulturelle Narratologie blickt über das strukturalistische Paradigma hinaus, beruft sich auf die Kontextualisierung ihres Gegenstandes und interessiert sich auch für den Makrokontext narrativer Texte.179 Auf die kulturelle Narratologie Bezug nehmend untersuche ich die Frage, wie die Konzeptualisierung der Geschichte als »world-making«180 erfolgt und wie die ausgestattete Erzählwelt »actual generation of attitudes, discourses, ideologies, hierarchies of norms and values, and structures of feeling and thinking«181 konstruiert. Fruchtbar werden diese Ansätze in der germanistischen Interkulturalitätsforschung durch Carmine Chiellinos Charakterisierung des interkulturellen Romans. Über das interkulturelle Potential des Romans entscheide, so Chiellino, hauptsächlich die dominierende Perspektive der Hauptfigur.182 Weitere Kriterien sind die Sprachlatenz und die gattungsspezifischen Abgrenzungsmöglichkeiten des interkulturellen Romans zum historischen und zum Entwicklungs- und Bildungsroman. Der interkulturelle Roman erfülle nach Chiellino den Wunsch nach einer »Zusammenfügung von Erfahrungen aus Lebensabschnitten [der (Haupt-)Figur], die sich in unterschiedlichen Kulturen zugetragen haben«.183 Die Erzählwelt des interkulturellen Romans, lässt sich schlussfolgern, wird durch den Gedächtnishorizont der Hauptfigur einerseits und durch die Konstruktionen heterogener Konstellationen andererseits gestaltet. Bei der Verschränkung des Gedächtnishorizonts und der heterogenen Konstruktionen unternimmt die Hauptfigur Versuche zur Bewältigung interkultureller Herausforderungen (häufig sind es Krisensituationen) und verweist so auf Differenzen. Die (Selbst-)Positionierung der Hauptfigur im Gedächtnishorizont geschieht in einem Spannungsfeld, das selbst durch die Figurenperspektiven konstruiert wird und seine Dynamik zum einen durch die Kohäsion von Differenzen und Ähnlichkeiten der Figurenperspektiven gewinnt. Zum anderen steht das Spannungsfeld des Vergangenen und Gegenwärtigen im Fokus meiner Analyse. Es verbindet Handlungsstrukturen, Situationen und kognitive Sinnzusammenhänge miteinander und ermöglicht der Hauptfigur, ihr individuelles und kulturelles Gedächtnis als Ausdruck dieses In-Beziehung-Setzens zu begreifen.184

178  Herman: Story Logic. Problems and Possibilities of Narrative, 2002; Herman: Cognitive Narratology, 2009, 30-43. 179  Nünning: Premises and Promises of Cultural Narratology, 2013, 89-94. 180 Ebd., 91. 181  Nünning: Narrativist Approaches and Narratological Concepts for the Study of Culture, 2012, 152. 182   Chiellino: Der interkulturelle Roman, 2002, 41-54. (Eine frühere Version dieses Textes erschien in Der interkulturelle Roman in Carmine Chiellino: Liebe und Interkulturalität. Essays 1988-2000, 2001, 108-120). 183   Chiellino: Der interkulturelle Roman, 2002, 41. 184 Hierbei handelt es sich um diskursive Praktiken, in denen sich Figuren in sprachlichen Interaktionen aufeinander beziehen (Wolf: Soziale Positionierung im Gespräch, 1999, 69-94). Die Modelle der Positionierung wurden im Hinblick auf das Erzählen und auf die Erzählsituation ergänzt und erweitert

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Aus Chiellinos Charakterisierung des interkulturellen Romans resultiert für meine Analyse die Notwendigkeit von Ich-Varianten im Spannungsfeld des Vergangenen und des Gegenwärtigen, so dass die Unterscheidung zwischen einem erzählenden und einem erzählten Ich und dessen Positionierung in Relation zu anderen Figuren185 über die Figurenkonstellation der interkulturell ausgestatteten Erzählwelt insgesamt entscheidet. Innerhalb der Positionierungsstrategien der Figuren gewinnt das Kriterium der Interaktion, die sich zwischen den Figuren dialogisch oder polyvalent vollzieht, eine herausragende Bedeutung. Durch die Interaktion zwischen den Figuren in der Erzählsituation bezieht die Erzählwelt selbst gegenüber Norm und Abweichung, Aussage und Gegenaussage Position. Hier agieren das erzählende und das erzählte Ich nicht allein, sondern reagieren auf je nach Situation, Person, Raum und Zeit variierende Verhandlungsmöglichkeiten von Neben-Figuren. Konstruktionen von Verhandlungsmöglichkeiten durch die Adressierung von Nebenfiguren oder/und die Perspektivierung des Erzählten durch die Einmischung des Erzählers relativieren, revidieren, modifizieren oder bekräftigen die Positionierung von Ich-Figuren und steuern Positionsveränderungen der Figuren bei.

1.4.2 Erzählen im Film Eine »andersartige Kunst ermöglicht andere Erfahrungen«.186 Fassen wir Text und Film in ihren künstlerischen Gestaltungsmöglichkeiten als »andersartig« auf, so stellt sich die Überlegung an, wie sich diese scheinbar »anderen Erfahrungen« theoretisch beschreiben lassen. Relativiert wird die Aussage über die (reziproke) Andersartigkeit von Kunst und deren Erfahrung auf der theoretischen Grundlage dieser Studie, und zwar mit der These, dass das Instrumentarium einer kulturwissenschaftlichen Narratologie sich auch auf das Medium Film anwenden lässt, obwohl es diesem Medium nicht um eine Schreib-, sondern um eine Darstellungsweise geht.187 An die Überlegungen über die Teilung der Erzählperspektive durch die Figuren (1.4) möchte ich anschließen und diese Teilung als erzählerisches Prinzip betrachten, das einer Erweiterung der erzähltheoretischen Ansätze auf die Filmanalyse ermöglicht.188 Beim Film als Analysegegenstand lohnt es sich, zu fragen, ob und inwiefern Ref lexionen über Wirklichkeitserfahrungen unter Berücksichtigung medialer Anin Bamberg: Is There Anything Behind Discourse?, 1999, 220-227; Wortham: Interactional Positioning and Narrative Self-Construction, 2000, 157-184; Wortham: Narratives in Action, 2001. 185   Die mit der Hauptfigur in Verbindung stehenden Figuren sorgen für die Konstruktionen wechselnder Einstellungen und für die Erzeugung von Nähe und Distanz (Koschorke: Wahrheit und Erfindung, 2012, 38-44). 186   Grabes: Einführung in die Literatur und Kunst der Moderne und Postmoderne, 2004, 19. 187 Siehe zur Diskussion Paech: Literatur und Film, 1997; Albersmeier: Einleitung. Filmtheorien in historischem Wandel, 2003, 3-30. 188   Fragen nach der Erweiterung erzähltheoretischer Modelle sind bereits diskutiert worden in Kuhn: Filmnarratologie, 2013; Brössel: Filmisches Erzählen, 2014. Aus den grundlegenden theoretischen Reflexionen und Definitionen der Narrativität einerseits und der narrativen Vermittlung im Film andererseits wird in den vorgestellten Studien das Fundament geschaffen, eine traditionell literaturwissenschaftliche Methode auf den narrativen Film anzuwenden. Dabei werden über die Definition der Narrativität notwendige Bedingungen diskutiert, die ein Werk, um narrativ genannt zu werden, aufweisen muss.

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dersartigkeit tatsächlich anders sind und ob bei der Interpretation der Erzählwelt im Film und Text Schnittstellen auszumachen sind, die erzähltheoretische Modelle weiterhin ergänzen können. Die neueren Theorien über Textualität des Films legen dar, dass auch filmische Inszenierungen über eine erzählte Handlung verfügen und dass der Film deshalb genauso die Möglichkeit zu erzählen hat wie der Text.189 Dieser in der kulturwissenschaftlichen Narratologie anschlussfähig gewordene Ansatz führt dazu, auch den pluri und transgenerischen Ansätzen der Erzählforschung einen theoretischen Raum zu verschaffen,190 denn Letzteres erweitert das analytische Instrumentarium der intermedialen Erzähltheorie und die am Text erprobten erzähltheoretischen Ansätze191 auf die narratologische Filmanalyse.192 Von den Theorien über Textualität des Films auszugehen, bedeutet auf die für die germanistische Interkulturalitätsforschung wesentlich gewordene »Durchlässigkeit der Disziplingrenzen« abermals zu verweisen und an die bereits von Aleida Assmann diskutierte These anzuknüpfen, dass die »Deutung von Bildern und Texten […] nicht mehr an der Werkgrenze halt machen [kann], sondern […] auf ihre Kontexte Bezug nehmen [muss], womit jedoch keineswegs ihr ästhetischer Status aberkannt wird«.193 Damit lassen sich Bildlichkeit und Textualität im theoretischen Netzwerk einer intermedialen Analyse verorten. Die Auseinandersetzung mit der intermedialen Analyse am Beispiel von Text und Film trägt insofern zur theoretischen Aktualität der vorliegenden Studie bei, als über die Erschließung neuerer und neuster Texte und Filme mit dem Thema Migration unter Berücksichtigung des narrativen Programms auch die analytischen Modelle der Film- und Textanalyse in ein Verhältnis zueinander gesetzt werden.194 Die Anwendung erzähltheoretischer Ansätze auf das Genre Film wird an Almanya. Willkommen in Deutschland (2011) und Salami Aleikum (2009) exemplifiziert.195 189   Die Diskussion über das Erzählen im Medium geht auf eine Reihe von Arbeiten in den 1980er und 1990er Jahren zurück. Siehe hierzu stellvertretend Prince: Narratology, 1982; Chatman: Coming to Terms, 1990. 190   Siehe zur begrifflichen Erläuterung Nünning et al.: Produktive Grenzüberschreitungen, 2002, 10-12. 191   Das Textuelle hat in den Literaturwissenschaften eine flankierende Funktion, denn es verschriftlicht Konstruktionen und Perspektivierungen, die das Bekenntnis, das Unbehagen oder die Identifikationen von Figuren thematisieren. Diese Funktion haben auch filmische Figuren und zeigen grundlegende Verhältnis von Schrift und Bild (siehe zum Beispiel Deniz Göktürks Diskussion über die Rolle der nach Deutschland immigrierten Künstler im deutschsprachigen Film mit dem expliziten Fokus auf Film und auf das türkisch-deutsche Kino [Göktürk: Migration und Kino, 2007, 329-347]). 192   Griem et al.: Filmnarratologie, 2002, 155-183. 193  Assmann: Einführung in die Kulturwissenschaft, 2006, 14. 194 Die Herausforderungen des individuellen und kollektiven Daseins, die Zusammenführung von Erinnerungen und Erfahrung bei der Konstruktion des Individuums und die Frag nach dessen Bezug zu seiner Umwelt in einem Rekurs auf Kulturalisierungsdebatten bilden den Themenschwerpunkt und verweisen auf die aktuellen, aber noch nicht ausgearbeiteten Forschungsansätze. 195   Einen umfassenden Einblick in die Entwicklung des deutschen Kinos im neuen Millennium gibt Paul Cooke in Contemporary German Cinema (2012) mit dem deutschen National-Kino einerseits und der Wirkung innerdeutscher Entwicklungen auf die Kinokultur andererseits. Diese doppelte Perspektive erweist sich als besonders ertragreich, weil Cooke eines der Hauptkriterien der deutschen Filmkultur der Gegenwart in ihrem interkulturellen Potential sieht. Mit Blick auf die Definition des Nationalkinos in einem europäischen Kontext entwickelt Cooke die These von der Integration deut-

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Im Rahmen der Textualität des Films wird im Sammelband Film, Text, Kultur (2013) die These über die Bezüglichkeit196 in Abgrenzung zur Konkurrenz von Textualität und Medialität diskutiert und dabei der Versuch unternommen, die bereits in der Forschung postulierte »Verschränkungen von Literatur und Film als einem Medium des kulturellen Imaginären«197 einer eingehenden Überprüfung zu unterziehen. Die Anwendung des narrativen Instrumentariums auf filmische Darstellungen lässt sich mit der bereits getroffenen Feststellung ähnlicher Techniken etwa im Erzählen, im Zeitund Raumverhältnis und auch in der Erzähler-Rolle begründen.198 Die Annahme über die Bezüglichkeit von Text und Film, die sich bereits in Umberto Ecos weit gefasstem Textbegriff in Semiotica e filosofia del linguaggio (1985) niederschlägt, hebt die veränderten Formen der Kommunikation und ihrer Auswirkungen auf die Gesellschaft hervor. An Überlegungen über veränderte Formen der Kommunikation in der Gesellschaft schließt auch die Studie Film, Text, Kultur an und richtet ihren Fokus auf den Versuch über Anschlussmöglichkeiten im Diskurs der Medien- und Literaturwissenschaften. Der Text-Begriff wird in der genannten Studie medienübergreifend aus dem Diskurs der Linguistik und Semiotik in den 1960er Jahren übernommen199 und auf der Grundlage der kultursemiotischen Theorie über den sprachlichen Bereich hinaus auf interund plurimediale Artefakte erweitert. Diese Erweiterung erlaubt, auch audiovisuelle Artefakte als Texte zu verstehen und entsprechend zu lesen. Folglich wird die Lesbarkeit des Bildes der Annahme über Textualität des Films zugrunde gelegt.200 Ausgehend von den Thesen über die Lesbarkeit des Bildes und über die Textualität des Films dürfte das Forschungsinstrumentarium der Literaturwissenschaft für die Analyse des Films potentiell anwendbar sein. Zu diesem Instrumentarium gehören erzähltheoretische scher Identitätsarbeit im Film als einer Form ihrer Repräsentation in einen europäischen Diskurs. Herausragende Beispiele hierfür bilden Heimat und Heimatfilm. Obwohl Cooks Studie aus dem Jahre 2012 stammt, werden Almanya und Salami Aleikum in ihr nicht diskutiert. 196   Thomas Düllo spricht in diesem Zusammenhang von ›Abhängigkeit‹ und plädiert für eine erweiterte Perspektive auf Text und Bild im Sinne einer »Kombination aus Bildpragmatik und Imagineering« (Düllo: Kultur als Transformation, 2011, 406). »Imagineering« meint »den Prozess der bildhaften Unterscheidung«, die »einerseits der Verortung, andererseits der Aufmerksamkeitspolitik« diene (ebd., 407). Imagineering richtet das Augenmerk zum einen auf die externen, dem Bild jedoch ablesbaren Faktoren, d.h. »auf das, was ein Bild oder Foto im Interesse von bestimmten Machtstrukturen oder Ideologien imaginiert«, und zum anderen auf die Analyse des Repräsentationscharakters des Bildes, d.h. »auf das, was es vertritt oder inszeniert« (ebd., 406). 197  Wagner-Egelhaaf: Verortungen, 2004, 747. Wagner-Egelhaaf verweist auf Verschränkungen in Lars Beckers Film Kanak Attack (2000), der nach Feridun Zaimoğlus Roman Kanak Sprak (1995) gedreht wurde, und in Yadé Karas Selam Berlin (2003), in dem der Film nicht nur als Motiv vorkommt, sondern der Text selbst filmische Darstellungsverfahren für die Inszenierung von Orten und Räumen nutzt (ebd.). 198  Schmidt: Narration in Film, 2009, 214-224. Schmidts Augenmerk ist vor allem auf »specific mode of plurimedial presentation and their peculiar blending of temporal and spatial elements« gerichtet; genauso wie in einem literarischen Erzähltext sei auch der Film »principally language-based« (ebd., 212). 199   Siehe zur Diskussion des Textbegriffes im Diskurs der Linguistik Wildfeuer: Der Film als Text?, 2013, 32-57; zum medienwissenschaftlichen Umgang mit dem Textbegriff und zur Transmedialität Hickethier: Film und Fernseher als Text, 2013, 116-138. 200 Bateman et al.: Film, Text, Kultur, 2013, 7-15; siehe zu Text als Film auch Wildfeuer: Der Film als Text?, 2013, 40-48.

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Ansätze im Hinblick auf den Ich-Erzähler, den personalen Erzähler, das instanzlose Erzählen201 und auf wechselnde Erzählsituationen.202 An die These über die Lesbarkeit und Bezüglichkeit von Film und Text schließt meine Studie an, ohne jedoch den Anspruch auf einen medienwissenschaftlichen Beitrag im engeren Sinne der Film- und Fernsehanalysemodelle zu erheben. Vielmehr unternimmt sie den Versuch, die bereits in der neueren kulturwissenschaftlichen Narratologie-Forschung vorgeschlagenen erzähltheoretischen Ansätze203 heranzuziehen und sie hinsichtlich ihres intermedialen Potentials auf die Filmanalyse zu erweitern. Im Einzelnen werden die Zusammensetzungen von Szenen und Sequenzen, Zeichensystemen im Bild, Deutungen von Mimik und Gestik, visuelle wie verbale Kodierungen und Wort-Bild-Verbindungen bei der Analyse genutzt.204

1.5 Migration und das kulturelle Gedächtnis der Literatur Kulturtheorien des 20. Jahrhunderts haben nicht nur die Einförmigkeit und die lineare Erstreckung des Raumes in Frage gestellt, sondern auch die der Zeit. Die Einförmigkeit und die lineare Erstreckung des Raumes werden beispielsweise in folgenden Ansätzen diskutiert: Henri Bergson (1859-1941) problematisiert in Zeit und Freiheit (1911) die Messung der Zeit mit Blick auf die Kant’sche Vorstellung von Raum und Zeit als gleichberechtigten Formen der Anschauung und argumentiert, dass die individuelle Erfahrung des Menschen mit der physikalisch messbaren Zeit nicht in Einklang zu bringen sei. In einem engeren kulturtheoretischen Zusammenhang überführt Ernst Cassirer in Philosophie der symbolischen Formen (1923-1929) die a priori von Raum und Zeit in eine Folge von Denk- und Wahrnehmungsregeln. Michael Foucaults (1926-1984) Raum-Auffassung in Les mots et les choses (1966) und Des espaces autres (1984) relativiert die Vorstellung über den Raum als leeres Behältnis und widerlegt die Annahme über ein Raum- und Zeitkontinuum. Kritische Auseinandersetzungen mit dem Raum- und Zeitkontinuum lenken die Aufmerksamkeit von Kulturtheorien auf die Modi der Raum- und Zeitkonstruktion, denn erst durch die Art und Weise, wie Raum und Zeit konstruiert werden, werden überhaupt kulturelle Bedingungen und Zusammenhänge erzeugt. Gegenwärtig richten die Kontroversen über die Wende des Raumes205 ihren Fokus auf die grundlegende Veränderung der Lebenswelt und deren diverse Gründe. Mit 201  Bateman: Filmische Textualität jenseits der narrativen Instanz, 2013, 88-115. 202   Mit der Anwendung des erzähltheoretischen Instrumentariums auf die Filmanalyse wird die sprachlich und textuell basierte Narratologie als audiovisuelle Narratologie verstanden (Kuhn: Narrativität transmedial, 2013, 58-87). Wie der Text, so wird auch der Film als essentiell dynamisches Phänomen betrachtet, das Bedeutungen, Interpretationen und Wirkungen hervorruft, die wiederum nur im Austausch mit dem Rezipienten entstehen können. Interessant ist dabei das gleichwertige Vorkommen der Themenbereiche Identität, Gedächtnis und Erinnerung im Text und Film (Lüdeker: Die Konstruktion von nationaler Identität in Erinnerungsfilmen, 2013, 221-241). 203  Alber: Beyond Classical Narration, 2014. 204   Siehe zu den Begriffen ausführlich Hickethier: Lexikon der Grundbegrif fe der Film- und Fernsehsprache, 1978, 45-57. 205   Günzel: Raum, 2017, 7-14.

1. Einleitung

den fundamentalen Umwälzungen mit kultureller Tragweite geht auch die gesteigerte Aufmerksamkeit für Raum in Bezug auf die deutsche Kulturgeschichte in den ausgehenden achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts einher. An der Wiedervereinigung Deutschlands wird eine Vorgeschichte erzählt, die selbst Wende genannt wird; der Raum tritt dabei als politischer in das Bewusstsein und wird in einem Verhältnis mit Volk gesehen.206 Doch kann dieses Verhältnis kaum ontologisch gefasst werden. Werden in den Raum-Diskursen der Kulturwissenschaften Gentrifizierung, Nachhaltigkeit, Geopolitik und veränderte Kommunikationsstrukturen als Gründe für die Wende des Raumes vorgestellt, so hängt mit diesen Gründen auch eine Wende des akademischen Diskurses zusammen, im Zuge dessen Raum als Thema, Kategorie oder Begriff relevant wird.207 In den kulturwissenschaftlichen Raum-Diskursen ist der Gedanke von zentraler Bedeutung, dass die vermeintlich neutralen Formen der Anschauung keineswegs universell seien; an ihnen könne eine historische oder kulturelle Spezifik abgelesen werden.208 In einer Studie, die sich der Ausdrucksformen kultureller Transformationen annimmt, kann dieser Gedanke insofern fruchtbar gemacht werden, als die ästhetisch konnotierten Raumformen in ihrer Relativität beschrieben werden. Die Studie Narrative kultureller Transformationen interessiert sich daher für die ästhetischen Darstellungsweisen der historischen und kulturellen Spezifika. Mit Geschichte und Kultur ist nicht nur die Perspektive des Raumes, sondern auch die der Zeit angesprochen. Die Herstellung der Modi von Raum und Zeit und der Einf luss kultureller Zusammenhänge vice versa werden in den literaturwissenschaftlichen Erzähltheorien u.a. im Zusammenhang mit der These diskutiert, dass menschliche Geschichten sich nicht in der Zeit als »bloße[n] Ereigniskette im Takt einer auf ewig festgelegten chronometrischen Ordnung«, sondern in einem vielfach gegliederten »Zeituniversum« vollziehen.209 Demnach werden Übergänge, Überlappungen und Dehnungen nicht mehr als ausschließlich den Raum betreffende Erscheinungen betrachtet, sondern greifen neben Synchronisierung, Sequenzbildung und Periodisierung auf das Konstrukt der Zeit zurück. Auf dieses Ineinandergreifen gründet die in der Erzähltheorie diskutierte kulturelle Modellierung von Zeit und erprobt sich an strategischen und symbolischen Verfahren, die sich auf das Raum-Zeit-Konstrukt als Schauplatz der Erzählung unmittelbar auswirken.210 Die Raum- und Zeitkonstruktionen werden von Jan und Aleida Assmann mit den kommunikativen Formen des sozialen Gedächtnisses in einen Zusammenhang gebracht und auf das kulturelle Gedächtnis erweitert.211 In ihrer Studie über Erinnerungsräume (1999) diskutiert Aleida Assmann die Relevanz von Orten für das kulturelle Gedächtnis und hebt deren Semantik bei der sozialen und kulturellen Kommunikation des Gedächtnisses hervor. Aus diesen Studien wird die Erkenntnis gewonnen, dass das kulturelle Gedächtnis ohne Kommunikation keine Bedeutung haben kann. Als Grundform von Kultur und als Codierung menschlicher Praktiken und Diskurse fasst 206 Ebd., 11. 207 Ebd., 14. 208 Ebd., 45-60. 209  Koschorke: Wahrheit und Erfindung, 2012, 203. 210 Ebd., 203-211. 211  Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, 2005.

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die germanistische Literaturwissenschaft, wie es oben ausführlich dargestellt wurde, das Erzählen auf und sieht in ihm das Medium, das Grenzüberschreitungen und Überlappungen beschreibt; in diesem Medium findet das Gedächtnis seine Ausdruckseite. An das Erzählen als Ordnungsstrategie bei der kulturellen Modellierung von Zeit und als Kommunikationsmedium des kulturellen Gedächtnisses wird hier angeknüpft. Das Konstruieren des Spannungsfelds von Vergangenem und Gegenwärtigem, das Handlungsstrukturen, Situationen und kognitive Sinnzusammenhänge zueinander in Beziehung setzt und die Hauptfigur in der interkulturellen Erzählwelt als Resultat dieses In-Beziehung-Setzens verortet, begründet meine Entscheidung über das erzählende und das erzählte Ich und dessen Positionierung zu anderen Figuren im Medium des Gedächtnisses (2.4). Das In-Beziehung-Setzen der Gedächtnisse beim Erzählen erprobt die Möglichkeiten der Synchronisierung, Sequenzbildung und Periodisierung, die in der interkulturell ausgestatteten Erzählwelt auf die Konstruktionsmöglichkeiten von Ähnlichkeiten und deren Balanceakt zu Differenzen erweitert werden. Wo lassen sich in den Erinnerungsräumen Ähnlichkeiten und Differenzen finden und wie wird ihr Verhältnis dargestellt? Mit dieser Frage möchte ich untersuchen, dass Differenzen konstruiert werden, indem die Hauptfigur in einem Spannungsfeld eines vergangenen und eines gegenwärtigen Lebens und Wirkungszusammenhangs steht. Mit Blick auf Migration ist dieses Spannungsfeld räumlich und zeitlich spürbar, aber keineswegs kausal beschreibbar, das heißt eine Figur, die über Migration ref lektiert, braucht nicht zwangsläufig den Raum seiner Befindlichkeit als Migrationsraum anzusehen. Aus der Sicht der Figur wird diesem Raum ein Veränderungspotential zuerkannt, das ihn von einem Ort der Migration – wenn er überhaupt ein solcher gewesen ist – in eine – gegebenenfalls vorläufige – Heimat wandeln kann. Die Figur des Migranten bewegt sich in Raum und Zeit, modifiziert durch ihre Bewegung die Raum- und Zeitkonstruktionen und erzeugt Überlappungen und Übergänge, die sich wiederum auf ihre eigene individuelle und kulturelle Identitätsarbeit auswirken. Das kulturelle Gedächtnis, von dem ich spreche, ist unter Berücksichtigung meiner Leitfrage ein Migrationsgedächtnis, das Differenzen und Ähnlichkeiten zugleich erfasst. Sein Spezifikum ist die Kohäsion. Den Hintergrund dieser These liefert die Überlegung, dass die Beschränkung des kulturellen Diskurses auf Differenzen allein weiterhin zu den Vorstellungen von eigen und fremd verleitet, die Figur des Migranten als Fremden kategorisiert und ihr jedwede Fähigkeit, am Gewebe des kulturellen Gedächtnisses zu partizipieren, aberkennt. Aus der Lektüre ergibt sich jedoch die Notwendigkeit einer gleichzeitigen und gleichörtlichen Betrachtung von Differenz und Ähnlichkeit, so dass Ähnlichkeiten in der Frage nach literarischen Ref lexionen über die Identitätsarbeit im kulturellen Kontext genauso eine Rolle spielen wie Differenzen. Auf das Potential des Ähnlichkeitsdenkens in den kulturellen Zusammenhängen ist hier der Schwerpunkt gelegt. Dieses Potential erlaubt, Theorien des kulturellen Gedächtnisses mit Blick auf Migration zu erweitern. Die theoretische Grundlage liefern die Überlegungen über plurikulturelle Erscheinungsformen kultureller Zusammenhänge, sie rücken das Ähnlichkeitsdenken in ihren Fokus und relativieren auf diese Weise die an Differenz orientierten Theorieansätze. Überlegungen zu plurikulturellen Erscheinungsformen, die gegenwärtig beispielsweise durch Anil Bhatti (*1944) in den neueren Kulturtheorien Anregung finden, können unter bestimmten Voraussetzungen auch von Ansätzen der germanistischen Interkulturalitätsforschung berücksichtigt werden. Zur Darstellung dieser Voraussetzungen wäre ein Einblick in

1. Einleitung

die plurikulturellen Theorienkonzepte notwendig. Die Basistheorie zur Besprechung von Ähnlichkeiten bieten kulturtheoretische Ansätze unter den Termini Plurilingualität und Plurikulturalität. Die Begriffe plurilingual und pluricultural wurden bereits 1997 in der ersten französischen Fassung von Plurilingual and Pluricultural Competence definiert und erweisen sich seitdem im Diskurs der Kulturwissenschaften als ertragreich.212 Im Dokument des Europarats Language Policy Division wird zunächst von der Plurilingualität gesprochen und so die Grundlage dessen ausgearbeitet, von dem später Plurikulturalität profitieren sollte. Als plurilingual werden diejenigen definiert, die zwei oder mehr Sprachen separat oder gleichzeitig benutzen. Der Gebrauch von zwei oder mehr Sprachen wird nicht als Sonderfall, sondern als alltäglicher Bedarf der Sprecher betrachtet. Plurilinguale Sprecher verfügen sowohl in den Sprachen als auch beim Wechsel zwischen ihnen über Souveränität.213 Diese Fähigkeiten bleiben für das plurilinguale Subjekt nicht ohne Konsequenzen, weil es als diejenige Instanz auftritt, die Kontrollüberzeugung (locus) leistet und zugleich auch Akteur ist.214 Plurilingual and pluricultural competence refers to the ability to use languages for the purposes of communication and to take part in intercultural interaction, where a person, viewed as a social actor has proficiency, of varying degrees, in several languages and experience of several cultures. This is not seen as the superposition or juxtaposition of distinct competences, but rather as the existence of a complex or even composite competence on which the social actor may draw.215 Plurilinguale und plurikulturelle Zusammenhänge werden in ihrer Gesamtheit als lebenslanges Kapital, als komplexes und als einzigartiges Reservoir von Erfahrungskoordinaten angesehen,216 die in ihrem Verhältnis zur Biographie, zu sozialen und lebensorientierenden Zügen des Individuums unterschiedlich wirken. Zwar werden sprachliche und kulturelle Kompetenzen als historische Kriterien begriffen, die durch soziale Rahmensetzungen eingebettet werden, aber die individuelle Kompetenz in verschiedenen Sprachen und Kulturen wird für das Individuum als etwas stets Einzigartiges aufgefasst.217

212   Coste et al.: Plurilingual and Pluricultural Competence, 2009. Entsprechend der Definition lassen sich diese Begriffe mit plurilingual und plurikulturell ins Deutsche übersetzen. 213   Hier gewinnt der Begriff plurilingual insbesondere unter Berücksichtigung von Referenzrahmen der Lehrerausbildung in heterogenen Gesellschaften und Schulen an Relevanz (Council of Europe: A Common European Framework of Reference for Languages, 2001). 214   In dieser gleichzeitigen Eigenschaft des bewussten Handelns und Kontrollierens wird der gravierende Unterschied zwischen plurilingualism und multilingualism begründet (Coste et al.: Plurilingual and Pluricultural Competence, 2009, v.). Der Zusammenhang mit interkulturellen Analysemethoden besteht darin, dass das Präfix pluri- zum Präfix inter- einen durchaus näheren und in der Logik auch nachvollziehbaren Bezug aufweist als zu den Präfixen multi- und bi-. 215   C oste et al.: Plurilingual and Pluricultural Competence, 2009, V. 216   C andelier: Approches plurielles, didactique du plurilinguisme, 2008, 65-90. 217 Darauf, dass das Konzept der plurilingualen und plurikulturellen Kompetenz sich an paradigmatischen Veränderungen beteiligt und diese auch fördert, verweisen bereits Coste: Postface, 2001, 191202; Moore: Plurilinguismes et école, 2006.

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Der Begriff pluricultural ist im Gegensatz zu plurilingual ein Neologismus, der in den Kulturwissenschaften gebildet worden ist und sich von anderen konkurrierenden Begriffen absetzt: The idea of bicultural competence has never enjoyed any specific theoretical visibility, although it is a dimension indirectly present in studies on bilingualism. Pluriculturalism is to be distinguished from »multiculturalism«, which is the subject in North America of a debate on linguistic and identity aspects concerning ethnic minorities but remains comparable to the debate in the European context, by its nature if not by its goals.218 Präzisiert wird der Begriff plurikulturell im Diskurs der Kulturwissenschaften insbesondere durch eine differenzierte Analyse des Spannungsverhältnisses von Ähnlichkeit und Differenz. Anil Bhatti betrachtet ihre gegenwärtige Relevanz im Zusammenhang mit sprachlicher, religiöser und kultureller Diversität in den westlichen Gesellschaften, die sich infolge von Migrationsbewegungen gewandelt haben. Er richtet das Augenmerk auf den gesellschaftlichen Wandel und auf komplexe Erscheinungsformen von Kulturen, die im Hinblick auf »Mehrsprachigkeit«, »plurikulturelle Verhältnisse« und »Synkretismus« vielschichtige Konturen einnehmen.219 Er versucht, der Tatsache Rechnung zu tragen, dass es Transformationsprozesse sind, die plurikulturellen Gesellschaften »Bestrebungen nach Homogenisierung«220 erschweren. Die kulturelle Transformation definiert Bhatti wie folgt: We could look upon contemporary international developments as field of social and cultural transformations, which are characterized by two moments. On the one hand, relatively homogeneous societies are developing into more complex social formations. On the other hand, existing complex, heterogeneous societies are being subjected to tensions that continually threaten their heterogeneity.221 Mit Blick auf den gesellschaftlichen Wandel wird die Verordnung der Differenz222 im Sinne des Entweder-Oder-Denkens in Bhattis Theorie durch die Verordnung der Ähnlichkeit223 im Sinne eines Sowohl-Als-Auch-Denkens ersetzt. Ein charakteristisches Merkmal plurikultureller Zusammenhänge ist, dass es in ihnen zu Überlappungen224 kommt, dass Kulturen aufgrund der Überlappung nicht als Monaden begriffen werden und dass das Ähnlichkeitsdenken Unschärferelationen nicht ausschließt. Daraus 218   C oste et al.: Plurilingual and Pluricultural Competence, 2009, 20-24, hier 20. 219 Bhatti: Ähnlichkeit, 2014, 161. 220  Ebd. 221  Bhatti: Heterogeneities and Homogeneities, 2014, 20. 222 Eine dieser Perspektivierungen betrachtet Anil Bhatti im Kontext des Dialogs, der stets die Bewahrung der Identität von Ich und Du voraussetzt. Diese Vorgabe setze das Schema von Eigenem und Fremdem erst in Gang (Bhatti: Kulturelle Ähnlichkeit bedeutet nicht, daß unsere Hemden gleich sind, 2011, 66f.). 223   Bhatti: Ähnlichkeit, 2014, 161; siehe zum Begriff der Ähnlichkeit Bhatti: Kulturelle Ähnlichkeit bedeutet nicht, daß unsere Hemden gleich sind, 2011, 72f.; siehe im Zusammenhang mit dem Sowohl-Als-AuchDenken Tafazoli: Heterotopie als Entwurf poetischer Raumgestaltung, 2012, 38-40. 224  Bhatti: Kulturelle Ähnlichkeit bedeutet nicht, daß unsere Hemden gleich sind, 2011, 73.

1. Einleitung

ergibt sich für mich, dass das Gedächtnis der Migration durch Differenzen und Ähnlichkeiten Überlappungen erzeugt; es erzeugt im Medium des Erzählens seine Kultur, die in der Analyse keine Entität darstellt. Für meine Analyse bedeutet die Untersuchung plurikultureller Zusammenhänge, diejenigen Figuren in den Blick zu nehmen, welche ein Gedächtnis der Migration konstruieren, die Fähigkeit des kulturellen Wechsels innerhalb der Erinnerungsräume besitzen und ihre Identitätsarbeit in einer Vielfalt räumlicher und zeitlicher Modifikationen organisieren.225 Interessant ist die Beobachtung, dass diese Figuren sich in ihrer Identitätsarbeit nicht bloß durch Differenzen oder Ähnlichkeiten charakterisieren, sondern beides in Beziehung setzen. Als Charakteristikum plurikultureller Figuren gilt, dass diese über ein kulturelles Gedächtnis verfügen, das zugleich mehrere unterschiedliche Orte und Zeiten erfasst. Seine Analyse erbringt den Beweis dafür, dass literarische Ref lexionen, die Identifikationen erlauben und die Identitätsarbeit steuern, nicht mittels einer absoluten Abgrenzung von Differenz und Ähnlichkeit verlaufen, sondern innerhalb ihrer transmissiven Relation.

1.6 Hypothesen Die Studie betrachtet den Zeitraum zwischen den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts und der Gegenwart und diskutiert an dem Auswahlmaterial literarische Modellierungen von Transformationsprozessen in der Bundesrepublik Deutschland an der Schwelle ihrer Wiedervereinigung und mit einem thematischen Blick auf Migration als kulturelles Phänomen sowie auf den Iran der Islamischen Republik, die die Welle der Migration in der Gegenwartsgeschichte Irans überhaupt ausgelöst hat. Folgende Hypothesen werden überprüft: Wenn die Szenen der Relation, Beziehung, Begegnung und Kohäsion durch narrative Techniken konstituiert werden, wenn diese ferner den Begegnungsraum zwischen einer Figur und ihrem Gegenüber gestalten, so kann dieses Gegenüber keine genuine Entsprechung einer außertextuellen Welt im Sinne des Fremden darstellen, sondern eine in liminalen Begegnungsräumen inszenierte Figur und Sphäre, denen thematische und ästhetische Mittel erst Ausdruck verleihen. Wenn der Begriff Migrationsliteratur der außerliterarischen Tatsache Rechnung trägt, Autoren dieser Literatur seien in den deutschsprachigen Raum gezogen und Deutsch sei nicht ihre Muttersprache, so zieht er eine wertende und daher auch problematische Grenze, mit der Fremdheit ontologisch gesetzt und Machtverhältnisse definiert werden. Eine solche Determinierung steht in einem scharfen Kontrast zu der Lektüre, die eine differenzierte Lesart erlaubt. Die interkulturell ausgestattete Erzählwelt spiegelt die Verf lochtenheit und die Ausdrucksmöglichkeiten konstruierter 225   Aleida Assmann relativierte bereits 1999 die Unterscheidung von Geschichte und Gedächtnis und begründete, beide als ineinander verschränkte Komponenten desselben Gesamtprozesses anzusehen (Assmann: Erinnerungsräume, 1999, 130-135). Demzufolge darf die von dem kulturellen Gedächtnis herrührende Identitätsarbeit (Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, 2005, 24) der Migranten-Figur nicht allein auf ihre Geschichte reduziert werden. Als Trägerin des Gedächtnisses, die dieses auch bewohnt, aktiviert die Figur des Migranten die Vergangenheit und die Jetztzeit im Medium ihrer Reflexion und nutzt dieses für Zukunftsvisionen (Koschorke: Wahrheit und Erfindung, 2012, 224-236).

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Sub-Welten wider, beleuchtet die Problematik ihrer ontologischen Setzung und liefert zu ihrer Auffassung andere Varianten, aus denen Transformationen des Kulturellen erschlossen werden können. Wenn die Figur des Migranten eine Erzählwelt konstruiert, die ihr interkulturelles Gestalten dem In-Beziehung-Setzen von Differenzen und Ähnlichkeiten schuldet, dann gewinnt die Frage nach der Bedeutung dieser Welt für die Identitätsarbeit der Figur in literarischen Ref lexionen an Relevanz. Das Erzählen in wechselnden und unterschiedlichen Räumen kulturellen Gedächtnisses zeigt die Identitätsarbeit der Figur als plurikulturelle Eigenschaft. Diese Eigenschaft wird ihr jedoch nicht losgelöst von kulturellen Zusammenhängen passiv zugeschrieben; vielmehr erwirbt sie sie in einer Interaktion innerhalb kultureller Zusammenhänge. Auf diese Weise transformiert sie sich selbst und wirkt auf ihre Umwelt zurück. Nicht nur an der Identifikation als Grundlage aktiver Identitätsarbeit gestaltet der literarische Diskurs der Migration die Praxis interkultureller Profilierung, sondern auch an den Themenbereichen Europa, Heimat und Sprache.

1.7 Aufbau der Studie Bei der Besprechung theoretischer und methodischer Ansätze in der Einleitung habe ich versucht, Verbindungspunkte zu den jeweiligen Kapiteln und Abschnitten der Arbeit durch den Verweis auf die Nummerierung entsprechender Abschnitte herzustellen. Nach den einführenden Erläuterungen und Hinweisen in diesem Kapitel setzt sich das zweite Kapitel mit kulturtheoretischen Konzepten auseinander, die bisher in der germanistischen Literaturwissenschaft den Begriff Migrationsliteratur diskutiert haben. Im Begriff Migrationsliteratur werden Ansätze eines Kulturpessimismus begründet (2.1), die aus der Entwicklungsgeschichte dieses Begriffes seit der Einführung des Begriffes Gastarbeiterliteratur abgeleitet werden. Im kulturellen Wirkungsbereich des Begriffes Migrationsliteratur schenken die Ansätze Erfahrungen eines Kulturwandels kaum Aufmerksamkeit. Aus der Mängellage lässt sich die Erkenntnis über Exklusionsmechanismen des Begriffes Migrationsliteratur schnell gewinnen (2.2). Es wird dann auf der kulturtheoretischen Grundlage nach literaturwissenschaftlichen Konzepten gesucht, die ästhetische Formen der Migration in der Literatur diskutieren und dabei Migration nicht als Kategorie zur Bezeichnung einer Literatur, sondern als Kulturphänomen anvisieren (2.3). Es darf nicht unerwähnt bleiben, dass der Migrationsdiskurs seit dem Auf kommen des Islamismus sowie seit den massenhaften Migrationsbewegungen im letzten Dezennium vielleicht eine nie dagewesene Herausforderung im praktischen Umgang und in der theoretischen Grundlagenbildung darstellt. Zugleich darf aber darauf hingewiesen werden, dass der literarische Diskurs häufig einen Avantgardecharakter besitzt und den soziopolitischen Debatten voraus ist. Eine unmittelbare Suche nach Bezugsmöglichkeiten zu gegenwärtigen soziopolitischen Debatten in der Politik wird hier nicht angestrebt. Hinzu kommt auch, dass der Schwerpunkt der Studie im deutsch-iranischen Migrationsgedächtnis keinen direkten Bezug zu den Migrationswellen der jüngsten Zeit sucht. Allerdings möchte ich nicht verhehlen, dass gerade die neuesten politischen Entwicklungen uns dazu ermuntern sollten, Begriffe, mit denen wir sachlich-wissenschaftlich arbeiten, mit Bedacht zu wählen.

1. Einleitung

Im Anschluss an theoretische Erkenntnisse setzen sich das dritte und vierte Kapitel mit den Themen Identität, Europa, Heimat und Sprache eingehend auseinander und arbeiten diejenigen ästhetischen Stilmittel aus, an denen sich Transformationen des Kulturellen ablesen lassen. Ich bin der Meinung, dass die erwähnten Themenbereiche sich insbesondere deshalb für einen interkulturellen Diskurs der Literatur empfehlen, weil sie, anders als der Begriff Migrationsliteratur suggeriert, keine spezifischen Schwerpunkte für die sogenannte Migrationsliteratur darstellen, sondern bereits seit der europäischen Moderne im Interesse der Literatur lagen. Daher stelle ich zu Beginn des jeweiligen Themenbereichs dessen interdisziplinären Diskurs in der europäischen Moderne vor. Dass dies im Kapitel über Identität eine intensivere Auseinandersetzung erfordert, hängt auf der einen Seite mit der Relevanz literarischer Identitätsarbeit zusammen und auf der anderen mit dem Sachverhalt, dass sich Heimat und Sprache stets in den Dienst der Identitätsarbeit stellen. Eine klare Abgrenzung wäre also weder möglich oder sinnvoll,226 noch gewollt. Das dritte Kapitel beginnt mit Identität als literarischem Thema mit Blick auf den frühmodernen Diskurs der Literatur. Dabei soll einerseits auf die Relevanz dieses Diskurses seit Michel de Montaigne hingewiesen und andererseits veranschaulicht werden, wie sich die individuelle und kulturelle Identifikation im Verlauf kultureller Transformationen wandelt und diese auch fordert bzw. steuert. Vorrangig geht es diesem Teil der Arbeit darum, die vergangenen Nuancen hervorzuheben und die Entwicklung kultureller Identifikationsvarianten retrospektiv zu verfolgen. Auf den Identitäts-Diskurs greift meine Interpretation insofern zurück, als sie das Werden der Identität zum einen in der als interkulturell ausgestatteten Erzählwelt zu rekonstruieren sucht und es zum anderen als ästhetische Realisierung des Transformationellen in der Wirklichkeit der erzählten Welt zu begründen bemüht ist. Durch den interkulturellen Diskurs der Identität in der Literatur soll unterstrichen werden, dass die Komplexität der Identität, die bereits seit der Auf klärung den Gegenstand philosophischer Überlegungen und literarischer Ref lexionen bildete, aufgrund globaler Formen und Kontexte noch größer geworden ist. Die steigende Komplexität zeigt sich darin, dass Identität als Thema voranschreitender globaler Verhältnisse für mehr Fragen als Antworten sorgt. Die Komplexität wird im Zusammenhang mit der These über die Fragmentierung und Pluralisierung der Identität erörtert. Am Beispiel einer Reihe von Metaphern, Symbolen und Topoi und anhand exemplarischer Besprechungen von Fallbeispielen versucht das dritte Kapitel die These zu begründen, dass das Erzählen die Grundform individueller und kultureller Identitätsarbeit – und in diesem Sinne auch den zentralen Mechanismus des kulturellen Diskurses in der Literatur – darstellt. Mit diesem Gedanken wird zum vierten Kapitel und zu den Themen Europa, Heimat und Sprache übergeleitet. Auch hier werden plurikulturelle Prozesse aufgezeigt, die belegen werden, dass sich eine singuläre Vorstellung von Heimat und Sprache, von der sich der Begriff Migrationsliteratur im Sinne von entweder Verlust oder Gewinn ableitet, zu den literarischen Konstruktionen oppositionell verhält. Allein der Mythos Europa weist die Problematik dieses oppositionellen Verhältnisses nach und widerlegt jegliche Art ontologischer Muster der Kulturalisierung. Der Epilog fasst die Erkenntnisse dieser Studie zusammen und schließt die Arbeit ab.

226  Eibl: Kultur als Zwischenwelt, 2009, 27; Müller-Frank: Die Kultur und ihre Narrative, 2008, 17.

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Die Leser, die sich sofort ein Bild von den Stilmitteln und Narrativen machen wollen, können direkt zu Kapitel 3, Abschnitt 3.3.1 und Kapitel 4, Abschnitt 4.1.2 springen. Diejenigen Leser, die dieses Buch als Einführung in die kulturtheoretischen Ansätze der germanistischen Interkulturalitätsforschung nutzen und die Potentiale dieser Ansätze bei der Interpretation literarischer Texte mit Migration als Thema entdecken wollen, können sich den theoretischen Ansätzen im Kapitel 2, Kapitel 3, Abschnitt 3.13.3 und Kapitel 4, Abschnitt 4.1 zuwenden.

2. Migration im Diskurs der Literaturwissenschaft Begriffe sind Instrumente der Hervorhebung und Ausblendung, der Inklusion und Exklusion. Sie stellen bestimmte Aspekte, Zusammenhänge und Nuancen in den Mittelpunkt und behindern die Sicht auf alternative Lesarten. Der Begriff Migrationsliteratur gilt als Ausdruck zugeschriebener Nichtzugehörigkeiten und als Beispiel für Ausgrenzung im Einbezug selektiver Zusammenhänge. Die Adressierung der Literatur mit solch einem Begriff kann als ein wie auch immer geartetes Interesse an Migration selbst bedeuten. Sie kann aber auch die Randposition einer Literatur, die nicht nur von Migration handelt, determinieren. Mit ihm bestimmt der Sprecher den Status der Perspektive und deren Machtposition im Kanon der deutschsprachigen Literatur. Der literaturwissenschaftliche Diskurs der Migration, wie er in der vorliegenden Studie geführt wird, nimmt Migration als kulturelles Phänomen in den Blick, betrachtet dieses nicht als Entität, sondern als Konstruktionen kultureller Verhältnisse. Sich für diese Verhältnissen zu interessieren, bedeutet ihre ästhetischen Konstruktionen zu erfassen und aus ihnen eine Poetik der Migration zu gewinnen. An dieser Poetik wird die Kritik an dem Begriff Migrationsliteratur begründet und für die Idee, die sogenannte Migrationsliteratur als deutschsprachige Literatur zu begreifen, plädiert. Erkennen wir im Zeitgeist eine brauchbare Metapher zum Ausdruck dessen, was unübersehbar unsere Welt prägt, so werden wir von dem Weltbild der Moderne nicht sonderlich abweichen. Eine fragmentarische Weltsicht, die Relativierung von Ansichten, Subjektivierung der Wirklichkeitserfahrung und Perspektivenwechsel sind Kriterien dieses Weltbilds, das sich literarisch in ästhetischer Selbstref lexivität der Kultur widerspiegelt. Aus diesem Weltbild sind Erfahrungen der Migration nicht auszusondern. Der Begriff Migrationsliteratur vereinfacht und vereindeutigt diffuse und vielfältig interferierende Wechselwirkungen, die am Konstrukt des Weltbildes beteiligt sind, im Sinne eines linear verlaufenden Einf lusses. Literatur übersetzt die Fragen der Gemeinschaft in die nüchterne Anschauung der Kultur- und Zivilisationsform, in der sich die Gemeinschaft tatsächlich artikuliert. Der Analyse der Artikulationsformen widmet sich die vorliegende Studie mit Blick auf das deutsch-iranische Gedächtnis der Literatur und begründet, dass Migration lediglich eine der Komponenten des Zeitgeists ausmacht, auf die eine Literatur, die sich als modern begreift, keineswegs reduzieren werden sollte. Die Leitfragen stellen sich danach, warum dem Begriff Migrationsliteratur das territoriale und nationale Denken vorausgeht, wie er in diesem Denken den Autor an seinen Herkunftsort fixiert und bei der Projektion dieser Fixierung auf die ausgestattete Erzählwelt kulturelle Homogenisierung und Reduktion produziert. Diese

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Fragen werden im Zusammenhang mit der Problematisierung des Begriffes Migrationsliteratur in den kultur- und literaturwissenschaftlichen Theorieansätzen, in die er Eingang gefunden hat, diskutiert. Bei der Diskussion werden innerhalb der Entwicklungsgeschichte des Begriffes diejenigen Spuren rekonstruiert, die in diesem Begriff ein Machtinstrument der Exklusion etabliert und mit ihm endozentrische und hypotaktische Verhältnisse erzeugt haben, die ihrerseits zur Verstärkung des eigenen Selbstbilds in der Abgrenzung zum Bild des Fremden führen. In seiner Entwicklungsgeschichte suggeriert der Begriff Migrationsliteratur negative Fremde-Bilder und mit diesen auch die Semantiken eines Kultur-Pessimismus, die Unterscheidungsmerkmale in Trennungsmerkmale umwandeln1 und die negativen Bilder grundsätzlich auf den Migranten projizieren. Der Ausweg aus der Projektion, der Homogenisierung und des Reduktionismus wird auf der Basis systemtheoretischer und semiotischer Kulturtheorien gesucht, die in der Kultur modifizierbare Kommunikationsketten sehen, an denen ihre Mitglieder partizipieren und identitätsstiftende Gemeinsamkeiten stiften können (2.3). Die Poetik der Migration wird aus der Gestaltung dieser Gemeinsamkeiten gewonnen, die selbst aus der Konstruktion eines kulturellen Gedächtnisses herrühren. Dieses Gedächtnis – das zeigt das Beispiel des Irans und der Bundesrepublik Deutschland – ist ein interkulturelles und wird in der Studie als deutsch-iranisches Migrationsgedächtnis bezeichnet (2.4).

2.1 Migrationsliteratur: Kulturen eines Begriffspessimismus? Pessimismus wird als Lebenshaltung ohne positive Grundlagen und Erwartungen gegenüber den Ereignissen in der Gegenwart und in der Zukunft definiert. Er drückt sich in der Annahme aus, dass es um die bestehende Welt schlecht bestellt und eine Entwicklung zum Besseren kaum zu erwarten sei: »Alles Leben ist Leiden« schreibt Arthur Schopenhauer (1788-1860) in Die Welt als Wille und Vorstellung (1819) und formuliert durch diese Klage einen radikalen metaphysischen Pessimismus.2 Wenn Schopenhauer ein mit der Welt in unmittelbarem Zusammenhang stehendes, leidvolles System unterscheidet, so legt er seiner Unterscheidung die gegenseitige Beeinf lussung von Welt und System zugrunde. In dieser Welt-System-Beeinf lussung drückt der Begriff Pessimismus den inneren Zusammenhang von Ursache und Wirkung aus, nach dem die negative Lebenshaltung ihre Ursache in der Welt selbst sucht. Der Zusammenhang von Welt und System als negative Ordnung wird durch den Menschen hergestellt, der sich in dieser Ordnung identifizierend positioniert.3 Mit dem Gesellschaftstheoretiker Peter Wagner kann Pessimismus in der – wie Wagner den Zusammenhang von Welt und System beschreibt – sozialen Ordnung der Identitätsbildung auch als Kultur bezeichnet werden, in der die negative Haltung des Individuums zu gegenwärtigen und zukünftigen Ereignissen sich im Kontext von »allgemein gehaltene[n] Glaubensvorstellungen, Normen, Werte[n] und Handlungsweisen«4 niederschlägt. Als problematisch gilt in diesem Verständnis die Gleichsetzung von Kultur und Norm, denn in 1 Vgl. Bhatti: Heterogenität, Homogenität, Ähnlichkeit, 2015, 131. 2  Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung I, Bd. 2, 4. Buch, § 56, 1977, 389. 3  Wagner: Fest-stellungen, 1998, 47. 4  Ebd.

2. Migration im Diskurs der Literaturwissenschaft

dieser Parität finden die Vorstellungen über Kultur als Entität ihren Nährboden. Die Kulturwissenschaften jedenfalls versuchen, die kulturelle Ordnung mit »Symbolsystemen«5 und »Wertorientierungen«6 zu erklären, »über die sich die Träger einer Kultur als zugehörig definieren und identifizieren«.7 Die reziproke Beeinf lussung von Welt und System in deren negativen Ordnung erzeugt Wertorientierungen und Symbolsysteme. Im Zeitalter des globalen Denkens sollte die reziproke Beeinf lussung im Verhältnis von Kultur, Migration8 und Migranten erneut kritisch hinterfragt werden.

2.1.1 Die Figur der Wertorientierung Für eine kulturelle Orientierung sorgt die Figur des Fremden in der abendländischen Tradition seit der Kategorisierung von Barbarismus und Primitivismus in Herodots Historien (5. Jh. v. Chr.), die vornehmlich die Perser und ihre historische Königsfolge als feindliche Fremde umfasst. Bereits hier ist eine dichotomische Systematik zu erkennen, die dem Fremden in der europäischen Kulturgeschichte frappanteste Eigenschaften zuschreibt. Semantisiert wird die Positionierung des Fremden als identitätsstiftendes Gegenbild zum Eigenen im Verlauf ihrer Entwicklung durch polyseme Negativwörter mit den nun häufigsten Bedeutungen unbekannt, gefährlich, ungewohnt, seltsam und andersartig und sorgt für Kontroversen, und zwar nicht nur in der deutschen Sprache.9 Als gemeinsamer Referenzbereich dieser Polysemie zeichnet sich die Implikation einer lediglich perspektivisch feststellbaren Normalität und Abweichung aus, in denen kulturelle wie individuelle Identifikationen sich auf der Grundlage der Trennungsmerkmale vollziehen.10 Die Trennungsmerkmale werden je nach der Disziplin, die sich mit dem Fremden befasst, unterschiedlich beschrieben. Seit der Problematisierung des Fremden in der Soziologie und Philosophie existiert der Diskurs des Fremden in nahezu allen geisteswissenschaftlichen Fachdisziplinen, die jeweils ihr eigenes Fremdes konstruieren. In der Soziologie der Moderne unternahm Georg Simmel (1858-1918) in seinem vielfach zitierten Exkurs über den Fremden (1908) einen entscheidenden Schritt in der Auseinandersetzung mit dem Fremden, als der, »der heute kommt und morgen bleibt«.11 Auch an die griechische Tradition schließt die seit Malinowski12 diskutierte Schreckensund Gewaltbezeichnung des Fremden an,13 die eben deshalb für ein Schockerlebnis über sein unauf haltsames Vordringen in das Eigene sowie für die Verfremdung des Eigenen sorgt.14 Die soziologische Erscheinungsform des Fremden in der Dialektik von 5  Assmann: Zum Problem der Identität aus kulturwissenschaftlicher Sicht, 1994, 16. 6  Assmann: Identität, 2008, 223. 7  Assmann: Zum Problem der Identität aus kulturwissenschaftlicher Sicht, 1994, 16. 8   Migration wird als »die auf einen längerfristigen Aufenthalt angelegte räumliche Verlagerung des Lebensmittelpunkts von Individuen, Familien, Gruppen oder auch ganzen Bevölkerungen« definiert (Oltmer: Migration, 2013, 31-34). 9 Hermanns: »Fremdheit«, 1996, 37-56; Jostes: Was heißt hier fremd?, 1997, 11-76. 10 Vgl. Krusche: Literatur und Fremde, 1985, 129-132, 209-213. 11  Simmel: Exkurs über den Fremden, 1908, 764. 12   Malinowski: Argonauten des westlichen Pazifik, 1979, 23-49. 13 Vgl. Fabian: Im Tropenfieber, 2001. 14   Benjamin: Gesammelte Schriften, 1991, 605-653.

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Innerhalb und Außerhalb ist der Gegenstand vom soziopsychologischen Versuch Alfred Schütz’ (1899-1959) in seinem Essay Der Fremde.15 Den Ausgangspunkt bildet hier die personifizierte Form des Fremden als Immigranten in einer »Situation der Annäherung […], die jeder möglichen sozialen Anpassung vorhergeht und deren Voraussetzungen enthält«.16 Die Voraussetzung der sozialen Anpassung besteht in der Hypothese, dass die Gruppen von Einheimischen und Fremden jeweils Zivilisations- und Kulturmustern angehören,17 die durch handelnde Mitglieder – sollten sie aufeinandertreffen – in einen mehr oder weniger konf liktreichen Bezug gesetzt werden.18 Das dichotomische System handelt Schütz in seiner These über »Denken-wie-üblich«19 ab und bezeichnet damit ein »fertiges Vorstellungsmuster«20, das nur basierend auf dem Weiterbestehen sozialer Zustände und Gegebenheiten fortexistieren kann. Hier erweist sich der Fremde als eine Instanz, die das System des »Denken-wie-üblich« stört. Simmels Außenposition, Malinowskis Schreckens- und Gewaltbezeichnung und Schütz’ Störungspotential des Fremden finden ihre Gemeinsamkeit in der Feststellung, dass die Geltung des Fremden erst durch dessen Eintritt in eine eigene Gesellschaft und durch seine Charakterisierung als Fremden aus deren Perspektive erfolgt. Schütz’ Theorien über das Fremde im Akt der Selbstauslegung eröffnet die soziologische Perspektive auf das Spannungsverhältnis zwischen dem Eigenen und dem Fremden,21 die belegen soll, dass die beiden keine Kontrastphänomene, sondern wechselseitige Bezugsgrößen darstellten, so dass die Exklusion des Fremden unmöglich scheine. Ihnen gemeinsam ist auch die Charakterisierung des Fremden als elementaren Bestandteils einer Gruppe. Übereinstimmend sind Simmels und Schütz’ Charakterisierungen besonders darin, dass der Fremde die Geschichte und den Raum der Gruppe, der er sich annähert, nicht teilt; er hat mit ihr definitiv eine gemeinsame Gegenwart, aber keineswegs eine gemeinsame Geschichte. Was die gemeinsame geschichtliche Zugehörigkeit angeht, ist der Fremde für die Gruppe »ein Mensch ohne Geschichte«.22 Die dichotomische Kategorisierung des Fremden liegt dessen interdisziplinärer Erfassung bekanntlich zugrunde. Für die Psychoanalyse ist das Fremde das eigene Unbe-

15   Erstveröffentlichung unter dem Titel »The Stranger. An Essay in Social Psychology«, in: American Journal of Sociology 49,6 (1944),  499-507. 16  Schütz: Der Fremde, 1972, 54. 17   Schütz’ Annahme beruht auf der Prämisse, dass jede soziale Gruppe zu jedem Augenblick durch gewisse Besonderheiten charakterisiert ist, die »Wertungen, Institutionen, sowie Orientierungs- und Führungssysteme bezeichnen«; solche Besonderheiten fasst Schütz unter »Zivilisationsmuster des Gruppenlebens« (Schütz: Der Fremde, 1972, 54). 18   Diese Zivilisations- und Kulturmuster, relativiert Schütz, böten dem Soziologen und dem, der in ihnen nur handelt, einen je verschiedenen Anblick. Während der Handelnde in seinen Erfahrungen und Erlebnissen zwanglos und unverfänglich lebe, sei der Soziologe um die Beobachtung, Beschreibung und Darstellung der sozialen Welt nach wissenschaftlichen Prinzipien (Kohärenz, Konsistenz, analytische Konsequenz) bemüht. 19  Schütz: Der Fremde, 1972, 58. 20 Ebd., 60. 21  Schütz: Grundzüge einer Theorie des Fremdverstehens, 1974, 156. 22  Schütz: Der Fremde, 1972, 66.

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wusste und Unbekannte,23 für die Ethnologie das kulturell Andersartige24 und für die Xenologie das Objekt vom Verstehen25. Der philosophische Diskurs setzt sich auf eine ähnliche Art und Weise wie der soziologische mit dem Fremden auseinander. Paul Virilio (*1932) schreibt: »Der Unbekannte, der Fremde, das ist für uns schon nicht mehr der, der von fern kommt, sondern der, der gleich nebenan wohnt«.26 Wenn der »erste Schrecken« nach dem Soziologen Helmut Willke »immer dem Fremden« gelte,27 ist es deshalb, weil er in unmittelbarer Nachbarschaft die uns vertraute Ordnung aus dem Gleichgewicht bringe und durch andere Ordnungen zu ersetzen drohe. Im Diskurs der Hermeneutik steht das kategorial Fremde im Mittelpunkt eines Verstehens-Prozesses, der auf »Überlieferungsgeschichte von Texten und auf Wirkungs-zusammenhänge innerhalb einer Kultur reduziert«28 wird. Jürgen Kramer beschreibt in seinem Artikel über Das Verstehen fremder Kulturen das hermeneutische Verfahren des Verstehens als Überbrückung, Verringerung, sogar Auf hebung der Distanz, die zwischen individuellen Welt-Auffassungen bestehe. Die Überbrückung, Verringerung oder Auf hebung geschähe auf eine Weise, die Strategien der Unterwerfung des Einen durch das Andere folge. Kramer geht über die Beschreibung dieses Unterwerfungsprozesses hinaus und spricht von Aneignung des Objekts und Enteignung des Subjekts. Bei diesem assimilativen Prozess des Verstehens, schlussfolgert Kramer, bestehe die Gefahr des Differenz- und Unterscheidbarkeitsverlusts des Subjekts wie des Objekts als Individualitäten.29 Das Fremde wird folglich dem Eigenen einverleibt und hört auf, als fremd weiter zu existieren. Der Ort des Differenz- und Unterscheidbarkeitsverlustes zeigt sich für die Philosophie in der Sprache. Nach Hans-Georg Gadamer gelange man zu »einer gemeinsamen Sprache und einem gemeinsamen Spruch«, wenn die Partner zu einer »Verständigung im Gespräch« bereit seien, in welchem sie »das Fremde und Generische bei sich selber« gelten ließen; erst in einem gegenseitigen Gespräch, in dem Gründe und Gegengründe mit erwogen seien, könne die »Wechselübertragung der Gesichtspunkte« erfolgen.30 Sprache bedeutet für Gadamer das Mittel, in dem sich »die Verständigung der Partner und das Einverständnis über die Sache vollzieht«.31 Der »wahre Ort des Verstehens«, so Gadamer, befinde sich in einem »Zwischen«, das die »Polarität von Vertrautheit und Fremdheit« bilde.32 Die Frage, in welcher Sprache sich der Fremde in jenem ›wahren Zwischen‹ des Verstehens mitteilen soll, bleibt offen.

23  Kristeva: Fremde sind wir uns selbst, 1990. 24   Geertz: Dichte Beschreibung, 1983; Geertz: Welt in Stücken, 1996. 25  Barloewen: Fremdheit und interkulturelle Identität, 1993, 298. 26  Virilio: Fahren, fahren, fahren …, 1978, 45. 27  Willke: Heterotopia, 2003, 7. 28 Schmeling: »Vergleichung schafft Unruhe«, 1999, 29. 29  Kramer: Das Verstehen fremder Kulturen, 1999, 37-53. 30   Gadamer: Hermeneutik I, 1990, 390. 31 Ebd., 387. 32 Ebd., 300.

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2.1.2 Symbole der Wertorientierung Für die Figur des Fremden als Gegenbilds zum Eigenen existieren Symbole und Metaphern, die dieses Bild ummanteln. In Bezug auf den Fremden, der – mit Simmel gesprochen – »heute kommt und morgen bleibt«, hat sich in der deutschsprachigen Kultur ein Bild geprägt, vom dem sich die Symbolik der Störung, der Angst und der Bedrohung ableitet. In diesem Sinne wird das Bild des Fremden im öffentlich-politischen Diskurs konnotiert und im neuen Millennium in den Thesen über die »deutsche Leitkultur«33 (Friedrich Merz, 2000) und »Deutschland schafft sich ab« (Theo Sarrazin, 2010)34 kontroverse debattiert. Die unter dem Vorzeichen dieser Formulierungen geführten Streitgespräche gehen auf die Asyldebatten in den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts zurück, die sich bildlich beispielsweise in der damals auch durch die Presse verbreiteten Wasser-Metaphorik niedergeschlagen haben. Im Gebrauch der Komposita wie Asylanten-Strom, Asylanten-Flut, Asylanten-Welle in den neunziger Jahren und in dem im Herbst 2015 von Wolfgang Schäuble in die Diskussion gebrachten Ausdruck Lawine für Flüchtlingsbewegungen werden Flüchtlinge und Asylbewerber – also Fremde, die eine Form der Migrationsbewegungen darstellen, als das traditionell bedrohende Bild der unaufhaltbaren Naturgewalt,35 gegen die sich Einheimische zum Erhalt ihres eigenen Lebens schützen müssen, beibehält. Ergänzt wird diese Konnotation durch weitere Ausdrücke von überlaufendem Fass und von der Parole »Das Boot ist voll«, die in visualisierten Formen auf dem Wahlplakat der Republikaner (September 1991) und auf der Titelseite der Wochenzeitschrift Der Spiegel auftauchen.36 Die Flut- und Wasser-Metaphorik ref lektiert die Rhetorik des politischen Diskurses, der im Zusammenhang mit der Leitkultur eine Steigerung erfährt. Ihren Kontext finden die Debatten über Leitkultur auch in den Kontroversen über das deutsche Staatsangehörigkeitsgesetz. Im Frühjahr 1998 scheiterte der Gesetzentwurf zum leichteren Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit im Bundestag lediglich aus parteitaktischen Gründen. Am 1. Januar 2000 trat dann das überarbeitete Staatsangehörigkeitsgesetz in Kraft.37 Die neue Gesetzeslage behielt zwar

33   Siehe zum Begriff der Leitkultur in seiner Entstehungsphase (1998) im Kontext von Soziologie und Politologie Tibi: Leitkultur als Wertekonsens, 2001, 23-26; zur Diskussion Nowak: Leitkultur und Parallelgesellschaft, 2006. Der Begriff »deutsche Leitkultur« wurde 2000 (tagesspiegel vom 15. November 2000) zum Unwort des Jahres erklärt. 34   Gilmann: Thilo Sarrazin and the Politics of Race in the Twenty-First Century, 2012, 47-59. 35   Meyer: Sprachgebrauch in der Asyldebatte, 1997, 150-163. 36 Pagenstecher: »Das Boot ist voll«. Schreckensvision des vereinten Deutschland, 2008, 606-613. 37   Diese Fassung erfuhr nach dem Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes weitere Überarbeitungen am 1. Januar 2005 und am 28. August 2007. Seit dem 1. Januar 2000 dürfen Kinder nichtdeutscher Elternteile die deutsche Staatsangehörigkeit nur dann erwerben, wenn ein Elternteil acht Jahre regelmäßig in Deutschland gelebt hat und ein unbefristetes Aufenthaltsrecht besitzt (nach Informationen des Auswärtigen Amtes der Bundesrepublik Deutschland, Stand 20.11.2013). Hinzu kommen noch andere unterschiedliche Regelungen und Möglichkeiten der Einbürgerung oder Verleihung, die hier nicht diskutiert werden sollen. Gegenwärtig werden wiederum Gesetzentwürfe diskutiert, mit denen auf der einen Seite das Asylrecht eingeschränkt und auf der anderen Seite die Migration von Fachkräften besser geregelt werden sollen.

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das Abstammungsprinzip bei, modifizierte aber den Erwerb der Staatsangehörigkeit auf der Grundlage von Richtlinien der Europäischen Union.38 Drei Aspekte in der Symbolik der Leitkultur-Debatte und dessen, was sich mit ihm verbindet, werfen Fragen auf: Zum einen wurde die Diskussion über die deutsche Leitkultur stets in den Momenten entfacht, in denen es um die Entwicklung eines Abwehrmechanismus gegen das Eindringen des Fremden, neutraler formuliert, gegen das Phänomen der Migration ging. Zum anderen wird der Begriff selbst nur selektiv semantisiert. So werden mit ihm etwa Auf klärung, Freiheit, Gleichberechtigung, Frauenrechte u. ä. assoziiert, die an sich keineswegs nur zu einer als deutsch determinierten Leitkultur zählen dürften, aber beispielsweise nicht die Weltkriege, Genozid, Völkermord, Vertreibung, Links- und Rechtsextremismus. Selektiv ist diese Semantisierung ferner deshalb, weil Positives perspektiviert und Negatives ausgeklammert wird. Diese Strategie ermöglicht die Konstruktion anderer Semantiken. In polemische Formeln wandelten sich die Diskussionen über die Leitkultur im Jahre 2004 gegen die Bundesregierung und die Neue Rechte um. Seit September 2015 wurde sie abermals instrumentalisiert, um für ein schärferes Asylgesetz und wiederum für die deutsche Literaturkultur zu plädieren.39 Von diesen Semantiken profitieren seitdem öffentliche Bewegungen, die Kulturradikalismus und Fundamentalismus auf die Tagesordnung bringen. Auf den Kulturverfall und Migranten als dessen Verursacher wollte die Gruppe der Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes (PEGIDA) im Oktober 2014 aufmerksam machen. Auch wenn sie sich patriotische Europäer nennt, war ursprünglich der Begriff national als Teil des Namens gedacht, denn man wolle gar kein Miteinander, sondern man sei deutsch.40 Ohne die Einzelheiten über die Entstehung, Ziele und Ideale dieser Gruppe hier diskutieren zu wollen, ist PEGIDA nach Ergebnissen gegenwärtiger Forschung die Fortsetzung von Antimigranten- und exkludierend gesinnten Bewegungen in Europa.41 Schließlich geht es um ein Nation-Ideal, dessen Bildung von dem sozialphilosophischen Ansatz abgeleitet wird. Die Vorstellung dieses Ideals spiegelt sich beispielsweise in Jürgen Habermas’ kontrarealem Konzept wider und soll für den Philosophen in einer intakten Kommunikationsgesellschaft seine Realisierung finden. »Die Identität des Gemeinwesens«, wie Habermas es formuliert, dürfe »durch die Immigration nicht angetastet werden«.42 Er unterscheidet einen kulturgesellschaftlichen Konsens und schreibt ihm Unantastbarkeit zu, welche die Intaktheit garantieren und die Identität des Gemeinwesens vor Überlastungen bewahren solle.43 38   Wenige Monate nach dem Inkrafttreten des Staatsangehörigkeitsgesetzes trat der Vorsitzende der CDU-CSU-Bundestagsfraktion Friedrich Merz im Herbst 2000 mit der ›Leitkultur‹-Debatte gegen das neue Staatsangehörigkeitsgesetz an. Daraufhin forderte auch der brandenburgische Innenminister Jörg Schönbohm, Zuwanderer müssten die deutsche ›Leitkultur‹ respektieren und hierdurch ihren Integrationsbeitrag leisten (Schönbohm: Unter dem Dach einer nationalen Kultur, 2001, 5-8). 39  Vitzthum: Flüchtlinge müssen deutsche Leitkultur anerkennen, 2015; Scheuer: Deutsche Leitkultur statt Multikulti, 2015. 40   Geiges et al. (Hgg.): Pegida, 2014, 12. 41   Siehe hierzu ausführlich Geiges et al. (Hgg.): Pegida, 2014, 11-25. 42  Habermas: Anerkennungskämpfe im demokratischen Rechtsstaat, 1993, 183. 43   Siehe zur kritischen Lektüre von Habermas im Kontext der Multikulturalismus-Debatte und in der Auseinandersetzung mit Charles Taylors Gesellschaftskonzept Hamacher: Heterautonomien, 2003, 190-199.

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Dass infolge von Migrationsprozessen die Identität des Gemeinwesens nicht nur in der deutschen Geschichte kaum bestimmbar ist, zeigt die Auffassung von Nation im Sinne einer ontologischen Instanz. Spätestens seit den ausgehenden vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts bedienen sich die Humanwissenschaften eines auf eine mythisierte Geschichte Europas zurückgehenden Nation-Begriffes zugunsten einer eigenkulturellen und identitätsstiftenden Verortung.44 Das Wir, in dessen Strukturen sich das Individuum bilden solle, bedeute die Konstruktion eines sozialen Phänomens mit einer kollektiven Identität als einer »Sache individuellen Wissens und Bewußtseins«.45 Innerhalb der kollektiven Strukturen organisiert das Individuum seine Identitätsarbeit durch unterschiedliche Arten von Beziehungen; ihnen gemein sind die Ausschlussstrategien; unterscheidbar sind sie durch die Selbstabgrenzung des Individuums, das von Kant das empirische Ich oder persona psychologica genannt wird.46 Zwischen dem Ich und dem Nicht-Ich besteht eine Interdependenz der menschlichen Daseinsform. Diese Interdependenz wird mit Nation und Nationalität als Kollektivbildungen auf ein Territorium projiziert, mit dessen Hilfe auch die Identität verräumlicht werden soll.47 Betreten Menschen solch einen Raum, ohne dessen kollektive Identität zu teilen, so werden sie als ungewollte Akteure bezeichnet. Die räumliche Inklusion der individuellen und kollektiven Identität kann nach dem dichotomischen Prinzip des Eigenen und des Fremden nur in ihrer Unterscheidung und Abgrenzung von Negationsräumen, d.h. von den Räumen des Nicht-Ich bzw. des Nicht-Wir wirksam sein. So wird das Verhältnis des Individuums zu dessen Gegenüber über Identität und Alterität hinaus auf den Kontext einer Deixis von Innen und Außen erweitert, die wiederum ein introvertiertes und extrovertiertes Verhältnis herstellt. Dieses Verhältnis wird von Gaston Bachelard (1884-1962) als eine »Dialektik des Drinnen und des Draußen«48 bezeichnet. Sie entscheidet schließlich über alle anderen sozialen und kulturellen Beziehungen. Die sozialen und kulturellen Beziehungen im Deutschland des Wirtschaftswunders wurden auf der Grundlage dieser Dialektik in Ref lexionen über die Arbeitsmigration hergestellt und geordnet. Mit der Arbeitsmigration ergaben sich also die ersten Erfahrungen von Grenzüberschreitung durch die Zuwanderung der sogenannten Gastarbeiter. Die westdeutsche Regierung schloss bilaterale Verträge mit einer Reihe von Ländern.49 Familien und Kindern der Gastarbeiter aus diesen Ländern wurde zwar das Aufenthaltsrecht in Deutschland (right to reside) zugesprochen, aber nicht die deutsche Staatsbürgerschaft (right of citizen). Auch die Deutsche Demokratische Republik warb Gastarbeiter, allerdings auf eine andere Art und Weise. Mit ihrer Kritik an der sogenannten kapitalistischen Politik der BRD bezeichnete die DDR ihre Gastarbei-

44  Assmann: Zum Problem der Identität aus kulturwissenschaftlicher Sicht, 1994, 22-26; Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, 2005, 130; Assmann: Einführung in die Kulturwissenschaft, 2006, 223. 45  Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, 2005, 130. 46   Vgl. Janke: Historische Dialektik, 1977, 234f. 47  Derrida: Positionen, 1986, 152. 48  Bachelard: Poetik des Raumes, 2003, 211. 49   Italien (1955), Griechenland (1960), der Türkei (1961), Marokko (1963), Portugal (1964), Tunesien (1965) und Jugoslawien (1968).

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ter als sozialistische Freunde,50 die mit dem Ziel in die DDR einreisten, Fähigkeiten zu erwerben, die sie in ihrer Heimat im Sinne sozialistischer Ideale ausüben konnten – so lautete jedenfalls die Rechtfertigung.51 Die unterschiedlichen politischen Systeme der BRD und der DDR führten nach dem Fall der Berliner Mauer und der Wiedervereinigung Deutschlands (1989-1990) zu erheblichen Schwierigkeiten vornehmlich für die Gastarbeiter aus der ehemaligen DDR. Diese hatten nämlich im Gegensatz zu denen aus der BRD keinen legalen Status als Gastarbeiter und konnten deshalb nach der Wende mit dem westlichen System auch nicht erfasst und identifiziert werden. Viele wurden ausgewiesen oder wegen der Art ihrer Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis permanent diskriminiert.52 Durch das Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes im Januar 2005, das u.a. auch das Ziel verfolgte, hochqualifizierte Menschen abermals für den deutschen Arbeitsmarkt zu gewinnen, sollte eine legale Einwanderung nach Deutschland besser geregelt werden. Im Zentrum der Debatte standen aber immer noch Divergenzen über Deutschland als Einwanderungsland. Spätestens hier trat Deutschland als Migrationsland in das Bewusstsein der Bevölkerung,53 das Phänomen der Migration aber bleibt weiterhin ein Symbol des Ausschlusses.

2.1.3 Zusammenfassung und Ausblick Durch die Auseinandersetzung mit der Semantik und Symbolik sozialer Wertorientierungen wird der kulturell interessierte Wissenschaftler spätestens seit den Leitkultur-Debatten wachsam, nicht allein weil hier sein Gegenstand Kultur ins Gespräch gebracht wird, sondern auch weil dieser Gegenstand in einen Kontext gedrängt wird, in dem er am wenigsten zu suchen hat: Staat, Territorium, Sprache, Nation und Kultur fallen zusammen und beleben eine nationalistisch dominierte Kulturauffassung, die in einem Land, das infolge des Nationalsozialismus die besten Voraussetzungen für die Radikalisierung der Kultur bietet, für Furore sorgt und Kritik nach sich zieht.54 Mit der Leitkultur wird die Figur des Migranten de facto zum Akteur des kulturellen Verfalls erklärt. Indem der sogenannte kulturelle Verfall sein Argumentationsfeld in den Migrationsdebatten findet, stellt er die Figur des Migranten und des Fremden semantisch einerseits äquivalent und positioniert sie andererseits gegenüber den Angehörigen der vermeintlichen Leitkultur. Das dichotomische Verhältnis des Eigenen und des Fremden bleibt somit erhalten. Gegen diese Positionierung ließe sich mit Simmels und Schütz’ soziologischem Kontext, der das Bedürfnis des modernen Subjekts in Bewegung betrachtet, einwenden, dass Bewegung sich nur dann als solche verstehen ließe, wenn ihr ein Außerhalb-Innerhalb-Verhältnis vorausginge. Dieses Verhältnis ließe 50  Die sogenannten sozialistischen Freunde kamen hauptsächlich aus Vietnam, Nordkorea, Angola, Mosambik und Kuba. 51   Siehe zur Migration in Ostdeutschland Weiss: Migranten in der DDR und in Ostdeutschland, 2013, 42-44. 52  Priemel: Transit – Transfer, 2011. 53 Laut einer Statistik von eurostat lebten allein im Jahre 2010 6,4 Millionen Menschen in Deutschland, die außerhalb der Europäischen Union geboren wurden; im europäischen Vergleich ist Deutschland damit der Spitzenreiter, gefolgt von Frankreich mit 5,1 Millionen, Großbritannien mit 4,7 Millionen, Spanien mit 4,1, Italien mit 3,2 Millionen und den Niederlanden mit 1,4 Millionen (Vasileva: Population and social conditions, 2012). 54 So in »Das missglückte Wort«, ein Dossier der Bundeszentrale für politische Bildung vom 15. Juli 2010.

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folglich zu, die Inklusions- und Exklusionsräume nicht kategorial, sondern relational begreifen. Die Relation zeigt sich auch im Auslegungsschema der Kultur- und Zivilisationsmuster in Schütz’ Sinne, denn dieses Schema ist nicht allein ein Aspekt der sozialen Gruppe, der sich der Fremde annähert, sondern auch ein Aspekt derjenigen Gruppe, welcher der Fremde angehört und deren Geschichte er teilt. Schütz polarisiert beide Gruppen und erklärt – weil seine Perspektive von der des Fremden ausgeht–, dass die Kultur- und Zivilisationsmuster der Gruppe, der sich der Fremde annähert, nicht Gegenstände dessen Denkens, sondern »ein Segment der Welt« seien, die »durch Handlungen« beherrscht werden müssten.55 Anscheinend sind für Schütz das fertige Bild beider Gruppen und die Assimilation des Fremden entscheidend, wenn er in Kultur- und Zivilisationsmustern eine Art Automechanismus feststellt, mit dessen Hilfe »ihre Entferntheit […] sich zu Nähe«56 wandelt. Schütz begründet, dass Zivilisationsmuster und ihre Rezepte lediglich für die in-group eine »Einheit von koinzidierenden Auslegungs- und Ausdrucksschemen«57 darstellen; für den Fremden fielen diese Einheiten auseinander. Denkt man mit Schütz weiter, versucht aber seinen Gedanken in einem erweiterten Kontext zu revidieren, so müsste man theoretisch die Singularität58 in eine Pluralität umwandeln, die sich aus der Gruppe, der sich der Fremde anzunähern versucht, und aus dem der Heimatgruppe des Fremden zusammensetzt, und ergänzen, dass die Bilder, welche die soziale Gruppe der Mehrheit und die des Fremden voneinander haben, lediglich ein »handliches Auslegungsschema« sind und nicht als »Anleitung zur Interaktion der beiden Gruppen« begriffen werden sollten.59 Es ist demnach nicht die Reduktion, sondern die Pluralität der Perspektive, die ontologische Muster auf löst und im besten Falle eine Interaktion einleitet. Im philosophischen Diskurs sind der Anspruch auf die Wahrheit und die Auffassung von einem Zwischen-Ort des wahren Verstehens problematisch. Würde sich die fremde Kultur in ihrer Sprache mitteilen, die sich gegebenenfalls von der Sprache des Eigenen unterscheidet, wie gelangt dann das Eigene zu einem Verstehen? Wer etwas über das Fremde erfahren will, darf nicht nur das Fremde, sondern auch, mit Niklas Luhmann gesprochen, den Beobachter der Fremdheit mit-beobachten. Würde sich die fremde Kultur in der Sprache des Beobachters mitteilen, würde das Verständnis durch den Sinntransfer beeinträchtigt. Versteht man die fremde Kultur oder nur eine Übersetzung der fremden Kultur auf der Folie der eigenen Kultur, so liegt in der Übersetzung eine Form der Aneignung des Fremden vor, so dass der Fremde schließlich dem Eigenen einverleibt wird und verschwindet. In der Komparatistik ist das Fremde eine Konstruktion zur Herstellung nationaler Vorstellungen, die Völker gegenseitig von-

55  Schütz: Der Fremde, 1972, 66. 56 Ebd., 60. 57 Ebd., 63. 58   Die Singularität kommt bei Schütz vor allem in seinem Fazit zum Vorschein, in dem er den »Prozeß der sozialen Anpassung« als einen »Spezialfall« betrachtet, dem sich »der Neuankömmling unterwerfen muß [Hervorhebung von H.T.]« (Schütz: Der Fremde, 1972, 69). 59  Schütz: Der Fremde, 1972, 67.

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einander haben. Auf diese Weise befördern literarische Texte kein »gegenseitiges Verstehen«60, das den philosophischen Diskurs befriedigt, sondern verhindern es sogar.61 Im philosophischen Diskurs des Fremden zeigt sich das Nicht-Verstehen des Fremden in dessen Exklusion und korrespondiert mit der soziologischen Beschreibung des Fremden als Schreckens-Figur. Die Thematisierung dieser Figur zielt im Anschluss an Foucaults soziokulturelles Konzept der Heterotopie (2005) auf die Verräumlichung und Verschiebungsmöglichkeiten des Fremden ab, auf die Bernhard Waldenfels in Topographie des Fremden ausführlich eingeht, zeigt jedoch, dass selbst der Fremde, der verschiedene kulturelle Bereiche durchquert, nicht mehr den ontologischen Typus eines Außenstehenden repräsentiert. In dem Verfahren einer Topographie des Fremden untersucht Waldenfels »die Wege, Grenzlinien, Verbindungen und Kreuzungsstellen«62 und verortet den Fremden in einer »Vielfalt von Orten, an Ortsnetze[n]« wie an »Brücken und Grenzen«.63 Die phänomenologische Beschreibung des Fremden in einem Netz bedeutet, Situationen in den Blick zu nehmen, in denen der Fremde sich als Fremder erweist. In Waldenfels topographisch-phänomenologischer Auffassung des Fremden wird dieser zunächst durch die Grenzüberschreitung, sodann durch den Eintritt in ein anderes »Ortsnetz« erst zum Fremden gemacht, bevor er durch sein Verhalten an diesem anderen Ort phänomenologisch erfasst werden kann. Im Diskurs des Fremden neu und ertragreich ist Waldenfels Versuch, den Fremden an keinem singulären Ort der Geschichte oder der Gegenwart zu verorten, sondern in einer »Vielfalt von Orten«64 und in Ortsnetzen, die das Potential einer Umstrukturierung aufweisen. Bis zum Auf kommen der Globalisierung beschränken sich kulturelle Vorstellungen und Perspektivierungen auf einen durch Grenzen bestimmbaren und so auch überschaubaren Lebensraum, der im Sinne der »Antizipation einer unbekannten, unerforschten oder unentdeckten Fremde« verstanden wird.65 Das Unbekannte, Unerforschte und Unentdeckte definitorisch als signifikante Merkmale des Fremden zu betrachten, ändert sich infolge von Grenzverschiebungen, die das bis dahin so selbstverständlich auf Differenz und Distanz ausgerichtete Verhältnis des Eigenen und des Fremden nun aus dem Gleichgewicht bringen. Die Neupositionierung des Fremden in den kulturwissenschaftlichen Debatten der neunziger Jahre erzielt eine paradoxe Wirkung: die »Internationalisierung der Lebenswelt« und »die Abschottung gegen-

60  Fischer: Komparatistische Imagologie, 1979, 42. 61   Dass solch eine Textfunktion auch Trugbilder hervorbringt, weist Ruth Florack am Beispiel des Deutschland-Bilds in der französischen Kultur der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert nach (Florack: Bekannte Fremde, 2007). Sie diskutiert den Text als Vermittlungsmedium jedes literarischen Bildes und die Textanalyse im Sinne Guyards unter dem Aspekt zweier methodologischer Schwierigkeiten: das Bewusstsein des Bildproduzenten und die Funktion der Bild-Elemente (ebd., 8). Dabei gehe es, so Florack, Guyard um mehr als literarische Beziehungen zwischen den Völkern und Kulturen, und zwar um die politische Inanspruchnahme der Literaturwissenschaft »im Dienste der Völkerverständigung« (ebd.). 62  Waldenfels: Topographie des Fremden, 1997, 12. 63 Ebd., 11. 64  Ebd. 65   Gutjahr: Interkulturalität als Forschungsparadigma der Literaturwissenschaft, 2010, 3.

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über kulturell Andersartigem«.66 Gegen diesen Widerspruch lässt sich einwenden, dass die kulturelle Fremdheit kein absolutes und konstant definierbares Phänomen, sondern eine relative und stets in ihrem Grad und ihrer Darstellung variierende Erscheinung ist.67 Der Wandel des Fremden zeigt sich in den Globalisierungsdiskursen insbesondere darin, dass er vom Bereich einer Figur des Außerhalb zu dem Bereich einer Figur übergeht, die den Lebensraum des Eigenen nicht nur betritt, sondern ihn bewohnt, gestaltet und wieder verlässt.68 Die globale Fähigkeit des Fremden als Wanderers69 relativiert die Essentialisierung des Fremden in der traditionellen Hermeneutik; an ihre Stelle treten Relativierung und Perspektivierung, die sich vor allem in der veränderten Stellung des Subjekts zeigen. Das Subjekt erweist sich innerhalb dieses Systems als konstruier- und veränderbar, als eine ref lexive Instanz, die stets von dem Bewusstsein ausgeht, dass es auch ein anderes sein könnte; es nimmt seinen Standpunkt als einen unter vielen anderen wahr.70 An dieser ref lexiven Instanz gestaltet die Literatur ihren Diskurs der Migration. Mit dem Begriff Migrationsliteratur hingegen wird der literarische Diskurs auf das Fremdsein der Migranten-Figur reduziert; diese wird insofern homogenisiert, als sie zur Benennung jeglicher Art des Fremdzuzuges gebraucht wird.71 Im hermeneuti66   Craanen et al.: Das ›Fremde‹ und das ›Eigene‹, 2006, 9. – Die Diskussionen um eine Neupositionierung des Fremden bildeten den Gegenstand von 181 Forschungsprojekten, welche die interkulturellen Forschungsfelder mit zwei Initiativen umfassen: Das ›Fremde‹ und das ›Eigene‹ – Probleme und Möglichkeiten interkulturellen Verstehens (1992-1999) und Konstruktionen des ›Fremden‹ und des ›Eigenen‹: Prozesse interkultureller Abgrenzung, Vermittlung und Identitätsbildung (1999-2006). Der Schwerpunkt einer Reihe von Beiträgen liegt auf der Erforschung der Prozesse, die sich aus dem Blick eines Ich oder eines Wir auf ein Nicht-Ich oder ein Nicht-Wir ergeben. Aufgegriffen wird dabei das alte, bis in die Antike zurückreichende Phänomen des Fremden mit dem Ziel, zu untersuchen, ob und inwieweit traditionelle Kriterien in den gegenwärtigen Debatten weiterwirken. 67   In ihrem Beitrag über »Kulturwissenschaftliche Xenologie« geben Wierlacher und Albrecht einen Einblick in die Fremdheitsforschung auch außerhalb der interkulturellen Germanistik (Wierlacher et al.: Kulturwissenschaftliche Xenologie, 2008, 290-292). 68 Die Auseinandersetzung mit diesem Wandel geht auf die anthropologische Wende in den ausgehenden achtziger Jahren in James Cliffords Diskurs der kulturellen Differenz zurück: »Cultural difference is no longer a stable, exotic otherness; self-other relations are matters of power and rhetoric rather than of essence. A whole structure of expectations about authenticity in culture and in art is thrown in doubt« (Clifford: Introduction: The Pure Products Go Crazy, 1988, 8). Cliffords Problematisierung von Differenz und Kulturessentialismus basiert auf der Auffassung von Dezentrierung des Subjekts im Sinne der Moderne einerseits und auf den Möglichkeiten seiner Verortung in zugleich mehreren Ortsnetzen andererseits (vgl. Waldenfels: Topographie des Fremden, 1997, 16-24). Hiervon ausgehend wird Fremdheit nicht als ontologische Gegebenheit der Kultur begriffen, sondern als Relation, die von Subjekt zu Subjekt und von Ort zu Ort unterschiedlich ist und lediglich in individuellen Erfahrungen zu Tage tritt. 69  Simmel: Exkurs über den Fremden, 1908, 764. 70   Mall: Interkulturalität, Intertextualität und Globalisierung, 2000, 49-66. 71   Wenn heute in den Medien von Migranten oder von Menschen mit Migrationshintergrund gesprochen wird, so wird damit kein Migrationsprozess gemeint, der in der Kultur herangewachsen, sondern eine Migration, die spätestens seit den ausgehenden 1950er Jahren der deutschen Kultur hinzugekommen ist. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge definiert als Menschen mit Migrationshintergrund »alle nach 1949 auf das heutige Gebiet der Bundesrepublik Deutschland Zugewanderten sowie alle in Deutschland geborenen Ausländer und alle in Deutschland als Deutsche Geborenen mit zumindest

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schen Spannungsfeld von Eigenem und Fremdem versammelt Sigrid Weigel erstmalig Texte, von denen sie behauptet, sie seien Migrationsliteratur, unter dem Titel Literatur der Fremde – Literatur in der Fremde (1992). Ihre Vorgehensweise ist nicht unproblematisch, denn sie geht von Norm, Muster und Urteil aus. Die wesentliche Problematik besteht in der Grenzziehung zwischen deutsch und nicht-deutsch, durch die Weigel sich in den Diskurs der achtziger Jahre begibt und das unternimmt, von dem sie eigentlich abraten will; während sie Dichotomien konstruiert, spricht sie von der »Vielstimmigkeit«72 als Grundvoraussetzung eines literarischen Dialogs. Literatur der Fremde wird in der Literaturwissenschaft einer konstruktiven Kritik unterzogen. Bernd Blaschke greift auf die Eintragungen der Handbücher und auf die literaturgeschichtlichen Diskussionsbeiträge zurück, zeigt bei der Beschreibung von Modellen der interkulturellen Literatur eine literaturhistorische Einordnung von Texten auf, von denen man behauptet, sie seien interkulturell, und stellt schließlich einen seit den 1990er Jahren steigenden Trend in der Kanonisierung dieser Texte fest, die ihr provokatives Potential in einer »Revision interkultureller Austausch-, aber auch Repulsionsprozesse gerade in den Werken der längst kanonisierten Klassiker deutschsprachiger Literatur«73 vorweisen. Trotz steigenden Interesses an diesem literarischen Austausch und des Publikationsf lusses interkultureller Werke bleibt nach Blaschke das Label des Besonderen an solchen Werken weiter haften,74 das sich dort bemerkbar macht, wo die Mehrsprachigkeit der Werke zu ihrem Nachteil ausgelegt75 oder eine »kunstvoll erschwerte Sprache«76 als herausragendes Merkmal der Texte hervorgebracht wird. Das Label des Besonderen wird über das Kriterium der Sprache hinaus auch dort sichtbar, wo biographische Hintergründe der Schriftsteller in die Literaturanalyse einf ließen und die Dichotomisierung kultureller Fremdheit verstärken. Hieraus entsteht eine Erscheinung, die ich im Folgenden als Reduktionismus und Homogenisierung beschreibe. Mit einem Rekurs auf das Etikett des Besonderen erfährt die Poetik der Migration durch den Begriff Migrationsliteratur eine Normierung, die aufgrund negativer Deutungsvarianten des Begriffes Migration selbst eine pessimistische Auslegung der Migration als kulturellen Phänomens offenbart. Die folgende Analyse des Begriffes Migrationsliteratur wird die Spuren eines Kultur-Pessimismus in ihm und in dem, was er anzugeben meint, aufzeigen. Der Pessimismus liegt insbesondere in seinen Exklusionsmechanismen, die den Begriff Migrationsliteratur für den wissenschaftlichen Diskurs als ungeeignet beschreiben. Was die folgenden Abschnitte leisten möchten, ist eine kritische Analyse der Migration innerhalb des interdisziplinären Kontexts der Kulturtheorien, die sich mit Migration und Migrationsliteratur befassen. Diese Analyse ist für die weitere Vorgehensweise deshalb wichtig, weil sie auf der einen Seite die kulturtheoretische Auseinandersetzung mit den Migrationsdiskursen zeigt, auf der anderen Seite aber auch diejenigen kulturtheoretischen Potentiale in den Vorder-

einem zugewanderten oder als Ausländer in Deutschland geborenen Elternteil« (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge: Bevölkerung und Erwerbstätigkeit, Bevölkerung mit Migrationshintergrund, 2010). 72  Weigel: Literatur der Fremde – Literatur in der Fremde, 1992, 182-229, hier  188. 73  Blaschke: Modelle der Kanonisierung interkultureller Literatur, 2010, 219. 74 Ebd., 207f. 75 Lamping: »Ein armer unbedachter Gast«, 2014, 15. 76  Weinrich: Um eine deutsche Literatur von außen bittend, 1983, 918.

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grund stellt, die in die germanistische Interkulturalitätsforschung Eingang gefunden haben.

2.2 Migrationsliteratur: Begriff – Geschichte – Kontroverse Lexika und Sachwörterbücher zeichnen sich dadurch aus, dass sie dem Leser einen ersten Überblick verschaffen, ihm Orientierungen bieten und Informationen über Gattungen, Epochen und kulturelle Strömungen zugänglich machen. Hierin bildet das Sachwörterbuch der Literatur, das 1955 zum ersten Mal erschien und mir auch in der achten verbesserten und erweiterten Auf lage 2001 vorliegt, keine Ausnahme. Die Jahre 1955 und 2001 werden hier nicht zufällig gewählt: Die ersten bilateralen Verträge der westdeutschen Regierung zur Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte wurden 1955 geschlossen. Mit diesem Datum begann der Aufschwung der Bundesrepublik Deutschland, die als Wirtschaftswunder-Land in die Geschichte der Nachkriegszeit eingehen sollte. Diese Geschichte verlief zwischen 1961 und 1989 in der Bundesrepublik anders als in der Deutschen Demokratischen Republik. Das Jahr 2000 markierte den Höhepunkt eines Kulturwandels in Westeuropa, der mit dem Millenniumswechsel zusammenfiel. In der Wirkungsgeschichte wird mit Kulturwandel die Globalisierung ökonomischer Verhältnisse, durch Erweiterungspläne von Freihandelszonen zwischen der Europäischen Union und einer Reihe von nicht europäischen Staaten77 und der Währungswechsel von der Deutschen Mark zum Euro bezeichnet. Neben diesem ökonomischen Wandel markiert die Reform des deutschen Staatsbürgerschaftsrechts zum selben Zeitpunkt einen politischen Einschnitt, denn durch diese Reform sollten neben ökonomischen auch sozialen Verpf lichtungen und Herausforderungen fünfundvierzig Jahre nach dem Beginn des Wirtschaftswunders nun auf der staatsbürgerschaftlichen Ebene Rechnung getragen werden. Mit den Jahren 1955 und 2000 ist also der Zeitabschnitt eines auf der historischen, wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Ebene unausgewogenen Kulturwandels gewählt, der die deutsche Nachkriegszeit78 wie die europäische Geschichte nachhaltig geprägt hat. Schlägt man vor dem Hintergrund dieser kulturhistorischen Informationen im Sachwörterbuch der Literatur den Begriff Migrationsliteratur nach, so wird man auf die »Ausländerliteratur«79 verwiesen. Unter diesem Lemma wird die Definition von »Migrationsliteratur« mit einem kurzen und präzisen Text gegeben. Ausländer- und Migrationsliteratur werden hier gleichbedeutend als Sammelbezeichnung für die in der deutschen Sprache verfasste Literatur von Autoren nichtdeutscher Muttersprache verwendet.80 Die Autoren nichtdeutscher Muttersprache seien »Emigranten, Asylanten, 77   Darunter etwa Tunesien (1998), der Türkei (1999), Südafrika, Marokko, Mexiko und Israel (2000), Jordanien (2002), dem Libanon (2003), Ägypten (2004), Algerien (2005) u.a. 78 Das Ende der Nachkriegszeit ist historisch schwer abzugrenzen. Die Nachkriegsliteratur ist zwischen 1945 und der Auflösung der Gruppe 47 im Jahre 1967 zu datieren (Wagenbach (Hg.): Deutsche Literatur der Nachkriegszeit, 1993). 79  Wilpert: Sachwörterbuch der Literatur, 2001, 518. 80 Der gesamte Text ist in Wilpert: Sachwörterbuch der Literatur, 2001 auf Seite 58 abgedruckt, die bibliographischen Angaben auf den Seiten 58f. Ich verzichte aus Gründen der Einfachheit auf wiederholte Nennung der Seitenangaben.

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Gastarbeiter oder urspr[üngliche] Studenten«, die »im [deutschen] Sprachraum leben und bei großer sozio-kultureller Bandbreite zur Vielfalt mod[erner] Lit[eratur] beitragen«, sie seien keineswegs »in das nur stoff lich umschriebene Getto« einer »Gastarbeiter[literatur] abzudrängen«. Die Ausländerliteratur, heißt es abschließend, bereichere »durch die Außenperspektive der Fremde und durch Adaption von in [deutscher] Lit[eratur] seltenen Bildern, Stilen, Gedicht- und Erzählformen das multikulturelle Element der [deutschen] Lit[eratur]«.81 Mit der allgemein-lexikalischen Definition des Begriffes Migrationsliteratur korreliert auch dessen spezifisch-literaturwissenschaftliche Begriffsbestimmung beispielsweise in den Theorien der Romananalyse. In seiner Einführung in die Roman-Analyse definiert Jost Schneider den Begriff Migrationsliteratur auf eine ähnliche Weise wie Wilpert, schließt sie aber mit folgendem Hinweis: Da die moderne pluralistische Gesellschaft nicht nur dem Migranten, sondern im Prinzip jedermann ein erhöhtes Maß an sozialer, psychischer und auch räumlicher Mobilität zumutet, finden Werke wie diese längst nicht mehr nur unter (deutschsprachigen) Ausländern lebhaften Widerhall.82 Schneiders Begriffsdefinition weicht kaum von der lexikalischen Definition ab. Schon in dieser Definition scheinen mir mindestens fünf Aspekte problematisch bzw. erweiterungsbedürftig zu sein: 1) Die Bestimmung der deutschen Sprache als Kriterium, auf dessen Basis die Gruppierung von Autoren aufgrund ihrer Herkunft geschieht, 2) die Bezeichnung solch einer Literatur als modern, 3) die Abgrenzung zum gettoisierenden Begriff Gastarbeiterliteratur, 4) die Bezugnahme auf die Außenperspektive der Fremde und deren Versprachlichung in seltenen Bildern und 5) die analoge Bestimmung von Ausländer- bzw. Migrationsliteratur als Beweis für Multikulturalität der deutschen Kultur. Betrachtet man vor allem den fünften Aspekt zusammen mit Schneiders Klassifizierung der deutschen Gesellschaft als modern und pluralistisch, so stellt sich die grundlegende Frage: Wenn Pluralismus und Multikulturalität die Kriterien einer modernen Gesellschaft sein sollen, wozu werden die Determinativkomposita Ausländer- bzw. Migrationsliteratur, die in ihrem Grundwort Elemente enthalten, die laut Wilpert auf eine Außenseite der Gesellschaft verweisen, überhaupt benötigt? Wilperts Aussage, Ausländer- und Migrationsliteratur seien methodisch angreif bar, zeigt ihre begriff liche Problematik und hebt zugleich die Notwendigkeit ihrer diskursiven Überprüfung zur Entwicklung eines methodischen Kontextes für die literaturwissenschaftliche Analyse hervor. Diese Problematik und Notwendigkeit wird in der vorliegenden Studie mittels Kulturtheorien der Moderne diskutiert. Obwohl jede Disziplin ihre Moderne nach eigenem Ermessen bestimmt, besteht darüber, dass jede moderne Gesellschaft sich zunächst durch Bereitschaft zum Wandel charakterisiert, dennoch Konsens. Paul Michael Lützelers Beschreibung der Moderne durch die Prozesshaftigkeit ist diskursiv unter den Aspekten der literarischen Revolutionen und ästhetischen Reformen präzisiert worden.83 Für einen zunächst umfassenderen Blick relevant ist die These von der Moderne als Projekt und ihrer 81   Methodisch seien beide Bezeichnungen angreifbar, stellt Wilpert in den Vordergrund. 82  Schneider: Einführung in die Roman-Analyse, 2006, 140. 83   Mit dieser Präzision setzt sich eine Reihe von unterschiedlich positionierten Beiträgen auseinander. Siehe hierzu Becker et al. (Hgg.): Literarische Moderne, 2007.

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Unabgeschlossenheit.84 Unter diesen Vorzeichen werden auch das Verhältnis von Tradition und Moderne85 wie das divergierende Verständnis von Autoren und Intellektuellen zur Moderne86 diskutiert. Im besonderen Interesse der Literatur werden im Umfeld der Moderne primär die ästhetischen und poetischen Entwürfe erörtert, die zu einer Status-Bewertung der Literatur führen sollen. In diesem Kontext des Ästhetizismus und der Avantgarde stellt sich die Frage, ob Literatur als ein System betrachtet werden soll, das dem gesellschaftlichen System gegenüber Autonomie beanspruchen soll, oder sich als dessen Bestandteil begreifen kann. Das Verhältnis von Ästhetizismus und Avantgarde ist eine durchaus produktive Relation, denn erst diese Relation ermöglicht die poetologische Weiterentwicklung von Impulsen, die aus dem Verhältnis von Ästhetizismus und Avantgarde herrühren.87 In der Germanistik wird Moderne als eine »von der Germanistik hervorgebrachte literaturgeschichtliche Epoche«88 betrachtet, in der infolge von Veränderungen der Blickrichtung, Krisen- und Kritikmomenten und Vermischungsstrategien in der Forschung ein gesellschaftstheoretisches Forschungsprogramm hervorgebracht wird, dessen Ausgangspunkt in der Auseinandersetzung mit »gesellschaftstheoretischen Modellen« liegt, die »Kunst und Literatur nicht als strikte systematische Gegenspieler der gesellschaftlichen Modernisierung begreifen«, sondern – wie dies auch interdisziplinär in den Sozial- und Geschichtswissenschaften sowie in der Philosophie geschehen ist – »als teilhabende Elemente eines umfassenden und mehrdimensionalen Modernisierungsprozesses«.89 Damit wird die literarische Moderne nicht ausschließlich als an eine spezifische Schreibweise und eigentümliche Ästhetik gebunden betrachtet, sondern als unabgeschlossenes Projekt, das um die Infragestellung von Modernisierungsprozessen nicht umhinkommt.90 Betrachtet man die allgemein-lexikalische und die spezifisch-literaturwissenschaftliche Definition der Ausländer- und Migrationsliteratur nun noch einmal, so kann diese Literatur sogar als Phänomen der Moderne betrachtet werden. Was jedoch die ästhetische und poetische Vermittlung angeht, werden sich diese Begriffe nicht nur als unzureichend erweisen, sondern auch genau den Bereich ausmachen, an dem »Zweifel« als »Impuls« (Lützeler) entsteht.91 Problematisch ist der vierte Aspekt in Wilperts Definition, nämlich die Versprachlichung der Außenperspektive von der Fremde aus, denn er nimmt nicht die Gegenwart des Werkes in den Blick, sondern die historische Befindlichkeit des Autors. Ein Beispiel aus der Literatur lässt sich hier vorwegnehmen, um diese Diskrepanz zu 84   Görner: Sehen Lernen!, 2007, 113-127. 85  Frick: Avantgarde und longue durée, 2007, 97-112. 86  Schärf: Ein eigentümlicher Apparat, 2007, 487-505. 87 Simonis: Ästhetizismus und Avantgarde, 2007, 291-316. 88  Erhart: Die germanistische Moderne, 2007, 145. 89 Ebd., 164. 90  Lützeler: Hermann Broch. Zweifel als Grundimpuls der Moderne, 2007, 227-243. 91   Die Definition und Klassifizierung der Ausländer- und Migrationsliteratur, wie sie bislang geschah, trifft auf die Produktionsseite nur unzureichend zu. Werke eines Autors wie SAID, der im Iran geboren wurde, im Erwachsenenalter in die Bundesrepublik migrierte und seit den 1980er Jahren in Deutsch schreibt, lassen sich nur oberflächlich mit der Definition der Migrationsliteratur vereinbaren. Eine inhaltliche und ästhetische Analyse seines Schreibens bringt sein Werk vielmehr der Moderne und der Postmoderne näher als der Klassifikation einer Migrationsliteratur.

2. Migration im Diskurs der Literaturwissenschaft

verdeutlichen. Gegen die Ableitung des ästhetischen Werts aus der historischen Befindlichkeit des Autors bezieht der Schriftsteller SAID eine klare Position. Im Hinblick auf Migrationsprozesse und den Wandel in der deutschen Gesellschaft bemerkt er provozierend: »deutschland befindet sich im umbruch. ›deutscher‹ wird es dadurch nicht«.92 Diese frappante Aussage ref lektiert im ersten Teil die Prozesshaftigkeit der Kultur unmissverständlich, während sie im zweiten Teil mit der impliziten Auffassung von Kultur im Sinne einer Entität die Abgeschlossenheit der Kultur problematisiert. Der Standort, von dem die Aussage eines per definitionem ausländischen bzw. migrierten Autors getroffen wird, sowie der Referenzbereich dieser Aussage ist ein deutscher. Aus diesem Zusammenhang wächst der Zweifel an der Definition. Aus dem Zweifel geht der Impuls zu einem Rethinking Migration and German Culture93 hervor, in dessen Revisionskontext die Fragen nach der Relation von Gesellschaft und Kunst, nach ästhetischen und poetischen Entwürfen und nach der Status-Bewertung der Literatur diskutiert werden. Die Klassifikation von Ausländer- und Migrationsliteratur impliziert also die Annahme eines unveränderbaren, homogenen und authentischen Zustandes der Kultur; in diesem Zustand wird das Privileg des Deutsch-Seins begründet.94 Allerdings belegt die deutsche Literaturgeschichte eindrucksvoll, dass eine solche Klassifizierung der Literatur schnell auf Hindernisse stößt. Eine Reihe deutscher Literaturnobelpreisträger war bereits vor 1945 nicht in Deutschland geboren bzw. lebte außerhalb Deutschlands, hatte einen nicht-deutschen Pass und war mehrsprachig, was eine scharfe Definition davon, was oder wer Deutsch sein soll, in der Tat erschwert: Thomas Mann (1875-1955) bekam nach der Machtübernahme der Nazis erst die tschechische und später die US-amerikanische Staatsbürgerschaft. Nelly Sachs (1891-1970) f lüchtete 1940 nach Schweden, Elias Canetti (1905-1994), der das judenspanische Ladino und Bulgarisch zur Muttersprache hatte, verbrachte den größten Teil seines Lebens in Großbritannien und erhielt 1952 dessen Staatsbürgerschaft. Hermann Hesse (1877-1962), Sohn eines Vaters baltendeutscher und einer Mutter schwäbisch-schweizerischer Herkunft, war bedingt durch Familienherkunft väterlicherseits russischer Staatsbürger. Als er 1881 mit seinen Eltern nach Bern zog, erwarb er hier 1883 die schweizerische Staatsangehörigkeit, 1890 nahm er die württembergische Staatsbürgerschaft an, um das Württembergische Landesexamen (1891) als Voraussetzung für die kostenlose Ausbildung zum evangelischen Theologen im Tübingen Stif t ablegen zu dürfen. 1924 wurde er wieder Schweizer Staatsbürger. Und nicht zuletzt Günter Grass (1927-2015): Der in Danzig Geborene immigrierte nach dem Zweiten Weltkrieg mit Millionen anderer Vertriebener in die Bundesrepublik. 92  SAID: was natur ist, bestimme ich, 2004, 49. 93   So der Titel eines Seminars auf der 38. Jahresversammlung der German Studies Association in Kansas City (Missouri, USA) im September 2014, an dem der Verfasser beteiligt war. Organisiert wurde das Seminar von Brent Peterson (Lawrence University) und Robert Shandley (Texas A & M University) vom 18.-21. September 2014 (siehe das Programmheft der German Studies Association, 2014, 89). 94   Dieser Zustand wird in der modernen und pluralisierten Zeit durchbrochen. Diese Auffassung wird in den gegenwärtigen Auseinandersetzungen – etwa im Handbuch Migrationsliteratur im deutschsprachigen Raum seit 1945 – beibehalten. Das Handbuch ist eine Publikation der Arbeitsstelle Migrationsliteratur an der Universität Dresden, die noch erwartet wird (URL: https://tu-dresden.de/die_tu_dres den/zentrale_einrichtungen/mez/dateien/Projekte/migrationsliteratur).

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Trotz der Migrationsvielfalt von deutschsprachigen Autoren, welche hier nur exemplarisch aufgelistet wurden, spricht die deutschsprachige Germanistik erst seit Aras Ören von der Ausländer- bzw. Migrationsliteratur! Was unterscheidet die Werke beider Autorengruppen voneinander, abgesehen vom Ort ihrer Geburt, ihres Lebens und ihrer Immigration? Warum sollte Grass nicht in den Genuss des Chamisso-Preises kommen, obwohl sein Werk »von Deutschland her gedacht ist«95? Wie ist die Entscheidung der Chamisso-Preis-Jury überhaupt zu rechtfertigen? Sind Gründe, Kunstwerke nach ethnischen, sprachlichen und biographischen Kriterien ihrer Autoren zu klassifizieren, wissenschaftlich haltbar? Ein weiteres Problem kommt hinzu, wenn der Autor selbst ein Migrant ist, aber über andere Themen als Migration schreibt. Hamid Sadr (*1946, Teheran) und Sudabeh Mohafez (*1963, Teheran) können hier nur genannt werden.96

2.2.1 Zum Begriff Migrationsliteratur In den Werken der sogenannten Migrationsliteratur geht es um die Literarisierung einer Geschichte im Spannungsfeld des Individuums und der sozialen Welt dessen Identifikation. Durch Migration als Gegenstand der Erzählung und durch die Positionierung des Migranten als einer Figur, die ihre Geschichte entlang der Migration erzählt, wird die Geschichte in einer zweifachen Konstellation verortet. Einerseits geht es um die Geschichte der Migration selbst und anderseits um die Konstruktion dieser Geschichte in der Metaebene der deutschsprachigen Kultur. Eine methodologische Verfahrensweise bei der historischen Auseinandersetzung mit Migration bieten die Suche nach den Gründen, die Feststellung von Orten und die Analyse von Arten der Migration. Migration zeigt aber auch eine Bewegung, die in der Regel von Räumen in andere Räume (Foucault) geschieht und das Spannungsfeld dieser Räume und ihrer Bewohner beeinf lusst. In dieser Hinsicht folgt eine historische Analyse der Migration in meinem Zusammenhang methodisch Foucaults Diskursanalyse mit seinem zentralen Aspekt der Macht, der auch in Anil Bhattis kulturtheoretische Arbeiten Eingang fand. Während es Foucault um »eine Geschichte der verschiedenen Formen der Subjektivierung des Menschen in unserer Kultur«97 geht, interessiert sich Bhatti für diejenigen Machtstrukturen, welche die Unterscheidung zwischen Privilegierten und NichtPrivilegierten einer Kultur begründen.98 Die Auseinandersetzung mit Migration auf der Grundlage der Diskurstheorien und kulturellen Machtverhältnisse lässt die belastete Vergangenheit und negativen Konnotationen der Migration erkennen. Die Auseinandersetzung mit dem deutschsprachigen Diskurs der Migration bedeutet zunächst, die Geschichte der Migration in Deutschland ins Bewusstsein zu rufen, bevor auf die ästhetischen Formen zur Darstellung der Migration eingegangen wird. Für die Problematisierung des Begriffes Migrationsliteratur bedeutet dies, die Schwierigkeiten 95  Weinrich: Der Adelbert- von-Chamisso-Preis, 1986, 12. 96   Sadrs Romane Gesprächszettel an Dora (1994), Der Gedächtnissekretär (2005) und Der Vogelsammler von Auschwitz (2009) und Sudabeh Mohafez’ Erzählungen und Romanen Wüstenhimmel Sternenland (2004), Gespräch in Meeresnähe (2005) und brennt (2010) gestalten die Erzählwelt kaum mit dem Thema der Migration. 97  Foucault: Subjekt und Macht, 2005, 240. 98  Bhatti: Kulturelle Ähnlichkeit bedeutet nicht, daß unsere Hemden gleich sind, 2011, 68.

2. Migration im Diskurs der Literaturwissenschaft

beim Einbeziehen der Geschichte in das literarische Analyseverfahren zu verdeutlichen. Es wird in einem ersten Schritt der Kontext dieser Geschichte problematisiert, in dem sich eine Migration-Kultur gebildet hat. In einem zweiten Schritt wird untersucht, inwiefern der Begriff Migrationsliteratur diese Kultur ref lektiert und sich von ihr vereinnahmen lässt. Mit Blick auf die unterschiedlichen Konstellationen und Formen der Migration in Deutschland ist im Diskurs der Migration eine Geschichte zu erkennen, die hinter den Zweiten Weltkrieg und die Nachkriegszeit weit zurückreicht. Ute Gerhard weist in ihrer historischen Untersuchung nach, dass Wanderungsbewegungen schon seit der Industriellen Revolution einen zentralen Gegenstand deutschsprachiger Texte vor der Mitte des 19. Jahrhunderts bilden. Das Manko des literarischen Diskurses bestehe laut Gerhard ebenfalls in der dichotomisierenden Fixierung von Grenzen des Eigenen und des Fremden, die die politischen Debatten an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert genauso gestaltete wie die literarischen.99Aus Gerhards Studie lässt sich die Erkenntnis gewinnen, dass nicht Migration als kulturelles Phänomen etwas Neues darstellt; vielmehr sind die Formen der Migration, die Schnelligkeit der Migrationsbewegungen und vor allem die aus dieser Schnelligkeit hervorgehende Vorläufigkeit der Migration diejenigen Aspekte, die das globale Zeitalter charakterisieren. Dass Migration mit Blick auf die Globalisierung und soziokulturelle Veränderungsprozesse neue Dimensionen erfahren hat, gehört zu den Forschungsaspekten, die sich weniger auf Migration selbst beschränken, sondern vielmehr die Kultur der Migration mit ihren Erscheinungs- wie Entwicklungsformen und Nuancen anvisieren.100 Aus den Studien The Age of Migration und Neue Grenzen – andere Erzählungen lassen sich für die kulturwissenschaftlich orientierte Literaturwissenschaft zwei Aspekte besonders hervorheben. Erstens: Migration ist schon immer eine kulturelle Angelegenheit gewesen und hat im Verlauf ihrer Geschichte ihre eigene Kultur geschaffen. Zweitens: Was im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert auf der literaturtheoretischen Ebene geschah, ist die Funktionalisierung des Begriffes Migration für die Literatur. Dies ist das wesentliche Problem: Die Funktionalisierung zeigt sich im Rückgriff auf die außerliterarische Welt, der wiederum den Zusammenhang zwischen Literatur und ihrem Gegenstand auf diejenigen Aspekte reduziert, die einen literaturwissenschaftlichen Diskurs methodisch erschweren. Die methodische Schwierigkeit rührt vor allem daher, weil der Rückgriff auf die außerliterarische Welt bei der Interpretation die literarische Qualität, die Unverwechselbarkeit der Sprache und die Individualität des Stils, die von den biographischen Vorgaben nicht mitgeliefert werden, zweitrangig erscheinen lässt.101 Der Begriff Migrationsliteratur scheint harmlos, sogar offen zu sein, was aber täuscht, denn er simplifiziert die Literarisierung von kulturellen Verhältnissen, die 99   Gerhard: Neue Grenzen – andere Erzählungen, 2006, 21-28. Die literarische Thematisierung der Grenze des Eigenen und des Fremden untersucht Gerhard in Kafkas Beim Bau der chinesischen Mauer (1917) und in Joseph Roths Heimweh nach Prag (1924). Vor allem erfährt hier das Konzept des Vaterlandes als Garanten von Identität seine ironische Relativierung und Infragestellung. 100   C astles et al.: The Age of Migration, 1993. 101 Anfänglich wurde diesen Kriterien kaum Aufmerksamkeit geschenkt. Dies ist beispielsweise in den Werken aus den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts der Fall. Im Zusammenhang mit der Gastarbeiterliteratur werde ich auf diesen Kontext zu sprechen kommen.

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keineswegs homogen sind, auf eine Weise, als gehe es nur um eine Literatur, die von Migranten geschaffen ist und folglich von ihnen und ihrer Migrationsgeschichte auch handeln soll. Indem Literatur so begriff lich benannt und inhaltlich auf die biographischen Gegebenheiten der Autoren reduziert wird, setzt der Begriff Migrationsliteratur die Literatur einem Kulturenzwang aus, der die Außen- und Innenperspektive der Kultur ontologisch festlegt. Semiotisch gesprochen wird er zu einem bedeutungsbestimmenden Zeichen der Kultur.102 Die Kulturalisierung steht ihrerseits unter dem Vorzeichen der Kategorisierung und der Pauschalisierung. Über die Vielfalt von Migrationsgeschichten, über die Subjektivität der Migrationserfahrungen, über die Qualität dieser Erfahrungen und letztlich auch über die mediale Darstellungsästhetik von Geschichte und Erfahrung trifft der Begriff Migrationsliteratur keine Aussage; im Gegenteil: Er pf legt die Homogenisierung differierender und von unterschiedlichen Individuen auf verschiedene Weise erfahrener Prozesse der Migration in der seit der ›Gastarbeiter-‹ und ›Ausländerliteratur‹ bekannten Diskurs-Tradition. Dieser Vorwurf lässt sich dadurch begründet, dass der Begriff Migrationsliteratur innerhalb der Geschichte, die ihn hervorgebracht hat, über ein beinahe unerschöpf liches Bedeutungsreservoir verfügt, das fortwährend territoriale, nationale, hegemoniale und kulturelle Exklusionsmechanismen nicht allein assoziiert, sondern erst aktiviert. In der semiotischen Auffassung des sprachlichen Zeichens besteht der Reduktionismus in der denotativen Bedeutung, d.h. darin, was »die unmittelbare Bezugnahme, die ein Ausdruck im Empfänger der Botschaft auslöst«,103 sowie in der konnotativen Bedeutung. Denotation wird nicht im Sinne eines Referentenbezugs verstanden, sondern bedeutet »die unmittelbare Bezugnahme […], die der Code104 dem Ausdruck in einer bestimmten Kultur zuschreibt«.105 Auf diese Weise denotiert der Begriff Migrationsliteratur eine Position im semantischen System der Literatur.106 Die Bestimmung der Denotation gibt eine Definition des Signifikats. Daher wird die Last der Semiose auf der Konnotation107 beruhen müssen. Die Denotation und die Konnotation werden in Ecos Semiotik als kulturelle Einheiten verstanden.108 Die Bestimmung der konnotativen Bedeutung eröffnet den Interpretanten unbegrenzte Möglichkeiten zu weiteren Konnotationen,109 so dass die unendliche Semiose im Grunde die unendliche Kette der Konnotationen ist. 102  Eco: Zeichen, 1998, 259-274. 103  Eco: Einführung in die Semiotik, 1972, 98. 104   Siehe zum Begriff Code und zum codifizierenden System als Struktur Eco: Einführung in die Semiotik, 1972, 57-64; zur Theorie der Codes Eco: Semiotik, 1991, 76-202; zum Code im philosophischen Diskurs von Eco, Lévi-Strauss und Barthes in Eco: Semiotik und Philosophie der Sprache, 1985, 242-276. 105  Eco: Einführung in die Semiotik, 1972, 102. 106 »Das Denotatum eines Lexems ist seine semantische Valenz in einem bestimmten Feld«. (Eco: Einführung in die Semiotik, 1972, 104). 107   Diese sei »die Gesamtheit aller kulturellen Einheiten, die von einer intensionellen Definition des Signifikats ins Spiel gebracht werden können; sie ist daher die Summe aller kulturellen Einheiten, die das Signifikans dem Empfänger institutionell ins Gedächtnis rufen kann. Dieses ›kann‹ spielt nicht auf psychische Möglichkeiten an, sondern auf eine kulturelle Verfügbarkeit« (Eco: Einführung in die Semiotik, 1972, 108). 108  Eco: Semiotik, 1991, 89-93. 109 Interpretanten sind Zeichen, die andere Zeichen näher bestimmen (Eco: Semiotik, 1991, 101-103; Eco: Lector in fabula, 1987, 38-53).

2. Migration im Diskurs der Literaturwissenschaft

Die Analyse der Denotation und Konnotation des Begriffes Migrationsliteratur in der Literaturwissenschaft hat die Markierung von Diskriminierung und das Phantasma einer einheitlichen Nationalliteratur und -kultur bereits offengelegt und in ihm die Bezeichnung einer »Literatur mit Aufenthaltsberechtigung«110 festgestellt. Diese Bezeichnung lässt sich im kultursemiotischen Analysesystem der Bedeutung dahingehend interpretieren, dass die Migrationsliteratur stets Erfahrungen einer Daseinsberechtigung Rechnung tragen müsse. Aus diesem Verständnis verliert die Bewegungs-Perspektive des erzählenden Ich durch einen Raum kultureller Differenzen an Relevanz. Unter Verwendung des Begriffes Migrationsliteratur würde dieses Ich seine literarische Vitalität durch die lediglich an einem Zustand interessierte Sortierung einbüßen.111 Wenn man mit Begriff Migrationsliteratur eine »Literatur mit Aufenthaltsberechtigung« assoziiert, so verliert er sein Potential, als literaturwissenschaftlicher Begriff anschlussfähig zu sein. Was literarische Begriffe, Epochen und Genre leisten sollten, ist die Präzisierung literaturwissenschaftlicher Diskussionen, denn sie kennzeichnen eine argumentativ und wissenschaftlich begründete, über Zeitabschnitte hinaus andauernde Übereinkunft zwischen Wissenschaftlern und ihren sachkundigen Adressaten über ihren Gegenstand. Von diesem Anspruch auf Präzision darf der Begriff Migrationsliteratur nicht ausgenommen werden. Für eine Kontroverse sorgt er gerade deshalb, weil er diese Präzision im Verlauf seiner Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte112 schuldig bleibt.

2.2.2 Problematisierung des Begriffes Migrationsliteratur Der Begriff Migrationsliteratur impliziert semantische Vereinheitlichung. Diese Semantik wird durch den infiniten Prozess von kulturell bedingten Substitutionen bzw. Interpretanten bestimmt und »in einem System von anderen kulturellen Einheiten« erweitert.113 Die Rolle der Substitutionen und des Interpretanten hat in der Zeichenkonzeption insofern Auswirkungen, als die Entscheidung darüber, ob ein Phänomen zum Untersuchungsfeld der Semiotik gehört, nicht allein davon abhängig ist, ob dieses Zeichen auf einen Code zurückgeführt werden kann, sondern ob ein Akt der Interpretation oder eine Schlussfolgerung erfolgt. Untersucht man den Begriff Migrationsliteratur auf dem Untersuchungsfeld der Semiotik, so lassen sich Mechanismen von Konnotationen und Interpretationen aufzeigen, die die Anwendung dieses Begriffes wirkungsgeschichtlich nur innerhalb von kulturell vordefinierten Substitutionen erlauben.

2.2.2.1 Der Begriff Migrationsliteratur zwischen Konnotation und Interpretation Die Geschichte des Begriffes Migrationsliteratur reicht bis in die siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts zurück, findet in den achtziger Jahren in diversen Begriffen Ausdruck und prägt die Diskussion über Literatur und Migration in den 1990er Jahren wirkungsgeschichtlich. Zu diesen Begriffen gehören Gastarbeiterliteratur, Ausländer110   Bay: Der verrückte Blick, 1999, 29. 111 Ebd., 40. 112  Keiner: Von der Gastarbeiterliteratur zu Migranten- und Migrationsliteratur, 1999, 3-14. 113  Eco: Einführung in die Semiotik, 1972, 86.

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literatur, zeitgenössische deutschsprachige Dichtung der Minoritäten, deutschsprachige Minderheitsliteratur der Arbeitswelt und des Proletariats und Literatur der Betrof fenheit.114 Retrospektiv betrachtet, scheinen die Begriffe Gastarbeiter- und Migrationsliteratur die Eckpunkte einer Begriffsgeschichte zu sein, deren Analyse unterschiedliche Ansichten auf der Produktions- und Rezeptionsseite rekonstruieren lässt. In ihren Bemerkungen über die Gastarbeiterliteratur sprechen Franco Biondi und Rafik Schami über eine Literatur, die den »kulturellen Austausch« zwischen »›Inländern‹ und Gastarbeitern« ermöglichen soll.115 Neben Gastarbeiterliteratur wird hier auch von »Literatur des Ursprungs« und Literatur »der neuen Heimat« gesprochen.116 Der entscheidende Hinweis in Biondis und Schamis Erläuterung liegt darin, dass die Gastarbeiterliteratur sich selbst »gegen die eindimensionale, folkloristische Gestalt, in der die Kultur der Gastarbeiter gerne gesehen wird«, positioniert.117 So wird dem Begriff Gastarbeiterliteratur eine ironische Rhetorik in die Wiege gelegt. Hinzu kommt ein weiterer Aspekt der Gastarbeiterliteratur als eine Selbsthilfe zur Verteidigung der Identität, ein Schritt im Selbsterkenntnisprozeß, denn sie bietet die Möglichkeit, unser Problem nicht als ein individuelles Problem eines Mustafa aus Istanbul oder eines Jannis aus Kilkis anzusehen […], sondern als ein gemeinsames Problem von über 4 Millionen, ja von 60 Millionen Bürgern der Bundesrepublik.118 Soweit die Anwendung des Begriffs Gastarbeiterliteratur auf der Produktionsseite erkennen lässt, scheint die begriff liche und klassifizierende Prägung der Gastarbeiterliteratur zunächst im Dienste kollektiver Formen literarischer Ref lexionen über kulturelle Identifikation und Selbstfindungsprozesse zu stehen. In diesem Zusammenhang geht der Begriff auch in den Wissenschaftsdiskurs ein und sorgt wegen seiner semantischen Offenheit bereits zu Beginn für Problematik. Linguistisch gesehen, handelt es sich bei dem Wort Gastarbeiterliteratur um eine zusammengesetzte Wortbildung, deren grammatisches und semantisches Verhältnis nach linguistischen Regeln näher bestimmt werden kann. Es besteht aus miteinander verbundenen Elementen, die im Sprachgebrauch zwar selbständig vorkommen, hier aber miteinander spezifisch determinierend verbunden sind. Gastarbeiter und Literatur gehen hier ein Verhältnis ein, das die grammatischen und semantischen Eigenschaften klar regelt und in der Sprachwissenschaft kategorisch als Determinativkompositum bezeichnet wird. Dieses Determinativkompositum besteht seinerseits aus den Konstituenten Determinatum (Literatur) und Determinans (Gastarbeiter). Dass Gastarbeiter selbst ein solches Kompositum bildet, liegt auf der Hand, braucht hier aber zunächst nicht weiter zu interessieren. Das Verhältnis der Konstituenten Gastarbeiter und Literatur ist so geregelt, dass das Determinatum die grammatische und 114   Etabliert hat sich der Begriff Gastarbeiterliteratur in der Folgezeit, bis er Mitte der 1990er Jahre durch andere Kategorien ersetzt wurde (siehe zur Entstehungsgeschichte Ackermann et al.: Eine nicht nur deutsche Literatur, 1986, 55-78; zur Entwicklung und Diskussion Amirsedghi et al.: Literatur der Migration, 1997; Arnold: Literatur und Migration, 2006). 115 Biondi, Schami: Literatur der Betrof fenheit, 1981, 133. 116  Ebd. 117  Ebd. 118 Ebd., 131.

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das Determinans die semantische Eigenschaft des Determinativkompositums ausmacht. Zwischen den Konstituenten besteht ein subordinierendes,119 d.h. auch ein hypotaktisches Verhältnis.120 Mit Blick auf die Konstituenten bewirkt dieses Verhältnis, dass die Bedeutung des Kompositums zwar im Grundwort enthalten ist, durch das Bestimmungswort jedoch eine einschränkende Spezifizierung erfährt. Das Bedeutungsverhältnis im Kompositum Gastarbeiterliteratur ist demnach ein endozentrisches. In diesem hypotaktischen, endozentrischen Kompositum wird das Grundwort Literatur durch das Bestimmungswort Gastarbeiter determiniert.121 Diese entscheidende Einschränkung bleibt jedoch nicht auf die Literatur beschränkt, sondern erreicht durch das Determinans Gastarbeit eine intendierte Wirkung, indem dieses beispielsweise vom Philosophen Vilém Flusser (1920-1991) als das »seltsame Wort« bezeichnet wird, »das man in deutschsprachigen Ländern für die Institution geprägt hat«.122 Mit der Institutionalisierung beginnt das eigentliche Problem der Gastarbeiterliteratur. Diesem Gebrauch nach bescheinigt Flusser dem Wort Gastarbeiter, selbstredend zu sein und für »sprachliche Verblendungen und Beschönigungen«123 zu sorgen. Das Seltsame sieht er in einem ungleichberechtigten Verhältnis zwischen dem »in allen primitiven Kulturen geheiligten Begriff« Gast und dem Wort Arbeiter als einem »seit dem neunzehnten Jahrhundert gefeierten Begriff« und äußert die Vermutung, dieses Verhältnis weise auf »eine grundlegende Entwicklung unserer Kultur vom Gast zum Gastarbeiter«124 hin. Diesen Prozess beschreibt Flusser durch die Polarisierung der Industriegesellschaft, die anfangs im Kontext von Ute Gerhards Studie besprochen wurde, und der primitiven Gesellschaft, die »in wenig zahlreicher und relativ isolierter« Gemeinschaft der Stämme oder Dörfer lebt: »Wenn […] in dieser Gesellschaft ein Fremder erscheint, dann erscheint er eben fremd, ungewöhnlich, überraschend, verdächtigt, kurz ›anders‹«.125 Der Gastarbeiter ist Folge jenes seltsamen Umstands, daß es der industriellen Revolution zwar gelang, den Menschen in hochkomplizierten Manipulationen in Industrie und Landwirtschaft durch Maschinen zu ersetzen, daß es ihr aber nicht gelang, ihn ökonomisch in einfachen (und daher menschenunwürdigen) Manipulationen ebenso zu ersetzen. Ein Aspekt der Freiheit (der klassisch marxistische) ist das Befreien des Menschen dank der Maschine. Eine damit verbundene Sorge (etwa die Nietzsches) ist die, allgemeine Mechanisation könnte zu allgemeiner Unfreiheit führen. […] Der Gastarbeiter aber deutet auf ein Problem, das weder Marx noch Nietzsche sahen: eine durch 119   Bußmann: Lexikon der Sprachwissenschaft, 1990, 402. 120 Kessel et al.: Basiswissen deutsche Gegenwartssprache, 2005, 104. 121   Bußmann: Lexikon der Sprachwissenschaft, 1990, 173. 122  Flusser: Vom Gast zum Gastarbeiter, 2013, 51. Die Zentralität von Flussers Reflexionen auf Exil, Kreativität und Übersetzung von Kulturen und Sprachen, auf die ich immer wieder zurückgreife, ist unbestritten (siehe Krause: Übersetzungsexperimente zwischen den Sprachen und Kulturen, 2013, 97-114). 123  Flusser: Vom Gast zum Gastarbeiter, 2013, 51. 124  Ebd. 125   Ebd. Ähnlich argumentiert Flusser in seiner Auffassung von Vertriebenen, wenn er meint, der Vertriebene bedrohe »die ›Eigenart‹ des Ureinwohners, er stellt sie durch seine Fremdheit in Frage« (Flusser: Exil und Kreativität, 2013, 109).

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Mechanisation befreite Gesellschaft, die menschliche Handlanger importiert, um primitive Manipulationen auszuführen. […] Er geht einen Vertrag frei ein, der Vertrag wird vom Gastfreund gehalten, und nach Ablauf des Vertrages ist er frei, mit seinen Ersparnissen heimzukehren.126 Mit dieser Definition fasst Flusser die Entwicklung des Gastes zum Gastarbeiter als »Aspekt der Entwicklung der zwischenmenschlichen Beziehungen«127 in der westlichen Industriegesellschaft auf. In seinem Verständnis ist der Gastarbeiter das Ergebnis von »Verwandlung des Gastes zum Werkzeug, dessen ich mich zeitweise bediene[,] und dessen Werk, dank seiner Vergänglichkeit, so gering ist, daß für eine weitreichende Sorge kein Platz ist«.128 Mit dieser Definition befindet sich der Begriff Gastarbeiter in einer Gegenposition zur Menschenwürde im Sinne Kants, denn er impliziert den Menschen nicht als Zweck, sondern als Mittel zum Zweck. Flussers Charakterisierung des Gastarbeiters als befristeten Vertragspartners ist der zentrale Aspekt, der auch in die interkulturellen Debatten der Literatur Eingang gefunden hat. Carmine Chiellino schreibt dem Gastarbeiter eine ref lektierende Funktion zu und macht aus ihm eine literarische Figur der Repräsentation: ›Gastarbeiter‹ beschreibt weder einen Gast, der arbeiten muss, noch die Einwanderer, sondern teilt den deutschen Staatsbürgern mit, dass Deutschland kein Einwanderungsland ist, denn die Anwesenheit der ausländischen Arbeiter in den deutschen Betrieben war durch Begriffe wie ›befristete Arbeitsgenehmigung‹ und ›Aufenthaltserlaubnis‹ in dem Anwerbeabkommen festgelegt worden.129 Hier zeigt sich die ironische Rhetorik des Begriffes Gastarbeiterliteratur. Geht man weiter von den kultursemantischen Verhältnissen aus, so scheint der Begriff alles andere zu sein als eine Bezeichnung, die von gleichberechtigten und gleichwertigen, oder besser gesagt von neutralen Verhältnissen in der Wissenschaft zeugt, weil die Sammelbezeichnung Gastarbeiterliteratur Ref lexionen auf die Identifikation der Immigrierten literarisch nicht individuell, sondern kollektiv erfasst,130 obwohl der Begriff auf der literarischen Produktionsseite von seinem kollektiven Wirkungsbereich in eine ironische Rhetorik übergeleitet wird. Was ist damit gemeint? Aras Ören spricht in seiner Dankesrede von einem dialektischen Verhältnis Europas zu dessen Migranten: einerseits spiegelt Europa seine eigene Haltung wider, andererseits aber ref lektieren Migranten die Haltung Europas sich selbst gegenüber.131 Örens bemerkenswerter Hinweis auf das dialektische Verhältnis von Europa und Migranten bildet bis heute die Pointe in den kulturwissenschaftlichen Diskussionen. 126  Flusser: Vom Gast zum Gastarbeiter, 2013, 52. 127 Ebd., 53. 128 Ebd., 53f. 129   Chiellino: ›Gastarbeiterdeutsch‹ als solidarische Sprache für die Einwanderer, 2014, 34. 130   Chiellino eröffnet seinen Beitrag zum Thema Gastarbeiterdeutsch mit der Frage, ob bei dem Entwurf einer Sozialgeschichte der interkulturellen Literatur versucht worden sei, »das ›Gastarbeiterdeutsch‹ solidarisch und kreativ einzusetzen« (Chiellino: ›Gastarbeiterdeutsch‹ als solidarische Sprache für die Einwanderer, 2014, 27). 131  Ören: Dankrede zur Preisverleihung, 1986, 25-29.

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Eine neuere Dimension dieser Dialektik beschreibt Zaimoğlus Europa-Bild,132 dessen Pluralität kein Traum mehr ist, sondern eine Realität, in der Verschiedenes auf verschiedene Art und Weise aufeinandertrifft. Dieses Aufeinandertreffen vollzieht sich in einem Spannungsverhältnis zwischen dem Zeitgeist und den individuellen Bedürfnissen und fordert das Individuum sozial, politisch und finanziell insbesondere deshalb heraus, weil es immer stärker mit dem Verlust von beruf lichen und gesellschaftlichen Machtansprüchen konfrontiert wird. Mit der Darstellung Europas in einem kulturellen und individuellen Spannungsverhältnis spielt Zaimoğlu auf die europäische Entwicklung seit der Industrialisierung an. Die Globalisierung ökonomischer und kultureller Beziehungen ist demnach ein Beschleunigungsfaktor, der bestehende Verhältnisse im Aufeinandertreffen von Individuen und Kulturen anders strukturiert. In dieser erweiterten Dimension, so meine Schlussfolgerung, geht es nicht mehr spezifisch um die Figur des Migranten von Außerhalb an sich, sondern um das kulturelle Phänomen der Migration und deren Akteure überhaupt.133 Dieses in der Literatur bereits etablierte Europa-Bild der Transformationen wird in den Wissenschaften unterschiedlich diskutiert. Der Philosoph Angelo Bolaffi wirft den Intellektuellen in den Debatten über die europäische Krise Sprachlosigkeit und Mitschuld vor. Aus seiner Sicht hätten die Intellektuellen in den Debatten über die europäische Einheit viel weniger geleistet als die Politiker. Anders als beispielsweise Helmut Schmidt, François Mitterrand, Helmut Kohl und Angela Merkel, die nach vorne schauten, seien die Intellektuellen in ihren Äußerungen vorsichtig gewesen und hätten »lieber das Bürokratie-Monster oder die Abstraktheit Europas«134 beklagt. Indirekt formuliert Jürgen Habermas eine ähnliche Kritik: Etwa dreißig Jahre nach der Veröffentlichung der ersten Auf lage seiner Habilitationsschrift Strukturwandel der Öf fentlichkeit spricht er nun im Vorwort zur siebzehnten Auf lage über die Notwendigkeit einer Neubestimmung des strukturellen Wandels infolge von Entwicklungen in Mittel- und Osteuropa, die darin bestehe, dem »Kontext des zeitgenössischen Erfahrungshorizonts« andere Grenzen zu setzen, als die, die einst für den Idealtypus der bürgerlichen Öffentlichkeit definiert worden seien.135 Im Hinblick auf die Verhältnisse der Öffentlichkeit müssten sich die Bereiche zwischen Innen und Außen ständig neu bilden, strukturieren und ihre Überschneidungen wie Abstände modifizieren. Diese Bereiche – und dies ist in einer interkulturellen Betrachtungsweise entscheidend – werden selbst zu Kontaktf lächen, die bestehende Verhältnisse transformieren und Zukünftiges definieren. Die Dialektik von Europa und Individuum führt in Bolaffis und Habermas’ Kulturanalyse zu einem Plädoyer für die Anerkennung des Wandels gesellschaftlicher Verhältnisse, die Erfahrungsmöglichkeiten vervielfachen und den Wahrnehmungshorizont erweitern. Unsicherheit entsteht im Verlauf des Wandels dort, wo Individuen und Kulturen solchen Herausforderungen ausgesetzt, aber nicht fähig sind, das Bestehende zu überwinden. Dies können sie aber nur dann, wenn sie in der Lage sind, ihre eigene Identitätsarbeit neu zu organisieren, denn erst der Versuch 132   Zaimoğlu: Ich bin ein Humanist, 2009. 133   Im Zusammenhang mit Prozessen der Identifizierung im dritten und des Europa-Bildes im vierten Kapitel bildet die Dialektik zwischen Europa und Individuum die Grundlage meiner Ausführungen. 134   Bolaffi: Wir müssen reden, 2014, 25; siehe zur Diskussion über die Rolle der Intellektuellen auch Giesen: Die Intellektuellen und die Nation, 1993; Berding: Nationales Bewußtsein und kollektive Identität, 1994. 135  Habermas: Strukturwandel der Öf fentlichkeit,1990.

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des Auf baus der eigenen Identifikation führt den Menschen auf sich selbst zurück und macht ihn der Welt gegenüber handlungsfähig. Der Begriff Migrationsliteratur wirkt gegen den Anspruch auf Handlungsfähigkeit, weil er den sozialen Wirkungsbereich der Migranten zu einer Projektionsf läche kultureller Defizite und Negationen macht. Die Diskrepanz zwischen dem Begriff, der die Literatur zu bezeichnen angibt, und dem, was die Literatur eigentlich meint, wird dort deutlich, wo die Figur des Migranten ihre von ihm erwartete Sprache verliert. Die Sprachlosigkeit des Migranten bedeutet auf der literarischen Produktionsseite laut Örens Dialektik zugleich die Sprachlosigkeit Europas.136 Europas Suche nach einer neuen Sprache trage, so Ören weiter, dazu bei, dass Europa seine Sprachlosigkeit an den Grenzen der Sprache selbst lösen könne.137 Ören verlegt die Diskussion über Migrationsproblematik auf diese Weise von der physischen Wirklichkeit in den fiktiven Raum der Sprache, der Konstruktionen der sich widerspiegelnden Selbst- und Fremdheitsbilder ermöglichen soll. Charakteristisch für diesen fiktiven Raum ist sein metaphorisches Potential bei der Beschreibung von Grenzüberschreitungen und Überlappungsbereichen.138 Durch die Metaphorik der Grenzen, deren Verschiebung und Überschreitung deutet Ören in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre ein Zeitalter voraus, dessen phänomenales Kriterium darin bestehen sollte, Grenzen jeglicher Art immer wieder neu zu setzen, zu überschreiten und zu definieren; die Grenzen des Selbst sind davon nicht ausgenommen. Migranten als die »aus dem Zusammenbruch der Seßhaftigkeit emportauchenden Nomaden«139 verursachen Grenzverschiebungen und werden zugleich von diesen beeinf lusst. Sie verkörpern die Variabilität angenommener Normen, das »Freisein«140 des Individuums und machen auf die Notwendigkeit wiederholter Re-Definitionen der Normvariabilität aufmerksam: Nicht das Zerschneiden der Bindungen an andere, sondern das Flechten dieser Verbindungen in Zusammenarbeit mit ihnen. Der Migrant wird frei, nicht wenn er die verlorene Heimat verleugnet, sondern wenn er sie aufbaut. Ich bin Prager und Paulistaner und Robionenser und Jude und gehöre dem deutschen sogenannten Kulturkreis an, und ich leugne dies nicht, sondern ich betone es, um es verneinen zu können.141

136   Der Begriff Migrationsliteratur scheint also, sich des kolonialen Diskurses zu bedienen. 137  Ören: Dankrede zur Preisverleihung, 1986, 25-29. 138   Die Überschreitung von Grenzen und die Überlappung von Grenzräumen sind sowohl in der physischen Wirklichkeit als auch im fiktiven Raum der Sprache existenzfähig. Im konkreten Fall vollzogen sich Relativierungen von Grenzen, als eine Reihe von geopolitischen Barrieren durch das Schengener Abkommen zu Beginn der 1990er Jahre abgeschafft wurde. Mit diesem Schritt verband man u.a. die Hoffnung, dass Kinder der Migranten sich in Europa angekommen fühlten. Seitdem werden Migration, Identität und Beziehungen zwischen individueller und globaler Erfahrung in der Bildung neuer kultureller Konstruktionen als drei wesentliche Aspekte der Grenze diskutiert (Benmayor et al.: Migration and Identity, 1994). 139  Flusser: Wohnung beziehen in der Heimatlosigkeit, 2013, 17. 140 Ebd., 20. 141  Ebd.

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Mit diesem paradox klingenden Bekenntnis wird die Freiheit des Individuums hervorgehoben, selbst über das Sein, den Ort und die Art des Seins zu entscheiden. Diese Entscheidung sei keineswegs eine endgültige; die Entscheidungsfreiheit wird immer wieder durch den Wechsel mehrerer identitätsstiftender Kontexte herausgefordert, um weiter bestehen zu können. Der Migrant, der sich von dem einen Kontext befreit, beginnt in einem anderen »dialogische Fäden mit seinen Mitmenschen zu spinnen, welche nicht – wie in der verlorenen Heimat – durch die Geburt aufgelegt waren, sondern frei hergestellt«142 werden. Klar ist in Flussers Worten der Zusammenhang von Migration, Identität und Heimat sowie dessen Wirkung auf das Individuum, das sich auf der asymmetrischen Achse der Befreiung von dem einen Daseinsort und des Wunsches nach Zugehörigkeit zu einem anderen bewegt. Der Migrant vermag zwar, Grenzen zu überschreiten und neue Kontexte zu bilden, seinen Anspruch auf Zugehörigkeit kann er zunächst kaum verwirklichen.

2.2.2.2 Der Begriff Migrationsliteratur in endozentrischer und hypotaktischer Definition Wie mit der asymmetrischen Achse der Befreiung und des Wunsches nach kultureller Zugehörigkeit umgegangen werden soll, beschreibt Salman Rushdie in Step across This Line. Hier wird Grenze als »an elusive line« geschildert, sie ist »visible and invisible, physical and metaphorical, amoral and moral«.143 Indem sie vom Individuum überschritten wird, wird sie auch transformiert, und zwar in dem, was sie zu sein vor- und angibt. Es existiert, lässt sich schlussfolgern, kein asymmetrisches Verhältnis zwischen diesseits und jenseits der Grenze mehr, sondern eine der Grenze und dem Individuum verpf lichtete Bedingtheit. In dieser Perspektive auf das Individuum und auf seinen eingegrenzten Raum ist Migration ein Phänomen kultureller Grenzüberschreitung überhaupt, weil durch sie Prozesse individueller Identifikation in kultureller Dimension zu einer Angelegenheit der Bewegung und der Grenzüberschreitung erklärt werden. Somit scheint das Determinativkompositum Migrationsliteratur insofern kontraproduktiv zu wirken, als es endozentrische und hypotaktische Verhältnisse nicht nur benennt, sondern sie vor allem auch fixiert. Es wandelt literarische Ref lexionen über Migrationsprozesse in ein Ursprungsdenken, verankert das Individuum als eines an einem Ort des Ursprungs, der Geburt oder der Herkunft und vernachlässigt seine Entscheidungsfreiheit. Die Charakterisierung des modernen Individuums besteht vornehmlich in seiner Entscheidungsfreiheit, in seiner Fähigkeit zu einer autonomen Gestaltung von variierenden Identifikationsmöglichkeiten und neuen Identifikationsorten. Demnach repräsentiert das Individuum kein kategoriales und einheitliches Gebilde, das mit dem Begriff Migrationsliteratur assoziiert werden könnte. Genauso wenig ist ein solches Individuum in der Lage, sprachlich einen einheitlichen Ort der Migration herzustellen,144 den der Begriff Migrationsliteratur suggeriert, denn die individuelle Freiheit behält sich eine Vielfalt vor, die zur Vorstellung einer homogenen Erfahrung der Migration im Widerspruch steht. An diesem Punkt stößt der Begriff Migrationsliteratur an die Grenzen seiner theoretischen Anwendbarkeit. Die Konfrontation von Entschei142 Ebd., 24. 143   Rushdie: Step across This Line, 2003, 352. 144   Chiellino: ›Gastarbeiterdeutsch‹ als solidarische Sprache für die Einwanderer, 2014, 42-46.

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dungsfreiheit und Erfahrungsvielfalt auf der einen mit Grenzen der theoretischen Anwendbarkeit des Begriffes Migrationsliteratur auf der anderen Seite begründet die Vagheit dieses Begriffes im interkulturellen Diskurs. Konkret lässt sich diese Vagheit im Diskurs der Literaturwissenschaft auf zwei Ebenen problematisieren: Der Begriff Migrationsliteratur wird als Bezeichnung für mediale Ref lexionen über kulturelle Perspektivierung der Migration aufgefasst, dient aber gleichzeitig zur Assoziation gesellschaftlicher Umbrüche und Öffnungsprozesse.145 Er wird aber auch universalistisch ausgelegt, drückt den »Kulturwechsel vieler Literaturen« aus und internationalisiert Nationalliteraturen.146 Problematisiert werden diese Einsichten in denjenigen Studien, die Autoren, Filmemacher und Künstler mit einem sogenannten Migrationshintergrund als treibende Kraft und ihre Werke als Hauptströmung der deutschen Kunstszene par excellence ansehen147 und in ihnen »a new kind of creative energy«148 entdecken. Diesen beiden Positionen gegenüber stehen Konzepte, die in der Migrationsliteratur einen Begriff sehen, der das Kunstwerk im Anschluss an die biographische Schwerpunktsetzung der 1970er Jahre hauptsächlich auf historisch-autobiographische Hintergründe seines Produzenten reduziert. Diese Positionen stehen aber im Widerspruch zueinander, denn es ist unklar, wie ein kategorisierender und reduktionistischer Begriff zeitgleich Umbrüche und Strömung artikulieren soll. Erste Rezeptions- und Interpretationsversuche dieser Literatur erfolgten unter den Schlagworten ›Ausländer- und Gastarbeiterliteratur‹ in den Anthologien Als Fremder in Deutschland (1982) und In zwei Sprachen leben (1983) von Irmgard Ackermann, in Eine nicht nur deutsche Literatur (1986) von Ackermann und Weinrich und in Über Grenzen (1987) von Karl Esselborn. Sie gaben, ohne den Anspruch eines interkulturellen Diskurses zu erheben, mit großem Aufwand erstmalig und exemplarisch Schriften deutschsprachiger Autoren heraus, die über Migration und Gast-Sein schrieben. Ihnen lag hauptsächlich daran, die Öffentlichkeit für die Gegenwartsfragen der Literatur und ihrer Wissenschaft zu sensibilisieren und dabei auf die Veränderungen in der literarischen Produktion aufmerksam zu machen. Auffällig ist zu diesem Zeitpunkt jedoch die Hervorhebung einer Grenze in der Form des Gastarbeiterdeutsch (Chiellino), die ein Fremd-Dasein suggeriert. Fremdheit wird kategorisch und widerstandslos vorausgesetzt und verortet die Literatur in einer Außenposition. Harald Weinrich etwa schrieb, die Gastarbeiterliteratur solle »ihren Beitrag zur deutschen Literatur leisten«.149 Aus den Bemühungen um die Rezeption dieser sogenannten Gastarbeiterliteratur einerseits und aus der Charakterisierung derselben andererseits kann man schließen, dass in diesen Jahren die Entwicklung einer mehrsprachigen Literatur zwar nicht geleugnet, ihr aber eine besondere Prägung zugeschrieben wurde. Helmut Kreuzer sieht in dieser Entwicklung solidarische Impulse mit Betroffenheitsgestus,150 die, so Karl Riha, ihren besonderen Charakter darin fänden, dass sie den Durchbruch 145  Haase: Literatur und Migration, 2008. 146  Hübner: Eine unübersehbare interkulturelle Vielfalt, 2008. 147   Kulaoğlu: Der neue ›deutsche‹ Film ist ›türkisch‹?, 1999, 8-11. 148  Fachinger: Yadé Kara’s ›Selam Berlin‹ and Fatih Akin’s ›Kurz und Schmerzlos‹ and ›Gegen die Wand‹, 2007, 258. 149  Weinrich: Gastarbeiterliteratur in der Bundesrepublik Deutschland, 1984, 13. 150  Kreuzer: Pluralismus und Postmodernismus, 1994, 14.

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bestimmter thematischer Trends herbeiführten.151 Diese bestimmten thematischen Trends sollten ihren Schwerpunkt auf Identität, Heimat und Sprache haben, was wirkungsgeschichtlich durchaus fraglich ist. Eine Würdigung soll dieser literarische Durchbruch durch den Adelbert-von-Chamisso-Preis findet, der auf Initiative von Harald Weinrich und der Robert-Bosch-Stiftung seit 1985 in Zusammenarbeit mit der Bayerischen Akademie der Schönen Künste München vergeben wird. Die Robert-Bosch-Stif tung beabsichtigt mit diesem Preis, »einen neuen Akzent in ihrer Förderung des Zusammenlebens von Deutschen und Ausländern« zu setzen.152 Ausländische Autoren und ihre Werke werden hierbei als »Chamisso-Enkel« und »Chamisso-Literatur« bezeichnet.153 Es ist nicht zu übersehen, dass die Gastarbeiterliteratur weniger durch den Preis selbst als vielmehr durch dessen Charakterisierung ihre Außenposition weiter beibehält. 1985 erhielt der damals bereits seit fünfzehn Jahren in Deutschland lebende Autor Aras Ören als erster den Chamisso-Preis, der als Preis für »bedeutende Beiträge zur deutschen Literatur von Autoren nichtdeutscher Muttersprache«154 definiert wurde. Örens Werke waren aber auf Türkisch geschrieben und konnten nur übersetzt die deutschsprachige Öffentlichkeit erreichen. Die Verleihung des Preises an Ören verdeutlicht deshalb auch, dass weniger die Sprache im Vordergrund steht, sondern vielmehr der Bezug zur deutschen Kultur.155 Etwa 20 Jahre später sieht Karl Esselborn in diesem Preis Versuche, »den Blick auf die kulturelle Dimension der Arbeitsmigration und speziell auf die literarischen Äußerungen der Migranten zu lenken, die von der deutschen Öffentlichkeit […] erst um 1980 langsam wahrgenommen wurden«.156

151   Riha: Zur Literatur der achtziger Jahre, 1994, 246. 152 Zitiert nach Esselborn: Der Adelbert-von-Chamisso-Preis und die Förderung der Migrationsliteratur, 2004, 317. 153 Siehe hierzu Friedrich: Chamissos Enkel, 1986; siehe zum Begriff »Chamisso-Literatur« Lamping: Deutsche Literatur von nicht-deutschen Autoren, 2011, 18-22; Weinrich: Chamissos Gedächtnis, 1992, 523-539. 154  Weinrich: Der Adalbert-von-Chamisso-Preis, 1986, 11. 155   Dieser Bezug wird in den Richtlinien des Chamisso-Preises insofern vorgesehen, als das übersetzte Werk vom Leben der Ausländer in Deutschland handle oder – in den Worten der Jury – wenn das Werk »von Deutschland her gedacht« sei und sein »eigentliches Lesepublikum im deutschen Sprachraum« habe (Weinrich: Der Adelbert- von-Chamisso-Preis, 1986, 12). Diese Rechtfertigung kann aus heutiger Sicht kaum überzeugen, denn der Leserkreis eines solchen Werks besteht sowohl aus Mitgliedern der Mehrheitsgruppe wie aus denen der Migrantengruppen, für die Deutsch in den 1980er Jahren eine Art lingua franca war. Außerdem bekräftigt das Prädikat »von Deutschland her gedacht« den egozentrischen Blickwinkel. Es ist ebenfalls fragwürdig, dass man in der Geschichte der deutschsprachigen Literatur den Franzosen Chamisso, der die Revolution von 1790 als junger Mann miterlebt hatte, später eine Kariere als Schriftsteller begann und dann im Mittelpunkt der deutschen Romantik stand, nicht als Migranten angesehen hat, insbesondere weil sein Werk Peter Schlemihls wundersame Reise (1814) thematisch sowohl von Migration handelt als auch von einem vorausschauenden Blick auf das allgemeine Schicksal der Migranten in seiner Zeit. War Chamissos Blick für damals ›modern‹ oder ist er es für heute? Würde man Peter Schlemihls wundersame Reise vor dem Hintergrund der beiden oben genannten Aspekte untersuchen, so käme man zu der Erkenntnis, dass die Geschichte einer sogenannten Migrationsliteratur in der deutschen Kultur weiter zurückreicht und einen anderen Anspruch erhebt, als bloß ›modern‹ zu sein. 156  Esselborn: Der Adelbert-von-Chamisso-Preis und die Förderung der Migrationsliteratur, 2004, 318.

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Die Bindung der Literatur an die den Autoren zugeschriebene Außenposition und an eine bestimmte Kultur, Geschichte bzw. Sprache schränkt den literarischen Diskurs erheblich ein. Entscheidend ist außerdem nicht bzw. nicht nur die Sprache allein, sondern auch die Kultur(en), von der (denen) das Werk seine Inspiration nimmt und der (denen) es wiederum Impulse gibt, und diese Kultur(en) ist (sind) wie die Gruppe der Preisträger selbst157 bei Weitem nicht homogen. Durch die spezifischen Voraussetzungen des Chamisso-Preises wird der außertextuellen Tatsache Rechnung getragen, dass Autoren der Gastarbeiterliteratur dem deutschsprachigen Raum nicht angehören, in ihn gezogen sind und dass die deutsche Sprache nicht ihre Muttersprache ist. Diese Verknüpfungen sollten sich, wie Karl Esselborns Beitrag zeigt, als wertende Kriterien des Begriffes Migrationsliteratur erweisen, die ihrerseits Unterscheidungsmerkmale in Trennungsmerkmale umwandeln. Die Umwandlung zeigt sich darin, dass die Gastarbeiter- bzw. Migrationsliteratur als nicht deutsch einem als deutsch definierten Kontext gegenübergestellt werden und eine normierte Auffassung von Literatur implizieren. Die Aufforderung, die Gastarbeiterliteratur solle einen Beitrag zur deutschen Literatur leisten, aktiviert insofern Exklusionsmechanismen, als mit ihr die deutschsprachige Literatur und Kultur als etwas Vorhandenes, die Gastarbeiterliteratur hingegen als etwas Hinzugekommenes determiniert wird; demnach soll sich das Hinzugekommene an das bereits Vorhandende durch das Leisten seines Beitrags assimilieren.158 – Aber: »Where does one national culture end and another begin?«159 Selbst Franco Biondi, der sich an Wittgensteins Philosophischer Grammatik orientiert und in der Sprache ein »ideographisches Korrelat« sieht, bemängelt, dass der Begriff Gastarbeiterliteratur Assimilierungsforderungen suggeriert, um diese Literatur zur Anpassung zu bewegen.160 Damit deutet er diejenigen (Macht-)Mechanismen an, die im Rahmen der Debatten über die Gastarbeiterliteratur entstehen und wirkungsgeschichtlich die Entwicklung161 des Begriffes Migrationsliteratur prägen. 157 Die Preisträger waren nicht nur Arbeitsmigranten, sondern auch in Deutschland lebende Autoren wie der im Iran geborene Autor Cyrus Atabay und der israelische Autor Elazar Benyoëz (Esselborn: Der Adelbert-von-Chamisso-Preis und die Förderung der Migrationsliteratur, 2004, 319). 158   Im Jahre 1987 warf Arlene Akiko Teraoka in ihrer Studie über Gastarbeiterliteratur: The Other Speaks Back (Cultural Critique, 1987, 77-101) in einer scharfen Kritik Weinrich und Ackermann einen erkennbaren Hang zu Arroganz und Überheblichkeit vor. Günther thematisiert diesen Vorwurf in Die Kolonialisierung der Migrationsliteratur, 2002, 151f. In beiden Beiträgen wird die Folge dieser Bezeichnung in der Verortung der Diskussion über die Migrationsliteratur in die sogenannte Auslandsgermanistik gesehen, was schließlich auch dazu führte, dass Migrationsliteratur bis Ende der 1990er Jahre dort ihr diskursives Feld gefunden hat (siehe zur Diskussion Esselborn: Der Adelbert-von-Chamisso-Preis und die Förderung der Migrationsliteratur, 2004, 322f.; Chiellino: Interkulturalität und Literaturwissenschaft, 2007, 389-391). 159  Adelson: Migrants and Muses, 2004, 912. 160  Biondi: Die Fremde wohnt in der Sprache, 1986, 25. 161   Karl Esselborn stellte 1997 eine Liste von insgesamt dreizehn Begriffen zusammen, die aus unterschiedlichem Blickwinkel die Karrieregeschichte des Begriffes Migrationsliteratur dokumentieren (Esselborn: Von der Gastarbeiterliteratur zur Literatur der Interkulturalität, 1997, 49). Die große terminologische Verwirrung des Begriffes reicht von Gastarbeiterliteratur (Schierloh: Das alles für ein Stück Brot, 1984; Hamm: Fremdgegangen, 1988) über Ausländerliteratur bis hin zu Literatur der Minderheiten (Reeg: Schreiben in der Fremde, 1988) und Literatur der Fremde in Deutschland. Schierloh orientiert sich an soziologischen und extra-linguistischen Analyseaspekten mit dem Schwerpunkt auf Arbeitsmig-

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2.2.2.3 Der Begriff Migrationsliteratur im Diskurs der Postcolonial Studies 1986 forderte Yüskel Pazarkaya, die Interpretation literarischer Bilder dem von der Lektüre ausgehenden spontanen Eindruck zu überlassen, anstatt sie einem »Erwartungsmuster oder gar einem Vorurteil«162 unterzuordnen. Diese Unterordnung lässt sich Pazarkaya zufolge als Reaktion auf einen Zustand verstehen, der wohl innerhalb der Grenzen der Europäischen Gemeinschaft intensives Nachdenken, höchste Aufmerksamkeit verdient, weil dieser Zustand, wie er von den objektiven Bedeutungen geprägt worden ist, in vieler Hinsicht menschenunwürdig ist und damit auch europaunwürdig.163 Pazarkayas Kritik am Begriff Gastarbeiterliteratur lässt sich nach fast drei Jahrzehnten wortwörtlich auf den Begriff Migrationsliteratur übertragen: Der Begriff »Gastarbeiterliteratur« setzt […] einen Automechanismus in Gang, der zumindest in den Vorstellungen der Leser eine Spaltung zwischen den Deutschen und den Ausländern herbeiführt, die uns in der Folge von der Literaturszene dieses Landes ausschließt. Aber nicht nur das, vielfach verleitet dieser Automechanismus auch uns Autoren, statt bürokratische bzw. systemimmanente Mechanismen einfach »Bundesrepublik Deutschland« zu sagen und von »den Deutschen« zu sprechen. […] Wir müssen selber durch die Rahmenbedingungen unseres literarischen Schaffens und durch die Qualität unserer Texte dafür Sorge tragen, daß wir von der Literatur dieses Landes nicht ausgegrenzt werden. Qualität ist nämlich der einfachste und kürzeste Weg zur Akzeptanz.164 Die Asymmetrie des Eigenen und des Fremden, die Unterstellung mangelnder Qualität und der Wunsch nach Akzeptanz verweisen auf bestehende Ausgrenzungsmechanismen, die nachfolgend das Interesse der Literaturwissenschaft auf sich ziehen sollte.165 Den Schwerpunkt machen hier insbesondere die Debatten der postkolonialen Studien aus. Sie interessieren sich für die Verschiebung der literarischen Figur vom Gastarbeiter zum Migranten und berücksichtigen Strategien, die zur Ausgrenzung dieser Figur führen.166 Die literarische Figur des Fremden und die des Migranten scheinen beide ration. Dabei werden anhand einer Reihe von Kriterien Zusammenhänge zwischen der Migrationsliteratur und ihrem, wie es heißt, ›natürlichen‹ Kontext untersucht. Heidi Rösch setzt in ihrer Dissertation bei der Definition der Migrationsliteratur die Annahme über außertextuelle Kriterien wie Herkunft, Sprache und Biographie einzelner Autoren voraus. Diese seien in erster Linie Migranten und Deutsch sei nicht ihre Muttersprache (Rösch: Migrationsliteratur im interkulturellen Kontext, 1992, 12, 14, 31-37). Zugleich verweist Rösch auf die mangelnde Berücksichtigung ästhetischer Verfahrensweisen bei der Analyse, ohne jedoch solche Mängel explizit zu benennen oder sie zu beheben. Für die heutige Diskussion relevant ist Petra Thores Überblick über eine Reihe von Verwirrungen im Begriff Migrationsliteratur (Thore: »wer bist du hier in dieser stadt, in diesem land, in dieser neuen welt«, 2004, 35-38). 162   Pazarkaya: Literatur ist Literatur, 1986, 60. 163 Ebd., 61. 164 Ebd., 63f. 165 Siehe vor allem Kliems: Migration – Exil – Postkolonialismus?, 2004, 287-300. 166   Dörr: Multi-, Inter-, Trans- und Hyper-Kulturalität und (deutsch-türkische) ›Migrantenliteratur‹, 2010, 86.

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Exklusionsstrategien ausgesetzt. Mit einem Rekurs auf die postkolonialen Studien in der germanistischen Literaturwissenschaft diskutiert dieser Abschnitt, dass der Begriff Migrationsliteratur in ihrer Entwicklungsgeschichte einer Vielzahl ähnlicher Mechanismen folgt, die ihn im interkulturellen Diskurs der Literaturwissenschaft zu einer Projektionsfigur des Fremden machen.167 Das Fremde-Machen des Migranten in dessen medialen Repräsentationsformen lässt sich im literaturtheoretischen Feld der postkolonialen Studien im Zusammenhang mit Wissensproduktion und Macht problematisieren. Grundlegend in diesem Zusammenhang ist eine bereits Anfang der neunziger Jahre geäußerte Kritik. Hier sah Leslie Adelson im Begriff Migrationsliteratur und in seinen Varianten eine »ethnozentrische Antwort auf die wachsende Präsenz von ethnischen und kulturellen Minderheiten«168 in den deutschsprachigen Gesellschaften. Von der Kritik an der ethnozentrischen Antwort aus erweitert Adelson ihren Blick auf die ambivalente Haltung der Gesellschaft gegenüber kulturellen Veränderungen. Der Begriff Migrationsliteratur scheint also für sie einem Widerspruch Ausdruck zu verleihen, denn mit ihm werden zwar ethnische und kulturelle Unterschiede willkommen geheißen, zur gleichen Zeit aber auch »domestiziert«; solch eine »doppelte Geste« könne kaum als eine durchdachte Reaktion auf kulturelle Umbrüche betrachtet werden: 169 Wenn wir uns Andersartigkeit als etwas vorstellen, was außerhalb eines vermeintlichen Zentrums liegt, so wie es der Terminus ›Migrantenliteratur‹ oder jeder der anderen im Wettstreit liegenden Begriffe impliziert, schließen wir genaue Analysen der ›Konstruktion‹ von Andersartigkeiten in deren sozialen, historischen, politischen und kulturellen Besonderheiten aus.170 Der Verweis auf die Kommunikationsanalyse kultureller Andersartigkeiten erweist sich vor dem Hintergrund der in Flussers Philosophie diskutierten Fähigkeit des Migranten, identitätsbildende Kontexte neue zu stiften, als anschlussfähig. Literarische Anspielungen auf den Verlust von Identität, Heimat, Sprache und Begegnungsproblematik der Kulturen durch die Figur des Migranten knüpfen bereits in der siebziger Jahre an das thematische Spektrum der Literatur an und zeigen so, wie diese literarische Figur ihre Fähigkeit zur Konstruktion neuer identitätsbildenden Kontexte ausschöpft. Dies geschieht in einem Zeitalter, in dem Europa den Weg zum globalen Denken einzuschlagen bemüht ist. In den neunziger Jahren vollzieht sich zwar kein entscheidender Wandel bei der Themenwahl, aber schon eine Verschiebung in Bedeutung und Bewertung der Motive und Themen, weil die wiedervereinte Bundesrepublik in dieser Zeit auch ihre eigene andere Seite zu entdecken beginnt. Diese Wiederentdeckung erfolgt literarisch in der Thematisierung der gleichen Bereiche. Eine negativ assoziierte Bewertung der Motive im Sinne des Verlustes büßt immer mehr an Relevanz ein. Fremderfahrung vollzieht sich nicht mehr außerhalb des eigenkulturel167   Dörr: »Gastarbeiter« vs. »Kanastas«, 2006, 145-165; Dörr: Deutschsprachige Migrantenliteratur, 18-23; Dörr: Multi-, Inter-, Trans- und Hyper-Kulturalität und (deutsch-türkische) ›Migrantenliteratur‹, 2010, 71; Ambrosioni: Global Exil, 2000, 261. 168  Adelson: Migrationsliteratur oder deutsche Literatur?, 1991, 70. 169  Ebd. 170 Ebd., 71.

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len Erfahrungshorizonts, sondern auf der Folie der Entfremdung im Sinne globaler Veränderungsprozesse. Hinzu treten literarische Ref lexionen über die Konfrontation mit eigenkultureller Krise wie etwa in Feridun Zaimoğlus Kanak Sprak (1995) und Abschaum (1997) und erproben mögliche Kommunikationsstrategien. Kanak Sprak ist eines der ersten Werke der deutschsprachigen Literatur mit dem Hauptanliegen, Migration und die Defizite in der Auseinandersetzung mit ihr literarisch zu thematisieren und dabei den Leser auf den Kulturwandel aufmerksam zu machen. Zaimoğlu gelang es mit diesem Werk, die Außen- und Randerscheinungen des Phänomens Gastarbeiter in dessen Generationsfolge zu beschreiben und dabei auf diejenigen Aspekte hinzuweisen, die den kulturalisierenden Status des Außenseiters konstruieren. Er schließt an einen thematischen Schwerpunkt an, der in der deutschsprachigen Literatur bereits Tradition hat. Ihm geht es um die Kluft zwischen dem Migranten- und dem Bürger-Status, die sich beispielsweise in Irena Habaliks Gedicht vor der auslandsreise (1987) bereits poetisch niedergeschlagen hat: sie fragen ihn gleich an der tür hast du eine einladung bevor du dorthin fahren darfst mußt du sie haben die einladung von einem anständigen bürger nicht von einem gastarbeiter […] warum eigentlich willst dorthin[?]171 Der literarische Migrations-Diskurs ist also bereits zu Anfang darum bemüht, Migranten nicht als »Außenseiter, sondern als Vorposten der Zukunft«172 zu betrachten. Gerecht wird Zaimoğlus Werk dieser Aufgabe insofern, als es Figuren nicht als Helden präsentiert, sondern als die gegen kulturalisierende Strategien protestierenden und Widerstand leistenden Akteure. Weder die Sprache dieser Figuren ist ganz korrekt, noch ihre Wortwahl gepf legt.173 Darüber hinaus wählt Zaimoğlu passend zu seinen Figurenkonstruktionen einen saloppen Umgangston. Die Figuren definieren ihre Rolle nicht durch die Suche nach einer höheren Bildung oder ein erfolgreiches Geschäft; vielmehr konstruieren sie Narrative der Migration in einem individuellen Modus 171  Habalik: vor der auslandsreise, 1987, 33f. 172  Flusser: Wohnung beziehen in der Heimatlosigkeit, 2013, 16. 173   Eine Kostprobe solcher Figuren lieferte Franco Biondi in seinem Gedicht Frescher Gastarbeiter (Biondi: Frescher Gastarbeiter, 1982, S. 99f.).

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der kulturellen Identifikation. Sie erleben ein Scheitern, einen Konf likt, aber keinen dauerhaften Bruch bzw. Verlust ihrer Identität: Weder wollen sie sich »im Supermarkt der Identitäten bedienen, [sic!] noch in einer egalitären Herde von Heimatvertriebenen aufgehen«.174 Sie leben in ihrer »Vorstellung von Selbstbestimmung«, um gegen die »Individuation«,175 die ihnen vorenthalten geblieben ist, vorzugehen. Mit Kanak Sprak wird Figuren am Rande der Gesellschaft eine Stimme verliehen, die ihre Kraft aus der Spannung zwischen einer vorgestellten und einer ersehnten Heimat bekommen. Ein solcher Widerstand und Anspruch wird in Şadi Üçüncüs Gedicht Integration poetisch zum Ausdruck gebracht: […] dann fühle ich mich in dieser fremden Gesellschaft, in der Du und Ich nebeneinander, miteinander und für einander leben, icht mehr als Fremder, als Ausländer.176 Auch Jean Apatride gibt dieses Gefühl des Widerstands und Anspruchs in der Formulierung »Fremdling überall,/in fremder Zunge« wieder.177 Ref lexionen über diese Gefühle wurden jedoch anfänglich zum Anlass genommen, um die Literatur als »Literatur der Betroffenheit«178 zu bezeichnen. Einige weitere Bezeichnungen kamen hinzu, darunter auch »Ausländerliteratur«,179 eine »Literatur zwischen Minderheit und Mehrheit«180 und eine »Brückenliteratur«181. Es ist allerdings merkwürdig, warum infolge dieser literarischen Erscheinungen, die hier nur exemplarisch erwähnt wurden, der literaturwissenschaftliche Diskurs sich weiterhin an der Idee einer Brückenliteratur orientiert, obwohl Migranten diese Brücke bereits längst hinter sich gelassen haben. Die Brücke impliziert nicht nur Verbindung, sondern die Voraussetzung bestehender Ufer und Pole. In diesem Zusammenhang verläuft die Interpretation der Migrationsliteratur im Kontext eines kulturellen Dazwischen und so auch auf der Grundlage von Theorien der Hybridität. Aber was für einen Erkenntniswert können sie versprechen? Was das Konzept der Hybridität beansprucht, ist die Möglichkeit einer innovativen Kritik an der kulturellen Situation der beginnenden 1990er Jahre.182 Der Begriff der Hybridität selbst aber ist 174   Zaimoğlu: Kanak Sprak, 2011, 17. 175 Ebd., 18. 176   Üçüncü: Integration, 1987, 221. 177  Apatride: Dein Brot schmeckt dir fremd, 1982, 13. 178 Biondi et al.: Literatur der Betrof fenheit, 1981, 124. 179 Ackermann et al.: Eine nicht nur deutsche Literatur, 1986, 55. 180  Schami: Eine Literatur zwischen Minderheit und Mehrheit, 1986, 55. 181   Şenocak: Plädoyer für eine Brückenliteratur, 1986, 65. 182   Greenblatt: Culture, 1995, 225.

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sehr weit gefasst, wird in den Kulturtheorien hinsichtlich seiner Intension und Extension unterschiedlich definiert und verfügt über kein systematisches und fundiertes Theoriepotential.183 Das Hybriditäts-Konzept entstand in den Auseinandersetzungen der Postcolonial Studies und erfuhr in den Debatten in Deutschland weitere spezifische Erweiterungen. Befasst man sich mit ihm näher, so beschreibt es nach Roger Bromley den Globalisierungsprozess zwar nicht monolinear oder universal, aber der Begriff Hybridität selbst sorgt für Schwierigkeiten, denn er stammt aus der Zucht- und Ackerkultur und aus den rassistischen Diskursen des 19. Jahrhunderts.184 Insofern sind für Bromley die Konzepte von Interkulturalität und Synkretismus, weil sie aktives Handeln und das Potential unterschiedlicher oder gegensätzlicher Kontexte grundsätzlich nicht allein betonen, sondern überhaupt voraussetzen,185 durchaus hilfreicher als das der Hybridität.186 In Bhabhas The Location of Culture (1994)187 hinterlässt das Hybriditäts-Konzept eine signifikante Wirkung in der Unterscheidung zwischen cultural diversity 188 und cultural

183   Unter allen Definitionen ist hier diejenige relevant, die wie etwa in Streckers Zusammenhang Hybridität und Kultur in einen Zusammenhang bringt (Strecker: Multikulturalismus und Hybridität, 2002, 89-107). Es wird zumeist Heterogenität gefordert, um das Konzept als »Begegnung, Zusammenkunft von Kulturen, als kulturelle, ethnische, religiöse Vielfalt« zu verstehen (Toro: Jenseits von Postmoderne und Postkolonialität, 2002, 34-38; 40-42, hier  34). Hybridität kann kultursemiotisch auch als »ein Archilexem verstanden werden, das ethnische, soziale und kulturelle Elemente der Andersheit in ein kulturelles und politisches Handeln einbindet, in dem Macht und Institutionen eine zentrale Rolle spielen« (ebd., 37). 184   Bromley: Cultural Studies gestern und heute, 1999, 23-24. Bromley nimmt das interaktive Handeln als Angelegenheit kultureller Überlappungen bereits als gegeben an. In Streckers Analyse aber wird Hybridität erst durch die Annahme über die prinzipielle Veränderbarkeit der kulturellen Zugehörigkeit erreicht (Strecker: Multikulturalismus und Hybridität, 2002, 89-107). 185 Vgl. hierzu Pieterse: Globalization as Hybridization, 1995, 45-68. 186   Wenn das Konzept der Hybridität grundsätzlich von einem aktiven Handeln im Sinne Bromleys ausgeht, warum sollen dann kulturelle Überlappungen, Durchkreuzungen und das aktive Handeln als Ideal einer intakten und homogenen Gesellschaft betrachtet werden? Wenn all das tatsächlich als kulturelle Notwendigkeit betrachtet wird, was für einen Sinn ergibt sich daraus, Migranten als Akteure kultureller Überlappungen, Durchkreuzungen und des aktiven Handelns zu sehen, von ihnen aber gleichzeitig Assimilation zu verlangen? 187   Die Rezeption von Bhabhas Schriften in Deutschland erfolgte in zwei Schritten: Zunächst wurden sie in drei Aufsätzen in einem Sammelband mit Beiträgen zur anglo-amerikanischen Multikulturalismus-Debatte im Jahr 1997 zugänglich gemacht (Bronfen et al. (Hgg.): Hybride Kulturen, 1997, 1-29). The Location of Culture erschien im Herbst 2000 in der deutschen Übersetzung von René Aguigah unter dem Titel Die Verortung der Kultur. 188  Cultural diversity unterzieht den homogenisierenden Kulturbegriff, der an die Vorstellung glaubt, Kulturen seien nebeneinander geordnete und sich klar voneinander unterscheidende Mosaike, einer scharfen Kritik, zeigt aber dabei auch auf Defizite des Hybridität-Konzepts: Zwar weist cultural diversity Pluralisierungstendenzen auf, dupliziert aber die monokulturalistischen Paradigmen, anstatt Prinzipien zu erfassen, welche heterogene, unabgeschlossene und differenzierte Formen von Kulturen prinzipiell in ein Netzwerk einflechten (siehe zu dieser Kritik ausführlich Eagleton: The Idea of Culture, 2000).

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dif ference 189 und wäre demnach als Versuch einer Problematisierung – und nicht einer Auf lösung190 – des statischen und populären Kulturbegriffes zu verstehen. Das Potential von cultural dif ference liegt in der Auffassung von der Existenz verschiedener Zeichen und unterschiedlicher kultureller Codes. Anders als die Vorstellung von klar abgrenzbaren Kulturen tritt mit der Hervorhebung von differierenden kulturellen Codes das Konzept der Semiose ins Zentrum, das kulturelle Zeichen und Bedeutungen von vornherein als prozessual generiert, perspektivisch organisiert und interpretierbar denkt.191 Mit der Konzeption der cultural dif ference versucht Bhabha, komplexe Wechselwirkungen, Vernetzungen, Überlappungen und Differenzen in den Blick zu nehmen, die ein Bild der kulturellen Koexistenz und der sich verändernden, nur bedingt kohärenten und somit heterogenen Gesellschaften vermitteln. So sind Kulturen keine stabilen Größen, sondern die Artikulation einer gegenwärtigen Situation unter Bedingung und Relevanz individuellen Seins. Situationsgebundene Strategien verlangen nach Kommunikation und Verhandlung, die für Bhabha Momente der Ungewissheit (uncertainty) und der Unentscheidbarkeit (undecidability) voraussetzen.192 Die Kritik, die grundsätzlich an Bhabhas Kulturkonzept geäußert wird, richtet sich gegen dessen widersprüchliche Tendenzen, denn das Konzept spricht zwar über Pluralität, geht jedoch von monokulturalistischen und binär organisierten Paradigmen aus, anstatt der Tatsache Rechnung zu tragen, dass Kulturen nicht monolithisch sind. Aus dem Diskurs der Hybridität folgt die Erkenntnis, dass jede Frage, die sich mit den Phänomenen Identität, Alterität, Nation und Migration befasst, eng mit dem Phänomen der Überlappung zusammenhängt; dieses bringt im Hybriditäts-Konzept zwar eine Liminalität hervor, das Konzept selbst aber leitet den liminalen Raum der Kultur aus Dichotomien, ohne die der Begriff Third im Thrid Space seinen Referenzbereich verlöre.

189 Eine andere durchaus produktivere Konzeption formuliert Bhabha auf Derridas dif férance-Begriff zurückgreifend durch cultural dif ference. Sie sei deshalb produktiv, weil sie ausgehend von dif ference als der Idee über die kulturelle Vernetzung für Anschlussmöglichkeiten sorge. Die Suche danach erweist sich für Bhabha in der Auseinandersetzung mit unterschiedlichen kulturellen Codes innerhalb eines anhaltenden Prozesses, der inmitten einer Kultur stattfindet und »stets erneut Vermittlungs- und Sinnstiftungsleistungen erfordert« (Kley: »Beyond Control, but not Beyond Accommodation«, 2002, 57). Über die Auffassung von einem prozessualen Kultur-Begriff hinaus liegt der Vorteil dieser Konzeption auch in der »Betonung der situationsgebundenen Konstruiertheit von Kultur« und in der Auffassung von der »prinzipiellen Unabgeschlossenheit« kultureller Prozesse (ebd., 58). Im Gegensatz zu einer eindimensionalen Assimilation versucht Bhabha, einen Prozess komplexer Wechselwirkungen und Rückkoppelungen zu denken, der kulturelle Veränderungen, Erneuerungen und heterogene Gemeinschaften berücksichtigt. Davon ausgehend werden in der Forschung nur Systeme als hybrid bezeichnet, die »sich auf eine Komplexitätssteigerung beziehen, welche nur noch durch Kombination unterschiedlicher Modelle und Verfahren zu beschreiben sind« (Schneider et al. (Hgg.): Hybridkultur, 1997, 19). 190   Hybridität liefert insofern keine Lösung, als die durch die Hybridität postulierte Mischung in einem Zwischenraum auch Trennung dichotomischer Räume impliziert, sogar voraussetzt. Selbst die Annahme eines Zwischenraums ist der Effekt einer Lektüreperspektive, die dazu neigt, von mindestens zwei unterschiedlichen Räumen auszugehen, um einen Zwischenraum entstehen zu lassen (Adelson: Against Between, 2001). 191  Bhabha: The Location of Culture, 1994, 25f. 192 Ebd., 35.

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Weniger aus dem Begriff selbst, sondern vielmehr aus den Erkenntnissen, die das Konzept der Hybridität in seiner kritischen Phase zum Vorschein bringt, lässt sich eine Reihe von Konsequenzen bei seiner Anwendung auf die Analyse von literarischen Texten ziehen: Klar ist zunächst, dass sich im literarischen Text Mischungen vollziehen; der Text-Ort ist also kein homogenes Gebilde kultureller Poetiken. Unklar ist aber, wie diese Mischungen entstehen und wie sie analysiert werden sollen. Erschwert wird die Antwort auf diese Fragen insbesondere deshalb, weil Dichotomien als Grundvoraussetzung hybrider Konstruktionen im Vordergrund stehen.193 Auf dichotomische Repräsentationsformen der Kultur und ihre literarischen Konstruktionen ging bereits Edward Said in Orientalism (1978) ein und betrachtete diese Formen und Konstruktionen in diskurstheoretischer Anlehnung an Foucault als Strukturen der auktorialen Autorität, welche sich in der Deutungsmacht fremder Kulturen in der westlichen Perspektive offenbart. Foucaults Konzeption der Diskursformationen in L’Archéologie du savoir diskutiert, dass die Macht nicht nur von zentralen Einrichtungen ausgeht, sondern sich innerhalb eines Netzes von Beziehungen von unten und quer durch alle Schichten der Gesellschaft entfaltet. Diese These brachte neue Sichtweisen in den Kulturtheorien und in den Debatten der Postcolonial Studies. Foucaults Koppelung von Wissensproduktion und Macht in den Institutionen ermöglichte Said unter Einbeziehung literarischen Materials, die Produktion von Kultur, Wissen und kolonialer Macht in Frage zu stellen. Seine kritische Denk- und Wissensstruktur basiert auf einer binären Opposition zwischen Kolonisierten (dem Orient) und Kolonisatoren (Europa). Nach den Theorien des Orientalism entstehen die Machtstrukturen in dieser Dichotomie durch die geopolitischen Verhältnisse, Umgangsweise und imaginäre Produktion. Obwohl Orientalism seine Theorie aus einer auf die Kolonialmächte Frankreich und England eingeschränkten Perspektive diskutierte und die Diskussion nur auf das 19. und 20. Jahrhundert begrenzte, konnten Überlegungen über die imaginäre Produktion des Orientalischen in dessen Abgrenzung vom Okzident auch in die Germanistik Eingang finden und hier das vom Orientalism nur am Rande diskutierte deutsche Phänomen besprechen. Mit der dichotomischen Opposition befasst sich Nina Berman und sieht in ihr das »häßliche Gesicht der Ausgrenzung«.194 Die Macht der Kolonisatoren bestehe, so Berman, in den Semantiken, welche die Literatur im Spannungsverhältnis zwischen der westlichen Perspektive auf die externen orientalischen Kulturen und der binnengesellschaftlichen Perspektive Europas auf Einwanderer aus den orientalischen Kulturen versetze.195 Die Einwanderer werden also zum Gegenstand literarischer Perspektivierung westlicher Vorstellungen. Die Figur des Migranten wird auf diese Weise nicht als Akteur, der am Gewebe der 193   Der Literaturwissenschaftler und Kulturtheoretiker Alfonso de Toro versteht Hybridität als ein Konzept zur Untersuchung differenzierter Organisationsformen. Er unterscheidet drei Bedeutungsbereiche der Hybridität: In ihrer Anwendung auf Kultur bedeutet Hybridität Begegnung und Zusammenkunft von Kultur(en), womit sie eine Vielfalt im religiösen, ethnischen und kulturellen Sinne hervorbringt. Auf das Zeichensystem übertragen, bedeutet Hybridität den Einsatz verschiedener Medien, Ästhetiken, Produkte etc. Sie umfasst aber auch den unmittelbaren Lebensbereich wie Städte, Natur, Ökologie und Politik und wird dabei als vielfältige Organisationsform verstanden (Toro: Jenseits von Postmoderne und Postkolonialität, 2002, 34). 194  Berman: Historische Phasen orientalisierender Diskurse in Deutschland, 2007, 79. 195  Berman: Karl May im Kontext von Kolonialismus und Auswanderung, 2007, 199-209.

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Kultur partizipiert, verortet, sondern steht außerhalb der Kultur. Folglich agiert Literatur als Darstellungsmedium des Fremden und nicht als ästhetische Form kultureller Repräsentationen. Für Berman beziehen sich die veränderten Formen des politischen und sozialen Gefüges nicht allein auf die Zeitspanne zwischen 1989 und der Gegenwart, sondern umfassen einen weiten historischen Rahmen zwischen 1000 und 1989, wie Berman in ihrer Studie über German literature on the Middle East (2011) nachweist. Am Beispiel der literarischen Orient-Diskurse werden insgesamt fünf Entwicklungsphasen unterschieden; die fünfte Phase setzt im Jahre 1945 ein, umfasst die innereuropäische Dimension soziopolitischer Entwicklungen und die Diskussionen über veränderte soziale und politische Strukturen infolge der Migration. Hinsichtlich literarischer Repräsentationsformen wird in Bermans Studie deutlich, dass die Figur des Migranten wie einst die Figur des Orientalen starken Ausgrenzungsmechanismen unterworfen ist, die teils den gesellschaftspolitischen Diskurs und teils rassistisch-gesellschaftliche Strukturen in den sozialen, ökonomischen, politischen und kulturellen Bereichen widerspiegeln.196 Mit Bermans These lässt sich Iulia-Karin Patruts Ansatz eines »binneneuropäischen Kolonialismus«197 verbinden. Mit Blick auf die Poetik des Anderen sucht Patrut, ihre These über die Entstehung eines in Europa bis weit in das 19. Jahrhundert zurückreichenden Diskurs-Raumes nach kolonialem Muster zu begründen. Am Beispiel von West- und Osteuropa argumentiert sie im Anschluss an Petra Günthers Die Kolonialisierung der Migrationsliteratur (2002), dass sich der koloniale Ton verschärfe, je stärker Homogenisierungen ethnischer Gruppen wie Juden, Zigeuner und sonstige osteuropäische Völker im Sinne der Semantisierung des Orientalen geschehen.198 Für das (auch erweiterte) Konzept des Orientalism charakteristisch ist, folgt man Gayatri Chakravorty Spivak in In other Worlds (1998), dass im deskriptiven Diskurs des Fremden das Eigene stets mitref lektiert wird. Das Fremde und Eigene können demnach keine binären Fronten bilden, sondern ein In-Between, mit dem Homi Bhabha den essentialistischen Diskurs der Kultur hinterfragt. Asymmetrische Kommunikationsund Verhandlungsmomente erzeugen Verunsicherungen, wo man sonst Sicherheit und Gewissheit erwarten würde. Bhabha bezeichnet diesen Ort der Verunsicherung als treshold und betrachtet ihn als Voraussetzung jeder Form kultureller Vermittlung; die verunsicherte Position wird nach Bhabha in the third space lokalisiert.199 Betrachtet man den third space als eine prinzipiell in jeder kulturellen Interaktion angelegte Voraussetzung für Verstehensmöglichkeiten, zu welchem Sinn und Zweck soll dann nach

196   »Was in Kanada oder den USA gesetzlich als ›civil rights‹ geschützt ist, fällt in Europa islamophoben Vorstellungen zum Opfer. Zwischen offener Bejahung der christlichen Wurzeln Europas und vermeintlich säkularen Grundgesetzen zeigt sich das hässliche Gesicht der Ausgrenzung« (Berman: Historische Phasen orientalisierender Diskurse in Deutschland, 2007, 79). 197  Patrut: Kafkas ›Poetik des Anderen‹, 2012, 262. 198 Ebd., 262f. 199   »This third space displaces the histories that constitute it, and sets up new structures of authority, new political initiatives, which are inadequately understood through received wisdom« (Bhabha: The Third Space, 1990, 211).

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einer anderen Instanz gesucht werden, damit ein dichotomer Raum entsteht, aus dem wiederum ein dritter Raum gewonnen wird.200 Der Raum des In-Between entsteht in den literaturwissenschaftlichen Studien basierend auf der Idee über das Durchbrechen tradierter Grenzziehungen und entwickelt sich zu imaginären Schnittstellen bzw. Kontaktf lächen, in denen unterschiedliche Erfahrungshorizonte und Wertvorstellungen in der fiktiven Welt aufeinandertreffen und ästhetisch neu austariert werden. Räume dieser Art sollen die Anerkennung hybrider Existenzformen einfordern, die Verortung von Subjekten multipel ermöglichen sowie kulturelle Differenzen und mit ihnen auch die prinzipielle Unabgeschlossenheit kultureller Systeme hervorheben.201 Dennoch sorgt das In-Between in den Kulturtheorien weiterhin für Problematik, weil es den Eindruck erweckt, es ginge darum, den kulturellen Kontakt und die interkulturelle Begegnung zwischen einer vordefinierten Kultur wie etwa Leitkultur und dem, was sich außerhalb von ihr befindet, voranbringen zu wollen, und nicht innerhalb der Kulturprozesse selbst.202 Bhabhas kulturtheoretische Ansätze wurden Mitte der neunziger Jahre auch von der germanistischen Interkulturalitätsforschung rezipiert. Während die deutschsprachige Übersetzung von Bhabhas Hauptschrift erst ab 2000 zur Verbreitung der Theorie über das In-Between in Deutschland beitrug, stellte Adelson 2001 ihre These über Against Between auf, und zwar mit dem Verweis auf diejenigen Autoren, die keine eindeutige Zuordnung zu einer nationalen Literatur aufweisen, oder aufweisen wollen. Explizit richtet sich ihre Kritik gegen das In-Between als mittelbaren Versuch einer Nationalisierung der Literatur, die erlaubt, solchen Autoren eine In-Between-Position überhaupt zuzuschreiben.203 Diese In-Between-Position wird durch eine dichotomisierte Kultur erst geschaffen. Im Anschluss an die Debatten über kulturelle Veränderungen in Europa am »Turn of the Millennium«204 bemerkt Adelson, dass eine produk200   Siehe zur Diskussion vor allem Viljoen et al. (Hgg.): Beyond the Treshhold, 2007. 201   Gutjahr: Von der Nationalkultur zur Interkulturalität, 2006, 92-95. 202   Zu dem innerdeutschen Diskurs gehört die Auseinandersetzung mit Migration ebenso wie die mit den kulturellen Entwicklungen seit der Wiedervereinigung Deutschlands. So betont Andreas Dresen in einem Gespräch mit Christine Haase und Martin Kagel, dass in Deutschland von zwei Wahrheiten die Rede sei: »The simple truth for East German is of course that things weren’t really all that bad, or that everything was really horrible, either one or the other. If you step into the zone in-between, it becomes complicated. Most East Germans don’t like that. But the West Germans don’t like it either, because then their simple truths fall apart and one has to begin to relate« (Haase et al.: I am interested in the truths in-between, 2009, 166). Was man im Anschluss an Dresen über das In-Between vielleicht sagen kann, wäre, dass es sich hierbei nicht um einen Raum an der Schnittstelle von zwei Räumen handelt, sondern um einen Relativitäts-Raum innerhalb der Kultur selbst. Von kulturellen Wahrheit-en zu sprechen, relativiert den Kulturbegriff und die Vorstellung von einer einheitlichen und unveränderbaren Kultur unmissverständlich und bekräftigt die Ansicht, dass Kultur den Ort ihres Diskurses im Grunde selbst konstruiert. Katharina Gerstenberger und Patricia Herminghouse verweisen in ihrem Beitrag German Literature in a New Century auf Diskurse innerhalb der deutschsprachigen Kulturen im literarischen Diskurs, wenn sie von Wenderomanen, Holocaust-Diskursen und von ihrer Zugehörigkeit zur deutschsprachigen Literatur sprechen (Gerstenberger et al.: German Literature in a New Century, 2008, 1-11). 203  Adelson: Against Between, 2001, 244-255. Auf Deutsch erschien Adelsons Beitrag unter dem gleichen Haupttitel in 2006, 36-46. 204  Lützeler: Postmoderne und postkoloniale deutschsprachige Literatur, 2009, 35.

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tive und zukunftsweisende kulturelle Praxis sich vor allem darin realisieren sollte, wie kreativ das Engagement bei den Auseinandersetzungen mit sozialem und kulturellem Wandel ist, zumal die rapiden Veränderungen durch Globalisierung, erleichterte Migrationsbedingungen und Mobilitätsmöglichkeiten europäische Gesellschaften immer mehr mit neuen Herausforderungen konfrontieren und zu entscheidenden Verschiebungen und Überlappungen bewegen. Einer Kategorie wie der des In-Between fehle aus Adelsons Sicht jegliche Kreativität, weil sie die Ausschlussmechanismen erst aktivierte.205 Die kreative Rolle der Literatur solle nach wie vor darin bestehen, gegenüber sozialen, politischen und kulturellen Veränderungen und Herausforderungen Position zu beziehen.206 Folgt man diesem Anspruch mit Blick auf den Begriff Migrationsliteratur, so stellt man fest, dass die Annahme eines In-Between für die Literatur bedeutet, Migranten zunächst eine Position außerhalb einer vordefinierten Kultur zuzuschreiben, die nur dann relativiert werden könnte, wenn Migranten eine Position in einem In-Between bezögen. Aber genau dies scheint nicht der Fall zu sein. Dass Migration grundsätzlich kein Phänomen eines kulturellen Außerhalb darstellt, sondern umgekehrt Umstrukturierungen und Reorganisationsprozesse in der Kulturgeschichte Europas vorantreibt, untersucht Saskia Sassen in ihrem Buch Migranten, Siedler, Flüchtlinge über eine zweihundertjährige Migrationsgeschichte. Sie unterscheidet drei Zeitspannen, die auch die innereuropäischen Migrationsbewegungen beeinf lusst haben: die Zeit um 1800, nach 1848 und die Zeit der Bildung von Nationalstaaten. Der Begriff Migration finde nach Sassen bereits seit der Gesellenwanderung von Handwerkern im Mittelalter Verwendung und sei dann in den Napoleonischen Kriegen (1792-1815) an militärische Auseinandersetzungen und religiöse Verfolgung gebunden. Eine andere Form der Arbeitsmobilität vor dem 19. Jahrhundert ist das der Saisonwanderungssysteme über große Entfernungen mit durchaus positiven Auswirkungen wie etwa in Amsterdam. Neben Auswanderungsbeschränkungen im 17. und 18. Jahrhundert in Frankreich, Skandinavien und England ist nach Sassans Untersuchung die Entwicklung einer neuen Wirtschaftsordnung seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in friedlichen Teilen Europas mit einem wirtschaftlichen und demographischen Wachstum zu verzeichnen, die Migrationsbewegungen fördert. Eine dieser wichtigen Entwicklungen ist die »Kolonisierungsmigration«.207 Das Jahr 1848 gilt als Wendepunkt der binneneuropäischen Migrationsgeschichte, denn hier erheben sich bürgerliche Revolutionen gegen die herrschenden Mächte der Restauration und deren soziopolitischen Strukturen. Es entsteht der Plan zur Abschaffung von Familiendynastien und zum Auf bau einheitlicher Nationalstaaten.208 Dieser Zeitraum scheint Sassen insbesondere im Hinblick auf technische Fortschritte relevant zu sein, denn verbesserte Verbindungswege und Techniken erleichterten den Transport von

205  Adelson: Against Between, 2001, 245. 206   Rushdies »internationale Republik der Autoren« zeugt von solch einer Positionsbeziehung allein dadurch, dass sie »eine andere Art von Land« verkörpert. Man könnte mit Foucaults Andere Räume meinen, die »internationale Republik der Autoren« gestaltete einen heterotopischen Raum. 207  Sassen: Migranten, Siedler, Flüchtlinge, 2000, 35. In dieser Zeit bilden Ostengland, das Pariser Becken, Madrid, die Küstengebiete von Katalonien bis zur Provence, Mailand und Turin, Mittelitalien (südliche Toskana, Latium, die Inseln Korsika und Elba) und die Nordseeküste die Migrationsziele. 208 Ebd., 47-66.

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Gütern und Arbeitskräften und förderten die Mobilität von Kapital und Arbeitskraft; mit ihnen begann eine new immigration.209 Arbeit und Mobilität einerseits und Versuche nationalstaatlicher Identitätsbildung andererseits zeigen, wie stark Migrationsprozesse und die Bildung von Nationalstaaten im 19. Jahrhundert miteinander verf lochten sind. Wie verschiedenartig diese Prozesse sind und wie die jeweiligen Staaten mit Hindernissen umgehen, erörtert Sassen am Beispiel Deutschlands mit einer begrenzten Einwanderung, Frankreichs mit Befürwortung einer dauerhaften Immigration, Italiens als größten Emigrationslandes und unterstreicht den historischen Fakt, dass Probleme der Einwanderungspolitik bereits hier beginnen und sich während der beiden Weltkriege und bei Vertreibung, ethnischer Säuberung und Massenf lucht vervielfachen. Diese Probleme sind »nicht nur in wirtschaftlichen und geographischen Entwicklungen, sondern auch in der Nation und ihrer politischen Kultur verwurzelt«,210 lautet das Fazit. Migration entstehe, schlussfolgert Sassen, »nicht zufällig«, sondern werde »produziert, strukturiert und in historische Phasen eingebettet«.211 Deutschlands Modell der zeitlich begrenzten Einwanderung212 konfrontierte folglich die Gesellschaft und die in sie immigrierten Menschen mit Herausforderungen, die zum großen Teil noch heute Strukturen vorgeben. Dass diese Herausforderung weiterhin als Hindernis betrachtet wird, zeigt der politische Diskurs, der aufgrund seines starken Exklusionspotentials mehr Konf likte erzeugt als Lösungen bietet. Analysierte man das Phänomen der Migration im Kontext der Hybridität, so liefe man Gefahr, es aus seinem kulturell kontinuierlichen Kontext zu lösen, um durch ihre Konfrontation mit einer Mehrheitskultur einen Raum des In-Between zu gewinnen. Diese Strategie würde die Bildung von Innen- und Außenräumen und die Amalgamierung von Ausgrenzungsmechanismen bestätigen. Die Idee des In-Between und third space ref lektiert diese Position des Migranten, der weder zu dem einen noch zu dem anderen Kulturbereich gehört. In diesem Kontext erzeugt der Begriff Migrationsliteratur ein zweifaches Verständnis: Es wird stillschweigend eine nationale Hegemonie vorausgesetzt, die kulturpolitisch in den Begriffen des Nationalstaates und der Leitkultur zum Ausdruck gebracht wird; ihr gegenüber stehen dann die Migranten. Der Raum des In-Between sollte schließlich zu ihrer Zusammenführung beitragen. Spätestens die Charakterisierung der Migrationsliteratur als »toter Kadaver«213 bewegte die literarische Öffentlichkeit zu einem Nachdenken über vorherrschende theoretische Modelle sowie über mögliche Bezeichnungsvarianten, die wirkungsgeschichtlich einen Postmigration Turn einleiten sollten. Eine Ausweitung des Diskussionshorizonts, die nicht zwangsläufig zur Klärung beigetragen hat, erfolgte durch den verwirrenden Begriff der »Diaspora-Literatur«, unter den hauptsächlich deutsch-jüdische und deutsch-türkische Literatur gefasst wurden.214 Ein weiteres Alternativkonzept wurde im Kontext der multikulturellen Literatur diskutiert, die 209 Siehe hierzu Sassen: The Mobility of Labor and Capital, 1988. 210  Sassen: Migranten, Siedler, Flüchtlinge, 2000, 67. 211 Ebd., 174. 212 Ebd., 69-80. 213   Zaimoğlu et al.: »Migrationsliteratur ist ein toter Kadaver«, 2006, 159-166. 214   Jordan: More than a Metaphor, 2006, 488-499; siehe zur Kritik Dörr: ›Third Space‹ vs. Diaspora, 2009, 5976.

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schon bei ihren Produzenten selbst (Zaimoğlu) auf Kritik stieß. Weitere Ansätze kamen etwa seit 2000 hinzu, die sich vor allem an Homi K. Bhabhas Idee eines third space orientierten und diesen Raum als »space of potentiality where new cultural combinations can be experimented with and performed«215 betrachteten. Die Theorie der Hybridität wurde dann durch das Konzept der Hyperkulturalität als Effekt von Globalisierung überboten. Mit Hyperkulturalität wurde zum einen die postkoloniale Perspektive relativiert und zum anderen auf Momente der Pluralität, Komplexität und Selbstbestimmung angespielt.216 Als Bezeichnung für zwei- oder mehrsprachige Texte wurde »Literatur der Vielsprachigkeit«217 vorgeschlagen, als deren Kriterium das Auslösen von Befremdung, Irritation und Verunsicherung beim Rezipienten gelten sollten. Nicht selten wird im Zusammenhang mit der Vielsprachigkeit auch Wolfgang Welschs Theorie der Transkulturalität zur Analyse literarischer Texte herangezogen.218 Die Wirkungsgeschichte des Begriffes Migrationsliteratur zeigt, dass er sich nicht nur etablieren, sondern innerhalb dieser Kontexte auch profilieren konnte. Die seit der Mitte der neunziger Jahre andauernde Begriffsdebatte bewegt sich im Wesentlichen zwischen zwei Ansichten, die von Karin Hoff auf den Punkt gebracht und von Volker Dörr ausgeführt werden: Es geht um »Literatur der Migration – Migration der Literatur«, wobei »Literatur der Migration« als »Grenzraum zwischen Sprachen und Kulturen« definiert wird.219 Mit dieser Interpretation wird insofern Anschluss an die Postcolonial Studies und an die Theorie der Hybridität gesucht, als man den Grenzraum selbst als hybrid auffasst. Eine solche Auffassung aber, sollte man kritisch anmerken, setzt die Dichotomisierung der Perspektive voraus und wirkt gegen die Annahme über Kultur in Bewegung, was Hoff dazu veranlasst, den Begriff Migrationsliteratur als »obsolet«220 zu bezeichnen. In der Mobilität von Kultur und Literatur sieht Hoff vielmehr den Gebrauch von »Migration der Literatur« begründet und liefert mit der Kontrastierung von »Literatur der Migration – Migration der Literatur« die Grundlage, auf die Volker Dörr mit der Frage auf baut, »ob allein die Rezeption die Migrationsliteratur erst schafft«, oder ob sie tatsächlich von sich aus »ein eigenes Feld schafft«.221 In dieser Frage versucht er, den Begriff Migrationsliteratur durch die Unterscheidung von Form und Inhalt präziser zu fassen, wobei im ersten Falle von einer »Migrantenliteratur« und im zweiten von einer »Migrationsliteratur« zu sprechen sei. Dennoch ergeben sich weitere Probleme, die Dörr selbst einräumt. Zu den wichtigsten Punkten gehört die Festlegung einer »Produzentengruppe auf ein bestimmtes Produkt«,222 das spezifische »Erwartungshaltungen«223 bestätigen soll. An Dörrs Ausführungen wird zweierlei 215   Jordan: More than a Metaphor, 2006, 490. An dieses Modell schließen Konzepte mit dem Versuch an, Theorien über Kultursynthese und Kulturtransfer auf den Diskurs der Literatur anzuwenden (Joshua: Cultural Exchange in German Literature, 2007). Problematisch ist im Kern jedoch die fehlende wertneutrale Verwendung des Kultur-Begriffes, die sich insbesondere in Dichotomisierungen zeigt. 216  Han: Hyperkulturalität, 2005. 217  Schmitz-Emans: Literatur und Vielsprachigkeit, 2004, 11-26. 218 Blumentrath et al. (Hgg.): Transkulturalität, 2007. 219   Hoff: Literatur der Migration – Migration der Literatur, 2008, 7. 220  Ebd. 221  Ebd. 222   Dörr: Deutschsprachige Migrantenliteratur, 2009, 19. 223 Ebd., 25.

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deutlich: Zum einen kann der Begriff Migrationsliteratur allem Anschein nach wegen mangelnder Präzision nicht als Sammelbegriff dienen, und zum anderen handelt es sich bei ihm um einen Terminus, der nicht ästhetischen, sondern außer-ästhetischen Zuschreibungen gehorcht. Durch die Referenz auf den Begriff der Hybridität rückt Dörr den Diskurs der Migrationsliteratur zwar in die Nähe der Theorien der Postcolonial Studies, lässt aber die Frage nach der Notwendigkeit postkolonialer Konzepte für diesen Diskurs offen.

2.2.2.4 Der Begriff Migrationsliteratur im Diskurs des literarischen Kanons Das grundsätzlich offene Verständnis von Kultur in interkulturellen Analysemodellen führt zu der Überlegung, ob literarische Texte Lesarten zulassen, die in diesen Analysemodellen eine alternative theoretische Grundlage entwickeln können, die das literarische Interpretieren von Migration auch außerhalb dichotomischer Muster ermöglicht. The appeal for a new critical grammar of migration is not intended to displace all previous studies, but to expand and sharpen the critical repertoire brought to bear on literature of migration, especially in the interdisciplinary field of German studies.224 Den Begriff Migrationsliteratur kritisch zu betrachten, bedeutet also, nach neuen Regeln Ausschau zu halten. Neue Regeln können allerdings nur dann dienlich sein, wenn die Ausnahmefälle die Regelfälle nicht überwiegen. Weil der Begriff Migrationsliteratur ihren Gegenstand jenseits des ästhetischen Anspruchs der Literatur spezifiziert, erweckt er den Eindruck eines Ausnahmefalls; dem steht ein normierender literarischer Kanon entgegen. Wenn hier von einem literarischen Kanon die Rede ist, so ist keineswegs eine allgemeine Theorie literarischer Kanonbildung gemeint. Vielmehr wird die literarische Kanonforschung als das gegenwärtig am weitesten differenzierte Forschungsparadigma in den Blick genommen, auf dem grundsätzliche Überlegungen zu einer Kanontheorie basieren und der germanistischen Literaturwissenschaft zur Verfügung stehen.225 Ohne die Absicht, einen Kanondiskurs zu führen, soll es hier mit der Frage nach dem Begriff Migrationsliteratur um die Problematisierung des normsetzenden und zeitüberdauernden Sortierungsprinzips226 literarischer Werke gehen, an dem sich Strategien von Exklusion und Inklusion ausbilden. Das Fokussieren dieser Verfahrensweisen soll die Perspektive auf die Fragestellung nach dem Konnex des literarischen Kanons und der postkolonialistischen Germanistik richten.227 Der Kanon der Literatur beansprucht die Verbindlichkeit seiner Werke, indem er ihnen einen herausgehobenen, normativen, zeitüberdauernden und identitätsstiftenden Wert zuschreibt. Das Konzept eines literarischen Kanons erhebt somit Texte 224  Adelson: The Turkish Turn in Contemporary German Literature, 2005, 12. 225  Korte: Was heißt: »Das Bleibt«?, 2008, 11-23. 226  Winko: Literarische Wertung und Kanonbildung, 1997, 585-600; Winko: Kanon, literarischer, 2008, 344f.; Gfrereis: Kanon, 1999, 7. 227 Siehe zum Konnex des literarischen Kanons und des Postkolonialismus zunächst Lauter: Canon and Contexts, 1991; Bloom: The Western Canon, 1994. Der postkoloniale Diskurs hat in der Germanistik bisher wenig Aufmerksamkeit erfahren. Der von Herbert Uerlings und Iulia-Karin Patrut herausgegebene Sammelband Postkolonialismus und Kanon (2012) widmet sich diesem Desiderat.

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zum Standard und erklärt sie zum Referenzbereich der kulturellen Identität. In der deutschsprachigen Kulturgeschichte geht die Idee einer literarischen Kanonbildung bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts zurück und erfährt um 1800 Modifizierungen.228 Von der Idee selbst ist heute nur ein »variantenreiches kulturelles Gebrauchssystem« geblieben, das an »Anziehungskraft, Attraktivität und Verbindlichkeit als ein sinn- und identitätsstiftendes Medium« verloren hat.229 Allerdings scheint dieses variantenreiche System auch Potentiale vorweisen zu können. Aus der intensiven Behandlung des Themas Kanon im Band Kanon Macht Kultur (1998) ist eine Nomenklatur entstanden, die für spätere Kanondiskussionen richtungsweisend ist.230 Thomas Anz beschreibt einleitend eine Klassifikation des Kanonbegriffes, der Hermann Korte in seinem späteren Beitrag in Literarische Kanonbildung (2002) im Wesentlichen folgt.231 Doch bevor ich auf die Aktualisierung der Kanonidee eingehe, sollte der Einblick auf die Kontroverse des literarischen Kanons nicht fehlen.232 Die Verbindlichkeit eines literarischen Kanons wurde bereits Anfang der neunziger Jahre in der Auswahl von Autoren und Werken gesehen, die die Bildung und die Verteidigung einer Gemeinschaft im Hinblick auf kulturell relevante Bedürfnisse und Werterwartungen bezweckt.233 Bereits hier profilieren sich die Auswahlprozesse, die mit der kulturellen Praxis einer Gesellschaft eng verbunden sind. Obwohl die enge Bezüglichkeit zwischen Kanon und Kultur, die Kanonisierungsprozessen Offenheit und Unabgeschlossenheit bescheinigt,234 hervorgehoben wird, verlieren Überlegungen über Kanon als Norm in den interdisziplinären literaturwissenschaftlichen Diskursen nicht ganz an Bedeutung. Die Bildung dieser Norm richtet sich weiterhin nach den Kriterien Auswahl, Wert und Dauer.235 Auswahl heißt Weglassen: Was für individuelle Bildung und kulturelle Identität(-sarbeit) wenig oder gar keine Bedeutung hat, was 228   Während die aus der Kanonbildung in der Mitte des 18. Jahrhunderts herrührende Monoperspektivität auf literarische Werke der Bildung einer Nationalliteratur zur Seite stand, wird die Kanonidee in der kulturwissenschaftlichen Kanontheorie von dieser Monoperspektivität befreit. Literaturwissenschaftliche Standardwerke deutschsprachiger Kanonforschung stellen seit den Theorie-Ansätzen in dem von Renate von Band Heydebrand herausgegebenen Band Kanon Macht Kultur (1998) Kanonsetzungen grundsätzlich in Frage. 229  Korte: Was heißt: »Das Bleibt«?, 2008, 20. 230   In der Mitte der 1990er Jahre erfolgten in einem erweiterten kulturwissenschaftlichen Kontext einer als gemeinschaftlich betrachteten europäischen Kultur auch Distanzierungsversuche von einem eng gefassten literarischen Kanon, indem literarische Texte durch Zusammenhänge und Netzwerke in kulturellen Überlieferungen sowie durch ein plurales Verständnis von kollektiver Identifikation, die aus Rekonstruktionen kultureller Zusammenhänge hervorgehen sollte, betrachtet wurden. Die Grundlage dieser Überlegungen bildeten Theorien aus den Bereichen der Multikulturalität, Gender Studies und Postcolonial Studies (Assmann: Einführung in die Kulturwissenschaft, 2006, 223f.). Im Rahmen der Diskussionsansätze des DFG-Symposiums Kanon – Macht – Kultur (1996) betonte Aleida Assmann die Exklusionsmechanismen literarischer Kanonbildung und ergänzte, dass die »literaturwissenschaftlichen Kanondebatten zu einer »Fundamentalisierung des Ästhetischen« neigten (Assmann: Kanonforschung als Provokation der Literaturwissenschaft, 1998, 49). 231  Anz: Einführung, 1998, 3-8; Korte: K wie Kanon und Kultur, 2002, 23-38. 232   Siehe zu den Diskussionen Charlier et al. (Hgg.): Kanonbildung, 2009. 233   Heydebrand: Probleme des ›Kanons‹ – Probleme der Kultur- und Bildungspolitik, 1993, 4f., 17. 234  Korte: Neue Blicke auf den literarischen Pantheon?, 1998, 15-28. 235 Assmann et al.: Vergessene Texte, 2004.

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für die kulturelle Gedächtnis- und Erinnerungsarbeit nicht verbindlich gemacht wird, darf vergessen werden. Um Wertzuschreibungen handelt es sich vor allem, wenn es um religiöse Texte, Kunstwerke oder Personen geht. Wertzuschreibungen beeinf lussen die Persistenz von Texten und Kunstwerken und sollen ihre Beständigkeit über Generationen, Zeit und Geschmackskriterien hinaus garantieren, was letzten Endes auch ihre Dauer begründet. Mit Auswahl, Wert und Dauer wird eben selbst eine ›Auswahl‹ getroffen, die für die normative Geltung zum Auf bau des Kanons entscheidend ist. Der Anspruch kanonischer Texte besteht hauptsächlich in der Repräsentation kollektiver Werte und Erfahrungen und in der Prägung derselben wie etwa in Geschichte und Mythos.236 Jede Auswahl ist nicht allein Inklusionsprozess, sondern jede Inklusion hat eine Exklusion zur Folge, insofern die Idee eines literarischen Kanons auch Gefahr läuft, monoperspektivisch zu sein. Wirkungsgeschichtlich gesehen liegt die Problematik jedoch weniger in der Idee selbst als vielmehr in der Auffassung von einer vermeintlichen Unveränderbarkeit der Kriterien einer literarischen Kanonbildung. Anz lokalisiert diese Positionen zunächst zwischen zwei Polen: Die Befürworter der Kanonidee sehen in ihr eine kulturelle und soziale Funktion, die die Notwendigkeit eines identitätsstiftenden Kanons literarischer Werke rechtfertigt, und die Gegner Zwänge einer normativen Kraft, die Freiheit und Pluralismus entgegenwirken. Dazwischen positionieren sich diejenigen Ideen, die die Bewahrung des Kanons zwar befürworten, diesen jedoch nicht als ontologische Normsetzung begreifen. Vertreter dieser Idee plädieren für die Revision des Deutungskanons, für die Kanonbildung als Vorgang und in dem Sinne auch für die Bereitschaft zur Berücksichtigung anderer Texte infolge von Veränderungsprozessen.237 Für eine Revision sorgt die neuere Forschung insofern, als bei der Kanonbildung bestimmte Kanones nicht verabsolutiert werden, sondern deren Entstehung und Geltung als dynamische, revidierbare und modifizierbare Prozesse begrif fen werden.238 Über die Idee einer offenen literarischen Kanonbildung besteht in den kulturwissenschaftlichen Theorien Konsens, nach dem die Annahme, es gäbe den Literaturkanon, zu einer »unzulässigen Formel«239 erklärt wurde. Auf diesen Konsens gründet die germanistische Interkulturalitätsforschung ihre Kanondebatte.240 Sie problematisiert zunächst die Bildung des Kanon-Begriffes auf der Grundlage der Exklusionsmechanismen, die bereits seit Johann Christoph Gottscheds (1700-1766) Versuchen zur Profilierung der deutschsprachigen Dichtkunst und mit dem Projekt einer Kultur-Nation seit Lessing Hand in Hand gehen. Unangetastet bleibt in diesen Versuchen die Auffassung von Literatur, die »ästhetische Formen und Verfahren bereitstellt, über deren Wertschätzung sich die Nation ihres eigenen kulturellen Wertes versichert«.241 Die Eigenheit einer Nation, die auf diese Weise zustande kommt, kann nur – so der interkulturelle Blick – in der Differenz zu und im Vergleich mit anderen Nationen bestimmt werden. Der literarische Kanon werde somit »nicht nur 236  Assmann: Einführung in die Kulturwissenschaft, 2006, 223. 237  Anz: Einführung, 1998, 3-8. 238 Struger (Hg.): Der Kanon, 2008; Sanna: Der Kanon in der deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft, 2009. 239  Korte: Was heißt: »Das Bleibt«?, 2008, 12. 240   Gutjahr: Von der Nationalkultur zur Interkulturalität, 2006, 97-102. 241 Ebd., 98.

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zum zentralen Element der Nationalkultur«, sondern könne diese in der Sprache und in der Poesie ref lektieren und für Erneuerungen offenhalten.242 Die Offenheit korrespondiert mit der Idee des literarischen Kanons in der kulturwissenschaftlichen Kanontheorie und steht radikalen Exklusionsmechanismen entgegen, die die Suche nach einer kulturell und national identitätsstiftenden Wertskala steuern und das betreiben, was sie beklagen, nämlich die »Entkulturalisierung«.243 Die kulturwissenschaftliche Kanontheorie reduziert einen literarischen Kanon nicht auf Konstruktionen werkimmanenter Poesiepotentiale, sondern beschreibt ihn als einen Prozess, der von Interessen, Selbstverständnissen und auf Macht gegründeten Einf lüssen ebenfalls abhängig ist.244 Wichtig ist dabei die Revidier- und die Modifizierbarkeit kanonisierender Kriterien, die Verabsolutierung von Kanones245 in Frage stellen und die Auffassung von einer Kanonbildung im Sinne eines offenen und unabgeschlossenen Vorgangs bekräftigen. Zur Gestaltung dieses Prozesses tragen die literarischen Sammlungen bei, die bereits in den achtziger Jahren durch die Editionsarbeiten von Irmgard Ackermann, Karl Esselborn und Harald Weinrich die Öffentlichkeit erreicht haben. Fast zeitgleich mit Versuchen zur Öffnung literarischer Kanonisierungsprozesse und zur Befreiung der Literatur von der »Fundamentalisierung des Ästhetischen«246 und von dem unref lektierten »Kanonhandeln«247 entsteht der Begriff Migrationsliteratur, der die geschlossene Idee einer literarischen Kanonbildung wiederbelebt und hinsichtlich seines homogenisierenden, reduktionistischen und normorientierten Potentials ein interpretatorisches Dilemma konstruiert. Die Klassifizierung literarischer Texte innerhalb eines geschlossenen Systems, das seine Normsetzung, seine Verbindlichkeit und seine Legitimität durch die Konstruktion eines Exklusionsraums erreicht, widerspricht den kulturwissenschaftlichen Ansätzen literarischer Kanonbildung. Die Skepsis248 lässt sich an einem herausragenden Kriterium, das zugleich den Übergang zu den Theorie-Ansätzen der Postcolonial Studies im innovativen Forschungsbereich der Postkolonialen Germanistik 249 bildet, erörtern. »Kanonfragen sind Machtfragen«, hebt Hermann Korte hervor.250 Daraus folgt, dass die Auswahlinstanz die Macht hat und die inhaltliche Ausrichtung vorgibt. Dass sich durch die Bildung eines literarischen Kanons Machtverhältnisse manifestieren, stand bereits im kritischen Fokus der literarischen Kanonbildung. In Postko242  Ebd. 243  Uerlings: Postkolonialismus und Kanon, 2012, 43. 244  Korte: Was heißt: »Das Bleibt«?, 2008, 13-19. 245 »Solche Kanones markieren Ansprüche auf Aufmerksamkeit, Traditionssicherung und kulturelle Bedeutsamkeit, wirklich präsent und mit Leben erfüllt ist ›der‹ Literaturkanon nicht als Paratextnotiz auf Listen und Verzeichnissen, sondern in seinen lebensweltlichen Zusammenhängen, also in der Alltags- und Festkultur und in der geselligen Kommunikation. Zugespitzt: Ohne Lebensweltbezug, ohne die Verbindung zu kulturellen Erfahrungs-, Erlebnis-, Sinn- und Handlungsräumen überleben weder Kanonwerke noch Kanonautoren« (Korte: Was heißt: »Das Bleibt«?, 2008, 12). 246  Assmann: Kanonforschung als Provokation der Literaturwissenschaft, 1998, 49. 247  Korte: Was heißt: »Das Bleibt«?, 2008, 12. 248 Siehe hierzu ausführlich Schultz-Buschhaus: Einführung, 1998, 151-155. 249 Uerlings et al. (Hgg.): Postkolonialismus und Kanon, 2012, 39-66. 250  Korte: Was heißt: »Das Bleibt«?, 2008, 12.

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lonialismus und Kanon äußert sich die Kritik darin, dass sich eine von der Macht herrührende Kanonisierung literarischer Werke als Sammelbezeichnung für alle Kriterien begreife, die einer bestimmten Gruppe von Texten einen aktuellen Geltungsanspruch zuweise. Auch hier richtet sich die Argumentation nicht gegen die Kanonidee selbst, sondern gegen die verengte und reduzierende Perspektive; auch hier wird nicht für deren Abschaffung plädiert, sondern für ihre Erweiterung.251 Zudem wird darauf verwiesen, dass eine literarische Kanonbildung sowohl über institutionelle, ethische und ästhetische Normen als auch über alle Normsetzungen, die sich außerhalb der Literaturwissenschaft vollziehen, hinausgehen solle. Vielmehr sollte sie sich auf die »Eigenlogik des Ästhetischen«, auf die Affirmation von »Leitsemantiken« und auf die Bereitstellung von »Kollektivsymbole[n]« durch die Literatur gründen.252 Weitreichende Folgen hat die hier geführte Debatte über den literarischen Kanon in einer doppelten Hinsicht: Zum einen werden die sogenannten Tabus der postkolonialen Literatur in den Blick genommen und durch die Kritik an der »Stummheit der Minderheit«253 neu definiert; mit diesem einhergehend wird die Minderheit selbst aus den Machtverhältnissen befreit. Für die Erweiterung der Perspektive in den literarischen Kanondebatten plädieren die Ansätze des Sammelbands Postkolonialismus und Kanon insofern, als der poetologische Kern nicht auf Lektüreempfehlungen und Programme zu reduzieren, sondern ebenfalls im Kontext einer kulturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Globalisierungssituation und dem Kulturwandel zu diskutieren sei. So wird die literarische Kanonbildung nicht »im Sinne eines materialen Kanons von Meisterwerken aller Zeiten und Völker« verstanden, sondern »als kritische Form des Umgangs mit Literaturen«, die ihre Kriterien aus vielfältigen Poetiken entwickeln.254 In diesem Sinne argumentiert auch Norbert Mecklenburg, der in seiner Interpretation des Weltliteratur-Begriffes historisch ein vergleichsweise weites Theoriefeld in den Blick nimmt. Weltliteratur habe eine normative Implikation, die dort zum Vorschein trete, wo sie für eine regulative Idee plädiere und als Inbegriff sprachlicher Kunstwerke von Weltgeltung, d.h. als Kanon fungiere.255 Kriterien, die ein Werk als ein solches profilieren, ergeben sich aus dem Anspruch auf literarische Kunst, auf allgemeine menschliche Weltpoesie, auf ästhetische Modernität und auf ein – dies ist der zentrale Punkt – interkulturelles Potential, was an Rushdies Assoziation der internationalen Republik der Autoren mit der Weltliteratur erinnert. Mecklenburg geht aber einen Schritt weiter, indem er nachdrücklich auf die Schwäche des Weltliteratur-Be-

251 So auch Korte: K wie Kanon und Kultur, 2002, 25-38. 252 Uerlings et al.: Postkolonialismus als Provokation für die Literaturwissenschaft, 2012, 9f. – Orientiert an diesem Ausgangspunkt, durchzieht die Beiträge wie ein roter Faden die Überzeugung über postkoloniale Studien als Paradigma zur Erforschung historischer Vergangenheit Europas und gegenwärtiger Transformationsprozesse des europäischen Kolonialismus. Hinzu kommt auch die Ansicht, dass die postkoloniale Kritik nicht gegen den ästhetisch-literarischen Anspruch gerichtet, sondern mit ihm verbunden sein solle. Beide Ausgangspunkte erweitern die Perspektive auf die Erschließung des kolonialen Segments der deutschsprachigen Literaturgeschichte, tragen aber wenig zu einer postkolonialen Revision des Kanons deutschsprachiger Literatur bei (siehe hierzu die Rezension von Korte: Warum gibt es (noch) keinen postkolonialen deutschsprachigen Literaturkanon?, 2014). 253 Uerlings et al.: Postkolonialismus als Provokation für die Literaturwissenschaft, 2012, 15. 254 Ebd., 41f. 255   Mecklenburg: »Kanon« und »Weltliteratur«, 2012, 113-133.

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griffes verweist: Der Begriff verstehe sich eher vor dem Hintergrund von Herders Kritik an ökonomischen und politischen Zuständen.256 Im Dialog mit Herder betrachtet er Weltliteratur als Prozess, der nicht nur eine Gegenbewegung zum Welthandel und Kolonialismus darstellt, sondern auch deutliche Parallelen zu ihnen aufweist. Mit John Guillorys Cultural Capital. The Problem of Literary Canon Formation (1993) ist Mecklenburg der Meinung, Weltliteratur sei heute als »Kräftefeld« zu sehen, »auf dem Konkurrenz, einseitiger Transfer, Ungleichheit« sie und ihren Diskurs beherrschten.257 Im Spannungsfeld zwischen dem literarischen Kanon und dem Postkolonialismus begründet er die These über das Verschwinden des Weltliteratur-Begriffes mit dem Argument, dass es hierbei vielmehr um einen monologen Kanon deutschsprachiger Literatur gehe, der noch heute durch einen nationalen Kanon dominiert werde, der selbst als Institution im 19. Jahrhundert erfunden worden sei und von damals bis heute vor allem durch den Deutschunterricht reproduziert werde. Abschließend warnt Mecklenburg vor Konstruktionen eines postkolonialen Kanons und plädiert für eine Entdramatisierung der Kanonthematik. Seinem Ansatz zufolge löse sich das Problem eines postkolonialen Kanons nur dann, wenn die postkoloniale Kritik einen selbstverständlichen Teil methodischer Verfahren der Textdeutung bilde.258 Die Kritik an den Methoden und Kriterien einer geschlossenen Kanonbildung, wie sie in Mecklenburgs Diskussion geäußert wird, erweist sich im Zusammenhang mit dem Begriff Migrationsliteratur insofern als fruchtbar, als sie eine offene und interdisziplinär angelegte Literaturanalyse und Literaturkritik zulässt, die Migration als kulturelles Phänomen literarischer Auseinandersetzung in eine Reihe von vielen anderen Semantiken, Symbolen und Themen integrieren. Die literarische Erfassung von Migration und die theoretische Auseinandersetzung mit dieser Literatur gewinnen auf diese Weise eine Kontinuität, die den Kulturwissenschaften ermöglicht, aus dem Diskurs der Literatur eine Kultur der Migration zu rekonstruieren. Den ersten Schritt in diesem Zusammenhang unternimmt Dirk Göttsche, der in seinen Überlegungen zur deutschsprachigen Literatur afrikanischer Diaspora die interkulturellen Literaturparadigmen von Autoren mit afrikanischen Wurzeln einbezieht, die ihre Werke in der deutschen Sprache publizieren. Er wirft die »Frage postkolonialer Kanonrevision«259 unter den Bedingungen auf, an die der literaturwissenschaftliche Diskurs der Migration anschließen kann. In Göttsches Fokus stehen u.a. Themen und Verfahrensweisen der deutschsprachigen afrikanischen Migrationsliteratur, mit einem besonderen Akzent auf den Identitätsdiskursen und der kulturellen Erinnerungsarbeit in der Literatur. Am Beispiel der literarischen Identitäts- und Erinnerungs256 In diesem Zusammenhang bildet der Weltliteratur-Begriff den Gegenpol zum Kontext des Welthandels wie ihn Manfred Koch in seiner Studie Weimaraner Weltbewohner (2002) über den Weltliteratur-Begriff im Sinne Goethes darstellt. 257   Mecklenburg: »Kanon« und »Weltliteratur«, 2012, 122. 258   Ebd., 128-133. Andrea Geier schließt daran an und diskutiert Aspekte, welche die Kriterien literarischer Wertung hinterfragen und versuchen, neue Texte in die Kanon-Bildung einzubeziehen. Außerdem erweitert sie ihre Diskussion über Kanon auf die sogenannten Klassiker, die aus dem kulturellen Gedächtnis weder verschwinden können noch dürfen und spricht von Veränderung ästhetischer Konstruktionen und Differenzen, um die Deutungskanones zu verändern (Geier: Wer soll Gustav Freytags ›Soll und Haben‹ lesen?, 2012, 237-260). 259   Göttsche: Deutsche Literatur afrikanischer Diaspora, 2012, 327-360, hier 327.

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arbeit lassen sich in Göttsches Analyse kulturelle Transformationsprozesse erörtern, die bei der Frage nach der Nationalliteratur und der literarischen Kanonbildung und Kanonrevision nicht ohne Wirkung sind. Göttsche bestätigt zwar die Annahme älterer Kanonforschung, dass Werke eines literarischen Kanons Bedeutungsstoffe seien und immer wieder gelesen und neu interpretiert würden, verweist aber zugleich auf die Kanonrevision und auf die Offenheit der literarischen Kanonbildung. Dies erlaubt die Inklusion derjenigen Werke, gegenüber denen sich die Nationalliteratur positioniert. Einwanderung, Flucht, Migration und der Anspruch auf civil rights werden auf diese Weise zu möglichen literarischen Themenbereichen, die als Motive in den Diskurs der Literatur einf ließen (mit ihm nicht konkurrieren) und so den Kulturwandel metaphorisch wie symbolisch darstellen. Sie werden als literarische Motive eines Kulturwandels betrachtet und nicht als Besonderheiten einer spezifischen Literatur à la Migration.260 Konkret lässt sich die Verfahrensweise einer literarischen Kanonrevision im Rahmen meiner Fragestellung am Beispiel des kulturellen Gedächtnisses beobachten. Wenn Hermann Korte die Kanonfragen im Kontext von Gedächtnis- und Erinnerungstheorien diskutiert und den spezifischen Platz von Kanones im kulturellen Gedächtnis betrachtet, so wird der Umgang mit Kanonwerken Teil einer Erinnerungsarbeit.261 Bei diesem Umgang sind in der Gedächtnis- und Erinnerungsarbeit Kollektivsymbole und Leitsemantiken auszumachen, die in dem intertextuellem Verfahren literarischer Kommunikation einen Anschluss suchen und den Grad der diskursiven Vernetzung literarischer Kanonbildung neu bestimmen. Die Interpretation literarischer Motive, die auf Gedächtnis- und Erinnerungsarbeit anspielen und in der literarischen Kommunikation nach Anschlussmöglichkeiten suchen, wird eine Literatur mit Migration nicht zu einem exkludierten Teil einer Kanonbildung erklären, sondern zu einem Teil derselben. Die ungleichberechtigte Perspektive auf die Figur des Migranten à la Orientale und auf die Migrationsliteratur als einen spezifischen Fall der Literatur verliert an Bedeutung.

2.2.3 Zusammenfassung und Ausblick Das Manko des Begriffes Migrationsliteratur besteht darin, dass er im Gebrauch des Rezipienten die Figur des Migranten mit der des Fremden gleichsetzt, mit dem Letzteren jedoch keinen interkulturellen Gesprächspartner, sondern eine ontologische Größe assoziiert. Fritz J. Raddatz spricht in einem Zeit-Interview mit dem Dichter Jose F. A. Oliver und konfrontiert ihn mit der Frage nach seinem »psychologische[n] Ort« innerhalb eines »Koordinatensystems«: »Sind Sie Ausländer, der deutsch schreibt, sind Sie deutscher Schriftsteller, der durch welchen Zufall auch immer nur ein falsches Papier in der Tasche hat?«262 Das Paradoxon in diesen provokativen Fragen tritt in Olivers Antwort zum Vorschein:

260   Siehe in diesem Zusammenhang Wolfgang Braune-Steiningers Interpretation ausgewählter Gedichte aus Chiellinos lyrischem Werk in Braune-Steininger: Themen und Tendenzen von Migrationslyrik in der Bundesrepublik Deutschland, 1997, 87-99. 261  Korte: Was heißt: »Das Bleibt«?, 2008, 13. 262   Raddatz: Meine Wiegenlieder waren andere, 1994.

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Ich gehörte zu den Gastarbeitern. Man hat mir ja nicht die Frage gestellt, ob ich Gastarbeiter bin oder nicht, sondern ich habe die Diskriminierung gespürt, aus dieser Familie zu stammen, die als Gastarbeiterfamilie nach Deutschland gekommen ist.263 Diskriminierung ist Ausf luss der kulturellen Macht und ist im interkulturellen Diskurs prinzipiell problematisch. Daher darf die Legitimität des Begriffes Migrationsliteratur mit den Assoziationen wie Brücke, Gastarbeiter und das Schreiben in der Tradition im interkulturellen Diskurs der Literatur in Frage gestellt werden. Auf diese terminologische Infragestellung spielt Leslie Adelson in ihrem Beitrag Migrationsliteratur oder deutsche Literatur? an: »In welchem Ausmaß betrachten wir [Migrantenliteratur] als ›legitimen‹ Bestandteil der deutschen literarischen Landschaft?«264 Aus dieser Frage wird über die Fixierung von Grenzen und über die Abkapselung der Literatur hinaus265 auch die Legitimität des Begriffes Migrationsliteratur problematisiert.266 Aufgrund dessen Geschichte lässt sich Adelsons Kritik dahingehend erweitern, dass Wissenschaftler, Herausgeber und Verleger, die in der Gemeinsamkeit der Migrationserfahrung ethnozentrische Prämissen in den Vordergrund stellen, literarische Figuren auf außertextuelle »Referenzpunkte«267 und lediglich auf ihre Begegnungen mit Deutschland reduzieren. Damit ist das eigentliche Problem angesprochen, nämlich die Zuweisung einer Reihe von Referenzpunkten bei der Interpretation, die eine inner- und außerdeutsche Perspektive unterscheiden sollen. Dieser Mangel erinnert an das Verschwinden der Stimme des Anderen im Kontext der Postcolonial Studies.268 Adelson interpretiert literarische Darstellungen des Aufeinanderprallens von Ausländern und der heutigen deutschen Bürokratie und argumentiert, dass in der Migrationsliteratur nicht allein die postmoderne Entfremdung thematisiert wird, sondern vor allem die »Konfrontation mit dem deutschen Erbe des Kolonialismus und Rassismus«.269 Aus dieser kritischen Perspektive soll einerseits die Darstellung der Migration in einen kulturellen Kontext, der das Phänomen der Migration räumlich nicht außerhalb der deutschen Kultur verortet, integriert und als ästhetische Ref lexion auf die Folgen kultureller Verkettungen und Prozesse verstanden werden. Anderseits wird der Begriff Migrationsliteratur über Reduktionismus und Homogenisierung hinaus nun in Folge kultureller Verkettungen und Prozesse auch im Kontext von Kolonialismus und Rassismus problematisiert. Diese Kriterien stellen zusammen ein negatives Konnotationsfeld des Begriffes Migrationsliteratur her und bahnen einer Reihe von Ansätzen den Weg, mit denen sich der Postmigration Turn befasst. Was ein solcher Turn leistet und welche Erwartungen an ihn gestellt werden, diskutiert beispielsweise Bettina Brandt 263  Ebd. 264  Adelson: Migrationsliteratur oder deutsche Literatur?, 1991, 67. 265 Ebd., 67f. 266   »Wenn behauptet wird, daß ausländische Schriftsteller erfolgreich in die deutsche Literatur integriert werden, so wird diese Literatur als Anhang betrachtet, ein Zusatz, der kulturellen Pluralismus attestiert« (Adelson: Migrationsliteratur oder deutsche Literatur?, 1991, 68). Auch der pluralistische Ansatz, Migrantenliteratur als Bereicherung der deutschen Literatur zu betrachten, erntet Adelsons Kritik (ebd.). 267  Adelson: Migrationsliteratur oder deutsche Literatur?, 1991, 72. 268  Scherpe: Der Schrecken der Anderen, 2010, 233-253. 269  Adelson: Migrationsliteratur oder deutsche Literatur?, 1991, 73.

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bei der Analyse surrealistischer Bilder versucht nach der Logik des Ästhetischen, auf die Analyse von ästhetischen Objekten auch ästhetische Kriterien anzuwenden. Eine an der Herkunft des Autors orientierte Analyse wird bewusst ausgeklammert.270 André Steiner diskutiert den Aspekt Sprache und stellt dabei fest, dass Sprache, die als ein »bloßes Medium einer Mitteilung fest an einen zu transportierenden Inhalt gebunden war«, in den Werken der sogenannten Migrationsliteratur »autonom« wird und ihre eigenen Räume erzeugt.271 Was für ein ästhetisches Potential dieser Raum besitzen kann, beschreibt Margaret Littler bei der Analyse der Frauenrolle in Özdamars Das Leben ist eine Karawanserei und in Zaimoğlus Layla. Sie demonstriert, dass Romane mit Migration als Thema nicht nur deutschsprachige Leser und Kultur angehen bzw. herausfordern, wie Hofmann in Die Vielfalt des Hybriden (2006) behauptet, sondern auch die jener Kultur, in der Rezipienten den Ursprung ihrer Autoren vermuten, und zwar mit dem Ziel »to unsettle predictable cultural norms«.272 Diese Werke sind für Littler ein prädestiniertes Beispiel für: a transformative, anticipatory force in German culture, as an expression of becoming rather than a representation of known cultures in dialogue. Viewed from this perspective, these novels are not part of any culturally retrogressive development, but one which opens up the German cultural sphere in ways not predetermined by hegemonic concerns.273 Littlers These begründet keinen bloßen Austausch, keine räumliche Hin- oder Her-Bewegung im metaphorischen Sinne der Brücke, keine Pendelerfahrung,274 keinen »Seiltanz zwischen zwei Welten«275 und keinen Dialog, der stets die Bewahrung der Identität von Ich und Du voraussetzt,276 sondern die Annahme über Transformations- und Antizipationsprozesse. Mit der Analyse der literarischen Beschreibung dieser Prozesse befasst sich auch meine Studie und argumentiert, dass nur eine solche Analyse zeigen kann, wie literarische Strategien die Überholung eines Zeitalters durch sich selbst, wie Reinhart Koselleck dies von der Moderne behauptet, widerspiegeln. Mit dem Postmigration Turn wird die Tatsache verbunden, dass die Analysen von Produktionen komplexer kultureller Bedeutungen, die historische und veränderte Zusammenhänge in sich tragen, zugunsten einer Entscheidung über Zentrum und Peripherie vernachlässigt worden seien. Eine solche Entscheidung würde aber »ohne Konsequenzen und peripher für internationale Cultural Studies und für eine zukunftsorientierte Germanistik bleiben«; 277 oder sie würde die Existenz einer asymmetrischen Achse durch den Begriff Migrationsliteratur weiterhin voraussetzen. Die Asymmetrie entsteht – es sei daran erinnert – auf einer ungleichwertigen Subjekt-Objekt-Ebene, wobei das Subjekt aktiv 270  Brandt: Schnitt durchs Auge, 2006, 74f. 271  Steiner: Von Kanak Sprak zu Zwölf Gramm Glück, 2012, 100. 272  Littler: Anatolian Childhoods, 2007, 176. 273 Ebd., 177. 274  Hofmann: Die Vielfalt des Hybriden, 2006, 47-58. 275  Weigel: Literatur der Fremde – Literatur in der Fremde, 1992, 216. 276  Bhatti: Kulturelle Ähnlichkeit bedeutet nicht, daß unsere Hemden gleich sind, 2011, 66f. 277  Adelson: Interkulturelle Alterität, 1997, 36.

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Kultur schafft, das Objekt aber nur an der Kultur teilnimmt. Der Fokus auf Transformationsprozesse jenseits der Frage nach kultureller Herkunft und der hegemonialen Perspektive278 inkludiert das Subjekt und seine »Entscheidungsfreiheit«279 bei seiner kulturellen Verortung. Diese Entscheidungsfreiheit ist insbesondere deshalb wirksam, weil sie dem Subjekt das Potential mehrfacher und unterschiedlicher Verortungs- und Identifikationsmöglichkeiten zugesteht.

2.3 Kulturtheoretische Grundlage zur Analyse interkultureller Schreibweisen Auf der Grundlage welcher kulturtheoretischen Konzepte können literarische Beschreibungen kultureller Prozesse am Motiv der Migration diskutiert werden? Die Distanzierung der kulturtheoretischen Modelle von Kriterien der Binarität, die Auffassung von Kultur als Prozess mit vielfachen und nie endgültig abgeschlossenen Interpretationen, die Prämisse der Pluralität und der kulturellen Transformationen 280 bewegen die neueren kulturwissenschaftlichen Theorien auch zu einer grundlegenden Revision in der Auffassung von Migration. Die Revision erlaubt, die Figur des Migranten nicht auf die Tatsache ihrer Herkunft zu reduzieren, sondern sie als Mit-Gestalter der Kultur zu begreifen. Ausgehend von dieser Revision wird hier eine Neupositionierung der Figur des Migranten im Diskurs der Literaturwissenschaft vorgeschlagen. Die kulturtheoretische Grundlage bietet der interkulturelle Ansatz, der sich von den Konzepten des geschlossenen Kulturbegriffes – Essentialismus,281 Kulturalismus282 und Kulturrelativismus283 – distanziert. Die Problematik des geschlossenen Kulturbegriffes wird insbesondere durch das Konzept des Universalismus verschärft, bei dem es um die übergreifende Verbindlichkeit der Kultur und um die Gültigkeit bestimmter universeller Merkmale für alle Kulturen geht. Der geschlossene Kulturbegriff führt wirkungsgeschichtlich zur entscheidenden Abgrenzung von Kulturen gegeneinander. Gegenüber dem geschlossenen Kulturbegriff plädiert das vergleichsweise offene Konzept des Multikulturalismus für eine Koexistenz von Kulturen. Konzepte des Multikulturalismus korrespondieren jedoch nicht deckungsgleich mit dem offenen Kulturbegriff, weil sie vielmehr das Nebeneinander von Kulturen befürworten, als ihre Kommunikation und Interaktion. Darin unterschieden sich Konzepte des Multikulturalismus von dem offenen Kulturbegriff, weil dieser die Dynamik und die Prozesshaftigkeit von Kulturen grundlegend als Folge vielfältiger Austausch- und 278 Hierauf bezieht sich der von Erol Yildiz et al. herausgegebene Sammelband Nach der Migration (2014) mit dem Ziel, »unterschiedliche Sichtweisen, Ideen und Aspekte« zu diskutieren, die den »hegemonialen Diskurs« hinter sich lassen und die »Perspektiven und Erfahrungen von Migration in den Blick nehmen« (ebd., 11). Im Mittelpunkt der Perspektive stehen »die gesellschaftsverändernden Impulse durch Migration« (ebd.). 279  Flusser: Wohnung beziehen in der Heimatlosigkeit, 2013, 24. 280  Hamacher: Heterautonomien, 2003, 157-201. 281  Kamp: Essentialismus, 2005, 398-404; Hägler: Kritik des neuen Essentialismus, 1994. 282  Hofmann: Interkulturelle Literaturwissenschaft, 2006, 10f. 283  Fuchs-Heinritz: Kulturrelativismus, 1994, 384f.; Kohl: Das Problem des Eurozentrismus und die Geschichte der Ethnologie, 1987, 123-142.

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Überlappungsprozesse betrachtet und interkulturelle Prozesse nicht nur als inkorporiert auffasst, sondern sie zum konstitutiven Element von Kultur erklärt.284 Obwohl das Konzept des Multikulturalismus einer scharfen Kritik unterzogen wird, erweist es sich unter Berücksichtigung von Austausch- und Überlappungsprozessen für interkulturelle Ansätze als ertragreich. Hierzu dienen die Multikulturalismus-Debatten nur insofern, als diese gesellschaftliche Veränderungen, Umstrukturierungen und Herausforderungen soziopolitischer Denkmuster seit dem Übergang zu den 1990er Jahren anerkennen, die Koexistenz der Kulturen propagieren und die »Kontingenz menschlicher Lebensformen«285 ins Bewusstsein rufen. Diesem Verständnis zufolge verhalten sich Kulturen in den Prozessen ökonomischer Globalisierung und moderner Migrationsbewegungen einander gegenüber prinzipiell offen, befürworten grenzüberschreitende Kommunikationsprozesse, relativieren die Normativen im Kulturverständnisses und widerlegen die These über klar abgrenzbare Kulturen. Solch eine Auffassung befürwortet eine Pluralisierung innerhalb der jeweiligen Kulturen, erlaubt ihre Vernetzung, trägt der Tatsache Rechnung, dass Kulturen zu Bedeutungskomplexen mit unscharfen Rändern geworden sind, und ermöglicht eine Auslegung der Kultur nicht mehr als »kohärent«, sondern als »kohäsiv«.286 Der Diskurs in den hier nur kurz umrissenen Theoriebereichen und Begriffen legt ein beredtes Zeugnis darüber ab, dass die Debatten im deutschsprachigen Forschungsfeld der Kulturwissenschaften häufig unter dem Vorzeichen von Mit- und Gegeneinander von Kulturen geführt werden. Multikulturalismus scheint dort zu wirken, wo sich seine Theorien in der Aufnahme von Hybridität niederschlagen können.287 Auf Kritik stößt er jedoch in den Kulturtheorien der anglo-amerikanischen Cultural Studies, die sich zwar kaum germanistischer Entwürfe bedienen, diesen aber ein Repertoire von Antworten auf kulturelle Überlappungen zur Verfügung stellen. Relevante Ansätze finden sich in Stuart Halls Kritik am Multikulturalismus-Konzept. In seinem Beitrag Die Frage des Multikulturalismus beschreibt Hall ein Dilemma, und zwar mit der Frage danach, wie eine spezifische und eine universelle Kultur, wie Differenz und Gleichberechtigung ein anerkennendes Verhältnis eingehen können. In seiner Diskussion stehen Multikulturalismus und multikulturell begriff lich einander gegenüber, wobei dem Multikulturalismus ein ideologisches Potential bescheinigt wird. In seiner Diskussion entwickelt Hall in einem ersten Schritt eine politische Logik 288, die einerseits der Untersuchung von Bedeutung und Dimension einer multikulturellen Gesellschaft zugrunde gelegt und andererseits für die Beschreibung besonderer Schwierigkeiten des Begriffes Multikulturalismus herangezogen wird. In einem zweiten Schritt setzt 284   Das Verdienst der Multikulturalismus-Debatten besteht vornehmlich in der Erkenntnis über die Relativierung der Grenze. Durch diese Relativierung wird die Annahme über Kultur als homogenes Sozialsystem einer entscheidenden Kritik unterzogen, die schließlich zum Verständnis von Kultur als einem Behälter, der über das gemeinsame Wissen und über eine »gemeinsame oder ähnliche Art und Weise des Wahrnehmens, Glaubens, Bewertens und Handelns« (Leskovec: Einführung in die Interkulturelle Literaturwissenschaft, 2011, 43) führt. 285   Reckwitz: Die Kontingenzperspektive der ›Kultur‹, 2011, 3. 286  Bolten: Interkulturelle Kompetenz, 2007, 18. 287 Siehe ausführlich dazu nun Struve: Zur Aktualität von Homi K. Bhabha, 2013; Bonz et al.: Homi K. Bhabha: Auf der Innenseite kultureller Dif ferenz, 2006, 140-153. 288  Hall: Die Frage des Multikulturalismus, 2004, 188.

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er sich im Kontext dieser Logik mit den Überlegungen auseinander, dass die multikulturelle Gesellschaft – wie häufig zu Unrecht angenommen – keine neue Erscheinung darstellt, sondern eine bis in das 15. Jahrhundert zurückgehende Geschichte aufweist. Das 15. Jahrhundert ist deshalb relevant, weil hier Wanderung und Migration von Völkern bereits zur Entstehung von ethnisch und kulturell gemischten Gesellschaften geführt haben. Problematisch ist aus Halls Sicht nicht die Entstehung gemischter Gesellschaften an sich, sondern ihre Entwicklung: Der Kolonialismus, der Zweite Weltkrieg und der Kalte Krieg veränderten zwar die Formen und Modalitäten frühneuzeitlich entstandener multikultureller Gesellschaften, hervorgebracht haben sie sie jedoch nicht. Verschärft werden sie aber durch Industrialisierung, Mobilisierung von Waren und Arbeitskräften, Globalisierung und zunehmende Migrationsbewegungen, die ihrerseits die Gesellschaften je auf eigene Weise beeinf lussen. Das Charakteristische des globalen Zeitalters sieht Hall in der Zeit-Raum-Verschiebung und in der Widersprüchlichkeit ihrer Forderungen. Die Widersprüchlichkeit besteht zum einen darin, dass Globalisierung ausschließlich von ökonomischen und finanziellen Kreisläufen geprägt ist, sich aber ideologisch vom Neoliberalismus als common sense globaler Strömungen nährt. Zum anderen zeigt sich ihre Tendenz zur kulturellen Dominanz gleichzeitig in Homogenisierung und Differenzierung. Obwohl Globalisierung einen hegemonialen Prozess anstrebt und so politisch-strukturelle Dominanz beansprucht, kann es ihr nach Hall nicht gelingen, innerhalb ihres Bereiches alles zu kontrollieren und zu durchdringen. Bei ihr handle es sich vielmehr um ein »System der ›Konformierung‹ von Differenzen«; ein Argument, das aus Halls Perspektive entscheidend ist, weil es herauszufinden hilft, »wie und wo Widerstände und Gegenstrategien am ehesten erfolgreich entwickelt werden können«.289 Festzuhalten ist in Halls Diskurs das Spannungsfeld von Differenzen, Widerständen und Gegenstrategien als kulturelle Praxis. Dass neben der Dominanz homogenisierender Tendenzen der Globalisierung auch eine »subalterne Verbreitung von Differenz«290 existiert, ist das paradoxe Kennzeichen globaler Prozesse, das sich heute infolge der Migrationsbewegungen in den Debatten über Solidarität und Zusammenhalt in der Europäischen Union und über den nationalen Anspruch ihrer Mitglieder deutlich zeigt. Das Paradoxon besteht darin, »die Dinge kulturell ähnlich« aussehen zu lassen, obwohl die Differenzen stets zunehmen.291 Warum das System der dif férance, das Hall von Derrida übernimmt, im globalen Diskurs des Multikulturalismus zentral ist, zeigt sich an einer scharfen Tren289   Ebd., 191-195, hier  195. 290 Ebd., 195. 291   Ebd., 195. Durch die Hervorhebung von Differenz argumentiert Hall mit Derridas Begriff der différance und bezeichnet Differenz nicht als eine Gegebenheit, nicht als eine binäre Form zwischen einem absolut Gleichen und einem absolut Anderen, sondern als System, in dem Begriffe (oder Bedeutungen) in eine Kette eingeschrieben sind, in der sie sich strategisch auf andere Begriffe (oder Bedeutungen) beziehen »Strategien der Dif férance können keine völlig anderen Lebensformen einführen […]. Sie können alte, traditionelle Lebensweisen nicht unversehrt erhalten. […] Dif férance hindert jedoch jedes System daran, sich als vollständig abgetrennte Totalität zu stabilisieren. Sie erhebt sich in den Lücken und Aporien, die potentielle Orte des Widerstandes, der Intervention und der Übersetzung bilden« (Hall: Die Frage des Multikulturalismus, 2004, 196). Den Begriff Übersetzung versteht Hall nicht in dem Sinne, als gäbe es ein Original, von dem die Übersetzung eine Kopie wäre. Übersetzung sei ein »kontinuierlicher Prozess der Reartikulation und Rekontextualisierung, ohne

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nung: Signifikant für Halls angestrebte Logik ist die bereits erwähnte Unterscheidung zwischen dem Substantiv Multikulturalismus und dem Adjektiv multikulturell, die nun über die begriff liche Oberf läche hinaus auch konzeptionell an Bedeutung gewinnt. Unter multikulturell werden Charakteristika und Probleme der Gouvernementalität verstanden, die in jeder Gesellschaft auftreten, in der unterschiedliche kulturelle Communities auf ein Zusammenleben bedacht sind und versuchen, trotz des Auf baus eines gemeinsamen Lebens einiges aus ihren ursprünglichen Identitäten zu bewahren.292 Durch Vielfalt und Differenz stellen multikulturelle Gesellschaften eine Reihe von Problemen und Herausforderungen dar, zu deren Regulierung und Kontrolle je nach Gesellschaft verschiedene Praktiken und Politiken angewandt werden. Auf diese Strategien, Praktiken und Politiken bezieht sich der Begriff des Multikulturalismus, der insofern ideologisch ist, als er sich einem nationalstaatlichen Vokabular verpf lichtet. Er wird im Singular gebraucht und bezeichnet »die spezifische Philosophie oder Doktrin, auf der multikulturelle Strategien basieren«.293 Durch die politische Doktrin wird Vielfalt, die durch multikulturelle Bedingungen überhaupt hergestellt wird, auf ein ideologisches Politikum reduziert. Auf dieses Politikum spielen beispielsweise die Leitkultur-Debatten in der Bundesrepublik im Jahre 2000. Während multikulturell »eine ganze Vielfalt politischer Strategien und Prozesse, die überall lückenhaft sind«294 beschreibt, versteht sich Multikulturalismus als eine politische Ideologie der Singularität. Die Kritik am Multikulturalismus wird in Halls Kulturtheorie über Singularität und Doktrinhaftigkeit hinaus auch durch eine Reihe von Unterscheidungen begründet, die den Multikulturalismus in seinen praktizierten Formen beschreiben sollen. Die Erscheinungsformen als konservativer, liberaler, pluralistischer, kommerzieller, korporativer oder revolutionärer Multikulturalismus verdeutlichen die Durchlässigkeit der theoretischen Ansätze in der kulturellen Praxis.295 In seiner Kritik am Multikulturalismus296 fokussiert Hall das Subjekt und hebt dessen Positionierung in den postmodernen Kulturtheorien hervor. Orientiert am Stellenwert des Subjekts koneinen Begriff des eigentlichen Ursprungs« (Hall: Cultural Studies und die Politik der Internationalisierung, 2000, 138). 292   So betrachtet suggeriert das Adjektiv multikulturell eine Pluralität, die sich in der Praxis in den Gesellschaften wie in den USA, Kanada und Südafrika widerspiegelt. Diese Gesellschaften sind zwar auf unterschiedliche Art und Weise multikulturell, haben aber eines gemeinsam, nämlich dass sie kulturell heterogen sind. 293  Hall: Die Frage des Multikulturalismus, 2004, 188. 294 Ebd., 189. 295   Siehe zu den Unterscheidungskriterien und zur Definition der jeweiligen Multikulturalismus-Formen Hall: Die Frage des Multikulturalismus, 2004, 188-190. 296   »Die konservative Rechte greift ihn [Multikulturalismus H.T.] an, um die Reinheit und kulturelle Integrität der Nation zu verteidigen. Die Liberalen greifen ihn an und behaupten, der ›Kult der Ethnizität‹ und das Streben nach Differenz bedrohe den Universalismus und die Neutralität des liberalen Staates, unterminiere die persönliche Autonomie, die individuelle Freiheit und die formale Gleichheit. […] Der Multikulturalismus wird auch von Modernisten unterschiedlicher politischer Couleur angegriffen. Für sie markiert der Triumph des Universalismus der westlichen Zivilisation über den Partikularismus ethnischer und ›rassischer‹ Zugehörigkeit einen schicksalhaften und irreversiblen Übergang von der Tradition zur Moderne. Dieser Übergang darf niemals rückgängig gemacht werden« (Hall: Die Frage des Multikulturalismus, 2004, 190).

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statiert er schließlich, dass während der Multikulturalismus das Subjekt stärker lokal positioniert, es beispielsweise in Theorien des Kosmopolitismus als vollständig kontingent und ungebunden betrachtet wird. Seine Rolle erfülle der Multikulturalismus insbesondere dadurch, dass er im Hinblick auf Kommerzialisierung und Konsumorientierung zwar die Differenz feiere, aber in soziokulturellen Zusammenhängen kaum etwas zu verändern beabsichtige.297 Basierend auf der Analyse verschiedener Formen und Wirkungsbereiche der Theorien des Multikulturalismus appelliert Hall für eine andere Herangehensweise an das theoretische Potential des Multikulturalismus, die Modifikationen ermöglichen soll.298 Diese Modifikationen sind für die theoretische Schwerpunktsetzung der germanistischen Interkulturalitätsforschung nicht uninteressant. Hier zeigt sich nämlich die Andersartigkeit dieses Ansatzes zuallererst in der Prämisse, dass die interkulturelle Kommunikationssituation eine kulturelle Inanspruchnahme nicht voraussetzt. Diese Prämisse führt in den theoretischen Analysemodellen zur Ablehnung der Definition von Kultur als einem bereits vordefinierten und geschlossenen System.299 Mit dieser Ablehnung geht folglich die Annahme einer Auf lösung und Verschiebung von Grenzen wie einer Offenheit der Kultur einher. Von der Relativierung von Grenzen und der grundsätzlichen Offenheit von Kultur werden Prozesse kultureller Identifikation unmittelbar beeinf lusst.300 Die Auf lösung und Verschiebung kultureller Grenzen und in ihrer Folge auch die Überlappung kultureller Räume stärken die kontingente und ungebundene Positionierung des Subjekts innerhalb kultureller Prozesse und ermöglichen die subjektive Steuerung der kulturellen Identifikation. Aus der grundsätzlichen Absage an das Verständnis von Kultur als »eine[r] autarke[n], selbstbegründete[n] und suisuffiziente[n] Einheit« und aus der These, dass jede Kultur sich an anderen Kulturen kultiviere und von diesen auch beeinf lusst werde, so dass Kulturen grundsätzlich aus der »Konfiguration von anderen […] Kulturen« hervorgehen und von diesen anderen Kulturen »in jedem Augenblick ihrer Geschichte mitbestimmt und transformiert werden«, schöpft die germanistische Interkulturalitätsforschung ihr theoretisches Potential und begründet ihr Verständnis von Kultur als »plurale tantum«.301 Daraus wächst die Erkenntnis darüber, dass Kultur im Grunde immer auch Inter-Kultur ist.302 In dieser Auffassung wird Kultur im Gegensatz zu den essentialistischen, universalistischen, relativistischen und multikulturellen Kulturtheorien, die in ihrem Gegenstand etwas ›Spezielles‹ sehen, durch ihre »Wertfreiheit«303 charakterisiert. Nach Maßgabe des Prozesscharakters und der Vergleichbarkeit von Kultur verliert die Annahme darüber, dass alles, was sich außerhalb der eigenperspektivisch geordneten 297  Hall: Die Frage des Multikulturalismus, 2004, 190. 298 Ebd., 207-223. 299   Reckwitz: Die Kontingenzperspektive der ›Kultur‹, 2011, 1-20; Yousefi et al.: Interkulturalität, 2011. 300 Ernst et al.: Verortungen der Interkulturalität, 2012, 7-18; Heimböckel et al.: Zwischen Provokation und Usurpation, 2010, 9-14. 301  Hamacher: Heterautonomien, 2003, 167. 302   Heimböckel: Die deutsch-französischen Beziehungen aus interkultureller Perspektive, 2013, 19-39. 303  Assmann: Einführung in die Kulturwissenschaft, 2006, 10. Das Spezifische einer Kultur macht den Kulturbegriff nach Aleida Assmann zu einem Begriff, der Oppositionsverhältnisse beschreibt und so durchaus ein Wertbegriff sein kann. »Werthaltige Kulturbegriffe sind in der Regel Kampfbegriffe« (ebd.).

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und geschlossenen Kultur bewegt, unbehaglich und gefährlich sei, an Bedeutung, und der Pessimismus vergangener Kulturkonzepte wird überwunden. Vielmehr wird Kulturen als »plurale tantum« eine progressive und veränderbare Ordnung zugesprochen, die ihre Existenz jenseits von Vernetzungen und Transformationen unvorstellbar macht.304 Aus diesem Blickwinkel gewinnt die Analyse von Überlappungen, Vernetzungspunkten, Korrelatbeziehungen und Austauschmöglichkeiten in der germanistischen Interkulturalitätsforschung an Relevanz. Der Offenheit kultureller Systeme als Grundlage einer anderen Herangehensweise folgt die Revision dessen, wodurch geschlossene Systeme ihre praktische Existenz gewährleisten, nämlich des Fremden als Außerhalb des eigenkulturellen Wirkungsraums. Es wundert also nicht, dass die kulturtheoretischen Ansätze der germanistischen Interkulturalitätsforschung das Fremde und die Fremdheit zu ihrem zentralen Aspekt erklären. Das Fremde wird aber nicht gegen eine Instanz des kulturell Eigenen positioniert, sondern als integraler Bestandteil jeder Kultur aufgefasst.305 Folgt man dem Kultur-Verständnis der germanistischen Interkulturalitätsforschung und betrachtet den Begriff Migrationsliteratur im Rahmen dieser kulturtheoretischen Auseinandersetzung, so lässt sich die These begründen, dass der Begriff Migrationsliteratur genau das Gegenteil dessen unternimmt, was eine Literatur, die sich als interkulturell begreift, zu vermeiden sucht, nämlich die Korrelation von Fremdem mit dem Migranten und dessen Verortung außerhalb des eigenkulturellen Wirkungsraums. Anstatt zu fragen, was für eine Bedeutung Migration als kulturelles Phänomen für die Literatur hat und wie Literatur ihren Diskurs führt und gestaltet, gibt sich der Begriff Migrationsliteratur oberf lächlich offen und verfährt nach dem nationalstaatlichen Modell des Multikulturalismus, erfasst aber die literarische Darstellung der Migration auf eine Weise, die die Offenheit und Transformationen des Kulturellen zugleich verwirft. Eine mögliche interkulturelle Analysepraxis wird von der Überlegung abgeleitet, dass »Literaturwissenschaftler bei ihrer Arbeit Kulturunterschiede bedenken und über kulturelle Grenzen hinausdenken«.306 Die Nennung des Literaturwissenschaftlers lenkt die Perspektive von dem Medium hin zum Rezipienten und schenkt 304   Auf dieser Grundlage entsteht die Idee darüber, Interkulturalität mit dem Bezug auf Daniel Defoes An Essay upon Projects [1697], 1887) als Projekt zu verstehen. Defoes Projekt-Definition unterscheidet sich von der herkömmlichen Definition des Projekts im universitären Sinne insofern, als sie zwar eine Zielsetzung impliziert, zugleich aber ein Spektrum an offenen Ergebnissen signalisiert. Davon geht auch Alexander Kluge aus, wenn er Projekte als »Vorgriffe und Ausbrüche in die Ferne« begreift (Kluge: Projekte sind im Grunde Vorgrif fe, 2006, 14). Interkulturalität auf dieser Grundlage als Projekt zu begreifen (Heimböckel: Die deutsch-französischen Beziehungen, 2013, 19-39, Heimböckel: Paradies mit Hintertür, 2013, 370f.), lässt sich lediglich durch die Metaphorik des Begriffes Projekt begründen. Ob die Auffassung »Interkulturalität als Projekt« (Heimböckel et al.: Interkulturalität als Projekt, 2014, 119-143) vor dem Hintergrund des Verständnisses der Moderne als Projekt zu einer bahnbrechenden Erkenntnis führen kann, bleibt noch zu diskutieren. 305   Einen dem traditionellen Verständnis des Fremden verpflichteten Ansatz vertrat Wierlacher: Mit fremden Augen oder: Fremdheit als Ferment, 1985, 3-28. Allerdings verändert er seine Position in einem späteren Beitrag, in dem er Interkulturalität als »eine Denk- und Handlungsnorm, die nie auf Seiten nur einer Kultur, sondern immer zugleich zwischen den Kulturen steht«, beschreibt (Wierlacher: Interkulturalität, 2003, 260). 306   Mecklenburg: Das Mädchen aus der Fremde, 2008, 13.

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der interkulturellen Fähigkeit des Rezipienten vielmehr Aufmerksamkeit.307 Die Herstellung des Verhältnisses zwischen dem Medium und dem Rezipienten folgt der Rezeptionstheorie und impliziert das Verstehen des vermeintlich Fremden durch den Rezipienten im Kommunikationsakt zwischen Text und Leser. Auf diese Weise wäre der Begriff Migrationsliteratur sogar gerechtfertigt, denn dieser deutet zwar die Mechanismen des Kommunikationsakts voraus, ihm scheint aber die textimmanente Analyse keine primäre Angelegenheit zu sein. Daher kann er als Begriff einer interkulturellen Analyse kein Theorieangebot machen. Vielmehr gestaltet er eine Projektionsf läche, für deren Bestimmung textexterne Aspekte zugrunde gelegt werden, welche ihrerseits die Analyse auf die Biographie von Autoren erweitern. Mit dieser Perspektivenerweiterung gehen kulturalisierende (darunter auch kulturpessimistische) Assoziationen einher, die sich bei einer textimmanenten Interpretationsarbeit als höchst schwierig erweisen. Die wesentliche Fehleinschätzung des Begriffes Migrationsliteratur liegt darin, dass er stillschweigend von einer Repräsentationsfunktion der Figur des Migranten ausgeht und anhand dieser Funktion die Interpretationsmöglichkeit einer homogenen Kultur nahelegt.308 Diese Annahme führt im Kontext der Repräsentation zur Einschätzung literarischer Texte als Tableau, indem sich Vertreter der Migration oder verschiedener Kulturen repräsentiert fänden. Repräsentation aber stellt »einen medialen und nie absolut transparenten oder direkten, sondern vielmehr selbst Bedeutung konstituierenden Vermittlungsvorgang dar«.309 Hierzu steht der Begriff Migrationsliteratur, im Widerspruch, denn er fungiert nicht in einem Bedeutung konstituierenden Vermittlungsvorgang, sondern setzt ebendiese Bedeutungen voraus und fixiert sie. Dadurch wirkt er gegen die interkulturelle Prämisse der Unabgeschlossenheit kultureller Prozesse und der Offenheit der Kultur. Die Auffassung über die Offenheit der Kultur und über ihre Variabilität und Veränderbarkeit korrespondiert mit den Kulturtheorien, deren Potentiale die germanistische Interkulturalitätsforschung noch zu entdecken hat. Im Vordergrund steht das semiotische Analysekonzept, das sich sowohl in Theorien der Kultursemiotik als auch in den Erzähltheorien der Germanistik 310 bereits etabliert hat. Im Grundmodell der allgemeinen Semiotik, sei noch einmal daran erinnert, wird die gesamte Kultur als Kommunikationskette betrachtet, die auf der Produktion von Zeichen in einem System konventionaler Regeln beruht, die Umberto Eco in La struttura assente (1968) Codes nennt.311 Erweitert wird dieses Kommunikationsmodell insofern, als es in Ecos Arbeiten der siebziger Jahre nicht allein als Kommunikation, sondern auch als Prozess der Kognition verstanden wird. Mit der Auffassung von Kultur als Ergebnis kommunikativer und kognitiver Prozesse wird die Perspektive von einer bloßen Analyse der 307 Siehe zu den Diskussionsansätzen Wierlacher: Interkulturelle Germanistik, 2003, 1-45. 308   Dabei glauben wir, seit Michel Foucaults Repräsentationskritik an der Darstellung der Welt in den Wissenschaften am Beispiel von Velásquez’ Las Meninas zu wissen, »[f]ür wen im klassischen Denken die Repräsentation existiert und wer sich selbst in ihr repräsentiert, sich als Bild oder Reflex erkennt, alle überkreuzten Fäden der ›Repräsentation als Bild‹ verknüpft – der wird sich darin nie selbst präsent finden« (Foucault: Die Ordnung der Dinge, 1983, 373). 309   Kley: »Beyond Control, but not Beyond Accommodation«, 2002, 59. 310  Koschorke: Wahrheit und Erfindung, 2012. 311  Eco: Einführung in die Semiotik, 1972, 57-64; siehe zu Codes im Kontext von Ecos semiotischem Analysemodell Fröhlich: Umberto Eco. Philosophie – Ästhetik – Semiotik, 2009, 165-171.

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Codierung und Entzifferung kultureller Artefakte auf die Analyse und Interpretation von Wahrnehmungsprozessen erweitert. Diese Erweiterung hat erhebliche Folgen in der Kulturanalyse, denn Bedeutung wird nicht mehr als Verkettung von Interpretationen und nur in Bezug auf andere Zeichen definiert, sondern auch in Bezug auf das Objekt und dessen Stellenwert innerhalb der Kommunikationskette. Dies leitet zur Wiedereinbeziehung des Referenten und zur Bestimmung von Interpretationsgrenzen der Kultur in der Semiotik der neunziger Jahre über.312 Diese Auffassung wird ohne die Kritik an der ontologischen Bestimmung der Kultur und ohne das Verständnis von Kultur als offenem System313 unendlicher Interpretationen in stets voranschreitenden gesellschaftlichen Prozessen nicht auskommen können.314 Die Kritik an der ontologischen Kulturauffassung bildet, wie bereits angedeutet, auch den Gegenstand der Cultural Studies. Der Sozialhistoriker Richard Johnson begründet sie in drei Hauptprämissen. Er hebt hervor, dass kulturelle Prozesse erstens mit Klassenverhältnissen, gesellschaftsspezifischen und ethnisch bestimmten Strukturen in Form von Abhängigkeit und Unterdrückung eng zusammenhängen.315 Zweitens schließt Kultur Machtstrukturen ein und trägt dazu bei, dass Individuen und gesellschaftliche Gruppen Bedürfnisse definieren und verwirklichen. Aus diesen beiden Prämissen ergibt sich die dritte: Kultur ist kein autonomes, aber auch kein von außen definiertes Feld, sondern ein Bereich gesellschaftlicher Differenzen. Die Aufgabe der Kulturanalyse liege Johnson zufolge in der Auseinandersetzung mit subjektiven und differierenden Formen von Kultur, in denen und durch die ein Wir lebt. Subjektivität konzentriert sich also auf ein Ich-, und noch wichtiger, auf ein Wir-Gefühl, das 312   Siehe zur Diskussion im Kontext Fröhlich: Umberto Eco. Philosophie – Ästhetik – Semiotik, 2009, 227-250. 313 Siehe hierzu Eco: Lector in fabula, 1987, 15-30. – Für die literarische Analyse ist die Offenheit der Interpretation maßgebend wie bindend. Sie darf keineswegs als Verführung zu irgendeiner willkürlichen Interpretation eines Werks verstanden werden. Das Verhältnis der Treue zur Interpretation ist im Hinblick auf die Gesetzmäßigkeit des Werks ohnehin verpflichtend. Vielmehr bedeutet die Offenheit der Lesart eine prinzipiell in jedem Kunstwerk angelegte Möglichkeit der Interpretation, die schließlich eine Vielfalt von Perspektiven und Interpretationsmöglichkeiten erlaubt. In einem Rückblick auf die Wirkungsgeschichte von Das of fene Kunstwerk beschreibt Eco in Lector in fabula seine Arbeit an der Textpragmatik unter der Prämisse über kooperative Bewegungen (Eco: Lector in fabula, 1987, 5). Die kooperativen Bewegungen, durch die Eco seine Textpragmatik auch mit Barthes’ Le plaisir du texte (1973) in Verbindung bringt, liegt der Interpretation der Kultur in der allgemeinen Semiotik zugrunde. Diese Auffassung von Kultur wird als Potential ihrer Offenheit begriffen und steht im Widerspruch zu ontologischen und metaphysischen Strukturen und Lesarten von Kunst und Kultur. In Opera aperta beschreibt Eco, wie Künstler entsprechend ihrer eigenen Ansicht über die Welt und die Kultur ihrer Zeit verschiedene Strategien entwickeln, um die unvermeidliche Mehrdeutigkeit von Kunstwerken hervorzuheben. 314   Eco erweitert sein Untersuchungsfeld zwischen den siebziger und neunziger Jahren von der Kunst auf die gesamte Kultur. Der mittelalterlichen Vorstellung eines geordneten Kosmos und der Auffassung von Kultur als Produkt eines genialen Individuums steht die Ansicht über Kultur als zu interpretierende Code-Modelle gegenüber. Sie ist in Ecos allgemeiner Semiotik als ein System gesellschaftlicher Konventionen anzusehen, das sämtliche kulturelle Tätigkeiten des Menschen als Produktion von Zeichen erfasst. In seiner Schrift Semiotik. Entwurf einer Theorie der Zeichen ist Eco auf der Suche nach einer kulturellen Logik, nach der Menschen Kunstwerke oder andere Artefakte hervorbringen und auf diese Weise der Welt Bedeutung geben. Mit der Bildung von Zeichen geht in Die Grenzen der Interpretation der semiotische Prozess der Interpretation einher. 315 Dieser Zusammenhang erinnert an den Aspekt der Kognition bei Eco.

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in Sprache, Zeichen, Diskursen, Ideologien und Mythen seinen kulturellen Ausdruck findet. Im »Kreislauf der Kultur« kehrten, so Johnson, die hierdurch hervorgebrachten Kulturprodukte zu uns zurück.316 Johnsons »Kreislauf der Kultur« – von ihrer Problematik abgesehen317 – folgt einem Prozess, den Stuart Hall mit Blick auf kulturelle Kommunikationsprozesse mit Encoding/Decoding bezeichnet. Nach Hall vollziehen sich Kommunikationsprozesse in Strukturierungen von Momenten der Produktion, Zirkulation, Distribution/Konsum und Reproduktion, die durch die Artikulation miteinander verbundener Praktiken entstehen. Der Gegenstand dieser Praktiken sind beispielsweise Nachrichten und Bedeutungen in Gestalt besonderer Zeichenträger, die in der syntagmatischen Kette eines Diskurses organisiert sind. Die in diskursiven Formen erfolgende Zirkulation und Distribution des Produkts erzielen erst dann ihre Bedeutung und Wirkung, wenn sie übersetzt werden. Das heißt: Diskursive Formen der Kommunikation sind im Kommunikationsaustausch, dessen determinierende Momente Prozesse des Codierens und Decodierens her- und darstellen, richtungsweisend und nehmen deshalb in der Kommunikation eine privilegierte Position ein.318 Johnson fasst diese privilegierte Position mit dem Begriff Transformation. Der Berliner Kommunikationswissenschaftler Thomas Düllo greift auf diesen Begriff zurück und bezeichnet Transformation in seinem den Cultural Studies verpf lichteten Ansatz als Prozess, der den Mitgliedern einer Kultur ein Umdenken bisheriger Orientierungen abnötigt.319 Diese Neuorientierung erfolgt nach Werner Hamachers zitierter These in Heterautonomien (2003) in der Überlegung, nicht danach zu fragen, was Kultur ist, sondern vielmehr danach, wie Kulturen in Abhängigkeit voneinander entstehen und wie sie sich wandeln. Die Offenheit, die Pluralität und die Transformation kultureller Kommunikationsprozesse der Semiotik und der Cultural Studies sind Kriterien, für die sich später auch die germanistische Interkulturalitätsforschung interessiert.320 Carmine Chiellino bescheinigte noch um die Jahrtausendwende der Germanistik mangelndes Interesse und Engagement an bzw. in der interkulturellen Literaturwissenschaft und stellte in ihr bei der Auseinandersetzung mit interkulturellen Fragestellungen die Beschränkung auf eine monokulturelle Sichtweise fest. Er sprach hier des Weiteren von einer Monokulturalität, die er mit der Sprachgrenze (Deutsch) und mit der daraus resultierenden mangelnden Dialogfähigkeit der Wissenschaft begründete.321 Die mangelnde Dialogfähigkeit ließe sich nur dann auf heben, wenn der »Ort der Literatur« nicht auf »die kulturelle Andersartigkeit der Standorte, der Figuren oder der Verfasser/innen«322 reduziert, sondern als Ort der Heterogenität aufgefasst werde. Dass Heterogenität im interkulturellen Diskurs der Literatur eine verbindende Funktion erfüllt, begründete Chiellino anhand von drei Komponenten: das interkulturelle Gedächtnis 316   Johnson: What is Cultural Studies Anyway, 1986, 38-80. 317 Siehe zur Diskussion im deutschsprachigen Kontext Hepp et al. (Hgg.): Schlüsselwerke der Cultural Studies, 2009. 318  Hall: Encoding/Decoding, 1980, 128-138. 319  Düllo: Kultur als Transformation, 2011. 320  Hamacher: Heterautonomien, 2003, 157-201; Heimböckel: Die deutsch-französischen Beziehungen, 2013, 19-39. 321   Chiellino: Interkulturalität und Literaturwissenschaft, 2007, 388f. 322 Ebd., 391.

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und die Erweiterung des Kulturgedächtnisses des (wiedervereinigten) Deutschlands als Lebensprojekt, an dem sich Autoren und Leser gleichermaßen beteiligen, die Wiedergabe der Gleichzeitigkeit des Unterschiedlichen durch Sprache und schließlich die Präsenz eines interkulturellen Gesprächspartners als Leser neben dem impliziten Leser aus der jeweils eigenen Kultur.323 Diese Komponenten haben im literaturwissenschaftlichen Diskurs der Migration Konsequenzen: Wenn die Kulturanalyse nach denjenigen Kriterien, die Kultur, ihre Formen und Veränderungen ausmachen, fragt, so lassen sich die von Chiellino ins Gespräch gebrachten Komponenten der Sprache, des Gedächtnisses und des interkulturellen Kontextes als mögliche Themenbereiche auffassen, die in der Literatur über kulturelle Formen und Veränderungen Aufschlüsse geben. Die Auseinandersetzung mit ihrer Literarisierung bedeutet, nach ihren ästhetischen Möglichkeiten und Varianten sowie nach ihrem Wirkungspotential in Prozessen der Kulturtransformation zu fragen. In einem zweiten Schritt ist zu beantworten, inwiefern sie sich einerseits auf das gemeinsame Wir-Leben und auf den »Kreislauf der Kultur« (Johnson) auswirken und andererseits die Kommunikation und ihre Formen in einem Wir-Diskurs (Hall) beeinf lussen. Das Fremde wird sich hier nicht mehr als eine Ontologie begreifen, von der sich die Existenz des Eigenen herleitet, sondern als ein notwendiges Glied der Kommunikationskette, in der es zusammen mit dem Eigenen jederzeit eine modifizierbare Kommunikationskonstruktion gestalten kann. Das Eigene und das Fremde werden auf diese Weise aus dem asymmetrischen Verhältnis einer Kulturontologie gelöst und mit Transformationsprozessen der Kultur verschränkt.

2.3.1 Literatur und die ästhetische Erfahrung des Kulturwandels Die kulturtheoretischen Ansätze der germanistischen Interkulturalitätsforschung und der Semiotik lösen Kultur von einer homogenisierenden und hegemonialen Position als Entität ab, indem sie sie als variabel, konstruier- und deutbar beschreiben. Geht man von dieser Neuorientierung aus, so wird der Begriff Migrationsliteratur terminologisch kaum eine Legitimität beanspruchen können. Er lässt sich mit Biondis Worten über die Gastarbeiterliteratur, diese enthalte den Grundkonf likt zwischen »Freiheit der Sprache und erfahrungsbedingter Einengung«324, in seinem Entstehungskontext325 mit der Frage konfrontieren, ob er das diskursive Vermögen besitzen kann, den Konf likt zwischen »Freiheit« und »Einengung« zu entschärfen. Die Literatur selbst verneint diese Frage mit dem Argument, dass der Begriff Migrationsliteratur Beziehungen nicht allein erfahrbar mache, sondern sie definiere und bewerte; er neige zur Pauschalisierung und Kulturalisierung.326 Mit dem Potential der Kulturalisierung befasst sich die Literaturwissenschaft und spricht von einem »Kulturenzwang«327.

323   Ebd., 395. – Die »Rolle des Lesers« in Prozessen der Kulturinterpretation ist unter den Aspekten des Codierens und des Decodierens der Gegenstand von Ecos Interpretationsmodell (Eco: Lector in fabula, 1987, 61-82). 324  Biondi: Die Fremde wohnt in der Sprache, 1986, 27. 325  Keiner: Von der Gastarbeiterliteratur zu Migranten- und Migrationsliteratur, 1999, 3-14. 326  Blioumi: ›Migrationsliteratur‹, ›interkulturelle Literatur‹ und ›Generationen von Schriftstellern‹, 2000. 327 Ezli et al. (Hgg.): Wider den Kulturenzwang, 2009.

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Der von Biondi ins Gespräch gebrachte Grundkonf likt zeigt sich um die Mitte der achtziger Jahre in der Auffassung über Migration als »außerordentlich heterogenes Phänomen«.328 Die Heterogenität wird nicht nur dem Phänomen selbst zugeschrieben, sondern auch durch unterschiedliche Herangehensweisen und Definitionsansätze verschiedener Wissenschaftsdisziplinen erzeugt.329 Gegen die Annahme der Heterogenität von sowohl Migrationsprozessen als auch ihrer theoretischen Analyse wirkt der Begriff Migrationsliteratur, lässt sich nun rückblickend zusammenfassen, vor allem aus drei Gründen: Erstens verdankt er seine Entstehung und Entwicklung der Arbeitsmigration, weswegen er – zweitens – biographische, ethnische und sprachliche Funktionalisierungszwecke in den Vordergrund rückt, die zur Fehlleitung literaturwissenschaftlicher Analysen führen. Hieraus resultiert drittens, dass er der für den Wissenschaftsdiskurs unverzichtbaren Präzision entbehrt.330 Ein anderes Ergebnis verspricht die Analysepraxis, die den kategorialen und reduzierenden Determinierungsbereich des Begriffes Migrationsliteratur verlässt und sich den Figuren, ihren Interaktionen und Handlungsorientierungen widmet. Diese Analysepraxis kann zeigen, dass Figuren durch ihre Interaktionen und Handlungen eine Welt konstruieren, die in jeder Hinsicht dem Referenzbereich des Begriffes Migrationsliteratur entgegenwirkt. Auf diese Problematik der Kategorisierung und Reduktion reagieren Protagonisten textueller und Akteure filmischer Darstellungen, indem sie sich gegen die ethnisch und historisch funktionalisierende Bestimmung ihrer Identitätsarbeit und gegen die monokulturelle Verortung in einer Ursprungsheimat positionieren. Auf diese Weise handeln sie im Spannungsverhältnis individueller und kultureller Identitätsarbeit.331 328   Stölting-Richert: Migration und Sprache, 1988, 1564-1574, hier  1564. 329   Verschiedene Annäherungsversuche an das Thema Migration belegen unterschiedliche Analysemethoden etwa in Erfurt (Hg.): Mehrsprachigkeit und Migration, 2003. Exemplarisch möchte ich auch auf Konrad Ehlich verweisen, der in seiner linguistisch orientierten Analyse vier Migrationsvarianten unterscheidet: die Kategorie des Nomadischen, des Pilgertums und Tourismus, des Politischen und des Ökonomischen (Ehlich: Migration, 1996, 180-193). Man könnte einen Schritt weitergehen und überprüfen, welche weiteren Kategorien in anderen Disziplinen gebildet werden. Meine Absicht besteht hier jedoch nicht in einer interdisziplinären Thematisierung unterschiedlicher Migrationskategorien. Ich möchte lediglich auf die Komplexität der Thematik hinweisen, die folglich jeden Versuch über eine klar definierte Kategorisierung erschwert. Auf den Schwierigkeitsgrad verweisen beispielsweise folgende Arbeiten: Gott: Migration, ethnicization and Germany’s new ethnic minority literature, 1994; Chiellino: Am Ufer der Fremde, 1995; Dörr: Deutschsprachige Migrantenliteratur, 2008, 18-23. 330 Dieter Lamping verweist auf die Zweisprachigkeit der Werke, die über das Biographische hinaus die Autoren miteinander verbindet. Eine literarische Zweisprachigkeit sei, so Lamping, »hierzulande lange Zeit nicht einfach als Tatsache hingenommen, sondern grundsätzlich problematisiert worden« (Lamping: »Ein armer unbedachter Gast«, 2014, 15). 331 Das literarische Beispiel hierfür in seinen Anfangsphasen ist das Werk von Aras Ören. Hinzu kommen vier Anthologien und elf Werke einzelner Autoren zwischen 1978 und 1980 mit einem unmittelbaren Bezug zu den Themen Migration, Heimat, Identität, Verlust und Suche nach einem Ort des Ankommens. Darauf Bezug nehmend wurde in der Rezeption stets der Versuch unternommen, eine Verbindung zwischen Protagonisten und sozialen Formen der Zeit in der literarischen Schreibweise herzustellen, ohne die Problematik eines distanzlosen Bezugs von Literatur und Gesellschaft zu beachten (Hamm: Fremdgegangen – Freigeschrieben, 1988, 29-32). Auf diese Problematik verweist der Sammelband Schmeling (Hg.): Literatur im Zeitalter der Globalisierung, 2000 und leitet die Diskussion darüber ein, dass die moderne und postmoderne Literatur bestimmte Formen der nationalen bzw.

2. Migration im Diskurs der Literaturwissenschaft

Die Figuren, um die es in der Studie gehen soll, nehmen im medialen Raum ihrer Repräsentation eine äußerst kritische Haltung kultureller Homogenisierung gegenüber ein. Will man sie entgegen ihrer eigenen Haltung als Migranten einengen, so setzt man stillschweigend die Vorstellung eines ontologischen Systems sozialer und kultureller Verhältnisse auf beiden Seiten voraus und entzieht den Figuren ihre individuelle Wirkung und Entscheidungsfreiheit. Die Reihe der Begriffe Gastarbeiterliteratur, Literatur der türkischen Minderheit, türkisch-deutsche Literatur, deutsche Literatur von Autoren türkischer Herkunf t und Migrationsliteratur bestätigt das Bestehen eines solchen ontologischen Systems, weil sie von zwei vermeintlich unveränderbaren Perspektiven ausgeht. Die Interaktion der Figuren entzieht sich diesem ontologischen System jedoch.332 Denn die Figuren sehen ihre Aufgabe nicht allein im Umgang mit Konf liktund Verlusterfahrungen, von denen jenes System ausgeht, sondern hauptsächlich in Prozessen der Interaktion und Gestaltung des kulturellen Systems, in dem sie sich bewegen, und folglich auch in den Prozessen ständiger Selbst-Suche und Neu-Findung und Selbst-Gestaltung. Ihre Vorgehensweise liefert einen weiteren Beweis für den Reduktionismus und die Homogenisierung, denn sie entlarvt die Mechanismen der Normierung, Regelhaftigkeit, Geltung und Autorität als elementare Ausdrucksweisen des »Kulturenzwangs«. Solche Prozesse lassen sich durch Identität, Heimat und Sprache in der Erzählwelt insbesondere dort rekonstruieren, wo eine Identitätszuschreibung erfolgt, die die Selbst-Identifikation vor dem Hintergrund des identitären Ursprungs erwartet bzw. fordert. Die Diskrepanz der Identitätszuschreibung und -arbeit findet ihre poetische Konstruktion in Darstellungen über die Identitätskrise im Kontext des Generationskonf likts. Die historische Warte der Identitäts- und Generationsarbeit bildet das Gedächtnis. Der Zusammenhang von Generation und Gedächtnis wird in der Literatur durch die Retrospektivität des Erzählens hergestellt, die dem Zwang der Selektion und des Vergessens folgt.333 Darüber hinaus ist die Vergangenheit im Erzählbewusstsein der Gegenwart nicht unmittelbar gegeben. Mit Heinrich Heine gesprochen, suche man die Gegenwart durch Vergangenheit zu erklären; auf diese Weise finde aber die Vergangenheit ihr eigentliches Verständnis erst in der Gegenwart.334 Die Verschränkung von Vergangenheit und Gegenwart im Modus des Erzählens wird durch Ref lexionsmomente organisiert. Damit treffen nicht nur Vergangenheit und Gegenwart aufeinander, sondern auch die Träger der Erinnerungen. Texte und Filme, die hier zur Diskussion stehen, gestalten die Poetik dieses Aufeinandertreffens auf eine besondere Weise, nämlich mit einem Rekurs auf das Familien- und Generationengedächtnis. Mit der Zusammenführung von Familie, Generation und Gedächtnis werden Verbindungsmomente konstruiert, durch die ein kulturelles Gedächtnis erst erzeugt werden muss, bevor es identitätsstiftend wirken kann. Die kultursemiotisch formulierte

kulturellen Grenzüberschreitung und der globalen Vernetzung von Wissen reaktiviert und ästhetisch fruchtbar macht. Mit dieser These wird Literatur aus der Position einer bloßen Reflexionsebene über gesellschaftliche Prozesse befreit und als eine gestaltende, aktive und Impuls gebende Instanz verortet. 332 Phillips (Hg.): Migration in the Global Political Economy, 2011. 333  Koschorke: Wahrheit und Erfindung, 2012, 219-224. 334  Heine: Französische Zustände, 1981, 167.

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Frage danach, wie Erzählungen Kultur erzeugen (1.4.1),335 gewinnt im Zusammenhang mit dem kulturellen Gedächtnis in der ausgestatteten Erzählwelt an Bedeutung, denn mit der Frage nach dem Kulturerzeugen durch das Erzählen wird Kultur zum Gegenstand des Erzählens. Die für den Verlauf der Studie wesentlichen Fragen lassen sich hier anschließen: Wie ist die Retrospektivität des Erzählens organisiert? Durch welche literarischen Techniken entsteht der Zusammenhang von Familie, Generation und Gedächtnis? Welche sind die entscheidenden Bindungsmomente zur Konstruktion eines kulturellen Gedächtnisses? Was ist die Wirkung der Bindungsmomente auf die Nachkommengeneration? Die Untersuchung dieser Fragen wird zur Ausarbeitung von Gestaltungsmodi und Narrativen führen, die die Interkulturalität der ausgestatteten Erzählwelt aufzeigen. Das Erzählen des Gedächtnisses und Konstruktionen familiärer und kultureller Identifikationsmomente stellen die Basis meiner Argumentation kultureller Transformationen dar. In den aktuellen interdisziplinären Forschungsansätzen über Migration vollzieht sich im Gegensatz zu älteren soziologischen und anthropologischen Konzepten eine beachtliche Verschiebung der diskursiven Orientierung, die erlaubt, Migranten nicht mehr in einem Außenraum, sondern im einem »Mit-Raum«336 der Gesellschaft zu verorten. Die Verschiebung der diskursiven Orientierung führt zu der Erkenntnis, den Raum der Migration als Erfahrungsraum der Gesellschaft zu betrachten, der im Falle der Literatur durchaus ein Raum des kulturellen Gedächtnisses sein kann. Diese Verschiebung zeigt außerdem, dass bei der Konstruktion einer historischen, sozialen oder literarischen Migrationsgeschichte keine eindeutige Grenze im Sinne logisch aufeinanderfolgender Zeitabschnitte gezogen werden kann; was erkennbar bleibt, sind allenfalls Momente von neuen Qualitäten an einem Ort individuellen wie kulturellen Daseins. Solche Momente finden ihre Erfahrungsbereiche lediglich in der Gedächtnis- und Erinnerungsarbeit. Die Gedächtnis- und Erinnerungsarbeit wird in der Erzählung hauptsächlich von Figuren getragen, die miteinander in Relation und Interaktion stehen, um das gruppenspezifische Identifikationsmerkmal der Gedächtnis- und Erinnerungsarbeit zu bewahren. Die Inhalte und Modalitäten der Gedächtnis- und Erinnerungsarbeit werden somit zu den zentralen Aspekten einer literarischen Analyse. Sie wird zeigen können, dass die Erfahrung der Migration Relationen des Flächenraums nicht aufrechterhalten kann. Die literarische Gedächtnis- und Erinnerungsarbeit gestaltet einen fiktiven Raum der kulturellen Identifikation, dessen Codierung und Decodierung zur Verdichtung neuer plurilokaler und transnationaler Verf lechtungsbeziehungen beiträgt. Im Zentrum der literarischen Analyse steht also nicht die Frage, ob die Prozesse und Zeichen, aus denen das kulturelle Gedächtnis generiert wird, natürlich oder konstruiert seien; vielmehr geht es um den Wirkungsbereich und um die Evidenz des kulturellen Gedächtnisses im Kreislauf gesellschaftlicher Verdauungsprozesse.337 Unter Berücksichtigung des kulturellen Gedächtnisses ist der Begriff Migrationsliteratur nur bedingt von Nutzen, weil er die Bikulturalität des Gedächtnisses in der Literatur unter die Dominanz einer monokulturellen Perspektive stellt. Werke, die hier diskutiert werden, beschreiben das kulturelle Gedächtnis als vieldimensional. Im 335  Nünning: Wie Erzählungen Kultur erzeugen, 2013, 15-53. 336   Siehe zu diesem Begriff Tafazoli et al.: Einleitung: Heterotopien in Kultur und Gesellschaft, 2012, 20f. 337  Koschorke: Wahrheit und Erfindung, 2012, 221f.

2. Migration im Diskurs der Literaturwissenschaft

Diskurs der Literatur ist das Individuum nicht einfach geschichtslos, sondern besitzt mehrere verschiedene Geschichten, die nur in seiner Erinnerungsarbeit miteinander vernetzt werden können. Durch die Aufarbeitung dieser Geschichten in der Sprache ist es in der Lage, ein gemeinsames Gedächtnis zu konstruieren, durch das die scheinbar getrennten Räume der In- und Out-Group in Übergangsräume der Sprache und der Literatur umgewandelt werden. So wird die Literatur zum Ort einer »diverse shared history«338. Die Partizipation des Einwanderers an dem Ort der »divers shared history« kann im interkulturellen Diskurs der Migration insofern folgenreich sein, als die Literatur den Migranten nicht allein als Repräsentationsfigur des Grenzgängers, sondern vor allem als Gedächtnis-Figur in den Blick nimmt. Solch eine Figur ist in der Lage, unabhängig von Ort und Zeit Vergangenheit und Gegenwart zusammenzuführen und den Zustand der Geschichtslosigkeit in der Aufnahmekultur zu überwinden. Die zentrale Frage ist, wie die Beziehung von Vergangenheit und Gegenwart poetisch hergestellt wird, was für die Konstruktion ihrer Relationen notwendig ist und wie die Gedächtnis- und Erinnerungsarbeit in literarischen Ref lexionen eine gemeinsame Geschichte stiftet. Mit diesen Fragen befasst sich diese Studie am Beispiel der Werke, die das Stiften eines gemeinsamen Gedächtnisses beanspruchen. Bei meiner Analyse interessiere ich mich für Leseprozesse, die lediglich im Rahmen des Textangebots ihre Wirklichkeit finden.339

2.3.2 Literatur jenseits von Reduktion und Exklusion »Es war einmal ein kleines, süßes Mädchen, das hatte jedermann lieb, der es nur sah, am allerliebsten aber seine Großmutter«. So beginnt Rotkäppchen, eines der beliebtesten Märchen. In gedruckter Form erschien es zum ersten Mal vor gut 200 Jahren in Jacob und Wilhelm Grimms Sammlung Kinder- und Hausmärchen (1812).340 Die Grimms vermuteten schon damals, dass Rotkäppchen ursprünglich aus Indien stammte und sich von dort aus in die Welt verbreitete. Die auf Digital Humanities basierte Studie des Anthropologen Jamshid Tehrani analysiert fünfundachtzig Varianten von Rotkäppchen, die aus Asien, Afrika und Europa stammen, und nun durch die Übertragung computergestützter Recherchemethoden der Phylogenetik auf die Märchenforschung analysiert werden. Tehranis Analyse liefert die Erkenntnis über Typklassen des Märchens in europäischen, afrikanischen und ostasiatischen Variant-en, wobei die letzteren selbst eine Mischung aus den vorhergehenden Versionen darstellen.341 Tehranis Forschungsergebnisse belegen zweierlei: Es kann erstens kein gradliniger Stammbaum des Märchens nachgezeichnet werden (was vermutlich auch mit den Schwächen der Übertragung biologischer Verfahrensweisen auf die Literatur und mit Materiallücken zusammenhängt). Zweitens gehen die jeweils als Ursprung gedachten Muster selbst ineinander über und vermischen sich miteinander. Darüber hinaus lässt sich aus seinen Forschungsergebnissen die Erkenntnis gewinnen, wie die Verschiebung der Perspektive von einer Analyse des Werk-Ursprungs zu einer des Werk-Inhalts 338  Spivak: Translating in a World of Languages, 2010, 38. 339  Krusche: Lese-Differenzen, 2000, 87-104. 340   Grimms Märchensammlung lebt bis heute in immer wieder neuen Auflagen fort. In einer Auswahl hat der Reclam Verlag Grimms Märchen im Jahre 2014 nachgedruckt. 341  Tehrani: The Phylogeny of Little Red Riding Hood, 2013.

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die Interpretation eines literarischen Werks in ein vollkommen anderes Licht setzt und das Werk jenseits reduzierender und exkludierender Grenzen eines Ursprungs in einer Vielfalt von Differenz und Ähnlichkeit erscheinen lässt. Die Varianten des Märchens münden trotz ihrer Differenzen, die ihre endgültige Lokalisierung und Bestimmung unmöglich machen, in eine Einheit, die sich keineswegs durch ein Stammbaum- oder Stammbusch-Modell erfassen lässt. Dennoch kann man im Falle des Rotkäppchen-Märchens von einer Einheit im literarischen Sinne sprechen, die ermöglicht, die Rotkäppchen-Varianten durch Genre-Ähnlichkeiten aufzuzeigen. Dies geht für Tehrani mit den Ergebnissen der modernen Evolutionsbiologie über die Verzweigungen des menschlichen Lebens einher. Die Verzweigungen des menschlichen Lebens wurden bereits in Niklas Luhmanns umfassender Analyse der Mikro- und Makrosysteme der Gesellschaft diskutiert.342 Diese Diskussion trägt dazu bei, die Überlegungen über den Prozesscharakter der Kultur auch in den Gesellschaftstheorien der Moderne zu begründen. Interkulturelle Fragestellungen gewinnen aus der Systemtheorie die Erkenntnis über die Mannigfaltigkeit der Differenzierungsprozesse und kontrastieren diese mit den Tendenzen kultureller Monolithisierung. Die Tragweite der Systemtheorie in interkulturellen Studien beruht auf der Vernetzung kultureller Bereiche und auf der Annahme, dass Strukturen der Kommunikation in weitgehend allen sozialen Systemen vergleichbare Formen aufweisen. Auf die semiotische und systemtheoretische Auffassung von Kultur als Kommunikationsprozessen gründet die Germanistik ihre These über die Herstellung der Beziehung zwischen der Struktur der Gesellschaft und den literarischen Werken.343 Das interdisziplinär gesetzte Ziel besteht darin, in literarischen Werken Semantiken zu rekonstruieren, die erlauben, Momente sozialer Diskurse in der Literatur zu verfolgen. Die Germanistik geht einen Schritt weiter und adaptiert die Systemtheorie unter zwei Gesichtspunkten. Erstens: »Literatur als symbolisierte Kontingenz«, zweitens: »Kultur als Themenvorrat«.344 Mit ihnen ist die Frage nach der spezifischen Funktion der Literatur im ersten Punkt und nach grundlegenden Problemen kommunikativer Anschlussfähigkeit im zweiten Punkt verbunden. Darauf kann die germanistische Interkulturalitätsforschung mit der These über verschiedene Abläufe systemischer Kommunikation in unterschiedlichen kulturellen Kontexten reagieren. Methodisch fruchtbar für interkulturelle Theorieansätze ist die Interdisziplinarität von systemtheoretischen Forschungsergebnissen der Kultursemiotik. Diese Interdisziplinarität lässt sich in den Theorien von »Prinzipien des Kulturwandels«345 und kul-

342 Betrachtet man die Entwicklungsphasen von Luhmanns Systemtheorie, so lassen sich zwei grundsätzliche Aspekte feststellen: In der ersten Phase (1960-1980) formuliert Luhmann seine radikale Absage an traditionelle Strukturen und Normen, die einseitig orientiert sind und deshalb auch einen undynamischen Charakter aufweisen. Mit seinen Hauptwerken Soziale Systeme (1984) und Die Gesellschaft der Gesellschaft (1997) beginnt die zweite Phase, in der er zwar den Grundgedanken aus der ersten Phase beibehält, aber um eine für den interkulturellen Diskurs entscheidende Dimension erweitert: Er ersetzt seinen handlungstheoretischen Ansatz durch einen kommunikationstheoretischen und fasst Kultur als Kommunikationsprozesse und Diskurse auf. 343 Siehe zur Theorie und Diskussion Schwanitz: Systemtheorie und Literatur, 1990; Plumpe: Ästhetische Kommunikation der Moderne, 1993. 344  Berg: Systemtheorie, 2003, 99; 101. 345  Posner: Kultursemiotik, 2003, 55.

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tureller Vernetzung beobachten. Die Kultursemiotik beruft sich auf das Prinzip, das Kultur durch ihre Mitglieder geprägt werde et vice versa, und versucht, den Einf luss der Kultur auf Menschen und den der Menschen auf Kultur mit semiotischen Konzepten zu erklären. Was konkret mit solchen Konzepten gemeint ist, setzt sich aus drei Aspekten zusammen: 1) Die Auffassung von Kultur als Gesamtheit der Texte, 2) die Auffassung von Kultur als Hierarchie von Zeichensystemen und als System von Codes und hieraus resultierend 3) die Erklärung des Kulturwandels. Allein die Tatsache, dass die Kultursemiotik von Kulturwandel ausgeht und ihr Ziel in dessen Erklärungen sieht, zeigt das interdisziplinäre Potential ihrer theoretischen Ansätze. Es kommt noch hinzu, dass in der Kultursemiotik explizit die Rede von interkulturellem Codewandel ist, d.h. das Zeichensystem stellt nichts Ontologisches, sondern etwas Veränderbares und Vergleichbares dar.346 Zusammenfassend bedeutet dies, dass der kulturelle Codewandel nicht bloß einen Wechsel bedeutet; vielmehr entstehen dadurch auch neue Codes. Für den interkulturellen Diskurs der Literatur wäre deshalb die Beobachtung interessant, wie Literatur als Zeichen- und Bedeutungssystem kulturelle Codes produziert, wie diese Codes in einer interkulturell profilierten Erzählwelt encodiert/interpretiert werden können und welche Rolle sie, die Prozesse ihrer Codierung, Encodierung und Wandlung bei der Suche nach kulturellen Verzweigungs- und Transformationsmomenten spielen. Dieser Analyse wird ein Interpretationskonzept zugrunde gelegt, das Migration zwar als einen Aspekt innerhalb der vielfältigen Transformationen begreift, sie aber keineswegs außerhalb des kulturellen Code-Systems verortet. Die (Haupt-)Figuren haben eine Migrationsgeschichte hinter sich, betrachten die Geschichte in der Wirklichkeit der ausgestatteten Erzählwelt jedoch als nie wiederkehrende Momente. Das, was ihnen bleibt, ist das Gedächtnis ihrer Geschichte, d.h. das Migrations-Gedächtnis. In der Wirklichkeit des Textes wird das Gedächtnis durch eine die Figuren umgebende Welt, deren Konstruktion nur Konfrontationen und Reaktionen von Figuren dienlich ist, aktiviert. Herkunft, Heimat, Sprache und Identität haben daher zwei Seiten: eine historische Seite, die nur durch die Gedächtnis- und Erinnerungsarbeit erfahrbar wird, und eine gegenwärtige Seite, die den kulturellen Wirkungsbereich der Figuren ausmacht und identitätsstiftend ist. Bei der Werkanalyse ist es deshalb interessant, auszuarbeiten, wie die Figuren in der erzählten Wirklichkeit ihre Identifikation in einem Spannungsverhältnis von Geschichte und Gegenwart organisieren, was für eine Beziehung Figur und Kultur zueinander auf bauen und wie aus dieser Beziehung Transformationsmomente hergeleitet werden können.

2.4 Literarische Formen eines deutsch-iranischen Migrationsgedächtnisses Das germanistische Interesse an dem deutsch-iranischen Migrationsgedächtnis scheint im Vergleich zu dem deutsch-türkischen Migrationsgedächtnis überaus gering zu sein. Unter Berücksichtigung des historischen Potentials in deutsch-iranischen Kulturbegegnungen ist das mangelnde Interesse unerklärlich. Die Gründe dafür könnte man auf die Problematik, die aus den politischen Herausforderungen in 346 Ebd., 58-64.

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den letzten vierzig Jahren resultiert, zurückführen. Aus der vergleichenden Perspektive wäre noch ein weiterer Grund zu nennen, der Verhältnisse zwischen Deutschland und der Türkei historisch anders erklären lässt als die zwischen Deutschland und dem Iran: Zwischen Deutschland und dem Iran hat es kein Abkommen über das Anwerben von Arbeitskräften gegeben. Auch eine Kolonialgeschichte fehlt im Zusammenhang mit dem Iran und den westeuropäischen Staaten.347 Mit Blick auf die Verschiedenheit dieses kulturhistorischen Zusammenhangs verschärft sich die Problematik des literarischen Diskurses, die Termini Gastarbeiter- und Migrationsliteratur auf diejenigen deutschsprachigen Werke zu übertragen, die aus der Feder von den aus dem Iran stammenden Autoren stammen. Der historische Entstehungskontext von Werken mit einem Bezug zum deutsch-iranischen Migrationsgedächtnis ist also ein grundlegend anderer und soll deshalb kurz vorgestellt werden. In der bundesrepublikanischen Germanistik existiert noch keine Monographie, die sich mit literarischen Ref lexionsmomenten und Konstruktionsvarianten des deutsch-iranischen Migrationsgedächtnisses inhaltlich und theoretisch befasst.348 Aus historischer Sicht aber reicht die Geschichte einer deutsch-iranischen Migration weit zurück. Ein Einblick in die historischen Referenzen soll an dieser Stelle zu einem besseren Verständnis dieser Geschichte beitragen. Während die türkisch-deutsche Migrationsgeschichte auf die Prozesse der Arbeitsmigration in den sechziger Jahren zurückgeführt wird, stellen politische Wandlungsprozesse der ausgehenden siebziger und beginnenden achtziger Jahre die Anfänge einer deutsch-iranischen Migrationsgeschichte im 20. Jahrhundert dar.349 Damit ist keineswegs gesagt, dass Migration in deutsch-iranischen Austauschprozessen vor dieser Zeit ein fremdes Phänomen gewesen sei. In einem erweiterten Kontext betrachtet lässt sich die deutsch-iranische Migrationsgeschichte frühestens bis ins ausgehende 18. Jahrhundert zurückverfolgen. Zu dieser Zeit kamen persische Händler nach Hamburg,350 d.h. an einen Ort, der nicht allein wegen der günstigen Lage als Hafenstadt für persische Geschäftsleute interessant war. Auch eine Reihe von wirtschaftlich günstigen Umständen trug zur Bedeutung 347   Zwar fehlt eine solche Geschichte, im Kontext erweiterter kulturwissenschaftlicher Analysen der Geschichte Irans können aber dennoch ein kolonialer Blick und postkoloniale Reaktionen auf die westliche Perspektivierung der iranischen Kulturgeschichte festgestellt werden (siehe hierzu am Beispiel der englischsprachigen Literatur der Iraner Fotouhi: Alternative Reading, 2016, 219-243). 348 In den USA befasst sich Persis Karim, Poet und Professor für Englische Literatur und Komparatistik an der San Jose State University, bereits seit langem mit den Werken iranischer Migranten etwa in Let Me Tell You Where I’ve Been, 2006, A World Between, 1999 und in ihren Übersetzungen von Moniru Ravanipurs Satan’s Stones, 1996. – In der Literatur der Gegenwart zeigt sich das Interesse an dem Thema Iran in den Arbeiten Alternative modernen. Literatur in autoritären Regimen. Simin Daneshvar – Mercè Rodoreda – Christa Wolf (Yahya Kouroshi, 2014, abgeschlossenes Dissertationsprojekt an der Universität Erfurt), Gender Identity in Contemporary Iranian Theatre (Dissertationsprojekt an der Freien Universität Berlin), Transkulturalität und Identitätsbildung in der deutschsprachigen Gegenwartsprosa iranischer Exilautoren (Dissertationsprojekt an der Université de Namur und der Universität zu Köln) und Situating Germany’s Influence on Iran vis-à-vis the West: Ideological Commonality and Cultural Interface (Dissertationsprojekt an der University of California, Irvine). 349   Erforscht ist diese Geschichte hauptsächlich aus der sozialwissenschaftlichen Perspektive etwa in der Dissertation von Morteza Ghaseminia Iraner und Iranerinnen in Deutschland, 1996. 350  Schütt: Leuchtfeuer des Islam im Abendland, 2000, 14.

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Hamburgs für die Iraner bei. Von Schleswig-Holstein-Gottorf aus wurde die erste große deutsche Gesandtschaft im 17. Jahrhundert auf Wunsch des Herzogs Friedrich III. an den Hof des persischen Königs gesandt; an dieser Mission war Adam Olearius (1603-1671) beteiligt, dessen Reisebericht, Übersetzungsarbeiten und Geschichte der Gottorfischen Kunstkammer (1666) die Hafenstadt Hamburg und die Hauptstadt Isfahan miteinander bekannt machten. Nach Olearius’ Rückkehr aus Persien wurden in Hamburg persische Gärten und Kaffeehäuser gebaut.351 Versucht man, sich über den kleinen Kreis iranischer Kauf leute hinaus einen Überblick zu verschaffen, so wird man auch die Anfänge einer Migrationsgeschichte aufzeigen können, die bis in die Weimarer Republik zurückreicht. Während der beiden Weltkriege nimmt die Zahl iranischer Migranten deutlich ab, bevor sie in den 1960er und 1970er Jahren wieder steigt. Von einer Migrationswelle kann man seit der Islamischen Revolution (1978/79) und während des Irak-Iran-Krieges (1980-1988) sprechen. Auch in den 1990er Jahren verzeichnen die Statistiken eine immer zunehmende Zahl iranischer Migranten. Nach den letzten Angaben bewegt sich die Zahl der in Deutschland lebenden Iraner zwischen 100.000 und 120.000 – inklusive Iraner mit einer deutschen Staatsbürgerschaft. Damit liegt die iranische Migration in Deutschland im europäischen Vergleich an der Spitze, gefolgt von Großbritannien, Schweden, Frankreich und Italien.352 Die zunehmende Zahl iranischer Staatsbürger in der Bundesrepublik nach der Islamischen Revolution erlaubt, seitdem über die individuelle Auswanderung hinaus auch von einer Exil-Tradition zu sprechen, die zwar schon vor der Revolution unter dem Vorzeichen der Aktivitäten iranischer Kommunisten und Sozialisten stand, in den ausgehenden 1970er Jahren aber eine dynamische Steigerung erfuhr.353 Gründe für die Flucht vor der Islamischen Revolution sind hauptsächlich die Missachtung individueller, ziviler und politischer Rechte. Eine Reihe führender Mitglieder von kommunistischen und linksradikalen Parteien emigrierte in den 1980er Jahren nach Paris, West-Berlin und in die Deutsche Demokratische Republik.354 Was aber in der deutsch-iranischen Geschichte der Nachkriegszeit jenseits der politischen Triebkräfte für Migrationsprozesse einen beachtlichen ökonomischen Ertrag aufweist, sind die diplomatisch-wirtschaftlichen Beziehungen zwischen dem Iran und der Bundesrepublik Deutschland bereits in den fünfziger Jahren. Sie begannen laut Informationen des Auswärtigen Amtes im Jahre 1952 mit der Eröffnung der iranischen Gesandtschaft in Deutschland, in deren Folge sich zunächst eine enge 351  Hofmann: Das Porzellan der europäischen Manufakturen, 1980, 30. 352 Siehe zu den Statistiken Hashemi et al.: Verfolgung durch den Gottesstaat, 1998. Hier finden sich weitere Angaben über Alter, Geschlecht und Familienstand, Aufenthaltsdauer und -status sowie über regionale Verteilung. Zur Entwicklung der iranischen Bevölkerung in der Bundesrepublik zwischen 1961-1997 siehe Daneshjoo: Der Grad der sozialen Integration iranischer MigrantInnen in der Bundesrepublik Deutschland, 2003, 29 (Abb. 3), 30 (Abb. 4), zur Zahl der iranischen Migranten in Deutschland im Vergleich zu anderen ausländischen Bevölkerungsgruppen ebd., 28 (Abb. 2). Einen Gesamtüberblick über die iranische Migration liefern Hesse-Lehmann et al.: Iranische transnationale religiöse Institutionen in London und Hamburg, 2004; siehe zum Verhältnis von iranischen Staatsangehörigen zu anderen Bevölkerungsgruppen in Deutschland Ghaseminia: Iraner und Iranerinnen in Deutschland, 1996, 171-176. Siehe zur iranischen Migration in die Vereinigten Staaten von Amerika Ansari: Iranian Immigrants in the United States, 1988. 353   Ghaseminia: Iraner und Iranerinnen in Deutschland, 1996, 101-114. 354 Ebd., 31-39, 45-163, 165-306.

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wirtschaftliche Zusammenarbeit entwickelte, die sich dann auf den Bildungssektor ausweiten konnte. Eine Reihe deutscher Gewerbeschulen im Iran wurden zu einem geschätzten Bildungspartner. Die Deutsch-Iranische Industrie- und Handelskammer zu Teheran (gegründet am 21. Juli 1975) und diejenige in Hamburg verzeichneten ertragreiche Wirtschaftsbeziehungen in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Die Deutsch-Iranische Industrie- und Handelskammer zu Teheran – die einzige unabhängige europäische Handelskammer – stellt mit ihrem Netzwerk von über 2.000 Personen eine der mitgliederstärksten Außenhandelskammern Deutschlands und eine wichtige Institution zur Pf lege von wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Deutschland und dem Iran dar. Damit hängt zwar die Aufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen beiden Ländern mit ökonomischen Interessen im Zeitalter des Wirtschaftswunders zusammen; 355 ein Abkommen zwischen Deutschland und dem Iran darüber, iranische Gastarbeiter anzuwerben, stieß jedoch auf die Ablehnung der iranischen Regierung der Pahlavi-Zeit. Vielmehr liegen Gründe der Auswanderung der Iraner in der Wahrnehmung von individuellen Bildungs- bzw. Aufstiegschancen.356 Ausgehend von der konkreten Definition der Migration als »die auf einen längerfristigen Aufenthalt angelegte räumliche Verlagerung des Lebensmittelpunkts von Individuen, Familien, Gruppen oder auch ganzen Bevölkerungen«357 werden Merkmale und Teilphänomene unterschieden, welche die Form der Migration näher bestimmen sollen. Die Migration der Iraner lässt sich unter den drei Kategorien »Bildungs- und Ausbildungswanderung«, »Kulturwanderung« und »Zwangswanderung«358 zusammenfassen, was darauf hinweisen soll, dass Migrationsentscheidungen und Migrationsbewegungen »multiplen Antrieben«359 unterliegen. Orientiert man sich an den herkömmlichen sozialwissenschaftlich relevanten Migrationstheorien, so lässt sich die Migration der Iraner – abgesehen vom politischen Exil – theoretisch unter »makroökonomische Ansätze« fassen.360 Im Jahre 1961 haben iranische Ärzte die Vereinigung der Iranischen Ärzte und Zahnärzte in der Bundesrepublik Deutschland (VIA) gegründet. Fast dreißig Jahre später entstand im November 1989 der Verband Iranischer Hochschullehrer und Akademiker in Deutschland (VIHA) mit dem Ziel, die wissenschaftlichen und kulturellen Beziehungen zwischen Deutschland und dem Iran zu fördern. 1992 wurden der Verein Iranischer Naturwissenschaf tler und Ingenieure in der Bundesrepublik Deutschland e. V. (VINV) und im November 2010 die Iranische Gemeinde in Deutschland ins Leben gerufen, welche die Förderung der Interessen aller in Deutschland lebenden Iraner ungeachtet ihrer ethnischen, religiösen und politischen Zugehörigkeit anstrebt. Die Statistiken und die historischen Fakten belegen also, dass die erste und größte Migrationswelle der Iraner sich zum Zeitpunkt des kulturellen Bruchs durch die Isla-

355   Daneshjoo: Der Grad der sozialen Integration iranischer MigrantInnen in der Bundesrepublik Deutschland, 2003, 21-27. 356   Ghaseminia: Iraner und Iranerinnen in Deutschland, 1996, 83-87, 255-276. 357  Oltmer: Migration, 2013, 31. 358  Ebd. 359 Ebd., 33. 360  Liakova: Migrationstheorien, 2013, 35

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mische Revolution ereignete.361 Hier begann auch die Phase der Zwangsimmigration. Unmittelbar nach der Machtübernahme durch Ruhollah Khomeini (1902-1989) wurde eine breit angelegte und willkürliche Säuberungsaktion durchgeführt, die eine Reihe von Inhaftierungen und Hinrichtungen vieler Fachkräfte und Funktionäre im königlichen Staatsdienst zur Folge hatte. Der Verdacht, schon einen geringen Posten unter Seiner Majestät Mohammad Reza Pahlavi bekleidet zu haben, reichte für eine Hinrichtung aus.362 1980 wurde von Khomeini eine dauerhafte kulturpolitische Kampagne unter dem Begriff ›Kulturrevolution‹ ins Leben gerufen, die seine Ideen von Individuum, Nation, Staat, Kultur und Islam umsetzen sollte.363 Deren hauptsächliches Ziel war die Islamisierung des iranischen Bildungssystems, die Veränderung des nationalen Bewusstseins durch die Religion und die Zerstörung marxistischer Organisationen sowie der Volksmodjahedin. Mit der Absicht, die iranische Kultur immer stärker aus dem Leben der Menschen zu verbannen und den Einf luss der arabisch-islamischen Kultur in der Gesellschaft zu stärken, warf Khomeini in seiner Freitagspredigt vom 18. April 1980 den Universitäten vor, dem westlichen Vorbild zu folgen und die Revolution an der Erreichung ihrer Ziele zu hindern. Am gleichen Abend wurde das Lehrerkolleg in Teheran angegriffen. Im April wurden bedeutende Universitäten in den Städten Teheran, Schiraz, Maschhad, Isfahan, Ahvaz und Rascht gestürmt. Die landesweiten, gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Revolutionsgarden und Oppositionellen hatten viele Verletzte und Tote zur Folge; dies konnte jedoch das Regime nicht daran hindern, ab dem 21. April 1980 alle Universitäten des Landes auf unbestimmte Zeit zu schließen.364 Am 12. Juni 1980 erließ Khomeini ein Dekret, demzufolge die Zentrale Einrichtung für Kulturrevolution mit folgenden Aufgaben gegründet wurde: Ausbildung von Professoren und Gelehrten, die an den Universitäten Lehrveranstaltungen im Sinne einer islamischen Weltanschauung abhalten sollten, die privilegierte Sonderauswahl von den mit dem Regime sympathisierenden Studierenden bei der Aufnahmeprüfung der Universitäten, Islamisierung von Universitäten und die Modifizierung der Curricula nach den Regeln des Islam und der Kulturrevolution.365 Zur Umsetzung und Überwachung wurde das Komitee zur Islamisierung der Universitäten gegründet. Die Kulturrevolution leitete mit ihren Versuchen, die Wissenschaft mit dem Koran in Einklang 361   In zwei Bänden beschreibt Abbas Milani die Geschichte Irans auf dem Wege zur Moderne zwischen dem Zweiten Weltkrieg und der Islamischen Revolution (Milani: Eminent Persians, 2008). 362   »Die erste große Fluchtbewegung setzte sich daher aus Angehörigen derjenigen gesellschaftlichen Schichten zusammen, die unter dem gestürzten System eine herausragende Position in Politik, Wirtschaft oder beim Militär innehatten. Dazu kamen, mit einer gewissen Zeitverzögerung, auch Angehörige mittlerer Position bei den Streitkräften und den Sicherheitsorganen, die aufgrund ihres Einsatzes während der revolutionären Ereignisse um ihr Leben und das ihrer Familien bangen mussten. Infolge dieser ersten Fluchtwelle haben zwischen 1979 und 1980 Zehntausende Fachkräfte aus allen Bereichen der Technik, Wissenschaft und Verwaltung das Land verlassen, die zum größten Teil in die USA emigrierten. Die zweite große Fluchtbewegung begann im Frühjahr 1980 nach der Proklamation der islamischen Kulturrevolution sowie der Schließung der Universitäten und dauerte bis 1982« (Hashemi et al.: Verfolgung durch den Gottesstaat, 1998, siehe Bibliographie, Online-Ressource). 363   Milani: Eminent Persians, 2008, 811. 364  Bakhash: The Reign of Ayatollahs, 1984, Foran (Hg.): A Century of Revolution, 1994. 365  Keddie: Roots of Revolution, 1981. Eine zweite Phase der Kulturrevolution wurde im Jahr 2006 eingeleitet.

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zu bringen, einen systematischen und massiven Angriff insbesondere auf die Geistesund Humanwissenschaften ein.366 Ihre Bilanz zeigte sich schnell in der Entlassung von über 700 Universitätsprofessoren, der Zwangsexmatrikulation einer Vielzahl von Studierenden, der Zerstörung von Kulturdenkmälern, der exzessiven Restriktionen und den Ermordungen von Professoren, politisch anders gesinnten Studierenden und Künstlern. Gezielte Morde an Kulturschaffenden, bekannt als Kettenmorde367 – sind bis heute Teil dieser Kampagne. Nach der gewaltsamen Schließung der Universitäten war es zu einer größeren Emigrationsbewegung gekommen. Allen voran hatten Vertreter der politischen Linken das Land verlassen; hinzugekommen waren auch junge Männer und Frauen, die nach der Schließung der Universitäten keine Chance mehr für ihre beruf liche Zukunft sahen. Die Studentenmigration in den Westen stieg Anfang der 80er und 90er Jahre deshalb, weil nach der Wiedereröffnung der Universitäten in den Jahren 1983 und 1984 der Oberste Rat der Kulturrevolution neben den normalen Aufnahmebedingungen für Studienplätze eine neue Hürde einführte, nach der die Zulassung zur Universität nicht nur das Bestehen der Aufnahmeprüfung voraussetzte, sondern auch das Bestehen einer ideologischen Überprüfung der islamischen Geisteshaltung, was folglich vielen Abiturienten den Zugang zu einer universitären Bildung versperrte. Die Folge war eine weitere Verstärkung der Studentenmigration nach Europa und Nordamerika. Für die Linke verschärfte sich die Situation durch die Niederlage der islamisch-moderaten Kräfte innerhalb des Machtzentrums und nach der Flucht des ersten Präsidenten der Islamischen Republik Abolhassan Banisadr (*1933) ins französische Exil. Im Juli 1981 brach ein offener Kampf zwischen dem Regime und den oppositionellen Organisationen aus. Nach einer Reihe von Bomben- und Mordanschlägen ging die Regierung mit aller Härte gegen die Opposition vor. Es folgte ein erbitterter Verfolgungs- und Vernichtungsfeldzug gegen die politischen Gegner, der bis in die Gegenwart andauert. Die Prozesse der iranischen Auswanderung lassen eine grundsätzliche Unterscheidung zu, die in der vorliegenden Studie begriff lich prä- und postrevolutionär genannt wird, wobei die postrevolutionäre Phase eine deutlich zunehmende Zahl iranischer Einwanderer in Deutschland verzeichnet.368 In der Literatur konstruieren die zeitlich und örtlich auseinander liegende Islamische Revolution und deutsche Wiedervereinigung ein deutsch-iranisches Gedächtnis und bilden die historischen Eckpunkte literarischer Erinnerungs- und Identitätsarbeit.369 In ihr spiegeln sich nicht nur die 366  Toppa: Angrif f auf das freie Denken, 2010. 367  Boghratie: Iran: Information Crackdown, 2006. 368   Siehe zu Ursachen, Geschichte, Entwicklung, Statistik der iranischen Migration vor und nach der Revolution Daneshjoo: Der Grad der sozialen Integration iranischer MigrantInnen in der Bundesrepublik Deutschland, 2003, 28-35. 369   So eröffnet beispielsweise Sam Rapithwin (*1962, Westiran) seinen Erzählband: »Irgendwann zwischen der iranischen Revolution und der deutschen Einheit muss es geschehen sein, irgendwo zwischen dem Auf-die-Barrikaden-Gehen in Teheran und dem Mauer-Abreißen in Berlin, während die königliche Garde gnadenlos auf dich schießt, oder wenn die unentschlossenen DDR-Soldaten dies eben nicht tun.« (Rapithwin: Mein deutsches Kind, 2001, 5). Rapithwins Erzählband enthält 117 Kurzgeschichten, die aus einer gemischten Perspektive der ersten und der zweiten Person Singular oder auch aus der Wir-Perspektive erzählt werden. Thematisch setzen sich die Kurzgeschichten hauptsächlich mit Flucht und dem Asyl-Leben in Deutschland auseinander. Damit sind es die Themen, die auch von anderen Autoren bearbeitet werden; insofern wird Rapithwins Erzählband keiner ausführ-

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politischen und soziokulturellen Ereignisse seit den ausgehenden 1970er Jahren wider, sondern auch die Geschichten der Migration. Figuren, an denen diese Geschichten abgelesen werden, akzeptieren in der Regel ihre anfängliche Heimatlosigkeit, sofern man Heimat in ihrem herkömmlichen Sinne (Herkunft, Geschichte, Sprache, Geborgenheit) versteht. Manche von ihnen repräsentieren die Figur des ›Intellektuellen‹ und betrachten die Welt, in der sie agieren, aus einer ref lektierten Perspektive. Die Frage danach, ob die in der ausgestatteten Erzählwelt konstituierten Gemeinschaften bereit sind, einen Zustand des ›Intellektuellen‹ zu akzeptieren, bildet die andere Seite der Auseinandersetzungen zwischen den Figuren und ihrem Umfeld. Bei der Analyse dieser Auseinandersetzungen liefern diejenigen thematischen Schwerpunkte, die – um dies vielleicht noch einmal in Erinnerung zu rufen – vornehmlich in Fremdheitsbewältigung, Identität, Heimat und Sprache bestehen, Orientierungs- und Anknüpfungspunkte. Dieses thematische Spektrum liegt der Kontextualisierung eines deutsch-iranischen Migrationsgedächtnisses zugrunde, die im Vergleich zu dem Kontext, den der Begriff Migrationsliteratur zu repräsentieren angibt, nicht vorbelastet ist.

2.5 Zusammenfassung und Ausblick Eröffnet wurde dieses Kapitel mit der Überlegung über Migration in den Diskursen der Literatur und der Literaturwissenschaft mit dem Plädoyer, den literaturwissenschaftlichen Diskurs im Sinne einer Poetik der Migration außerhalb von reduktionistischen bzw. homogenisierenden Grenzen des Begriffs Migrationsliteratur und jenseits von intendierten Funktionsbestimmungen zu führen. Die Gestaltung dieses Diskurses sollte Migration als kulturelles Phänomen betrachten, ohne von der Kultur selbst als Entität auszugehen. Würde der literaturwissenschaftliche Diskurs die Poetik der Migration interkulturell verorten, so bestünde die Möglichkeit, diese Poetik inkludierend aufzufassen und sie als Ausdrucksseite des kulturellen Gedächtnisses im Kanon der deutschsprachigen Literatur zu positionieren. Mit den Fragen, was die ästhetischen Formen dieses Gedächtnisses ausmacht und welche Bedeutung die ästhetischen Formen und Mittel im Diskurs der kulturellen Transformationen haben können, befassen sich das dritte und vierte Kapitel. Ihr Beispiel bildet das deutsch-iranische Migrationsgedächtnisses. Um für die Idee, die Poetik der Migration als Ausdrucksseite des kulturellen Gedächtnisses zu betrachten und Narrative kultureller Transformationen an diesem Gedächtnis abzulesen, zu argumentieren, musste zunächst die Problematik aufgezeigt werden, die der Begriff Migrationsliteratur bislang aufgeworfen hat. Das herausragende Merkmal dieser Problematik wurde darin gesehen, dass dieser Begriff die Literatur im Allgemeinen und den literarischen Diskurs der Migration im Spezifischen am Horizont eines territorialen und nationalen Denkens versetzt. Vor dem Hintergrund dieses Horizontes wird die Literatur auf den Herkunftsort des Autors reduziert. Diese Reduktion stiftet die Grundlage einer Interpretation, die ihrerseits eine auktoriale Autorität des Interpretanten erzeugt. Wird die Perspektive dieses Interpreten als westlich lichen Analyse unterzogen. Im Übrigen ist dieser Erzählband das einzige Werk des Autors, das bis jetzt veröffentlicht worden ist (siehe zu Rapithwin Leben und Werk nun Palm: Exil und Identitätskonstruktion in deutschsprachiger Literatur exilierter Autoren, 2017, 409-513).

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bestimmt, so wird die Poetik der Migration auch westlich perspektiviert. Die Figur des Migranten wird folglich den Exklusionsraum einer wie auch immer gearteten westlichen Kultur gestalten. Dieser Vorwurf wurde dadurch begründet, dass der Begriff Migrationsliteratur innerhalb der Geschichte, die ihn hervorgebracht hat, über ein beinahe unerschöpf liches Bedeutungsreservoir verfügt, das fortwährend territoriale, nationale, hegemoniale und kulturelle Exklusionsmechanismen nicht allein assoziiert, sondern erst aktiviert. An den Semantiken und Symbolen sozialer Wertorientierungen wurde gezeigt, wie die Zusammenführung von Staat, Territorium, Sprache, Nation und Kultur dem Bedeutungsreservoir des Begriffes Migrationsliteratur zugrunde gelegt wird und wie hierdurch eine dominierende Kulturauffassung entsteht. Aus der Problematik des Begriffes Migrationsliteratur ging ferner hervor, dass er kulturelle Vereinheitlichung impliziert und in seiner Wirkungsgeschichte zu einer Projektionsf läche ihrer Bedeutungen wird. Aber gerade Bedeutungen sind Referenzen und Wahrheiten jedes Interpretanten und können deshalb keinen Anspruch auf Einheitlichkeit und Hegemonie erheben. Es wurde dargestellt, dass Bedeutungen im kultursemiotischen Konzept durch den infiniten Prozess der kulturell bedingten Substitution ersetzt und nicht nur durch die Reihe der Interpretanten bestimmt, sondern auch durch ihre Stellung im System der Kultur umschrieben werden. Die Umschreibung, d.h. der Akt der Interpretation erzeugt ein Labyrinth von Konnotationen und Interpretationen, welche den geschlossenen Referenzbereich des Begriffes Migrationsliteratur sprengen. Deshalb mangelt es dem Begriff Migrationsliteratur die wissenschaftlich gebührende Präzision. Die begriff liche Problematik wurde in allen kultur- und literaturwissenschaftlichen Theorieansätzen, welche die Migrationsliteratur als solche diskutieren, durchleuchtet. Dabei wurden innerhalb der Entwicklungsgeschichte des Begriffes Migrationsliteratur diejenigen Spuren rekonstruiert, die in ihm ein Machtinstrument der Exklusionsmechanismen etabliert und mit diesem endozentrische und hypotaktische Verhältnisse erzeugt haben. Das Ergebnis der Analyse zeigte sich darin, dass der Begriff Migrationsliteratur auf der Basis dieser Verhältnisse zur Verstärkung des eigenen Selbstbilds in der Abgrenzung zum Bild des Fremden beiträgt. Diese Semantik des Begriffes hängt mit dem kolonialen Bild des Fremden als Störung und Gefahr zusammen und konstruiert folglich eine neuokoloniale Perspektive, in der die Migranten-Figur als Fremden-Figur betrachtet wird. Geprägt von diesem Bild wandelt der Begriff Migrationsliteratur Differenzen in Trennungsmerkmale um, projiziert das negative Bild es Fremden auf den Migranten und belebt eine pessimistische Haltung der Migration gegenüber, die wiederum zu dem Zeitgeist der Globalisierung im Widerspruch steht. Der Ausweg aus der Projektion, der Homogenisierung und des Reduktionismus wurde auf der Basis systemtheoretischer und semiotischer Kulturtheorien gesucht, die in der Kultur eine modifizierbare Kommunikationskette sehen, an der ihre Mitglieder partizipieren und identitätsstiftende Gemeinsamkeiten suchen können. Literarisch, so der Verschlag, sollte die Gestaltung dieser Gemeinsamkeiten durch die Konstruktion eines kulturellen Gedächtnisses erfolgen, das im Falle des Irans und der Bundesrepublik Deutschland als deutsch-iranisches Migrationsgedächtnis bezeichnet wurde. Im Anschluss an Erkenntnissen, die aus dem Migrationsdiskurs der Postcolonial Studies und dem Diskurs des literarischen Kanons erzielt wurden, wurde im literaturwissenschaftlichen Diskurs der Migrationsliteratur Modifizierungen angestrebt, die

2. Migration im Diskurs der Literaturwissenschaft

den Umgang mit Migration als kulturellem Phänomen und den mit Literatur als Medium dessen Darstellung von Tendenzen der Verabsolutierung und der Macht befreien und die Geltungsbereiche dynamischer, revidierbarer und modifizierbarer Prozesse auszumachen versuchten. Interdisziplinäre kulturtheoretische Ansätze ergaben sich aus der Semiotik und der Systemtheorie mit ihrem Potential in den Cultural Studies und in der germanistischen Interkulturalitätsforschung. Literatur, lässt sich vielleicht in einem Satz ausdrücken, wird in diesem kulturtheoretischen Zusammenhang als ästhetische Erfahrung des Kulturwandels verstanden. Die Auffassung unterstützt meine Analyse in den folgenden Kapiteln insofern, als sie die Frage danach erlaubt, wie sich denn das Phänomen der Migration und die Figur des Migranten im medialen Raum als strategische Kriterien zur Analyse kulturellerer Transformationen zu erkennen geben. Die Frage nach der individuellen und kulturellen Verortung in der ausgestatteten Erzählwelt nimmt also an Relevanz zu. Sie wird mit dem Rückgriff auf textual oder discourse deixis beantwortet.370 Eine literarische Figur fungiert grundsätzlich nicht losgelöst von ihrem Ort, ihrem Handeln, ihrer Zeit und ihrer Konfiguration mit anderen Figuren; daher interessiere ich mich für diejenigen Verfahren, die Netzwerke und Verzweigungsmomente erzeugen. Konkret bedeutet dies, zunächst diejenigen Figuren näher zu betrachten, die sich im Verfahren eines »In-Beziehung-Seins«371 über ihre Migrationsgeschichte ref lektiert äußern. Es gilt dann zu prüfen, wie aus mehreren unterschiedlichen Migrationsgeschichten sich die Momente der Verzweigung rekonstruieren lassen und auf welcher Grundlage diese Rekonstruktion geschieht. Letzteres erfolgt mit einem kritischen Rekurs auf Fremdheitsgrenzen und auf Reduktionsstrategien. Mit Positionierung als literarischer Technik bewegen sich die Figuren in dem Spannungsfeld zwischen dem Widerstand gegen Reduktionismus und dem Anspruch auf kulturelle Gestaltung.

370   Lyons: Deixis, space and time, 1977, 636-724. Im Zusammenhang mit referentiellen Eigenschaften von Deixis spricht man neben textual deixis im gleichen Sinne auch von discourse deixis. Beide bilden eine Untergruppe von spatial deixis (Dylgjeri et al.: Deixis in Modern Linguistics and Outside, 2013, 92). 371   Gutjahr: Interkulturalität als Forschungsparadigma der Literaturwissenschaf t, 2010, 34.

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3. Mediale Bilder interkultureller Identitätsarbeit Meine Erinnerungen flicke ich zusammen, meine Tage falte ich und verstecke ich sie in der Tasche der Zukunft. Wie eigenartig sie doch ist: Die Fremde!1 Der interkulturelle Diskurs der deutschsprachigen Literaturwissenschaft betrachtet Identität als Konstruktion, die stets in kommunikativen Aushandlungsprozessen entsteht und sich hierbei auch entfaltet. Basierend auf dem Verständnis von Kultur als »plurale tantum«2 grenzt er sich von essentialistischen und relativistischen Theorien der Kulturanalyse, die in Identität eine Entität sehen, ab. Der interkulturelle Identitäts-Diskurs wird bereits in den literaturwissenschaftlichen Diskussionen der (Post-)Moderne und in der Ablösung des Ich von einer transzendentalen Ebene dessen Bildungsanspruchs gestaltet. Die Autonomie des Individuums bei dessen Identitätsarbeit gilt als eine Errungenschaft der europäischen Moderne und erhebt das Individuum über jegliche Vereinnahmung. Vor dem Hintergrund dieser Erkenntnis lässt sich die These aufstellen, dass Strategien der Reduktion, denen sich die Migranten-Figur ausgesetzt fühlt, die Figur selbst an deren Identitätsarbeit hindern. Dass es dem aber nicht so ist, lässt sich durch die theoretische Analyse der Identitätsarbeit mit einem Rekurs auf den Identitäts-Diskurs der germanistischen Literaturwissenschaft zeigen. Dieser sieht in der Figur des Migranten ein interkulturell profiliertes Subjekt und somit auch eine Figur, durch die und an der sich die Variabilität individueller und kultureller Identifikation begründen und an der sich die symbolische Vielfalt der Identifizierungsprozesse ablesen lässt. Ein Überblick über den Identitäts-Diskurs der Moderne wird zeigen können, wie mediale Konstruktionen der Identität deren Diskurs aufgreifen und wie sie ihn weiterführen. Dieser Rückblick ist zur Begründung meiner These über kulturelle Transformationen notwendig. Denn der Identitäts-Diskurs der europäischen Moderne beschreibt die Erfahrbarkeit und die Transformationen der Identität, integriert die Migranten-Figur in die Prozesse dieses Wandels und leitet zu der Frage, wie das Erzählen Identität erzeugt.

1  Falaki: Klang aus Ferne und Felsen, 2008, 40. 2  Hamacher: Heterautonomien, 2003, 167.

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3.1 Das postmoderne Subjekt oder die Freiheit des Ich, nicht Ich zu sein Der Identitäts-Diskurs der Moderne geht auf Michel de Montaignes (1533-1592) Auseinandersetzung mit dem Ich und dessen Selbst in Gedanken und Meinungen über allerlei Gegenstände zurück.3 Zwar spricht Montaigne hier nicht direkt von Identität, mehrfach aber von Ich, Seele und Selbst. Charakteristisch für den modernen Identitäts-Diskurs ist, dass er das Ich nicht als eine vollständige, abgeschlossene und homogene Einheit, sondern als variantenreich und variabel begreift. Die Aufteilung der Ich-Varianten ist wegweisend, weil die Rede von Varianten die andere Seite des Ich einbezieht. Eine von der Forschung häufig zitierte Stelle beschreibt das Verhältnis von Ich, Seele und Selbst wie folgt: Ich gebe meiner Seele bald dieses Gesicht, bald ein Anders, je nachdem die Seite beschaffen ist, wohin ich sie kehre. Spreche ich auf verschiedene Weise von mir, so geschieht es, weil ich mich auf verschiedene Weise betrachte. Es finden sich hierbey alle Widersprüche; je nachdem die Wendung ist, je nachdem die Umstände sind: […] alles das nehme ich in mir selbst wahr, nach dem ich mich aufs Korn nehme. Und ein jeder, der sich sorgfältig genug erforscht, wird sich, selbst nach seinem eigenen Urtheile, diese Unbeständigkeit und Mißhelligkeit Schuld geben müssen. Von mir selbst habe ich nichts Ganzes aus einem Stück, nichts Einfaches, nichts Festes, ohne Verwirrung, und ohne Beymischung anzuführen, nichts, was ich in ein Wort fassen könnte.4 Montaignes Ich wird in einer Art betrachtet, die das Verhältnis eines beschreibenden und eines beschriebenen Ich ordnet. Diese Ordnung gründet ihrerseits auf der Auffassung eines Ich als wandelbarer Instanz. Die Betrachtungsweise des Ich als wandelbarer Instanz liegt einem Ich-Ab-Bild zugrunde, das seinerseits die Rede von Ich-Konstruktionen erlaubt, was sich zu dem theozentrischen, einheitlichen Weltbild früherer Epochen widersprüchlich verhält. Bereits Shakespeare spielte mit dem Gedanken über die Pluralität des Ich-Ab-Bildes. In der fünften Szene des vierten Aktes von Hamlet erwidert Ophelia die einfache Frage von Claudius nach ihrem Befinden mit den Worten: »My lord, we know what we are now, but not what we may become«. Das Gespräch, das ganz im Zeichen der Vergänglichkeit (des Todes von Ophelias Vater) steht, verweist auf der einen Seite auf die Gott-Bezogenheit und Gott-Bestimmtheit des Lebens und auf der anderen Seite auf die Unwissenheit über das, was noch folgen, das Leben und mit ihm auch die Menschen verändern wird. Der Gedanke über die Veränderung des Ich im Fortschreiten des Lebens liegt der anthropozentrischen Ich-Auslegung der Renaissance zugrunde, die dem theozentrischen Weltbild, in dem der Mensch eine dienende Funktion besitzt, entgegensteht.5 Montaignes Ich-Bestimmung korrespondiert mit der Auffassung vom Menschen in der Renaissance. Dieses Ich wird sich seiner Freiheit bewusst und nimmt sie als Anlass zur Entdeckung der in ihm vorhandenen schöpferischen Möglichkeiten. Die Es3  Burke: Montaigne zur Einführung, 2004. 4   Montaigne: Gedanken und Meinungen über allerley Gegenstände, 1793, 12f. 5   Rüsen et al. (Hgg.): Humanism in Intercultural Perspective, 2015; Burger: Renaissance, Humanismus, Reformation, 1969.

3. Mediale Bilder interkultureller Identitätsarbeit

sais (1580) ref lektieren den Versuch, im Schreiben über sich selbst ein Wissen von den Dingen und durch die Dinge ein Wissen von sich selbst zu erarbeiten. Ralph-Rainer Wuthenow sieht in diesem Versuch das, was heute mit Subjektivität wiedergegeben wird, und betont, in den Essais werde das Subjekt selbst zum Gegenstand der Erkenntnis.6 Die Vergegenständlichung des Ich im Schreiben vollzieht sich bei Montaigne in dem zu seiner Zeit üblichen Rahmen des Reisens;7 kaum waren die Essais erschienen, machte sich Montaigne auf zu einer Reise in die Schweiz, nach Deutschland und Italien. Montaignes Menschen-Bild erweist sich als verschieden, vielschichtig, ja sogar widersprüchlich. Der Mensch bildet keine unveränderbare, statische und konstante Einheit, sondern ist und handelt je nach Wendung und Umstand unterschiedlich. Wer sich selbst sorgfältig beobachtet, wird erkennen, dass der Mensch weder ein beständiges noch ein eindeutiges Wesen ist, sondern ein Wesen mit Beimischung: Wir alle sind Flausen und zwar von so verschiedenem und so unebene[m] Gewebe, das jedes Stück, ja jede Daumbreite anders ausfällt. Und es befindet sich eben so viel Verschiedenheit zwischen uns und uns selbst, als zwischen uns und den andern.8 Konkret wird hier die Erweiterung der Selbstbeobachtung in der Dimension des Anderen. Der Mensch ist in sich selbst und im Vergleich zu anderen verschieden; er ist kein Wesen, das nur ein Verhältnis zu sich selbst und zu Gott auf baut, sondern eines, das um die Verbindung zu anderen Menschen bemüht ist. Dieser Gedanke bildet zweihundert Jahre nach Montaigne den Gegenstand von Novalis‘ Ref lexionen über den Menschen und dessen Umwelt. So lesen wir in den Neuen Fragmenten (Nr. 146) über den Menschen als Person in mehreren Personen zugleich: Der vollendete Mensch muß gleichsam zugleich an mehreren Orten und in mehreren Menschen leben – ihm müssen beständig ein weiter Kreis und mannigfache Begebenheiten gegenwärtig sein. Hier bildet sich dann die wahre, großartige Gegenwart des Geistes – die den Menschen zum eigentlichen Weltbürger macht und ihn in jedem Augenblicke seines Lebens durch die wohltätigsten Assoziationen reizt, stärkt, und in die helle Stimmung einer besonnenen Tätigkeit versetzt.9 Der Mensch müsse nach Friedrich von Hardenberg zugleich »an mehreren Orten« und in »mannigfachen Begebenheiten« sein, und es sei diese Eigenschaft des Menschen, die ihn zu einem »eigentlichen Weltbürger« erhebe. Der Ausdruck von »jedem Augenblicke« im Leben des Menschen erweitert dessen Bindung über Räumlichkeiten hinaus auch in eine zeitliche Dimension, die wiederum erlaubt, den Menschen im Kontext von »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen«10 im Sinne eines vielfältigen Individuums zu interpretieren. Auf der Idee über den Menschen als vielfältiges Individuum beruht das Universalitätsdenken der frühromantischen Poesie,11 obwohl das Zusammentref6  Wuthenow: Selbsterfahrung und Skepsis, 1976, 292-307. 7  Fieseler: Der kranke Körper auf Reisen, 2006, 159-174. 8   Montaigne: Gedanken und Meinungen über allerley Gegenstände, 1797, 13. 9  Novalis: Werke und Briefe, 1962, 435. 10  Koselleck: Vergangene Zukunf t, 1979, 278. 11  Brüggemann: Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, 2006, 13.

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fen von Raum und Zeit für die Identitätsarbeit weiterhin für Diskussionen sorgt.12 Es ist diese Auffassung, die für den Stellenwert des Menschen als sozialen Interaktionswesens, wie wir es heute nennen würden, eine entscheidende Wirkung erzielt. Im Diskurs der Identität lässt sich diese Wirkung unter zwei Aspekten diskutieren: Zum einen sorgt die Veränderung, die sich vom Jenseitsbezug zu einer Diesseitsfreude des Menschen vollzieht, für die Abtrennung der theologischen von der philosophischen Auslegung;13 zum anderen mündet diese Auslegung in die humanistische Ref lexion über Vernunft und Erfahrung.14

3.1.1 Der Mensch und die Welt Die Beziehung des Menschen zur Welt ist das Anliegen von Jean-Jacques Rousseaus (1712-1778) Confession.15 Mit Confession beginnen die Geschichte des autobiographischen Schreibens und die Beschreibung eines Verhältnisses, welches das Ich zu seiner Außenwelt konstruiert.16 Aus der Analyse dieser Relation wird mit dem Auf kommen der Moderne das philosophische, anthropologische und soziologische Wissen über den Menschen und dessen Umwelt entstehen und begriff lich mit Identität wiedergegeben. Prägnant und spezifisch zeigt sich diese Entwicklung in der Wissenschaftsgeschichte mit Blick auf den Menschen einerseits und auf den Menschen als Wissenschaftsgegenstand in den Disziplinen der Theologie, Philosophie, Anthropologie und Soziologie andererseits.17 Mit der Frage, woran die jeweiligen Disziplinen die Identität eines solchen Menschen ausmachen, befassen sich Aleida Assmann und Heidrun Friese unter den Aspekten Erinnerung und Geschichte, folgen den Spuren der Identität aus kulturgeschichtlicher Perspektive, zeichnen die Geschichte des Identitätsbegriffes als eines »transdisziplinären Begriffs«18 nach und stellen variantenreiche Definitionen fest, die schließlich von der Unschärfe des Begriffes selbst zeugen. Variantenreich erscheint 12   Für Peter Wagner beschreibt die für die historische Identitätsdefinition maßgebende Zeitlichkeit die Grundproblematik des Begriffes Identität in personalem wie kollektivem Gebrauch: »Der Verweis auf eine gemeinsame Geschichte kann die Existenz und die Solidität kollektiv geteilter Glaubensordnungen deswegen nicht erklären, weil es streng genommen keine ›gemeinsame Geschichte‹ gibt, sondern immer eine Vielzahl von Erfahrungen, deren jede sich von jeder anderen unterscheidet. Die Beschwörung von ›gemeinsamer Geschichte‹ […] ist eine Vorgehensweise, die immer in der jeweiligen Gegenwart vorgenommen wird – als eine spezifische Repräsentation der Vergangenheit, die diese mit Blick auf die Schaffung von Gemeinsamkeiten bearbeitet.« (Wagner: Fest-stellungen, 1998, 69f.). 13  Lacouture: Michel de Montaigne, 1998. 14  Engler: Humanismus in Europa, 1998. 15   Rousseau verfasste Confession zwischen 1765 und 1770. Erschienen ist die Schrift postum zwischen 1782 und 1789. 16 Auf dieses Verhältnis geht Derrida ebenfalls im Kontext der Autobiographie ein, allerdings nicht im Hinblick auf Identität, sondern auf das Sich-Identifizieren (Derrida: Einsprachigkeit des Anderen, 2003, 51-55). 17   Siehe zur Begriffsgeschichte und -bedeutung sowie zu theoretischen Ansätzen in der Psychologie Straub (Hg.): Erzählung, Identität und historisches Bewußtsein, 1998. Peter von Moos versammelt in Unverwechselbarkeit (2004) eine Reihe von Beiträgen, die das Thema der Identität und die interdisziplinären Übergänge vornehmlich in der Frühen Neuzeit diskutieren. 18 Assmann et al.: Identitäten. Erinnerung, Geschichte, 1998, 11.

3. Mediale Bilder interkultureller Identitätsarbeit

dementsprechend auch der Begriff der Alterität, mit der die andere Seite der Identität begriff lich erfasst werden soll. Die Erkenntnis über die Definitionsvarianten beider Begriffe ist für die literaturwissenschaftliche Analyse relevant. Eine Figur – ich nenne sie eine interkulturell profilierte –, die veranschaulicht, wie Identität und Alterität nur in einer unauf löslichen Beziehung zueinander existieren können, gestaltet ein Spannungsfeld zwischen Identität und Alterität. Die am postkolonialen Theorienkomplex orientierte Erzähltheorie interessiert sich für die Konstruktionen dieses Spannungsfeldes ganz besonders.19 Ihr Interesse gilt den literarischen Ref lexionen individueller und kultureller Identitätsarbeit. Aus der erzähltheoretischen Erkenntnissumme des postkolonialen Identitäts-Diskurses möchte ich zwei Aspekte besonders hervorheben. Erstens: Die Auseinandersetzung des Individuums mit sich und seiner Umwelt. Zweitens: die Beobachtungen dieser Auseinandersetzung und Interaktion.20 Die wissenschaftliche Betrachtung des Bezuges des Individuums zu seiner Umwelt schlägt sich exemplarisch in zwei Studien nieder: Aleida Assmann gewinnt aus diesem Bezug drei Interaktionsmuster, innerhalb derer sich die Identität des Menschen gestalten soll. Zum einen spricht sie von einer egalitären Identität, die in einer »subkulturellen Gruppenbildung« (bspw. in den Jugendgruppen) vorkommt und die »möglichst vollständige Überformung eines personalen Ich mit seinen individuellen biographischen Problemen und Besonderheiten durch ein kompaktes Gruppen-Wir« verursacht.21 Sodann unterscheidet sie die hegemoniale Identität, die dort präsent sei, wo »eine Schicht mithilfe ihres symbolischen Kapitals einen Gesamtvertretungsanspruch anmeldet und sich gleichzeitig nach unten absetzt«, und schließlich die minoritäre Identität, die eine »paradigmatische Form« bilde, in der »kulturelle Identität diasporafähig wird«.22 Assmanns zweite und dritte Klassifizierung der individuellen und kulturellen Identität beschreiben diese als Gegenstand kultureller Kommunikation und entsprechend jeder Kommunikationssituation definierbar und variabel.23 Die von der Kommunika19 Birk et al.: Go-Between, 2002, 123-127. 20   Denn kulturgeschichtlich betrachtet haben diese bereits in der Renaissance bedeutende Spuren hinterlassen, die spätere Denker, Philosophen und Dichter aufnehmen. Auf die Frage nach dem Individuum und nach der individuellen Identität blickt Aleida Assmann bis in die Frühe Neuzeit zurück und beschreibt, dass das Interesse an individueller Identität im Verlaufe der Geschichte sich auf zweifache Weise entwickelte: von innen durch die Techniken der Selbsterforschung und von außen durch die Formen staatlicher Kontrolle und Überwachung. Hinsichtlich der individuellen Identität unterscheidet sie die Kategorien Person, Subjekt und Geschlecht, die mit Inklusions- und Exklusionsmechanismen in Beziehung stehen (Assmann: Identität, 2008, 210-221). Der Bereich der personalen Identität wird mit dem analogen Begriff der Subjektivität beschrieben. Auf diese Weise wird auf das Problem der subjektiven Identität und des subjektiven Bewusstseins verwiesen. Assmann diskutiert das komplexe Verhältnis von Subjektivität, Identität und subjektivem Bewusstsein im Rückgriff auf den Philosophen Manfred Frank, der die Frage nach diesem Verhältnis im Kontext seiner Begriffstriade Subjektivität, Personalität und Individualität behandelt (Frank: Subjekt, Person, Individuum, 1988, 7-28). 21  Assmann: Zum Problem der Identität aus kulturwissenschaf tlicher Sicht, 1994, 21. 22  Ebd. 23   Von dem »Bewußtsein eines Menschen von seiner eigenen Kontinuität über die Zeit hinweg« und von der »Vorstellung einer gewissen Kohärenz seiner Person« spricht der Gesellschaftstheoretiker Peter Wagner und fasst hierunter die personale Identität (Wagner: Fest-stellungen, 1998, 45). Für Wagner existiert auch die soziale Identität – genannt die kollektive Identität –, mit den «,Identifizierungen‹

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tionssituation herrührende Identität des Ich stärkt dessen identifizierendes Bewusstsein innerhalb der Gruppe. Dieses Bewusstsein verhilft zur Entscheidung über Abgrenzungskriterien des Eigenen von dem Fremden. Wenn die Identitätsarbeit in einer kommunikativen Interaktion und unter der Voraussetzung der bewussten Entscheidungsfreiheit erfolgt, so scheint es durchaus problematisch, Identität ontologisch und auf den Fixpunkten der Geschichte festzulegen. Assmann definiert das Individuum als Bezeichnung für den einzelnen Menschen, der sich von allen anderen Menschen in einer Qualität des Unveräußerlichen unterscheidet. Sie versteht die Identität dieses Individuums als »Vergewisserung eines Selbst im sozialen Zusammenhang«.24 Diese Vergewisserung erfolgt in einem System der Differenz, das für die Identitätsbildung notwendig sei. Wenn sich die soziale Identität innerhalb eines gesellschaftlichen Netzwerks bilde, so bestehe dieses Netzwerk jedoch nicht allein aus Differenzen. Erschwert wird die Auffassung von Differenz als einzigem Bestandteil der Identitätsbildung durch die Annahme über die »Vielzahl von Erfahrungen, deren jede sich von jeder anderen unterscheidet«.25 Diese Erfahrungen, darf kritisch angemerkt werden, werden sich ebenfalls nicht allein auf Differenzen beschränken können; es besteht auch die Möglichkeit, dass sie sich auf den Bereich der Ähnlichkeit ausweiten, denn auch hierdurch bildet sich die Identität einer Gruppe. Identität als kommunikativ und verhandelbar zu begreifen, ihre Bildung aber auf Differenzen zu beschränken, sorgt im Zusammenhang mit dem Verständnis über Kultur als Prozess für eine Problematik, die mit Hilfe von Theorien der Cultural Studies diskutiert werden kann. Im Begriff Identität sieht Stuart Hall etwas Statisches und Ontologisches. Daher verwendet er bewusst die Begriffe Identitätsarbeit und Identifikation,26 weil sie individuelle und prozesshafte Vorgänge erkennen ließen.27 Das Sich-Identifizieren des Subjekts bezeichnet zum einen Prozesse, welche die Bereiche der personalen und kollektiven Identitäten in ein individuelles Verhältnis zur Welt zusammenbringen, und zum anderen die Freiheit des Subjekts, in unterschiedlichen Systemen durch verschiedene Ich-Varianten aufzutreten. Durch das Sich-Identifizieren, lässt sich schlussfolgern, ist das Subjekt in der Lage, differierende und ähnliche Bezüge zum kulturellen System herzustellen und auf diese Weise eine vielfältige Identitätsarbeit zu leisten.

3.1.2 Das Subjekt als Vielfalt Differenz und Vielfalt, ihr reziprokes Verhältnis und ihre synchrone Wirkung bei der Identitätsarbeit sind in der deutschsprachigen Literatur keine Phänomene, deren Auftreten ausschließlich von Bedingungen des Fremden diktiert wird. Sie finden in Goethes West-östlichem Divan (1819/1827) am prägnantesten einen symbolischen und poevon Menschen untereinander« und die »Vorstellung von Gleichheit oder Gleichartigkeit mit anderen« gemeint ist (ebd.). 24 Ebd., 13. 25  Wagner: Fest-stellungen, 1998, 69. 26  Hall: Wer braucht ›Identität‹?, 2004, 168-171. 27   Auf dieser Grundlage wird im Diskurs der germanistischen Interkulturalitätsforschung von kultureller Identifikation gesprochen (Ernst et al.: Verortungen der Interkulturalität, 2012, 7-18; Heimböckel et al.: Zwischen Provokation und Usurpation oder Nichtwissen als Zumutung des Fremden, 2010, 9-14).

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tischen Ausdruck. Der Divan ref lektiert Momente der Differenz und Vielfalt so, dass sie im Augenblick ihrer kulturellen Festlegung verschwimmen. Symbolisiert wird dies durch das Ginkgo-Biloba-Blatt: »Fühlst du nicht an meinen Liedern,/Dass ich eins und doppelt bin?«28 Das, was bei Montaigne bald dieses, bald jenes Gesicht heißt, was dort als Betrachtung des Selbst auf verschiedene Weise – widersprüchlich und nicht ganzheitlich – beschrieben ist, erfährt im Symbol des Ginkgo-Blatts seine ästhetische Gestaltung. Die Vielfalt des Ich bezieht gegen das Denken der Anthropozentrik Position und prägt die Philosophie des 19. Jahrhunderts über Goethes Poetik hinaus. Nietzsche betrachtet beispielsweise die Vervielfältigung des Subjekts als notwendig und spricht: Die Annahme des Einen Subjekts ist vielleicht nicht notwendig; vielleicht ist es ebensogut erlaubt, eine Vielheit von Subjekten anzunehmen, deren Zusammenspiel und Kampf unserem Denken und überhaupt unserem Bewußtsein zugrundeliegt? […] Meine Hypothesen: das Subjekt als Vielheit.29 Nietzsches Einstellung zur »Vielheit« schlägt sich in seinem Gedicht Das Sprichwort spricht prädikativ, symbolisch und bestiarisch nieder: Scharf und milde, grob und fein, vertraut und seltsam, schmutzig und rein, der Narren und Weisen Stelldichein: dies Alles bin ich, will ich sein, Taube zugleich, Schlange und Schwein!30 Nietzsches Kritik an der Vorstellung eines einheitlichen und beständigen Subjekts vollzieht sich im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit dem cartesischen cogito in den Fragmenten des Jahres 1885. »Vielheit« bedeutet hier die Vielfalt der Personen in einem Ich und meint, das Subjekt werde von Personen gespielt.31 Nietzsches Hypothese über eine »Vielheit« des Subjekts impliziert Verschiedenheit, ohne die es keine Vielheit geben kann, und mündet schließlich in den Diversitäts-Diskurs der Soziologie bezüglich der Unterscheidung und Anerkennung von individuellen und gruppenspezifischen Merkmalen.32 Aus der Perspektive des Ich, die sich wendet und kehrt – »weil ich mich auf verschiedene Weise betrachte«,33 heißt es in Gedanken und Meinungen über allerley Gegenstände – lässt sich die Erkenntnis über Konstruktionen von Vielfalt und Differenzen gewinnen. Das Ref lexivpronomen macht das Ich zu einem aktiven Subjekt. Im Gegensatz zu Montaignes Verfahren der Ich-Konstruktion versetzt Goethe die Perspektive nach Innen, wenn es um das Ich und um die individuelle Verfügung über die Daseinsform geht, zugleich aber auch nach Außen, indem er durch den Imperativ ein Du einbezieht. 28   Goethe: FA I, 3,1, 57. 29  Nietzsche: Der Wille zur Macht, 1964, 341. 30  Andreas-Salomé: Friedrich Nietzsche in seinen Werken, 2013, 27. 31  Langer: Wie man wird, was man schreibt, 2005, 78-82. 32   Schönhuth: Diversity, 2011, 52-56. 33   Montaigne: Gedanken und Meinungen über allerley Gegenstände, 1797, 9, Hervorh. von H.T.

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Damit geht eine zweite Variante der Ich-Betrachtung einher, in der die Position eines differenzierten Anderen zur Bestimmung des Ich ebenfalls eine Rolle spielt.34 Der Identitäts-Diskurs der Literatur und der Philosophie35 zeichnet den Übergang von vorbestimmten Identitätsmustern zu den Augenblicken individueller Identitäts(er) findung auf und hebt das literarische Subjekt als ein plurikulturelles Individuum hervor. Unter Berücksichtigung des Anderen als einer Notwendigkeit beim Sich-Identifizieren gestaltet der literarische Identitäts-Diskurs der Moderne eine vielfältige Sphäre des Sich-Identifizierens, die interkulturellen Diskurs der Identität die Sphäre des Fremden mit einbezieht. Auf die Modalitäten der Identifikation und der Identitätsarbeit blickt die Forschung mit der Auffassung von einer »verzweigte[n] Problematik«36 der Identität. Dabei wird begründet, dass Identität kein singuläres, sondern ein mehrdimensionales Phänomen darstellt, dessen theoretische Beschreibung unterschiedliche Etappen durchläuft. Die erste Etappe in der Theoriegeschichte der Identität reicht bis zur Psychologie des Philosophen William James (1842-1910) zurück. Im Kontext des philosophischen Pragmatismus in The Principles of Psychology (1890) unterscheidet er ein Selbst und ein soziales Selbst. James‘ Auffassung von einem sozialen Selbst ist das, wofür sich der psychologische Identitäts-Diskurs im Wesentlichen interessieren wird. Unter dem sozialen Selbst versteht James die Summe dessen, was ein Individuum als Anerkennung von anderen Individuen erfährt. Das philosophische Problem der Identität resultiert für James aus zwei grundsätzlichen Fragen: Zum einen wie das Verhältnis des Menschen zu sich selbst ist und zum anderen wie es um die Gewissheit darüber, der Mensch bleibe in verschiedenen Lebensphasen und Lebenssituationen derselbe, überhaupt steht. Um diese Fragen zu beantworten, versetzt James das Ich in eine andere analytische Kategorie, nämlich in den dauernden und innersten Teil des Selbst, was ihm dazu verhelfen soll, die Beziehung des Menschen zur Geschichte und zur Kultur herzustellen. James beschreibt in diesem Zusammenhang eine Kette von Beziehungen, deren Funktion im Wesentlichen in der historisch und kulturell verstandenen Zuweisung besteht. Damit ist gesagt, dass gegenwärtigen Vorstellungszuständen stets unmittelbare frühere »Zuweisungsbeziehungen«37 vorausgehen. Kritisch anzumerken wäre, dass die Vorstellung von der Existenz einer solchen historisch verstandenen Beziehungs- und Zuweisungskette Identität als etwas definiert, das durch eine historische Kontinuität entsteht und nur in dieser Kontinuität existieren kann.

34  Bhabha: Die Frage der Identität, 1994, 99. – Auf eine ähnliche, jedoch phantasievollere Weise konstruiert Montesquieu in Lettres persanes (1721) das Ich in seiner Kultur: Hier werden zunächst Perser erfunden, um aus deren Perspektive ein Bild von Franzosen zu konstruieren (Tafazoli: Von der Nutzbarkeit fremder Reisen, 2016, 160). 35 Die Notwendigkeit der Perspektive eines Anderen – sei es personal, sei es lokal – zur Bestimmung eigenperspektivischer Wahrnehmung und Positionierung mündet spätestens seit Jacques Lacans (1901-1981) Theorien über das Reale, das Symbolische und das Imaginäre in Das Seminar (1997) in eine vielfältige Sphäre ein. Für Peter Sloterdijk liefert Identität »den Super-Habitus für alle, die so sein wollen, wie sie aufgrund ihrer lokalen Prägungen wurden, und meinen, das sei gut so. Auf diese Weise stellen die Identischen sicher, außer Hörweite zu sein, sollte unvorhergesehen wieder irgendwo der Imperativ ›Du mußt dein Leben ändern!‹ zu hören sein« (Sloterdijk: Du mußt dein Leben ändern, 2009, 297). 36   Henrich: ›Identität‹ – Begrif fe, Probleme, Grenzen, 1979, 133. 37 Ebd., 134.

3. Mediale Bilder interkultureller Identitätsarbeit

George Herbert Mead (1863-1931) knüpfte in seiner Schrift Mind, Self and Society (1934) an James‘ Konzept an,38 versuchte aber, jenes von diesem ins Zentrum gerückte innere Selbst mit dem sozialen Selbst in den Bezug zu setzen.39 Das, was Mead Self nennt und mit Society in Verbindung bringt, wird zu einer Kommunikationsform und im symbolischen Interaktionismus kontextualisiert.40 Diese Form des Verständnisses von Selbst ist es, die von Freud und später auch von Lacan mit Identität konkret in Verbindung gebracht wird.41 Aus der Analyse der Instanzen des Ich, des Selbst und des Anderen folgt die Erkenntnis, dass die philosophische und die sozialpsychologische Theorie der Identität sich eines unterschiedlichen Verständnisses von Identität bedienen: In der philosophischen Theorie ist Identität ein Prädikat, das eine besondere Funktion hat; mittels seiner wird ein einzelnes Ding oder Objekt als solches von anderen gleicher Art unterschieden; umgekehrt erlaubt das Prädikat zu sagen, daß unter verschiedenen Bedingungen und in verschiedenen Zugangsweisen doch nur ein einziger Gegenstand thematisch sein kann. Solche Identität verlangt gerade nicht, daß die identisch Einzelnen durch besondere Qualitäten voneinander zu unterscheiden sind. Schon gar nicht verlangt er, daß sich in ihnen ein Grundmuster von Qualitäten aufweisen läßt, in Beziehung auf das sie ihr Verhalten orientieren oder durch das dies Verhalten in einheitlichem Zustand zu erklären ist. […] Der sozialpsychologische Identitätsbegriff hat eine ganz andere logische Verfassung. Hier ist ›Identität‹ eine komplexe Eigenschaft, die Personen von einem gewissen Lebensalter an erwerben können. Sie müssen diese Eigenschaft nicht haben und können sie gar nicht zu jeder Zeit besitzen. Haben sie sie einmal erworben, so sind sie […] kraft ihrer ›selbständig‹. Sie können sich vom Einfluß anderer freimachen; sie können ihrem Leben eine Form und Kontinuität geben, welche sie zuvor, wenn überhaupt, nur durch äußeren Einfluß besaßen. In diesem Fall sind sie kraft ihrer ›Identität‹ autonome Einzelne.42 Mit diesen beiden Auffassungen verbindet sich im Identitäts-Diskurs eine Reihe von philosophischen, semantischen, empirischen und sozialwissenschaftlichen Proble38   Bei dieser Schrift handelt es sich nicht um Meads Werk, sondern um die Mitschriften seines Studenten Charles W. Morris (1903-1979), die postum erschienen sind. Morris besuchte Meads Vorlesungen Social Psychology, die Mead über viele Jahre an der Universität Chicago hielt (Huebner: The Construction of Mind, Self, and Society, 2012, 134-153). 39 Aus Henrichs Sicht hat dieser Schritt eine entscheidende Wirkung im Diskurs der Identität: »So wurde er [Mead] zu seiner bekannten Theorie vom Ursprung des ›geistigen Selbst‹, der Person, die sich zu ihren eigenen Zuständen und Akten verhalten kann, aus der sprachlichen Interaktion vergesellschafteter Wesen geführt. Und diese Konzeption enthält die Voraussetzung dafür, daß unter ›Identität‹ dasjenige konstante Muster von Verhalten und Selbstinterpretation dieses Verhaltens verstanden werden kann, welches das definitive Resultat der Entwicklung sprachfähiger Wesen in der Sprachgemeinschaft ist« (Henrich: ›Identität‹ – Begrif fe, Probleme, Grenzen, 1979, 134). 40   Das Konzept dieser Kommunikationsform entwickelte Mead in seinen Vorlesungen zwischen 1900 und 1930. 41   Relevant ist Henrichs Anmerkung über den Terminus Identität, der bei Mead nicht auftaucht. Mead spreche, so Henrich, von einem Selbst (Self ), das im Deutschen »unrechtmäßig« mit Identität übersetzt worden sei (Henrich: ›Identität‹ – Begrif fe, Probleme, Grenzen, 1979, 134f.). 42   Henrich: ›Identität‹ – Begrif fe, Probleme, Grenzen, 1979, 135f.

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men, deren Erörterung den Rahmen meiner Studie sprengen würde.43 Zwei Punkte dürfen an dieser Stelle vorausgesetzt werden: Aus der philosophischen Perspektive geht hervor, dass Identität keineswegs als Kategorie zur Klassifikation dienen kann. Die sozialpsychologische Perspektive begründet, dass Identität keine Kategorie des beständigen Besitzes ist; sie ist erwerb- und veränderbar. Beide Positionen f ließen in den philosophischen Diskurs des 20. Jahrhunderts ein. Derrida bekräftigt, dass Identität »nie gegeben, empfangen oder erlangt« ist; sie kann allenfalls als »der unbeendbare, unbestimmt phantasmatische Prozeß der Identifizierung« gelten, innerhalb dessen das Subjekt immer »eine Konstitution des Selbst, des autos, des ipse sich zurechtfabelt«.44 Die sich zurechtgefabelte Identifikation verweist auf den Konstruktionsund so auch auf den Kunstcharakter der Identität und steht in einem oppositionellen Verhältnis zu essentialistischen Modellen der Identitätsauffassung. Das Konstruktionsmodell der Identifikation widerspricht dem Konzept einer natürlich gegebenen oder gottgewollten Identität.45 Die kritische Auseinandersetzung mit dem Identitätskonzept nach essentialistischen Ansätzen hebt Differenz und Exklusion als maßgebende Kriterien solcher Ansätze hervor,46 gegen die der interkulturell ausgerichtete Identitäts-Diskurs so verfährt, dass er Identität nicht mehr allein auf ein natürliches Ich und eine natürliche Kultur beschränkt, sondern in ihr eine symbolische, d.h. zurechtgefabelte (Derrida) Konstruktion sieht. Identität gilt nicht mehr als determinierende Analysekategorie, bezeichnet auch keinen Zustand, sondern ein Werden. Damit wird eine kritische Haltung gegenüber »der Vorstellung einer ursprünglichen und einheitlichen Identität ohne Brüche«47 eingenommen. Hierauf wird mit der Verschiebung der Perspektive von der Frage, was wir sind, auf die Frage, was wir geworden sind, angespielt.48 Begriff lich wird diese Verschiebung durch Identitätsarbeit und Identifikation artikuliert. Die literarische Konstruktion der Identität dient zur begriff lichen Unterscheidung insofern, als sie Identität stets in Erzählkonstruktionen perspektivisch und veränderbar begreift.49 Die zurechtgefabelte Identität in der ausgestatteten Erzählwelt bedeutet eine nähere Bobachtung der Instanz der Identitätsarbeit und Identifikation, d.h. in diesem Falle der Migranten-Figur. Durch ihr Auftreten ver-rückt sie die kulturelle und nationale Identifikation.50 Die Verschiebung nationaler und kultureller Identifikationsparameter macht 43 Siehe hierzu Ebd., 137-185. 44  Derrida: Die Einsprachigkeit des Anderen, 2003, 51. 45  Krzoska: Identitäten und Alteritäten, 2007, 14. 46  Assmann: Einführung in die Kulturwissenschaf t, 2006, 215. 47  Hall: Wer braucht ›Identität‹?, 2004, 167. 48   »In diesem […] Sinne ist kulturelle Identität ebenso eine Frage des ›Werdens‹ wie des ›Seins‹. Sie gehört ebenso zur Zukunft wie zur Vergangenheit. Sie ist nicht etwas, was schon existiert, was Ort, Zeit, Geschichte und Kultur transzendiert. Kulturelle Identitäten haben Ausgangspunkte und Geschichten. Wie alles Historische unterliegen sie ständiger Veränderungen. Weit entfernt davon, in einer wesenhaften Vergangenheit für immer fixiert zu sein, sind sie dem permanenten ›Spiel‹ von Geschichte, Kultur und Macht unterworfen« (Hall: Kulturelle Identität und Diaspora, 1994, 29). 49 Siehe insbesondere Heinen: Postmoderne und poststrukturalistische Dekonstruktionen der Narratologie, 2002, 243-264. 50 Stuart Hall diskutiert in Kulturelle Identität und Diaspora die »Formen visueller Repräsentation afro-amerikanischer (und asiatischer) ›Schwarzer‹« im Kontext der Diaspora des Westens und hebt

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ihre Existenz erst bewusst, hebt die Tatsache, dass »man sich zwischen Nationen und Kulturen, zwischen fremden und f ließenden Zeichen befindet«,51 hervor und erlaubt, die Identitätsarbeit ebenfalls als Prozess der Verschiebung zu betrachten.

3.1.3 Das Subjekt als Konstruktion Literaturwissenschaft ist eine der Disziplinen, die die Analyse der plurikulturellen Identitätsarbeit zu ihrem thematischen Aspekt erklärt und versucht, ihre Symbole und Systeme zu dechiffrieren. Sie geht u.a. der Frage nach, wie aus ästhetischen Beschreibungsmöglichkeiten Konstruktionen individueller und kultureller Codes abzulesen sind und wie die Literaturwissenschaft aus ihnen ihre theoretischen Analysemodelle gewinnt bzw. diese an ihnen erprobt. Zentral ist bei den Prozessen der Codierung und Decodierung die bereits angedeutete Annahme über die auf Gedächtnis und Erinnerung beruhenden Gestaltungsvarianten des Ich und dessen zurechtgefabelte Identitätsarbeit. Die literaturwissenschaftliche Beschäftigung mit den Gestaltungsvarianten des Ich findet ihre theoretische Grundlage zunächst in Wolfgang Isers (1926-2007) Diskussion der Identitätsfrage in der Literatur. Iser betrachtet den Identitätsbegriff als Paradigma für die Funktion der Fiktion. In diesem Paradigma gehe der Identitätsbegriff das Risiko ein, »seine eminente Tauglichkeit« zu verlieren, weil er »Ersatzleistungen« impliziere, die das Theorem zu erfüllen habe.52 Gemeint sind hierbei die verschiedenen Möglichkeiten der Semantisierung, die die Identität nicht nur ästhetisch, sondern auch historisch konstruieren helfen. Folglich, fährt Iser fort, verliere der Identitätsbegriff seine »Immunität vor der Geschichte«.53 Der Immunitätsverlust vor der Geschichte, die Implikation der Ersatzleistungen und der Verlust der eminenten Tauglichkeit erschweren das Verständnis von Identität als Entität oder als Repräsentationsmodell.54 Mit seiner These begründet Iser, dass Repräsentationsmodelle der Identitätsarbeit eine »eminent ästhetische Seite« des Identitätsbegriffs hervorbringen und auf diese Weise ein für die Literaturwissenschaft wesentliches Strukturmerkmal erfüllen würden.55 Repräsentationsmodelle sind daher keine Behälter der Identität, sondern stellen Literatur ästhetische Strukturmerkmale ihrer Konstruktionen zur Verfügung. Um dieses im Kontext anderer Strukturmerkmale zu diskutieren, erweitert Iser die Frage nach der kulturellen Identität in griechischer und biblischer Ausprägung und stellt fest, dass während sich die griechische Ausprägung in der »Negation des Andersseins« vollziehe, spiegele sich die biblische Ausprägung in der »Verabsolutierung des Abstandes« zu möglichen Erfahrungen der Transzendenz wider.56 Gemein sind beiden Ausprägungen »charakteristische Grenzdiese Figur als das neue postkoloniale Subjekt hervor (Hall: Kulturelle Identität und Diaspora, 1994, 26). Die Analysepraxis dieser Repräsentationsform beabsichtigt keine Beweisführung für die Bestätigung oder für die Ablehnung der Kategorien schwarz und des postkolonial; vielmehr beabsichtigt Hall, das Subjekt selbst in den Blick zu nehmen. 51  Bhabha: Die Frage der Identität, 1997, 97. 52  Iser: Ist der Identitätsbegrif f ein Paradigma für die Funktion der Fiktion?, 1979, 725. 53  Ebd. 54   Vgl. Marquard: Identität, 1979, 347-369. 55  Iser: Ist der Identitätsbegrif f ein Paradigma für die Funktion der Fiktion?, 1979, 725. 56  Ebd.

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werte«, die den Einsatz der außerhalb des Identitätsbegriffs liegenden Sphären garantieren: die griechische Kosmologie und die biblische Offenbarung, wobei in beiden Fällen Differenz »den Konstitutionsgrund des jeweiligen Identitätsbegriffs« bildet.57 Die Identität des Selbst bleibt so als solche leer und muss in bestimmter Weise besetzt werden.58 In der Geschichte des Identitätsbegriffs stellt Iser fest, dass die Bezugsrahmen der Identitätsbildung sich verändern würden.59 Veränderungen stellen, lässt sich hieraus herleiten, einen ontologischen Status der Identität in Frage. Die Struktur der Zweistelligkeit als Kennzeichen der Identität realisiert sich nach Iser »entweder über die Radikalisierung oder die Auf hebung des Unterschieds«; so zeige sich, heißt es weiter, die »Funktionstüchtigkeit« des Identitätsbegriffs darin, dass »der leere Grund verschieden besetzbar ist«.60 Erst hier lässt sich das ästhetische Potential der Identitätsarbeit im literaturwissenschaftlichen Sinne erkennen. Zum einen kann Fiktion als solche nicht bestimmt werden. Jeder Versuch würde im Aufdecken der Voraussetzungen, durch welche das Bestimmungsbedürfnis an sich motiviert ist, enden. Zum anderen charakterisiert sich Fiktion durch die Art, wie sie angewendet wird, d.h. sie ist nicht selbst die Trägerin ihrer Bedeutung, sondern diese bestimmt sich erst dadurch, unter welchen Bedingungen und Relationen Fiktionen eingesetzt werden. Schließlich gilt für Fiktion ebenfalls, dass sie wie Identität einen »leeren Grund« besitzt, der sich unterschiedlich besetzen lässt.61 Mit einem Rekurs auf diese Grundmerkmale spricht Iser von »verschiedenartigsten Umbesetzungen« der Identität, die nicht etwa aus wechselnden ontologischen Instanzen herrühren, sondern aus pragmatischer Notwendigkeit des Defizitausgleichs. Er distanziert sich von einem Verständnis der Identität als Ontologie und bekräftigt zum Schluss: Identität ist nur erfahrbar und nicht mit gleicher Gewißheit auch wißbar. Die Identität des Selbst, der Gruppe etc. gibt es als Erfahrungsgewißheit; wir verfügen über sie in Evidenz. Wenn es sich so verhält, dann drückt sich im Identitätsbegriff eher das Bestreben aus, etwas davon wissen zu wollen, was nur in Evidenz erfahrbar ist, oder anders formuliert: ein Wissen von Evidenz zu erlangen. Für [eine] solche Operation ist ein heuristisches Als-Ob notwendig, um durch es Erfahrungsgewißheiten so prädikatisieren zu können, daß sie sich in Erkenntnis überführen lassen. Steckt das Als-Ob im Identitätsbegriff und nicht in der Identität, dann vermittelt der Identitätsbegriff weniger die Einsicht in Identität als vielmehr eine solche in die Entstehung zu ihrer Erkenntnis aufgebotenen Interpretationsbedingungen.62 57 Ebd., 726. 58   Die Struktur des Identitätsbegriffes erweist sich so als zweistellig: »Identität besteht aus der bestimmten Auffassung des aus der Zweistelligkeit des Begriffs entspringenden Unterschieds, der im jeweiligen Identitätsbegriff als ein wie immer interpretierter vorgestellt wird. Der Identitätsbegriff ist folglich das Resultat einer Interpretation, die der leere Konstitutionsgrund des Begriffs fordert und die von bestimmten Garantieinstanzen bzw. Bezugsrahmen reguliert wird (Iser: Ist der Identitätsbegrif f ein Paradigma für die Funktion der Fiktion?, 1979, 726). 59  Iser: Ist der Identitätsbegrif f ein Paradigma für die Funktion der Fiktion?, 1979, 726. 60  Ebd. 61 Ebd., 727. 62 Ebd., 728.

3. Mediale Bilder interkultureller Identitätsarbeit

Die Erfahrbarkeit der Identität und das Streben nach dem in Evidenz erfahrenen Wissen machen den Begriff Identität zu einem Operationsbegriff einer ›Als-Ob‹-Relation. Identitätsarbeit als operatives Verfahren bestätigt die Annahme über Veränderungsprozesse von charakteristischen und inhaltlichen Bezugsrahmen der Identifikation und über Möglichkeiten verschiedener (Um-)Besetzungen der Identität.

3.1.4 Das Subjekt als Fragment Die These von der Befreiung der Identitätsarbeit von ontologisch gefestigten Normen auf der einen Seite und über das Werden der Identität auf der anderen Seite durchzieht die kulturtheoretischen Ansätze der Postmoderne, findet im literaturwissenschaftlichen Identitäts-Diskurs eine ertragreiche Diskussion und bekräftigt die Annahme über verschiedene Möglichkeiten der (Um-)Besetzung individueller und kultureller Identitätsarbeit in der ausgestatteten Erzählwelt. Vielheit und Verschiedenheit des Subjekts (Nietzsche), unbeendbare phantasmatische Prozesse der Identifizierung (Derrida) und vielfältige Varianten fiktionaler (Um-)Besetzung der Identität in der Textwelt (Iser) implizieren eine literarisch spezifische Form der Identifikation, die mit der kulturtheoretischen Auffassung über die Problematik eines einheitlichen Individuums und über das Fragmentieren des modernen Individuums korrespondiert.63 Dieses bedeutet, dem Individuum die Möglichkeit und die Fähigkeit einzuräumen, das gewünschte oder notwendige »Gefühl der Identität« zu erzeugen und zu entwickeln.64 Das Erzeugen eines »Gefühls der Identität« verweist auf die Subjektivität der Identitätsarbeit und verdeutlicht den Übergang von geschlossenen und verbindlichen bzw. einheitlichen und kontinuierlichen zu offenen und gestaltbaren bzw. vielfältigen und ineinander übergehenden sozialen Systemen.65 Die Subjektivität der Identitätsarbeit bedeutet, dass das Subjekt selbst zum Architekten des eigenen Lebensgehäuses wird und seine Behausung nicht mehr in bereits gegebenen und vorherrschenden, sondern in kreativen Akten der Selbstorganisation gestaltet.66 Die Selbstorganisationsprozesse ermöglichen die Zusammenführung unterschiedlicher Identifikationsmomente. Die Herausforderung des modernen Subjekts liegt in der Zusammenführung von Identifikationsmomenten in einem für das Subjekt selbst sinnhaften Zusammenhang. Auf die individuelle Zusammenführung der Identifikationsmomente weist in den Wissenschaftsdisziplinen eine Reihe von Begriffen, Metaphern und Konzepten hin, um eine plurale Auffassung von Identität kenntlich zu machen: Von dem dezentrierten Subjekt,67 dem Colagen-Selbst,68 der Patchwork-Identität69 und der Mannigfaltigkeit 63  Hall: Die Frage der kulturellen Identität, 1994, 180. 64 Keupp et al. (Hgg.): Identitätsarbeit heute, 1997, 34. 65  Keupp: Identität und Individualisierung, 2012, 80. 66 Ebd., 83-86. Keupp führt unter Berücksichtigung von Prozessen der Individualisierung aus, dass die Möglichkeiten der Selbstorganisation sich in den pluralistischen Gesellschaften explosionsartig erweitert hätten. Mit Erweiterungstendenzen sind einerseits Chancen und Freiheiten zur Gestaltung von Leben verbunden und gehen andererseits Ängste einher, die ihren Ursprung im Kontrollverlust und in wachsenden Risiken des Misslingens finden. 67  Sampson: The Challenge of Social Change for Psychology, 1989, 914-921. 68  Pazzini: Ein bildlicher Zugang zum Identitätsbegrif f, 1986, 61-80. 69  Keupp: Auf der Suche nach der verlorenen Identität, 1989, 47-70.

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der Identitätsbalance70 ist die Rede. Gemeinsam haben sie alle, dass sie von der Frage ausgehen, wie das Subjekt sich und seine Erfahrungsmomente angesichts der Vielfalt der Lebenserfahrungen organisiert.71 Die hinter diesen Begriffen und Metaphern verborgenen theoretischen Ansätze verweisen auf das Zusammenbrechen ontologischer Normen der Identitätszuweisung und erfassen die subjektive und individuelle Verknüpfungsarbeit auch theoretisch. Vor diesem Hintergrund sollte der Begriff Identitätsarbeit72 verstanden werden. Er verweist auf Möglichkeiten und Fähigkeiten des Individuums bei der Selbst-Organisation, Selbst-Tätigkeit, Selbst-Einbettung und Selbst-Entfaltung.

3.2 Die Freiheit des Subjekts, Ich-s zu werden Ref lexionen über die Fragmentierung der Identität in der Literatur erfolgen durch die Erinnerungsarbeit, wenn sie Historisches erfassen sollen, und durch die Darstellung individueller Entfaltungsmöglichkeiten, wenn sie die Jetztzeit in den Blick nehmen sollen. Die ästhetische Fragmentierung der Identität impliziert Gestaltungsmöglichkeiten von Formen der Gedächtnisse und Erinnerungen, die eine historisch organisierte Identitätsarbeit steuern und unter Berücksichtigung sinnhafter Entfaltungszusammenhänge in der Jetztzeit Identitäten stiften. Die Emanzipation des Ich von der ihm einst zugewiesenen Repräsentationsfähigkeit und die Fähigkeit des Ich zur Multiplikation selektiver Momente der Identifikation bieten dem artikulierenden Ich die Möglichkeit, sich bei seiner Identifikation im Sprechen und Schreiben kontextuell unterschiedlich und mehrdimensional zu positionieren. Artikulieren und Positionieren werden in literaturwissenschaftlichen Studien mit dem Schwerpunkt Identitätsarbeit in Form von Erzählen und Schreiben als medialen Möglichkeiten zur Konstruktion und Repräsentation fruchtbar gemacht. Die Herausgeber des Bandes »Schreiben heißt: sich selber lesen« (2008) sprechen von Widerständen, die sich im Prozess des Schreibens einstellen und im Geschriebenen wiederkehren.73 Für diese Wiederkehr wird der Begriff »Schreib-Szene« vorgeschlagen, unter dem Konstellationen des Schreibens verstanden werden.74 Mit der Wiederaufnahme dieses Begriffes möchte ich auf Prozesse des Sich-Identifizierens im Schreiben verweisen.75 Die Identitätsarbeit des Subjekts, das sich über Normen und Zwänge hinwegsetzt, realisiert sich im Produzieren der Identität im Schreiben insofern, als der Produktionsprozess dem Ich zulässt, seine Identitätsarbeit im Schnittpunkt vermehrter Kontexte zu organisieren. Das Ich-Schreiben ermöglicht den Emanzipationsprozess des modernen Subjekts in der Literatur.

70  Krappmann: Die Identitätsproblematik, 1997, 66-92. 71 Siehe zur Diskussion Straus et al.: Entwicklungslinien alltäglicher Identitätsarbeit, 1997, 270-307. 72 Keupp et al.: Identitätsarbeit heute, 1997. – Identitätsarbeit bedeutet, dass die Bildung der Identität stets eine subjektive Seite einbezieht (Identifikation) und nicht nur im politischen Sinne als »Projekt« (Meyer: Die Identität Europas, 2004, 186) verstanden werden soll. 73   Giuriato et al.: »Schreiben heißt: sich selber lesen«, 2008, 12. 74  Ebd. 75 Siehe hierzu auch Wierschke: Schreiben als Selbstbehauptung, 1996.

3. Mediale Bilder interkultureller Identitätsarbeit

3.2.1 Barrieren der Subjekt-Emanzipation Das Schreiben ist für die Analyse der Identitätsarbeit von Relevanz. Mit Blick auf das Spannungsfeld des Geschichtlichen und des Gegenwärtigen, auf dem sich die Migranten-Figur verortet, möchte ich im Schreiben das Medium sehen, das den Wechsel zwischen Erinnerung und Entfaltung überhaupt ermöglicht. Während Erinnerungsbereiche unveränderbar zu sein scheinen, ist die Migranten-Figur in der Jetztzeit der Herausforderung ausgesetzt, neue und gegebenenfalls andere Verbindungsmomente herzustellen. Im Schreibprozess scheint sie mit der Aufgabe konfrontiert zu sein, an einem (Erzähl-)Gewebe zu partizipieren, in dem das Sich-Erinnern und Sich-Entfalten miteinander verschränkt werden und erst dann die Identitätsarbeit vorantreiben. Für die Repräsentationsformen medialer Identitätsarbeit hat sich die Forschung schon immer interessiert. Zielke-Nadkarnis Arbeit Frauenfiguren in den Erzählungen türkischer Autorinnen (1996) widmet sich dem Thema Schreiben über Migration und betrachtet das Schreiben vor dem biographischen Hintergrund der Autorinnen. Es sind also nicht die Figuren, die durch das Artikulieren und Positionieren ihre Identität suchen, sondern die Autoren, die ihre Identität in vermeintlich gegebenen Kontexten offenbaren. Hierdurch bildet sich Identität nicht während des Schreibens; mit anderen Worten ist das Schreiben nicht das Medium der Identitätsarbeit, sondern Identität ist biographisch festgelegt und somit bereits gebildet. Das Schreiben über Identität weist dieser wiederum eine Repräsentationsfunktion zu. Die Festlegung der Identität auf Biographie steht in Zielke-Nadkarnis Studie im Zeichen einer weiteren Problematik, die sich trotz literaturwissenschaftlicher Zielsetzung aus der Annahme des dokumentarischen Charakters der Texte ergibt. Migration wird nicht als treibende Kraft des Schreibens und des Sich-Identifizierens betrachtet, sondern als Abrechnung mit dem Umfeld von Autoren. Charakteristisch ist vor allem, dass das Verhältnis des Subjekts und des Umfelds stets von einer Disharmonie geprägt ist. Perspektiviert wird dieses ungleichgewichtige Verhältnis durch die Polarisierung einer ethnisch-sprachlichen Minderheit gegenüber einer national dominanten Mehrheit. In dieser Tradition steht auch Horst Hamms Arbeit Fremdgegangen – Freigeschrieben (1988) mit dem Fokus auf der ethnischen Zugehörigkeit der Autoren als Bestandteil literarischer Textanalyse. Ulrike Reeg setzt diese Tradition in ihrer soziologisch angelegten Studie über die Migranten aus dem Mittelmeerraum Schreiben in der Fremde (1988) fort. Ihre Perspektive auf die italienische Immigration in den 1970er Jahren beschränkt sich auf deren Minderheitskultur innerhalb der Migrantengruppen wie gegenüber einer Mehrheitskultur. Diese Studien aus den letzten beiden Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts führen exemplarisch ein nicht zu unterschätzendes Manko literaturwissenschaftlicher Arbeiten vor Augen. Es besteht darin, in der Bezeichnung der Interkulturalität ein Etikett und weniger ein methodologisches Analyseverfahren zu sehen. Anders als der Methodenpluralismus interkultureller Analyse und entgegen dem Anspruch interkultureller Sichtweise auf Konstruktionen, Übergänge und Prozesse befassen sich die erwähnten Arbeiten mit den jeweiligen Migrantengruppen und betrachten ihre Werke vor dem Hintergrund der ethnischen Zugehörigkeit. Sie belegen die These der in den 1980er Jahren propagierten Auffassung einer Ausländer-Literatur, obwohl sie angaben, sich gerade davon zu distanzieren. Die Einbindung biographischer, ethnischer und aus Herkunft und Ursprung herrührender Kriterien in einem textuellen Analyseverfahren bleibt allerdings kein spezi-

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fisches Kriterium der 1980er und 1990er Jahre, sondern setzt sich in den interkulturell ausgerichteten Arbeiten des beginnenden 21. Jahrhunderts fort. In ihrer Arbeit über die Identitätsbalance in der Fremde (2004) stellt Petra Thore »migrantische Herkunft« von Autoren »unterschiedlicher Herkunftsnationalitäten und -sprachen« und den »Gebrauch des Deutschen als Literatursprache und als eine von mehreren Sprachen des alltäglichen Gebrauchs« in den Vordergrund.76 In der Anthologie Transkulturelle Metamorphosen (2006) diskutiert Aglaia Blioumi Texte der dreisprachigen Migranten, die ihren Aufenthaltsort nach Griechenland verlegt haben. Blioumis Perspektive auf deutsche Autoren in Griechenland und somit auf den Wohnort der Autoren ist eine Umkehrung der Perspektive ihrer Dissertation Interkulturalität als Dynamik (2001), die die Literatur griechischer Migranten in Deutschland untersuchte. Beide Arbeiten basieren auf einem biographischen und von Herkunft und Wohnort der Autoren ausgehenden Ansatz. Einen ähnlichen Zugang zum Thema hat auch Metin Buz in seiner Arbeit über Literatur der Arbeitsemigration in der Bundesrepublik Deutschland (2003), wenn er das Ziel verfolgt, die Hintergründe der Immigration und die Lage der Migranten in Deutschland in einer literaturwissenschaftlich positionierten Arbeit zu diskutieren. Diese Studien belegen exemplarisch, wie stark die literaturwissenschaftliche Analyseperspektive national und ethnisch beschränkt war und noch ist. Kaum steht die Frage nach dem Sich-Identifizieren im Vordergrund, sondern stets das Sein der Identität. Auf diese Weise schließen sich diese Ansätze an die Debatten in den 1970er Jahren an, sehen im Subjekt eine Repräsentationsfigur, bekräftigen die Rollenhaftigkeit des Subjekts wie den Kulturzwang und verlaufen gegen die Auffassung der Emanzipation des Subjekts von einer Identitätszuweisung.

3.2.2 Identitätsarbeit jenseits des Rollenzwangs Eine Ausnahme zu den erwähnten Arbeiten bildet Jochen Neubauers Schrift Türkische Deutsche, Kanakster und Deutschländer (2011), in der sich der Autor mit den narrativen Aspekten der Identitätsarbeit befasst und Identität im Schreiben bzw. im Erzählen als Medium diskutiert. Mit der Annahme von Interaktionsprozessen bei der Identitätsarbeit versteht Neubauer Identität prinzipiell als etwas Unabgeschlossenes, betrachtet sie als Konstruktion und begründet seine These über die Emanzipation des Subjekts auch in der Dimension des Narrativen. Im Modus des Narrativen erfolgt aus Konstruktion und Emanzipation des Subjekts auch seine Fähigkeit zur Identitätsbildung im Sinne der Prozesse von Kohärenz und Kontinuität.77 Auf diese Weise gestaltet sich die Identitätsarbeit innerhalb von Verfahren der Selbst-Narration in den Erzählformen,78 die der Gesellschaft zur Verfügung stehen. Wenn man die kulturtheoretische Annahme soziokultureller Transformationsprozesse weiter aufrechterhält, so sind diese stets dabei, neue diskursive Formen zu produzieren und zu gestalten. Wissenschaftsdisziplinen würden dann jeweils ihre eigenen Analysemethoden an den neuen diskursiven Formen erproben. Was bedeutet dann Kontinuität und Kohärenz in den diskursiven Formen der Identitätsarbeit? Die 76 Thore: »wer bist du hier in dieser stadt, in diesem land, in dieser neuen welt«, 2004, 21. 77 Sieh hier ausführlich Kraus: Das erzählte Selbst, 1996. 78 Siehe zur Diskussion Neubauer: Türkische Deutsche, Kanakster und Deutschländer, 2011, 77-79.

3. Mediale Bilder interkultureller Identitätsarbeit

Antwort ergibt sich für Neubauer aus der nähren Analyse der Selbst-Narration. Diese meint, dass das Individuum selbst relevante Ereignisse auf der Zeitachse aufeinander bezieht und dabei verschiedene Lebensereignisse in kohärenter Form miteinander verbindet. Darauf bezieht sich Neubauer, wenn er die narrative Identitätsarbeit darin sieht, dass »Identität durch narrative Akte nicht nur dargestellt, sondern gleichsam auch hergestellt wird«.79 Neubauers Schlussfolgerung über die Dar- und Herstellung der Identität lässt sich an die These über Produktionsprozesse des Subjekts an der Schnittstelle vermehrter Kontexte und an die Verfahren des Ich-Schreibens anschließen. Im Hinblick auf die Relevanz von Geschichte (Gedächtnis) und Gegenwart (Erfahrung) bei der Identitätsarbeit spiegeln Selbst-Narrationen nicht nur die auf die Vergangenheit des Erzählten bezogenen Präsentationsformen, sondern auch die in der Gegenwart der Erzählung entstehenden Produktionsvarianten der Identität wider.80 Nach Kraus ordne die Erzählung die disparaten Elemente aus dem Leben und den Lebenserfahrungen. Dieses Ordnen sei nicht immer konstant, sondern variiere nach der Fähigkeit zu einer kontinuierlichen Reinterpretation von Leben und Lebenserfahrungen.81 Es ist also nicht kohärent, sondern kohäsiv. Insofern dürfte hier ergänzt werden, dass es sinnvoller wäre, von wechselnder bzw. variierender, nur momentan fassbarer und sich jederzeit in Frage stellender Identitätsproduktion zu sprechen. Die Auswertung von Prozessen der Identitätsproduktion findet insbesondere in die postkolonialen Identitäts-Diskurse Eingang und erweitert die Perspektive um die Dimension der Identitätskrise. Diese ergibt sich aus dem Ungleichgewicht, das durch die Konfrontation der fundamental und dauerhaft bleibenden Identität (etwa bei Stereotypen der Kolonisierten) und der Wandelbarkeit der Identität (wenn Stereotype ihre Bestätigung verlieren) entsteht. Die Identitätskrise als Parameter des Diskurses problematisiert die Auffassung von einer determinierenden Identität eines Volkes oder einer Ethnie. Vielmehr werde »die Vielschichtigkeit und die Vorläufigkeit jeder einzelnen Identität« offenbart und bedinge folglich die »dauernde Erneuerung und Suche nach Identität«.82 Die postkoloniale Perspektive auf die Identitätsarbeit ist deshalb relevant, weil der Identitäts-Diskurs in der Globalisierung die im Postkolonialismus aufgekommene Identitätskrise aufgreift und an ihrer theoretischen Beschreibung die Erfindung pluraler Identitäten erläutert. Daraus wird die Erkenntnis gewonnen, dass die Identitätsarbeit nicht allein eine erfolgreiche Seite von Bildung und Gestaltung, sondern auch eine Seite von Krise und Verlust besitzt. Jede Identitätskrise mündet letztlich in neue Identitätsformen ein. Die Beschreibung der Identität als pluralen Konstrukts – als Erfindung – beleuchtet die Diskrepanz zwischen traditionellen und (post-)modernen Identitäts-Diskursen und unterstreicht ihre Relevanz in den Auseinandersetzungen mit den soziokulturellen Herausforderungen insbesondere im Hinblick auf die Generations- und Familienaspekte. So gehen die Krise der Identität und die Krise der Generation im Gesellschaftsdiskurs Hand in Hand.83 Aus Identitätsarbeit als Angelegenheit, die sich in unterschiedlichen soziokulturellen Kontexten vollzieht,

79 Ebd., 78. 80 Lucius-Hoene et al.: Narrative Identität und Positionierung, 2004, 167f. 81  Kraus: Das erzählte Selbst, 1996, 159f. 82  Weidtmann: Postkoloniale Identitätssuche, 2002, 110. 83 Ebd., 110-115.

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geht auch die Erkenntnis hervor, dass Identität von Generation zu Generation nie deckungsgleich interpretierbar ist.

3.2.3 Identitätsarbeit im Modus des Erzählens Wie die individuelle Identitätsarbeit sich in Interaktionsformen vollzieht, woran ihre Her- und Darstellung abzulesen ist und wie es um die Abhängigkeit individueller und kultureller Identitätsarbeit steht, wird in narrativen Schemata widergespiegelt.84 Narrating, a speech activity that involves ordering characters in space and time, is a privileged genre for identity construction because it requires situating characters in time and space through gesture, posture, facial cues, and gaze in coordination with speech.85 Ausgegangen wird von der Erkenntnis, wie interkulturell profilierte Figuren im Erzählen die privilegierten Momente ihrer Identitätsarbeit entdecken und dabei die Fähigkeit entwickeln, ihre Identifikationsmomente auf der Raum- und Zeitachse ref lexiv zueinander in Beziehung zu setzen. Ref lexivität ergibt sich trotz Verschiedenheit in Modalitäten der Erzählperspektive aus der Strategie des Aufeinandertreffens von Vergangenheit und Gegenwart in der ausgestatteten Erzählwelt.86 Die ref lexive Positionierung von Figuren wird von Autor, Erzähler und Figuren selbst (häufig in oppositioneller und korrelierender Form) ausgehandelt.87 Das Erzählen des Migrationsgedächtnisses stellt wechselnde und sich wandelnde Ref lexionsmomente sozialer, historischer und kultureller Kontexte in narrativen Konstruktionen dar, welche die Identitätsarbeit zum einen als prädestinierte Ref lexionsebene kultureller Transformationsprozesse, die ihrerseits »challenges of growing cultural multiplicities«88 sichtbar machen, in den Vordergrund rückt. Zum anderen schreiben die vielfältigen Erzählformen der Frage nach Positionierung und »positioning analysis«89 eine besondere Relevanz zu. Das, was hier im Hinblick auf das Material hervorgehoben wurde, lässt sich erzähltheoretisch an die Analyse von Identitätskonstruktionen in einer erzählten Geschichte90 anknüpfen. Bei der Positionierungsanalyse in der erzählten Geschichte unterscheidet Michael Bamberg ausgehend von der Perspektive des Ich als Erzähler drei Ebenen: Erstens kann das Ich als Figur (I) ein objektiviertes Ich (me) positionie84   Die sozialwissenschaftliche Annahme konstruiert solche Kontexte im Allgemeinen durch die Herstellung einer Bedeutung von Selbst unter verschiedenen sozialen und personalen Aspekten wie Geschlecht, Alter, Rasse, sozial-ökonomischem Status, Ethnie, Nation und regionalem Territorium (siehe hierzu vor allem den von Michael Quante herausgegebenen Band Personale Identität, 1999). 85  Bamberg: Identity and Narration, 2009, 132. 86 Siehe hierzu ausführlich Koschorke: Wahrheit und Erfindung, 2012, 203-286. 87   »The delineation of what happened, whose agency was involved, and the potential transformation of characters from one to state to another serve to demarcate the identity of the reflective self under investigation […]: the goal is […] to condense and unite, to resolve ambiguity, and to deliver answers that lay further inquiry into past and identity to rest« (Bamberg: Identity and Narration, 2009, 133). 88  Bamberg: Identity and Narration, 2009, 134. 89  Bamberg: Positioning between Structure and Performance, 1997, 340-342. 90  Bamberg: Identity and Narration, 2009, 139f.

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ren, um die eigene Position deutlich zu machen, zweitens kann das Ich sich selbst und sein Objekt in eine gleichwertige Beziehung setzen, um daraus ein gemeinsames Wir (we) zu gewinnen, und drittens kann das Ich differenzierte Figuren positionieren, um die Position eines Wir von der eines Anderen zu unterscheiden. Dieser dreifache Differenzierungsprozess »must be taken into account when talking about ›self‹ as different from ›other‹ and viewing self ›in relation to self‹«.91 Bei der narrativen Identitätsarbeit der Migranten-Figur unter dieser dreifachen Konstellation werden der Vorstellung von kontinuierlich stabilen und fixierenden Identität-Zuschreibungen die Konstruktionsvarianten der Identität und die Möglichkeiten plurikultureller Identitätsarbeit entgegengestellt. Dass die soziale und personale Identität nicht unabhängig von dem Umfeld gebildet und untersucht werden kann, bedeutet, dass auch die narrative Identitätsarbeit sich nicht losgelöst von einer Interdependenz mit Erzählungen bzw. Handlungen anderer gestaltet und so auch einem Interaktionsprozess folgt. Demzufolge bewegen sich auch Konzepte der narrativen Identitätsarbeit weg von der Zuschreibung fixierter Merkmale hin zu der Analyse von Interaktionsprozessen und der Frage, wie die Figur des Migranten beim Erzählen/Schreiben innerhalb der Interaktionsprozesse vergleichbar mit anderen Subjekten konstruiert wird und wie es sich selbst dabei positioniert. Ist vom Erzählen und Schreiben die Rede, so rückt die Sprache ins Zentrum der Analyse (4.3). Neubauer hat gezeigt, dass prinzipiell jede sprachliche Äußerung Aspekte enthalten kann, die – explizit oder implizit – im Diskurs der Identität eine tragende Rolle spielen können.92 Die Betrachtung dieser Aspekte in die Untersuchung von Prozessen narrativer Identitätsbildung einzubeziehen, wird ermöglichen, in diesen Prozessen eine Positionierung für oder gegen die kollektiv konstruierte Welt der Erzählung (we) auszuarbeiten. Neubauer verweist auch auf die allgemeine Annahme, dass die individuelle Identitätsarbeit sich innerhalb der nationalen, religiösen, ethnischen Formen der Identitätsarbeit vollzieht, und betrachtet die kulturelle Identitätsarbeit als ihren erweiterten Bereich. Aus seiner Analyse lässt sich die Erkenntnis gewinnen, dass jeder Mensch »auf seine eigene Art und Weise« an diesen Formen der Identitätsarbeit teilhat und dass er sich innerhalb dieser Formen nur mit »Teilaspekten« identifiziert.93 Das Besondere an der Auffassung von einer narrativ her- und dargestellten Identitätsarbeit ist ihr theoretisches Potential für die germanistische Interkulturalitätsforschung und zwar nicht allein im Hinblick auf das narrative Instrumentarium, das die Identitätsarbeit analysieren hilft. Im Erzählen verwirklichen sich durch die Positionierung von interkulturell profilierten Figuren die Varianten der Identifikation im Sinne einer pluralen Identitätsarbeit. Dies macht die Identitätsarbeit zu einem Experimentierfeld interkultureller Fragestellungen, die sich der Variabilität und der Vergleichbarkeit – mit Nietzsche gesprochen, der Vielheit – des Subjekts sowie der Analyse von sich aneinander messenden Prozessen der Identitätsbildung annimmt. Dieses Experimentierfeld erprobt Techniken, welche die literarische Emanzipation des Subjekts vom Rollenzwang und reduktionistischen Schranken auch theoretisch erfassen. Auf dieser Grundlage spielt die Figur des Migranten als Akteur, der das Potential besitzt, durch seine narrative Identitätsarbeit homogenisierende Manifestationen und 91 Ebd., 135. 92  Neubauer: Türkische Deutsche, Kanakster und Deutschländer, 2011, 80-85. 93 Siehe hierzu auch Niethammer: Kollektive Identität, 2000, 53.

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Vorstellungen, welche die Grundlage von Stereotypen und Images bilden, zu problematisieren, indem er vor Augen führt, wie Identifizierungen von Individuen durch stereotypisierende Zugehörigkeitszuschreibungen die Identität des Subjekts essentialisieren und den Blick auf ihre Vielheit verstellen. Durch die Analyse ihrer Identitätsarbeit wird der Beweis dafür erbracht, dass die Figur des Migranten vielfältige und plurikulturelle Prozesse der Identifikation durchläuft, dass sie Verbindungsmomente individueller und kultureller Identifikationen konstruiert und dass aus diesen Prozessen die Spurenlese der Transformationsprozesse erfolgt.

3.2.4 Erzählte Identitäten als interkulturelle Praxis Im Modus des Erzählens bzw. des Schreibens vollziehen sich die Emanzipation der Migranten-Figur vom Kulturalisierungszwang einer Mehrheitsposition und die Multiplikation der Identitätsarbeit bei ihrer Positionierung an den Netzwerken in der Schreib-Szene. Es ist also die Schreib-Szene, die dem emanzipierten Subjekt die Gestaltung seiner plurikulturellen Identitätsarbeit überhaupt ermöglicht und sie dem Rezipienten zugänglich macht. Als Ausdruck der Identitätsarbeit wird die Schreib-Szene daher zum Gegenstand literaturwissenschaftlicher Untersuchung. Auf der Grundlage kultursemiotischer Theorien über Codieren und Decodieren, nach denen ein Zeichen in der Kommunikationskette nicht nur eine Bedeutung hat, sondern auch eine Bedeutung erzeugt, lässt sich die Schreib-Szene als Bedeutung konstruierend und konstituierend zugleich begreifen. Für den Rezipienten fungiert die Schreib-Szene wie ein Link94 zwischen dem, was der Rezipient weiß, und dem, was er bei der Lektüre erfährt. Er ist bei der Lektüre der Schreib-Szene angehalten, auch sich als interkulturellen Gesprächspartner95 zu profilieren. Wie die Rezeptionsgeschichte der Migrationsliteratur zeigt, erfolgt die interkulturelle Profilierung des Rezipienten insofern nur bedingt, als dieser die Interpretation der Schreib-Szene auf die historische Identitätsarbeit der Migranten-Figur reduziert und sie bei seiner eigenen Bedeutungsproduktion einem ethnischen oder einem nationalen Identitätszwang aussetzt. Der Rezipient füllt bei seiner Decodierung der Figur den »leeren Grund«96 auf eine Weise, die die Figur des Migranten als stellvertretend für etwas positioniert. Das interkulturelle Konstruktionsfeld der fragmentierten Identitätsarbeit und die Instanz des Anderen bei dieser Identitätsarbeit auf der einen Seite, der interkulturell profilierte Gesprächspartner und dessen eigene Identitätsverortung auf der anderen Seite versetzen die interkulturelle Analyse in eine dialogische Beziehung: Die eine Seite dieser Beziehung »gibt uns eine gewisse Grundlage in der Vergangenheit und Kontinuität im Verhältnis zu ihr« und die andere Seite »erinnert uns daran, daß das, was wir miteinander teilen, gerade die Erfahrung tiefgreifender Diskontinuität ist«.97 In dem Einen sehe ich den Bereich der Erinnerung, in dem Anderen den der Entfaltung. Die Poetik der Migration ref lektiert diese dialogische Beziehung. Der entscheidende Punkt in einer plurikulturellen Identitätsarbeit und die herausragende Eigenschaft einer interkulturell profilierten Figur bestehen in der Schreib-Szene vornehmlich 94  Hall: The World of Representation, 1997, 17. 95   Chiellino: Interkulturalität und Literaturwissenschaf t, 2007, 395. 96  Iser: Ist der Identitätsbegrif f ein Paradigma für die Funktion der Fiktion?, 1979, 727. 97  Hall: Kulturelle Identität und Diaspora, 1994, 31.

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darin, dass die Vergangenheit und die Erfahrung tiefgreifender Diskontinuität der Gegenwart in ihr nicht voneinander getrennt sind, sondern eine Einheit bilden, derer sich das emanzipierte Subjekt nach Bedarf bedient und durch derartige Hinwendung seine plurikulturelle Identitätsarbeit leistet. Mit anderen Worten führen Differenzen der Vergangenheit in der Schreib-Szene nicht zwangsläufig zur Trennung von Vergangenem und Gegenwärtigem, sondern zu ihrer Synthese trotz des Weiterbestehens von Differenzen. Auf diese Weise werden Differenzen nicht zu Trennungsmerkmalen, sondern gelten ausschließlich als Unterscheidungsmerkmale.98 Halls Appell, wir könnten »nicht mehr länger über ›eine Erfahrung, eine Identität‹ sprechen, ohne ihre andere Seite anzuerkennen«,99 bekräftigt die entscheidende Rolle der Differenz in der Frage der Identitätsarbeit. Unter der Differenz ist aber weder die Spaltung des Subjekts noch die Negation der Identität zu verstehen, sondern die Infragestellung identitätsstiftender Repräsentationsbedingungen. Damit ist auch gesagt, dass – anders als in den postkolonialistischen Kulturtheorien – nicht die »Absenz oder die Unsichtbarkeit«100 des Ich im Anderen zu seiner Bestimmung wesentlich ist, sondern dessen gleichzeitiges Auftreten. Wenn Hall die Diskussion um Differenz im Kontext von »Spiel von Differenz«101 verortet, so will er durch diese Metapher die Freiwilligkeit des Subjekts bei der Hinwendung zu denjenigen Momenten der Identitätsbildung, die dem Subjekt selbst nur kontextbedingt relevant scheinen, hervorheben. Als Metapher weist das Spiel auf »die Instabilität, die Unbestimmtheit, auf das Fehlen einer abschließenden Lösung« hin.102 Darüber hinaus zeigt die Spiel-Metapher, dass wir weder von einem absoluten Eigenen noch von einem absoluten Anderen ausgehen können, weil wir mit einer »unbegrenzte[n] Aufschiebung von Bedeutung«103 im Sinne Derridas und mit einem Labyrinth der Interpretation im Sinne Ecos konfrontiert sind.

3.3 Identitätsarbeit im Spiegel narrativer Motive Die Überlegungen über die Identitätsarbeit mit dem Ziel einer individuellen Selbst-Identifikation werden an dieser Stelle aufgegriffen und dem Interpretationsverfahren fragmentarischer und vielfältiger Selbstbilder zugrunde gelegt. Die Positionierung der Migranten-Figur in solchen Kontexten der Selbst-Identifikation wird zeigen können, dass es dieser Figur darum geht, Verbindungsmomente individueller und kultureller Identifikationen herzustellen und so an Verknüpfungspunkten von Differenz und Ähnlichkeit ein identitätsstiftendes Netzwerk zu konstruieren. Das identitätsstiftende Netzwerk ermöglicht der Migranten-Figur, sich gegen die Verordnung einer kollektiven und kulturellen Identitätsbildung zu positionieren und ihre Radikalität als prekär zu entlarven. Denn die radikale Verordnung führt zur Manifestation von Vorstellungen und Images und reduziert die Migranten-Figur auf die Repräsentationsfunktion ihrer Ethnie, ihrer Religion und ihrer Nation. Hierdurch 98  Bhatti: Heterogenität, Homogenität, Ähnlichkeit, 2015, 131. 99  Hall: Kulturelle Identität und Diaspora, 1994, 29. 100  Bhabha: Die Frage der Identität, 1997, 99. 101  Hall: Kulturelle Identität und Diaspora, 1994, 32. 102  Ebd. 103 Ebd., 34.

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werden Probleme des sozialen Zusammenlebens auf die Kultur der jeweils anderen Gruppen zurückgeführt und dabei Mechanismen des Kulturalismus freigesetzt.104 Die poetische Ref lexion auf die Identitätsarbeit lässt sich an einer Reihe von ästhetischen Mitteln ablesen, welche die Erfahrungen der Migration im Schreibprozess in Szene setzen. In der Schreib-Szene werden die ontologischen Muster des Kulturalismus problematisiert und Alternativbedeutungen produziert. Das interkulturelle Verfahren der ausgestatteten Erzählwelt widmet sich nicht allein dem, über das der Rezipient aus eigenkultureller Praxis und Kenntnis verfügt, sondern vor allem dem, was sich der Wissensmenge des Rezipienten entzieht.105 Zwei Kriterien charakterisieren dieses Verfahren besonders: Grenzüberschreitung und Liminalität. Sie erlauben, von einer interkulturellen Profilierung der Figur und der Kultur zu sprechen.

3.3.1 Metamorphose und erzählte Identitätsarbeit Aus der Interpretation des Gedichts Metamorphose werden bildliche Darstellungen von Phänomenen kultureller Differenzen und Ähnlichkeiten abgeleitet. Diese Interpretation erlaubt, im Gedicht ein Symbol für wechselnde Kontexte von Handlungsmöglichkeiten zu sehen, die einerseits vom Individuum Anpassungen abverlangen und ihm andererseits neue Gestaltungsmöglichkeiten zur Verfügung stellen. Dieser möglichen Interpretation zufolge lässt sich die Schreib-Szene der Metamorphose als einen Ort betrachten, an dem sich das Spiel mit der Identität in seinen Facetten poetisch vollzieht. Rumjana Zacharievas Gedicht Metamorphose lässt die Diskussion über ein ästhetisches Verfahren zu, das eine individuelle Identitätsarbeit in wechselnden kulturellen Kontexten symbolisch beschreibt. Ich war ein Fisch. Mir war es wohl im Wasser. Doch plötzlich eines Tages versagten meine Kiemen. Man stellte fest: ich sei ein Fisch mit Lunge. Im Korb erwacht, sprach ich die Menschensprache. Man nahm mich auf – ein Wunderexemplar – ein Fisch mit Stimme und mit Lunge. An mir vollzieht sich was in Tausenden von Jahren vom Fisch zum Menschen geschah.

104   Schiffauer: Kulturelle Zuschreibungen und Fremdethnisierungen, 2003. 105   Heimböckel et al.: Zwischen Provokation und Usurpation oder Nichtwissen als Zumutung des Fremden, 2010, 9-14; Heimböckel: Interkulturalitäts- als Nichtwissensforschung, 2012, 35-39.

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Ich habe es geschafft: ich bin schon längst kein Wunderexemplar. Ich kann nur noch nicht richtig schwimmen.106 Der Fisch im Wasser steht sinnbildlich für ein Leben in gewohnter Umgebung. Das Gedicht wird von einer Ich-Perspektive dominiert und gibt dem Rezipienten einen Einblick in eigene Erfahrungen. Die erste Strophe ist im Präteritum formuliert und beschreibt den Ort eines vergangenen Daseins. Hier erzählt der Ich-Fisch über das Leben im Wasser und beschreibt zunächst eine Situation, die im Erwartungshorizont des Rezipienten liegt. Mit der Veränderung von Kiemen als dem für den Fisch lebensnotwendigen Organ beginnt die Metamorphose: Die Kiemen werden zur Lunge und deuten auf die Umwandlung des Fisches zu einem Reptil oder einem Säugetier hin. Doch diese Veränderung führt wider Erwarten weder zum Tod noch zu einem absoluten Identitätsverlust, sondern zu einer zeitweise nebeneinander existierenden Lebensform von Fisch und Säugetier: »ich sei ein Fisch mit Lungen«, heißt es zum Schluss der ersten Strophe. In der zweiten Strophe wird die Geschichte weiterhin im Präteritum erzählt. Die Ich-Perspektive wird aber insofern präzisiert, als die Fähigkeit des Sprechens dem Säugetier nun auch eine menschliche Qualität zuweist und die Metamorphose um eine Dimension erweitert. Aus der Kombination beider Metamorphose-Phasen entsteht »ein Fisch mit Stimme und Lunge«; dieses »Wunderexemplar« beschreibt eine Daseinsform, für welche die Evolution Tausende von Jahren benötigt habe. Die Schnelligkeit charakterisiert diese Metamorphose als Ausnahmefall innerhalb der Evolutionsgeschichte. Es kommt hinzu, dass die Metamorphose sich nicht ohne die aktive Beteiligung des Ich vollzieht: »Ich habe es geschafft«, heißt es kurz vor dem Ende des Gedichtes. Dass in der Jetztzeit der Ich-Perspektive die Existenzform durch die scheinbare Normalität des gleichzeitigen Daseins als Fisch und Säugetier ersetzt wird, zeigt, dass es keine dauerhafte und endgültige Existenznormalität geben kann, oder dass die eine Normalität von der anderen abgelöst wird. Das »Wunderexemplar« deutet darauf hin, dass die Lebensform dieses Lebewesens nun eine nie dagewesene Existenzform besitzt, in der es zwar »nicht richtig schwimmen«, aber atmen und sprechen kann. Das Attribut »richtig« signalisiert, dass das Schwimmen doch abhandenkam und nun wieder erlernt werden muss. Das »Wunderexemplar« liegt in der Vergangenheit, so dass die Umbildung zum Menschen durch die Sprache als abgeschlossen betrachtet werden kann. Kiemen und Lunge wie tierische und menschliche Kommunikation sind differierende Merkmale; sie gehen dennoch ein Ähnlichkeitsverhältnis ein. Um diese Lebensform zu erreichen, gehen der Verzicht auf ein Gegebenes und der Anspruch auf ein Niedagewesenes Hand in Hand. Worauf es hier ankommt, ist eine doppelte Metamorphose, die sich im Atmen und im Sprechen zeigt. Weder das Wesen des Fisches verschwindet restlos, noch das Wesen des Menschen ist systematisch gebildet; von einem Verlust des Einen zugunsten des Anderen kann also keine Rede sein. Der erste Vers der dritten Strophe wechselt ins Präsens und deutet auf einen Prozess hin, der seinen Ursprung in der Geschichte und seine Vollendung in der Gegenwart hat.

106  Zacharieva: Metamorphose, 1986, 42.

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Erweitert wird das Thema des Gedichts durch einen dem Gedicht angehängten Erzähltext, der die gleiche Geschichte darstellt.107 Die lyrische Charakterisierung des Fisches im Gedicht und das prosaische im Erzähltext zusammen kennzeichnen den Fisch explizit als Sinnbild für Mensch. Auf diese Geschichte referiert von nun an das Ich als Mensch, der zweisprachig schreiben und sprechen kann, und bekräftigt die Produktion in zwei Sprachen auch dann, wenn sie sich anscheinend als unmöglich erweist.108 Den nur teilweise eingetretenen Verlust der historischen Identität und die Bildung der gegenwärtigen unvollendeten Identität verbindet der Erzähler mit der Sprache, indem er eine bilinguale Produktionsfähigkeit ins Zentrum rückt. Die Polarisierung beider Sprachen bedeutet die Befähigung, sich zugleich in deren System bewegen zu können. Die literarische Konstruktion des Subjekts im Gedicht Metamorphose ist ein Beispiel gegen die Vereindeutigung der Identität und für den Anspruch auf die Identitätsvielheit des Subjekts und treibt das Spiel der Identitätsarbeit in der Schreib-Szene insofern voran, als sie sich der als Norm erachteten Bestimmung der Identität widersetzt und sich stattdessen Prozessen der Umwandlung verschreibt. Mit anderen Worten ist Identität im Moment ihrer Bildung dabei, sich auf entscheidende Weise zu transformieren. Ferner wird in diesem Gedicht gezeigt, wie eng Identität und Sprache zusammenhängen, und dass Prozesse, welche das Eine verändern, auch zur Veränderung des Anderen führen. Die Existenzformen des Fisches und des Menschen konstruieren vergleichend die Ich-Identität. Diese Form der Identitätskonstruktion bringt in ihrer erweiterten Dimension auf die Räume der Existenzformen die Subjekt-Vielheit ebenfalls zum Vorschein. So werden Situationen in den Blick genommen, die einerseits an einen konstruierten Raum und andererseits an die Erfahrungen des Subjekts in diesem Raum gebunden sind (Wasser, Korb).

3.3.2 Blume und bunte Identitäten Die Kombination von Poesie und Prosa in Zacharievas Metamorphose macht die Doppelfunktion der Erzählung deutlich: Während das sprechende Subjekt seine Identitätsarbeit in der Erzählung verortet, erfüllt die Erzählung ihrerseits eine identitätsstiftende Funktion, indem sie den liminalen Raum für die Identitätsarbeit zur Verfügung stellt und ihn zu gestalten erlaubt. In Metamorphose überwiegt die Selbstpositionierung des Fisches; zehn Mal wird in der Form Ich bzw. in einem mit dem Ich verbundenen Kasus gesprochen; zweimal tritt die unbestimmte dritte Person Singular ›man‹ auf. Metamorphose erzeugt eine Poetik, in der sich die Erzählwelt in einer auf Anpassung bedachte Ordnung durch Prozesse der Wandlung zu entfalten scheint. Auf die Gestaltung dieser Wandlungsprozesse spielen die unterschiedlich konstruierten Erzählwelten je auf eigene Weise. Ihre Gemeinsamkeit besteht in der Anerkennung des Werdens und der Entwicklung als Prinzip. Inhaltlich ähnlich, strukturell und gattungsspezifisch aber anders verfährt SAID im Kunstmärchen Es war einmal eine Blume (1998). Hier wird über eine Blume, die sich unter den farbigen Blumen in einem Garten farblos vorkommt, und ihre Suche nach ihrer Farbe erzählt. Das Prädikat der Farblosigkeit belebt eine bereits in der deutsch107 Ebd., 42f. 108 Ebd., 43-46.

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sprachigen Literatur ähnliche Symbolik, die an die Schattenlosigkeit in Chamissos Peter Schlemihls wundersame Geschichte (1813) erinnert. Farblosigkeit und Schattenlosigkeit konstruieren zwar verschiedene Bilder, spielen aber auf eine ähnliche Aussage an, nämlich auf den Wunsch nach Identifikation. Die vermeintlich farblose Blume empfindet und beschreibt ihre Andersheit im Vergleich zu den anderen Blumen. Dieser kollektiv semantisierte Vergleich erzeugt in den Anfangsphasen der Identitätsarbeit Verlorenheit und Trauer, die der Blume menschliche Eigenschaften zuweisen und ihre Personifikation ermöglichen. Orientiert am Kriterium der Farbe entsteht zunächst ein Vergleich der Nicht-Ähnlichkeit.109 Von dem Wunsch nach Identifizierungsmöglichkeit erfüllt, macht sich die Blume auf die Suche und verlässt den Garten, in dem sie verwurzelt war. Mit diesem Schritt begibt sich die Blume in den aktiven Prozess der Identitätssuche. Der Akt des Verlassens verweist auf den Aspekt der Identität in Bewegung und wird im Märchen mit einer Reise wiedergegeben. Der subjektive Aktivitätsprozess bei der Identitätssuche wird insbesondere durch die Konstruktion von Instanzen, welche die Blume erst überwinden muss, hervorgehoben. Sie hat zunächst die Absicht, sich an den Regenbogenfalter zu wenden, erfährt aber, dass dieser den Garten wegen eines Wächters, der den Regenbogenfalter und andere Schmetterlinge hasst und ihnen den Eintritt verweigert, nicht mehr besucht. Die Trauer setzt bei der ersten Welterfahrung der Blume an und treibt sie umso mehr zum Auf bruch. Auf ihrer Reise in die weite Welt entdeckt sie, dass jede Blume, jeder Baum und sogar jeder Luftballon eine eigene Farbe besitzt. Die Welterfahrung steigert also die Momente des Vergleichens. Schließlich kommt sie in die Gemeinschaft anderer, aber farbiger Blumen, die ihr nicht vorwerfen, sie habe keine Farbe, sondern finden, dass gerade ihre vermeintliche Farblosigkeit sie auf eine besondere Weise charakterisiert. In deren Augen ist die Blume nicht farblos, sondern andersfarbig. Sie nehmen die reisende Blume in ihre Gemeinschaft auf und vermitteln ihr durch die Relativierung der Differenz ein Gemeinschaftsgefühl. Das Märchen behandelt trotz – oder gerade wegen – seiner Einfachheit unterschiedliche Aspekte. Erstens: Indem der Erzähler die Blume in einem aktiven Prozess der Suche verortet, überträgt er ihr die Entscheidungsfreiheit, die anderen Blumen mit Nachbar anzusprechen und so ein Gemeinschaftsgefühl entstehen zu lassen. In diesem Gemeinschaftsgefühl vollzieht sich der Akt der Identifizierung. Die Blume selbst wird durch ihre aktive Rolle, ihre Sprachfähigkeit und ihre Entscheidungsfreiheit bei der Identifizierung personifiziert. Zweitens: Das Symbol zur Identifizierung ist die Farbe. Für die Blume bedeutet die Suche nach ihrer Farbe das Sich-Identifizieren, die Herstellung eines Zugehörigkeitsgefühls zu einer Gemeinschaft und das Erlangen der Identifikation durch dieses Gefühl. Drittens: Durch die Gemeinschaft anderer Blumen im Garten wie durch den Bezug auf den Regenbogenfalter und den Wächter wird die Perspektive auf die Notwendigkeit der kontrastiven Seite der Identifikation hervorgehoben. Viertens: Die Blume, der Regenbogenfalter und der Wächter werden zueinander in eine Beziehung gesetzt, die dem Erzähler selbst zu Beginn des Märchens den Boden für seine eigene Positionierung bereitet. Durch die Personifikation und das Gleichnis der Reise wird die »Bodenständigkeit« der Blume aufgehoben und in eine Notwendigkeit der Bewegung umgewandelt. Der Regenbogenfalter und der Wächter stehen in einer Opposition zueinander. Ebenfalls in einem oppositionel109 Siehe zum Aspekt der Nicht-Ähnlichkeit Breithaupt: Kulturen der Empathie, 2012, 18-65.

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len Verhältnis befinden sich der Wächter und die Blume, denn er, erfährt der Leser, verbietet ihr, eine Farbe zu haben. Das durch das Verbot konstruierte doppelt-oppositionelle Verhältnis erzeugt eine Situation, der sich die Blume nur durch das Reisen entziehen kann. Durch die Personifizierung der Blume als Wesen, das sich gegen Unpassendes erhebt und sich für das Wünschenswerte einsetzt, scheint die Identitätsarbeit idealisiert. Die Blume ist so, wie sie ist, von vielen anderen Blumen, die sie auf ihrer Reise trifft, unerwünscht; so wie sie sein will, kann sie nicht sein; aber so wie sie zum Schluss in ihrem Dasein von einer Gruppe von Blumen akzeptiert wird, gefällt es ihr. Auf ihrer Reise findet sie zwar keine Farbe, was wiederum die Unerfüllbarkeit des Identitätsideals impliziert. Sie wird aber von den anderen Blumen akzeptiert und in ihre Gemeinschaft aufgenommen. Damit wird auf die Tatsache angespielt, dass die Identitätsarbeit nicht allein individuell bedingt ist, sondern sich durch die Anerkennung der Anderen vollzieht. Man könnte die Kernaussage des Märchens als ein Plädoyer für ein »kosmopolitisches Ideal«110 betrachten, das aber nicht von allen geteilt wird. Unmissverständlich bleibt dennoch die Funktion des bunten Gartens als Metapher für die Identifikationsvielfalt.111

3.3.3 Die Praxis der Schreib-Szene Die beiden ausgeführten Beispiele spiegeln die Symbolik der Transformation und Vielfalt wider. Vergleicht man Zacharievas Gedicht Metamorphose mit SAIDs Blumen-Märchen, so fällt es auf, dass die ausgestattete Erzählwelt in Metamorphose durch die Ich-Perspektive und die im Blumen-Märchen durch die auktoriale Perspektive gestaltet wird. Die poetische Botschaft gewinnt zwar aus diesen Perspektiven ihre Bedeutung, diese wird jedoch durch Dialoge anderer Figuren relativiert. Dialoge erlauben den Blumen-Figuren, die Möglichkeiten ihrer Selbst-Positionierung zu ergreifen. Dialog als Strategie zur (Selbst-)Positionierung erweist sich in SAIDs Werk als literarisches Mittel, das die Konstruktion der Identitätsarbeit in der Schreib-Szene strukturiert und die Umwandlung identitätsstiftender Momente aufzeigt.

3.3.3.1 Schreiben als Ausweg aus der Einsamkeit Adressierung als Möglichkeit zur Konstruktion von Dialog-Szenen gilt in SAIDs Erzähltext Briefe, aber an wen (1986) als literarische Technik der Positionierung. In diesem Text wird sowohl ein fingierter Adressat als die andere Seite des erzählenden Ich (der beschreibenden Instanz) konstruiert als auch eine räumliche Modifikation vorgenommen, die den Sprech-Ort des erzählten Ich ausmacht. Diese Technik drückt sich bereits im Titel des Textes – im Motiv des Briefes – und in der Frage nach einem Adressaten

110 Di Bella: SAID – Ein Leben in der Fremde, 2014, 38. 111   Diese Vielfalt lässt sich kaum als ein »Traum von einer multikulturellen Gesellschaft« (Di Bella: SAID – Ein Leben in der Fremde, 2014, 38.) interpretieren, denn sie existiert bereits und ist insofern kein Traum mehr. Hinzukommt, dass die Vielfalt und der Multikulturalismus vor dem Hintergrund meiner kritischen Ansätze im zweiten Kapitel Unterschiedliches meinen. Multikulturalismus differiert, Vielfalt interveniert. Die Interpretation des Gartens als »Symbol für Europa« (ebd.) kann ebenso wenig bestätigt werden, denn gegenüber Europa nimmt SAIDs Ich durchaus eine kritische Stellung (4.1.1.1).

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aus. Das Schreiben von Briefen und der scheinbare Monolog implizieren außerdem das Bedürfnis des Sich-Mitteilens in einer ref lexiven Form. Was den Brief in SAIDs Text als literarisches Medium definiert, sind die Kriterien der Gestaltungsfreiheit,112 der Ich-Erzählsituation113 und des Fragmentarischen114, welche die Konstruktion von Erinnerungen und Ref lexionen über die individuelle Geschichte des Ich strukturieren. Das Fragmentarische setzt die erinnerte Zeit zusammen. Erst die Zusammensetzung des Fragmentarischen ermöglicht den Blick in die Erinnerungen und gibt Einblicke in das Selektionsverfahren des Schreibers. Die erinnerte Zeit gestaltet den Sprech-Ort des erzählenden Ich. Der Schreiber teilt diesen Ort mit dem erzählenden Ich. Diesem gegenüber wird das erzählte Ich mit seiner Perspektive auf die erlebte Zeit positioniert. Die Verknüpfung von Erinnern, Erzählen und Schreiben in der Jetztzeit der Erzählung ermöglichen dem Schreiber die Einnahme der Ich-Erzählperspektive. Die erinnerte Zeit und das erzählende Ich haben außerdem eine strukturierende Funktion; durch sie wird die Erzählung eingerahmt.115 Der Schreiber konstruiert sein erzählendes Ich in einem Prozess der Suche nach einem fingierten Adressaten zum Zwecke der Selbstoffenbarung. Dieser Prozess gewährt dem Ich dessen Gestaltungsfreiheit, die sich im Erzählen von Exil-Erfahrungen ausschöpft. Durch Exil wird eine dreifache Thematisierung vorgenommen: Das Exil begründet zunächst die Einsamkeit116 und die Absenz des Adressaten im Titel. Außerdem impliziert es den historischen Identitätskontext des erzählenden Ich und bereitet den Auftritt des erzählten Ich vor. Dieser Auftritt wird dann die Selbstoffenbarung des erzählenden Ich durch Zeit, Ort und Situation bedingen. Exil ermöglicht also dem erzählenden Ich Ref lexionsmomente, welche die Selbst-Herstellung und die Selbst-Darstellung auf eine besondere Weise beeinf lussen: Das Ich nimmt nämlich das Fernbleiben des Adressaten zum Anlass, um den Leser in die Position eines Adressaten zu erheben. Die Teilnahme des Lesers an dem fingierten Dialog fordert in einer gelungenen Kommunikationskette seine Profilierung als interkulturellen Gesprächspartner.117 Treffen dieser und das Ich in der ausgestatteten Erzählwelt aufeinander, so wird diese zu einem interkulturellen Kommunikationsraum und markiert die kognitive Seite der Erzählwelt.118 Zuerst nimmt das erzählende Ich zwei Dimensionen des Exils in den Blick: Einsamkeit und Vereinsamung. Durch das Exil verortet das Subjekt sein Dasein an einem anderen Ort als an dem des Ursprungs bzw. der Geburt und vergleicht dann beide Orte. Die Entwurzelung vom Ursprungsort, wie sie im Märchen beschrieben wurde, und die Konstruktionen der Orte Ursprung und Exil als Ebenen der Ablehnung und Akzeptanz spiegeln das Verfahren der Identitätsarbeit wider. In SAIDs Werk kann kein 112  Andreotti: Die Struktur der modernen Literatur, 2014, 53f. 113 Ebd., 143. 114 Ebd., 259. 115   Müller: Erzählzeit und erzählte Zeit, 1968, 269-286; Schneider: Einführung in die Roman-Analyse, 2006, 35f. 116   Hier greift SAID auf die Charakterisierung der Blume im Blumen-Märchen zurück, denn auch hier ist Einsamkeit ein Kennzeichen der reisenden Blume. 117   Chiellino: Interkulturalität und Literaturwissenschaf t, 2007, 395. 118 Nünning et al.: Von der strukturalistischen Narratologie zur ›postklassischen‹ Erzähltheorie, 2002, 20-26.

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»Verlust des Ursprünglichen«119 festgestellt werden. Vielmehr scheint der Ich-Figur um die Umwandlung des Ursprungsorts in eine Geschichte zu gehen. Prozesse dieser Umwandlung werden durch das Spiel mit Distanz und Nähe organisiert, das auf die Erinnerungsarbeit anspielt. Die Geschichte selbst hat ihren Ursprungs- und Bewahrungsort nur im Gedächtnis und ist lediglich durch die Erinnerungsarbeit greif bar. Die »Metapher der Verwurzelung«120 und die Hinwendung zum Exil-Ort verweisen darauf, dass sich die Identitätsarbeit in einem unabdingbaren Spannungsfeld zwischen Verwurzelung und Hinwendung vollzieht. Die Klage über Einsamkeit als Kriterium des Exils wird im Verlangen nach »Aussprache mit den anderen« eingebettet. Die kausal miteinander verknüpfte Relation zwischen der Einsamkeit und dem unerwiderten Verlangen nach Aussprache versetzt das Ich in den Zustand der Vereinsamung: Das Exil nehme einem die »eigentlichen Zuhörer« weg, lautet die Feststellung des schreibenden Ich.121 Das Attribut »eigentlich«, das hier die Zuhörer näher bestimmt, dechiffriert diese als Menschen, aus deren Gesellschaft das erzählende Ich zwar stammt, von diesen jedoch nicht mehr angehört wird. Dieser Zustand rechtfertigt die Hinwendung zu »eine[r] andere[n] Welt«,122 d.h. zur Welt des Exils. Anders als die Ursprungswelt scheint die ›andere Welt‹ ein geschlossener Mikrokosmos, »harmonisch und brüderlich« zu sein, in dem »jeder willkommen« ist, der »dazugehört«.123 In der anderen Welt des Exils erfährt der Gemeinschaftswunsch durch die Solidarität eine Intensität: »Wer gegen den Feind ist, ist Teil dieser Welt. Und wer Teil dieser Welt ist, ist auch ein Freund«.124 Die Gestaltung der Exil-Welt folgt also der Konstruktion einer Dichotomie, die sich aus der Positionierung gegen den Feind und für den Freund ergibt.125 Im Wunsch nach Gemeinschaft und nach dem Gestalten einer sich von dem Ursprung unterscheidenden Welt liegt auch die thematische Nähe zum Märchen. Das schreibend-erzählende Ich erschafft also zwei Welten: Aus der einen (feindlich gesinnten) bricht es aus, in der anderen findet es eine harmonische und friedliche Bleibe. Die Harmonie dieser Welt droht später – zumindest für das Ich – jedoch zu zerbrechen, wenn »einer gegen den Feind ist«, in dieser harmonischen Welt aber keinen Platz mehr findet. Das erzählende Ich modifiziert diese einst als harmonisch und brüderlich bezeichnete Welt, indem es innerhalb dieser Welt die Dichotomie von Freund und Feind relativiert: Gegenüber den Freunden geht das einsame Ich auf Distanz, weil es ihre politischen Einstellungen nicht mehr teilt; seine Position gegenüber dem Feind bleibt weiterhin bestehen. Die Modifikation der harmonischen Welt und 119   C amartin: Nur nicht stehen bleiben, 2006, 45. 120  Erdheim: Heimat, Geborgenheit und Unbewußtheit, 1992, 40. 121  SAID: Briefe, aber an wen, 1986, 18. 122  Ebd. 123  Ebd. 124  Ebd. 125 Ich werde mich hier nicht mit dem Thema Exil im engeren Sinne befassen und beschränke meine Perspektive auf die Auffassung von einem ›freiwilligen Exil‹ (siehe hierzu ausführlich in Krohn et al.: Handbuch der deutschsprachigen Emigration, 1998; Palm: Migrant versus Exilant, 2012, 283-295). Die Frage, die in meinem Zusammenhang relevant ist, richtet sich nach Möglichkeiten und Varianten der Herstellung einer imaginierten Welt des Exils und nach Handlungsmöglichkeiten und -varianten der Figur innerhalb einer solchen Welt.

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die Relativierung des Freund-Feind-Verhältnisses leitet die Umwandlung der Einsamkeit in Vereinsamung ein. Der Übergang der Einsamkeit in die Vereinsamung erfolgt dadurch, dass der Exilierte sich in der harmonischen Welt des Exils isoliert, indem es zu seinen einstigen politischen Freunden und Gegnern eine Distanz auf baut. Die Distanz rechtfertigt sich im Abschiednehmen von einer politisch geteilten Welt, mit der sich das Ich nicht mehr zu identifizieren vermag. So beschreibt SAID die Momente nach der Amtszeit als Vorsitzender der Conföderation iranischer Studenten/National-Union (CISNU) am Ende des Jahres 1973 als Rückzug aus der politischen Tätigkeit: »so kam der erste bruch und weitere folgten automatisch«:126 Mit dreizehn Jahren wußte ich nicht, was verlassen bedeutet. Noch heute weiß ich dieses Wort nicht zu nehmen, obgleich ich nicht nur von Frauen, sondern auch Freunde, Genossen, Ideen, Ideale und Träume Verlassen habe – Denn die Treue ist ein schwerer Stein für die Hand der Waisen.127 Um die Gründe der Vereinsamung zu rekonstruieren, greift das Ich abermals auf seine Erinnerungen zurück, und gestaltet nun seine Erinnerungsarbeit. Die Schreib-Szene wird zum einem Erinnerungsort, an dem beide Welten ineinander übergehen. »Nichts als Erinnerungen«, und diese sind »gezüchtet und gepf legt«,128 bekundet SAIDs Ich in einem seiner ersten Werke Wo ich sterbe ist meine Fremde. Die Folge dieses Übergangs erfährt der Leser in Briefe, aber an wen durch das Bekenntnis über den Verlust des Adressaten als Kriterium der Vereinsamung. Die Vereinsamung aber fordert eine Neu-Positionierung des erzählenden Ich als Abtrünnigen, weil es aufgehört hat, gegen den gemeinsamen Feind zu kämpfen: Über Nacht gehen tausend Freunde verloren./Über Nacht wissen alle Genossen an allen Stätten der Emigration, die sich über die ganze Welt erstreckt, daß dieser eine ein Abtrünniger ist – zwar kein Feind, aber eben doch ein Abtrünniger – was ja schlimmer ist.129 Exilfreunde erklären den Abtrünnigen zum Außenseiter in der Exil-Welt, und der Abtrünnige selbst nimmt sich hier als machtlos und angreif bar wahr: »Eine stumme Quarantäne tritt ein«.130 Die Vereinsamung – »das untätige Warten im Exil«131 – besteht in der Ausgrenzung und in der Macht- und Kommunikationslosigkeit, die ihrerseits 126  SAID: deutsch als auf fanglager, 2004, 29. 127  SAID: Selbstbildnis für eine ferne Mutter, 1992, 29 128  SAID: Wo ich sterbe ist meine Fremde, 1983, 20. 129  SAID: Briefe, aber an wen, 1986, 18. 130 Ebd., 19. 131  SAID: Selbstbildnis für eine ferne Mutter, 1992, 13

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die andere Seite der Exilwelt für das Ich erfahrbar werden lassen. Die Identitätszuweisung als Abtrünniger hat über die semantische auch eine qualitative Komponente, denn der Vereinsamte gewinnt nun auch eine neue Bedeutung: Hastig und nervös sucht der Abtrünnige in diesen Blättern [der Presse] nach Artikeln, die ihn angreifen; zwar nie namentlich – die Emigration hat ihre eigene Ethik –, aber doch so genau beschrieben, daß es keinem entgeht, wer hier gemeint ist; die Welt der Emigranten ist klein und überschaubar.132 Indem der Abtrünnige seine Identitätsarbeit auch im politischen Kontext vorantreibt, wird ein weiterer Übergang eingeleitet. Dieser wird durch den Entschluss des vereinsamten erzählenden Ich markiert, die Exil-Welt zugunsten der Asyl-Welt zu verlassen. Doch mit dieser Welt gehen andere Konnotationen einher: Oft wird er Asylant genannt, »und das meist im Plural, als amorphe Masse«.133 Sowohl als junger Revolutionär, als auch als Exilant und Asylant steht das Ich in einem Spannungsverhältnis zu seiner Umwelt und befindet sich stets auf der Suche nach Identifikationsmöglichkeiten. Die Umwelt beschränkt sich nicht ausschließlich auf den politischen Kontext, sondern wird auf den Bereich des Privaten erweitert. Der Verlust von politischen Freunden spiegelt die öffentliche Ebene der Vereinsamung wider; für die Konstruktion der privaten Ebene ist die Geliebte bedeutungstragend. Die Vereinsamung des Ich erreicht ihren Gipfel erst dann, als es von seiner Geliebten verlassen wird. Das Verlassenwerden hat also seinen Ursprung in der Öffentlichkeit des Politischen, seinen Höhepunkt aber in der Privatheit des Liebesverhältnisses. Erst hier bekundet das Ich, dass die politisch-kollektive Vereinsamung nun auch in eine private Vereinsamung umschlägt. Beides zusammen führt zur absoluten Isolation des Ich. Den schmerzlichen Tiefpunkt erreicht die Vereinsamung zum Schluss: Und dann die letzte, die administrative Vereinsamung, als ich einen Asylantrag stellen mußte. Nur wem je im Leben sein Paß abgenommen wurde, kennt die Tragweite dieser Maßnahme. Nie werde ich die ausgestreckte Hand des Münchner Beamten […] vergessen, als er mir den Flüchtlingspaß aushändigte und mich gleichzeitig aufforderte: »Ihren Nationalpaß bitte!« Und nie sei gütiges Gesicht mit den einfühlsamen Worten: »Ich weiß, es schmerzt!« 134 Der Vereinsamungsprozess des Ich erfolgt jeweils durch die Adressierung unterschiedlicher Personen oder Personengruppen, verläuft entlang des Übergangs vom Status eines Exilanten über den eines Flüchtlings bis hin zu dem eines Asylanten und hinterlässt bei der Identitätsarbeit des Ich nachhaltende Spuren. Um die Stationen der Vereinsamung erzählen zu können, musste die Absenz des Adressaten als Rahmen bildend vorausgeschickt werden. Aus der Erzählung selbst geht es keineswegs hervor, dass die Vereinsamung durch den Wechsel von einer iranischen in eine deutsche Welt erfolgt ist; vielmehr ist sie durch Ausgrenzungen des erzählten Ich durch eine einst gleichgesinnte Gruppe verschuldet. Die Abnahme des Nationalpasses dramatisiert 132  SAID: Briefe, aber an wen, 1986, 19. 133  SAID: Der lange Arm der Mullahs, 1995, 8. 134  SAID: Briefe, aber an wen, 1986, 19.

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die Vereinsamung durch das Bekenntnis, es schmerze. Betrachtet man das Motiv des Nationalpasses als Zugehörigkeitsmerkmal, so bedeutet dessen Abgabe auch den Verzicht auf einen Teilaspekt der Identität, und zwar auf das Administrative als eine Form der Identifikation in Daten und staatlich ausgestellten Papieren, die ein Individuum persönlich kennzeichnet.135 Mit der Abgabe des Nationalpasses und dem Eintritt in die Asyl-Welt werden verschiedene Identifikationsaspekte nun in die historische Ferne gerückt.136 Für das Ich selbst beginnt eine neue Phase der Identifikation: »Da steht man also mit einem neuen Paß und ohne alte Freunde«.137 Der Kontext von Flüchtlingsdasein und der »Teilung«138 des Individuums bildet den Gegenstand von Mahmood Falakis Erzählung Hof des Friedens. Sie erschien in Falakis erstem Erzählband Verirrt, der 1992 aus dem Persischen ins Deutsche übersetzt wurde.139 Der Asylbewerber in der ersten Geschichte in Verirrt, die Konterrevolutionäre in der zweiten und die Figuren in der Erzählung Der Geruch – alle haben eines gemeinsam: Geschichte und Gegenwart werden bei ihrer Identitätsarbeit erzählerisch zusammengeführt, indem die Erinnerungsarbeit und der gegenwärtige Blick sich ablösen. Dieses Spannungsverhältnis trägt zur Entstehung von Gefühlen des Fremdwerdens und der Heimatlosigkeit bei und versetzt die Erzählung thematisch in den Kontext, den wir bereits aus dem Leben von SAIDs vereinsamtem Ich kennen. Wurzeln und Herkunft werden in Falakis Erzählungen nicht geleugnet; vielmehr knüpft seine Erzählkunst an die epischen Traditionen Irans an und nährt sich zugleich aus der modernen Verfremdungstechnik der westlichen Literatur. Seine Figuren weisen eine ironische Distanz zu ihrem Umfeld auf; sie sind resignierte Intellektuelle, gescheiterte Weltverbesserer und müde Revolutionäre, die in einer grotesken, widersinnigen und surrealen Erzählwelt auftreten. Den Fragen nach dem Zusammenhang von Geschichte und Identität wird in dem Roman Die Schatten besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Anfang der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts wird der Onkel des Erzählers im Iran ermordet. Nach dreißig Jahren versucht der Erzähler den Mord aufzuklären. Um seine Erinnerungsprozesse zu steuern, sucht er Hilfe bei Fotos. Als Gedächtnismedien140 sollen diese die Erinnerungslücken der Kinder- und Jugendzeit füllen bzw. dem Leser diese Lücken deutlich machen. Auf diese Weise wird der Leser in die Auf klärungsgeschichte des Mordes einbezogen und von den Fotos zugleich in die geheimnisvolle Welt einer totalitären Religion und der Frauen unter Männerherrschaft eingeführt. Falakis Figuren definieren sich als Teil einer ‎ größeren Gemeinschaft: der Familie und der ‎ Dorfgemeinschaft. Ihre andere Welt wird in dieser Konstellation so konstruiert, dass sie bisweilen vor der zermürbenden Realität in eine fröhliche Welt f liehen, die zu der wirklichen Erzählwelt im Kontrast steht. Der Zusammenhang von Geschichte und Identität erfährt in Falakis späterem Werk eine Erweiterung durch die interkulturelle Profilierung seiner Erzählwelt. Die Novel135  Assmann: Zum Problem der Identität aus kulturwissenschaftlicher Sicht, 1994, 13. 136   Chiellino: Die Fremde als Ort der Geschichte, 1986, 13-15. 137  SAID: Briefe, aber an wen, 1986, 20. 138  Falaki: Hof des Friedens, 2013, 10. 139   Zum zweiten Mal wurde sie in dem Erzähl- und Lyrikband Ich bin Ausländer und das ist auch gut so (2013) veröffentlicht. 140  Assmann: Erinnerungsräume, 1999, 190-197.

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le Carolas andere Tode handelt von einer Liebesbeziehung zwischen einer Deutschen und dem Perser Behruz, der mit seiner Familie nach Deutschland f liehen musste. Mit der Erzählung dieser politisch motivierten Flucht wird die individuelle Geschichte von Behruz im Verlauf der Erzählung allmählich in den Kontext eines iranisch-deutschen Gedächtnisses integriert. Die literarische Technik, die diesen Prozess steuert, ist der Übergang der Liebesbeziehung in eine Integrationsgeschichte, der Fragen der individuellen Identitätsarbeit und der kulturellen Zugehörigkeit aufgreift. Der Protagonist entfernt sich täglich mehr von seiner iranischen Familie in Hamburg. Mit der Entfernung erfolgt die Distanzierung von der familiären Identifikation. An der Distanzierung wird die Identitätsarbeit des Protagonisten in eine neue Phase übergeleitet. Dieser Übergang wird von der Figur der Geliebten herbeigeführt. Wie in Die Schatten wird auch in der Novelle der Leser in die Auf lösung rätselvoller Fragen einbezogen. Zusammen mit Behruz blickt er in dessen Kindheit zurück, die wiederum in die politischen Ereignissen Irans eingebettet ist, und wird dabei angehalten, semantische und symbolische Codierungen aufzuschlüsseln, die in der Islamischen Revolution, Degradierung von Andersgläubigen und der illegalen Flucht von Behruz aus dem Iran nach Deutschland eingearbeitet wurden. Rahmenbildend für die Darstellungen von Lebenserfahrungen in Deutschland ist auch hier die Exil-Welt. Mit der Erzählung einer Fluchtgeschichte und mit der Konstruktion einer Exil-Welt greift Falaki auf eine bereits in Hof des Friedens thematisierte Topik zurück und erzeugt durch sie den intertextuellen Bezug seines Schreibens. Der Erzähler in Hof des Friedens nimmt die Perspektive eines kollektiven Wir ein und vergleicht das Dasein eines Exilierten mit dem eines Schiff brüchigen: Wir fühlten uns wie Schiffbrüchige, die auf einer unbewohnten, verlassenen Insel gestrandet waren. Die Fremde hatte sich heimlich hingeschlichen und sich zu uns gesellt. So war also die Fremde?! Wir waren ins Bodenlose gestürzt und fielen immer tiefer. Aber so es ist [sic!] nun mal mit dem Exil: Ein persisches Sprichwort sagt: »Wer im Winter Honigmelonen essen möchte, muss auch das Zittern in Kauf nehmen«.141 Das Sprichwort über die Honigmelone (Cucumis melo var inodorus) als Sommerfrucht im Winter assoziiert einen Zustand der Unvereinbarkeit. Die Honigmelone verspricht Abkühlung in der sommerlichen Hitze; im Winter wird sie also nicht verzehrt. Die Übertragung dieses Sprichwortes auf die Exil-Welt lässt »Teilung«142 als vorprogrammiert erscheinen: Wer sich in diese Welt begibt, weiß, was ihn erwartet: Das Verlassen eines Ursprungsorts und der Eintritt in eine ›bodenlose‹ Welt. An diesem Punkt lassen sich die Erfahrung von SAIDs und Falakis Ich-Figur wie die Konstruktionen ihrer ExilWelt zusammenführen. Dem Ich begegnet in dieser neuen Welt die Teilung mit ihren verschiedenen Etappen und unterschiedlichen Wirkungen. Was aber vergleichend von Bedeutung ist, liegt in der Verortung der Figuren in der Exil-Welt. SAIDs Ich Figur ›mit einem neuen Pass und ohne alte Freunde‹ wird trotz ihrer Vereinsamung im Verlauf ihrer Identitätssuche die Offenheit ihrer Exil-Welt zu ihren eigenen Gunsten nutzen. Die Exil-Welt von Falakis Figuren ist aber in sich geschlossen, so dass sie sich eher als eine Welt der Resignation gibt, wovon etwa Falakis letzter Band Ich bin Ausländer 141  Falaki: Hof des Friedens, 2013, 12. 142 Ebd., 10.

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und das ist auch gut so (2013) zeugt. Das Individuum in SAIDs Werk bleibt weder bei der Teilung stehen, noch begnügt es sich mit einem Dazwischensein, sondern es begibt sich auf die Suche.

3.3.3.2 Schreibend suchen – suchend schreiben SAIDs Erzähler verharrt nicht in einem Zustand der Hoffnungslosigkeit und Kälte: »Wer schlagartig so vieles um sich verloren hat, ist geneigt, nach Neuem zu suchen«.143 Seine Suche ist allerdings an einige Kriterien gebunden. Sie wird zuerst durch die Verarbeitung der Vergangenheit begleitet, welche die Revision der eigenen historischen Identitätsarbeit einleiten soll. Dieser Schritt geht mit dem Betreten der Exilwelt einher. Die literarische Verarbeitung der Erinnerungsarbeit ermöglicht dem erzählenden Ich, das erzählte Ich stets neu zu positionieren und seine Erinnerungen perspektivisch zu kommentieren. Die Erinnerungsarbeit selbst wird folglich zu einem Komplex der erzählerischen Perspektive und immer wieder neu gesteuert. Hinzu kommt die Flucht des Ich in die Welt der Bücher. Aus ihr entsteht der Entschluss, selbst zu schreiben: Man will ja nur plaudern – sonst nichts. Und mit wem, erhebt sich wieder die Frage? Also schreibt man sich selbst. Als ob die Einsamkeit soweit gegangen wäre, daß man eine räumliche Distanz zu sich fühle, und sich selbst, quasi aus einem anderen Ort, Briefe schreiben müßte. So schreibe ich erst mal Briefe an mich, hastig und häufig und natürlich auf persisch. Aber sie bleiben unbeantwortet. Also schreibe ich keine Briefe mehr. Man holt sich eines Tages seine Briefe ab – erbost und eingeschnappt –, liest sie, findet sie treffend, ja schön: wie eitel doch diese Schreiblinge sind. Und die Wut auf den Empfänger steigt; der eigensinnige stumme Kerl, der auf diese wunderbaren Briefe nicht antwortet. Die Schlußfolgerung ist dann endgültig: Er verdient meine Briefe nicht. Der nächste Schritt ist naheliegend: ch muß einen anderen Empfänger finden, einen würdigeren. Aber wenn ich eine Antwort erhalten will, und das wollte ich – durfte ich dann auf persisch schreiben? Meine iranischen Freunde hatten für die Träumereien eines Exkommunizierten doch nur ein Lächeln übrig. Und meine deutschen Freunde? Für die bin ich kein Abtrünniger. Für die bin ich noch ich.144 Das Sich-Selbst-Schreiben erstreckt sich auf verschiedene Erzählsituationen und über mehrere Etappen zwischen Vereinsamung und Mitteilung. Das Fehlen eines Adressaten bleibt weiterhin als treibende Kraft der Suche nach ihm bestehen und wird durch zwei Situationen begründet: Die eine Situation wird mit persisch, die andere 143  SAID: Briefe, aber an wen, 1986, 20. 144 Ebd., 20f.

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mit deutsch assoziiert, wobei das Persische zugunsten des Deutschen immer mehr in den Hintergrund tritt, denn es ist das Deutsche, das die Übergänge aller konstruierten Welten beschreibbar macht. Mit dem Eintritt in das Deutsche bekräftigt das schreibende Ich seine bewusste Entscheidung, sich in dieser Sprache zu schreiben und das Persische von hieraus zugänglich zu machen. Diese als deutsch konstruierte Welt belebt die Welt der Akzeptanz und der Anerkennung. Die identitätskonstruierende Funktion der Sprache korrespondiert hier mit der identitätsstiftenden Funktion der Farbe im Blumen-Märchen. Beide sind Symbole, die die poetische Strategie bei der Darstellung der Identitätsarbeit kennzeichnen. An dieser an die Erinnerungsarbeit gebundenen Identifikation-Strategie des erzählenden Ich haben interaktionell profilierte Instanzen einen maßgeblichen Anteil, denn sie werden wechselnden Erzählsituationen entsprechend aufgestellt, um die Position des erzählenden Ich zu bestimmen. In der fingierten Schreib-Szene wird der Wunsch nach dem ›Plaudern‹ geäußert und allein dadurch eine Dialog-Szene zwischen dem Schreiber und dem Leser kreiert. Der fingierte Dialog von SAIDs Ich-Figur zur Herstellung eines Interaktionsraums, in dem das ›Schreiben‹ dem ›Plaudern‹ folgt, gestaltet die Identitätsarbeit auf der dialogischen Achse im interkulturellen Experimentierfeld. Indem das erzählende Ich in seinem ›Plaudern‹ einige Identitätsaspekte thematisiert und andere reklamiert, positioniert es sich in seiner Identitätsarbeit für und gegen die jeweiligen Aspekte. Durch die individuelle Selektierung und Haltung des Ich in den variierenden Erzählsituationen wird zum einen die Aufspaltung des Subjekts in mehrere vergangene Ich-Formen in verschiedenen Momenten der Erzählsituation und zum anderen das In-Beziehung-Setzen von Positionierungen dargestellt. Anhand des Letzteren wird dann beschrieben, wie instabil die Identifikation ist und dass deshalb ihre Fixierung kaum möglich ist. Die Art und Weise, wie das erzählende Ich das erzählte Ich im Blick anderer immer wieder neu positioniert, hat Konsequenzen für sein Selbst in der Gegenwart der Erzählsituation. Auch wenn sich das erzählende Ich zuletzt mit dem Schreiben auf Deutsch identifiziert und sich so einen Raum schafft, in dem »ich noch ich«145 sein kann, deuten die vergangenen Ich-Konstruktionen auf die Notwendigkeit der historischen Ebene der Identitätsarbeit einerseits und auf die Vorläufigkeit der Identifikation durch Varianten der Ich-Konstruktion andererseits. Betrachtet man die Phänomene der Einsamkeit und Vereinsamung in SAIDs literarischem Werk, so dürfte zuallererst die Dimensionen der radikalen Trennung und des Geschieden-Seins von anderen Menschen ins Auge fallen.146 Im dialektischen Verhältnis des Individuums und der Gesellschaft147 bedeutet Einsamkeit eine Normabweichung. In diesem Sinne wird sie als Synonym für die soziale Isolation und den Eintritt in das subjektive Bewusstsein gebraucht, die für SAIDs Ich-Figur im zweiten Exil ansetzt. Diese soziale Variante der Einsamkeit im Exil und fern der Heimat bringt Einsamkeit und Heimweh in Einklang miteinander.148 Blickt man über das Heimweh hinaus, so lassen sich die Zerrissenheit der Familie, Resignation und das Abschiednehmen von politischen Freunden als die wesentlichen sozialen Aspekte der Einsam145 Ebd., 21. 146   Für beide Dimensionen interessieren sich die Sozialwissenschaften und die Sozialpsychologie. Siehe hierzu Puls: Soziale Isolation und Einsamkeit, 1989; Bohn: Die soziale Dimension der Einsamkeit, 2008. 147   Für diese Dialektik hat die Soziologie den Begriff der Vereinsamung geprägt. 148  Bunke: Heimweh, 2009.

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keit hervorheben. Die Einsamkeit von SAIDs Ich-Figur scheint also sozial mitverursacht zu sein. Die individuelle und soziale Relation der Einsamkeit führt diese in ein Gefühl der Vereinsamung.149 Einsamkeit und Vereinsamung prägen die Welt, in die SAIDs Ich-Figur sich zurückzieht. Von dieser Welt berichtet später der Text deutsch als auf fanglanger. Durch Rückzug eröffnet sich für die Ich-Figur die Möglichkeit eines aufmerksamen Blicks und einer differenzierten Ref lexion über ihr Umfeld. Der Rückzug in die Einsamkeit zur Ordnung der Gedankenwelt und zur Entwicklung einer Kreativität ist geisteswissenschaftlich die Voraussetzung für Empfindsamkeit und Romantik.150 Gegen Einsamkeit und Vereinsamung protestiert SAIDs Ich-Figur, indem sie ihr Mitteilungsbedürfnis und ihren Wunsch nach Gespräch mit einem Adressaten zum Gegenstand ihrer Ref lexionsarbeit in den Briefen macht. Durch das Schreiben wird das Ich von einer passiven leidenden Rolle in eine produktive – zunächst – klagende gerückt. SAIDs Ich-Figur lässt deutlich erkennen, dass die literarische Produktion in der Einsamkeit den Prozess der Individualisierung zur Voraussetzung hat. Individualisiert wird dieser Prozess insofern, als jene in die Ferne gerückten Orte durch die Konstruktion des Persischen und des Deutschen vergegenwärtigt werden. Das Hörspiel Friedrich Hölderlin empfängt niemanden mehr (2002) beginnt mit einer poetischen Debatte zweier Männer über einen weiten Zeitraum hinweg und thematisiert ihre gemeinsame Erfahrung der Entwurzelung: Deutschland bedeutet für Hölderlin ein fremd gewordenes Vaterland, während SAIDs Ich seine Heimat in Deutschland gerade findet. Was Hölderlin im Hinblick auf Deutschland erfährt, hat SAIDs Figur hinsichtlich des Irans, der historischen Heimat also, erfahren. Orte werden nicht ausgeschlossen, sondern bedingen sich gegenseitig. Die Individualisierung lässt SAIDs Ich durch seine eigenen Wandlungen erkennen. Während es dem Ich im Blumen-Märchen darum geht, seine Farbe zu finden, geht es dem Ich im politischen Text der Briefe darum, Farbe zu bekennen. Die Identifikation ergibt sich in diesem Text aus der Polarisierung von Freund und Feind und gewinnt durch das Dasein als ›Abtrünniger‹ eine neue Dimension. Zum Schluss erfährt sie durch die Polarisierung des Deutschen und des Persischen eine weitere Bedeutung. Diese Bedeutung ist auf der Ebene der Sprache zu suchen. Der mehrfache Wechsel der Erzählthemen ist für SAIDs Werk charakteristisch. Kennzeichnend ist darüber hinaus, dass die Etappen der Erzählung sich thematisch kaum verändern: Es stehen politisches Ärgernis, Verlust der Heimat, Exil und schließlich die Suche nach einer neuen Heimat im Vordergrund. Innerhalb dieser Themenkreise werden dem Ich Positionen zugewiesen. Diesem Ich als Protagonisten ist ein enttäuschter, verärgerter, bisweilen hoffnungsvoller, manchmal klagender, bald gekränkter, stets aber ein namenloser Einzelgänger, der sich überall fordernd zu Wort meldet.

149   Einsamkeit ist in der deutschsprachigen Literatur der Gegenwart ein vielschichtiges Phänomen. Ihre Bewältigung stellt eine Herausforderung dar und entwickelt sich für das Subjekt der Postmoderne zur Lebensaufgabe. Einsamkeit und ihre Bewältigung werden in zeitgenössischen Romanen, darunter etwa in Christian Krachts Faserland, Judith Hermanns Das Blütenstaubzimmer und Katharina Kackers Die Habenichtse thematisiert (siehe zur Besprechung dieser Werke Gösweiner: Einsamkeit in der jungen deutschsprachigen Literatur der Gegenwart, 2010). 150  Stoiser: »Es lebe die Einsamkeit!«, 2013, 75-77.

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3.4 Identitätsarbeit zwischen politischem Verdruss und individuellem Verlust SAIDs und Falakis Werke führen den Leser in die Themenbereiche und in die literarischen Topoi, welche die Erzählungen über die deutsch-iranische Migrationsgeschichte in ihren Anfängen nachhaltig prägten, ein. Das vorherrschende Motiv dieser erzählten Geschichte ist in gesellschaftspolitischer Perspektive von SAIDs heranwachsender Ich-Figur die Studentenbewegungen in den ausgehenden 1960er Jahren. Dieses Motiv erfährt seine Bedeutungsvielfalt in der Sympathie mit den Strömungen von linken Bewegungen, später aber in der Distanzierung von ihnen und in der Antipathie der Islamischen Republik gegenüber. Als literarisches Motiv sind Studentenbewegungen sowohl ein beliebtes Thema als auch eine beachtete Strategie zur Herstellung intertextueller Bezüge.151 Dieses Motiv prägt nicht nur die Exil-Erfahrungen von SAIDs Ich, sondern macht den Sinneswandel des Ich in dieser Zeit verständlich und rechtfertigt die späteren Entscheidungen für das Asyl- und Exilleben des jungen Ich in den achtziger Jahren. Es fungiert darüber hinaus als interkulturelles Kommunikationsmittel im deutsch-iranischen Migrationsgedächtnis. Seine Analyse macht zum einen Veränderungen in der Weltanschauung des Ich bei seiner Identitätsarbeit klar und lässt hieraus zum anderen auf kulturpolitische Transformationen in einer für die Bundesrepublik Deutschland und den Iran durchaus bedeutungsvollen Zeit schließen. Die Identitätsarbeit des Ich, die in den sechziger und siebziger Jahren vorwiegend von kollektiven Reflexionen geprägt war, vollzieht sich nach dem Sinneswandel in den achtziger Jahren an einem Ort der Vereinsamung, der durch die Erinnerungsarbeit in der Schreib-Szene bildlich repräsentiert wird, denn es ist die Schreib-Szene, die dem fingierten Adressaten Prozesse politisch-öffentlicher und familiär-privater Vereinsamung zugänglich macht.152 Innerhalb der Schreib-Szene wird das erzählte Ich als Reflexionsfigur für all das positioniert, was in irgendeiner Weise der Identitätsarbeit des erzählenden und alternden Ich dienlich sein kann. Die Welt des erzählten Ich wird auf diese Weise zur Folie der Identitätsarbeit des erzählenden Ich. Diese Strategie der Gegenpositionierung charakterisiert SAIDs Ich-Figur und färbt ihre Positionierung auch autobiographisch. Die Identitätsarbeit erfolgt aber nicht chronologisch, sondern fragmentarisch in inhaltlich wie gattungsspezifisch unterschiedlichen Erzählungen. Allen gemein ist, dass das erzählende Ich darum bemüht ist, diejenigen Identifikationsaspekte zu selektieren, die dem erzählten Ich einst zwar Orientierungen boten, das erzählende Ich aber nun in die Vereinsamung treiben. SAIDs zuletzt erschienenes Poem parlando mit le phung (2013), das in Form eines Sprechgesangs von einer Liebe des erzählten Ich handelt, die das erzählende Ich einem Fisch gesteht, schildert die Situation des in den 1980er und 1990er Jahren noch machtlosen exilierten Ich nun in der Rückschau.153 Wie im Blumen-Märchen stehen 151 Salman, der exilierte Protagonist in Schamis Roman Sophia (2015), bewegt sich ebenfalls im politischen Kontext der Studentenbewegung, deutet auf die Veränderungen, die sie hervorgebracht haben hin, und beschreibt sie kritisch (Schami: Sophia, 2015, 65). 152 Das Spannungsverhältnis des Privaten und des Politischen in SAIDs Leben werden diskutiert in Palm: Exil und Identitätskonstruktion in deutschsprachiger Literatur exilierter Autoren, 2017, 253-272. 153  Dass parlando mit le phung politisch diskursive Nuancen besitzt, diskutiert auch Di Bella: SAID – Ein Leben in der Fremde, 2014, 40-49; siehe zum Erinnerungsaspekt Heinzelmann: Erst mit dem Fisch verschwindet auch die Erinnerung, 2013.

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auch in der Erzählung von parlando mit le phung, die im Jahre 2011 ansetzt, der Verlust der Behausung und die Suche im Vordergrund, wobei hier der Themenkreis um die Motive der Liebe und des Todes erweitert wird. Am Ende muss der Fisch sterben, weil er den Erzähler immerfort an den Verlust der Liebe erinnert. Der Fisch, indem er stirbt, verschwindet; und mit ihm auch die Erinnerung. Davon, dass SAIDs Schreib-Szene gesellschaftspolitisches Vokabular enthält, zeugen zwei Varianten des Ich-Bekenntnisses: Während das junge Ich auf dem politischen Höhepunkt der 1960er Jahre dem »diktat der zeit« folgt und 1968 behauptet: »literatur muss politisch sein«,154 vertritt das alternde Ich die Ansicht: »literatur kann politisch sein, muß aber nicht«.155 Dieser Sinneswandel ist innerhalb der literarischen Positionierung des erzählenden Ich richtungsweisend: Zum einen machen Auseinandersetzungen mit der Politik den wesentlichen Bestandteil literarischer Ref lexionen über die Identitätsarbeit aus; zum anderen sind politische Bezüge auch dort zu finden, wo es um das Wiedersehen mit der Mutter, d.h. um das Private, oder um Heimat und Sprache geht. So bilden politische Ref lexionen in der literarischen Identitätsarbeit für SAIDs Ich stets einen Orientierungspunkt. Politik wird dabei zu einer Thematisierungs- und Problematisierungsebene, wie man sie etwa aus Günter Grass’ Blechtrommel, Im Krebsgang und Beim Häuten der Zwiebel kennt, allerdings mit dem Unterschied, dass man bei SAID nur erfährt, dass das junge Ich gegen den Schah und das alte Ich gegen Khomeini ist; von politischen Idealen erfährt der Leser kaum. Das Beispiel der literarischen Ref lexionen über politische Positionierungen zeigt, dass die Identitätsarbeit von SAIDs Ich-Figur nicht monothematisch verläuft, sondern auf unterschiedlichen Ebenen mit Politik, Heimat und Sprache verf lochten ist. Darüber, wie dieses Verhältnis strukturiert ist, spricht die Exil-Welt, die in den achtziger Jahren zu einem unverkennbar thematischen Ort der Identitätsarbeit geworden ist.

3.4.1 Der Vereinsamte Diskussionen, die sich mit dem Thema Exil und seiner literarischen Darstellungen befassen, heben besonders ein Phänomen hervor, das für die Auseinandersetzungen mit Exil im zwanzigsten Jahrhundert prägend ist, nämlich das Bemühen, die individuellen, politischen und kulturellen Schicksale, Aktivitäten und Hinterlassenschaften der Vertriebenen in das Gedächtnis der Länder und Kulturen, die sie aufgesucht haben, einzuschreiben.156 Wie lassen sich Exil-Erfahrungen der displaced person157 in der Literatur vor dem Hintergrund solcher Diskussionen einordnen? Inwieweit erstreckt sich die Erfahrung der Migration auf die Narration der Exil-Wirklichkeiten? SAID schreibt über das Exil erst in den ausgehenden achtziger Jahren, d.h. nach mehr als fünfzehn Jahren Aufenthalt in der Bundesrepublik und etwa ein Jahr nach seinem bewussten Entschluss zu einem Leben in Deutschland. Aus einer zwischen der Ich- und personalen Erzählsituation wechselnden Perspektive und in einer Erzählwelt, die ihren Wirklichkeitsausdruck in einem Mosaik unterschiedlicher Textsorten 154  SAID: ich komme nie wieder her, 2004, 74. 155 Ebd., 73. 156 Siehe stellvertretend Arnold (Hg.): Deutsche Literatur im Exil, 1974; Spalek (Hg.): Deutschsprachige Exilliteratur, 1976-2010. 157  Said: Ref lections on Exil, 2001, 173-186.

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wie Lyrik, Prosa, Erzählung, Brief und Tagebuchnotizen findet, wird ein Leben beschrieben, das 1967 nach dem »diktat der zeit« politisch geordnet, in den beginnenden achtziger Jahren individuellen Turbulenzen ausgesetzt ist, bevor es sich infolge von Vereinsamungsprozessen in ein Vakuum umwandelt. Dadurch, dass die Umwandlung des Ich sich im Exil, d.h. in der Migration vollzieht, durchläuft es nach Vilém Flusser drei Phasen des Entsetzt-Seins: das Vertriebenwerden, das Schweifen im leeren Raum und das Stranden an einem Ort.158 Zwar ist SAIDs Ich-Figur keine vertriebene, aber eine gef lüchtete. Die Vereinsamung drängt sie in die Phase des Schweifens im leeren Raum. Das Stranden an einem Ort bedeutet für sie das Schreiben, d.h. das Produktivwerden in der Sprache. Wo ich sterbe ist meine Fremde (1983) beschreibt einen Zustand, der in dem späteren Text Der lange Arm der Mullahs (1995) das Ich als fühlende, liebende und teilnahmslos beobachtende Figur charakterisiert: Und der Exilierte – durch die Jahre des Exils ein Niemand geworden, harrt an diesem Fenster aus – zwischen Hoffnung und Trauer. Ohnmächtig und bar jedes politischen Einflusses, aber voller Liebe und Trauer. Ein schwerer Stand für jeden, der noch denkt und fühlt, aber nicht mehr handeln kann. Er ist zum Zuschauen verurteilt.159 Versammelt sind in Der lange Arm der Mullahs chronologisch geordnete Texte zwischen Herbst 1978 und Februar 1994, die ein fragmentiertes Bild eines politischen Lebens vor, während und nach der Revolution im Iran einerseits und eines Lebens in einem Exilund Asyl-Leben in der Bundesrepublik andererseits aufzeichnen. Unter Berücksichtigung des politischen Wechsels im Iran teilen SAIDs und Christian Krachts Ich-Erzähler im Roman 1979 (2001) die Perspektive auf Khomeinis Islamische Revolution. In imaginäre Gespräche mit Freunden, Anekdoten und persönliche Gedanken werden in Der lange Arm der Mullahs die tagespolitischen Diskussionen in der Presse und die Lage der Exilierten aufgenommen. An den fingierten Gesprächen lässt sich die Lebensmaxime des noch politischen Ich, d.h. die Entscheidungsgewalt des ›Diktates der Zeit‹ ablesen. Linke Kräfte in Europa und im Iran, Revolutionsgeist, die Studentenbewegungen und die Anti-Schah-Aktivitäten in Deutschland geben dieses Diktat vor. Das lyrische Ich in Der lange Arm der Mullahs ist ein Zeitzeuge, mit dem der Leser in die Welt einer vergangenen Zeit eintaucht und seinen permanenten Schrecken in einer hier noch nicht abgeschlossenen Exil-Welt erfährt. Ref lexionen über das Zeitgeschehen dienen individuell prägender Momente eines Lebens in Bewegung. Eingeleitet wird diese durch das politisch bedingte Verlassen eines Ursprungsorts und dient von nun an als Motiv für den Übergang in eine neue Welt. Der bevorzugte Ort dieses mit Exil semantisierten Übergangs ist das Gedächtnis: Denn das Gedächtnis ist die einzig reale Landschaft der Exilierten.160

158  Flusser: Um entsetzt zu sein, muß man vorher sitzen, 2013, 35-37. 159  SAID: Der lange Arm der Mullahs, 1995, 7. 160  SAID: Selbstbildnis, 1992, 25.

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Mit der Anspielung auf das Gedächtnis offenbart das Ich dem Leser die Retrospektivität seiner Beobachtungen und kündigt somit an, dass an seiner Erzählung individuelle Erinnerungsmomente haften. Das Abfragen des Gedächtnisses als Erzähltechnik steuert das Erzählverfahren strukturell und füllt das Erzählte auch inhaltlich. An der strukturellen Ordnung und der inhaltlichen Füllung erprobt sich eine interkulturelle Erzähltechnik. Die Gedächtnis- und Erinnerungsarbeit ermöglicht nämlich den Perspektivenwechsel zwischen zwei Konstruktionsebenen, die semantisch als iranisch und deutsch zu entziffern sind. Am prägnantesten ist der interkulturelle Perspektivenwechsel im Poem Selbstbildnis einer fernen Mutter (1992), in dem das einundvierzigjährige namenlose lyrische Ich zunächst über seine Kindheit in Teheran und später über sein politisches Exil in München erzählt. Seine Erzählung durchläuft eine doppelte Erinnerungsarbeit zwischen dem Politischen und dem Privaten, die sich in der späteren Erzählung Landschaf ten einer fernen Mutter (2001) fortsetzt und erweitert. Hier erfährt der Leser beispielsweise von dem Wiedersehen von Vater und Sohn in Paris. Die Figur, die Erinnerungen wachruft, ist der Vater, ein Offizier während des Pahlavi-Regimes, und das Medium ist das Gespräch. Durch die Figur des Vaters wird der historische Bezug zur Geburtsstadt hergestellt. Dieser Bezug profiliert die Vater- als Heimat-Figur. Der Ort des Gesprächs ist aber Paris. Der Leser erfährt von den Vater-Sohn-Konf likten, die es einst zwischen dem regimetreuen Offizier und dem rebellischen Sohn gegeben hat. Aus der zeitlichen wie örtlichen Distanz beschreibt das erzählende Ich das erzählte Ich in dritter Person Singular im politischen Kontext der siebziger Jahre: »er ist politisch aktiv gegen die regierung. ein taugenichts. ein hippie, mit langem haar und vollbart«.161 Und der Vater: »er sollte nichts sehen von der rebellischen zeit und ihren spuren«.162 Das auf diese Weise konstruierte Gespräch offenbart die Konf liktebenen der beiden Ich-Figuren oder die des Ich und dessen Vaters. Es versetzt aber durch die Erinnerungsarbeit Teheran nach Paris. Die Poetik der Erzählwelt charakterisiert sich demnach durch die Verschränkung eines iranisch gefärbten Vater-Sohn-Verhältnisses und einer französischen Stadt, in der die Erinnerungsarbeit einsetzt und Erinnerungen an dieses Verhältnis zugänglich macht. Ähnliches vollzieht sich im Poem Selbstbildnis. Hier ist die Mutter die Heimatfigur. Das Poem erzählt über die Erfahrung des Erzählers, von der Mutter verlassen zu werden und als Halbwaise aufzuwachsen. Auf diese Weise steht es mit der Erfahrung des späteren Exils als einer Form der Verwaisung im Einklang.163 An einer anderen Stelle heißt es, dass einzig Waisen und Fremde die Nacht genießen, denn die Nacht verberge sie vor den anderen, »den Eingereihten«.164 »Waisen« und »Fremde« auf der einen Seite, die »Eingereihten« auf der anderen; umhüllt werden beide durch die Dunkelheit der Nacht: Die erste Opposition setzt die Mutterlosigkeit und das politische Exil in eine Beziehung und präfiguriert damit die zweite Opposition zwischen »Fremden« und »Eingereihten«. Die Dunkelheit der Nacht bringt beide Oppositionen in ein gleichwertiges Verhältnis, indem sie das Stigma ihrer Andersartigkeit verbirgt. Eine weitere Parallelisierung zwischen Mutterlosigkeit und politischem Exil findet sich in der Erfahrung der Entwurzelung, wie sie im Blumen-Märchen beschrieben wurde. In 161  SAID: Landschaf ten, 2003, 65. 162 Ebd., 95. 163  SAID: Selbstbildnis, 1992, 10. 164 Ebd., 43.

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Selbstbildnis erfährt der Leser, dass SAIDs Ich den Boden auf zweifache Weise verloren hat: durch den Verlust der Mutter, deren unerwarteter Anruf am 26. November 1988 bei dem verlorenen Sohn165 den Erzählprozess erst auslöst, und durch das Exil166. Das mehrfach gebrauchte Bild des verlorenen Sohnes verweist auf das biblische Gleichnis (Lk 15, 11-32). Im Text ich, jesus von nazareth legt der Erzähler sein eignes Wort in Jesu Mund, der »regierungen und truppen, geheimdienste und gefängnisse«167 verabscheut, der »falschheit müde«168 ist, die »heiligen kartenhäuser«169 zerstören und nur seine »liebe in die welt« hinausrufen will, »bis sie zum aufruhr wird und euch erfasst«,170 und sakralisiert so seine eigene Aufgabe.171 Ein weiterer Beleg für die Parallelisierung der Mutterlosigkeit und des Exils liefert das dem Gesamttext des Selbstbildnis vorangestellte Motto. Bei diesem handelt es sich um ein kurzes Zitat der Schriftstellerin Anna Achmatowa (1889-1966), das SAIDs Text einen affirmativen Charakter zuschreiben soll: Doch dorthin, wo schweigend die Mutter stand Wagte niemand hinzusehen.172 In Selbstbildnis tritt das Ich als Subjekt und Objekt zugleich auf. Das lyrische Ich unterscheidet hier ein erstes und ein zweites Exil; beides erfolgt im Zeichen der Flucht vor »zwei dumpfen Diktaturen«,173 wie es im Gespräch mit dem Bruder heißt. So erzählt der Bruder von der Mutter über das Ich zunächst aus dessen Perspektive in erster Person Singular: Sie machte sich Sorgen um mich während der Schah-Zeit, denn sie wußte um meine Schwierigkeiten mit jener Diktatur. seine Mutter mache sich auch heute Sorgen um mich, denn sie wisse um meine Schwierigkeiten mit dieser Diktatur.174 Auffällig ist hier nicht nur der Distanzauf bau zur Mutter durch den Bruder, sondern auch der Bruch nach dem vierten Vers: Die erste Hälfte erzählt über die Mutter und 165 Ebd., 48. 166 Ebd., 25. 167  SAID: ich, jesus von nazareth, 2010, 57. 168 Ebd., 65. 169 Ebd., 61. 170 Ebd., 72. 171   Siehe hierzu die kulturvergleichende Analyse von SAIDs Text Psalmen (2007) in Di Bella: SAID – Ein Leben in der Fremde, 2014, 113-129. 172  SAID: Selbstbildnis, 1992, 5. Mit der russischen Schriftstellerin Achmatowa, die unter der stalinistischen Herrschaft Repressionen ausgeliefert war, teilt SAID im Übrigen die Erfahrung des Exils. 173  SAID: Selbstbildnis, 1992, 8. 174 Ebd., 13.

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das lyrische Ich aus der Erzählperspektive. Das Ich ist das sprechende Subjekt und die Mutter die Person, über die gesprochen wird. In der zweiten Hälfte wechselt jedoch die Perspektive zu einer dritten Person Singular; es ist kein Dialog zwischen dem Ich und seinem Bruder, sondern ein Selbstgespräch des Ich, in dem dieses allein über die Inklusion und Exklusion des Bruders wie der Mutter entscheidet. Der Wechsel von der direkten Rede des Ich über seine Mutter (»Sie machte sich sorgen um mich […]«) zur indirekten Rede (»Und seine Mutter mache sich heute […]«), in der der Bruder zur dritten Person wird, erzeugt eine Distanz, die in der vergleichenden Interpretation vom vierten und achten Vers als eine zeitliche und zugleich personale Distanz begriffen werden kann. Neben dem Tempuswechsel vom Präteritum zum Präsens lässt sich die Distanz auch durch den Wechsel der distalen Objektdeixis jen- zu der proximalen Objektdeixis dies- näher bestimmen. Diese Bestimmung ist entscheidend, weil durch die distale Objektdeixis Erinnerungen in die Ferne gerückt werden, während die proximale Objektdeixis eine Nähe konstruiert. Paradoxerweise schlägt sich das Verhältnis von Nähe und Ferne in Bezug auf die Mutter umgekehrt nieder: Dort, wo die Rede von »jener Diktatur« ist, spricht das lyrische ich direkt von seiner Mutter; aber dort, wo die Rede von »dieser Diktatur« ist, findet das Berichten in der indirekten Rede statt. Mit diesem Kunstgriff positioniert sich das Ich gegenüber der Vergangenheit wie der Gegenwart und wiederholt die Parallelisierung von Mutterlosigkeit und Exil. Ähnlich geht das Ich bei Schah Mohammad Reza Pahlavi und Ruhollah Khomeini vor und überträgt dieses Spiel mit der Distanz auf die politische Ebene: Über Mohammad Reza Pahlavi spricht SAIDs Ich anderenorts im Kontext der 1968er Bewegung in der dritten Person Singular175 und assoziiert mit ihm ›jene Diktatur‹; mit Blick auf Khomeini hingegen wird in Selbstbildnis einerseits das Possessivpronomen ›unser‹ verwendet,176 andererseits aber auch wertend in der dritten Person Singular gesprochen: der »Mann mit schwarzem Turban«, der »unser Land verdunkelte«.177 Die proximale Objektdeixis wiederholt sich hier bei der Herstellung der Nähe durch das kollektive Possessivpronomen und die distale Objektdeixis durch die dritte Person Singular. Die Distanz zu dem vom Ich selbst als ›Diktator‹ definierten Schah bewegt sich literarisch allerdings auch auf einer anderen Ebene als die Distanz zu Khomeini. Mit dem Schah befindet sich das Ich im Hörspiel Ich und der Schah (1987) in einem Gespräch, das dazu genutzt wird, den Schah und sich selbst gleichwertig zu positionieren. Kein besserer Kontext kann sich hierfür anbieten als der des Exils: »Wie geht es Ihnen im Exil, Majestät«, fragt das Ich und lässt den Schah antworten: »Hier geht die Zeit sehr langsam. Es ist ruhiger geworden um mich; viel ruhiger als in Teheran«.178 Durch das Exil verschafft sich das Ich die einzige Chance, als Gegner des Schahs diesen zu belehren: »Es wird noch ruhiger werden um Sie – viel ruhiger. Im Exil ist es überhaupt ruhiger als in der Hauptstadt«.179 Khomeini aber wird im Gespräch zwischen dem Ich und dem Schah – anders als oben durch den Possessivartikel ›unser‹ verfahren wurde –, zu einer abwesenden Figur, über die nur gesprochen wird. Seine Abwesenheit dient zur Hervorhebung von Schah und Ich: 175  SAID: die rebellion denkt nicht, 2004, 51. 176  SAID: Selbstbildnis, 1992, 30. 177 Ebd., 34. 178  SAID: Ich und der Schah, 1987, 17. 179  Ebd.

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DER SCHAH: Waren Sie denn gegen diese Person? ICH: Ich habe Chomeini nie ernst genommen. Wir haben ihn nie ernst genommen. Er war für uns ein Greis, dessen einzige Bedeutung darin bestand, daß er gegen Sie war. Ich war nie sein Freund. DER SCHAH: Aber Sie waren auch nie sein Feind. Haben Sie ihn je öffentlich attackiert, wie sie mich attackieren, in Ihren Blättern? ICH: Das nicht! Immerhin waren Sie damals noch an der Macht, Majestät. Wir konnten ihn doch nicht angreifen angesichts Ihrer Greueltaten, die er anprangerte. DER SCHAH: Sie dachten also: »Wir benützen diesen alten Mann gegen den Schah, und wenn der Schah gestürzt ist, lassen wir den Greis fallen.« ICH: Wir dachten… DER SCHAH: Er hat genauso gedacht. Er hat Sie als seine Steigbügelhalter benutzt, und als Sie nicht mehr von Nutzen waren, ließ er Sie fallen. ICH: Ich muß zugeben… DER SCHAH: Sie geben also zu, ein nützlicher Idiot gewesen zu sein? Dies wird Ihnen die Geschichte nie verzeihen.180 Erst die Selbstkritik des Ich verdeutlicht, dass sprachliche Anspielungen auf das Nahverhältnis zu Khomeini nichts anderes bewirken als Ironie, weil Khomeini andernorts der »falsche Messias der Barfüßigen«181 genannt wird und der Vorstellung des Nahverhältnisses nicht entspricht. Verwaisung und politischem Exil entsprechend treten die Figuren Mutter und Diktator auf und personifizieren beide Bereiche der Vereinsamung. Durch den Auf bau der Distanz zu ihnen beginnt in der Erinnerungsarbeit auch der Prozess der Entfremdung, die ihre identitätsstiftende Funktion im Spiel mit Nähe und Ferne auf zweifache Weise erfüllt: die Distanz zur Vergangenheit und die Suche in der Gegenwart. Die Thematisierung des politischen Irrwegs und die des Vergessen-Wollens, gegen das das Schreiben wirken soll,182 machen einen gemeinsamen Bereich aus, über den sich das Ich, die Mutter und der Schah einig sind. Hinzukommt die vierte Perspektive durch den Bruder, dem, wie man an anderer Stelle erfährt, Toronto Exil gewährt hat. Diese Perspektive findet in den Erinnerungen eines kollektiven Wir Ausdruck: wir alle sind irgendwann ausgebrochen und geflüchtet. Auch wenn viele nicht mehr die Farbe ihrer Flucht erkennen.183 Im Mittelpunkt des Gesprächs über das Exil zwischen dem Ich, seiner Mutter und seinem Bruder steht die Frage nach der Identitätsarbeit u.a. als Eingeständnis einer mehr oder weniger politischen Orientierungslosigkeit. Die Identitätsarbeit wird durch SAIDs Lieblingsmotiv des Passes dargestellt. Während im Text Briefe, aber an wen der Nationalpass den Gegenstand bildet, in dem sich Prozesse des Exils und der Verein180 Ebd., 18f. 181  SAID: Der lange Arm der Mullahs, 1995, 123. 182  SAID: Ich und der Schah, 1987, 8. 183 Ebd., 34.

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samung symbolisieren, stehen nun in Selbstbildnis der Flüchtlingspass des reisenden Ich und der UNO-Pass des Bruders im Vordergrund: Aber der Paß ist in der Fremde zu unserem dritten Bein geworden zu unserem Standbein.184 Der Reisepass wird zu einem Motiv, das dem Subjekt die Entscheidungsfreiheit entziehen oder gewähren kann. Gleiches gilt auch für das Visum. Sie erlangen in SAIDs Schreiben insofern ihre Relevanz, als sie die von außen diktierte Identifizierung problematisieren und die Konf liktebenen der persönlichen und der administrativen Identifikation darstellen. Der Pass wird zu einem notwendigen Mittel, von dem die Trennung – es sei erinnert an die Szene mit dem Münchner Beamten –, das legale Dasein in der Fremde und das Reisen abhängen. Das Visum, so spricht das Ich zu der Mutter, sei das »Zauberwort der Exilierten«; 185 und für das Ich selbst gab es Zeiten, »in denen ein Visum/nötiger war als eine Mutter«.186 Zum Reisepass und Visum als Charakteristika des Exil- und Asyl-Daseins kommen noch weitere Kriterien. Das Schreiben von Briefen, die keinen Adressaten haben, wurde bereits besprochen (3.3.3.1-3.3.3.2). Im Poem Selbstbildnis werden das Briefeschreiben und die Exilwelt ineinander überführt: Keine Angst, Mutter, ich schicke dir Adressaufkleber mit meiner Postfachadresse, meinem eigentlichen Zuhause – ich weiß, ein Postfach ist zu kalt für eine Mutter.187 Eine »Postfachadresse« symbolisiert das Fehlen eines festen Wohnsitzes. Das Leben im Exil befindet sich so in einer Disharmonie zu dem, was das Leben sein soll und was von ihm verlangt wird: Bodenständigkeit. Das ›Postfach‹ symbolisiert aber auch einen Gegenstand, mit dem Anonymität assoziiert wird. Deshalb verbindet das Ich mit ihm Kälte. Als Symbol für die fehlende persönliche Beziehung gewinnt das ›Postfach‹ seine Bedeutung insbesondere dann, wenn es als Zeichen gedeutet wird, das die Sesshaftigkeit in Frage und die Migration in den Vordergrund stellt. Sesshafte, so Flusser, könne man im Raum lokalisieren, Nomaden aber in einem »Raum-Zeit-Kontinuum.188 SAIDs ›Postfach‹ charakterisiert den Exilierten im Gegensatz zu dem Sesshaften als vorübergehendes und f lüchtiges Phänomen und so auch als Wanderer:

184 Ebd., 50. 185 Ebd., 39. 186 Ebd., 40. 187 Ebd., 48. 188  Flusser: Nomadische Überlegungen, 2013, 58.

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Aber Postfächer und Paranoia Sind Mißgeburten der Emigration. Und Du weißt, wie viele meiner Freunde getötet worden sind […].189 Ironisch wirkt die Gesprächssituation durch das Thema Exil. Das Ich ist diejenige Instanz, die die Erzählsituation bei wechselnden Positionierungen beherrscht und selbst Exil als Erzählthema bestimmt. Dann heißt es aber weiter: »Doch ich wollte nicht wieder/von meinem Exil reden/ich rede oft davon«.190 Diese Klage wird etwa nicht formuliert, um vom Thema tatsächlich abzuweichen, sondern umgekehrt: Um das Exil näher zu bestimmen: Weg von meinem Exil! Weg von meinem Europa! Zurück zur Erde! Das Exil ist Luft ohne Erde, eine Provinz, die alles kennt, bis auf meine Kindheit.191 Exil und Europa werden zusammen betrachtet, durch den Possessivartikel mein vergegenständlicht und zugleich durch den Vers »Zurück zur Erde« in den Rang einer utopischen Phantasiewelt gehoben. Dass es sich bei Europa tatsächlich um einen phantasmatischen Ort handelt, wird aus den späteren Dialogen des Ich mit Europa ersichtlich (4.1.1.1). Exil ist Luft ohne Erde, mit anderen Worten: Es schafft Leben, gibt aber keine bodenhafte Existenz. Der Exilant geht […] im lande umher nackt und barfuß mit seinen kleidern in der hand auf der suche nach einer bleibe […].192 Das Exil kennt alles außer der Kindheit. Es kennt die Geschichte des Ich, solange das Exil das Leben des Ich bestimmt, aber es kennt keine Vor-Geschichte, die außerhalb von ihm verlaufen ist. Die Ursprungsebene der Identitätsarbeit fehlt im Exil gänzlich. Genauso wie ein Postfach die Identität nicht unmittelbar preisgibt, kennt auch das Exil keine Identität in der Vor-Geschichte des Ich. Im Exil führt der Weg nicht zurück, sondern stets vorwärts – bis zum Tod:

189  SAID: Ich und der Schah, 1987, 49. 190 Ebd., 25. 191 Ebd., 25. 192  SAID: ruf zurück die vögel, 2010, 38.

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die reise begann wir ließen alles liegen die narben und das gedächtnis doch der tod ist ein zuverlässiger botschafter und das exil erst macht uns reif zum sterben.193 In einer Welt vor und nach dem Exil besteht eine Kluft. Um die Kluft zu schließen, gibt es in der Identitätsarbeit von SAIDs Ich-Figur nur eine Möglichkeit: die Erinnerungsarbeit. Die Erinnerungen im und an das Exil sind die einzige Säule einer nur bedingt historischen wie gegenwärtigen Identitätsarbeit; und das Poem Selbstbildnis steht in diesem Zusammenhang nicht isoliert. Zu ihm befindet sich die Erzählung Landschaften einer fernen Mutter, die fast ein Jahrzehnt später erschien,194 in einem besonderen intertextuellen Verhältnis. Strategisch geht der Erzähler hier auf eine ähnliche Weise wie in Selbstbildnis vor: Im Wesentlichen machen Retrospektivität und Erinnerungsarbeit die Erzähltechnik in Landschaf ten aus, wie etwa der epilog zu einer verlorenen mutter dies auch belegt.195 Dem Bild des ›verlorenen Sohnes‹ dort steht hier das Bild der ›verlorenen Mutter‹ gegenüber. Der Erzähler setzt mit seiner Erzählung dort an, wo in Selbstbildnis das Wiedersehen mit der Mutter im Iran im März 1979 endet. Wiederholte Verweise auf Selbstbildnis, die Parallelisierung der auftretenden Figuren und die immer wiederkehrenden Bilder stellen die intertextuellen Bezüge zwischen dem Poem Selbstbildnis und dem Prosatext Landschaf ten her. Auch die Erzählung Landschaf ten beginnt mit einer Reise, die das Spiel mit der Perspektive auf Fremdheit, Exil und die Identitätsarbeit durch die Überschreitung von geographischen, kulturellen und auch privaten Grenzen einleitet. Die Reise beginnt am Flughafen, am Ort der Kontrolle und Sicherheit, der nur mit einem Reisepass und mit dem in Selbstbildnis genannten »zauberwort visum«196 passierbar ist. Der Reisepass und das Visum als Motive kehren hier wieder, um einerseits Konfrontationen mit der Fremdheit zu konstruieren und anderseits den Exil-Status des Ich zu markieren. Schon im Hörspiel Ich und der Schah wird das Visum »Zauberwort aus dem Glossar der Flüchtlingssprache«197 genannt. Das Objekt der Kontrolle ist das Ich selbst, das »kein[en] paß, nur ein[en] reiseausweis«198 – »im politikjargon: asylpaß«199 – besitzt. Der Flughafen als Ort der Überprüfung konfrontiert das exilierte Ich mit dem, was es ist, nämlich ein Mensch, der nicht dazugehört, wie das Ich sich selbst im Kontext des Abkommens vom 18. Juli 1951 verortet:

193 Ebd., 27. 194   Der Text erschien zum ersten Mal im Jahre 2001 im Beck-Verlag. Zitiert wird hier die ungekürzte Ausgabe des Deutschen Taschenbuchverlags aus dem Jahr 2003. 195  SAID: Landschaf ten, 2003, 85-117. 196 Ebd., 87; SAID: Selbstbildnis, 1992, 39. 197  SAID: Ich und der Schah, 1987, 27. 198  SAID: Landschaf ten, 2003, 7. 199 Ebd., 8.

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»dieser ausweis wird lediglich zu dem zweck ausgestellt, dem inhaber als reiseausweis an stelle eines nationalen reisepasses zu dienen. er stellt keine entscheidung über die staatsangehörigkeit des inhabers dar und berührt diese nicht«.200 Dadurch, dass das Ich diese Stelle aus dem Reisepass wörtlich wiedergibt, hebt es den Zusammenhang zwischen Nationalität und Identität hervor. Der Reisepass in den Telefongesprächen zwischen Mutter und Sohn ist häufig das Motiv, an dem die Befindlichkeit des Ich und dessen Distanz zur Mutter thematisiert werden. Das Ich weiß nämlich nicht, wie es seiner Mutter erläutern soll, was ein »asylpaß« sei: »wie sollte ich dir das erklären? was verstehst du von pässen, visa und grenzen. du hast nie den iran verlassen, nie einen paß gehabt«.201 Die Reise zur Mutter beginnt am Frankfurter Flughafen, an dem das Ich einst aus Teheran angekommen war. Von hier aus begibt es sich nun auf die Reise nach Toronto, um dort die Mutter im Hause des Bruders zu treffen. In Selbstbildnis wurde der Bruder als Fremder vorgestellt, unpersönlich und namenlos. In Landschaf ten hört er auf den Namen Amir.202 Ähnlich wie im Gespräch mit dem Vater in Paris wird in Landschaf ten die Ortsperspektive über Teheran (Ort des Ursprungs) und München (Ort des Exils) auf Toronto als die Stadt des Wiedersehens mit seiner Mutter erweitert. Die Heimatfigur der Mutter in Toronto korreliert mit der Heimatfigur des Vaters in Paris. Zwischen diesen beiden Konstruktionen liegen etwa drei Jahrzehnte, die die Zeitspanne der Erinnerungen ausmachen. Durch die Erweiterung des Ortes lässt das Ich die Erinnerungsarbeiwt in einer dreifachen Konstellation erfolgen, nämlich zwischen dem aus Deutschland anreisenden Erzähler, der aus dem Iran anreisenden Mutter und dem in Toronto lebenden Bruder. Zu diesem Zweck wird Toronto deshalb passend gemacht, weil diese Stadt vom erzählenden Ich bereits in Selbstbildnis mit dem Prädikat ›Niemandsland‹ assoziiert wird: Teherans Türen sind geschlossen; nach Teheran öffnet sich lediglich ein Fenster der Hoffnung, an dem das Ich harrt. In Deutschland ist das Ich noch ein Asylant. Beide Orte tragen eine für das Ich belastende Bedeutung. Toronto aber bietet dem Exilierten »einen neutralen Boden«: Wo die Gegenstände und die Landschaft uns an nichts erinnern. Wo ich keine Freunde habe, die dich lieben meinetwegen.203 Der neutrale Boden des ›Niemandslands‹ bedeutet, dass dieser Ort für das erzählende Ich zunächst keine Erinnerungen trägt und keine identitätsstiftende Funktion erfüllt. Toronto verlangt keine historische Verbindlichkeit. Im Wiedersehen mit der Familie setzt das Ich sein altes Spiel mit Nähe und Distanz fort. Kaum in Toronto angekommen, thematisiert es den Flughafen, um sich selbst noch einmal zu positionieren und Aspekte im Umgang mit Reisenden hervorzuheben:

200 Ebd., 7. 201 Ebd., 9. 202 Ebd., 33. 203  SAID: Selbstbildnis, 1992, 41.

3. Mediale Bilder interkultureller Identitätsarbeit

auf den ersten blick wirkte der flughafen provinziell. paßkontrolle. eine große halle. der schwarze polizist dirigiert höflich die passagiere: kanadier, ausländer, emigranten. ich bei den ausländern. die schlange bewegt sich schnell nach vorne. der polizist beäugt meinen reiseasuweis: »west or east germany?« dann lächelnd: »that was a tricky question, wasn’t it?« stempeldröhnen: »welcome to canada!« er schaut in keinem fahndungsbuch nach meinem namen. er legt meinen paß auf keinen apparat, der dann piept – falls ich sauber bin. zollkontrolle. ein indischer sikh mit vollbart und weißem turban. keine uniform, nur ein blauer anzug und eine armbinde: »custom«. er sieht meine schultertasche, lächelt und winkt. Ich bin in kanada. in toronto. nahe bei dir. ich bin verwirrt. die paßkontrolle ging schnell. reibungslos.204 Auf diesem ›neutralen Boden des Niemandslands‹ positioniert sich der Erzähler aus der Perspektive eines Dritten nicht als störenden Asylanten, sondern als willkommenen Ausländer; sich selbst bleibt er aber treu. Diese Treue bewegt das erzählende Ich dazu, auch in Toronto nach Erinnerungen zu suchen, was zur Folge hat, dass letztlich auch dieser Ort durch das Phänomen des Exils seine Neutralität verliert. In Toronto besucht das erzählende Ich nämlich einen ehemaligen politischen Weggefährten und belebt mit ihm Erinnerungen. Konkret dient der Freund zur Aktivierung und Kontextualisierung der historischen Identitätsarbeit. In den Landschaf ten tritt er bereits vor der Ankunft des Erzählers in Toronto auf: »reza ist ein alter weggefährte aus der zeit gegen den schah«,205 heißt es zu Beginn der Erzählung. Von hier aus zurückblickend, schlägt der Erzähler den Weg in seine Erinnerungen ein und rekonstruiert sie so, dass das Datum, an dem die Rückreise aus dem Iran nach Deutschland und das zweite Exil begannen, in Landschaf ten in den Vordergrund rückt. Das Treffen zwischen dem Erzähler und Reza hatte einst im »frühling der freiheit«206 stattgefunden, als der Erzähler nach der Islamischen Revolution seinen Geburtsort wiedersah. ›Frühling der Freiheit‹ wurde aber wurde aber durch die Etablierung einer Islamischen Republik beendet.207 Verfolgt man die Figur Rezas, so begegnet man ihr in Der lange Arm der Mullahs wieder. Hier heißt es in einer Notiz vom Mai 1990: Ich traf R. in Toronto, Kanada. Wir haben uns zuletzt in Teheran gesehen – im Frühling 1979. Nun sitzt er in Toronto und schreibt eine Doktorarbeit. Seine Diplomarbeit in Soziologie über die iranischen Flüchtlinge hat er in Rom abgeschlossen, wo er mehr als zwanzig Jahre lebte und in der Opposition gegen den Schah aktiv mitarbeitete.208 Das zweite Treffen mit Reza in Toronto wird eigentlich beschrieben, um die politischen Erinnerungen an die Islamische Revolution und an das Exilleben darzustellen: damals sind wir, alle schah-gegner, nach hause gefahren – mit offenen herzen und einem verschleierten blick. schutzlos und verblendet. verblendet durch die hoffnung, nicht mehr in der fremde leben zu müssen. schutzlos, weil wir zu lange auf diesen tag 204  SAID: Landschaf ten, 2003, 32. 205 Ebd., 10. 206 Ebd., 10. 207  Wahdat-Hagh: Die Islamische Republik Iran, 2003, 192. 208  SAID: Der lange Arm der Mullahs, 1995, 100.

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gewartet hatten. dann traf uns der »frühling der freiheit« so hart, daß wir noch einige jahre später benommen waren.209 Proteste gegen den Schah und der ›Frühling der Freiheit‹ konstruieren einen Zusammenhang, der das Kollektiv des Schah-Gegners nun auch in Toronto entstehen lässt. Für dieses Kollektiv erfand die Islamische Republik den egalitären Ausdruck »bruder« im Sinne der Gleichheit aller »vor dem staat und vor dem gott«.210 Reza, der zunächst in Italien lebte und später nach Toronto immigrierte, wird so eingesetzt, dass der Leser an ihm auch die Distanzierung des erzählenden Ich von politischen Ideen ablesen kann. In dieser Funktion korrespondiert Reza mit der Figur der Mutter, an der sich die Distanzierung des Erzählers vom privaten Beziehungen vollzieht: »mama. mit dem wort müßte man aufgewachsen sein«, heißt es klagend in Landschaf ten.211 Die eigene Perspektive korreliert mit der mütterlichen: «,setz dich, mein sohn!‹ auch dieses wort nun. es kam leichtfüßig daher«.212 Das erzählende Ich auf der einen, die Figuren des Vaters, der Mutter, des Bruders und zuletzt auch die Figur Rezas auf der anderen Seite werden jeweils so positioniert, dass sie das Ich einerseits bei seiner Erinnerungsarbeit unterstützen. Anderseits wird mit ihnen der Heimatort konstruiert, um durch ihn die Exil-Welt in eine dem Leser nicht immer zugängliche historische Welt zu erweitern. Die Neugier an diese Welt steigt auf der Rezeptionsseite; weil sie aber nicht ganz befriedigt wird, besteht das Interesse an dieser Welt weiterhin. Mit dem Zusammenführen des Heimatsorts und der Exil-Welt wird ein Erinnerungsraum konstruiert, der durch die Erinnerungen an die Familie und an die Orte Teheran, München, Paris und Toronto gefüllt wird. In diesem Erinnerungsraum verschwimmen die Grenzen, an denen Eigenes und Fremdes erkennbar werden können. Gemeinsame Erinnerungen im Prozess des Erzählens tragen zur Relativierung von Trennungsmerkmalen der Grenze bei. Die Erinnerungsarbeit des Ich gestaltet eine Poetik, an der Grenzüberschreitungen und Überlappungen der Orte wie Wandlungsprozesse des erzählenden Ich beschrieben werden. Die Erinnerungsarbeit selbst wird durch die jeweiligen Zeitabschnitte gesteuert, in denen sich das Ich offenbart.

3.4.2 Der gescheiterte Rückkehrer An der Bedingtheit der Erinnerungen und der Strukturierung der Erinnerungsarbeit im Spannungsverhältnis von Raum, Zeit und Figur werden Motive gestaltet, unter denen das Motiv der Rückkehr eine bedeutungstragende Relevanz zu besitzen scheint. Aus diesem Motiv lässt sich nämlich die Erkenntnis gewinnen, dass die Rückkehr nicht die tatsächliche Absicht eines Zurückkehrens in die historische Heimat artikulieren, sondern eine Symbolik des Wanderns als eine identitätsstiftende Eigenschaft der Ich-Figur erzeugen soll. Die Symbolik der Rückkehr lässt zum einen die Erinnerungsfäden ersichtlich werden, die das Ich mit der historischen Heimat noch verbinden. Zum anderen enthält die Rückkehr aber auch die Symbolik einer Schere, die das Ich von der Heimat trennt, denn die Rückkehr lässt ihm die Tatsache bewusstwerden, 209  SAID: Landschaf ten, 2003, 10. 210 Ebd., 11. 211 Ebd., 36. 212 Ebd., 39.

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dass die historisch gewordene Heimat nur noch sein eigenes Vorstellungsprodukt ist. Insofern erfüllt das Motiv der Rückkehr eine doppelte Funktion: Es ist verbindend, weil an ihm sich die Erinnerungsarbeit orientiert, zugleich ist es trennend, weil es die Vergangenheit nur noch als eine Ich-Vorstellung entlarvt. Der Zurückgekehrte erkennt, dass der Heimat-Ort sich wandelt, während er wandert. An dieser doppelten Funktion wird die Rückkehr erstens in die Symbolkette der in der Exilliteratur gängigen Motive gegliedert und stellt auf diese Weise einen intertextuellen Bezug zu dieser Literatur her.213 An der Rückkehr werden zweitens Transformationen dargestellt, die im Spannungsverhältnis von Vergangenheit und Gegenwart die Identitätsarbeit anhand eines fixierten Ortes der Heimat problematisieren. Die doppelte Funktion der Rückkehr gestaltet diese zu einem Motiv, durch das sich die ausgestattete Erzählwelt auch als interkulturell profiliert. In der historischen Heimat ist der Rückkehrer unerwünscht. Diesen Ort bereist SAIDs Ich-Figur im März 1979 und hält sich sieben Wochen lang in Teheran auf. Diese erste und letzte Reise in die Heimat wird von ihr als ›Rückkehr‹ bezeichnet und zum Motiv erhoben, das Hoffnung und Enttäuschung zugleich beschreiben und dem Ort der Identitätsarbeit nur einen historischen Wert beimessen soll. Geschildert werden die Reise und die Erfahrungen von Hoffnung und Enttäuschung in den poetischen Tagebuchnotizen in Wo ich sterbe ist meine Fremde (1983). Exil. Ich und das Flugzeug. Einsteigen. Sitzen. Anschnallen. Fliegen. Noch nie war ein Eisenvogel so irdisch zu mir.214 Über die Ankunft in Teheran schreibt der Heimkehrer in Der lange Arm der Mullahs: »Wir sind alle in Teheran, wir Exilierten. Und beäugen ängstlich die Auswirkungen der Islamischen Revolution«.215 Die Islamische Revolution bildet weiterhin die politische Sphäre des individuellen Erfahrungsbereichs. Ergänzt wird diese durch die private Sphäre des Wiedersehens mit der Mutter. Die doppelte Perspektive, die in SAIDs Schreiben in den neunziger Jahren (wie sie am Beispiel von Ich und der Schah und Selbstbildnis erörtert wurde) das Thema literarischer Identitätsarbeit begleitet, hat ihre Wurzeln bereits in den ersten Werken aus den achtziger Jahren. Der lange Arm der Mullahs und Wo ich sterbe ist meine Fremde gestalten einen Kontext, der die Welt eines verunsicherten Individuums widerspiegelt. Betrachtet man die Hin- und Rückreise München-Teheran als Motiv einer doppelten Identitätsarbeit, so würde die individuelle Verunsicherung den Inhalt dieses Motives bedeuten. Sie zeigt sich insbesondere darin, dass das Motiv beide Reisen als Rückkehr semantisiert und dieser genauso wie der Identitätsarbeit eine doppelte Funktion beimisst. Durch die Inanspruchnahme der Rückkehr sowohl für Teheran als auch für München macht SAIDs Ich-Figur beide zu vertrauten Orten; der eine Ort macht die Geschichte der Identitätsarbeit aus, der andere ihre Gegenwart. 213   Bischoff et al. (Hgg.): Literatur und Exil, 2013, 2. 214  SAID: Wo ich sterbe ist meine Fremde, 1983, 13. 215  SAID: Der lange Arm der Mullahs, 1995, 12.

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Erst in Teheran nimmt der Rückkehrer bewusst Momente des Scheiterns wahr. Auf der privat-familiären Ebene zeigen sie sich in Gedächtnis-Bildern des Ich, die nun keinen Referenzbereich mehr besitzen und nur durch ihre Absenz in Erinnerungen gerufen werden können. Auf der politisch-öffentlichen Ebene zeigen sich die Momente des Scheiterns im Verlust der Revolutionsideale. Das in die Ferne gerückte Verhältnis zu dem ›Diktat der Zeit‹ wird im Poem Selbstbildnis durch den Bezug auf die Aktivitäten iranischer Linker im Ausland unmittelbar im politischen Kontext des Sozialismus verortet.216 Neben der inhaltlichen haben die Anspielungen auf die politische Linke auch eine strukturelle Funktion, nämlich in der Herstellung des intertextuellen Bezugs zu dem Gespräch über die 1968er Bewegung und über die Rebellion, die, wie es schon im Titel heißt, nicht ›denke‹.217 Im Selbstbildnis offenbaren jene Aktivitäten des erzählten Ich aus der Perspektive des erzählenden Ich lediglich einen Irrweg. Ideen der damaligen linken Gruppierungen werden durch die Thematisierung im Gespräch mit der Mutter als bedeutungslos entlarvt.

3.4.3 Der rückkehrende Gescheiterte Sieben Wochen verbringt SAIDs Ich-Figur im Iran, bis sie feststellt, dass es »auch unter den neuen Machthabern keinen Platz für mich und keine Möglichkeit für einen Neuanfang in meiner Heimat gibt«.218 Bereits zu Beginn ihres Aufenthalts äußert sie sich skeptisch über die Politik der Islamischen Republik. Sie sieht nun nicht allein jene Ideale verloren, für die sie sich in der Bundesrepublik eingesetzt hatte; die »Machthaber wechseln; der Terror bleibt«,219 lautet lakonisch das im Winter 1981 niedergeschriebene Fazit über diese Zeit, die im Übrigen als die »Zeit der schrecklichsten Hinrichtungswelle im Iran«220 bezeichnet wird. Fünfzehn Jahre später schreibt SAID in ein blinder, zwei f lüsse (2010) aus einer zeitlichen Distanz, im Iran kämen die demokratischen Gepf logenheiten politisch bedingt nie zur Entfaltung.221 Der im Iran der 1960er Jahre unpolitische Erzähler, der sich in der Bundesrepublik der links-oppositionellen, exil-iranischen Studentenorganisation Conföderation iranischer Studenten/ National-Union (CISNU) anschloss und als deren Vorsitzender mit Aktionen gegen die Monarchie öffentlich agierte, gesteht seine Verblendung ein und deklariert die Revolution als Ereignis mit verhängnisvollen Folgen: die franzosen haben bei ihrer revolution den gott per dekret abgeschafft. bis der »unbestechliche« merkte, die masse braucht doch so etwas wie einen gott – wenn sie nicht zu einer amorphen legierung von revolutionären und parias degradiert werden will. also haben sie einen surrogat-gott eingeführt: »das höchste wesen«. Die kommunisten gingen einen schritt weiter. sie schafften den gott ab, und zwar ersatzlos. Diese »brüder« hier [im Iran] gehen noch weiter. sie machen die revolution gleich im namen gottes. und das ist der entscheidende unterschied zwischen den anderen und »unserer« revo216  SAID: Ich und der Schah, 1987, 9f. 217  SAID: die rebellion denkt nicht, 2004, 51-71. 218  SAID: Der lange Arm der Mullahs, 1995, 7. 219 Ebd., 13. 220 Ebd., 27. 221  SAID: ein blinder, zwei f lüsse, 2010, 18.

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lution. unsere revolution, als ob sie für uns gemacht worden wäre. die geschichte achtet nicht auf sehnsüchte heimkehrender emigranten. […] inmitten dieser götter, revolutionäre, brüder und ihrer blutfontänen – ich. allein. Ohne partei, ohne ein klar umrissenes credo. ohne zuhause. ohne arbeit. historisch verwirrt. seelisch dezimiert, praktisch lahmgelegt, und mit viel angst. nicht vor der zukunft. sondern vor der gegenwart.222 In einem überaus distanzierten Gespräch mit dem Vater in Wo ich sterbe ist meine Fremde, der nicht nur in der dritten Person Singular auftritt, sondern auch als Teheraner »Gastgeber« bezeichnet wird, erreicht das Geständnis über die Verblendung seinen Höhepunkt: Mein Gastgeber, Ex-General der Armee, geht zum Angriff über: »Früher warst du gegen den Schah, Heute bist du gegen Chomeini. Bist du je FÜR jemand?«223 Die Einstellung gegen die beiden unterschiedlichen Regierungen im Iran hat auf SAIDs Ich-Erzähler eine entscheidende Wirkung. Kaum im Iran angekommen, plant er seine Rückkehr nach Deutschland, bevor vielleicht die Grenzen geschlossen würden.224 Der enttäuschte und zum zweiten Mal heimatlos gewordene Erzähler f liegt dann nach Rom und besucht den alten Gefährten Reza,225 der später nach Toronto immigrieren wird: Reza »blieb in rom […], bis die stadt zu eng wurde […]. er ging nach kanada, nach toronto. dort habe ich ihn angerufen, jetzt. nach elf jahren«,226 erzählt das Ich bei seinem Wiedersehen mit der Mutter. Die Enttäuschung über die Heimat rückt den Heimatort weiter in die Ferne.227 Teheran, flüstern meine ungläubigen Lippen. Teheran, wiederholen meine müden Hände. Ein Fenster nur trennt uns.228 Von nun an bedeutet der Ursprungsort nicht nur den Ort der historischen Identitätsarbeit, sondern auch einen Ort der Sehnsucht und der Suche (4.2.3.2).

222  SAID: Landschaf ten, 2003, 11f. 223  SAID: Wo ich sterbe ist meine Fremde, 1983, 52. 224  SAID: Landschaf ten, 2003, 67f. 225 Ebd., 14. 226 Ebd., 15. 227  SAID: Der lange Arm der Mullahs, 1995, 7. 228  SAID: Wo ich sterbe ist meine Fremde, 1983, 14. Das Fenster als literarisches Motiv spielt in SAIDs Lyrik eine bedeutende Rolle, die im Kapitel über Heimat ausführlich besprochen wird.

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3.4.4 Scheitern als Motiv der Selbstfindung SAIDs namenloses Ich, das mit seinem gesellschaftlichen Status hadert, sich privat und öffentlich isoliert fühlt, an wechselnden Orten lebt und stets das Fenster der Erinnerungen im Blick hat, bewegt sich innerhalb in sich gespaltener und heterogene Welten, die dennoch ineinander übergehen. Das Ich ist »gespalten, hin- und hergerissen zwischen zwei Welten«, ist »dort in Teheran, wenn ein Freund nach schweren Folterungen hingerichtet wird«, und »ist hier, wenn ein neues Buch von Grass in Teheran erscheint«.229 Das Hier und Dort werden durch das Motiv Fenster als Symbol für Öffnung, Licht und Hoffnung in einen deiktischen Bezug gesetzt: »Das Exil verschließt viele Türen und läßt nur ein Fenster offen: auf Teheran, diese häßliche Hauptstadt der Welt«.230 Das Fenster nach Teheran gibt dem Exilierten Halt und Distanz zugleich: Und der Exilierte – durch die Jahre des Exils ein Niemand geworden, harrt an diesem Fenster aus – zwischen Hoffnung und Trauer: Ohnmächtig und bar jedes politischen Einflusses, aber voller Liebe und Trauer. Ein schwerer Stand für jeden, der noch denkt und fühlt, aber nicht mehr handeln kann. Er ist zum Zuschauen verurteilt.231 Der gleichzeitig Heimat- und Machtlose sieht seine Aufgabe darin, »gegen seine eigene Machtlosigkeit und gegen das Vergessen, das nun auch in den Kreisen der Exilierten grassiert«, anzuschreiben und ein Werk hervorzubringen, das eine »dokumentarisch-literarisch[e] Brücke zwischen dem Iran und Deutschland« schlägt, auf der auch er »seine eigene Hilf losigkeit kundtun« möchte.232 Das Ich betrachtet sich nicht als jemanden, der zwischen zwei Kulturen eine Brücke bauen will, sondern sieht vielmehr die Brücke als Metapher für sein eigenes Wirken, das sich später in der Sprache realisiert. Die Sprache erfasst für das Ich nicht nur Momente des Scheiterns, sondern artikuliert in ihnen auch die Chance für eine Selbstfindung.

3.5 Individuelle Prozesse der Selbstfindung Die Lektüre von SAIDs Werk erlaubt, die Erinnerungs- und Identitätsarbeit als Möglichkeiten des Sich-Mitteilens und als Verwirklichung dieses Wunsches zu begreifen. Realisiert werden die Möglichkeit und der Wunsch schließlich im Brief als Medium, von dem der Adressat ausgeht. Carmine Chiellino sieht in der individuellen Verwirklichung des Sich-Mitteilens die Motivation zum Schreiben und im Schreiben selbst das Durchbrechen der Isolation, die dem Individuum im Angesicht von Verlusten und Herausforderungen erst bewusstwird. Das Sich-Mitteilen impliziert in diesem Sinne keineswegs die Übernahme einer Vermittlerrolle, sondern die Überwindung von Verlust und Isolation. SAIDs Schreib-Szene lässt diese Überwindung nicht als Rückkehr in die historische Heimat deuten. Mit der Rückkehr in das Vergangene wird wider Erwarten eine progressive Handlung symbolisiert, die das Ich in die Zukunft führen soll. Den 229  SAID: Der lange Arm der Mullahs, 1995, 8. Hervorh. von HT. 230 Ebd., 7. 231  Ebd. 232 Ebd., 8.

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Weg zu dieser Zukunft betrachtet SAIDs Ich in der Bewältigung von Herausforderungen, die ihm die Fremde stellt, wobei die »Fremde nicht mehr geographisch, sondern als Ort der Geschichte zu begreifen ist, wo Vergangenheit und Zukunft gleichermaßen zu entwerfen sind«.233 Insofern ist der Ort der Fremde kein gegebener Ort, sondern ein noch zu gestaltender. Dass ein of fenes Fenster zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart von SAIDs Ich-Figur steht, bedeutet keine Trennung dieser Zeitabschnitte, sondern vielmehr ihre Verbindung. Die literarische Arbeit an der Herstellung dieser Verbindung im Medium des Erzählens lässt sich als eine Erzähltechnik auffassen, der sich SAID für die Bewältigung der Vergangenheit und die Gestaltung der Zukunft bedient. Das Ineinandergreifen von Bewältigung und Gestaltung ist das zentrale Kriterium für die Identitätsarbeit und Identifikation in der intertextuellen literarischen Produktion und scheint nicht nur für SAID, sondern auch für die anderen Autoren seiner Generation unverzichtbar.

3.5.1 Geschichten einer Selbstfindung Auf den Brief als mediale Variante einer Identitätsarbeit stützt sich die Schreibstrategie der Autorin TORKAN in der Erzählung Tufan. Brief an einen islamischen Bruder. Anders als bei SAIDs isolierter Ich-Figur in Briefe, aber an wen vollzieht sich das Schreiben des Briefes in Tufan234 im Kontext einer Familiengeschichte, die explizit die Erzählung ausmacht. Charakteristisch für Tufan – aber auch für Kaltland – ist das Spiel mit dem Perspektivenwechsel im erzählten Geschehen durch die Figurenkonstellationen. Ein intertextueller Bezug zwischen beiden Erzählungen entsteht in Allnacht. Orientiert am intertextuellen Bezug soll der Analyse von Allnacht Vorzug gegeben werden, um aus ihr einerseits einen Einblick in die Erzählwelt von TORKAN, in ihre Themen, Charakteristika und Motive zu gewinnen und diese anderseits in ihrer Relevanz ordnen zu können.

3.5.1.1 Prozesse der Selbstfindung: Topoi – Motive – Techniken Allnacht trägt den Untertitel Roya und Alp-Traum. Das persische Wort Roya bedeutet Traum, assoziiert Bedeutungen von ›schönen‹, ›idealen‹, ›unrealistischen‹ oder ›unvorstellbaren‹ Wünschen und trägt im metaphorischen Sinne auch die Bedeutung des Gedankenbildes. Es steht also in Opposition zu Alptraum. Im metaphorischen Sinne wird dieser Ausdruck in Tufan wiederholt im Zusammenhang mit der Verarbeitung von Erinnerungen gebraucht.235 Darüber hinaus wird Roya in der weiblichen Hauptfigur von TORKANs Erzählung personifiziert. Die Kombination von zwei miteinander kontrastierenden Begriffen, der eine deutsch, der andere persisch, ref lektiert bereits eine polyperspektivische Erzähltechnik. Allnacht wie Kaltland signalisieren beide eine Symbolik. Keiner der Begriffe ist im Deutschen lexikalisiert. Einzig lässt Kaltland sich als Titel einer Sammlung von Erzählungen prominenter Künstler und Autoren – darunter auch Alexander Kluge, Volker Braun und Emine S. Özdamar – aus dem Jahr 2011 finden, die von Ref lexionen über 233   Chiellino: Die Fremde als Ort der Geschichte, 1986, 15. 234  Tufan ist nicht nur der Titel der Erzählung, sondern auch der Name von Asars Bruder. Sofern es sich um den Titel handelt, wird Tufan kursiv geschrieben. 235   Siehe beispielsweise TORKAN: Tufan, 1983, 122.

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die Brandanschläge in Hoyerswerda und Rostock handelt und eine ähnliche Vorstellung vermittelt, wie sie bereits von TORKAN intendiert wurde. Die Sammlung Kaltland solle, so die Herausgeber, die Gefahr eines neuen Rassismus im kollektiven Gedächtnis bewusstwerden lassen und den Opfern eine klare Stimme gegen Neonazis und Skinheads verleihen.236 Einen Verweis auf TORKANs Text sucht man hier vergeblich. Allnacht und Tufan markieren den Anfang und das Ende von TORKANs literarischer Produktivität. Tufan handelt von einer Frau, die aus dem Iran in die Bundesrepublik immigriert. Die Fremde ist hier nicht die Bundesrepublik, sondern der Iran. Durch die Verfremdungsstrategien und die Hinwendung zu einem neuen Ort der Identitätsarbeit knüpft TORKAN thematisch an SAIDs Werk an. In Kaltland wird die Perspektive auf das Fremdsein zunächst räumlich vergrößert, bevor sie relativiert und dann schließlich umgewandelt wird. Zwischen Tufan und Allnacht liegt die Erzählung Kaltland. Sie teilt die Gemeinsamkeit der erinnerten Zeit und der erzählten Erinnerungen mit der vorangegangenen und der nachfolgenden Erzählung. Während die Ich-Erzählerin in Kaltland auf der Busfahrt aus dem Iran in Richtung Europa Briefe an den Vater schreibt und auf diese Weise versucht, die im Entstehen begriffene Distanz zu überbrücken, schreibt Asar in Tufan einen einzigen, aber langen, zweiteiligen Brief, der im Dialog mit dem Bruder individuelle und familiäre Erinnerungen zugänglich macht. Wie Kaltland auf den grauen und All-Tag anspielt, so soll Allnacht ersehnte Träume wahr werden lassen. Allnacht malt die Wirklichkeit in der Traumwelt der Erzählerin aus, die ihr allnächtlich erscheint und sie mit Sehnsucht wiedergibt. Damit ist der verbindende und charakteristische Topos in TORKANs Schreiben, nämlich die Sehnsucht angesprochen. So geht es in Tufan um eine Frau, die sich danach sehnt, nicht nur als Individuum, sondern auch als Frau angesehen zu werden. In Kaltland wünscht sich die weibliche Hauptfigur, als Mensch respektiert zu werden, und in Allnacht sehnt sie sich nach Liebe. Weiblichkeit, Würde und Liebe werden aus der Erzählperspektive als Motive hervorgehoben, gegenüber denen Hass in Tufan und Abweisung in Kaltland stehen. Während diese Motive miteinander kontrastiert werden, bildet die Sehnsucht nach Liebe das gemeinsame Motiv der Erzählungen. Die Intertextualität in TORKANs Erzählungen wird über die erwähnten Topoi und Motive hinaus auch durch klassische Naturelemente hergestellt, die symbolisch zur Personifikation von Figuren eingesetzt werden. In den Liebesgeschichten von Allnacht kommen Wasser, Erde, Luft und Feuer wiederholt vor. In Tufan werden Menschen nach Naturelementen benannt. Sie werden in ihrer persisch gefärbten allegorischen Bedeutung gebraucht und helfen, Gedanken, Gefühle und Wahrnehmungen in Bildern ausdrücken. Die persisch-deutsche Komposition in TORKANs Werk zeigt die Überwindung der Sprachgrenze durch die Einführung neuer Bilder. Ein weiteres strategisch-inhaltlich relevantes Kriterium lässt sich im Verhältnis von Erzählung und Zeit ausmachen. In Allnacht gewinnt die Zeit eine doppelte Funktion. Es ist zunächst die fernliegende Vergangenheit der Erzählerin, die sich lediglich in Dorfgeschichten, Märchen und im Wesentlichen in Erinnerungen zurückverfolgen lässt und so Hinweise auf eine historische Identitätsarbeit liefert. Die Vergangenheit wird durch zwei Abschnitten gestaltet: Die eine Vergangenheit ist eine fernliegende, weil sie von einer der Gegenwart der Erzählung näherliegenden Vergangenheit bald 236 Krampitz et al. (Hgg.): Kaltland, 2011.

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überholt, bald unterbrochen wird. Sprachlich wird die Unterbrechung in Allnacht etwa so markiert: »nun sollte es Zeit sein, für mich und meine Geschichte«.237 Die Erzählerin bedient sich der naheliegenden Vergangenheit und der Gegenwart der Erzählung dort, wo das Erzählte in individuellen und noch lebendigen Erinnerungen greif bar zu sein scheint. Hingegen wird die fernliegende Vergangenheit durch Erinnerungslücken, die angesprochen und thematisiert werden, konstruiert. Den Erzählungen gemein ist ferner das Thema Fremdheit. Vor allem in Allnacht wird Fremdheit als etwas dargestellt, das nicht statisch ist und sich immer wieder neu bilden muss; Fremdheit ist ständigen Relativierungen ausgesetzt. Sie ist kein Zustand, sondern eine perspektivisch gebildete und veränderbare Erfahrung. Das zentrale Motiv, an dem die individuell wahrgenommene und variierende Fremdheit beschrieben werden, ist die Liebe in Allnacht. Hier offenbart die Erzählerin, die Liebe habe sie entfaltet und sie sei nicht mehr jene Fremde, die sie einmal war.238 Das Motiv der Liebe, durch die die weibliche Figur sich wiederfindet, neu oder anders entdeckt, wiederholt sich zwar auch in den beiden anderen Erzählungen; sie dient dort aber als Folie des Kulturenzwangs und tritt auf diese Weise in den Hintergrund. Der Kulturenzwang wird in Tufan und Kaltland durch den Islam und die Islamische Republik als contra-individuelle Aspekte thematisiert und in eine Gesellschaftskritik eingebettet.

3.5.1.2 Motive einer Gesellschaftskritik TORKANs Werk zeigt eine weibliche Figur in einer von Geschlecht und Religion dominierten Welt. Obwohl Religion das intertextuell leitende Motiv auch in SAIDs Werk darstellt, unterscheiden sich die Ich-Perspektive der Hauptfigur in TORKANs und SAIDs Werk dennoch. SAIDs Ich ist geschlechtslos, gestaltet und betrachtet seine Welt nicht aus der eingeschränkten Perspektive einer männlichen oder weiblichen Figur. Seine Weltbetrachtung und -deutung beanspruchen auf diese Weise eine allgemeine Gültigkeit und beanspruchen unausgesprochen eine auktoriale Autorität. Innerhalb dieser Weltbetrachtung und -deutung wird Religion zu einer individuellen Angelegenheit erklärt. Im Essay pilgrim und bürger legt das Ich seine Suche nach den »Göttern« offen: »gesucht habe ich sie, selbst in den heiligen büchern und behausungen«.239 Innerhalb des Textes wechselt die Ich-Perspektive der Gegenwart zu der Er-Perspektive der Vergangenheit, indem die Erfahrungen eines Kindes einbezogen werden, das als Ref lexionsinstanz für das erzählte Ich dient.240 Die freie Haltung der Religion gegenüber geht bis in die Kindheit des erzählten Ich zurück und prägt es nicht durch das, »was der erwachsene später räsoniert, sondern durch das, was das kind sieht, riecht und hört«.241 Schon hier wird die Religionsauffassung relativiert, bevor sich das Ich später zu positionieren beginnt. Ein Einschnitt ist der Sieg der Islamischen Revolution, mit dem der Heranwachsende Flucht verbindet, über Exekution spricht und die unheilbaren Wunden seiner Erfahrungen beklagt. Der Figur des Kindes steht die des Pilgers gegenüber. Der Pilger sucht »keine blendungen mehr, keine behausungen, nur 237   TORKAN: Allnacht, 1987, 56. 238 Ebd., 31f. 239  SAID: pilgrim und bürger, 2010, 7. 240 Auf diese Weise ist auch der Text ein kind auf der suche nach europa strukturiert, auf den ich später ausführlich eingehen werde. 241  SAID: pilgrim und bürger, 2010, 7.

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schritte. sie tragen ihn fort von fest gefügten göttern mit leicht stillbaren gelüsten«.242 Die ›fest gefügten Götter‹ veranlassen die Ich-Figur, anderenorts von geschlossenen Systemen zu sprechen und in ihrer Entstehung Gründe der Intoleranz zu suchen: ich beeile mich festzustellen, dass religionen intolerant sind, sobald sie sich durch ein geschlossenes system definieren, das sich dann nach außen wehren muss – eine religiöse haltung aber braucht kein gehäuse.243 Die Perspektive des Pilgers wird ein paar Zeilen weiter in die eines Agnostikers umgewandelt; zugleich wird die Gewissheit offenbart, dass es keine zufriedenstellende Antwort für die Existenz Gottes gebe; es ist wiederum hier die Suche, um die es dem alternden Ich geht: das brachland zwischen dem pilger und dem bürger will sich partout nicht entscheiden und sehnt sich immerfort nach einer saat. […] der eine will durch das leben wandern, ohne sich der schönheit zu entziehen – er will seine begierden nicht überleben. der andere sucht, friert und verwendet sich noch immer – für die götter.244 Religionen stellen für SAIDs Ich-Figur keine ontologischen Systeme dar, sondern ermöglichen einen individuellen Prozess der Suche. Auf die Individualität verweist der Bezug zur Auf klärung, denn hier bildet sich für das Ich die Kultur des Ich-Sagen-Könnens. In einem Sprachvergleich zwischen dem Deutschen und dem Persischen bemerkt das Ich, dass das Persische, das das Kind lernte, kaum dazu neige, den Gebrauch der ersten Person Singular zu erlauben; »das deutsche ich hingegen kommt polternd und erfüllt den raum«.245 Hinter diesem Ich-Sagen-Können stehen nicht nur »gesellschaftliche konventionen«, sondern auch der »dünkel«.246 Das Persische erlaubt aber auch, den Gesprächspartner höf lich in der dritten Person Singular anzusprechen, »eine form, die im deutschen wohl seit der auf klärung verschwunden ist«.247 Zwar wird hier die Auf klärung als entscheidendes Kriterium bei der Bildung des Individuums betrachtet, die Perspektive wird jedoch durch einen literarischen Kunstgriff relativiert: »soll man hier voreilig den viel bemühten schluss ziehen, jenes land und jene sprache, die ich noch als meine bezeichne, haben keine auf klärung durchgemacht?«248 Diese Frage wird im Kontext der iranischen Mystik beantwortet, denn hier glaubt SAIDs Ich die Spuren einer iranischen Auf klärung gefunden zu haben: »jene bewegung, die ausgehend vom islam, den persönlichen weg zu gott und zu seiner schönheit sucht«.249 Der Bestandteil der Mystik ist das Geheimnisvolle, oder wie SAIDs Ich in seinem fiktiven Dialog mit Hafis meint, das »dunkle«: »der mystiker muss nicht alles wissen, um das

242 Ebd., 8. Hervorh. von H.T. 243  SAID: über toleranz, 2010, 76. 244  SAID: pilgrim und bürger, 2010, 10f. 245  SAID: ein blinder, zwei f lüsse, 2010, 18. 246  Ebd. 247 Ebd., 19. 248  Ebd. 249  Ebd.

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wesentliche zu begreifen«.250 Mit einem Rekurs auf die Mystik versucht SAIDs Ich, den Weg zu einer individuellen Entdeckung der Religion zu finden. Diese Entdeckung ließe die Religion nicht als »eine soziale vogelscheuche auf dem feld der öffentlichkeit« vorstellen, sondern als »einen der wege, die zu gott führen«.251 Durch das plurale Verständnis der Suche nach Religion wird die Funktion der Religion ausschließlich auf einen »ausgangspunkt«252 bezogen. Die Auffassung von Religion als Angelegenheit der Auslegung wird in anderen Texten wie in Der lange Arm der Mullahs und in Ich und der Islam weiter diskutiert. In diesen beiden Texten prallen Religion, Gesellschaft und Politik aufeinander.253 Die Erzählung Tufan mit dem Untertitel Brief an einen islamischen Bruder steht nicht nur gattungsbedingt in unmittelbarer Nähe zu SAIDs Text Briefe, aber an wen, sondern spielt auch mit dem individuell-privaten und gesellschaftlich-öffentlichen Perspektivenwechsel, der SAIDs oben erwähnte Texte charakterisieren. Anders als im traditionellen Briefroman ist der Brief in Tufan nicht datiert; ebenso wenig wird chronologisch erzählt. Vielmehr gestalten Figuren die Erzählwelt durch ihre Geschichten und Rollen sowie durch Religion und Politik als Aspekte, aus denen sowohl ihr Einf luss auf die Kultur abgeleitet werden kann als auch die kulturellen Veränderungen. Die männliche Hauptfigur heißt Tufan. Sein Besuch in der Bundesrepublik eröffnet das erste Kapitel Erinnerung. Tufans Auftritt in der Erzählung ist aber literarisch inszeniert, und zwar durch Tufans Schwester Asar, die die weibliche Hauptfigur verkörpert. Sie konstruiert zu Beginn der Erzählung einen fiktiven Dialog mit ihrem Bruder und versetzt die Geschichte in ihre Kindheit. Das zweite Kapitel Rückkehr handelt im Wesentlichen von Asars Erinnerungen an ihre Rückkehr in den Iran kurz vor der Revolution. Beide Kapitel »wechseln zwischen Asars Ich-Erzählung der Vergangenheit und dem Versuch, einen direkten Dialog mit dem jungen Bruder Tufan herzustellen«.254 Die Erzählung Tufan schildert die politische Umbruchphase im Iran der ausgehenden siebziger und der beginnenden achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts und stellt die leidvolle Geschichte einer Familie im prä- und postrevolutionären Iran dar. Von dieser Jetztzeit der Erzählung aus lässt sich eine historisch fernliegende Zeit abgrenzen, in der hauptsächlich die Generation der Großeltern verortet wird. Ihre Zeitspanne wird nicht konkret genannt. Allerdings verweist eine Reihe von integrierten Codes wie die Bodenreform255, die erste Generation von Iranern, die im Ausland studieren256, und 250  SAID: hafis, du entschlüsselst alle geheimnisse, 2010, 36. 251 Ebd., 38f. 252 Ebd., 40. 253   Mit diesen Aspekten befasst sich Di Bella (SAID – Ein Leben in der Fremde, 2014, 49-60) und sieht in der Religion die Suche nach eigener Spiritualität. Hinzukommt der Band Psalmen (2007), in dem nach Di Bella das Thema Religion aus kulturvergleichender Perspektive diskutiert wird (Ebd., 113129). 254  Adelson: Migrationsliteratur oder deutsche Literatur, 1991, 74. 255   Der Großvater väterlicherseits ist Großgrundbesitzer (arbab). – Die Bodenreform ist auch das zentrale Thema von Allafis Romanen Es schneit im Zagros-Gebirge (1991) und Die Nähmaschine (1994), auf die ich später eingehe. 256   Hassan, der Bruder des Vaters, gehört zu dieser ersten Generation. Der Vater selbst studierte Medizin im Iran.

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die Bildungsmöglichkeiten der Moderne257 auf einen Zeitabschnitt der iranischen Geschichte, der in die vierziger Jahre fällt. Asars Erinnerungsarbeit wird dem Leser aus ihrer Ich-Perspektive zugänglich. Erinnerungen bieten der weiblichen Hauptfigur den Raum zur Selbstref lexion über ihre Zeit im Iran, die durch den fiktiven Dialog mit dem Bruder gestaltet wird: »Immer wieder versuchte ich, die Bruchstücke dieser Geschichte, die seine [des Vaters] Geschichte war, in ein Bild zusammenzufügen. Meine Erinnerungen aus seinen Erzählungen«.258 Mit der Erzähltechnik, eigene Erinnerungen erst zum Erzählstoff des Bruders zu machen und sie dann zum eigenen Erzählstoff zu gestalten, werden Erinnerungen auf zweifache Weise fiktionalisiert: Sie werden Asar durch Tufans Erzählungen ins Gedächtnis zurückgerufen, bevor Asar sie dem Leser offenbart. Durch dieses Verfahren erreicht TORKAN eine einheitliche Erzähltechnik, die in der individuellen Erinnerungsarbeit auch Erinnerungslücken offenlegt. Die passende Symbolik für die treibende Karft der individuellen Erinnerungsarbeit bei der SAID wie bei TORKAN lässt sich mit Mahmood Falakis Worten wiedergeben: Ich wurde wieder ein Kind: Nur auf den Flügeln der Erinnerung Flieht man vor der Fremdheit.259 Der Wunsch danach, auf den ›Flügeln der Erinnerungen‹ schwebend wieder ein Kind zu werden und sich von Erinnerungen tragen zu lassen, um eine Welt zu betreten, die den Flüchtling aufnimmt, ist ein weiterer intertextueller Bezug. Ist ›Fremdheit‹ bei Falaki das Schlüsselwort, so bildet sie in SAIDs und TORKANs Schreiben den Leitfaden schlechthin. Doch darf TORKANs Fremdheit nicht territorial oder kulturell verstanden werden. Sie bezieht sich auf den Islam sowie auf den religiösen Führer der Islamischen Revolution und profiliert sich als ein interkulturelles Kriterium zur Thematisierung von Religion und Kultur.260 Familie, Religion, Revolution und die Rolle der Frau bilden den Themenkreis der Erzählung, um einerseits die Brüchigkeit der Tradition, das »Auseinanderklaffen von Wirklichkeit und Ideal« und von »Diskurs und bewußter Erinnerung«261 zu problematisieren; anderseits zeigt dieser Themenkreis, wie das Aufeinanderprallen von Moderne und Tradition bei der Erzählerin Entfremdung im Sinne eines gestörtesten Welt- und Selbstverständnisses262 hervorruft: »Ich war nach langer Abwesenheit zurückgekehrt, kam aus einer anderen Welt, kam

257   Die politischen Reformen werden durch Bildungsreformen ergänzt und in der Erzählung exemplarisch durch das Studium der Theaterwissenschaften beschrieben. Hassan studierte im Ausland und versucht dann, im Iran tätig zu werden. 258   TORKAN: Tufan, 1983, 23. 259  Falaki: Klang aus Ferne und Felsen, 2008, 39. 260   TORKAN: Tufan, 1983, 167f. 261  Adelson: Migrationsliteratur oder deutsche Literatur, 1991, 75. 262   Jaeggi: Entfremdung, 2005, 256. Jaeggi problematisiert die Tatsache, dass der einst in linker Gesellschaftskritik zentrale Begriff Entfremdung und dessen philosophische Grundlagen im Zeitalter der Postmoderne und des wirtschaftspolitischen Liberalismus zwar fragwürdig erscheinen, aber als Problem scheint Entfremdung im Diskurs der Globalisierung weiterhin zu bestehen.

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zurück zu Besuch – und alles schien mir fremd«,263 lautet Asars Bekenntnis nach der Rückkehr aus Deutschland in den Iran. Die Einbettung des historischen Erzählkontexts geschieht in Tufan über den Bruder als Familienfigur, deren Funktion im Zusammenhang mit SAIDs Selbstbildnis und Landschaf ten beschrieben wurde. Nach dem Bruder ist zum einen die Erzählung benannt; er ist zugleich der Adressat von Asars Brief. Tufan repräsentiert den Prototyp eines jungen, verwirrten und enttäuschten Revolutionärs, der in seiner Jugend im Iran der sozialistisch-marxistischen Ideologie von Ali Schariati (1933-1977) verfallen ist.264 Durch Tufan und seine politische Aktivität wird die Grenze des Privaten zum Öffentlichen durchlässig. In ihm spiegelt sich eine Figur wider, die nur ansatzweise SAIDs Ich-Figur ähnelt. Tufan eiferte zunächst Schariatis revolutionären Gedanken nach, fühlte sich später von der Revolution betrogen und landete schließlich im Gefängnis eines Regimes, zu dessen Festigung er selbst beigetragen hat. Die politische Funktion wird im Kontext seines Studiums thematisiert, womit der Bezug zum historischen Ort der Revolution, nämlich der Universität Teheran hergestellt wird. Im Leben dieses jungen Rebellen ist der Bezug zu Deutschland präfiguriert. Schon in der Oberschule hat sich Tufan entschieden, »Deutsch als Fremdsprache zu wählen«.265 Später studierte er Germanistik und schloss das Studium mit einer Diplomarbeit über Ernst Theodor Hoffmanns Wirklichkeit und Phantasie ab. Der Weg, wie Tufan zu seinem Studium kommt, ist durchaus politisiert, wie man durch die Erzählerin erfährt: Ingenieur dürfte nur werden, wer politisch zuverlässig sei. Das warst du nicht […]. Also hättest du Germanistik studiert, das durftest du – was kann man mit solch einer Sprache auch schon anrichten.266 Der spezifische Bezug zur deutschen Literatur mit der Überzeugung, von ihr gehe keine politische Bedrohung aus, gewinnt die Gestalt eine Ironie und zeigt sich an einer anderen Stelle mit einer ähnlichen Intensität: Hier geht es um den umstrittenen Autor Ali Schariati, dessen Bücher man nur auf dem Schwarzmarkt erwerben konnte. Der Kauf eines verbotenen Buches wird durch einen falschen Umschlag mit dem fiktiven Autorennamen »Hinrich Bell« ermöglicht: »selbst der Böll soll nicht wissen, daß er Untergrundliteratur verfaßt. Bell heißt er, und einen Bell kennt man und findet man nicht«.267 Asar selbst verließ den Iran um die Mitte der siebziger Jahre, besuchte den Iran einmal vor der Revolution und kehrte im Herbst 1978 in die Bundesrepublik zurück. Hier erfährt sie von der Islamischen Revolution lediglich aus der Presse: 263   TORKAN: Tufan, 1983, 127. 264   Schariati war ein iranischer Revolutionär und Soziologe und beschäftigte sich mit der Religion aus soziologischer Perspektive. In die Geschichte der iranischen Moderne ist er als Ideologe der Revolution eingegangen (Abrahamian: Ali Shariati, 1982, 25-28). Tufan als Schariatis Anhänger zu bezeichnen, bedeutet für Asar eine Reihe von Charakteristika hervorzuheben, die Tufans linksradikal orientierte Generation als Schariati-Anhänger ausmacht. 265   TORKAN: Tufan, 1983, 68. Auch der ältere Bruder Darja spricht Deutsch (ebd.). 266  Ebd. 267 Ebd., 152.

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Täglich kamen die Nachrichten, stündlich aus dem Iran: Das Land loderte in Flammen – die erschreckende Ästhetik des Widerstands: Kugeln hagelten auf das Volk, hunderte, tausende starben. Bedingungslos wurde der Tod von einzelnen für die Idee, die die Massen ergriffen hat. […] Ich tanzte und lachte und weinte die ganze Nacht hindurch vor Begeisterung und von bangem Entsetzen über die grausamen Leiden, mit denen unser Volk diesen Sieg errang.268 Offenbar identifiziert sich Asar, die sich auch an den politischen Aktivitäten der CISNU beteiligt, mit der Ideologie der Revolution und erklärt sich in der Bundesrepublik mit den Iranern solidarisch, indem sie in einem Kollektiv von ›unserem Volk‹ spricht: Das Volk wurde aufgefordert, seine Stimme sollte es geben, sein Ja! Der Islamischen Republik. Auch die Perser im Ausland wurden aufgefordert, in den Konsulaten ihre Ja-Stimme abzugeben. Islamische Republik – was bedeutet das eigentlich?, fragten wir uns. Was Republik ist, müsse man wissen, und was Islam bedeutet, sollte man ahnen! Noch glaubten wir jedes Regime sei besser als das des Schah. So herrschte unter uns ein Verständnis im Verschweigen der eignen Unkenntnis – wir alle wußten Bescheid: der moderne Islam wird entstehen, ein persischer Sozialismus – eine Verschmelzung der besten Ideen aus verschiedene Religionen, Philosophien und Theorien.269 Doch wird diese Identifizierung später ins Schwanken geraten und das politische Scheitern Asar in eine Identitätskrise stürzen. Im Modus der Erinnerungsarbeit zeigt sich die Identitätskrise Asars im Verdrängen, denn bei der Erinnerungsarbeit werden die Proteste von Studenten in Europa für die Revolution im Iran und der Einf luss dieser Proteste auf Asar selbst in deren politischer Identifikation ausgeblendet. Diese selektive Erinnerungsarbeit wird in der Erzählung durch die Ereignisse in der Familie und in der Gesellschaft eingerahmt. In diesem Rahmen wird die private und öffentliche Figurenperspektive, wie man sie etwa aus SAIDs und Falakis Ich-Positionierung kennt, gestaltet und durch die Dominanz der weiblichen Perspektivierung der Identitäts- und Erinnerungsarbeit, die »die harten Schalen der Vergangenheit«270 bricht, erweitert. Nicht nur Figuren sind Träger der Erinnerungen, sondern auch die Naturelemente. Die Erde, heißt es, trage Erinnerungen.271 Durch die Erde als Erinnerungsträger wird eine Metapher erzeugt. In Tufan bedeutet die Erde die gebärende und existenzstiftende Instanz und wird durch die Figur der Mutter personifiziert. Wie Mutter und Teheran in SAIDs Selbstbildnis und Landschaf ten dienen Mutter und Erde nun in Tufan als Motive, an denen sich die historische Identitäts- und Erinnerungsarbeit vollziehen. Während aber bei SAID die Motive Boden und Mutter getrennt existieren, fallen sie in Tufan durch einen metaphorischen Kunstgriff in ein und derselben Instanz zusammen: Asars Mutter heißt Khak. Das persische Wort khak bedeutet ›Erde‹, allerdings nicht im Sinne des Erdballs, sondern differenzierter im Sinne der

268 Ebd., 166. 269 Ebd., 166. 270   TORKAN: Allnacht, 1987, 87. 271 Ebd., 85.

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liturgischen Formel – etwa in der Beerdigungszeremonie.272 Bei der Personifikation von Khak durch die Figur der Mutter werden Erde als geographisches und Mutter als biologisches Merkmal der Identifizierung zusammengeführt. Die Konstruktion der Familie mittels der Elemente erweitert sich auf die Figur des Vaters, die auf den Namen Asseman, zu Deutsch ›Himmel‹, hört. Durch Assemans und Khaks Ehe entsteht eine Beziehung, die darüber hinaus ein Leben erzeugt, das durch Asar verkörpert wird. Der persische Name Asar bedeutet ›Feuer‹, geht auf das mittelpersische ādur273 und auf das avestische ātar zurück, bildet in der iranischen Mythologie das Sinnbild für die Sonne und bedeutet ›Licht‹, ›Wärme‹ und ›Wahrheit‹. In diesem Zusammenhang ist auch die religiöse Bedeutung von Feuer in der Religion Zarathushtras entstanden und lebt bis heute im Symbol des Kerzenlichts im Judentum und im Christentum weiter. Mit Khak, Asseman und Azar sind in Tufan drei Naturelemente aus der iranischen Mythologie versammelt. Ergänzt wird dieser Kreis schließlich durch Tufan selbst. Das neupersische Wort Tufan geht auf das arabische Wort für Sturm und auf Typhon zurück, der in der griechischen Mythologie als Riese, als ›Vater der Winde‹ bekannt ist und heute im Begriff Taifun fortlebt.274 Über die Etymologie dieses Wortes existieren verschiedene Ansätze. Der griechische Begriff kann im frühen Mittelalter in Form des ṭūfān (deutsch: Sturm) in das Arabische und Persische übernommen worden sein. Die übertragene Bedeutung im Persischen im Sinne von Unruhe, Kampf und Lärm findet sich auch im Mittelhochdeutschen. In der iranischen Kultur wird Tufan als männlicher Personenname verwendet. In TORKANs Erzählung verkörpert er die Figur eines Unruhestifters. Der männliche Kreis um Asar wird durch zwei Figuren ergänzt. Zum einen ist es der ältere Bruder Darja, dessen Name ebenfalls eine Konstruktion ist. Darja ist grammatikalisch die weibliche Form des männlichen Vornamens Darius mit der Bedeutung das Gute besitzend. Im Persischen bedeutet Darja das Meer.275 In der Erzählung kontrastiert Darja die ruhige und ausgeglichene Variante zu Tufans rebellischer Art. Für Asar ist er ein ›sicherer Hafen‹.Hinzukommt eine andere Figur, die in jeder Hinsicht das Gegenbild zu Darja und Tufan repräsentieren soll: Asars Stief bruder Savareh.276 Der Name bedeutet Reiter. Durch sein Verhalten und Weltbild symbolisiert Savareh den Fortschritt innerhalb eines konservativen Familienkollektivs und somit auch das Gegenbild zu seinen Stief brüdern. Darüber hinaus ist er Asars Bezugsperson und be-

272   Gemeint ist hier die Formel: »Aus der Erde sind wir genommen, zur Erde sollen wir wieder werden. Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zu Staub«. Der deutsche Ausdruck Mutter Erde gibt die Bedeutung von khak am nächsten wieder. 273   Im Mittelpersischen (Pahlavi), das nach dem Achaimenidenreich in parthischer Zeit schrittweise aus dem Altpersischen hervorging, zwischen dem dritten und siebten Jahrhundert als Amtssprache der Sassaniden diente, bis in das 9. Jahrhundert n. Chr. als lebendige Sprache blieb und bis in das 10. Jahrhundert als Sakralsprache in der Auslegung von Avesta verwendet wurde, hat jeder Tag des Monats einen Namen. Azar ist der 9. Tag des Monats. Im iranischen Kalender ist Asar der dritte und letzte Monat im Herbst. 274  Käppel: Typhoeus, Typhon, 2002, Sp. 943f. 275   Im Russischen und in den slawischen Sprachen kommt er insbesondere in der Variante Dasha, im Polnischen in Dasia vor. 276   TORKAN: Tufan, 1983, 82.

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schützt sie vor der »[f]ürsorgliche[n] Belästigung«277 von Darja und Tufan. In dieser Bruderkonstellation positioniert sich Asar als Außenseiterin: Ich wurde zwischen euch [Darja und Tufan] geboren – war nicht das erste, nicht das letzte Kind, nicht das älteste und nicht das jüngste. Ohne Bedeutung. Ohne Bezeichnung. Ein Übergang vom Ältesten zum Jüngsten, ein Fall dazwischen, ein Zwischenfall, bedeutungslos.278 Aus diesen Zeilen lassen sich das gespannte Verhältnis zwischen den Geschwistern und die Identitätskonf likte der Erzählerin bereits zu Beginn der Erzählung ablesen. Innerhalb dieser Konstellation ist Tufan der Störungsfaktor in der Beziehung zwischen Darja und Asar, später zwischen Asar und der Gesellschaft.279 Geboren ist Asar zwischen Darja und Tufan; geliebt wird sie in der Familie kaum – nicht einmal von ihrer Mutter. In ihr entsteht bereits in jungen Jahren ein Minderwertigkeitsgefühl, von dem sie im fiktiven Dialog mit Tufan aus ihren Erinnerungen erzählt: Ach, wenn doch auch ihre Tochter so schön gewesen wäre! So schön blond und blauäugig wie Darja oder so dunkel und lockig wie du [Tufan]. Das war ich nicht! Ich besaß nicht die zarte Schönheit Darjas und auch nicht den orientalischen Anmut [sic!] deines lockigen Schopfes und deiner ölig glänzenden bronzenen Haut.280 Asar charakterisiert sich selbst zwar als weibliche Figur, beschreibt ihren Körper aber als unweiblich, »behaart« und durch ihre langen Arme unproportioniert.281 Die geschlechtsbedingte Identifikation und die Identifikation durch die Selbstwertgefühle machen aus Asar eine Figur, die zunächst in der Familie und später in der Gesellschaft einer latenten Identitätskrise ausgesetzt ist. Momente dieser Identitätskrise werden in der Erzählwelt jedoch zu treibenden Kräften der Identitätsarbeit umgewandelt. Die Auseinandersetzung mit dem sozialen Umfeld scheint in Tufan literarisch zunächst unorganisiert zu sein; der Text wirkt sperrig und manchmal gar unzugänglich. Dennoch lassen sich aus ihm Kriterien herausarbeiten, die doch einen Geschlechter-Diskurs führen. Organisiert ist dieser Diskurs durch gewisse Themen, Figuren und Motive. Allen voran steht die Figur des Mannes, die durch Asseman, Darja, Tufan und Savareh, d.h. durch die Mehrheit der engeren Familienmitglieder repräsentiert ist. So verortet Asar das erzählte Ich in einer unterdrückten Minderheit und ebnet den Weg zu ihrer Kritik an der Mehrheit. Selbst wenn später ihre Schwester Kalajeh geboren wird,282 ändert deren Geburt kaum etwas an der Erzählperspektive. Die Bewältigung der Identitätskrise erfolgt in der Erinnerungsarbeit, die nicht nur durch 277 Ebd., 83. 278 Ebd., 8. 279 Ebd., 10f. 280 Ebd., 26. 281 Ebd., 58. 282   Asar hat eine jüngere Schwester, das jüngste Kind der Familie, namens Kalajeh. Diese kommt im gesamten Geschehen kaum vor und trägt zu Asars Entwicklungsgeschichte wenig bei. Später immigriert Kalajeh nach England, liebt den Iran und weist eine stärkere Beziehung zur Heimat auf als Asar. Sie ist ihrer Mutter verbunden und spielt mehr oder minder den Gegenpart zu Asar.

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die Geburt und durch den Stellenwert der Familienmitglieder gesteuert wird, sondern auch durch den Tod. In Allnacht treten Tod und Khak gegeneinander an. Um das Thema Erinnerung und Tod kreist auch das Gespräch zwischen der Erzählerin und ihrer Freundin Iris: »Das Leben«, so die Erzählerin, »geht mit einem Schlag aus dem Körper, aber die Erinnerungen der Gefühle und Gedanken sterben stückweise«.283 »Dem Tod«, heißt es weiter, »gab ich meine Empfindungen, aber nicht meine Erinnerungen. Die habe ich noch, […] ohne Wirkung«; erst wenn die Erinnerungen vergessen sind, fordert die Erzählerin Iris auf, dürfe sie die Erinnerungen begraben: »erst dann bin ich tot mit Leib und Seele«.284 Der Besuch von Tufan in der Bundesrepublik wirkt gegen das Vergessen. So schreibt Asar an ihren Bruder: »Liebevoll und sanft entferntest du die Hüllen, die mich vergessen ließen, du legtest meine Wunden frei, die Erinnerung, offen lag sie da«.285 Während die Aktivierung der Erinnerungen dem Bruder zugeschrieben wird, nimmt die Erzählerin selbst ihre Gestaltung in Anspruch: »Ich muß mich an alles erinnern, was war zwischen uns, zwischen dir und mir, ohne dich bei mir und ohne mich bei euch«.286 Es sind Erinnerungen an »die Bruchstücke«287 einer Geschichte; sie beziehen sich häufig auf Erzählungen anderer, sind die »Mosaike der Vergangenheit« und »Splitter der Erinnerung«, die sich »in die der Gegenwart nicht fügen« lassen.288 Für den Brief als einen Ort der Erinnerungsarbeit scheint auch hier die Konstruktion eines Adressaten notwendig zu sein: Ich schreibe dir […] einen Brief. Einen Brief, den ich von dir zu erhalten hoffte. Ich schreibe einen Brief, den ich in all den Jahren nie erhalten habe. Eine Antwort, die in mir zu verstummen begann aus Angst, nie eine Antwort geben zu können, da nie eine Frage kam, nie ein Warum. Und doch, wenn ein Brief kam, ein- oder zweimal im Jahr, manches Jahr überhaupt nicht, dann war er nie eine Frage. Ich sollte von euch wissen, was ich zu wissen nicht vermochte, nicht wissen wollte – nur das sollte ich wissen und nichts mehr. […] Ich schreibe dir einen Brief, eine Frage, eine Antwort. Ich schreibe dir, stellvertretend für dich an mich.289 Ein direkter Austausch ist also nicht möglich. Tufan, der hier angesprochen wird, spielt die Rolle eines imaginierten Adressaten. Durch seine Positionierung wird eine Dialogwelt erzeugt, die primär zwar den Austausch zwischen Asar und Tufan ermöglichen soll, wird aber in der Wirklichkeit der Erzählung als Vorwand für die Offenbarungsstrategie der Erzählerin aufgedeckt: »Ich schreibe dir, stellvertretend für dich an mich«. Der Bruder wird als Adressat angegeben, die Briefe sind aber an die Erzählerin selbst zurückadressiert. Ein weiteres Charakteristikum dieses inszenierten Dialogs ist,

283   TORKAN: Allnacht, 1987, 37. 284 Ebd., 37. 285   TORKAN: Tufan, 1983, 116. 286 Ebd., 187. 287 Ebd., 44. 288 Ebd., 127. 289 Ebd., 5.

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dass er postum erfolgt, denn als Asar zu schreiben beginnt, ist ihr Bruder bereits seit zwei Monaten tot.290 Tufan erfüllt drei Funktionen: Er animiert die Erzählerin zum Schreiben einerseits, und zum Erinnern andererseits. Den ersten Anstoß zur Erinnerungsarbeit gibt sein Besuch in der Bundesrepublik. Wenige Monate nach der Machtergreifung der Islamischen Republik, d.h. als er sich und ›seine‹ Revolution verraten sah,291 f lüchtet Tufan mit seiner Frau Roshan und seinem Sohn im Früher 1980 in die Bundesrepublik und besucht seine Schwester. Aus der Erzählperspektive erfährt der Leser: Du standest vor der Tür, alt und übel zugerichtet, ich ließ dich herein […], nachdem du mir sagtest: Sieh her! Erinnerst du dich nicht an mich? Ich will mich nicht an dich erinnern!, schwieg ich. Ich fühlte, wie mir die Angst die Beine lähmte und griff nach einer Zigarette und sank zu Boden.292 Drittens wird mit seinem Weltbild die Weltanschauung der Erzählerin kontrastiert. Aus ihrer Perspektive wird Tufan als Sympathisant des Marxismus und eines islamischen Radikalismus im Sinne Schariatis verortet.293 Sogar im Gefängnis liest er hineingeschmuggelte Schriften von Marx, Engels, Lenin und Fanon.294 Nach seiner Entlassung bekommt er mit Hilfe eines befreundeten politischen Mitstreiters überraschend eine Führungsposition bei den Roten Löwen295. Asar nimmt dies zum Anlass ihrer Kritik an politischen Machenschaften in der Islamischen Republik.296 Im Verlauf der Geschichte erfährt der Leser von der Sympathie Asars für die linke Ideologie, die nach der Revolution in einer Antipathie umschlägt, sich auf die Religion und auf den Bruder als Personifikation des Religiösen und des Fanatischen ausweitet und das Bruder-Schwester-Verhältnis beeinträchtigt. Dieses schwierige Verhältnis wird von Asar als Projektionsf läche zum Auf bau dieser Geschichte benutzt, die in Tufan in der Gegenwartsperspektive einer jungen Frau in der Bundesrepublik auf die Geschichte des heranwachsenden Mädchens im Iran erst entsteht. Diese Geschichte wird durch einen Kurzbesuch im Iran unterbrochen. Strukturell betrachtet, weist diese Unterbrechung zwar Ähnlichkeiten zu SAIDs Strategie auf, zeitlich aber verläuft sie anders. Während SAIDs Ich nach der Islamischen Revolution in den Iran zurückkehrt, be290   Ebd., 185. – Tufan wurde von der islamischen Regierung vorgeworfen, der konterrevolutionären Organisation Pars anzugehören und mehrere Putschversuche gegen die Islamische Republik unternommen zu haben. Nach seiner Verurteilung wurde er im Sommer 1981 erschossen (ebd., 192). 291 Ebd., 168, 182. 292 Ebd., 7. 293 Ebd., 24, 36. 294 Ebd., 45. 295  Die Roter-Löwe-mit-Roter-Sonne-Gesellschaf t Iran wurde 1923 während der Regierung von Ahmad Schah Qajar gegründet. Seitdem nahm sie bis in die Anfangsphase der Islamischen Republik die Aufgaben einer freiwilligen Hilfsorganisation wahr, die sich aus den Genfer Konventionen und der Satzung der Rotkreuz- und Rothalbmond-Bewegung ergeben (Payandeh: Roter Löwe und Rote Sonne, 1972). Sie wurde nach dem islamischen Recht, auf das sich die Islamische Republik beruft, begrifflich auf den Rothalbmond reduziert, weil die Embleme des Roten Löwen und der Roten Sonne die iranische nationale Identität symbolisieren. Nach dem gleichen Prinzip wurden sie auch von der iranischen Flagge entfernt. 296   TORKAN: Tufan, 1983, 14.

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sucht Asar den Iran kurz vor der Revolution im Jahre 1978. Dennoch entwickeln sich die Abreise und die Rückkehr auch in TORKANs Schreiben zu Orientierungspunkten des Erzählens. Die fernliegende Geschichte mit dem heranwachsenden Mädchen als Hauptfigur endet im Augenblick des Fortgehens: »Fort von der Familie, die Schulzeit abgeschlossen – das Leben hinter mir beendet. Vor mir ein Leben – unbekannt, noch nicht gelebt. Gedanken, ohne Bilder der Erfahrung«.297 So geht die Überschreitung der Grenze zwischen den beiden Lebensabschnitten im übertragenen Sinne mit der Überschreitung der Grenze zwischen dem Iran und der Bundesrepublik Deutschland einher. Die Geschichte des jungen Mädchens endet mit dem endgültigen Sieg der Revolution. Dieses Ende schildert in der Erzählung den endgültigen Abschied von der Heimat und markiert so auch das Ende der Geschichte der jungen Frau: »Der Schah ist nicht mehr mein Feind und Khomeini nicht mehr mein Führer und der Iran nicht mehr mein Land«,298 beteuert Asar. Der erste Auf bruch aus dem Iran, die Rückkehr und nun der endgültige Abschied führen zu einem Bekenntnis, das zeigen soll, wie radikal sich die Protagonistin von dem Land entfernt hat, das ihr einst Heimat war: Der Iran ist »nicht mehr mein Land«; »Ich sehe Landsleute, die aus Persien neu gekommen sind. Ich kenne sie nicht. […] Ich habe aufgehört, über den Iran, über dieses Land, das einst auch mein Land war, zu urteilen«.299 Wie sich Asars Entfremdungsprozess vollzieht und was für eine Bedeutung er für die Erzählerin hat, lässt sich nur durch die Analyse von Figuren innerhalb der Familiengeschichte rekonstruieren.300 Zu Asars schwieriger Positionierung als Frau kommt die verstärkte Rolle des Islam im privaten und öffentlichen Leben hinzu. Die Verschränkung der Bereiche des Geschlechts und der Religion soll auf die traditionell-konservativen Beschönigungen verweisen, denen das erzählte Ich unterworfen ist. Alle drei Erzählungen TORKANs besprechen etwas Grundsätzlicheres, das die Geschlechterproblematik nicht punktuell oder kulturell thematisiert, sondern versucht, sie in einen kulturübergreifenden Diskurs der Identität einzubetten. Kennzeichnend für diesen Diskurs ist »ein komplexes und dichtes Bild« der Figur in ihren Relationen zur Welt, zu sich selbst und zu ihren eigenen Handlungen.301 Diese Bilder der Entfremdung beschreiben nicht allein die Relation der Figur und des Heimat-Ortes (4.2.3.2.3), sondern gestalten fortwährend die Identitätsarbeit der Figur. Als literarisches Motiv veranschaulicht Entfremdung Ref lexionen über die »Struktur menschlicher Selbst- und Weltverhältnisse« in ihren komplexen Relationen.302 Geschlecht und Religion sind in diesen Relationen die signifikanten Themenbereiche, in denen Bilder der Entfremdung erzeugt werden.

3.5.1.3 Identitätsarbeit im Spannungsverhältnis von Geschlecht und Religion Asars Identitätsarbeit erfolgt an der Schnittstelle der familiären und der gesellschaftlichen Rollenverteilung auf der einen, und im kritischen Diskurs der Geschlechterrollen auf der anderen Seite. Beiden Bereichen wird hier Aufmerksamkeit geschenkt. Der Identitätsdiskurs in diesem Zusammenhang thematisiert den Konservativismus von 297   TORKAN: Tufan, 1983, 108. 298 Ebd., 195. 299  Ebd. 300   Siehe zu der theoretischen Grundlage Assmann: Geschichte im Familiengedächtnis, 2007, 157-176. 301   Jaeggi: Entfremdung, 2005, 13. 302  Ebd.

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Familie und Gesellschaft und führt den Geschlechterdiskurs darüber hinaus auch auf die historische Verwurzelung von klar definierten Geschlechterverhältnissen zurück. Gegen Konservativismus und Religiosität wendet sich schließlich Asars modernes Rollenverständnis, von dem die Erzählung auch handelt. Asars Identitätskrise hat ihren Ursprung zunächst in der Vater-Tochter-Beziehung: »Nie zeigte er [Asseman] uns gegenüber väterliche Gefühle. In meiner Empfindung und Vorstellung war Asseman immer nur der Arzt« und »ein Fremder in der Familie«.303 Auf diese Beziehung und auf den problematischen Stellenwert Asars zwischen zwei Brüdern ist ihre untergeordnete Position zurückzuführen. Dadurch, dass die Kritik an Geschlechterverhältnissen ausschließlich aus der weiblichen Perspektive erfolgt, entsteht auch deren Dominanz, die sich in der Erzählwelt insbesondere darin zeigt, dass die familiäre wie die soziale Unterwerfung der Frau unter Heranziehung anderer Frauenfiguren thematisiert wird. Frauenfiguren werden in zwei Gruppen geteilt: Die eine Gruppe akzeptiert ihre Unterordnung widerspruchslos, während die andere sich zwar öffentlich dagegen positioniert, verändern kann sie jedoch kaum etwas. Das Ungleichgewicht der Geschlechterrollen ist in der Erzählwelt religiös bedingt. Zu der zweiten Gruppe gehören neben Asars Mutter auch Khanum Gol: Khanum Gol war die älteste Schwester meines Vaters – niemand hatte in ihr eine Frau gesehen, sie war ein geachtetes, geschlechtsloses Wesen innerhalb der Familie. Sie war die einzige aus der väterlichen Familie, die mit ihren Brüdern Wodka trank. Sie rauchte, war geschieden und berufstätig.304 Die Gleichwertigkeit von Khanum Gol wird nicht als Gleichberechtigung der Geschlechter aufgefasst, denn Khanum Gol gilt als »geschlechtslos«. Durch das Geschlechtslosmachen einer weiblichen Figur entsteht eine Ironie, die auf das eigentliche Problem, nämlich die Un-Gleichberechtigung verweisen soll. Alkohol, Rauchen, Scheidung und Berufstätigkeit: Mit ihnen wird Khanum Gol in einer konservativen Familie als Gegenbild einer traditionellen Frau positioniert. Dieses Gegenbild erzeugt einen Unmut über das Tragen des Schleiers und über die Wirkung des Schleiers auf das Mädchen-Dasein. An diesem Gegenbild entfaltet sich Asars kritische Haltung dem Islam gegenüber. Mit dem Schleier wird aus der Erzählperspektive einerseits das religiöse Identifikationsmerkmal der Weiblichkeit assoziiert; weil sich aber Asar als moderne Frau begreift, wird der Schleier auf der anderen Seite zu einem Motiv, an dem kulturelle Verfremdung thematisiert werden soll: Ich sah auf dem Wege Mädchen meines Alters, gekonnt hielten sie sich ihren Schleier mit den Zähnen fest, ihre Arme konnten sich frei bewegen. Ich wollte es ihnen nachtun. So steckte auch ich die Enden meines Schleiers in den Mund, immer mehr Stoff stopfte ich hinein, um freihändig das Gewicht des Schleiers halten zu können.305 Das Hineinstopfen des Schleiers in den Mund verbildlicht das Verstummen, dem das junge Mädchen in der Schule, im Studium und später auch bei der Heirat kaum ent303   TORKAN: Tufan, 1983, 44. 304 Ebd., 30. 305 Ebd., 31.

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gehen kann: »Ein grauer Tag im Schweigen folgte dem anderen Tag«.306 Asars antireligiöse Haltung wird besonders durch einen Religionsvertreter markiert: Ich schrie auf, als ich die Schläge eines Stockes schmerzhaft an meiner Wade spürte. Alles blieb stehen und drehte sich um. Auch ich drehte mich um. Vor mir stand ein alter Mullah, in einen Umhang gehüllt und mit einem Turban auf dem Kopf. Er stand mir gegenüber mit bösen, stechenden Augen, und hielt vor mir einen Stock bedrohlich hoch und befahl: Verhülle deine Beine!307 Mit dem Mullah wird der individuelle Unmut in eine öffentliche Demütigung umgewandelt. Der Mullah auf der einen, die Brüder Tufan und Darja auf der anderen Seite verschränken den öffentlichen und den privaten Blick auf das weibliche Geschlecht und ebnen so den Weg für die Kritik an der »heilige[n] Kraft des Islam«308, an den Konventionen der Ehe309 und an der Mutterrolle.310 Mit dieser Kritik verbindet die Erzählerin ihren eigentlichen Wunsch: Ich ging noch zur Schule, hatte Angst verheiratet zu werden, wurde nicht geliebt und glaubte, jemanden zu lieben. Wohin mit meinen Gefühlen, wohin mit meinen Wünschen nach der unbekannten Freiheit? Die Freiheit, die nur jene spüren, die geliebt zu werden im Innersten empfinden – wohin mit meiner Sehnsucht nach der Erfüllung dieses Traums? […] Alle Mädchen meiner Klasse waren schon verliebt.311 Das Motiv, an dem sich die Verschränkung des öffentlichen und des privaten Identitätsdiskurses ablesen lässt, ist der Schleier. Mit diesem soll die Erzählsituation eine ›spezifisch iranische‹ Färbung gewinnen. Das Schleier-Motiv versinnbildlicht nämlich den Übergang von der Tradition zur Moderne im Iran und hebt die Rolle der Frau bei diesem Übergang besonders hervor. Asar thematisiert in Tufan eine Epoche im Iran, die durch Tradition und Moderne, Stillstand und Fortschritt gleichermaßen geprägt ist. An Asar und am Iran wird dargestellt, wie die Figur und das Land den ›modernen‹ Weg in die Zukunft zu finden versuchen. Mit diesem Versuch wird eine Gesellschaftsdebatte über die zeitgemäße Selbstbestimmung des Individuums geführt. Anfang 1936 wurde auf Anordnung von Reza Pahlavi I. (1878-1944, reg. 1925-1941) die traditionelle Kleidung der Iraner abgeschafft. Von nun an sollten Männer nach der westlichen Mode Anzüge und Hüte tragen. Am 8. Januar 1936, nach dem iranischen Kalender am 17. Day 1314,312 trat das Schleierverbot für Frauen in Kraft und profilierte sich seitdem als wesentlicher Aspekt im Spannungsverhältnis zwischen Tradition und Moderne, zwischen Regierung und Klerus. Unter der Regierung des Nachfolgers Mohammad Reza Pahlavi wurde das radikale Verbot durch die freiwillige Entscheidung über das Tragen eines Schleiers oder eines Kopftuchs abgemildert. Als symbolträchti306 Ebd., 104. 307 Ebd., 32. 308 Ebd., 77. 309 Ebd., 83. 310 Ebd., 78. 311 Ebd., 87. 312  Day ist der erste Wintermonat im iranischen Kalander.

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ge Diskussion über kulturelle Identifizierung setzte sich der Streit um das Tragen von Schleier über die Regierungszeiten von Reza Pahlavi I. und Mohammad Reza Pahlavi hinaus fort. In der Islamischen Republik wurde nunmehr ein Schleierzwang verhängt, durch den die Regierung ihre Islamtreue und ihren Widerstand gegen das Bemühen der Iraner auf dem Weg zur Moderne zum Ausdruck brachte.313 Hier wurde 1979 für Frauen Schleierzwang angeordnet und für Männer Krawattenverbot verhängt. Seitdem gilt der Schleier als Symbol der ›Unterdrückung der Frau‹, gegen das die Symbolik des Tages der Befreiung der Frau am 8. Januar wirken soll. Dadurch, dass Asar in der Jetztzeit ihrer Erinnerungsarbeit die Freiheit von konventionellen Mustern im gesellschaftspolitischen Kontext dieses Tages thematisiert314 und dabei in die Generation von Khanum Gol blickt, führt sie die Geschlechter- und Machtdebatten in ein Zeitkonzept, das in der Erzählwelt nur durch den Rückgriff auf das kulturelle Gedächtnis gebildet werden kann. Das Schleier-Motiv, das dieses Zeitkonzept inhaltlich füllt, offenbart Momente der Identifikation in der iranischen Kultur der Moderne auf der einen und den religiös-politisch motivierten Konf likt des Klerus der Islamischen Republik mit den kulturellen Werten der Moderne im Iran auf der anderen Seite. Durch den Schleier entsteht somit ein Epochen-Motiv, das in der Erzählwelt der Modellierung der sozialen und kulturellen Welt315 zugrunde liegt. An diesem Motiv wird nicht nur ein Zeichen des Kulturellen, sondern auch dessen Transformationen abgelesen. Diese Prozesse erreichen auch Asar, indem sie die Erscheinungsmomente der Verfremdung bei der Schilderung des individuellen Zugangs zum kulturellen Bereich thematisiert: »So wuchs ich zwischen Frauen auf, von denen die einen verschleiert, die anderen barhäuptig waren«.316 Asars Erinnerungsort ist kein geographischer Ort, der mit der Heimat oder mit der Fremde korrelieren würde, sondern ein Ort individueller und kollektiver Lebenserfahrung, der bald in Teheran, bald am Fuße des Vulkans Damawand im Norden Iran verortet wird, wo Asar mit ihrer Familie zeitweise lebte und die Kluft zwischen Tradition und Moderne wie die Widersprüche der eigenen Kultur so stark wie an keinem anderen Ort erfuhr. Die städtische und dörf liche Lebensmentalität prallen dabei aufeinander.317 Von dem Ort am Fuße des Damawand aus blickt Asar auf die Freiheiten in Rascht und Gilan, den Städten am Ufer des Kaspischen Meers. Die Familienmitglieder bekommen in der Kleinstadt jeweils einen Teil der mit ihrem Leben unvereinbaren Tradition zu spüren: Asars Mutter, eine moderne Frau, die kein Kopftuch trägt, wird in den Geschäften der Kleinstadt nicht bedient und darf ihre Söhne nicht in die öffentlichen Badehäuser mitnehmen. Der Arzt Asseman darf Frauen bei der Untersuchung nicht anfassen und ist auf die Hilfe seiner Frau angewiesen, die für ihn die Diagnose hinter einer Trennwand in der Praxis stellen muss. Asar selbst wird in der Mädchenschule nur von Frauen unterrichtet; der Schleier ist hier nach wie vor das Motiv, an

313   Siehe zur kulturhistorischen Grundlage Abrahamian: A History of Modern Iran, 2008, 93-96. 314   TORKAN: Tufan, 1983, 89. »Es war der 17. Day, und ich stritt für die Rechte und für die Freiheit der Frau: Warum gelten die eingeschränkten Gebote des Islam nur für die Mädchen? Warum auch nicht für die Jungen? Warum ist einem Mann erlaubt, was eine Frau nicht darf?« (TORKAN: Tufan, 1983, 90). 315 Vgl. Koschorke: Wahrheit und Erfindung, 2012, 203-247. 316   TORKAN: Tufan, 1983, 89. 317 Ebd., 59-66.

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dem die Relationen zwischen dem Individuum und der Gesellschaft als Momente der Verstörung dargestellt werden.318 Ironisiert wird die Lebensführung der Dorf bewohner durch ein Paradoxon: Die traditionelle und konservative Kleinstadtmentalität zeigt sich während der Urlaubszeit, wenn sie von Feriengästen aus Teheran überfüllt ist, der westlichen Lebensweise durchaus offen: Da störte es die Damawandis nicht, barhäuptige Frauen in Kleidern mit offenen Ausschnitten als Kundinnen zu bedienen. Es empörte sie nicht, daß die Gäste Alkohol tranken und rauschende Feste feierten. Da brach kein heiliger Zorn unter den Gläubigen aus, wenn sie die städtischen Frauen, nur dürftig bekleidet mit einem Badeanzug, im Fluß schwimmen sahen. Jeder Damawandi war bemüht, es den Urlaubern so zu richten, wie sie es wünschten, und sie zu eigenem Nutzen zu übervorteilen.319 Gesellschaftlicher Zwiespalt und religiöser Widerspruch werden als Aspekte kultureller Diskrepanzen hervorgehoben und verdeutlichen die tiefe Kluft zwischen dem, wie die Menschen sein wollen, und dem, was sie sein sollen.320 Über diese Kluft diskutiert Asar in dem fiktiven Gespräch mit ihrem Bruder, indem sie ihrem kritischen Blick auf klerikale und religiöse Bestimmungen des Lebens Ausdruck verleiht. In Asars kritischem Blick werden Konf liktmomente im Leben des jungen Mädchens im Iran und Erkenntnismomente im Leben der jungen Frau in der Bundesrepublik thematisiert. Über die inhaltliche Funktion hinaus hat dieses fiktive Gespräch auch eine strukturelle Rolle, indem es die an dieser Stelle interkulturell erzählten Ref lexionen über die Geschichte kultureller Konf likte zu der bereits anfangs beschriebenen Kritik an der Islamischen Revolution zurückführt. Die Schilderungen von Erinnerungs- und Erfahrungsmomenten sind autobiographisch gefärbt. Im fiktiven Gespräch werden sie von Azar an Tufan adressiert: Nie habe ich euren Islam gemocht. Ich fürchtete mich gar vor dieser Idee, die euch die Rechte gab, die sie mir nahm. Islam des Mannes: von Gott vergönntes Privileg, all das zu tun, was ich nicht durfte. Wo ist mein Islam? Islam der Frau!: Abfall. Strenge. Vernichtung von Gefühlen. Fanatismus. Elend und Heuchelei. Ich gestehe: Wenn ich je ein Mosalman gewesen sein sollte, dann nur aus Angst. Angst vor dem Alltag. Angst vor meinen Gedanken. Angst vor meinen Wünschen und Taten. Eine Gläubige aus Angst vor ihrer Umwelt.321 Die Wahl der Personalpronomina zeigt Asars Gegenpositionierung. In Asars Religionskritik steht der Islam zwar im Mittelpunkt, die Kritik selbst aber wird auf die Religion im Allgemeinen erweitert, so dass aus der Islam-Kritik eine Religionskritik erwächst. Das Beispiel hierfür bietet ein Gespräch zwischen Asar und ihrer Arbeitskollegin in der Bundesrepublik nach der Verhaftung Tufans durch die Garde der Religionswächter im Iran. Als Asar davon erfährt, vertraut sie sich ihrer Arbeitskollegin 318 Ebd., 64. 319 Ebd., 65. 320 Ebd., 101. 321 Ebd., 25.

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an. Diese hegt den Gedanken, Asar zum Christentum zu bekehren, und schlägt ihr vor, für die Freilassung ihres Bruders zu beten. Asars Kommentar erfährt der Leser wiederum in jenem fiktiven Gespräch: Ich gestehe dir [Tufan], ich habe gebetet […], weil es um dich ging, nicht um mich. Ich glaubte nicht mehr an Propheten, nicht mehr an den Gott des Moslims, zu viele Male hatte Er meine Gebete überhört! Ich wollte den Gott der Christen prüfen. An dir und deinem Schicksal konnte ich ihn prüfen.322 Durch das Beten und das Bekenntnis, Asar habe den Gott der Christen prüfen wollen, vollzieht sich die Übertragung der Islam-Kritik auf die allgemeine Religionskritik. Asars Beschreibung, warum sie den Gott der Christen prüfen wolle, wie sie eine evangelische, menschenleere Kirche mit kalten, hohen Wänden besuchte, in der Christus am Kreuz blutete, und wie sie mit ihrer Kollegin betete, verleihen ihren Schilderungen eine ironische Färbung, die sich auch darin zeigt, dass die Gebete zwar erhört werden, der Glaube an sich versagt jedoch: »Acht Monate später kam die Nachricht, du seiest entlassen worden. Zu spät: Ich hatte bereits die Hoffnung an einen anderen Glauben aufgegeben«.323 Vom Gott des Islam verängstigt, wendete sich Asar dem Gott der Juden zu, später auch »Ahura-Mazda, dem Gott unserer Urahnen«,324 in der Hoffnung, dass deren Götter weniger zornig sind. Die Religionskritik betrifft also im engeren Sinne den Islam, streift aber das Christentum und lässt das Judentum und den Zoroastrismus nicht unberührt. Dass Asars Kritik am Islam in dem fiktiven Gespräch an ihren Bruder gerichtet ist, erweckt zunächst den Eindruck eines individuellen Zugangs zu der Religion. Untersucht man dieses Gespräch genauer, so erkennt man, wie die Islamisierung der Gesellschaft geschildert und an der Figur des Bruders personifiziert wird. »Was könnte der Islam in dir bewirkt haben gegen mich?«325 So lautet Asars Frage an Tufan. In dieser Frage wird der Islam als treibende Kraft der Ideologisierung und Frauenfeindlichkeit verstanden, die zwischen Asar und ihrem Bruder eine Kluft aufreißt. Diese Kluft wird durch die Fern- und Nah-Personendeiktika Du und Ich sowie durch den ausdrücklichen Verweis auf den Islam im Sinne von eurem Islam bestimmt und in ein Kollektiv umgedeutet, gegen das Asar Position bezieht. Die Verortung des Bruders in der kollektiven Strömung der Islamisierung erfolgt auf der Sprachebene im Possessivpronomen euer. Vorsichtig bekennt sie sich zwar dazu, einst vielmehr aus Angst und weniger aus Überzeugung Muslimin gewesen zu sein, betrachtet aber den Islam aufgrund des von ihm propagierten Frauenbilds nicht als ihre Religion. »Die Rolle und Rechte der Frau – wo sind sie denn im Islam?«326 So lautet Asras nächste Frage. Durch die Anspielung auf die geschlechtsspezifische Exklusion des Islam versetzt Asar diesen in eine ihr fremde Sphäre, die insbesondere mit negativen Aspekten wie Sünde, Strafe und Hölle assoziiert wird. An ihnen orientiert sich Asars Bild von Gott als ›böse‹ und vom Islam als Männer-Religion: 322 Ebd., 23. 323 Ebd., 24. 324 Ebd., 28. 325 Ebd., 25. 326 Ebd., 45.

3. Mediale Bilder interkultureller Identitätsarbeit

Ich sah das Antlitz Gottes,327 es war auf den Gemälden beim Schlachter, im Teehaus und vor den Moscheen – rosawangig und wohlgenährt. Er biß in den Hammelkebab – aber Er war zornig und böse. Wann immer ich seither an diesen Gott dachte, sah ich, wie Er Kebab aß – und er sah böse aus.328 Diese Erinnerungsarbeit verläuft innerhalb des Erinnerungskontexts der dritten Schulklasse, in der Asar zum ersten Mal Religion als Unterrichtsfach belegen musste:329 Ich übte die arabischen Verse zu Hause, lernte die Suren auswendig, und unser Vater unterbrach mich oft und verbesserte meine unbeholfenen Laute. Ich hörte ihn kopfschüttelnd sagen, wie unsinnig es sei, Kinder unseres Alters arabische Verse zu lehren, statt sie in persischer Sprache auswendig lernen zu lassen.330 Durch den Aspekt Sprache mündet die Kritik am Religionsunterricht in eine Kritik am kulturellen Einf luss des Islam, weil Asar vor allem darin den wesentlichen Grund für die kulturelle Verfremdung sieht. Thematisiert man diese öffentlich, so käme sie Gotteslästerung gleich: Ich wagte meine Lehrerin zu fragen, warum wir die Suren nicht auf Persisch auswendig lernen. Sie war fast in Ohnmacht gefallen. Die Heilige Schrift darf nicht übersetzt werden, klärte sie mich auf, und ich begriff – ein Licht der Freiheit leuchtet mir auf: Wenn Khoda [Gott] nur arabisch spricht, dann wird Er nicht verstehen, wenn ich auf Persisch verbotene Worte sage! So muß es sein!331 Der kindliche Blick auf den arabisch sprechenden Gott im fiktiven Gespräch mit Tufan präfiguriert die Perspektive der erwachsenen Frau auf die Islamische Revolution, die nun als kultureller Missstand verstanden wird: Ich hatte Scheu, dich zu fragen, was denn an dem Islam so revolutionär sei, daß man diesen Glauben als Waffe gegen das Schah-Regime schmiedete und einsetzen wollte. Es war mir unvorstellbar, diese Religion als zündende Idee für den Kampf um weltliche Herrschaft zu nutzen. […] Was wird aus den Frauen unter dieser revolutionären Idee?332 Als »extrem rückschrittlich und einseitig«333 bezeichnet Asar die Anhänger der Revolution, die selbst die Auslegung des Islam in seinem Geburtsland Saudi-Arabien über327   Gemeint sind die Bilder des Propheten Mohammed und des ersten Imam Ali. 328   TORKAN: Tufan, 1983, 25-27, hier 27. Anderenorts heißt es: »Mich ekelte die Welt der Moslime« (ebd., 111). 329   Eine andere Episode wird durch den Rückgriff auf die Erinnerungen des elfjährigen Mädchens eröffnet, wobei auch hier das Schleier-Motiv nicht fehlt (TORKAN: Tufan, 1983, 47). Es sind aber auch Erinnerungen an die Zeit in Damawand, die Asars Sicht auf die Religion trüben (ebd., 70-75). 330   TORKAN: Tufan, 1983, 32f. 331 Ebd., 33. 332 Ebd., 45. 333 Ebd., 162.

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treffen. In der von Deutschland aus konstruierten Retrospektivität auf Asars Besuch im Iran werden Islam und Fanatismus gleichgesetzt: Ich ahnte nicht, daß dieser Fanatismus eines Tages zum Sturz des Schah-Regimes führt. Noch löste die Erscheinung des Islam, die ich bei euch wieder erlebte, in mir nicht die Erkenntnis der Bedrohung aus. Lästig war sie, lächerlich – doch mein Gefühl signalisierte mir damals noch nicht die große Gefahr.334 Wie die Debatte über die Frauenrechte wird hier die politische Funktionalisierung des Islam und die Idee eines islamischen Staates in einen kulturellen Kontext integriert. Im Iran der 1960er und 1970er Jahre wurde die Idee der Verschmelzung von Islam und Kommunismus propagiert, von der man sich die Errichtung eines islamisch-sozial(istisch)en Staates versprach. Um diese Debatten in der Erinnerungsarbeit zu rekonstruieren, wird in dem Brief eine fingierte Diskussionsszene eingeschoben, in der Asar ihren Bruder zur Verantwortung zieht: »Im Islam ist Urkommunismus!, verstehst du dich zu rechtfertigen«.335 Dabei schlägt sie den Bogen zu dem religiös-soziologischen Konzept von Ali Schariati, mit dem sich Tufans Generation politisch identifiziert. Schariati gründet seinen Kerngedanken in On the Sociology of Islam auf die Prämisse, dass alle Ideen bereits im Islam vorhanden seien und dass die sogenannte Moderne zum Islam zurückfinden und sich von ihm aus neu erfahren müsse. Diese Prämisse wird unsystematisch im Kontext von Marxismus, Nationalismus und Antikolonialismus beschrieben. Durch diese Lesart beansprucht der Soziologe den Beweis dafür, dass säkulare Konzepte grundsätzlich keinen Widerspruch zum Islam bildeten; aber so, wie diese Konzepte im Westen propagiert werden, seien sie von ihrem islamischen Wesensgehalt entkernt worden.336 Somit soll in Schariatis Schrift nicht der Islam eine Kritik erfahren, sondern das, was er die westliche Lesart des Islams nennt. Wenn Asar die Frage aufwirft, was eine Revolution mit dem Islam überhaupt verbinde, so spielt sie auf die Praxis der Revolution, wie man sie im Europa der ausgehenden 1960er Jahre kennt, und auf den Islam als den ideologischen Gedanken. Diese Frage bleibt allerdings unbeantwortet.337 Allem Anschein nach liegt es TORKANs weiblicher Figur nicht daran, den retrospektiven Raum der Erinnerungen zu verlassen und den vielleicht konstruktiven Raum des Diskurses zu betreten. Stattdessen wirkt sie polemisch: Schariati »lachte in einer der Reden jene Perser aus, die mit englischen Wörtern die persische Sprache versklavten – und er bediente sich selbst dabei französischer

334 Ebd., 162. 335 Ebd., 75. 336 Ich verzichte hier auf die Ausführung von Schariatis Ideen und begnüge mich mit folgenden Hinweisen: Von nachhaltiger Wirkung auf Schariatis Denken war sein Aufenthalt in Paris. Im Mai 1959 kam der junge Stipendiat an die Sorbonne und begann sein Studium der Soziologie und der Geschichte des Islam, das er mit einer Promotion beendete. In Paris nahm er an den intellektuellen Debatten über Marx, Freud, Sartre, Bergson und Camus aktiv teil und äußerte sich während der algerischen Revolution auch zu den Themen Kolonialismus und Imperialismus. Eine Reihe von Arbeiten haben sich mit Schariatis Gedankenwelt beschäftigt, darunter Kaweh: Ali Schariati interkulturell gelesen, 2005 und Milani: Eminent Persians, 2008, 359-366. 337   TORKAN: Tufan, 1983, 75.

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Begriffe«.338 In seinen Konzepten zur Befreiung Irans vom westlichen Kulturkapitalismus begründete Schariati sein Verständnis von einem iranischen Kulturfortschritt durch die Rückkehr zum Islam und ignorierte dabei, dass »der Islam, den er als Ausweg pries, persisch so wenig war« wie Schariatis englische Wortschöpfungen; diesen Widerspruch belegt Asar durch die Tatsache, dass »beides von außen unserer Kultur aufgezwungen und nicht dem Innern erwachsen«339 sei: Verschlungenes Gerede, Verachtung anderer Länder, Mißdeutung ihrer Kulturen – ein jähzorniger, wortsinnverdrehender Sophist, dessen Logik die Widersprüchlichkeit ist. Er stellte Behauptungen auf, um sie zu widerlegen, und widerlegte den eigenen Widerspruch – und niemandem kam es in den Sinn, daß Schariatis Argumente sich nur schwindelerregend im Kreise bewegten – Spiegelgefechte, Scharlatanerie.340 Nur versteckt spielt sie auf ihre eigene Fehleinschätzung über den Islam als politische Kraft an: Mir war, als ich Persien nach so vielen Jahren besuchte, zwar der verstärkte Einfluß der Moslims auf das Alltagsleben aufgefallen – aber als schleichende Macht hatte ich den Islam da noch nicht erkannt. Er kam mir nur wie eine Mode vor, die kommt und geht, ein vorübergehender Zeitgeschmack, den alle Menschen dulden.341 Welche Folgen diese politische Kraft schließlich hat, thematisiert Asar an ihrer jüngsten Schwester Kalajeh. Die jüngere Generation, die – kaum politisch interessiert – sich mit der Islamischen Republik auf die eine oder andere Art engagiert: Sie suchte »aus Religion und gottloser Weltlichkeit die Vorrechte«, die sie begehrte, um ein »unbewussteres Leben« führen zu können.342 Dem konservativen und islamischen Kulturkonzept stellt Asar schließlich Europa gegenüber und richtet dann ihre suggestive Frage an Tufan: »Konnte die Antwort, die wir hier in Europa fanden, auch eure, deine Antwort sein?«343 Wie einst durch die Fernund Nahpersonen-Deiktika Ich und Du identifiziert sich Asar an dieser Stelle durch das Wir mit der europäischen Kultur und stellt dieses Wir dem Ihr in ›euerm Islam‹ entgegen. In Europa geschieht das eigentlich Entscheidende, nämlich die Auf klärung; diese sei die Antwort des Westens auf den Kulturkonservatismus: Wir glaubten, diese Antwort zu wissen: Ihr habt zwischen Moskau und Washington einen Weg entdeckt, der Persien vom Einfluß beider Mächte befreit! Ich sah einen aufgeklärten Islam, einen Pfad, der dem Mittleren Osten den einzigen Weg zwischen zwei Schluchten weist. Der dritte Weg, Tito und Mao Tse-Tung haben ihn gewiesen, war ein sozialistisches Modell, das in der Kultur und Geschichte des Landes seine Wurzeln hat. Islamischer Sozialismus – Persiens Unabhängigkeit! Dies würde nicht ein Islam sein, 338 Ebd., 162. 339 Ebd., 163. 340  Ebd. 341 Ebd., 154. 342 Ebd., 162. 343 Ebd., 165.

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den ich kannte und fürchtete. Der aufgeklärte Islam bemächtigt sich nur der religiösen Idee, um die Revolution für die Befreiung zu entzünden! War dies die Antwort?344 Wie sonst in TORKANs Werk bleibt auch hier die Frage offen. Problematisch in TORKANs Schreiben ist die Tatsache, dass kulturkritische Fragen zwar formuliert, aber nicht beantwortet werden. Die Erinnerungsarbeit über die teils identitätsstiftende, teils distanzierte Haltung der Ich-Figur zum Sozialismus und zur Revolution im Iran verläuft nur bedingt selbstkritisch, weil die individuelle Erinnerungsarbeit der Ich-Figur eine männliche Figur benötigt, um an dieser die kritische Folie zu konstruieren. Die Fragen, welche die Ich-Figur auf dieser Folie entwirft, werden weder von Ich selbst noch von dem Bruder erwidert. TORKANs Ich-Figur ist eine politisch denkende und sympathisiert durchaus mit sozialistischen Idealen der Studentenbewegung, an der sie selbst teilgenommen hat. Die Distanzierung zu jenen Idealen und zum Islam im Spannungsfeld von Ich und Du bleibt nicht nachvollziehbar, weil die kritischen Fragen der Ich-Figur in der Erzählwelt keine Resonanz finden. Einen kritischen Diskussionsansatz lässt sich außerhalb von TORKANs Perspektive finden. In einem Interview mit der Frankfurter Rundschau äußert sich SAID zum Thema Islam und Postmoderne mit dem Argument, dass der ›aggressive Islam‹ eine Antwort auf die Postmoderne sei und dass seine Radikalisierung nicht unabhängig von der Haltung des Westens ihm gegenüber betrachtet werden solle:345 Ich vergleiche den Dialog zwischen dem Westen und dem Islam mit dem eines Tauben mit einem Blinden. Der Taube ist der Westen, der Blinde ist der Islam, der zurzeit nur um sich schlägt. Ich frage mich, ob man mit den Maßstäben eines Tauben die Handlungen eines Blinden verstehen kann.346 Und hier zeigt sich vielleicht, was Asar eigentlich meint, wenn sie von der Rückständigkeit der Islamischen Revolution in deren Widerstand gegen die Werte der Auf klärung und der Moderne spricht. Asars abschließende Frage, so zentral sie auch ist, wird nicht weiter diskutiert und überlässt den Leser sich selbst. Daran zeigt sich vielleicht auch die Tatsache, dass TORKAN keinen Anspruch darauf erhebt, durch ihr literarisches Werk einen Gesellschaftsdiskurs intellektuell zu gestalten, sondern vielmehr darauf, ihrer eigenen Erfahrung und Gedankenwelt erzählerisch Ausdruck zu verleihen. Die Erzählungen, lässt sich zusammenfassend sagen, werden aus zwei ineinander übergehenden Kontexten konstruiert: Geht es um eine allgemeine Kritik an der Religion, so wird sie häufig unmittelbar aus Asars Perspektive vernommen. Sie richtet sich insbesondere gegen die allgemeine Vorstellung von einer zwangsläufigen Verbindung zwischen dem Iran und dem Islam; eine Verbindung, in der die iranischen Frauen per se als Opfer der Unterdrückung verortet werden. Hier werden religiöse und geschlechtsspezifische Merkmale individueller Identitätsarbeit und kulturalisierender Identifikation zusammengeführt. Geht es aber darum, die Islamische Revolution als eine mögliche Antwort auf die Moderne zu determinieren, wird die Erzählperspektive 344  Ebd. 345 Siehe hierzu SAIDs Kritik am »Euro-Islam« in SAID: Deutschland tut alles, um Einbürgerung zu erschweren, 2006. 346  SAID: Noch nie war der Islam im Iran so verpönt, 2009.

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so gestaltet, dass man aus ihr zum einen die Kritik der weiblichen Hauptfigur erfährt und zum anderen die der Revolutionsfigur Tufan. Konkurrierten Asar und Tufan zu Beginn der Erzählung um die Frage nach der Revolution und deren Gründe, werden sie sich zum Schluss einander annähern. So sagt Tufan, der nun mit seiner Familie in die Bundesrepublik Deutschland immigriert ist, zu Asar: Ich will und kann, wie du, nichts mehr mit diesem Land [Iran] zu schaffen haben! Ich will mich nicht mehr opfern, meinen Sohn nicht und nicht meine Frau – nichts will ich mehr opfern! … Weißt du, damals, als der Schah noch herrschte, da hatte ich mir die Freiheit eines Verwirrten geleistet: Wenn mir irgend etwas mißfiel, dann nahm ich meinen Sohn huckepack, und ich ging mit ihm auf den Schultern zur Wache und schrie den Polizisten zu: Erschießt uns doch! Erschießt mich und meinen Sohn, wenn ihr den Mut dazu habt! … Dann kamen die Polizisten heraus, und sie luden mich ein zum Tee. Da beschimpfte ich sie und ihren Schah und das ganze Land, und sie lächelten nur … Und heute?: Sie erschießen auf Anhieb zweihundert Menschen, weil sie davon ausgehen, daß der Mörder eines Mullahs, der in einer Menschentraube untertauchte, sich innerhalb der Ansammlung befindet.347 Vielleicht lässt sich gerade diese selbstkritische Perspektive von Tufan als die wesentliche Leistung der Erzählung betrachten, denn es ist dieser Aspekt, der auch die Progressivität der Identitätsarbeit zeigt. Die Enttäuschung, das Opferdasein und der Verlust machen aus Tufan einen kritischen Menschen, der das Bekenntnis ablegt, ein Staat lasse sich nicht mit einer Ideologie führen. Als Weltverbesserer bleibt er weiterhin in seiner Rolle. Das literarische Motiv hierzu ist ein Buch, an dem Tufan seit Jahren geschrieben hat und das er nun in der Bundesrepublik abschließen will. »Es ist nur noch eine Frage der Zeit«, bekundet Tufan, »wenn ich mich hinsetze, um es niederzuschreiben […]. Mein Buch wird die Welt verändern«.348 Dieses Buch »ist ein Buch gegen alle Ismen«349 und soll die Verwandlung eines Revolutionärs und Muslims zu einem selbstkritischen und ref lektierenden Individuum darstellen, das nun in Deutschland nach den Wurzeln iranischer Identität sucht.350 Durch sein Buch will Tufan erreichen, dass jeder die Geschichte Irans kennt und weiß, dass der Islam nicht die Idee ist, die dem Iran zur Entwicklung verhilf t. Mit einem Rekurs auf die ideologische und unkritische Auffassung des Islams bewegt sich Tufan in das Gebiet der Auf klärung: Ich habe meinen Irrtum erkannt …, ich habe meine Schuld bekannt! Aber darin liegt doch auch eine Erkenntnis …, eine Einsicht, die mich nicht schweigen lässt! Ich muß mit meinen Waffen gegen den Wahnglauben kämpfen! Auf klären muß ich das Volk!351 Auf klärung als Motiv der Einigung zwischen Asar und Tufan verortet ihr Gespräch im Kontext der europäischen Moderne, in dem die Frage nach der Bildung individueller wie kollektiver Identifikation entwickelt wird. Um eine kritische Auseinandersetzung 347   TORKAN: Tufan, 1983, 173f. 348 Ebd., 175. 349  Ebd. 350 Ebd., 182. 351 Ebd., 176.

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mit der Moderne geht es in TORKANs zweiter Erzählung Kaltland, in der neben der Erzählerin auch ihr in der Bundesrepublik geborenes Kind eine Rolle spielt, die in Tufan bisweilen nur am Rande in der Figur der jüngsten Schwester erscheint.

3.5.1.4 Liebend sich selbst finden Das erzählte Ich in TORKANs Geschichte ist ein pubertierendes sechzehnjähriges Mädchen, dessen Identitätskrise durch Religion und Liebe ausgelöst wird. Den dynamischen Effekt erreicht das Thema Liebe deshalb, weil sie in der Identitätsarbeit als Rückzugsort an der Schwelle individueller Freiheit und familiärer Konventionen thematisiert wird. Die Liebe wird zunächst in Tufan im Zusammenhang von Schwärmereien des jungen Mädchens für einen jungen Leutnant, den es bisweilen an der Bushaltestelle trifft, aufgegriffen, wird dann in Allnacht in der Hingabe des eigenen Ich beschrieben: Für Dich wollte ich den Schleier tragen, ein Lebenlang eingesperrt sein, stumm sein und nie klagen. Ich wollte mein Leben in deinem schenken, nicht sein in deinem Beisein und mit dem Atem warten bis du kommst.352 »Die Kunst zu lieben«, heißt es in Allnacht weiter, »ist eine Kraft, die sich aus der Erfahrung nährt, nicht geliebt worden zu sein«.353 Der ewige und nie zu sättigende Hunger nach Liebe, den Asar einst herbeisehnte, wird in Allnacht als Wiederentdeckung und Entfaltung des Selbst durch die Figur des Geliebten verstanden.354 In den beiden Erzählungen scheint die Liebe den gleichen Ursprung und das gleiche Ziel zu haben: die »Freiheit der Liebenden«.355 Diese Freiheit wird als Fluchtort bezeichnet, der Schutz vor gesellschaftlichen Schranken und sozialen Konventionen bieten soll: »Wenn mir die Haut zu eng würde von der Gegenwart«, schreibt die Erzählerin in Allnacht, so f lüchte sie in die Liebe.356 Auch Asar sucht in der Liebe Sicherheit und Halt. Um dies zu veranschaulichen, wird in Tufan mit Symbolen und mit fiktiven Gesprächen gearbeitet: »Ich will deine Nähe«, sagtest du, ich will deine Haut überziehen, dachte ich. Unser Himmel soll nur einen Stern tragen, ich will meinen Rücken an deinen lehnen, nicht mehr warten auf deine Rufe und dein Kommen, mit dir in das Reich der Träume laufen, die aufsteigende Sonne aus deinen meeresblauen Augen erblicken, jeden Tag, und in der Nacht deinen Atem hören.357 Die Freiheit der Liebe, gepf legt durch das Individuum selbst, konkurriert mit der konventionellen Liebesauffassung, die in Allnacht durch die Figur Marjam verkörpert wird. Marjam, deren Namen ebenfalls eine hebräisch-iranische Tradition widerspiegelt, ist wie Leyla nicht nur der Liebe verfallen, sondern auch den Gesetzen und Geboten, die der Liebe im Wege stehen, ausgesetzt. Ihre konservative Familie nimmt sie 352   TORKAN: Allnacht, 1987, 10. 353 Ebd., 23. 354 Ebd., 76. 355 Ebd., 25. 356 Ebd., 28. 357   TORKAN: Tufan, 1983, 65.

3. Mediale Bilder interkultureller Identitätsarbeit

von der Schule und verheiratet sie.358 Mit der Figur Marjam konstruiert TORKAN das Pendant zu Tufans Frau; beide geben das Bild einer Willenlosen und Passiven ab, die der männlich-religiösen Tradition ausgesetzt ist: Vielleicht bedeutet die Freiheit der Frau der tägliche Gang aus dem Haus oder vielleicht ist die Freiheit der Frau die Sekunden zwischen Erwachen und Tag Vielleicht ist die Freiheit der Frau das heimliche Lachen und denken: Würdet ihr ahnen!359 Mit den Figuren Khak, Khanum Gol, Marjam und Tufans Frau auf der einen und mit Asseman, Darja, Savareh und Tufan auf der anderen Seite wird in beiden Erzählungen die Identitätskrise der weiblichen Figur im Rahmen der Geschlechterdifferenz und der Ungleichberechtigung zum Thema gemacht. Sowohl Asar als auch die weibliche Figur in Allnacht spielen zunächst eine untergeordnete Rolle, bevor sie sich durch die Absage an soziokulturelle Konventionen befreien können. Migration bildet den Kontext dieser Selbst-Befreiung. Sie bewirkt zwar einen Ortswechsel, der in TORKANs Schreiben durch den Iran und die Bundesrepublik markiert ist. In der Wirklichkeit der Erzählung aber bedeutet sie die Realisierung ersehnter Werte. Wenn Auf klärung und Freiheit in der Bundesrepublik erfahren werden sollen, so bedeutet diese Erfahrung keine Erfahrung der Fremde, sondern eine der Werte. In der Bundesrepublik finden sowohl Asar als auch Tufan einen gemeinsamen Bezugspunkt, der wertorientiert ist. Die historischen Identifikationsmomente und die »ontologische Beschaffenheit von Sozialfiktion« wird in TORKANs Erzählung immer stärker problematisiert, je intensiver sich die Hauptfiguren in der Gegenwart der Erzählung mit der Zukunft im Sinne der »Erfindung einer zweiten, alternativen Welt« auseinandersetzen.360 Das, was am Ende bleibt, ist die Verfremdung dessen, was einst die Identifikation ausmachte: Für einen Mosalmanen gibt es zwei Sorten von Frauen: Die fromme, die ewige Jungfrau, die, nachdem sie verheiratet wurde, keine Sexualität mehr kennt. Diese Frau verbirgt all ihre Bedürfnisse und verfällt in einen endlosen Fatalismus. Ich hatte die verborgenen sexuellen Wünsche dieser Frauen gesehen, in ihren Augen sah ich sie sich widerspiegeln auf Hochzeiten und Frauenfesten. Eine fromme Frau sagt nie, daß sie geschlechtlich unbefriedigt ist, daß sie auch Wünsche hat. Sie spekuliert nur über Sexualität, eine ekelhafte Spekulation über das Leben der anderen Sorte von Frauen. Wie sind diese anderen Frauen in den Augen eines Mosalmanen? Sie können nur die Kehrseite der Frommen sein: Sie kann nur eine Hure sein! […] Da ich die Kehrseite der Frommen war, spekulierte […] jede der weiblichen Verwandten über mein Leben in der Fremde […].361

358   TORKAN: Allnacht, 1987, 50-52. 359 Ebd., 86. 360  Koschorke: Wahrheit und Erfindung, 2012, 229. 361   TORKAN: Tufan, 1983, 170.

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3.5.1.5 Identität auf Probe? Das Spiel mit der Perspektive in räumlichen, zeitlichen, sozialen und geschlechtsspezifischen Dimensionen gestaltet auch die Erzählwelt von Kaltland. Den Ausgangspunkt der Erzählung bildet die Busreise von Teheran, über Tabirz, die Türkei und Österreich in die Bundesrepublik mit dem Ziel »Munikh«.362 Das Erzählen erfolgt nach dem Muster in Tufan im Schreiben. Die Erzählerin verfasst schon im Reisebus einen Brief – dieses Mal nicht an den Bruder, sondern an ihren Vater. In der Bundesrepublik angekommen, ändert sich die Erzählmethode: Während beim Schreiben der Briefe auf der Fahrt auf Erinnerungen an eine Vater-Tochter-Beziehung Bezug genommen wurde,363 richtet sich die Perspektive der weiblichen Ich-Figur in der Bundesrepublik auf die Gegenwart des Geschehens. Die Reise der Erzählerin nach Europa setzt in den beginnenden siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts ein und fällt so in die Zeitspanne der beiden anderen Erzählungen. Chronologisch geht die Erzählperspektive in Kaltland der in Tufan voraus. Kaltland besteht insgesamt aus sieben unterschiedlich langen Kapiteln. Sie werden nach den Stationen der Identifikation der Erzählerin betitelt: Entfernung, Seelischer Hunger, Eine einfache Lebensgeschichte, Wah’schate SSard (Nackte Angst), Eine andere Geburt, Mutterland und Eine andere Blindheit. Die Erzählerin ist eine junge Frau, die den Iran einige Jahre vor der Revolution verlässt, in die Bundesrepublik Deutschland immigriert, hier schwanger wird, von ihrem Freund verlassen wird und ihr Kind ohne ihn großzieht. Die Figur des Kindes, die in Tufan sporadisch in der Figur von Asars namenlosem Sohn auftritt, gewinnt in Kaltland an Präsenz und Bedeutung. Erinnerungen sind Gegenstand der Erzählungen, die der Leser zum Teil aus der Ich-Perspektive und zum Teil aus der dritten Person Singular erfährt. Häufig fallen in der Ich-Perspektive Momente des Sich-Erinnerns und Sich-Identifizierens zusammen wie etwa beim Erzählen der Erinnerungen an die Figur des Vaters. Der Wechsel der Erzählperspektive von der ersten zur dritten Person Singular erinnert an das Spannungsverhältnis zwischen dem erzählten und dem erzählenden Ich in Tufan. Klar ist, dass das erzählte Ich erlebt und das erzählende Ich ref lektiert. Außerdem werden weitere, neue Figuren herangezogen, die nur aus dialogischen Gründen in die Geschichte eingeführt werden, und dann auch wieder verschwinden.364 Figuren haben in Kaltland keinen Namen, d.h. auch keine Identität. Sie sprechen dennoch und lassen zu, dass in der Erzählwelt mehr geredet wird als gehandelt. Die Geschichte im Kaltland beginnt mit der Abschiedsszene am Teheraner Busbahnhof. Schon im Bus berichtet die Erzählerin von dem Brief an ihren Vater. Aus dem Brief erfährt der Leser ziemlich genau den Eintritt der »Fremde« in die Erzählwelt, nämlich beim Überqueren der Grenze zwischen dem Iran und der Türkei bei der Stadt Erzurum. Die Bedeutung dieses Grenzübertritts wird umso wichtiger, als die Erzähle-

362   TORKAN: Kaltland, 1984, 9. 363 Die Vater-Tochter-Beziehung korrespondiert mit der Vater-Sohn-Beziehung in dem Film Salami Aleikum. In beiden Fällen wird die Figur des Vaters als Instanz hervorgehoben, die versucht, durch die Herstellung eines kulturellen Kontexts das Werden der Identität an eine kulturhistorische Identitätsarbeit anzuschließen und dabei eine Kontinuität zu schaffen. 364   Dies tritt am deutlichsten in einem stillen Gespräch zwischen dem Ich und der dritten Person Singular zu Tage, als diese nach der Lebensgeschichte des Ich fragt (TORKAN: Kaltland, 1984, 35).

3. Mediale Bilder interkultureller Identitätsarbeit

rin ihrem Vater gesteht, sie wolle nie wieder in den Iran zurückkehren.365 In München beginnen die Erfahrungen der Erzählerin mit der Bundesrepublik und reichen dann bis nach Hamburg, ihrer zukünftigen Heimat-Stadt. Ausschlaggebend für die Identitätsarbeit ist die Konstruktion der Räume der Fremde und Heimat, die von der Erzählerin selbst verortet und durch Erfahrungen semantisch gefüllt werden. Die Erfahrungsmomente, die in den einfachsten Alltagssituationen gemacht werden, schildern zum einen, wie sich das Fremde in der Erzählperspektive zum Eigenen transformiert und zum anderen wie diese Transformation auf der Adressatenebene der Gesellschaft auf Ignoranz stößt. Dies gilt als die Herausforderung der interkulturellen ausgestatteten Erzählwelt in Kaltland. Sie schildert Momente von Stereotypisierung und Vorurteilsherstellung, aus denen Exklusionsmechanismen erwachsen. Diese werden in Kaltland nicht nur inhaltlich, sondern auch strukturell hervorgehoben: Stereotypisierende Beschreibungen stehen zu Beginn jedes Kapitels und dienen als sein Motto. Ein Beispiel aus dem Gespräch zwischen der Erzählerin und ihrem Chef, verdeutlicht dies: »Wissen Sie, was das ist«, fragt der Chef, und fährt fort: »ein Lift«. »Wie heißt es in Ihrer Sprache? Kennen Sie überhaupt Fahrstühle? … Ja, wissen Sie, ich habe ja keine Vorstellung von Ihrer Heimat … Ich dachte nur, Sie kennen keinen Fahrstuhl, weil Sie immer die Treppe bevorzugen …«366 Diese Gesprächssituation exemplifiziert den Versuch, jeden individuellen Schritt zu kulturalisieren und daraus implizit ein Vorurteil oder auch ein Stereotyp herzustellen, um dem Gesprächspartner seine vermeintlich kulturelle Rückständig vor Augen zu führen und sich seine eigene kulturelle Überlegenheit zu beweisen. In Wirklichkeit aber gibt der Chef sein eigenes Nichtwissen preis und konstruiert sein Fremdes. Kennzeichnend für die Erzählwelt von Kaltland sind also Images, Stereotype und Vorurteile. Der Perser als der Orientale, die Orientalen als Lügner,367 die Orientalinnen als sexualisierte Objekte368 und die Orientalen ohne Deutschkenntnisse gehören zu diesen Klischees. Das Wechselspiel mit dem Bild des Orientalen und des Persers und die negative Einbettung des Perser-Bildes in der Mehrheitskultur durch die Sprache zeigt, wie schnell »bewegliche Stereotyp-Konglomerate«369 bei der Produktion von Feindbildern eingesetzt werden. Ref lexionen über die kulturalisierende Identitätsbestimmung von TORKANs Erzählerin in Kaltland werden auf eine Stereotypenmenge reduziert. Diese Form der Identitätsbestimmung gibt im sozialen Verhalten des Individuums eine Rückzugsmöglichkeit auf zweifache Weise. Das Individuum fühlt sich innerhalb einer als interkulturell konstruierten Kommunikation ausgegrenzt. Diese Ausgrenzung von außen führt zu einer bewussten Ausgrenzung des Individuums durch sich selbst, weil es innerhalb dieser Kommunikation gegen Stereotype und Vorurteile keinen Ausweg sieht:

365   TORKAN: Kaltland, 1984, 10-12. 366   TORKAN: Kaltland, 1984, 81. 367 Ebd., 7. 368 Ebd., 27. 369  Thomé: Vorbemerkung, 2000, 2.

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Hinter den Vorhängen des Gefühls des Prinzips eines verschleierten Fensters des trüben Blicks Die gefärbte Liebe das geschminkte Gesicht das edle Benehmen Der Vorhang Der die brutale Hitze der Sonne in einer angenehmen Wärme widertäuscht […].370 Der Vorhang erfüllt zwei Funktionen: Er verbirgt und verwandelt. Seine Schutzfunktion zeigt sich insbesondere dort, wo er sich zwischen dem lyrischen Ich und der Welt spannt, wo er für die Sinne gebraucht wird, um sie zu schützen. Durch den Täuschungseffekt wird Brutales in Angenehmes umgewandelt. Im Motiv des Vorhangs wird so die Alltagsbewältigung symbolisiert. Der Vorhang wird auch zu einer Instanz der Zweideutigkeit. Eine Szene am Wahltag entlarvt den Täuschungseffekt und symbolisiert den Umgang der Erzählerin mit Stereotypisierungen. Sie besitzt inzwischen die deutsche Staatsbürgerschaft und begibt sich am Wahltag in ein Wahlbüro. »Sie dürfen nicht wählen!«, brüllt die Stimme der Aufsicht, »Wär’ ja noch schöner«; sie sei aber Deutsche, bekundet die Erzählerin: »›Zeigen Sie mal Ihren Reisepaß!‹ Genügt nicht auch der deutsche Personalausweis? ›Doch, doch … Aber sagen Sie mal? Sind Sie Deutsche auf Probe?‹«371 Das Motiv des Reisepasses kehrt hier zurück und dient als Basis zur Thematisierung der Einbürgerungsgeschichte der Erzählerin.372 Während bei SAID die Rückgabe des iranischen ›Nationalpasses‹ und die Annahme des deutschen Reisepasses die Frage nach der administrativen Identitätsarbeit mehr oder minder ›klären‹, geht die Erzählerin in Kaltland einen Schritt weiter, indem sie einen Zusammenhang zwischen den Motiven des Vorhangs und des Reisepasses herstellt: Beide bewirken nur einen täuschenden Anschein.373 An diesem täuschenden Anschein werden Identitätskonf likte erörtert. Stets wird die Erzählerin im Kontext einer binär eingeschränkten nationalen Vorstellung mit der Frage nach der Identität konfrontiert, sei es durch die Aufforderung des Einbürgerungsbeamten, sie solle sich einen westlich klingenden Namen wählen,374 sei es durch die anderen Iraner, die sie als »Mutterlandsverräterin« beschimpfen.375 Für die Erzählerin bedeuten Konf likte dieser Art, die sie beispielsweise bei der Wohnungssuche und bei der Betreuung ihres Kindes erlebt, Bekenntnis und Ref lexion zugleich: 370   TORKAN: Kaltland, 1984, 8. 371 Ebd., 125. 372 Ebd., 138, 144-146. 373 Ebd., 148. 374 Ebd., 138f. 375 Ebd., 147. Hier wiederholt sich SAIDs Kontext der Vereinsamung durch die Abwendung der politischen Freunde von der Ich-Figur.

3. Mediale Bilder interkultureller Identitätsarbeit

Ich bin Deutsche, und keiner merkt es. […] Wieso wird eine Ausländerin eine Deutsche? Wieso reist eine Ausländerin mit einem deutschen Ausweis? Wie haben Sie diesen Ausweis erworben? […] Werden Sie trotzdem in Ihre Heimat zurückgehen? […] Deutschland ist doch besser als Ihr Land, sonst würden Sie ja nicht Deutsche werden wollen! Wieso haben [S]ie einen ausländischen Vor- und Nachnamen?376 Durch die Thematisierung des Kulturenzwangs wird ein Fremdheitsgefühl konstruiert, das auf die Herstellung komplexer Beziehungen zwischen der dominanten Selbstauffassung und der Wahrnehmung der Öffentlichkeit in der Erzählwelt zurückwirkt.377 Nach diesem dialektischen Modell wird eine Schreib-Szene gestaltet, in der das Individuum und die Gesellschaft aufeinandertreffen. An ihrem Aufeinandertreffen entfaltet sich schließlich die kritische Erzählperspektive auf die gesellschaftlichen Missstände,378 auf die Brandanschläge und den Tod der Asylbewerber,379 auf die Diskriminierung380 und das Ausländerdasein381. Wie dieses dialektische Modell als Erzählstrategie konkret funktioniert, lässt sich an der Geschichte der Figuren Kurosch und Inge im Kapitel Eine andere Blindheit erörtern. Der Dialog namenloser Figuren wurde bereits als Kriterium in Kaltland hervorgehoben. In der Geschichte von Kurosch und Inge wird dieses Kriterium insofern geändert, als die Figuren dieser Geschichte einen Namen erfahren. Zudem wird durch sie die Liebe personifiziert. Zu den namenlosen Figuren bilden Kurosch und Inge daher eine Ausnahme, was die Relevanz ihrer eingeschobenen Geschichte auch unterstreicht. Ihre Liebesbeziehung und ihre Dialoge werden von der Erzählerin kommentiert. Durch das Kommentieren der Dialoge wird die Erzählperspektive des Geschehens in eine Metaperspektive umgewandelt. Auf diese Weise lässt die Erzählerin den Leser an ihrer eigenen Gedankenwelt teilhaben. Zum Zeitpunkt der Einführung dieser Geschichte ist die Erzählerin bereits seit elf Jahren in der Bundesrepublik. Der junge Kurosch, der zum Studium aus dem Iran in die Bundesrepublik gekommen ist, lernt hier Inge kennen, wird sie dann schwängern, Inges Druck nachgeben und sie schließlich heiraten. Allerdings wird Kurosch später in den Iran zurückkehren und sich von Inge scheiden lassen. In dieser gescheiterten Ehe lebt die gemeinsame Tochter von Kurosch und Inge, namens Nilufar, die ihr Leben zusammen mit ihrer Mutter in Deutschland verbringt. Nilufar bildet so das Pendant zu dem namenlosen Sohn Asars in Tufan. Beide sind Kinder mit einem deutschen und einem persischen Elternteil, beide sind in Deutschland geboren und gestalten auch hier ihre Selbst-Identifikationsversuche. Die Erzählerin beschreibt Kurosch als iranischen Schulabsolventen, der zwar eine iranische Freundin namens Siba hat, aber ständig von »blonden, vollbusigen, freizügigen Mädchen mit blauen Augen, milchweißer Haut und samtweichen Haaren« träumt.382 Die Anziehungskraft Europas auf Kurosch ist weder politischer noch kultureller Natur, sondern besteht in der sexuellen Attraktivität von »Blondinen«. Dass die 376  Ebd. 377  Bock: Nation als vorgegebene oder vorgestellte Wirklichkeit?, 2000, 11. 378   TORKAN: Kaltland, 1984, 67. 379 Ebd., 44. 380 Ebd., 88. 381 Ebd., 82. 382   TORKAN: Kaltland, 1984, 157.

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Wahl schließlich auf die Bundesrepublik fällt, hängt damit zusammen, dass Kuroschs Vater von einem Land gehört habe, »in dem es viel einfacher war, einen Studienplatz zu erhalten, als in anderen Ländern Europas«.383 Kaum steht die Entscheidung fest, wird Kurosch von einer »dumpf[en] Angst vor Europa«, von gemischten Gefühlen von »Freude und Befremden« und von der »Neugierde auf das Unbekannte« heimgesucht.384 Unterbrochen wird die Geschichte Kuroschs von der Inges, und die Erzählperspektive wechselt vom Iran in die Bundesrepublik: »Inge hatte noch nie etwas vom Iran gehört«.385 Mit diesem Satz werden Kurosch und Inge bereits zu Beginn in kulturell ontologische Kontexte eingebettet, um diese später zu relativieren. Polemisiert wird der Binarismus durch mangelnde Kenntnisse der Figuren über den jeweils anderen sogenannten ›Kulturraum‹. Zu Kuroschs Bild von Europa wird Inges Sicht auf den Iran beschrieben: Orient – das hatte sie schon einmal mitbekommen. Aber wo das liegt, Orient, das wußte sie nicht. Früher hatte sie einmal geglaubt, Orient sei ein Land und liege in der Wüste, irgendwo in Afrika. Sie wußte: Orientalen sind primitiv, sie haben keine Straßen und keine Autos. Das wußte sie. Mehr nicht. Sie hatte auch gar keinen Anlaß, mehr wissen zu wollen.386 Mit Anspielungen auf den Orient wird das Stereotyp des ›Orientalen‹ nun im konkreten Blick Inges wieder belebt und in einem kulturhistorischen Kontext der Stereotypenbildung verortet.387 Zwei Vorstellungswelten stehen einander gegenüber. Ihre Konstruktion dient, wie das Zitat auch zeigt, zur Determinierung einer Reihe von Merkmalen, die für die eine oder für die andere Kultur als vermeintlich charakteristisch gelten sollen. Gegen die Stereotype wird dann die Wirklichkeit der jeweiligen Lebenssphären geschildert. Interessant ist die literarische Darstellung dieser Momente deshalb, weil sie nicht nacheinander erzählt werden, sondern ineinander übergehen. Kuroschs Familie gehört zur wohlhabenden Mittelschicht mit einem stabilen und sorgenfreien Leben im Iran: Kuroschs Vater war seit langem General. Das war nichts Außergewöhnliches in einem Land, in dem die meisten Absolventen der Militär-Akademie nach Ablauf vorgegebener Fristen wie selbstverständlich den Rang eines Generals erlangen. Die Frau des Generals hatte einst, wie die meisten Frauen ihres Standes, auch die Reifeprüfung abgelegt, ohne jedoch je daran gedacht zu haben, später zu studieren.388 383 Ebd., 159. 384 Ebd., 160. 385 Ebd., 162. 386  Ebd. 387   Siehe zu dem kulturhistorischen Aspekt der Stereotypisierung Hahn et al.: Nationale Stereotypen, 2004, 17-56. 388   TORKAN: Kaltland, 1984, 161. Die Vaterfigur als General kommt sowohl in SAIDs als auch in TORKANs Werk vor. Zusammen mit dem Film Salami Aleikum betrachtet, in dem Mohsens Vater zwar kein General ist, aber ebenfalls dem Militär angehört, erweist sich der Vater als Militärfigur als beliebtes Motiv.

3. Mediale Bilder interkultureller Identitätsarbeit

Ebenfalls aus der Mittelschicht stammt Inges Familie. Inges Vater, Achim, ist Kaufmann und soll die Kriegsgeneration, Gefangenschaft, Heimkehr und Wiederauf bau Deutschlands repräsentieren. Bereits hier stehen zwei Kontexte einander gegenüber: das etablierte Leben von Kuroschs Familie und das sich im Auf bau befindliche Leben von Inges Familie. Die Unterscheidung der Familienkontexte ist gravierend. Im Gegensatz zum ruhigen Leben von Kuroschs Familie hat Inges Familie einiges erlebt: Achim sei ein Kriegsveteran, der nun vom »Rausch des Wiederauf baus« mitgerissen wird und versuche, als Lastwagenfahrer »schnelles Geld zu machen«.389 Auf einer seiner Fahrten lernt Achim seine zukünftige Frau, Hannelore aus Magdeburg, kennen. Erweitert wird dieses Bild um ein spezifisch deutsches Phänomen: […] Hannelore wohnte in dem geteilten Land auf der verkehrten Seite – im Westen war alles besser. Der Kindertraum vom reichen Mann ließe sich nur erfüllen, wenn sie einen von drüben kennenlernen würde.390 Die Liebes- und Familiengeschichte von Achim und Hannelore beginnt mit einer Begegnung in einem Restaurant an der Transitstrecke der Fahrer aus dem Westen. Das Ergebnis dieser Ost-West-Ehe ist Inge, die nun eine ›Haarschneiderlehre‹ abgeschlossen hat und in einem renommierten Salon in ihrer Heimatstadt arbeitet. Außer Italienern, die sie wie ihr Vater Itaker nennt, kennt Inge keine anderen Ausländer. Eines Abends begegnet ihr in ihrem Stammlokal ein Ausländer, der irgendwie anders ist als die Übrigen. Inge »wäre nicht auf die Idee gekommen, daß er Ausländer sei«.391 Die Flirtszene von Kurosch und Inge im Tanzlokal endet in der Inges Fremdheitserfahrung, denn »bis zum Ende ihres Tanzes übte sie kichernd: »Kuros … Kurus … Kuroch … Kurosch«.392 Neben dem Namen wirkt Kuroschs Akzent auf Inge befremdlich. Kurosch und Inge gehen eine Beziehung ein, und einige Tage später erfährt Inge auch Kuroschs Herkunft, »und sie glaubte, Iran und Irak seien das gleiche, sie wußte nun, daß Iran im Orient liegt, daß Orientalen nicht nur Araber sind, daß er [Kurosch] hier studieren wolle«.393 Mit dem Iran verbindet Inge das Bild von »Ali Baba«394 und ihre eigene Abneigung gegenüber Perserinnen: Zwar kannte sie keine Perserinnen, an deren Verhalten sie ihre unbestimmte Abneigung hätte begründen können, aber, sie wußte nicht warum, sie lehnte Perserinnen ab. Sie glaubte zu wissen, Perserinnen seien untertänige, eingeschüchterte Wesen, immer verschleiert, sie bekämen den Mund nie auf in Gegenwart eines Mannes, dumm seien sie und unterentwickelt und unterdrückt. Inge fühlte sich emanzipiert, wenngleich sie nicht konkretisieren konnte, was das überhaupt sei. In Europa sind die Frauen emanzipiert! Aber im Orient?395

389 Ebd., 163. 390 Ebd., 164. 391 Ebd., 166. 392 Ebd., 168. 393  Ebd. 394 Ebd., 176. 395 Ebd., 186.

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Zu Inges Interesse an Kurosch, das sich zuallererst auf seine Herkunft konzentriert, wird Kuroschs Interesse an Inge in Opposition gesetzt; es ist rein erotischer Natur; im Kopf hat er nur »Liebelei, Zärtlichkeit und Umarmung«: Er wußte, daß sie Inge heißt, sie hat wasserblaue Augen, ihre vollen festen Brüste erregten ihn, und ihre zarte Haut verband er in Gedanken mit der Vorstellung von frischer Milch. Sie sollte damit innehalten, ihr weiches blondes Haar noch einmal zu färben, und sie sollte es auch nicht mehr hochstecken, seine Finger wollten darin spielen.396 Inge wird schwanger und erst hier gesteht sie ihrer Mutter die Beziehung zu Kurosch. Hannelores Sorge liegt allerdings nicht darin begründet, dass Inge noch minderjährig ist, dass sie vielleicht einen reichen Perser heirate und in den Iran ziehe, sondern in der Frage, wie sie all das Achim beibringen solle; »Ihr Mann war nun einmal so, er kann […] Ausländer einfach nicht ausstehen«;397 und ein »Ausländer käme ihm als Schwiegersohn niemals in das Haus«.398 Von nun an werden kulturelle Dichotomien, Stereotype und Vorurteile diese Romanze immer stärker beeinträchtigen. Anhand von Achims Einstellung werden negative Ausländerbilder durchgearbeitet. Dagegen sind Hannelores Vorstellungen positiv. Sie hat nämlich eine Freundin, die oft ihr Zimmer an persische Studenten vermietet: »Sie kannte also die Perser und konnte nur Gutes über sie berichten«;399 gastfreundlich, großzügig, zuverlässig und pünktlich sind die positiven Attribute. Diese Beschreibungen führen bei Hannelore zum festen Entschluss, »diesen interessanten jungen Mann, ihren zukünftigen Schwiegersohn, so bald wie möglich kennenzulernen«.400 In ein positives Stereotyp wandelt sich Achims Vorstellung vom Iran um, nachdem er sich mit einem seiner Kollegen über die Beziehung seiner Tochter ausgetauscht hatte. Der Kollege gibt ihm einen Schnellkurs in ›Irankunde‹ und erklärt ihm, Teheran sei die Hauptstadt Irans, dort herrsche die Monarchie, der Schah sei mit der Deutsch-Iranerin Soraya verheiratet, die feinsten Teppiche kämen aus Persien und schließlich besitze das Land Öl. Die Vorstellung, dass Kurosch Inge einen solchen Reichtum schenken könne, verändert den Blick von Achim und Inge auf diese Beziehung; negative Stereotype werden nun durch positive ersetzt.401 Die Veränderung von Achims und Inges Einstellung führt im Verlauf der Erzählung zur Erkenntnis über die Modifizier-

396 Ebd., 168. 397   TORKAN: Kaltland, 1984, 172. 398 Ebd., 173. 399 Ebd., 175. 400 Ebd., 176. 401   Auf eine ähnliche, jedoch umgekehrte Weise wird in Tufan verfahren. Bei seinem Besuch in Deutschland fotografiert Tufan »mit eifriger Sorgfalt alles, was häßlich, arm und elend« aussieht (TORKAN: Tufan, 1983, 103). Auf Asars Frage nach dem Grund erwidert Tufan: »Es ist an der Zeit, dass man bei uns eine andere Art von Ansichtskarten aus Europa erhält – nicht immer nur die Sonnenseite dieses Kontinents! Das andere Gesicht Europas! Ein Gesicht, das jenem Bild entspricht, welches sich Menschen hier vom Orient machen … Sei ehrlich: Seitdem du hier lebst … Hast du je einem Film gesehen über die vornehmen Villen in Teheran? Die prunkvollen Paläste im Norden der Stadt oder am Kaspischen Meer? Nein! Slums … Slums, immer nur Slums!« (ebd., 98).

3. Mediale Bilder interkultureller Identitätsarbeit

barkeit der Fremdheit, indem diese als ein graduelles, veränderbares und perspektivisches Phänomen konstruiert wird: Als Achim die Wohnungstür aufgeschlossen hatte, er trug eine Schnapsfahne vor sich her, knurrte er Hannelore an, Inge solle ihren Freund für Freitag abend mit sich hierher nach Hause bringen! Mehr sagte Achim nicht, und Hannelore rutschte vor Freude das Herz in den Schoß. Nun würde alles wieder gut werden.402 Für Kurosch ist Inge nur eine f lüchtige Affäre; an das Heiraten hatte er nie gedacht. Von ihrer Schwangerschaft überrascht, verweigert er die Annahme von Inges Einladung nach Hause, worauf hin Inge ihm gesteht, sie sei minderjährig und dass sie ihn ins Gefängnis bringen könne. Der Erpressung nachgebend, leistet Kurosch in Begleitung eines Freundes schließlich Inges Einladung Folge. Beim ersten Besuch ist er beklommen und der Stereotypisierung von Inges Eltern im Hinblick auf Alkohol und Schweinef leisch hilf los ausgeliefert.403 Auf Essen und Trinken als ein weiteres Verfahren des Stereotypisierens spielen, sei hier ergänzend erwähnt, Asar und Tufan auf eine ähnliche Weise an. Es geht hauptsächlich um das Bild eines Muslims als Projektionsf läche für eine iranische Identifikation. Dieses Bild wird insbesondere durch das Verbot von Alkohol und Schweinef leisch durch Asar hergestellt und durch Tufan aufgelöst, denn dieser verzichtet auf Schweinef leisch nicht aus religiösen, sondern aus medizinischen Gründen.404 Die Anspielung auf Entstehung und Auf lösung von Stereotypen bekräftigt in diesem Fall die Annahme über den starken Zusammenhang von kultureller Stereotypisierung und Nicht-Wissen.405 Auf Nicht-Wissen basieren sowohl in Tufan als auch in Kaltland die Konstruktionsvarianten der Fremdheit bei der individuellen und kulturellen Identitätsarbeit. Insgesamt scheint die Fremdheit in Kaltland und Tufan nicht überwindbar zu sein, sondern lediglich differenzierbar. Sie ist in ihnen keine Definitionskategorie, sondern ein Topos, der aufgegriffen wird, um die Relativität der Perspektive auf die individuelle und kulturelle Identifikation zu thematisieren. Asar ist sich der Notwendigkeit historischer Bezüge der Identitätsarbeit bewusst und schildert diese Notwendigkeit im kollektiven Kontext der Familie. Dieser Kontext wird durch die weibliche Perspektive dominiert. Auf diese Weise werden Familienmitglieder aus der Perspektive der Mutter beschrieben: Asseman, euer Vater hat drei ausgeprägte Eigenschaften – in jedem von Euch dreien hat er sie gerecht verteilt: Erstens, sein Sinn für die Heilung. Das hat Darja von ihm ge402   TORKAN: Kaltland, 1984, 176. 403 Ebd., 179-181. – Dieser ersten für Kurosch beklemmenden Begegnung mit Inges Eltern wird die erste Begegnung von Inge und Kuroschs Eltern gegenübergestellt, als Inge mit ihrer Tochter Nilufar sie im Iran besucht. Auch in ihr entsteht Fremdheit, sie ist jedoch einer wohltuenden Art: »Inge wurde wie eine Porzellanfigur behandelt, gestreichelt wurde sie, bewundert. Das gefiel ihr. […] Es tat gut, von Gleichgeschlechtern nicht bekämpft und konkurriert zu werden, wie sie es vom Friseurladen her gewohnt war. […] Seitdem sie hier war, hatte sie für ihre Verhältnisse wie eine Königin gelebt (ebd., 193). 404   TORKAN: Tufan, 1983, 58f. 405  Honold: Das Fremde, 2006, 21-38; Heimböckel: Interkulturalitäts- als Nichtwissensforschung, 2012, 35-39.

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erbt! Zweitens, sein Sinn für die Rettung der Menschheit. Widerstand leistet er gegen die Willkür des Regimes. Tufan ist hierin sein Erbe! Drittens, sein Sinn für Schwermereinen [sic!] und Begierden. Ausschweifend führte er sein Leben – er dichtete und sang und musizierte und schwelgte im Genuß von Sucht und Sünde. Das hat er Asar vererbt!406 Zugleich erkennt Asar aber auch, dass die Identifizierung auf der Basis historischer Phänomene nur dann die Gegenwart der Identitätsarbeit beeinträchtigt, wenn diese auf die Geschichte reduziert wird. Erst hier entsteht das Fremdheitsgefühl, das nur überwunden werden könnte, als die Figur bereit wäre, es in der erinnerten Vergangenheit – dem Ort der Geschichte (Chiellino) – zu verorten. Die Distanzierung von der ›Vergangenheit‹ ermöglicht den Blick in die Gegenwart in einem neuen Land, das Asar »bezauberte« und in ihr »Abscheu und Ekel zugleich hervorrief«.407 Kaltland und Tufan zeigen im Rahmen temporärer und lokaler Nähe- und Distanzverhältnisse, dass je stärker die Konfrontation mit dem Umfeld ist, umso stärker auch der Wunsch nach einer Identifikation ist. Hierbei wird Fremdheit als Bestandteil des Identifizierens und nicht als sein notwendiger Gegen-Entwurf begriffen. Gerade Asars Eindrücke vom Iran und von der Bundesrepublik bestätigen, dass für Asar das Fremde nicht in der Bundesrepublik liegt, sondern im Iran, in dem Tradition und Moderne, das Iranische und das Europäische aufeinanderprallen. Während Fremdes und Eigenes in Tufan als Bestandteile kulturellen Identifizierens gelten, scheint ihr Verhältnis in Kaltland vielmehr individueller Art zu sein. Am deutlichsten kommt dies im Gespräch zwischen der Erzählerin und ihrem Kind zum Vorschein: »Mein Kind, warum halte ich, je mehr du deutscher werden willst, desto intensiver an den Fetzen des Persertums fest?«408 Das Deutsche und das Persische verneinen sich nicht, sondern werden in eine Relation zueinander gesetzt, aus der die Reaktion auf den Rückgang des Persischen in der nächsten Generation ableiten lässt. Diese Relation wird in der Geschichte von Kurosch und Inge in einen sozialen Rahmen eingebettet. Die Generation der Kinder tritt in der Jetztzeit der Erzählung auf. Wenn diese Generation nur bedingt eine plurikulturelle Identifikation aufweist, sich von der Ursprungskultur der Eltern abwendet und kein Persisch spricht, so deutet sie auf die zukünftige Entwicklung hin. Die Kinder in Tufan und Kaltland weisen unmissverständlich auf den generationsbedingten Vollzug der Identitätsarbeit hin. Sie repräsentieren in der zweiten Generation keineswegs das Bild einer ›Identität auf Probe‹. Während die Figur des Kindes in Tufan den familiären Kontext und Verwandtschaftsgrad zwischen Onkel und Neffen herstellt, ist sie in Kaltland schon ein deutscher Staatsbürger. Die Figur des Kindes markiert also den Übergang von der einen zur der anderen Generation. Dieser Übergang wird in der eingeschobenen Geschichte von Kurosch und Inge strukturell positioniert und thematisch erörtert. In Kaltland dienen ferner die überwiegend namen- und so auch identitätslosen Figuren dazu, Fremdheit insofern als Bestandteil der Identitätsarbeit zu betrachten, als hier eine Erzählwelt entworfen wird, in der, so in Nachwort, die Geschichte eines »Volkes aus aller Welt« erzählt wird, »das ohne Heimat ist«.409 Gemeint ist das Volk der 406   TORKAN: Tufan, 1983, 104. 407 Ebd., 109. 408   TORKAN: Kaltland, 1984, 85. 409 Ebd., 218.

3. Mediale Bilder interkultureller Identitätsarbeit

Migranten. Die Prototypen dieser Erzählwelt tragen nach der Metaphorik von SAIDs Kunstmärchen Es war einmal eine Blume ihre historischen Wurzeln mit sich und pf lanzen sie in einen neuen Boden, der ihnen ihre unterschiedliche Gegenwart verleiht: SAIDs Ich ist vereinsamt und versucht, sich in der Sprache zu vergegenwärtigen. Diese Verwirklichung erfolgt in TORKANs Schreib-Szene durch die Positionierung der Kind-Figur. Der intertextuelle Zusammenhang ihrer Erzählungen lässt die Erkenntnis zu, dass es sich bei Asar in Tufan und bei der Erzählerin in Kaltland um die gleiche weibliche Hauptfigur handelt. Während sie in Kaltland die Geschichte der Ausreise aus dem Iran und der Ankunft in der Bundesrepublik erzählt, setzt sie diese Geschichte in Tufan fort. Sie repräsentiert Vergangenheit und Gegenwart, während die Kind-Figur in der Gegenwart verankert wird und die Zukunft gestalten soll. Die Geschichte der Mutter erfährt sie nur aus ihrer Erzählung: Mami, woher kommst du? Aus Persien. Mami, was bist du? Eine Perserin. Mami, woher komme ich? Aus Persien, du bist aber hier geboren. Mami, wo ist hier? Deutschland. Mami, bin ich Deutscher? Nein, ein Perser. Mami, bist du Deutscherin? Nein, Perserin. Mami, was spreche ich? Deutsch. Ich muß aber anders sprechen, sagt das Fräulein. Warum? Mami, sie sagt, ich bin kein Deutscher und ich muß anders sprechen. Du sprichst aber deutsch. Ich muß anders sprechen, sie glaubt mir nicht, wenn ich deutsch spreche. Sie sagt, die Ausländer sprechen anders. Sie will wissen, was ich spreche. Mami, warum spreche ich nicht ausländisch?410 Ähnliche Züge weist auch Nilufar auf: Nach der Trennung von Kurosch und Inge lebt Nilufar bei ihrer Mutter in der Bundesrepublik; von Persien und Perser-Sein will sie nichts mehr wissen. Sie verkörpert in dieser Phase ihres Lebens eine Figur, die ihre Identitätsarbeit nicht von der Identifikation durch ihre Eltern abhängig macht, sondern individuell entscheidet: Eines Tages stand er [Kurosch] vor der Tür, wollte die Tochter besuchen. Er grüßte sie mit seinem Gruß, und sie erwiderte, er möge mit ihr nicht persisch sprechen, das habe sie längst schon verlernt … Nein, sie wolle auch nicht zurück, die Verwandten in Persien zu sehen … Er solle sie nicht mit Tonbandkassetten mit den persischen Liedern beschenken, dieses Katzengejammer ertrage sie nicht […].411 Nilufar erklärt sich dazu bereit, in den Iran zu reisen, aber nur unter der Bedingung, dass sie wieder in die Bundesrepublik zurückkehrt, aber dann »kam die Nachricht von der Revolution. Der Kontakt war abgebrochen. Nie mehr seither hat Inge von Kurosch oder über ihn irgend etwas gehört«.412

410 Ebd., 84. 411 Ebd., 217. 412  Ebd.

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3.5.2 Erfahrungsmomente der Identitätsarbeit Ein Rückblick erlaubt, einen wesentlichen Bereich einer interkulturellen Schreibweise hervorzuheben. Motive und Symbole, an denen sich diese Schreibweise entwickelt, lassen in der Befindlichkeit des Individuums im Spannungsverhältnis individueller und kultureller Identifikation einen gemeinsamen Bezug erkennen. Dieses Individuum verortet sich in zwei Varianten. Entweder ist es selbst ein Migrant, oder lebt in der zweiten Genration und wird mit Migration konfrontiert. SAIDs und TORKANs Ich-Figuren verkörpern die Migranten-Figur. Im deutsch-iranischen Migrationsgedächtnis widmet sich TORKANs Werk erstmalig ausführlich dem Aspekt der Genration und konfiguriert eine Erzählwelt, in der beide Varianten des Individuums aufeinandertreffen und die Aufmerksamkeit auf die Generation und auf ihre möglichen Konf liktbereiche lenken. Die Literatur um die Mitte der 1980er Jahre kündigt in der Figur des Kindes das Auftreten einer neuen Generation an. Diese Generation erlebt die historische Möglichkeit ihrer Identifikation nicht mehr unmittelbar; sie kann sie im besten Falle vor dem Horizont erzählter Erinnerungen der vorausgehenden Generation nur noch erfahren. Die Geburt als literarisches Motiv symbolisiert einen Schwellenraum von Erfahrungsmöglichkeiten eines Individuums, das seinen historischen Bezug nicht leugnet, sich aber genauso wenig auf seine Geschichte reduzieren lässt. Diesem Individuum obliegt die Entscheidungsfreiheit. In der Erzählwelt wird am Motiv der Geburt und an den individuellen Erfahrungsmöglichkeiten eine Gegenwartsperspektive eröffnet, an der die Wende von einer vorgestellten und erhofften zu einer erfahrbaren und erlebten Welt erst gestaltet und diese dann durch eine mögliche Zukunftsperspektive erfasst wird. An der Figur des Migranten und dessen Erinnerungsarbeit wird diese Umwandlung personifiziert, an der Figur des Kindes und dessen Identifikation die mögliche Zukunft. Im deutsch-iranischen Migrationsgedächtnis wird der Erinnerungsakt zugleich zu einem Akt der Transformation. Die exemplarische Schilderung der Übergänge und Transformationen in einer interkulturell ausgestatteten Erzählwelt bildet den Schwerpunkt in Mohammad Hossein Allafis literarischem Werk. In seinem Roman Leyla. Auf der Suche nach Freiheit führen männliche und weibliche Figuren nicht nur einen Geschlechter-Diskurs, sondern konstruieren auch den Wandel von der Tradition zur Moderne bis hin zu deren Verfall auf der Folie der Islamischen Republik. Zur Darstellung dieses Prozesses kontrastiert Allafi die Generationen von Großeltern, Eltern und Kindern. An dem Aspekt der Generation entsteht zuerst das kollektive Gedächtnis im Fokus der Erzählung; zugleich wird durch die Erinnerungsarbeit und durch die Jetztzeit von Figuren ein Spannungsfeld zwischen Tradition und Moderne geschaffen. In diesem Spannungsfeld wird über das Schicksal der Figuren entschieden. Die abwechslungsreiche Erzählwelt wird durch Allafis Protagonisten erlebt; das gemeinsame Merkmal ist das Scheitern, das in Allafis Werk eines der wesentlichen Erzählthemen bildet. Das Scheitern als literarisches Motiv stellt den intertextuellen Bezug zur Schreib-Szene von SAID und TORKAN her und kommt in den früheren Werken mit dem Bezug auf den Iran und die Iraner im Kontext der soziokulturellen Zerrissenheit vor. In den späteren Erzählungen und Romanen wird dieses Motiv aber auch im Zusammenhang mit Lebenserfahrungen in Deutschland semantisch gefüllt. Allafis frühere Erzählungen handeln vom Iran und dem iranischen Kurdistan, die späteren wenden den Blick auf

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die wiedervereinte Bundesrepublik. An den zahlreichen Motiven und Symbolen in Allafis Erzählungen bilden sich insgesamt drei Paradigmen: das religiös-fanatische, das gesellschaftspolitische und das demokratisch-freiheitliche.

3.5.2.1 Das religiös-fanatische Paradigma Allafis Werk thematisiert Identität auf der Grundlage literarischer Ref lexionen über das Scheitern als individuelle Erfahrung. Krise und Konf likt machen die wesentlichen Momente dieser Erfahrung aus. Die Erfahrungsmomente werden in ihrem Höhepunkt durch das Motiv des Todes symbolisiert. Der Tod dient als intertextuelles Motiv der Schreib-Szene und macht prinzipiell das Ende der Handlung aus. In dieser Hinsicht greift Allafi auf ein Motiv zurück, das seit Die Leiden des jungen Werthers, verstärkt jedoch im poetischen Realismus Theodor Fontanes413 zum Motivinventar der deutschsprachigen Literatur zählt. Der Tod profiliert sich als einziger Ausweg des Individuums aus seiner Identitätskrise und so als Symbol für einen Zustand, der zumindest in der ausgestatteten Erzählwelt keine Aussicht auf eine Zukunft hat. Der Ausweg bedeutet in diesem Fall keine Rettung, sondern vielmehr eine Beendigung. Allafis Figuren werden in den frühen Texten durch Iraner später aber auch durch Deutsche besetzt; ihr Scheitern wird dann in den allgemeinen Bereich individueller Erfahrung gehoben, der durch die Interaktion der Figuren in der sozialen Gestaltung der Erzählwelt gebildet wird. Die Beziehung des Individuums zu seinem sozialen Umfeld steht nicht selten unter der Diskrepanz des Ethnischen und des Nationalen. Eine Figur, die zunächst provinziell aufwächst und sich nach Kriterien der ethnischen Zugehörigkeit positioniert, gerät dann in den Metropolen in Situationen, in denen das Ethnische immer mehr an Relevanz verliert. An diesem Spannungsverhältnis erörtert die Erzählwelt auch die Identitätsarbeit. Allafis Figuren sind bisweilen schweigende Mitläufer, manchmal zerstörende Rebellen, bald enttäuschte Kämpfer, bald ref lektierende Intellektuelle. Was sie gemeinsam haben, ist ihre vermeintliche Machtlosigkeit gegenüber prägenden Strömungen. Vermeintlich ist diese Machtlosigkeit nur deshalb, weil die sorgfältig ausgewählten Figuren durch ihren individuellen Widerstand die Machtlosigkeit in Rebellion gegen soziokulturelle Zustände umwandeln und dabei erfolglos nach einem Alternativmodell suchen. Dieses Modell soll schließlich für das Individuum selbst ein Ausweg sein. Die fanatische Rebellenfigur tritt in Nalan. Ein Mensch ohne Gnade auf und wird durch den männlichen Protagonisten Nalan verkörpert, dessen Weltanschauung von Grausamkeit und Gewalt geprägt ist. Nalans Dominanz wird in einem Wechsel von auktorialen und Ich-Erzählsituationen erfahren. Die Erzählgrundlage bilden Erinnerungen: »Ich musste zurückkehren, zu mir selbst. In meine Vergangenheit«, bekundet Nalan zu Beginn der Erzählung und kommentiert: Dieser Drang zur Rückkehr kam von selbst […]. Die Vergangenheit, meine Vergangenheit, konnte nicht schön gewesen sein, sie war auch nicht schön, so mindestens werden die anderen es sehen. Entsetzlich war sie, werden sie sagen. Ich wurde ganz bis zum Ursprung zurück und noch einmal durch mein Leben hindurch getrieben. Ich spüre al413  Aust: Theodor Fontane, 1998. Das Motiv des Todes wird beispielsweise in Ef fi Briest (1896) zweimal bedient: einmal durch das Duell zwischen Innstetten und Crampas und ein anderes Mal durch Effi Briest selbst.

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les wieder, in jeder einzelnen Zelle meines Nervenkostüms. Ich fühle alles, alles wieder, und zwar bewusst.414 Die Anregung zur Erzählung gibt der Tod von Nalans Mutter Farkhondeh: »Dass das Ableben einer Frau meine Lebensgeschichte so radikal, so brutal durcheinander bringen würde, dass es einen Schlusspunkt setzen würde, das hätte ich nicht im Traum gedacht«.415 An der Figur der Mutter erfolgt Nalans Erinnerungsarbeit. Auf eine Spurensuche, die nach Deutschland führt, vollzieht sich Nalans interkulturelle Profilierung. Der Name Nalan, erfährt der Leser, ist eine entstellte Variante von Nathan. Nalans Geschichte geht auf eine Begebenheit zurück, die sich in der kleinen Gemeinde Bitterbach in der Familie Schurkenmeier abgespielt haben soll. Mit Bitterbach wird ein fiktiver Ort an der deutsch-niederländischen Grenze konstruiert, »aber in Wahrheit«, fügt Nalan selbst hinzu, »war das Dorf ein schwäbisches Dorf und lag irgendwo in Baden-Guttenberg, man sprach von der Gegend als dem Arsch der Welt«.416 Die Einwohner von Bitterbach werden als »Kleingeister« bezeichnet, denen jede Art des Umgangs mit anderen Leuten fehle. Bemängelt wird in der »Kleingeister«-Stadt die soziale Lage, die kulturelle Konf likte vorprogrammiere: »Sie waren nicht in der Lage, irgendeinen Fremden in ihrer Gemeinde aufzunehmen, selbst wenn er aus dem Nachbardorf kam«.417 Frau Schurkenmeier bringt im Taxi mit Hilfe eines iranischen Arztes ein Kind zur Welt. Es sollte eigentlich Nathan heißen; der iranische Arzt, der den Namen des Kindes dokumentiert, versteht aber Nalan: Es war eines der seltsamen Erlebnisse seines Lebens. Als der Arzt das Formular ausfüllte, fragte er Nalans Mama, wie der Kleine heißen solle […]. Da sie durch die plötzliche Geburt und das andauernde Geschrei des Babys fast am Ende ihrer Kräfte war, brachte sie nur mühsam und irgendwie undeutlich etwas hervor. »Nathan«, sagte sie leise, »Nathan«. […] Im Geschrei des Babys verstand der Arzt jedoch »Nalan«, denn Nalan heißt auf persisch jemand, der grundlos jammert und schreit, also Jammerlappen oder Schreihals.418 Der exotische Klang dieses Namens macht das Kind schon bei seiner Geburt zu etwas Außergewöhnlichem. Seine Besonderheit wird weiterhin dadurch verstärkt, dass die Einwohnerzahl des Dorfes mit Nalans Geburt auf 5001 steigt. Dass Nalan im Verlauf seiner Entwicklung als eine Figur charakterisiert wird, die das Dorf leben unerträglich findet, auswandert und beschließt, ein Wanderer zu sein, macht ihn zu einem Einzelgänger. Mit der Geburt als Motiv und Nalan als Figur wird die eigentliche Binnengeschichte einer deutschen und einer iranischen Familie erzählt, die ebenfalls ein Kind namens Nalan hat. Der Vater des iranischen Nalan erfährt »in einer Erzählung oder in einem

414   Allafi: Nalan, 2009, 6. 415 Ebd., 5. 416 Ebd., 21. – Die Ortsnamen sind wie der Name Nalan selbst ein Wortspiel. 417 Ebd., 22. 418 Ebd., 24.

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Märchen« von der Geschichte des deutschen Nalan und erzählt sie seiner Frau.419 Die Umstände, unter denen der iranische Nalan geboren wird, sind ebenfalls merkwürdig wie die, unter denen der deutsche Nalan einst geboren wurde: Er wird unerwartet mit einer »frühzeitigen Sehnsucht nach dieser Welt« in einem Taxi geboren.420 Die plötzliche Geburt verbindet die Geschichten des deutschen und des iranischen Nalan. Die frühzeitige Sehnsucht nach dieser Welt hat für den iranischen Nalan allerdings Folgen, die die Erzählung dann prägen. Seine Eigenschaft besteht hauptsächlich in der Vorliebe für die Ausübung von »Missetaten«,421 die mit der Ermordung seines Vaters beginnen.422 Weil Nalan weiß, »wie man seinen Lieben Schmerzen zufügt«,423 bekommt er die Spitzennamen »Nalan der Gemeine« und »Nalan der Schreckliche«,424 der als »Unglücksbringer«425 auch den »Todesengel […], allerdings nicht in Gottes Auftrag«426 spielt. Bei ihm war »alles verkehrt, was verkehrt sein konnte«.427 Als einziger Junge unter drei Mädchen entwickelt sich Nalan zu einem gewaltliebenden Rebellen, der gegen jegliche Normen vorgeht und seine individuellen Ziele berechnend, herrisch und gewaltsam erreicht. In ihm sind die Merkmale eines Mutter-Sohn-Komplexes wie Hass und Rache als Triebkräfte zu sehen: Zum ersten Mal spürte ich Schmerzen, Schmerzen tief in meinem Kopf, die durch das gewaltsame Ziehen der Hebamme verursacht wurden. Ich erfuhr, wie Gewalttätigkeit Schmerzen verursacht, wie man völlig legitim wie diese Hebamme Gewalt anwendet. Dort beschloss ich und schwor mir, dass aus diesem meinem Kopf Gedanken, Ideen und Pläne hervorgehen würden, die den anderen Schmerzen bereiteten.428 Sein einsames Leben und seine Verschlossenheit gegenüber der Außenwelt verstärken sich, als seine Mutter beschließt, einen anderen Mann zu heiraten und nach Teheran zu ziehen. Mit dem Umzug wird Nalan aus einer vertrauten Umgebung herausgerissen, was die Gewaltbereitschaft in ihm weiter verstärken sollte;429 in der Großstadt komme er sich nämlich »verlorener als sonst« vor.430 Der Umzug und der Beginn von Nalans Pubertät fallen zusammen und verstärken Nalans Identitätskrise nun in der Großstadt. Die Einsamkeit in der Großstadt bewegt Nalan dazu, aus der »Klemme dieser Familie auszubrechen«.431 Der Ausbruch aus der Familie bedeutet zugleich den Beginn von Nalans krimineller Entwicklung, die sich von nun an über die Schulzeit

419 Ebd., 28. 420 Ebd., 22. 421 Ebd., 5. 422 Ebd., 29. 423 Ebd., 7. 424 Ebd., 21. 425 Ebd., 29. 426 Ebd., 5. 427 Ebd., 31. 428 Ebd., 18f. 429 Ebd., 56-61. 430 Ebd., 61. 431 Ebd., 62.

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bis hin in die Universitäts- und Ausbildungsjahre hinzieht. Aus ihm wird ein Mensch, der unter verschiedenen Masken und Namen die Kunst des Betrugs ausübt und sich an allen Geschäften vom Schmuggel bis hin zur Fälschung von Doktortiteln und Visa beteiligt.432 In Nalans Entwicklungsjahren bildet der Universitätsbesuch die Pointe. Hier setzt er sich mit seiner Identitätsarbeit vor allem im politischen Kontext im Iran der Revolutionszeit auseinander. Der Rebell Nalan betrachtet die Universität als »Experiment«, das ihm verstehen hilft, wie die Masse zu führen sei, wie »Manipulation und Täuschung« funktionierten433 und welche Bedeutung diese bei der politischen Machtergreifung besitzen.434 In diesem experimentellen Feld des Politischen vollzieht sich Nalans Identitätsarbeit in einem Spannungsfeld von Ideologie und Politik, wobei die Frage nach der Umsetzung ideologischer Konzepte in den politischen Alltag Nalans Umgang im sozialen Milieu prägt. Mit der Positionierung Nalans in diesem Spannungsfeld thematisiert Allafi die Hochschule als Ort der Kulturevolution in der Islamischen Republik. Der Zeitraum von Nalans Universitätsbesuch fällt mit dem Anfang der Revolution zusammen. Nalan, der zu Beginn seines Studiums vorhat, »das Bildungssystem in die Lächerlichkeit zu ziehen«,435 wird zum Prototyp des intriganten Revoluzzers, der seine Macht darin sieht, zwei große Studentengruppen mit äußerster Gewalt aufeinander losgehen zu lassen: »Die Bilanz war akzeptabel: sechs Tote, zweihundert Verletze, darunter sechzehn schwer«.436 Im Spannungsfeld von Ideologie und Politik dient Nalan als Personifikation eines Systems, das die Masse in den Prozessen gegen die demokratischen Strukturen einer Zivilgesellschaft und für die Verbreitung ideologischer Ziele mobilisiert. Nalans »betrügerischer Versuch« liegt darin, »die Menschen zugunsten einer bestimmten Interessengruppe funktionstüchtig zu machen«.437 Mit fünfundzwanzig Jahren entdeckt er sein Talent, für »Unruhe und Angst unter den Massen« zu sorgen: Von rassistischen Sprüchen bis zur religiösen Hetze reichte mein Repertoire. Mal griff ich die Schwarzen an, mal die Weißen, mal tobte ich gegen Asiaten als Schlitzaugen und kleinwüchsige Wesen […]. Die Amerikaner betrachtete ich als Stellvertreter des Teufels auf Erden, die Europäer als hinterhältige Pfennigfuchser, die auf Dauer nichts anderes im Sinne hatten, als die Menschheit auszurauben.438 Während Nalan sich bereits als Kind ›Herrn des Hauses‹ nannte, wird er nun zum »Führer sämtlicher Scharen von Menschen mit sehr verschiedenen Aufgaben«,439 um das Volk zu erobern. Er wird der neue Führer »eines der ältesten Länder der Erde, einer Kulturnation«; wer in Verdacht gerät, die Ruhe zu stören, muss eliminiert wer-

432 Ebd., 121. 433 Ebd., 134. 434 Ebd., 154. 435 Ebd., 133. 436 Ebd., 131. 437 Ebd., 133. 438 Ebd., 139. 439 Ebd., 146.

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den, lautet seine Maxime.440 Dass ihm jedoch der Versuch, seiner Führer-Identität gerecht zu werden, misslingt, spiegelt sich in seiner plötzlichen Krankheit wider. Die Krankheit quält ihn, und er selbst kann wohl zum ersten Mal in seinem Leben den Qualen nicht Stand halten: Quälen wollte ich mich nicht mehr. Denn mit einem Mal waren mein Leben, meine Existenz, nichts als eine Qual für mich. Ich sah als Strafe für mich nichts anderes als meine eigene Beseitigung, die Todesstrafe.441 Er entscheidet, sich auf einem öffentlichen Platz aufzuhängen; damit endet auch seine Geschichte. Dass Allafi seinen Protagonisten auf diese Weise sterben lässt, deutet er auf das Scheitern seiner Figur hin, die zeit ihres Lebens nur das Ziel des Manipulierens, Beherrschens und Zerstörens verfolgt. Die Figur stirbt, jene ›Kulturnation‹, die sie zu beherrschen und zu zerstören versuchte, jedoch nicht. Nalans Charakterisierung scheint bestimmten soziologisch durchdachten Figurationen zu folgen, denn die Geschichte, in der sich der Protagonist entfaltet, wird nach dem sozialen und zweckrationalen Handeln in der Soziologie Max Webers in Wirtschaf t und Gesellschaf t (1921-1922) konstruiert. Dieser Konzeption folgt auch der Soziologe Matthias Junge und diskutiert das Scheitern als Teilbereich des sozialen Handelns. Junge betrachtet das Scheitern als »Negation der Handlungsfähigkeit« und schlägt zwei Typen des Scheiterns vor: das temporäre und das absolute Scheitern.442 Scheitern als soziale Erfahrung wird demnach auf der Grundlage der Handlungsmöglichkeit eingeschätzt: Während nach temporärem Scheitern noch gehandelt werden kann, besteht nach absolutem Scheitern keine Handlungsmöglichkeit mehr. Das Scheitern im sozialen Handeln spielt als Konf liktnarrativ in der kulturellen Organisation von Zeit eine Schlüsselrolle.443 Sowohl SAIDs Ich-Figur als auch TORKANs Hauptfiguren erfahren insofern ein temporäres Scheitern, als sie sich danach immer noch in der Lage sehen, »Verfügungsmöglichkeiten für Handeln«444 auszuschöpfen. Ihren Momenten des Scheiterns gemein ist die Erfahrung der Revolution als sozialer, politischer und nicht zuletzt kultureller Umbruchphase, des Verlusts von Idealen und schließlich auch der Migration. Modellierungen dieses Scheiterns resultieren aus dem Ungleichgewicht des Verhältnisses von Individuum und Kollektivum. Anders agiert Nalan: Er versucht, seine Geschichte von Anfang an durch autonomes Handeln zu gestalten. Seine Vorgehensweise zeigt, dass jeder seiner Schritte auf den eigenen Erfolg bedacht ist. Sein absolutes Scheitern ist Folge seiner Unfähigkeit, den Geschichtsverlauf zu verändern. Das Nicht-Bestimmen-Können wird für ihn, der seine Handlungsmöglichkeiten stets auszuschöpfen weiß, zu einer ›Qual‹, der er nur durch den Tod ein Ende setzen kann.445 Nalan lässt sich ausgehend von seinem eigentlichen Namen Nathan zwar als Allusion 440 Ebd., 151. 441 Ebd., 161. 442   Junge: Scheitern, 2004, 16f, hier 16. 443  Koschorke: Wahrheit und Erfindung, 2012, 236-248, hier 236. 444   Junge: Scheitern, 2004, 16. 445   SAIDs und TORKANs Figuren setzen ihre Identitätsarbeit mittels anderer Handlungsmöglichkeiten fort. Von weiteren Handlungsmöglichkeiten ist in Nalans Geschichte nicht die Rede. Allerdings würde sich die Ansicht über ein Ende der Identitätsarbeit relativieren, würde man den Tod selbst

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zu Lessings Nathan verstehen, zugleich aber auch als Ironie, denn Allafis Nalan setzt seine Freiheit nicht zum Wohl der Menschheit ein, sondern nutzt sie, um Menschen für seine Zwecke zu manipulieren und ihnen letztlich auch zu schaden. Es ist die Erfahrung des Scheiterns, welche die Figur Nalan für Allafis Werk auf eine bestimmte Weise charakteristisch erscheinen lässt. Allafis Werk beschreibt das absolute Scheitern als Folge einer ideologisch-politischen Niederlage. Die Erfahrung des Scheiterns wird erzählerisch zwar im Iran dargestellt; die Darstellungen aber überschreiten die kulturspezifischen Grenzen. Mit Nalan und Nathan wird eine interkulturelle Erzählwelt modelliert, welche die poetische Botschaft von der europäischen Auf klärung zum islamischen Fundamentalismus umwandelt. Bei dieser Umwandlung spielt der Protagonist Nalan als ›Führer‹ die herausragende Rolle. Durch die Problematisierung des Protagonisten in dessen Entwicklungsjahren führt Allafi einen literarischen Diskurs über das grenzüberschreitende Phänomen eines radikalen ›Führers‹ und dessen Scheitern. Er problematisiert das Scheitern im Kontext eines sozialen Umstands, der am Ende der Erzählung in der Mobilisierung der Massen zur Umsetzung einer politischen Ideologie zum Vorschein kommt. Innerhalb dieses Kontexts wird Nalan zu einer Figur, welche die Islamische Republik zu einem Synonym für Kultur- und Menschenverachtung macht. Noch konkreter wird das Thema des religiösen Fanatismus in Allafis Erzählung Verloren (1996), in der zugleich die Perspektive der Identitätsarbeit auf die Geschlechterverhältnisse erweitert wird, durch die wiederum der Übergang zum Roman Leyla. Auf der Suche nach Freiheit (2005) hergestellt wird.

3.5.2.2 Das gesellschaftspolitische Paradigma Den kulturellen Kontext der Geschichte einer jungen Kurdin in Verloren bilden die Turbulenzen im Iran entlang zweier Themenbereiche des Politischen und des Ethnischen. Der Ausgangspunkt der Geschichte in Verloren ist Nassrins Wohnung an einer Straßenkreuzung im Norden Teherans. Die Wohnung wird von einem bärtigen Mann observiert, der später als Kahwehe, der Bruder von Nassrin, vorgestellt und in das Geschehen einbezogen wird. Neben Nassrin wird die Geschichte durch das mit ihr befreundete junge Ehepaar Mehrdad und Shiwa gesteuert; diese beobachten ebenfalls die Wohnung und zugleich den bärtigen Mann, weil sie in ihm einen Spitzel der Regierung und Nassrin dessen Gefahr ausgesetzt vermuten. Durch diese Figurenkonstellation bereits zu Beginn des Geschehens lässt sich die Mischung von Erzählsituationen erkennen. Nur dort, wo es um die Präzisierung oder um das Kommentieren des Geschehens geht, ergreift der Erzähler selbst das Wort.446 Die Zeit des Geschehens fällt in die post-revolutionäre Epoche Irans, was durch die Begriffe Hisbollah und Pasdaran als staatliche Überwachungsorgane sowie durch den Bezug auf den Irak-Iran-Krieg schnell deutlich wird. Hinzu kommt der sogenannte Kurdenkonf likt als innenpolitischer Komplex. Durch den Physiker Mehrdad wird der politische Kontext gebildet. Wegen seines politischen Engagements wird er aus dem Schuldienst entlassen, findet dann durch Beziehungen bei einem genossenschaftlichen Großhändler eine Arbeit und lernt Nassrin kennen, die über Beziehungen dort ebenso eine Arbeitsstelle finden konnte. »Die als Identitätsarbeit betrachten. Siehe zum Tod als Teilbereich der Identitätsarbeit Klessmann: »Das Ganze ist das Unwahre«, 2012, 188. 446   Siehe beispielsweise Allafi: Verloren, 1996, 21.

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Genossenschaftsmitglieder brachten den Kurden große Sympathie entgegen«.447 Damit wird das soziopolitische Ungleichgewicht durch die ethnische Verbindung zwischen Mehrdad und Nassrin personifiziert. Diese Verbindung entfaltet sich zu einem Motiv der ethnischen Identitätsarbeit. Mehrdad und Nassrin kommen aus Sanandaj, der Hauptstadt des iranischen Kurdistans. »Vielleicht könnte man sagen, was uns so rasch einander nähergebracht hat, ist unsere kurdische Herkunft […]«.448 Die ethnische Identifizierung wird durch den Rückgriff auf das gängige Modell der politischen Identifizierung im Iran ergänzt: Mehrdad und Nassrin sind Kommunisten. Neben das ethnische Kriterium der Identifikation tritt das politische. Das Klischee des Kurden-Kommunisten wird nicht ohne Grund konstruiert. Auf die Verhaftung dieser Gruppe konzentrierten sich die Garden der Islamischen Republik im besonderen Maße, was auch durch die Angstsituation und die Rolle des bärtigen Mannes zu Beginn des Romans präfiguriert wird. Wie eng die ethnisch-politische und die familiäre Situation bei der Gestaltung der Erzählperspektive miteinander verf lochten sind, wird durch Mehrdads Frau, Shiwa, deutlich; an dieser Figur gehen die öffentlich-politischen und privat-familiären Bereiche ineinander über.449 An den Darstellungen über Nassrins Geschichte im zweiten Kapitel vollzieht sich das historische Erzählen, das der Erzähler in einen Dialog zwischen Nassrin und Shiwa integriert. »Ich erzähle und erzähle«, spricht Nassrin zu Shiwa; »für mich besteht das Leben aus diesen Erinnerungen, es ist mein Leben, gewiß nicht das ganze, aber das Entscheidende«.450 Das Entscheidende in Nassrins Leben gründet auf ihre politische Überzeugung, den Sozialismus und Kommunismus. Ihre Überzeugung isoliert sie von der Familie und den Freunden und macht aus ihr innerhalb der Erzählung ein Pendant zu SAIDs und TORKANs Protagonisten. Wie diese entfernt sich auch Nassrin im Laufe der Geschichte immer weiter von ihren sozialistischen Überzeugungen: »die Familie ist für mich tot, und eine politische Meinung habe ich nicht mehr. […] Phantasie, Idealvorstellungen von einer humanen Gesellschaft ohne Armut, die gehören zur Euphorie der Jugend«.451 Die Euphorie der Jugend bezieht sich auf Nassrins politische Aktivitäten in den Jahren 1979 und 1980 in Kurdistan sowie auf den bewaffneten Kampf gegen die staatliche Zentralregierung und mündet schließlich in die Flucht aus Sanandaj nach Teheran, wo Nassrin bei befreundeten Genossen Unterschlupf findet.452 Ihren Status in Teheran bezeichnet sie ironisch als »illegal«, weil sie als Iranerin sich ohnehin überall im Lande auf halten darf;453 sie müsse sich »der Öffentlichkeit hundertprozentig anpassen«, bekundet sie.454 Für Nassrin als kurdische Iranerin entwickelt sich das große, wilde und erbarmungslose Teheran zu einem Ort der Anonymität und Identitätslosigkeit,455 nicht weil sie kurdisch ist; mit der Anonymität wird auf die Eigenschaft der Großstadt angespielt. 447 Ebd., 14. 448 Ebd., 24. 449 Ebd., 19. 450 Ebd., 78. 451 Ebd., 25. 452 Ebd., 28f. 453 Ebd., 35. 454 Ebd., 36. 455 Ebd., 13, 16.

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Nassrins politische Identitätsarbeit besteht sowohl darin, die sozialistischen Ideen aufzugeben, als auch im verstärkten Maße darin, ungeachtet des Erinnerungsorts zwischen Sanandaj und Teheran über die sozialistischen Ideen in der Politik kritisch zu ref lektieren. Nassrin thematisiert das Scheitern des sogenannten sozialistischen Musterbildes und problematisiert zugleich die sozialistisch gefärbten Grundideale der Gesellschaft. Dabei hebt sie hervor, wer die Vertreter der sozialistisch Grundideale, d.h. auch der linken Idee waren: reiche und wohlhabende Menschen, deren Leben auf dem Kapital gegründet war; Menschen, die ohne zu arbeiten, über Reichtümer verfügten; Menschen, die nach dem Misserfolg der Islamischen Revolution das Land in Richtung des ihnen einst verhassten Amerika oder nach Deutschland verlassen haben.456 Nassrins politische Identitätskrise ist kein spezifisch iranisches Phänomen, sondern stellt exemplarisch das grenzüberschreitende Scheitern einer Ideologie dar. Die Kritik an der Ideologie der »sozialistischen Gerechtigkeit«457 wird in Shiwas Munde gelegt: »Ich weiß ja, [dass] ihr alle die größten Schwätzer wart. Ihr wolltet dem Volk helfen […] und dann habt ihr – nicht nur gegenüber einzelnen Menschen, sondern auf der ganzen Linie – versagt«.458 Die geschlechtsspezifische Dimension dieses Versagens kommt im Symbol des Frauen-Tages zum Ausdruck. Am achten März, dem internationalen Frauen-Tag, treffen zwei politische Figuren aufeinander: Nassrin als Vertreterin der Sozialisten und Jabar als Vertreter einer rückständigen Gesellschaft. Jabar schätzt zwar Clara Zetkin, Alexandra Kollontai und Rosa Luxemburg, stellt sich jedoch gegen den heutigen Feminismus, weil »seine Verfechterinnen den Klassenkampf nicht in den Mittelpunkt stellten, sondern sich hauptsächlich bürgerlichen Forderungen widmeten«.459 Zwei politische Ideologien, die einen internationalen Kontext besitzen und den vermeintlichen Gesellschaftsdiskurs im revolutionären Iran prägen, prallen hier aufeinander: Feminismus und Klassenkampf. Der Letztere wird im Kontext des Kapitalismus erörtert, der in der Erzählwelt durch zwei Gruppen repräsentiert wird: Die Familie von Amir, einem Freund von Nassrin, vertritt keine politische Idee und wird nicht intensiv besprochen. Die konservative, fromme und anti-linke Gruppe, die durch Jabars Familie repräsentiert und in die Ideologie der Islamischen Republik integriert wird, bildet ihr Gegenstück. Jabars Vater besitzt Geld und Immobilien, ist ein im Staat einf lussreicher Großgrundbesitzer.460 Aus Nassrins Sicht ist er ein »Moralapostel«,461 der als »Vorkämpfer für islamisches Recht und Ordnung«462 zwar Moral predigt, selbst jedoch außerhalb moralischer Grenzen agiert. Seinen Sohn Jabar lässt er verhaften und foltern, treibt ihn letztlich sogar in den Selbstmord. In Jabar sieht Nassrin einen klugen Weggefährten, zu dem sie sich hingezogen fühlt. Der Ort ihrer Schwärmerei ist die Demonstration am achten März.

456 Ebd., 115. 457  Schami: Sophia, 2015, 47. 458   Allafi: Verloren, 1996, 4. 459 Ebd., 47. 460 Ebd., 94. 461 Ebd., 96. 462 Ebd., 114.

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Symbolisch ist der achte März als politische »Bühne«463 deshalb, weil Nassrin an diesem Tag die öffentlich-politische Sphäre zugunsten eines privaten Lebens mit Jaber verlassen wird. »Ich war«, bekennt sie, »offen gestanden nicht ganz bei der Sache. Meine Gedanken kreisten fast die ganze Zeit nur um Jabar«.464 Nassrin heiratet Jabar, verliert ihre Arbeit und wird Hausfrau. Von ihrem politischen Geist, ihren sozialistischen Idealen und ihrem Feminismus ist in dieser Zeit kaum etwas geblieben. Eine Frau, die sich für soziales Leben, Freiheit und Gleichberechtigung eingesetzt haben will, befindet sich nun im Kerker konservativer und frommer Lebensführung. Dieser Wandel stürzt sie in eine Identitätskriese, die sie als Kurdin in Teheran zuallererst auf die Sprache projiziert: Die persische Sprache schien mir mit einem Mal fremd, und noch fremder, als ich mir vorstellte, nun immer persisch sprechen zu müssen, meine Gefühle, meine Liebe und alle Intimitäten nun durch persische Vokabeln ausdrücken zu müssen. Die persische Sprache, mit der ich jahrzehntelang in der Schule, in Zeitungen, in Radio und Fernsehen vertraut war, erschien mir jetzt als Problem. Ich hatte mein Leben in Teheran die ganze Zeit als vorübergehenden Zustand, als provisorisch angesehen. Jetzt war der Zeitpunkt gekommen, an dem ich akzeptieren mußte, es für immer hier zu verbringen. Ich würde mich in die verklemmten, persisch-bürgerlichen, teils durch den schiitischen Glauben getönten, teils durch westliche Einflüsse verformten, Verhältnisse integrieren müssen.465 Das einst Vertraute wird infolge ihrer Liebe zu Jabar verfremdet. Dies ist der Beginn von Nassrins Scheitern, solange sie in ihren Herkunftsschranken verharrt. Von Entfremdung und Identitätsverlust ist dabei die Rede, was sich insbesondere in der Interaktion mit Jabars muslimischer Familie zeigt: »Egal, mit wem von ihnen ich zusammen war, ich hatte immer das gleiche Gefühl der Fremdheit. Ich gehörte nicht zu ihnen, ich war Kurdin, noch schlimmer, ich war Kommunistin«.466 Das private Scheitern wird also politisch begründet, führt für Nassrin zu einem unlösbaren Identitätskonf likt und schließlich auch zu ihrem absoluten Scheitern, das durch Suizid beschrieben wird. Sie bekundet ihrem Bruder in ihrem Abschiedsbrief: »Manchmal denke ich daran, wie gut es damals [in der Prärevolutionszeit] war, man brauchte sich um nichts zu sorgen. Ja, Kahwehe, ich habe einen Weg beschritten, der mich die ganze Familie gekostet hat, und der mich auch jetzt mein eigenes Leben kostet«.467 Ähnliches gesteht sie im Gespräch mit Shiwa: Ja, […] mein Leben ist durch meine politische Tätigkeit – wie sagt man – aus der Bahn geworfen worden. Ich war, wie viele junge Menschen, von den neuen politischen Ideen begeistert, ja sogar bereit, mein Leben dafür zu opfern. Unsere Organisation ging […] damals in Kurdistan sehr schnell auf Konfrontationskurs mit der neuen Zentralregie-

463 Ebd., 54. 464 Ebd., 56. 465 Ebd., 70. 466 Ebd., 47. 467 Ebd., 12.

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rung. Ich gehöre zu den ersten, die Kurdistan verlassen mußten, um der Verfolgung zu entgehen«.468 Die Erfahrung des absoluten Scheiterns gewinnt in der Novelle Verloren eine geschlechtsspezifische und ethnische Note. Sie wird durch Nassrin und Jabar personifiziert, in den sozialpolitischen Kontext integriert und durch den Tod symbolisiert. Eine weitere Parallele zwischen Nalan und Verloren lässt sich im Motiv der Binnenmigration finden. In beiden Erzählungen bildet dieses Motiv den Erzählrahmen. In Allafis nächster Erzählung wird die Diskussion über Migration auf eine Dimension erweitert, indem die Migration zwischen dem Iran und der Bundesrepublik Deutschland thematisiert wird. Mit dieser Migrationserfahrung wird das demokratisch-freiheitliche Paradigma der Identitätsarbeit in Verbindung gebracht.

3.5.2.3 Das demokratisch-freiheitliche Paradigma Die Schreib-Szene der Identitätsarbeit in Allafis Werk unterscheidet sich in vielerlei Hinsicht von TORKANs Gestaltungsvarianten. Auffällig ist der Unterschied der Erzählperspektive, die in Allafis Erzählwelt über die religiöse und geschlechtsspezifische Ausprägung hinaus verstärkt einen demokratisch-freiheitlichen Modus erfasst. Im Roman Leyla. Auf der Suche nach Freiheit knüpft Allafi an die iranische Dichtung an und gestaltet seine Geschichte durch die Leyla-Figur aus der iranischen Legende von Leyla und Madschnun.469 Die Leyla in Allafis Werk repräsentiert den weiblichen Part einer unerfüllten Liebe, die ihrerseits das grundlegende Thema im Roman darstellt. Es spiegelt sich in drei weiblichen Figuren, die jeweils eine Generation repräsentieren. Sie erkennen in der Liebe einerseits ihre Gemeinsamkeiten und Differenzen und andererseits die Bedeutung der Liebe selbst. Auf diese Weise beschreibt die Figur Leyla nicht nur die Erfahrung des Scheiterns in einer unerfüllten Liebe, sondern durch ihren Bezug zu der iranischen Legende auch das kulturelle Gedächtnis dieses Scheiterns in der Literatur. Auf dieser intertextuellen Grundlage vollzieht sich die Literarisierung der drei weiblichen Figuren. Um ihr Kollektiv hervorzuheben, werden sie alle zunächst Leyla genannt. Ohne miteinander bekannt zu sein, teilen sie eine gemeinsame Geschichte des Unglücks und des temporären Scheiterns. Erst nach der Überwindung ihrer negativen Erfahrung konstruieren sie ihre eigene Identität, die durch die Namensänderung markiert wird. Allafi geht es zwar bei der Positionierung seiner Leyla-Figuren darum, Identität im Sinne eines Aushandlungsprozesses in einem dialogischen Geschehen literarisch darzustellen, dieser literarische Steuerungsmechanismus erschwert jedoch die Lektüre erheblich. Die Schwierigkeit besteht vornehmlich darin, dass sich die drei Leyla-Figuren zunächst kaum auseinanderhalten lassen, bis der Leser allmählich durch eine Reihe von nur sukzessiv gelieferten Figureneigenschaften sie voneinander unterscheiden lernt. Die Positionierung der Leyla-Figuren erfolgt im Kontext der iranischen Moderne mit Blick auf Freiheit und die freie Liebe als primären Themenbereichen und zeichnet unterschiedliche Zugänge zu ihnen auf. In dieser Strategie scheint der Verweis verborgen zu liegen, dass aus gemeinsamen kulturellen Erfahrungen individuell unter468 Ebd., 28. 469 Die Transkription der persischen Namen im Deutschen variieren. Aus phonetischen und graphemischen Gründen entscheide ich mich hier für die obige Schreibweise.

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schiedliche Konsequenzen gezogen werden können. Damit wird auf die Relativierung kultureller Zuschreibungen einerseits und auf die Kulturalisierung individueller Erfahrungen anderseits hingewiesen. Allein dadurch, dass die Anspielungen ungeachtet kultureller Räumlichkeiten bald im Iran, bald in Deutschland erfolgen und bei ihrer literarischen Ausarbeitung einen allgemein gültigen Anspruch erheben, wird die Infragestellung des ontologischen Verständnisses von individueller und kultureller Identitätsarbeit versucht. Es geht nicht um das bloße Benennen kultureller Differenzen, sondern um die Modifikationen angenommener Werte in kulturellen Transformationen. Allafis Beispiel hierzu ist die Freiheit, die sich in Leyla schnell als Erzählmotiv herauskristallisiert. In Deutschland ist die Freiheit anders als im Iran ein sozial verbindendes Kriterium; dennoch ist sie nicht absolut, sondern realisiert sich stets in der Abhängigkeit von definierten Einschränkungen. Allafis Leyla sieht Freiheit als ein kulturspezifisches Kriterium und thematisiert sie dort, wo sie am stärksten missachtet wird, d.h. im Bereich der Frauenrechte. Genau in diesem Aspekt unterscheidet sich Allafis Schreib-Szene von der TORKANs, denn diese verortet ihre weiblichen Figuren zwar in einem Kontext kultureller Gegebenheit, in die sie hineinwachsen und sich dagegen engagieren, sich über sie beschweren oder versuchen, ihr zu entf liehen; die Auswirkung ihrer Handlungen und Reaktionen bleibt jedoch auf den individuellen Bereich beschränkt. In Leyla verfährt Allafi so, dass der kulturelle Kontext sich selbst in Frage stellt. Dies zeigt sich dort, wo Einschränkungen der Freiheit überwiegen, und die absolute Freiheit zu einem utopischen Ideal wird. Im Spannungsverhältnis der gesetzlich garantierten und absoluten Freiheit wird schließlich die Migrationsgeschichte beschrieben. Auf diese Weise wird Migration weder wirtschaftlich noch exilpolitisch begründet, sondern orientiert sich an einem Wert, auf den die europäische Idee seit der Auf klärung gründet. Am Ende wird Migration als Erfahrung des Scheiterns geschildert, aber nicht wegen individueller Verluste oder Misserfolge, sondern wegen der Enttäuschung über das Fehlen der Freiheit als eines integralen Wertes der Demokratie. In die Diskussion über Freiheit f ließt das Ungleichgewicht der Geschlechterverhältnisse innerhalb von drei Generationen ein. Die erste Generation wird durch die Figur der Mutter repräsentiert. Sie ist zwar mit diesem Ungleichgewicht unmittelbar konfrontiert, sucht aber nie nach einem Ausweg, vielmehr arrangiert sie sich mit diesem Missstand. Der kritische Blick auf Alternativmodelle gesellschaftlicher Interaktion fehlt ihr gänzlich.470 Die zweite Generation wird durch die Figur der Tochter verkörpert. Diese Generation gibt den Anstoß zum kritischen Nachdenken über die bislang hingenommenen Konventionen und versucht, ihre Thematisierung immer stärker in das Zentrum gesellschaftlicher Debatten zu rücken. Die dritte Generation findet sich in der Figur des Kinds wieder. Sie ähnelt zwar Schilderungen der Kind-Figur in TORKANs Werk, besitzt aber bei Allafi die Fähigkeit, Normen und Konventionen in Frage zu stellen und Alternativmodelle für die kulturelle Kommunikation zu suchen. Mit Leyla werden Erinnerungen an ein früheres Leben personifiziert, aus denen die kulturelle Ähnlichkeit individueller Erfahrungen hervorgehen werden sollen. Mit dem Namenswechsel der Leylas geht der Übergang in den neuen Lebensabschnitt der weiblichen Figuren einher. Indem die Leylas ihren Vornamen wechseln bzw. ändern, 470   Diese Generation korrespondiert in ihrer sozialen Haltung mit derjenigen in TORKANs Werk.

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erwerben sie die Fähigkeit, Historisches und Gegenwärtiges zugleich zu repräsentieren und dabei ihre Identitätsarbeit zu steuern. Analog zu den Leyla-Figuren ist die Erzählperspektive anfangs auf Erinnerungen gerichtet, wechselt aber fortlaufend zwischen Erinnern, Erfahren und Erleben. Vergangenheit und Gegenwart wechseln sich dort ab, wo die Geschichte der Leyla-Figuren jeweils in die Gegenwart der Erzählung übergeht und so die Relevanz eines früheren Lebens bei der Identitätsarbeit veranschaulicht. Die Gegenwart der Erzählung wird zwei Jahre nach dem Tod von Kaiwan Golbepas Vater festgelegt. Kaiwan ist die männliche Hauptfigur, aus deren Sicht der Leser die Leyla-Figuren kennen lernt; ihre Lebenswege kreuzen sich in seinem Leben. Die Geschichte des tödlichen Unfalls seines Vaters wird zwischen die Szene der Trauer um Kaiwans Mutter Shirin und die Bekanntgabe der Todeszeit eingeschoben. Damit steht der Tod als Motiv nicht wie sonst bei Allafi am Ende, sondern bereits zu Beginn der Erzählung und deutet einen Wendepunkt an. Shirin, die Mutter von Kaiwan, ist eine der weiblichen Figuren, die ihr früheres Leben gleich zu Beginn der Erzählung als eine »Welt der Träume und Ängste«471 beschreibt. Als Mutter-Figur vertritt sie in der Frauenkonstellation die erste Generation. Mit ihrem Mann, dem Traktorfahrer Firuz, der bei einem selbstverschuldeten Unfall starb, lebte sie in einem einfachen Lebensstil in der iranischen Stadt Kermanschah.472 Die zweite Generation wird durch den Arzt Kaiwan und seine Freundin Leyla repräsentiert. Kaiwan ist unter den drei Söhnen der Familie das jüngste und das einzig im Lande gebliebene Kind.473 Seine Brüder haben den Iran zum Medizinstudium in den Vereinigten Staaten verlassen. Sie, an deren Rückkehr nach dem Studium die Mutter nie gezweifelt hatte, vertreten die erste Generation der iranischen Migranten: Sie wollten auch tatsächlich nicht dort bleiben, doch die späteren Ereignisse in ihrem Mutterland wie die Revolution, Kriege und vor allem die gesellschaftliche Repression und die Schikanen durch die neuen Machthaber veranlassten sie wie viele andere ihrer Landsleute, ihr ehemaliges Gastland als zweite Heimat beziehungsweise Wahlheimat anzunehmen.474 Kaiwan unterhält eine heimliche Beziehung zu Leyla, heiratet aber später Tawus und nimmt Shirin nach dem Tod seines Vaters bei sich in Teheran auf. Er und Tawus verkörpern das Bild einer wohlhabenden Familie mit einem sorgenfreien Leben in der iranischen Hauptstadt. Kaiwans zunächst heimliche Treffen mit Leyla vor seiner Ehe mit Tawus und dann die Ehe mit Tawus markieren die zeitliche Grenze zwischen dem präund post-revolutionären Iran; die Schilderung ihrer Lebenswege verleiht dem Roman eine kulturelle Färbung am Übergang von der Monarchie zur Islamischen Republik: Sie berührten auf der Höhe des Autositzes ihre Hände so, dass man es von außen nicht sah, und drückten sie herzlich. Sich mehr als diese bescheidene Geste zu erlauben, war an öffentlichen Orten des islamischen Gottesstaates höchst riskant. […] Es war schon ein wenig unheimlich, denn die Angst vor den islamischen Sittenwächtern war da, 471   Allafi: Leyla, 2005, 5. 472   Kermanschah liegt im Westen Irans an der Grenze zum Irak. 473   Allafi: Leyla, 2005, 23. 474 Ebd., 143f.

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wenn auch nicht allzu groß, insbesondere in den Köpfen der nicht mehr ganz Jungen wie Kaiwan und Leyla.475 Mit diesen verfänglichen Momenten werden andere in den Bergen nördlich von Teheran kontrastiert, wo das Gefühl der Freiheit noch ungestört erlebt werden kann: »Sie schnupperten aneinander unter dem wolkenlosen Himmel des Gottesstaates, in dem die falschen Gottesmänner das Leben der Menschen zur Hölle zu machen gedachten«.476 Im Gottesstaat musste man sich zu jeder Zeit und an jedem Ort im Griff haben. Der freie Lauf der menschlichen Gefühle konnte gefährlich werden, denn die falschen Gottesmänner hatten weder für die Menschen noch für die den Menschen von Gott gegebenen Schönheiten Verständnis.477 Die kontrastive Verortung der Geschichte erfüllt einen entscheidenden Zweck: Sie lenkt den Blick auf die Spaltung der Verhältnisse, auf das theokratisch-fundamentalistische Regime und auf die freiheitsliebenden Bürger. Der situativ organisierte Blick auf das Liebespaar dient der Selbstpositionierung des Erzählers insofern, als dieser sich in die Interaktion der Figuren einmischt, um seine Kritik an der Islamischen Republik zu äußern. Wie die oben zitierte Stelle auch zeigt, wird der Verlauf der Geschichte immer wieder durch die Einmischung des Erzählers unterbrochen. Unterbrechungen erfolgen beispielsweise auch dort, wo es dem Erzähler darum geht, individuelle Lebensabschnitte gesellschaftlich und kulturell zu verorten, um aus der Gegenüberstellung die sozialen Defizite abzuleiten. Ein prägnantes Beispiel ist die Polarisierungsstrategie Leylas und Tawus’ Dialog: Ihr [Tawus’] Vater war von Beruf Lehrer gewesen, der nach seinem Rauswurf durch die Islamisten zunächst arbeitslos war und dann als Gemüsehändler arbeitete. Auch in Teheran war er für einige Zeit beschäftigungslos, doch später konnte er als Busfahrer bei einem Bekannten arbeiten. Er war ein durchaus bescheidener Mann und klagte kaum über sein Schicksal, wenn es auch lange Zeit gedauert hatte, bis er sich mit dem Tod seiner Frau abfand.478 Ihm steht der andere Vater als fundamentalistische und regimetreue Figur gegenüber, die seine Tochter zu einer Zwangsheirat nötigt, um aus dieser Ehe politischen Gewinn zu schlagen. Bei der Positionierung der Vater-Figuren spielt der Erzähler auf das Verschwinden einer gebildeten Mittelschicht durch die ›Kulturrevolution‹ und auf das Auf kommen des theokratischen Konservatismus an. An die Stelle dieser Mittelschicht tritt eine ›Masse‹, die – es sei an die Figur Nalan erinnert – ihre ›Qualifikation‹ nicht in Bildung sah, sondern in ihrer Mitwirkung in der Revolution. Sie bestand teils aus Mujaheddin, teils aus den Linken und Schariati-Anhängern und teils aus religiösen Fanatikern. Diese Gruppe entdeckte relativ früh die Gesellschaft und eroberte sie 475 Ebd., 14. 476 Ebd., 15. 477 Ebd., 16. 478 Ebd., 61.

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schließlich zugunsten der islamischen Fanatiker.479 Der Übergang von einer modernen zu einer fanatisch-islamischen Gesellschaft wird in Leyla mit »dieser so genannten neuen Zeit«480 bezeichnet. Der kulturelle Umbruch bewirkt einen individuellen Wandel der Figuren. Dieser wird erzählerisch in den Kontext des Wiedersehens integriert. Beim ersten Treffen nach monatelanger Sehnsucht begegnet Kaiwan eine Frau »eingehüllt in einen hässlichen dicken schwarzen Schleier«.481 Momente der Angst, Überraschung und Sprachlosigkeit steigern die Spannung dieses Wiedersehens; das war »seine Leyla, diese verstümmelte Frau«, die »Gram und Pein dieses Landes in sich konzentrierte«.482 Im Dialog zwischen Kaiwan und Leyla erfahren er und der Leser gleichzeitig von der bevorstehenden Zwangsehe, die durch Leylas eigenen Vater und den Vater des potentiellen Ehemannes, Hossein, angebahnt worden ist. Mit dieser Ehe bezweckt Leylas Vater die Beförderung seines Bruders in ein Amt in der Islamischen Republik. Mit dieser Zwangsehe beginnt jedoch ein Geheimnis, das durch eine sorgfältige Positionierung der Figuren innerhalb ihres sozialen Umfelds für Spannungsmomente sorgt. Sie beginnen mit Kaiwans Erinnerungen an die Treffen mit Leyla vor ihrer Zwangsehe: Oftmals fuhr er in der Umgebung des Ministeriums, in dem Leyla arbeitete, herum, in der Hoffnung, sie dort am Feierabend oder früh morgens beim Betreten des Gebäudes zu sehen. Allmählich begann er jedoch, sich mit dem Verlust von Leyla abzufinden. Denn es blieb ihm keine andere Wahl. Leyla wurde für ihn zu einem Traum, den er jeden Abend ohne zu schlafen träumte.483 Kaiwans Erinnerungsarbeit ref lektiert die Geschichte einer außerehelichen Beziehung und die Erfahrung der Heterosexualität zweier junger Menschen. Diese Erfahrung ist innerhalb der Erzählwelt insofern zentral, weil sie die Identitätsarbeit von weiblichen und männlichen Figuren prägt. Die Erfahrung der Sexualität stellt auch den Bezug zwischen den drei weiblichen Figuren (Shirin, Tawus und Leyla) her. Zunächst wird ein Gespräch zwischen Shirin und Tawus konstruiert, dem der Leser entnimmt, dass auch Tawus Angst vor einer Blamage in der Hochzeitsnacht habe, weil sie keine Jungfrau mehr sei.484 Die fehlende Jungfräulichkeit und die gesellschaftliche Entwertung der Frau finden ihre kritische Resonanz in der Geschichte von Tawus und Leyla, die in Shirin ihren historischen Ref lexionsbereich haben. Shirin gesteht Tawus nämlich, dass sie »vor vielen Jahren, in anderen Zeiten« ebenfalls »ein ähnliches Schicksal«, jedoch »mit anderen Folgen« erlebt habe; »beinahe ein halbes Jahrhundert« sei nun vergangen.485 Shirin hatte eine außereheliche Beziehung zu einem islamischen Geistlichen. Sie trafen sich regelmäßig in einer Moschee, bis sie eines Tages vom Hausmeister entdeckt wurden. Er denunzierte Shirin in der Gemeinde und bei ihrem Vater.

479  Wahdat-Hagh: Die Islamische Republik Iran, 2003, 124-157. 480   Allafi: Leyla, 2005, 61. 481 Ebd., 42. 482 Ebd., 43. 483 Ebd., 39f. 484 Ebd., 62-64. 485 Ebd., 64.

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Darauf hin griffen alle »ungeachtet der Gesetze des Landes« zur Selbstjustiz, wie Shirin im Dialog mit Leyla erzählt: »Ich wurde also durch meine Familie zum Tode verurteilt«, brachte Shirin unter Tränen hervor. »Sie haben mir freundlicherweise drei Wege zum Sterben vorgeschlagen und ich durfte einen wählen: entweder mich von einem Berg stürzen zu lassen, oder Gift zu nehmen, oder mich hinzulegen und sie würden mit dem Auto über mich fahren. […] Ich entschied mich […] für den dritten Vorschlag […]. Vielleicht aus dem Grund, weil mir die anderen Wege brutaler erschienen […]. Ich hatte keine Ahnung wie es mit dem Auto wäre, gerade das Auto war für mich als Mordwerkzeug unvorstellbar […]«.486 Shirin überlebte die Strafe, wurde verbannt, prostituierte sich, bis sie von ihrem späteren Mann entdeckt und geheiratet wurde. Um das Rätsel aller Leyla-Figuren zu lösen, konstruiert Allafi eine weitere Szene, in der nicht nur das Schulkind Kaiwan die Geschichte seiner Mutter erfährt, sondern auch der Leser einen Einblick in das Denken der gebildeten Schichten über Ehe und Sexualität gewinnt. Kaiwan gibt seinem Freund Nachhilfe in Mathematik. Der Vater des Freundes tadelt seinen Sohn mit den Worten: »Schau dir Kaiwan an, schämst du dich nicht, dass der dir nun Nachhilfe geben muss, er ist bloß der Sohn einer Hure«.487 Kaiwan, der dieses Gespräch heimlich mitgehört hat, konfrontiert seinen Vater damit und erfährt schließlich die ganze Wahrheit über die jetzige Shirin, die früher auch Leyla geheißen habe. Diese historische Leyla-Figur trifft nun in der Gegenwart des Textes auf Tawus, die bis zum Verlust ihrer Jungfräulichkeit ebenfalls Leyla geheißen hat. Beide teilen hinsichtlich ihrer Erfahrung der Sexualität das gleiche Schicksal mit der Protagonistin Leyla. Erst mit Shirins Geschichte stellt sich der Zusammenhang zwischen den drei Leyla-Figuren heraus. Wesentlich für die Konstruktion dieses Zusammenhangs ist, wie die Frauen-Figuren zunächst in der Familie und Gesellschaft verortet werden, denn erst diese Verortungstaktik spiegelt die soziale Abhängigkeit der Frauen-Figuren von den Männer-Figuren und somit auch das Ungleichgewicht der Geschlechterverhältnisse wider. Die Thematisierung dieses Ungleichgewichts erfolgt dann in der Identitätsarbeit, die vornehmlich Krisenmomente erfasst. An der Figur Leyla und ihrer Umgangsweise mit dem sozialen Kollektiv wird eine kulturelle Projektionsf läche zur Darstellung der Identitätskrise, des Kulturenzwangs, des Freiheitsverlusts und des Opferdaseins gebildet. Durch die drei Leyla-Figuren wird außerdem ein weiteres Kriterium ausgearbeitet, aus dem kulturelle Transformationen abgelesen werden können: Während sich Shirin und Tawus den gesellschaftlichen Schranken ausgeliefert fühlen, überschreitet die Protagonistin Leyla die kulturellen Grenzen. Sie befreit sich aus der Opferrolle, indem sie die Zwangsehe geschickt zur Befreiung von ihrem temporären Scheitern nutzt; sie entwirft einen Plan. Sie heiratet zwar Hossein, diese Heirat eröffnet ihr aber eine neue Zukunftsperspektive. Wie dieser Plan aussah, erfährt der Leser durch die Briefe, in denen Leyla Kaiwan ihre Ehe- und Auswanderungsgeschichte erzählt. Es vergehen zwei Jahre, bis Kaiwan ein Päckchen von Leyla aus dem Ausland erhält, das einen dicken Stapel handschriftlicher

486 Ebd., 68. 487 Ebd., 135.

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Briefe und ein Foto von Leyla enthält.488 Von Überraschung überwältigt schaut sich Kaiwan das Foto an und entdeckt eine Leyla voller Charme, lebendig, keck und unbekümmert: »Er fühlte sich abermals zurückversetzt in die vergangenen Zeiten«.489 Auf diese Weise wird Leyla nach Gesprächsszenen von Shirin und Tawus durch den Einschub von Kaiwans Erinnerungen in der Romanwelt wieder präsent. Die Anfangsszene, in der Leyla und Kaiwan sich am frühen Morgen trafen und sich verabschiedeten, wird hier in Erinnerung gerufen. Ferner erfährt der Leser aus Leylas Briefen gleichzeitig mit Kaiwan, was mit Leyla nach jenem Abschied geschehen ist. Mit einem Brief als Medium der Erzählung schwindet die durch den Erzähler konstruierte distanzierte Erzählperspektive. Die Briefe knüpfen an die Zwangsehe mit Hossein an und lüften das Geheimnis: In dieser Ehe war Hossein nicht Leylas Mann, sondern ihr Komplize. Hossein stammt aus einer konservativen Familie, die sich mit der Ideologie der Islamischen Republik identifiziert. Hossein selbst aber ist anders als die radikalen Anhänger der Islamischen Republik, die sich Islambrüder nennen. Er ist nämlich »blitzblank rasiert und sehr gepf legt« und trägt stets französisches Parfüm auf;490 er hatte sogar »Angriffe auf seine Augenbrauen unternommen«; außerdem gehörte er nicht »zu der Männergattung, die Frauen bei jeder sich bietenden Gelegenheit belästigen beziehungsweise mit den Augen auszogen«.491 Schließlich bemerkt Leyla in der Hochzeitnacht, dass Hossein auf das weibliche Geschlecht kaum neugierig ist; »der weibliche Geruch machte ihm zu schaffen«; er begab sich »mit Gedanken in eine andere Welt […], in seine eigene Welt, in der Frauen als Sexpartnerin keine Rolle spielten«.492 Hossein ist also homosexuell, und dies in einer konservativ-islamischen Familie, die Homosexualität verabscheut. Mit seiner Geschichte werden heterosexuelle und homosexuelle Erfahrungen in einem kulturellen Kontext problematisiert; Migration erweist sich so sowohl für Leyla als auch für Hossein als Befreiungsakt. Bei der Zusammenführung von Leyla und Hossein wird das sexualisierte Bild der Weiblichkeit aus seinem Kulturenzwang befreit. Die Thematisierung von Homo- und Heterosexualität lässt die Identifikation über das Geschlecht nicht mehr bloß als ein Phänomen begreifen, das nur Frauen betrifft, sondern beide Geschlechter gleichermaßen: Leylas Handlung versetzt die Figur selbst in eine aktive Rolle, und durch Hosseins Positionierung verlässt das Thema der Zwangsehe seinen häufig als nur weiblich angenommenen Referenzbereich. So treffen bei dieser Ehekonstellation zwei Individuen aufeinander, die jenseits ihrer sexuellen Orientierung das Gleiche erfahren: Sie sind ihres individuellen Identifizierungsvermögens beraubt und in einem ungewollten Kontext kollektiv wie sexuell kulturalisiert. In dieser Hinsicht empfinden beide Figuren eine Un-Gleichberechtigung. Bald wird Hossein klar, dass »Leyla nicht zu den Menschen gehörte, die Homosexuelle diskriminierten oder sich vor ihnen ekelten«; Leyla und Hossein entwickeln »eine aus der Not geborene Beziehung«.493 Diese Beziehung wird ihre Rettung. Leylas Plan ist die Auswanderung nach Deutschland. Mit seiner Realisierung wird über den politischen Kontext des Exils hinaus ein weiterer 488 Ebd., 100. 489 Ebd., 102. 490 Ebd., 103. 491 Ebd., 104. 492 Ebd., 107. 493 Ebd., 110f.

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Grund der Migration beschrieben, der im Roman zwar auf Freiheit als Grundrecht des Menschen schließen lässt, konkret aber auf Homosexualität anspielt. Man könnte die Praxis der Zwangsehe und die Ablehnung und Verurteilung der Homosexualität als Inhalte verstehen, welche die Bedeutung der von Asar in Tufan angedeuteten ›Rückständigkeit‹ der Gesellschaft besetzen. Geschickt entwerfen Leyla und Hossein einen Flucht-Plan, indem sie eine Krankheit Leylas vortäuschen: Schließlich kam Leyla die rettende Idee, sie kündigte an, sie werde eine Schwangerschaft vortäuschen und nach drei Monaten würde sie vorgeben, eine Fehlgeburt zu haben. Dies würde sie einige Male spielen müssen.494 Damit treffen beide den konservativen Kern von Hosseins Familie, die den Sinn und Zweck der Ehe nur in der Fortpf lanzung sieht, so dass ihr keine andere Wahl bleibt, als der Auslandsreise zuzustimmen: Das Geld, das sie für die Arzt- und Krankenhauskosten hatten, ermöglichte ihnen einen guten Start. Der beste Weg schien ihnen, ein Studium aufzunehmen […]. Es fiel ihnen nicht schwer, wenn es auch in Frankfurt war, denn zum Glück hatten beide Grundkenntnisse der deutschen Sprache aus Iran mitgebracht.495 Kurz nach der Ankunft in Deutschland stellen sie mit Hilfe eines Anwalts einen Asylantrag. Hossein findet später einen Partner und lebt als »Ehefrau von Roland«496 mit diesem zusammen. Leyla beginnt ein Studium der Psychologie und Pädagogik. Diese Lebensphase wird durch den Wunsch nach Selbstfindung bestimmt: »Alles deutete darauf hin, dass Leyla den Versuch unternahm, einen Weg zu sich selbst zu finden«.497 Diese Selbstfindung geht mit einer neuen Identifikation einher, denn Leyla lässt ihren Reisepass verschwinden, »um eine neue Identität zu gewinnen«; sie gibt sich selbst den Vornamen Asadeh, der aus dem persischen Nomen asady, d.h. Freiheit abgeleitet ist, und die ›Freie‹ bedeutet. Als Nachnamen legt sie sich Jahangard, d.h. den ›Weltenwanderer‹, zu: »Nun vermochte Asadeh Jahangard ein anderer Mensch zu sein«.498 So folgt sie auch ihrem Vorbild, Kaiwans Mutter, die sich bei ihrer Heirat Shirin nannte, um mit einem Teil ihrer historischen Identität abzuschließen, und dem der Tawus, die durch ihren Namenswechsel die fehlende Jungfräulichkeit verbergen wollte. Von nun an heißt Leyla nicht nur in sämtlichen amtlichen Papieren offiziell Asadeh, sondern sie fühlt sich mit ihrem neuen Namen in Deutschland auch von sämtlichen kollektiven Normen befreit.499 Der Leser erfährt aus einem ihrer Briefe: Sie meinte nun, die Jahrhunderte lang in Gefangenschaft gehaltene Leyla befreit zu haben. Sie wollte nicht jene Leyla sein, die ihr Leben mit Lamentation und Leiden unter 494 Ebd., 115. 495 Ebd., 119. 496 Ebd., 294f. 497 Ebd., 297. 498 Ebd., 120. 499 Ebd., 281.

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den Verboten zu Ende bringen, die bis zu ihrem Tod auf den Geliebten warten und ihren Geliebten der Verwahrlosung Preis geben musste, wie es der historischen Leyla und ihrem Geliebten beschieden war.500 Ihre Bekenntnisse in den Briefen an Kaiwan zeugen von einer Identitätsarbeit, die aus ihrer Sicht zu individueller Freiheit führen sollte: »Eines habe ich durch diese Reise gewonnen, meine Freiheit«.501 Liebe heißt Freiheit, und in Freiheit über sich und das Leben entscheiden können. Liebe heißt, sich die Süße des Lebens nicht von skrupellosen Menschen nehmen zu lassen, sondern sie zu schmecken und zu genießen. Liebe heißt in der Beziehung zu anderen Menschen suchen und ausprobieren, bis man auf den Geliebten stößt.502 Der Wandel eines unterdrückten Individuums zu einem befreiten Individuum in ein und derselben weiblichen Figur der Erzählung erinnert an das anfangs zitierte Gedicht Metamorphose und wird in der Welt von Allafis weiblichen Figuren in erster Linie als Prozess der Suche begriffen; in dieser Hinsicht bildet der Prozess auch die thematische Brücke zu SAIDs Ich-Figur. Bei der stillen Lektüre der Briefe erkennt Kaiwan Leylas Befreiungsprozess und kommt zu dem Schluss, dass »bei ihm tatsächlich die Zeit stehen geblieben war«.503 Parallelisiert wird diese Feststellung mit den Worten eines seiner Kollegen, der meint, »wenn man dieses Land [den Iran] verließe, finge man sofort an, über Sinn und Zweck des Lebens zu philosophieren, statt zu romantisieren und zu lamentieren«.504 Der Erzähler verortet Leylas Befreiung auf zwei einander entgegengesetzten Ebenen: auf der Ebene der männlichen Macht und weiblichen Machtlosigkeit als Antriebskraft für Leylas Entschluss zur Auswanderung und auf der Ebene eines aktiven individuellen Prozesses im Sinne der Auf klärung. Migration ermöglicht für Leyla und Hossein beides, so dass man sie mit Vilém Flusser als »Entbindung« auffassen kann, durch die der Mensch »in die Freiheit geworfen« wird.505 Sie bewegt Leyla bzw. Asadeh aber auch zu der Erkenntnis, dass es keine absolute Freiheit gibt, und verbindet sie mit TORKANs weiblicher Figur. Asadeh schreibt am Ende ihres letzten Briefes an Kaiwan: […] man sei quasi mit unsichtbaren, feinen Fäden gebunden, die zwar weniger schmerzhaft auf den Körper und die Seele drücken, dennoch könnten sie große Schmerzen verursachen, wenn man den Versuch unternähme, sich von ihnen zu lösen. Man könnte meinen, hier habe man mehr Freiheit, sich seine Freiheit zu erkämpfen.506

500 Ebd., 120f. 501   Ebd., 327. Gemeint ist die Reise nach Deutschland einerseits und die Reise zu sich selbst andererseits. 502 Ebd., 121. 503 Ebd., 122. 504 Ebd., 125. 505  Leao: Vilém Flusser und die Freiheit des Denkens, 2013, 10. 506   Allafi: Leyla, 2005, 124.

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Damit charakterisiert Asadeh Freiheit als einen variablen Wert, der immer wieder gesucht und gewonnen werden müsse. Die kulturpolitisch relevante Pointe in Asadehs Erkenntnis ist die vergleichende Perspektive auf die Freiheit im demokratischen Westen und im theokratischen Iran. Das Charakteristikum der europäischen Moderne liegt für Asadeh darin, dass die europäische Variante der Freiheit sich erkämpfen ließe. Das wahre Gesicht der Freiheit besteht für Asadeh in der Möglichkeit der Befreiung der Freiheit aus ihren Zwängen.507 In der individuellen Freiheit kontrastiert der Erzähler Asadeh mit ihren Landsleuten, um die Thematisierung der Generation voranzutreiben, denn Asadeh wird als ein Mensch positioniert, »der von den Erfahrungen seiner Vorgängergeneration keinen Gebrauch machen konnte und der auch selbst nichts hatte, worauf er sich stützen konnte«.508 Leylas Wandel infolge ihrer Migration nach Deutschland bedeutet das Abschiednehmen von der Vergangenheit und die Hinwendung zur Zukunft: Sie [Asadeh] wusste nicht mehr, was sie in der Fremde überhaupt suchte. Plötzlich kam sie sich selbst fremd vor. Sie summte ihren neuen Namen vor sich hin: »Asadeh … Asadeh … eine Fremde, eine Fremde in mir oder ein fremder Name, nein, der Mensch kann nicht frei sein, er will nicht frei sein!509 Allafis Erzählung verfährt mit Blick auf Asadeh nicht nach dem Modell, wie etwa Asadeh die Deutschen sieht – und vice versa. Vielmehr geht es um die individuelle Entscheidungs- und Erfahrungsfreiheit. Dies geschieht zum einen durch die Konstruktion einer personalen Erzählsituation und zum anderen durch die Ich-Erzählsituation, die die Identifikation des Erzählers oder auch des Lesers mit der Hauptfigur ermöglichen soll. Die Erzähltechnik zeigt sich darin, dass der Erzähler seine Protagonistin nicht transitiv als Objekt positioniert, sondern ref lexiv. Auf diese Weise wird nicht nur die Figur, sondern auch ihr kulturelles Umfeld zum Gegenstand der Ref lexion. Über diese Ref lexion berichtet der Erzähler selbst und kommentiert bejahend die Position seiner Hauptfigur, die als beobachtende, schweigende und denkende Figur charakterisiert wird, um schließlich der deutschen wie der iranischen Gesellschaft einen Spiegel vorzuhalten und sich dabei als Individuum und als eine über die Gesellschaft erhabene Instanz zu präsentieren. In den Ref lexionen liegt die interkulturelle Profilierung der Hauptfigur. Der Erzähler widmet sich diesem Spiegelbild und beschreibt es am Beispiel des Gemeinschaftslebens. Das Motiv dabei ist die Wohngemeinschaft: »Dort verstand sie [Leyla], welche Bedeutung es hatte, wenn sie manches Mal von den Deutschen selbst die Klage vernahm, dass die Deutschen alles maßlos übertreiben«.510 Diejenigen, die sich selbst und den anderen gegenüber streng waren, waren eine allgemeine Erscheinung in diesem Land der Dichter und Denker, sie tolerierten einander nicht einmal […]. Eine kleine Minderheit, die locker sein wollte, übertrieb das wiederum

507  Ebd. 508 Ebd., 282. 509 Ebd., 287-297, hier 297. 510 Ebd., 324.

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dermaßen, dass aus der so genannten Lockerheit wieder strenge Regeln entstanden, die alles andere als locker waren.511 Nicht Ausländer und Deutsche werden polarisiert, sondern zwei Gruppen der Deutschen, die sich in ihrem Denken voneinander unterscheiden. Die Pointe besteht in dem Gedanken über die Anerkennung und in der Kritik an der Egozentrik einer postmodernen Gesellschaft. Jede Gruppe verlangt von der anderen etwas, was »sie allerdings nicht selbst« tut.512 Ein weiterer Aspekt in Asadehs Leben in Deutschland ist die starke Präsenz des Fundamentalismus, der – ähnlich wie in TORKANs Tufan mit dem Bezug zum Iran – nicht als Erscheinung von außen betrachtet wird, sondern als Manko der deutschen Gesellschaft selbst, in der »die islamistischen Fanatiker und die deutschen Fanatiker«513 aufeinandertreffen und das soziale Zusammenleben für die »Minderheiten zur Hölle« machen; »die ekelhaften Medien waren immer dabei, sie standen sozusagen am Blasebalg, der das Feuer zusätzlich anfachte«.514 Die »Schubladenkultur«515 der Medien weist für Asadeh eine Parallele auf: der Hass auf die Juden in der Geschichte und der Hass auf die Muslime in der Gegenwart.516 Durch die Konstruktion des Feindbilds werden Charakteristika kultureller Exklusionsmechanismen hervorgehoben und Muslime als »Sündenbock des neuen Jahrhunderts«517 bezeichnet. Die Gesellschaftskritik in Leyla findet in einer zwischen Asadeh und dem Erzähler wechselnden Perspektive ihren Höhepunkt. Zum Schluss ist es Asadeh, die in ihrem Brief Kaiwan die Subjektivierung ihrer Perspektive gesteht: Sie spreche von ihrer »eigenen Befindlichkeit und Betroffenheit«.518 Bei dieser Relativierung spricht sie über eine »kultivierte Minderheit«, »die zu der Überzeugung gelangte, dass sie in Deutschland keine Ruhe fänden, wo die Leute und die Allgemeinheit weit davon entfernt waren, anderen Achtung und Respekt entgegenzubringen«.519 Mit diesen Sätzen lässt der Erzähler Asadeh zu ihrer ursprünglichen Kritik zurückkehren, um selbst wieder die Perspektive einzunehmen: Asadeh lag nicht ganz falsch. Ausgerechnet Tausende Frauen und Männer, die wie Asadeh selbst Opfer der fanatischen Männer und vielleicht auch Frauen in ihrem Ursprungsland waren, wurden angepöbelt, und zwar häufig wegen der Gräueltaten der anderen. »Nein, das ist nicht fair, die Schwachen an den Pranger zu stellen, und zwar für etwas, das sie nicht getan haben, was sie nicht sind, fanatische Muslime«. Diese Verallgemeinerungen wären in der Tat zu vermeiden gewesen, wenn die Herren und Damen, die über das Land herrschen, selbst keine Leichen im Keller gehabt hätten. Doch

511  Ebd. 512  Ebd. 513  Ebd. 514 Ebd., 325. 515  Ebd. 516  Ebd. 517  Ebd. 518 Ebd., 326. 519  Ebd.

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anstatt aufzuklären, fuhren sie fort, im Namen der Freiheit und Demokratie das Leben des anderen zu trüben und sie in Angst und Unsicherheit zu versetzen.520 Die Ref lexionen über ein temporäres Scheitern bewegt Allafis Protagonistin dazu, über die Rückkehr in den Iran nachzudenken. Dieses Scheitern ist durch die ihre misslungene Erfahrung in der deutschen Gesellschaft begründet. Asadeh, die längst im Besitz der deutschen Staatsangehörigkeit ist, kehrt in den Iran zurück und trifft auf ihr altes Ich, Leyla: »Asadeh fühlte sich auf einmal wie Leyla, wie jene Leyla, die ein Leben lang auf ihr Glück« wartete.521 Zwar ist im Hinblick auf die Rückkehr in den Iran die thematische Nähe zu SAID und TORKAN erkennbar, was aber Asadehs Rückkehr als Scheitern der Migrationserfahrung kennzeichnet, ist ihr Bleiben im Iran. Ob danach ihre Identitätsarbeit neu beginnt, erfährt der Leser nicht mehr. Fast am Ende des Romans versammelt der Erzähler alle drei Leyla-Figuren. Der Anlass ist Asadehs Heirat mit dem Chirurgen Kasem,522 der einst Leylas Kind vor deren Zwangsehe abtreiben sollte. Gegen Ende des Romans stehen Kaiwans aus Deutschland zurückgekehrte Ex-Freundin und seine jetzige Frau Tawus einander gegenüber. Tawus unterstützt Kaiwan bei der Aufnahme von Asadeh in ihrem Haus, in dem auch Kaiwans Freund Kasem, der zukünftige Ehemann von Asadeh lebt. Die Figuren, die am Anfang des Romans nur kurz zusammenkamen und sich rasch voneinander entfernten, um ihren eigenen Lebensweg einzuschlagen, finden am Ende des Romans wieder zusammen. Von Bedeutung ist insbesondere Kasems und Asadehs Begegnung, denn das Ergebnis ihrer Ehe wird die Geburt einer Tochter sein, die ebenfalls Leyla heißen wird, allerdings ein völlig anderes Leben führen soll. Am Heiligabend des Jahres 2004 wird sie geboren.523 Asadeh hatte schon für diesen Anlass ein Gedicht vorbereitet und lässt in ihm erkennen, dass diese Leyla die befreite Figur aller anderen Leylas sein soll: Du hast keine Angst Ich habe keine Angst Niemand hat Angst Weder vor der Polizei noch vor Milizen Schon gar nicht vor der Justiz Das ist die Freiheit.524 Was Allafi im Roman Leyla mit seiner komplexen Figurenkonstellation leistet, lässt sich auf der strukturellen wie inhaltlichen Ebene zusammenfassen. Die Erzählperspektive und die Erzählsituationen wechseln sich ab und sind vielfältig. Vor allem erschweren die Leyla-Figuren das Verständnis von Handlung und Inhalt. Inhaltlich umfasst der Roman die Geschichte eines Landes im Aufschwung, im Niedergang und im stillschweigenden Arrangement zwischen dem Volk und dem Staat. Der Bürger selbst ist im geschützten Raum des Privaten, der am Ende durch das Haus symbolisiert wird, 520  Ebd. 521 Ebd., 298. 522 Ebd., 321. 523 Ebd., 346. 524 Ebd., 347.

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in dem alle drei Leylas leben. Hinzu kommt das Scheitern als Motiv des Romans. Das temporäre Scheitern wird als Notwendigkeit einer Identitätsarbeit hervorgehoben und durch Konf liktmomente erzählerisch gestaltet. Leylas bzw. Asadehs Leben ist maßgeblich von solchen Momenten geprägt; erst diese machen sie handlungsfähig. Die weibliche Protagonistin verkörpert die Figur, die keineswegs geschlossenen Formen der Identitätsbestimmung folgt und den kulturalisierenden Identitätsmustern gegenüber machtlos ist, sondern stets bemüht ist, Momente ihrer Identifikation zu prüfen und sie immer wieder neu zu finden. An solche Momente wird Allafi in seiner Frankfurter Trilogie anschließen.

3.5.3 Identitätsarbeit im Modus des Werdens Identität und Heimat finden in der Frankfurter Trilogie ihren literarischen Ausdruck und ref lektieren die Wirkung soziokultureller Zusammenhänge im Handeln des Individuums. Was Frankfurter Trilogie von den anderen bisher diskutierten Werken unterscheidet, ist insbesondere der Ort-Zeit-Wechsel in der Erzählwelt, der für die Figurenkonstellation nicht ohne Konsequenz bleibt. In der ausgestatteten Erzählwelt wird eine Ich-Situation konstruiert, von der aus die Welt der Figuren betrachtet und beschrieben wird. Dabei sorgt der Erzähler für bejahende oder verneinende Erwiderungen und Kommentierungen, indem er sich in die Erzählsituation einmischt. Die Nächte am Main beginnt an einem Sonntagabend an der Uferpromenade525 in der um diese Zeit schläfrigen Stadt Frankfurt. Hier taucht der »Schatten eines Mannes« auf, der – so der Erzähler – »mit sich selbst zu beraten schien«.526 Warum der Mann (nur noch) ein Schatten (seiner selbst) ist, wird zunächst nicht erklärt. Dem Schatten geht es in seinem inneren Monolog um die Suche nach einem Weg zur Selbst-Verewigung. Er müsse »irgendein Werk hinterlassen«,527 heißt es. Bei der Schilderung wird eine doppelte Fiktionalisierung vollzogen: Einerseits wird das Dargestellte durch die Perspektive des Schattens konstruiert; andererseits wird das Vorhaben des Schattens, ein Werk über oder von sich zu hinterlassen, zum Anlass genommen, um den Schatten selbst zu perspektivieren.528 Von nun an werden Prozesse individueller Selbstfindung und Selbstkonstruktion die Frankfurter Trilogie wie ein roter Faden durchziehen. Sie erfolgen in Die Nächte am Main zwischen zwei Polen, deren Bestimmung direkt in die Frage nach der Sprache des Werkes mündet: »Soll ich deutsch schreiben oder persisch«, fragt sich der Schatten.529 An der Mainpromenade entscheidet sich die Schatten-Figur für das Deutsche, denn sie »hatte anscheinend Respekt vor der Mehrheit«.530 Wie zentral die Orientierung an der Mehrheit und die Wahl der deutschen Sprache sind, zeigt sich ferner darin, dass das Schreiben die letzte Tat der Schatten-Figur sein soll. Unerwartet erfährt der Leser, dass es sich beim Schreiben nicht um ein Werk, sondern lediglich um eine kleine Abschiedsnotiz handelt. Die Schatten-Figur springt schließlich in den Main, und der Erzähler wird Zeuge dieses Selbstmords. 525   Allafi: Die Nächte am Main, 1998, 3. 526 Ebd., 5. 527 Ebd., 7. 528  Andreotti: Die Struktur der modernen Literatur, 2014, 31. 529   Allafi: Die Nächte am Main, 1998, 7. 530  Ebd.

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Mit dem Selbstmord der Schatten-Figur wechselt die Perspektive von der Beobachtung zur Beschreibung. Dabei wird dem Leser bewusst, dass er die Geschichte der Schatten-Figur nicht aus der Metaebene der Erzählperspektive erfährt, sondern aus der Figurenperspektive von Hans, einem Journalisten, der für eine Lokalzeitung schreibt. Hans ist mit der Lehrerin Gabriela verheiratet. Beide stammen aus einer Generation, in der »Heiraten noch verpönt war und als höchst kleinbürgerlich galt, man spielte gern Sartre und Beauvoir und folgte den feministischen Köpfen wie Alice Schwarzer«; dennoch sahen sie in der Heirat einen Vorteil: »ein Stück Papier zu unterschreiben«, bedeutet, »eine günstige Sozialwohnung zu ergattern«.531 Erst in Die letzte Nacht mit Gabriela erfährt der Leser mehr über die Bedeutung der Ehe zwischen Hans und Gabriela. Hier heißt es nämlich, dass Hans’ und Gabrielas Ehe keine leidenschaftliche und erotische Qualität besitzt und keineswegs eine »intime Beziehung« darstellt.532 Während der Name Hans auf die hebräische Tradition in der deutschen Kultur hindeutet (Johannes), stammt der Name seiner Parallelfigur aus der islamischen Tradition mit einer ähnlichen Popularität. Diese Figur wird Hassan genannt und von einem jungen iranischen Studenten getragen, den Gabriela an einem Silvesterabend in Frankfurt kennenlernt. Später befreundet er sich mit Hans und Gabriela. Im Verlauf des ersten Teils der Frankfurter Trilogie wird Hassan als Migrant charakterisiert, der nicht »in geheimnisvoller Verkettung mit Mitmenschen, sondern in freigewählter Verbindung«533 mit ihnen lebt. Hassan bezeichnet sich als »zeitlosen Wanderer«534 und repräsentiert einen künstlerisch bunten Entwurf von Identitäten, von Hier und Dort, Heute und Morgen: Dank seiner Gutmütigkeit und Aufgeschlossenheit war Hassan stets gut aufgehoben, meinten jedenfalls die Leute. Wo die Nichtdeutschen über die Unzugänglichkeit der Deutschen sprachen, brachte er stets Gegenbeispiele hervor. Seine Freunde nannten ihn Künstler, man mußte ein Künstler sein, um mit den Deutschen umgehen zu können.535 Mit der Schilderung von Hassans Herkunft und Lebensweise beginnt das zweite Kapitel. Der iranische Student ist am »Abhang eines grasbedeckten Hügels, der sich am Rande einer sich weit bis zum Zagros-Gebirge erstreckenden Ebene duckte«,536 geboren. Mit dieser Gegend ist Allafis Leser bereits in den vorausgegangenen Erzählungen bekannt gemacht worden; sie ist nämlich das iranische Kurdistan. Analog zu Hassans Verortung in der Erzählwelt wird auch der Geburtsort von Hans am Main beschrieben; beide Orte werden mit einem starken Bezug zur Natur dargestellt: der eine Ort am Gebirge und der andere am Fluss. Im Kontrast zu Hassan steht sein sozial und finanziell deutlich bessergestellter Freund Khidan, an dem Hassan seine Heimat-Erinnerungen entwickelt. Khidan spielt 531 Ebd., 108. 532   Allafi: Die letzte Nacht mit Gabriela, 2000, 74. 533  Flusser: Wohnung beziehen in der Heimatlosigkeit, 2013, 19. 534   Allafi: Die Nächte am Main, 1998, 216. 535 Ebd., 185. 536 Ebd., 15.

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in Allafis Roman die Rolle einer Figur in und aus der Heimat. Er verschwindet aber aus der Romanwelt bei Hassans Ausreise aus dem Iran und wird bis auf eine kurze Szene in der Mitte des Romans, wo es um die Darstellung der iranischen Flüchtlinge geht nicht mehr erwähnt.537 Doch tritt durch Khidan ein entscheidender Aspekt politischer Migrationsgeschichte in den Vordergrund: Khidan ist der Prototyp eines iranischen Jugendlichen während der Islamischen Revolution und der Kriegsjahre, der seine Familie im Krieg verloren hat, seitdem ein zerrissenes Leben führt, eine aussichtslose Zukunft hat und auf der Suche nach sich selbst ist. Khidans Vater »war schon in den ersten Jahren des Kriegs zwischen Irak und Iran gestorben«;538 sein Bruder hat sich mit der Islamischen Republik arrangiert, »er ließ seinen Bart wachsen und gab sich als Anhänger des neuen islamischen Regimes«.539 An dieser Figur beschreibt Hassan die »Demoralisierung der Menschen« im Iran.540 Mit Khidan und Hassan wird eine Migrationsgeschichte erzählt, die sich auf zweifache Weise vollzieht: Beide sind Figuren in der Geschichte einer Binnenmigration im Iran. Sie erleben die Revolution und den Krieg, unterscheiden sich aber in der Geschichte ihrer Migration, die zugleich die Geschichte einer kulturellen Umbruchphase im Iran ist. Während Hassan vor der Islamischen Revolution legal in die Bundesrepublik reist und dort bleibt, ist Khidan ein Flüchtling im wahrsten Sinne des Wortes. Hassans Reise in die Bundesrepublik im vierten Kapitel des ersten Teils ist der Beginn seiner neuen Lebensphase;541 von Khidans Leben nach der Flucht erfährt der Leser nichts mehr. Die Positionierung weiterer Figuren im vierten und fünften Kapitel markiert die interkulturelle Erzählwelt deutlich. Die zentrale Figur ist die lebenslustige Gabriela. Wie im Falle von Hassan und Hans wird auch Gabrielas Alter nicht genannt. sie wird durch symbolische Codes eines sozialpolitischen Kontexts charakterisiert, so dass man aus diesem Kontext ihre Generationszugehörigkeit ableiten kann: Sie wickelte sich ein buntes indisches Tuch um den Hals, es verdeckte die Falten, und sie fühlte sich jung, beziehungsweise sah sie jünger aus, aber nicht so jung wie damals, als sie noch das Palästinensertuch trug.542 In der Bundesrepublik Deutschland galt das Palästinensertuch seit der Zeit der Studentenproteste der 1968er Jahre im Rahmen einer Subkultur als Zeichen der Solidarität mit der PLO und insbesondere als Ausdruck der Zugehörigkeit zum linken Lager. In diesem Sinne wurde es auch von Hippies getragen. Kritisiert wurde das Tragen des Palästinensertuchs durch politische Strömungen und diente Teilen der antinationalen Linken als Symbol des Kampfes gegen den Staat Israel und des Terrorismus. Seit dem Ende der neunziger Jahre wird die Kufiya überwiegend auch von Rechtsextremisten 537 Ebd., 138-140. 538 Ebd., 140f. 539 Ebd., 141. 540 Ebd., 142. 541   Mit SAIDs Ich-Figur teilt Allafis Protagonist eine Reihe von Erfahrungen am Flughafen Mehrabad und in der Maschine der Iran Air; sogar die Vogelperspektive auf Teheran aus dem Flugzeug erinnert an die Abschiedsszene von SAIDs Ich-Figur (Allafi: Die Nächte am Main, 1998, 58-63). 542   Allafi: Die Nächte am Main, 1998, 68.

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und Neonazis in ihrer revolutionären Bedeutung und als Ausdruck einer anti-israelisch motivierten Parteinahme für die Palästinenser getragen.543 Mit dem Tragen des Palästinensertuchs wird die junge Gabriela in einem bereits historisch gewordenen Gesellschaftskontext verortet, der auch Hans’ Einstellungen widerspiegelt. Nun aber hat sie die Kufiya ablegt und trägt stattdessen ein indisches Tuch als Zeichen für Offenheit, für Interesse am Fremden und Exotischen: Gabriela war nicht nur äußerlich eine so außergewöhnliche Erscheinung, daß jedes Auge an dieser vollendeten Schönheit haften bleiben konnte. Ihr Gemüt, ihre Wortwahl im Gespräch waren faszinierend, fesselnd. Sie konnte zwar ihre innere Einstellung nicht im Wandspiegel sehen, aber ihr wurde dies von anderen immer wieder bestätigt.544 Die weibliche Hauptfigur der Frankfurter Trilogie ist nicht nur eine handelnde und erzählende Frau, sondern auch eine Figur mit eigener Perspektive auf das gesamte Romangeschehen, denn je mehr sie nachdenkt, umso mehr rutscht sie in einen »Schrank der großen Erinnerungen«,545 aus denen sie erzählt. Darüber hinaus repräsentiert sie ein unter Einsamkeit leidendes Individuum.546 Dennoch leistet sie in ihrer Einsamkeit eine Selbstvergewisserungsarbeit. Ihre Positionierung spielt auf die Schattenseiten der zunehmenden Individualisierung in der Moderne an.547 Aus einer Reihe von Verweisen lässt sich Gabrielas Einsamkeit als ein soziologisches Modell definieren. Hierfür sprechen vor allem zwei Gründe: Zum einen gestaltet sie ihr Leben umweltbewusst: Sie geht in Kräuter- und Ökoläden548 und offenbart auf diese Weise ihre kritische Einstellung gegenüber der Lebens- und Ernährungsweise der Mehrheit. Zum anderen scheinen sich ihre politischen Ideale nicht verwirklicht zu haben: »Ihre Restbücher, insbesondere die blauen Bände von Karl Marx und einen Teil der Frauenbücher, hatte sie dicht nebeneinander unter ihrem Bett […] gestapelt, in der Hoffnung, irgendwann eine Verwendung für sie zu haben«.549 Im Übrigen sind es diese Ideale, die sie und Hans einst zusammengebracht haben. Ihre Scheidung am Ende des ersten Teils der Trilogie symbolisiert auch den Bruch in ihrer politischen Haltung. Neben Gabriela tritt ihre Freundin Elke in Die letzte Nacht mit Gabriela auf. Sie ist »vielleicht Anfang dreißig oder noch jünger« und wird als »Singlefrau« bezeichnet, die ihrer Einsamkeit dadurch entgeht, dass sie »stets auf Achse«550 ist und nie Zeit mit sich 543   Siehe zur Geschichte, zur politischen und symbolischen Bedeutung des Palästinensertuchs Rathgeb: Von der Beute zum Bekenntnis, 2004, Jessen: Weltrevolution für den Hausgebrauch, 2004, Kim: Where Some See Fashion, Others See Politics, 2007, Gutmair: Radikaler Diskurslappen, 2008. 544   Allafi: Die Nächte am Main, 1998, 104. 545   Allafi: Gabriela findet einen Stapel Papier, 2012, 5. Insbesondere der letzte Teil der Frankfurter Trilogie beruht auf dem »Sturm der Erinnerungen« (ebd.) Gabrielas. 546   Allafi: Die Nächte am Main, 1998, 68. 547   Siehe zur Einsamkeit als Phänomen des säkularen Zeitalters im Diskurs mit Charles Tylor Kühnlein: Religion als Auszug der Freiheit aus dem Gesetz, 2011, 388-445; zur Einsamkeit als Motive in der deutschen Gegenwartsliteratur Csordás: Motiv der Einsamkeit in der deutschsprachigen autobiographischen Literatur, 2007, 28-34. 548   Allafi: Die letzte Nacht mit Gabriela, 2000, 26. 549 Ebd., 28. 550 Ebd., 86.

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selbst verbringt. In Gabriela findet einen Stapel Papier kehrt diese Figur, die konservative Grenzen jeglicher Art überschreitet und sich dem Lebensgenuss hingibt, zurück und wird als »lebenslustig«, »aufgeschlossen«, »unkompliziert« und gut im Umgang mit Männern beschrieben.551 Elke stellt hier in jeder Hinsicht die Kontrastfigur zu Gabriela dar. Von Gabrielas Familie erfährt der Leser kaum etwas. Elkes Identifizierung hingegen geschieht durch das Kontrastieren mit ihren konservativen Eltern und Großeltern: Die Aufgaben in der Familie waren streng verteilt, zwischen Mutter (Haushalt), Vater (Geld verdienen), Kindern (sklavischer Gehorsam) und Fernsehen (nach Plan). Elke hatte noch einen wesentlich älteren Bruder, der das alles nicht mehr ausgehalten hatte und frühzeitig ausgebrochen war, der sich mit den Eltern anlegte und in der Karawane der antiautoritären Bewegung zog.552 Mit Elke wird der antiautoritäre Kontext in ihrer und Gabrielas Generation näher bestimmt, gegen den sich Gabrielas und Hans’ Einstellung ebenfalls richtet. Allerdings liegt hinter der Beschreibung von Elkes Familie das Spiel mit Stereotypen verborgen, das erst durch die Rekonstruktion intertextueller Bezüge zu Tage tritt. Mit Elkes Eltern wird das konservative und rollenbezogene Bild einer bürgerlichen Familie geschildert, die auch den Stereotypen einer iranischen Familie entspricht, wie dieses etwa in Nicht ohne meine Tochter der Fall ist.553 Außerdem wird durch die Beschreibung von Elkes Familie und deren antiautoritärer Einstellung auf das Gesellschaftsbild zurückgegriffen, das in den 1960er Jahren propagiert wurde und sich zu einem Generationenkonf likt entwickelte. Dieser Konf likt zeigt sich in Die letzte Nacht mit Gabriela in dem Motiv der Enterbung: »Schweigend hatten die Eltern ihren Sohn testamentarisch enterbt. Und Elke wuchs quasi in dieser Schweigespirale auf«.554 Gegen die konservative Haltung der Familie verkörpern Elke und Gabriela das Bild einer auf Emanzipation bedachten Frau, die mit Einsamkeit auf unterschiedliche Weise umgeht. Hinzu tritt in diesem Zusammenhang Gabrielas Freundin Monika, die sich vor der Einsamkeit in Männerbekanntschaften f lüchtet und nach der Scheidung von ihrem südländischen Mann mit dem jungen Afrikaner Nelson zusammenkommt.555 Der Kreis der einsamen Frauen wird im letzten Teil der Frankfurter Trilogie um eine Figur ergänzt. Es handelt sich bei ihr um die Lehrerin Angela, die ebenfalls das Gegenbild zu Elke darstellt.556 Angela ist eine geschiedene Frau mit zwei Kindern. Das zweite Kapitel von Die letzte Nacht mit Gabriela handelt von dem Verhältnis zwischen ihr und

551   Allafi: Gabriela findet einen Stapel Papier, 2012, 203. 552 Ebd., 205. 553   In mancher Hinsicht lassen sich Parallelen zwischen Allafis Roman und Nicht ohne meine Tochter ausmachen. Darauf werde ich noch eingehen. Die Kritik des Erzählers an der hier beschriebenen Familienkonstellation findet sich ferner in seiner Erzählung Es schneit im Zagros-Gebirge, 1991. 554   Allafi: Gabriela findet einen Stapel Papier, 2012, 207. 555   Allafi: Die letzte Nacht mit Gabriela, 2000, 88f. Auch Elke hat eine Schwäche für Ausländer; sie selbst sieht italienisch aus, und es befindet sich in ihrem großen Freundeskreis kein »einziger deutschstämmiger Deutscher« (Allafi: Gabriela findet einen Stapel Papier, 2012, 208). 556   Allafi: Gabriela findet einen Stapel Papier, 2012, 208.

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Gabriela. Zu Beginn des dritten Teils der Trilogie wird an Einsamkeit auch das Verhältnis von Gabriela und Angela geschildert:557 Doch das Gefühl der gemeinsamen Einsamkeit hatte auch etwas Besonderes an sich. Die Welt dieser beiden Einsamen war so riesig, dass der einzelne Mensch, einzelne sogenannte Völker, die sogenannten Kontinente … darin keine Rolle spielten und ihnen alles winzig erschien, dass sie das Gefühl hatten, alle diese Wesen spielten nicht die geringste Rolle. Wenn ihre beiden Welten aufeinander trafen, schien ihnen das Universum doppelt so groß, und diese Verdoppelung des Universums war ein Gefühl, dem man keine Grenzen setzen konnte, wo es keine Grenzen gab, wo Zahlen keine Bedeutung hatten und alle Dimensionen sich auflösten.558 Doch scheint es so, dass keine von ihnen wirklich einsam sein will, sondern versucht, ihr zu entgehen. Mit Angela setzt der Erzähler eine Figur ein, die ihre Einsamkeit durch unkontrollierten Medienkonsum unterdrückt. Freundschaften schließt sie lieber in der virtuellen Welt von Facebook. Eben dies verursacht in der gemeinsamen Erfahrung von Einsamkeit einen Riss, denn Gabriela ist eine überzeugte Kritikerin der Konsumgesellschaft und bleibt ihrer Welt und ihrer Einsamkeit treu. Darüber hinaus verbinden Angela und Gabriela noch weitere Eigenschaften wie etwa der Beruf der Lehrerin und die Spontanität. Spontanität wird ihnen bewusst zugeschrieben, um ihre individuelle Freiheit zu unterstreichen. Sie möchten nämlich nicht zu denjenigen Menschen gehören, die ständig behaupten, sie hätten keine Zeit, »häufig notgedrungen sinnlose Aktivitäten unternehmen« und andere vortäuschen, in Wirklichkeit jedoch kaum etwas mit ihrer Zeit anfangen können.559 Genauso wenig wollen sie aber »hinter der Zeit bleiben«, sondern »ihre eigene Befindlichkeit ihrer Zeit gemäß spüren und quasi den rechten Weg zu sich finden«.560 Damit konstruieren sie ein zwar oppositionelles Verhältnis zur gesellschaftlichen Norm, sind aber selbst dem Prinzip eines geordneten Lebens und »der Freiheit und Freimütigkeit hin und her gerissen«.561 Diese Figurenkonstellation sprengt in der Frankfurter Trilogie den engen Kontext der Migration, indem sie zum einen Migration am Beispiel Hassan als kulturelles Phänomen beschreibt. Zum anderen wird in der Erzählwelt ein Netzwerk von Figuren konstruiert, aus dem die Abhängigkeit der individuellen Identitätsarbeit von kollektiven Interaktionen hervorgeht. Solche Interaktionen gestalten kommunikative Situationen, die sich mit Hilfe von kognitiven Schemata 562 in Bezug auf die Erzählung selbst und auf den Rezipienten interpretieren lassen. Wie der kulturelle Kontext der Figurenkonstellation in der Frankfurter Trilogie zeigt, geschieht die Herstellung der Sozialdimension durch das Gedächtnis als »Gleichmacher und Vereinfacher«563.

557 Ebd., 7. 558 Ebd., 21. 559 Ebd., 8. 560 Ebd., 8f. 561 Ebd., 10. 562  Zerweck: Der cognitive turn in der Erzähltheorie, 2002, 219-242; Eder: Narratology and Cognitive Reception Theories, 2003, 277-301. 563  Koschorke: Wahrheit und Erfindung, 2012, 33.

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Die Positionierung der weiblichen Hauptfigur Gabriela in deren sozialen Dimension erfolgt über die generationsfundierte Grundlage hinaus auch durch Gabrielas ref lexive Betrachtungsweise, durch die diese Figur ihre eigene Lebensvorstellung aus Distanz heraus betrachten und sich selbst erfahren soll. Um dies zu erreichen, wird Gabrielas Welt, die dem Leser bereits aus dem ersten Teil der Trilogie bekannt ist, in Die letzte Nacht mit Gabriela in die fiktive Welt eines Romans versetzt. Gabriela liest einen Roman, dessen Protagonistin Dr. Gabriela Rattenfänger heißt. Diese Figur und ihre Umwelt scheinen »beinahe die Quelle einer Analogie«564 in Gabrielas Leben zu sein, denn an der Auseinandersetzung mit Dr. Gabriela Rattenfänger orientiert Gabriela später ihre Identitätsarbeit. Die Herstellung der Sozialdimension erweitert sich auf die männlichen Figuren, die Gabrielas Leben und Identifikationsmomente intensiver beeinf lussen. Hierzu zählt die Beziehung zu Hans und Hassan. Mit ihnen konstruiert Allafi ein Triangulum, an dessen Spitze Gabriela steht. Der Erinnerungsort des Café TELP, ein Ort zum Trinken, Essen, Lesen und Plaudern als Treffpunkt von Gabriela, Hans und Hassan ermöglicht Gabrielas Erinnerungsarbeit, die in einen Akt des Schreibens einmündet. Sie notiert mit einem Kugelschreiber: »Es war vor fünfzehn Jahren«, als ein Mann einmal zu ihr gesagt habe, »er sei für die Liebe, Freiheit und Gerechtigkeit, und er werde nie verlangen, eines zugunsten des anderen zurückzustellen«.565 Dieser »Idealist« war Hassan.566 Im dritten Teil der Trilogie wird Hassan als »ein gut integrierter Iraner, also ein integrierter Ausländer«567 beschrieben. Aber: »So dramatisch wie er [Hassan] aufgetaucht ist, ist er auch auf einmal wieder verschwunden«.568 Die Beziehung Hassans zu Gabriela war zwar nicht heimlich, wirft aber dennoch ihren ›Schatten‹ auf Hans’ und Gabrielas Ehe. Hassan, Diese drei haben sich in Hassans erster Silvesternacht beim Neujahrssekt in einem Frankfurt Studentenwohnheim kennengelernt. Ihre Bekanntschaft entwickelt sich in einem Gespräch über die explosive Situation in Hassans Heimatland Iran, wobei sich Hans schnell als Befürworter der Revolution zu erkennen gibt. Dieses Gespräch, das sozialistische, ökonomische, religiöse und freiheitlich-demokratische Themen erfassen wird, datiert zugleich das Geschehen im ersten Teil der Trilogie auf den Winter 1979. Im Iran, ergänzt der Erzähler bei der Beschreibung der Szene, sei »inzwischen der Schah von seinem Thron gestürzt worden. Nun thronte Khomeini in seiner Kanzel«.569 Das Geschehen wird in Frankfurt verortet; 564   Allafi: Gabriela findet einen Stapel Papier, 2012, 17. 565   Allafi: Die Nächte am Main, 1998, 71. 566   Hans und Hassan sind für Gabriela Menschen, die sich »außerhalb dieser Welt Gedanken über diese Welt machten« (Allafi: Die letzte Nacht mit Gabriela, 2012, 82). »Es gab Tausende und Abertausende wie Hans und Hassan, die auf einem anderen Pferd reiten wollten als dem zahmen, von vorneherein für sie bereitstehenden. Und sie wollten das Pferd selbst satteln, nach ihrem eigenen Geschmack, und auf dem selbst gewählten Weg davongaloppieren, stolz die Fahne der echten Freiheit schwenkend« (Allafi: Die letzte Nacht mit Gabriela, 2012, 86). 567   Allafi: Die letzte Nacht mit Gabriela, 2012, 29. 568   Ebd., 74. Damit wird die dreifache Liebesbeziehung zwischen Hans, Gabriela und Hassan thematisiert. Der erste Teil der Trilogie endet mit der Trennung von Hans und Gabriela nach einer Ehe, die beinahe zwei Jahrzehnte gedauert hat, und der zweite Teil stellt die Figur Hans und seine Laufbahn nach der Trennung von Gabriela in den Vordergrund. 569   Allafi: Die Nächte am Main, 1998, 77.

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das Mainufer gewinnt dabei eine besondere Bedeutung: Es ist nämlich der Ort von Hassans und Gabrielas Spaziergängen; dort, wo ein iranischer Mann zum ersten Mal in seinem Leben eine deutsche Frau, und diese deutsche Frau zum ersten Mal in ihrem Leben einen iranischen Mann intensiv kennen lernt.570 Die Mainpromenade und das Mainufer werden für die Hauptfiguren in Die Nächte am Main zu einem prägenden Erinnerungsort. Die Inszenierung von Hassans und Gabrielas sich anbahnender Beziehung macht aus der Mainpromenade ein Symbol interkultureller Begegnung mit einer romantischen Färbung: Heute Abend war eine deutsche Frau wie ein Engel aufgetaucht und hatte ihn wieder mit dem fabelhaften Begehren zu leben erfüllt. Die Freiheit, die er in den Büchern gesucht hatte, hatte er nun neben sich.571 Hassans und Gabrielas Liebesbeziehung steht allerdings keineswegs im Widerspruch zu Hans’ und Gabrielas Ehe; im Gegenteil: Die Dreieckbeziehung relativiert die normierende Vorstellung einer intakten Ehe im Sinne aller Beteiligten. Mit der freien Liebesbeziehung befreit Allafi die Liebe von konventionellen und bürgerlichen Schranken572 und stellt sie in einem Konzept dar, das Liebe und Sexualität als natürliche und körperliche Bedürfnisse betrachtet. Für diese Interpretation sprechen zwei Punkte: Eine Festschreibung der Beziehung wird nicht angestrebt, und die Wandelbarkeit der Beziehung ist nicht ausgeschlossen. Diese Weltanschauung vertritt Hans, wenn ihn die Beziehung von Gabriela mit dem Mann »mit dem südländischen Aussehen«573 kaum stört. Hans entgegnet Gabriela sogar: Ich kenne den Mann zwar nicht, aber ich liebe dich, wie du bist. Wir sind doch freie Menschen, wir haben uns zumindest vorgenommen, frei zu sein, wenn es auch mitunter schwierig sein mag, sich an die Spielregeln der Freiheit zu halten. Obwohl, da wirst du mir recht geben, die Freiheit keiner Regel unterworfen ist.574 Der Beschreibung der freien Liebe im Dialog geht eine Diskussion zwischen Gabriela und Hans voraus. Hier einigten sie sich nämlich über die »Selbstverständlichkeit« der menschlichen Liebe, über ihre Gleichheit und Intensität jenseits kultureller und geschlechtsspezifischer Beschränkungen.575 Demnach empfindet Hans »für Männer und Frauen, die Freiheit suchten«, Sympathie und sieht das Verhältnis zwischen Gabriela und Hassan als »Bewährungsprobe, in der der entfremdete Mensch entweder sich 570 Ebd., 86. 571 Ebd., 88. 572   Mit Liebe in der Interpretation des Sozialismus werden Charles Fouriers (1772-1837) Gedanken assoziiert, die in den 1960er Jahren bei Wilhelm Reichs Anhängern Gehör fanden und die Kritik an der Ehe als Institution in der sozialistischen Bewegung begründeten. Charles Fouriers Werk Le nouveaux monde amoureux (Die neue Liebeswelt) entstand um1820, wurde aber erst im Jahre 1967 in einer vollständigen Ausgabe der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Siehe zur Diskussion ausführlich Chlada et al.: Charles Fourier, 2014, Schott: Lob der of fenen Beziehung, 2010. 573   Allafi: Die Nächte am Main, 1998, 90. 574 Ebd., 91. 575 Ebd., 108.

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selbst ein Stückchen näherkam, oder eben doch scheiterte«.576 Gabriela war bemüht, beide Männer »gleichberechtigt zu behandeln«.577 Auf diese Weise ref lektieren Hans, Hassan und Gabriela den sozialistischen Diskurs der Liebes- und Lebensauffassung,578 auf deren erfahrbare Konsequenzen Gabriela anspielt: Sie versteht das Leben als eine Sammlung von »Seminaren«, die den Prozess der »Selbstverwirklichung« steuern.579 Über die freie Liebe als ein Kriterium der Liebesauffassung hinaus wird das kommunikative Wissen der Erzählwelt in der Frankfurter Trilogie auf eine konkrete Weise im politischen Diskurs der sechziger und siebziger Jahre hergestellt. Während die Auseinandersetzung mit der Revolutions-Idee den Rahmen dieses Diskurses festlegt, dient die Positionierung von Hasan zur Konkretisierung einer Weltanschauung als kausalem Zusammenhang der Figurenmotivation. Hassan wird als eine Figur charakterisiert, die gerne »auf die Verhältnisse des Systems« schimpft und sich als »Unruhestifter« konkret gegen das herrschende System wendet.580 Ein weiteres konkretes Kriterium dieses Diskurses bildet die »Frage des ungleichen Tauschs zwischen der Dritten Welt und den Industrieländern« und die »Absage an die Ausbeutung eines Teils der Erde durch die Industrieländer«,581 die den Gesprächsstoff zwischen Hans, Hassan und Gabriela ausmachen. Die revolutionäre Idee der Studentenbewegungen, bildet die Brücke zur Hassans Weltanschauung. Hassan geht es »auf jeden Fall um die Revolution und die totale Veränderung der Welt zugunsten der Verdammten dieser Erde«, woraus er seine Haltung in den Protesten für die »Freiheit der Menschen und ihr Recht auf ihren eigenen Körper« bezieht,582 in den Demonstrationen gegen Ausländerfeindlichkeit und Krieg teilnimmt und die Auffassung über »Völkerverständigung und Frieden auf der ganzen Welt« sowie »die frei Liebe und das Lieben« unterstützt.583 Sowohl Hans als auch Hassan werden dialogisch als Gegner der kapitalistischen Politik positioniert. Erweitert wird ihre Positionierung auf religiösen und kulturellen Aspekt. Hans nutzt die Diskussion über das Wein- und Alkoholverbot der Mullahs und bezeichnet diese als »Gefangene ihres Glaubens«; auf Hans’ Feststellung folgt Hassans durchdachte Reaktion, das Verbot sei kein gravierender Fehler, solange man weder sich selbst noch die anderen für Gefangene der eigenen Meinung oder des eigenen Glaubens halte.584 Ihre politische Diskussion ist interkulturell organisiert, denn Hans’ Blick ist auf die Entwicklungen im Iran der ausgehenden siebziger Jahre gerichtet, Hassan blickt aber auf die sozialistischen Bewegungen in der Bundesrepublik. Die Befürwortung von Grundideen des Sozialismus bildet in ihrer wechselnden Perspektive das Ähnlichkeitskriterium. Hassans Anspielung auf die Inanspruchnahme individueller Rechte des Bürgers leitet Gabriela zur Begründung ihrer Kritik an der Kontrolle des Privaten durch den 576 Ebd., 155. 577 Ebd., 109. 578   Siehe hierzu Braby: Die moderne Ehe, 2011, 107-110. 579   Allafi: Die Nächte am Main, 1998, 92. 580   Allafi: Gabriela findet einen Stapel Papier, 105. 581   Allafi: Die Nächte am Main, 1998, 95. 582  Ebd. 583 Ebd., 96f., hier 97. 584 Ebd., 117.

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Staat. Dieser Gesprächsstoff dient Allafi als Grundlage zur kritischen Positionierung seines iranischen Protagonisten: Ich weiß, daß es in Deutschland viele Menschen gibt, […] die andere, insbesondere Nichtdeutsche, belehren wollen, auch im Privatleben. Stell dir vor, der Staat würde diese Leute auf einmal per Gesetz zu ihrem Tun ermuntern. Was wird dann aus Deutschland? Könntest du mit Hans so leben? Ich meine, einen Ausländer einladen und mit ihm diskutieren?585 Mit diesem Argument greift Hassan auf das Thema der Freiheitsregelung durch den Staat zurück, das zwei Jahre nach dem ersten Teil der Frankfurter Trilogie als ›deutsche Leitkultur‹ propagiert werden sollte. Diese Auffassung wird in einer Szene im Arbeitsamt thematisiert. Hier trifft Hans während der Vorbereitung seiner Reportage über die Lage der Ausländer in Deutschland auf Hassan, der das Amt aufsucht, um eine Erlaubnis zur Anmeldung zu einem Sprachkurs zu beantragen,586 denn seinen ersten Schritt bei der Annäherung an die deutsche Kultur sah er im Erlernen der deutschen Sprache. Diese Szene ref lektiert den Blick eines Ausländers auf die staatlichen Verhältnisse. Positioniert wird der Typus des Ausländers in einem »Widerstreit zwischen Hoffnung und Hilf losigkeit«; Hassan sei zwar der »neue Bürger«, aber »offiziell heißt er Ausländer«.587 Das vermeintliche Bürger-Dasein erfährt durch das Attribut neu eine Relativierung, die sich in dem Bekenntnis »Bürger war er nicht«, »noch war er Kandidat, beziehungsweise war er auf dem Weg, Kandidat zu werden, nur nicht auf dem besten Weg« widerspiegelt.588 Dieses Spannungsverhältnis wird durch den Bezug auf die administrative Ebene verstärkt, denn das Leben dieses Kandidaten bewegt sich zwischen Amtsgängen und Antragsstellungen: »Die Sorge, die Anspannung, die ihn von Amt zu Amt beim Auf bau des neuen Lebens begleitete, zogen einen eisernen Vorhang zwischen die verlorene Zeit und die Gegenwart«.589 Beim Warten im Arbeitsamt scheint dieser eiserne Vorhang jedoch ironisch, wenn dabei das Fremde und die Heimat gleichwertig werden: »Zum Teufel mit diesem verdammten Schicksal, ein Leben lang auf ein normales Leben zu warten! Wie lange soll diese Warterei noch dauern? Wäre ich nur in meinem Heimatland geblieben, dann hätte ich solcherart Schwierigkeiten nicht erlebt.« Aber er besann sich: »Ach was, dort war es ja auch nichts. Man vergißt alles so schnell.« 590 Die Perspektive vom deutschen Arbeitsamt auf die iranische Heimat591 kehrt sich sogleich in die Perspektive von der Heimat auf die Bundesrepublik um und mündet in Hassans kritischer Einstellung, denn das in seiner Heimat verbreitete Bild von der 585 Ebd., 118. 586 Ebd., 121f. 587 Ebd., 123. 588  Ebd. 589 Ebd., 124. 590 Ebd., 125f. 591   Die Perspektive auf die historische Heimat für jemanden wie Hassan, der offenbar ein »sehr gutes« Erinnerungsvermögen besitzt (Allafi: Die Nächte am Main, 1998, 147), bleibt stets offen: »Die Kind-

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Bundesrepublik ist mit der »Realität von hier in keiner Weise identisch«.592 Diese Erkenntnis erinnert an Tufans Bemühungen, durch seine Bilder eine andere Sicht auf Deutschland zu vermitteln, die dem positiven Bild entgegenwirken soll.593 Wie diese Realität von Hassan erfahren wird, stellt der Besuch beim Arbeitsamt als »Anfang seines neuen Lebens«594 im Labyrinth der Bürokratie dar. Hier geht es lediglich um die Genehmigung der Teilnahme an einem offiziellen Sprachkurs. Nach langem Warten sind schließlich der Bürger-Kandidat und sein Dolmetscher an der Reihe: Der Beamte […] wandte sich wieder um. Ohne die beiden Männer, die direkt vor ihm standen, zu beachten, rief er: »Der Nächste!« Auch dieses Mal ohne Bitte. Warum er den nächsten aufrief, ohne daß zuvor jemand im Zimmer gewesen war, war unklar.595 Kaum sind sie ins Gespräche gekommen, fährt der Beamte aus der Haut, weil Hassan einen Dolmetscher dabeihat und entgegnet: »Wer kein Deutsch kann, hat hier nichts zu suchen! Gehen Sie raus, hier braucht man keinen Dolmetscher!«596 Als Gegenbeispiel lässt der Erzähler einen weiteren Beamten auftreten, der Hassan und seinen Begleiter zu sich ruft: Der Beamte lachte ihn [den Dolmetscher] an, während er das Formular des neuen Bürgers studierte. […] »Wir wissen alle, daß in Ihrem Heimatland Recht und Gesetz mißachtet werden. Wir müssen uns bemühen, daß wir zumindest hier menschlich miteinander umgehen und die uns zustehenden Rechte beachten.« 597 Die Kontrastierung beider Beamten in einer Konf liktsituation ref lektiert die gleichzeitige Festigung und Relativierung der Exklusion. Die Intensität erreicht die Konf liktszene in einer zweifachen Ironie: Zum einen lernt der Bürger-Kandidat das Wort Augenblick im Arbeitsamt: Es heiße, man müsse lange warten und werde dann beschimpft. Ferner gewinnt die Perspektive des Dolmetschers an Relevanz, weil dieser zur Reduktion der Stereotypisierung und Kulturalisierung beiträgt und das Konzept der ›Leitkultur‹ für bedeutungslos erklärt. So sagt er zu Hassan: »Du hast es selbst gesehen. Zwei Deutsche in einem Deutschland mit gleicher Aufgabe«.598 Von struktureller Bedeutung ist die Beschreibung dieser Szene im Arbeitsamt nicht nur, weil der Leser sie aus der Erinnerungsperspektive erfährt, sondern insbesondere deshalb, weil diese Erinnerungen in einem Gedächtnismedium auf bewahrt werden, um das es im dritten Teil der Trilogie geht. Am Frühstückstisch und in der Anwesenheit von Hassan bittet Hans Gabriela, einen Stapel Papier zu holen, bei dem

heit, die Jugendzeit, das alles ließ ihn nie in Ruhe. Mittlerweile glaubte er daran, daß das eine Krankheit in der Fremde war« (ebd.). 592   Allafi: Die Nächte am Main, 1998, 126. 593   TORKAN: Tufan, 1983, 98. 594   Allafi: Die Nächte am Main, 1998, 126. 595 Ebd., 132. 596  Ebd. 597 Ebd., 133f. 598 Ebd., 134.

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es sich um seine Notizen zu dem Vorfall im Arbeitsamt handelt.599 Gabriela, die in diesen Notizen blättert und vorliest, betont am Ende: »Das war eine alltägliche Geschichte, Hans. Warum wollte deine Zeitung nicht darüber berichten?«600 Durch das Wirken des Dolmetschers im Arbeitsamt und durch Gabrielas Lektüre wird Hassan zu einer schweigenden Figur, zu einem Objekt, über das gesprochen wird. In der Szene im Arbeitsamt spricht er nicht, weil er kein Deutsch kann, am Frühstückstisch spricht er nicht, weil Gabriela über ihn spricht: Manchmal schäme ich mich […]. Wo ich hingehe, immer bringe ich die Leute dazu, über die Probleme der anderen zu sprechen, und sorge dafür, daß ihre Gemütlichkeit zunichte gemacht wird.601 Darauf reagiert Gabriela selbstkritisch: »Du brauchst dich nicht zu schämen, Hassan. Wir Deutschen pf legen eine Scheingemütlichkeit«.602 Fremdkulturelle und eigenkulturelle Wahrnehmungshorizonte treffen hier aufeinander; sie konkurrieren nicht, sondern ergänzen sich: Was Hassan in eine störende Außenposition versetzt, wird von Gabriela als ›Schein‹ entlarvt. Kommentiert wird Hassans Situation durch den Erzähler selbst: Hassan wußte nicht, daß Sinn und Zweck seines Lebens daraus bestanden, die anderen mit Unannehmlichkeiten zu konfrontieren. Es war immer so, die Nomaden zerstören die Lebensgrundlagen der Ansässigen.603 Sowohl Gabrielas Haltung der eigenen Kultur gegenüber als auch Hassans Positionierung vollziehen sich in der Erzählperspektive. Hassan als Nomade dringt in das Leben der Ansässigen ein und zerstört dessen Normen und auf diese Weise auch das »Denken-wie-üblich«604. Seine Erfahrung der Sprachlosigkeit und der Kulturalisie599 Der Stapel Papier ist das Hauptmotiv der Frankfurter Trilogie und prägt vor allem den letzten Teil. Er bewahrt Beobachtungen und Beschreibung von Hans und Hassan auf und wird zu einem Erinnerungsmedium für Gabriela, denn seit sie ihn bekommen hat und auf ihm die Aufschrift »Für Gabriela« entdeckte (Allafi: Gabriela findet einen Stapel Papier, 2012, 6), beschäftigte sie sich öfter mit der Vergangenheit »und verglich ständig und immer wieder die vergangenen Zeiten mit der jetzigen Zeit« (ebd., 188). Das Hauptanliegen des letzten Teils der Trilogie ist nämlich die Frage Gabrielas und Angelas danach, was eigentlich mit dem Stapel Papier geschehen solle. Gabriela hat die Idee, die Papiere in der Zeitung, für die Hans arbeitete, zu veröffentlichen (ebd., 103). Angela hingegen möchte aus ihnen ein Theaterstück für ihre Schule machen, was ihr schließlich gelingt. Im Gespräch zwischen Gabriela und dem Chefredakteur der Zeitung, Franz Kaputtmacher, werden intertextuelle Bezüge der drei Teile über das Erscheinen der Hauptfigur (Gabriela) und des Hauptmotivs (Stapel Papier) im Titel des zweiten und des dritten Teils hinaus immer deutlicher, und zwar durch Gabrielas Hinweis auf den Autor: Gabriela bekundet dem Chefredakteur, »ein Verrückter« habe über Hans und Hassan zwei Bücher mit dem Titel Die Nächte am Main und Die letzte Nacht mit Gabriela geschrieben (ebd., 110). Mit diesem Hinweis literarisiert der Autor sein eigenes Werk. 600   Allafi: Die Nächte am Main, 1998, 135. 601 Ebd., 136. 602  Ebd. 603  Ebd. 604  Schütz: Der Fremde, 1972, 58.

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rung führen zu einer Kulturkritik, die an den Diskurs des Postkolonialismus erinnert. Diese Kritik wird Hassan in den Mund gelegt: Die Europäer, die heute als Westler betitelt wurden, waren es nicht gewohnt, anderen zuzuhören. Sie gingen davon aus, daß die anderen nichts zu sagen hätten. Und schon gar nicht über Europa zu urteilen. Man beharrte auf der Aberkennung der Subjektivität der anderen, der Nicht- oder Halbzivilisierten. Durch mehrere Jahrhunderte in ihrer herausgehobenen Position verwöhnt, betrachteten sie sich als das Einzelkind der Weltzivilisation, die anscheinend heimlich mehrere andere Kinder geboren hatte.605 Diesen Kontext führt Hassan in den gegenwärtigen Gesellschaftsdiskurs ein, indem er die Problematik in der Dialektik des Wir und des Nicht-Wir in das Bewusstsein ruft: »Man zeigt ständig Grenzen auf, die anderen seltsam anmuten, einem selber aber eine Selbstverständlichkeit sind«.606 Problematisch scheinen aber nicht die Grenzen zu sein, sondern die Instanz der Grenzziehung und die Willkür im Umgang mit Grenzen. So erfährt der Leser aus der Erzählerperspektive: Hier in diesem Land, im Herzen der europäischen Zivilisation, hatte er [Hassan.] genügend Menschen erlebt, die den anderen für ihre Zwecke zu nutzen verstanden. Man war ausländerfreundlich, wenn man damit Karriere machen konnte. Man gab sich multikulti, wenn man eine Nische für sich schaffen konnte. Man beschäftigte sich mit ausländischen Kulturen, wenn gerade im Parlament beschlossen wurde, die ausländischen Kulturen zu fördern, und dafür Gelder bereitgestellt wurden. Um als liberal zu gelten, legte man sich einen Türken als Freund zu. Der Mensch wurde als Träger irgendeiner nützlichen Eigenschaft behandelt, aber in den seltensten Fällen als purer Mensch.607 Die Gesellschaftskritik, die den Erzähler mit Blick auf Hassan nach achtzehn Jahren Aufenthalt in Deutschland äußert, lässt die veränderte Denkweise der Figur selbst durchblicken: Hassan habe »ein Stück Pragmatismus«608 entwickelt. Im Gegensatz zu SAIDs Ich-Figur, zu TORKANs weiblichen Figuren und der Figur Leyla/Asadeh kommt eine Rückkehr in den Iran für Hassan nicht in Betracht. Während er zu Beginn des Romans »immer wieder ein Stück Deutschland« entdeckte, »ohne von den Deutschen entdeckt zu werden«,609 entwickelt sich der Bürger-Kandidat im Verlauf der Erzählung zu einem kritischen Bürger mit Pragmatismus. Dessen bedient er sich im Gespräch mit Gabriela insbesondere bei der Relativierung der Kategorie von Wir und Nicht-Wir: »Achtzehn Jahre ist ein Leben lang«, philosophierte Gabriela […]. »Es ist ja interessant, deine Sozialisation und achtzehn Jahre Erfahrung in Deutschland zu vergleichen. Wie fühlst du dich nach achtzehn Jahren bei uns?« 610 605   Allafi: Die Nächte am Main, 1998, 169. 606 Ebd., 119. 607 Ebd., 120. 608 Ebd., 187. 609 Ebd., 85. 610   Ebd., 214. – Im Kontrast dazu steht allerdings die folgende Stelle: »In Gabrielas Armen fühlte sich Hassan als Mensch, nicht als Träger der Informationen über einen Ort, an dem er nur zufällig gebo-

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Obwohl Hassan sich als Teil dieser Gemeinschaft betrachtet, sieht er sich Gabrielas Exklusionsversuch durch den Ausdruck »bei uns« ausgesetzt. Heftig reagiert er auf die Frage nach seiner Befindlichkeit, antwortet harsch: »Beschissen«611 und fährt fort: »[…] Wenn du so das ›bei uns‹ betonst, als wärest du die neue Eigentümerin Deutschlands, ich verteidige Iran nicht und verurteile ihn auch nicht. Das gilt genauso für dein Deutschland. Beide Länder kenne ich wie meine Westentasche.« 612 Was diese Reaktion bedeutet, erfährt der Leser wie bei Allafi üblich durch die Einmischung des Erzählers: »Er [Hassan] habe die Deutschen verdammt ernst genommen, sie geschätzt und geglaubt, er habe Freunde und ein neues Zuhause gefunden«.613 So dokumentiert das Ende des ersten Teils der Frankfurter Trilogie Hassans Ankommen in Deutschland und sein individuelles Bekenntnis trotz gesellschaftlicher Relativierung zu seinem Bürger-Dasein.

3.5.3.1 Metaphern einer interkulturellen Gesellschaft Im ersten Teil der Frankfurter Trilogie charakterisiert der Roman Die Nächte am Main Hassan als Figur mit einer Migrationsgeschichte. Dass diese Geschichte im deutsch-iranischen Migrationsgedächtnis keiner Singularität unterworfen ist, sondern im Gegenteil das Ergebnis eines miteinander verschränkten sozialen und kulturellen Wechsels darstellt, bildet den Erzählstoff dieses ersten Teiles. Aus dem deutsch-iranischen Gedächtnis kann hergeleitet werden, dass die Migration über einen bloßen Ortswechsel hinaus auch kulturübergreifend als Ergebnis individueller und kultureller Identitätsarbeit begriffen werden kann. Diese Identitätsarbeit wird in Allafis interkultureller Schreibweise mit Hilfe einer Figurenkonstellation geleistet, die ein interkulturell organisiertes Leben in Szene setzt. Die Inszenierungen über den Bürger-Kandidaten sind nur ein Beispiel interkultureller Inszenierung. Ein weiteres Kriterium der interkulturellen Schreibweise zeigt sich darin, dass sie den literarisch übergreifenden Diskurs des politischen Sozialismus seit den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts mit Erzählungen über die Umbruchsphasen in der deutschen Gesellschaft in Szene setzt und auf diesen Szenarien die kognitiven Schemata der Erzählwelt auf baut. Zur Konstruktion der kognitiven Schemata dient das kulturelle Gedächtnis. Wurde dieses Gedächtnis in Nalan und Verloren an individuellen Entwicklungen des Protagonisten in dessen sozialen Umfeld rekonstruiert, verdankt es seine Entfaltungsformen nun im Roman Die Nächte am Main dem Generationengedächtnis. Zur Konstruktion dieses Gedächtnisses trägt die Konstellation einer deutsch-iranischen Familie bei. Diese Familienkonstruktion wird durch die Ehe von Gabrielas Klassenkameradin Mechthild mit einem reichen iranischen Arzt präfiguriert,614 erinnert zwar ren und aufgewachsen war. Bei Gabriela war er kein Kronzeuge der Demontage anderer Kulturen« (ebd., 179f.). 611  Ebd. 612 Ebd., 215. 613 Ebd., 215. 614 Eine weitere interkulturell konstruierte Familie wird durch Dr. Ebrahimi, genannt Ebi, und seine Frau Gisela gebildet. Ebi hat in Frankreich in Geschichte und in Deutschland in Philosophie promoviert, arbeitet in Deutschland aber als Geschäftsmann: »Die iranische Schicksalsergebenheit und

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an das Verhältnis von Inge und Kurosch in Kaltland, setzt aber in der Erzählwelt einen anderen Schwerpunkt, der die Identitätsarbeit im interkulturellen Identitäts-Diskurs der Literatur am Beispiel mehrfacher Migrationserfahrungen ermöglicht. Mechthild, »die Dame des deutsch-iranischen Hauses«, lebte mit ihrem Mann bis vor der Revolution noch in der Bundesrepublik: Die Revolution, die man später islamische Revolution nannte, machte ihr [Mechthild H.T.] jedoch einen Strich durch die Rechnung. Sie [Mechthild und ihr Mann] übersiedelten nach Iran, um den Wunsch ihres Mannes in Erfüllung gehen zu lassen, seinen Landsleuten zu dienen […]. Er brach alle Brücken und Stege hinter sich ab.615 Mit dem Auf kommen der Islamischen Revolution bricht in Mechthilds Leben eine familiäre Idylle zusammen. Die Schilderung dieses Zusammenbruchs, der zu einem literarischen Motiv des deutsch-iranischen Migrationsgedächtnisses bearbeitet wird, findet ihre Vorlage einerseits in Kaltland andererseits aber auch im amerikanisch-iranischen Migrationsgedächtnis des Films Not Without My Daughter (1991), der die Öffentlichkeit bereits Anfang der neunziger Jahre erreichte.616 Den intertextuellen Bezug zwischen Die Nächte am Main und Nicht ohne meine Tochter ist zuallererst durch die Figuren des iranischen Arztes, der nicht-iranischen Ehefrau und des Kindes gegeben. In Die Nächte am Main hat Mechthild einen Sohn. Zur analogen Konstruktion der männlichen Arzt-Figur und des Kindes tritt die Kontrastierung der weiblichen Figuren: Mechthild versteht zwar kaum, was ihr Mann eigentlich im Iran vorhat, befürwortet jedoch die Entscheidung zur Rückkehr in den Iran, zumal sie und ihr Sohn während des ersten, einjährigen Aufenthalts viermal Deutschland besuchen konnten. Indem Allafi den einzigen Kontrastpunkt zu Nicht ohne meine Tochter durch die Reisefreiheit von Mechthild und ihrem Sohn konstruiert, stellt er das Gegenbeispiel zu Betty und Moody dar und dekonstruiert somit die Stereotypisierung des autoritären ›orientalischen‹ Mannes in Nicht ohne meine Tochter. In Allafis Roman wird das Unglück nicht auf die Familie des Ehemannes projiziert, sondern auf die Sache selbst, nämlich auf die Revolution, denn es sind Mitglieder der Revolutionsgarde, die Mechthilds der deutsche Pragmatismus hatten aus ihm einen erfolgreichen Geschäftsmann, genauer gesagt, einen Händler auf den Wochenmärkten, gemacht« (Allafi: Die Nächte am Main, 1998, 187f.). 615   Allafi: Die Nächte am Main, 1998, 107. 616   In Deutschland erschien das Buch in der Übersetzung von Herlind Grau und Klara D. Klein unter dem Titel Nicht ohne meine Tochter (1988). Der Film handelt ebenfalls von der Geschichte eines iranischen Arztes, einer US-amerikanischen Frau und ihrer gemeinsamen Tochter, die nach der Islamischen Revolution wegen des Wunsches ihres Ehemannes, seinen Landsleuten zu dienen, mit in den Iran reisen. Das Filmdrama basiert auf dem im Jahre 1987 erschienenen Erfahrungsbericht von Betty Lover, die den in den USA lebenden, wohlhabenden iranischen Arzt Bozorg Mahmoody, genannt Moody, vor der Islamischen Revolution heiratete und mit ihm in Michigan lebte. 1984 kehrte die Familie für einen Kurzbesuch in den Iran zurück; dieser Besuch aber wurde zu einem achtzehnmonatigen Albtraum. Betty Mahmoodys Autobiographie erzählt hasserfüllt von dieser Zeit und beschreibt die Flucht mit ihrer sechsjährigen Tochter Mahtob, eigentlich Mahtab, d.h. Mondschein. Diesen Namen erhielt sie, weil sie in einer Vollmondnacht geboren wurde. Diese Geschichte wurde 2015 mit dem Titel Endlich frei von Mahtob wieder aufgegriffen, die selbst kaum Erinnerungen an den Aufenthalt im Iran hatte und diese lediglich aus der Mutter-Perspektive literarisch entwickeln konnte (Alanyali: »Nicht ohne meine Tochter« – Jetzt erzählt das Kind, 2015).

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Ehemann im eigenen Hause verhaften und vor den Augen seiner Frau abführen. »Er hatte seine Freiheit im Tod gefunden«.617 Der Tod von Mechthilds Ehemann steht stellvertretend für den Massenmord an den iranischen Gefängnisinsassen in den 1980er Jahren. Anstatt gängige Stereotype zu bedienen, thematisiert Allafi die gesellschaftspolitische Problematik unter der fundamentalistischen Diktatur der Islamischen Republik und erzeugt dabei eine Konstruktion, in der auch Mechthilds Identitätsarbeit eine Umbruchsphase erfährt: »Das tragische Schicksal des iranischen Arztes hatte aus Mechthild eine andere Frau gemacht, eine Frau, die nun wußte, wo der richtige Platz der Dinge war«.618 Mechthilds reagiert nach der Familientragödie anders als Betty und ihre Tochter, die ihre Heilung im Schreibprozess suchten. Mechthilds erlebt nämlich eine individuelle ›Revolution‹: Die dumme Mechthild, wie die anderen sie damals nannten, hatte eine Revolution gemacht, und zwar gegen niemanden anderen, sondern für sich selbst. Das war es, was Gabriela an ihr mochte. Seit sie Hassan kennengelernt hatte, dachte sie öfter an Mechthild, und sie trafen sich sogar ab und zu.619 In Die letzte Nacht mit Gabriela stirbt Mechthild. Eines Tages schlägt Gabriela die Zeitung auf und entdeckt Mechthilds Todesanzeige. Sie, die bei der Beerdigung anwesend ist, vernimmt, wie der Priester Mechthild als »vorbildliche Christin620 bezeichnet, obwohl er weiß, dass ihr verstorbener Mann ein Moslem war«.621 Die Aussage wird weiterhin nicht thematisiert, so dass es offenbleibt, inwiefern das Muslim- und Christsein sich bei der Charakterisierung von Mechthild ausschließen sollen. Doch nimmt Gabriela diese Aussage zum Anlass und stellt kulturelle Normen und Gepf logenheiten ironisch in Frage: Frau Thomas [Mechthilds Mutter] war immer noch der Auffassung, wenn Mechthild nicht diesen iranischen Arzt geheiratet hätte, sie nicht mit ihm nach Iran gezogen und er nicht hingerichtet worden wäre, und wenn ihr Sohn sich nicht viele Jahre später erhängt hätte, dann wäre Mechthild ein anderes Schicksal beschieden gewesen, vielleicht ein besseres, vielleicht ein schlimmeres, aber Hauptsache ein anderes.622 Die Anspielung auf das ›Schicksal‹ wird in Frau Thomas’ Worten durch die demonstrative Bestimmung des iranischen Arztes kulturalisiert und bewirkt dabei die Positionierung ihrer Tochter auf der ungleichwertigen Achse des Eigenen und des Fremden. Auf diese Ungleichwertigkeit verweist auch die kontrastive Perspektivierung von Mechthild und ihrer Mutter:

617   Allafi: Die Nächte am Main, 1998, 107. 618  Ebd. 619 Ebd., 108. 620 Auch hier ist der intertextuelle Bezug zu Nicht ohne meiner Tochter gegeben. Am Abend ihrer Ankunft in Michigan bringt Betty ihre Tochter mit einem Gebet ins Bett, das mit den Worten »In Jesu Namen. Amen!« beendet wird. Das christliche Fundament wird vorausgesetzt. 621   Allafi: Die letzte Nacht mit Gabriela, 2000, 6. 622 Ebd., 7.

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Zunächst mochte Frau Thomas den Doktor nicht besonders und sie wünschte sich, ihre Tochter hätte einen Deutschen geheiratet […]. Mit der Zeit gewöhnte sie sich an ihn, schließlich hatte sie ihn sogar in ihr Herz geschlossen. Der Doktor half, obwohl er Doktor war, Frau Thomas in der Bäckerei […].623 Frau Thomas nimmt sich nach dem Freitod ihrer Tochter das Leben. Vor ihrem Tod hatte sie einem Iraner ihre Bäckerei verkauft – als Erinnerung an die Liebe ihrer Tochter zu ihrem iranischen Mann.624 Mechthilds Tod aber ist nicht das Ende einer Geschichte interkultureller Begegnungen. Die Erzählperspektive in Die letzte Nacht mit Gabriela erstreckt sich über Mechthild hinaus auf die Nachfolgegeneration: Angela, die der gleichen Generation wie Gabriela und Mechthild angehört, hat einen Sohn, Fabian, und eine Tochter, Louisa.625 Fabian absolviert erfolgreich sein Jura-Studium und steht kurz vor der Heirat mit der Iranerin Anaroxana, die im Roman durch Angela stereotypisiert wird, und zwar nicht allein wegen ihrer Herkunft, sondern aus Angst, dass Fabian »Islamist wird«.626 Zwar verweist Allafi hier auf gegenwärtige Formen religiöser Stereotypisierung, gibt aber zugleich ein Abbild der deutschen Gesellschaft durch die Beschreibung der Hochzeitsgäste und relativiert Angelas Stereotypisierung: Die Gäste bestanden nicht nur aus Urdeutschen und iranischen Deutschen, sondern auch aus türkischen, chinesischen, koreanischen, spanischen und arabischen Deutschen, die meisten dynamische junge Menschen, die sich hübsch gekleidet hatten. Angela war erstaunt und irgendwie sprachlos, aber auch unsicher, unheimlich unsicher. Es irritierte sie, dass die Frauen so leicht bekleidet waren, selbst die älteren Frauen bildeten keine Ausnahme, hier war keine Spur von Verhüllung mit Schleier oder Kopftuch, dem Bild von iranischen Frauen, das in ihrem Gehirn eingemeißelt war. Gabriela waren solche Partys nicht fremd, aber auch sie stellte fest, dass sich […] vieles geändert hatte, die jungen Leute hatten keinerlei Vorbehalte gegeneinander, gleich welcher Herkunft sie waren, und es war nicht zu übersehen, dass jede und jeder Einzelne allein als Mensch zählte. Keine Ideologien standen hinter ihrem Benehmen, unbelastet und ohne Vorbehalte gingen sie miteinander um. Es schien, als hätten sie keine Schubladen im Kopf und definierten oder ordneten sich gegenseitig als Türken, Araber, Deutsche, Juden, Christen, Muslime usw. ein.627 In dieser Momentaufnahme wird wie im Gespräch zwischen Hassan und seinem Dolmetscher mit der Zuschreibung deutsch gespielt. Außerdem werden Figuren jenseits ideologischer, herkunfts- wie religionsbezogener und stereotypisierender Einschränkungen so gezeichnet, dass die Vorstellung einer interkulturellen Gemeinschaft idea623  Ebd. 624 Ebd., 198. 625   Louisa hat einen indischen Freund, reist mit ihm nach Indien und absolviert dort ein Soziales Jahr (Allafi: Gabriela findet einen Stapel Papier, 2012, 75). Seinen Lebensmittelpunkt findet das junge Paar schließlich in Kanada. Sie ist der ›deutschen‹ Verhältnisse überdrüssig und bricht endgültig mit ihrer Heimat. Ihr einziger Bezug zu Deutschland ist die von ihr eröffnete ›deutsche‹ Bäckerei (ebd., 76-78). 626   Allafi: Gabriela findet einen Stapel Papier, 2012, 43. 627 Ebd., 49.

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lisiert erscheint. Durch Angelas Positionierung werden die Erfahrungshorizonte des Individuums und der Generation einander kritisch gegenüber gestellt. Die Pointe erfährt der Leser aus Gabrielas Munde: »Das ist eben die Veränderung, von der manche reden und die anderen einfach nicht zur Kenntnis nehmen wollen«.628 Die Veränderung findet in der erzählerischen Schilderung von Fabians Hochzeit einen symbolischen Ausdruck. Fabians Hochzeit lässt sich als Metapher für soziale Transformationen und für die Möglichkeit ihres Bewusstwerdens interpretieren. An diesem Prozess partizipieren nicht nur ›urdeutsche‹ Deutsche, sondern auch die sogenannte Generation der New Germans.629 Was als Quintessenz aus dem Gespräch zwischen den Freundinnen gewonnen werden kann, sind der Blick auf Transformationen des Kulturellen und die ironische Haltung gegenüber der interkulturellen Gemeinschaft ohne jeden Konf likt, jedes Risiko und jede Herausforderung. Diese idealistische Sichtweise spielt bei Hans und Hassan die zentrale Rolle. Sie werden zwar als Vertreter eines kritischen Geistes bezeichnet, haben es jedoch versäumt, »eine Brücke zur nachkommenden Generation zu schlagen«;630 diese denkt anders, sieht anders aus und hat andere Ansprüche. Die nachkommende Generation, die in der Hochzeitsgesellschaft zusammenfindet, wird in Allafis Werk zunächst durch Anaroxana und später durch Victoria figurativ beschrieben.

3.5.3.2 »Wer suchet, der findet«: Plurikulturelle Figuren in interkulturellen Schreib-Szenen Die Darstellung von Fabians und Anaroxanas Hochzeit in der Frankfurter Trilogie erzeugt eine Metapher für die Beschreibung gesellschaftlicher Veränderungsprozesse. An der literarischen Beschreibung sozialer Umwandlungen partizipieren weibliche wie männliche Figuren insofern, als diese Figuren ihre Identitätsarbeit zuallererst am Horizont historisch differierender Kontexte vornehmen, den Blick dann in die Erzählgegenwart lenken und schließlich über die eigene Position innerhalb der Veränderungsprozesse berichten. Diese Figuren repräsentieren die Generation der siebziger und achtziger Jahre und positionieren sich gegenüber kulturellen Transformationen ihrer Gegenwart unterschiedlich. In ihren unterschiedlichen Positionierungen vertreten sie jedoch einen ähnlichen Standpunkt, wie Gabriela ihn zum Ausdruck bringt. Mit der historischen Identitätsarbeit zum einen und der Generation der siebziger und achtziger Jahre zum anderen werden in der Romanpoetik der Frankfurter Trilogie zwei Zeiträume konstruiert, die sich unter Berücksichtigung des Generationengedächtnisses in die Generation der Eltern und der Kinder aufteilen ließe. Mit Blick auf die Generation der Kinder verfolgt die Romanpoetik eine Erzählstrategie, die zunächst auf die Rekonstruktion der elterlichen Erinnerungsarbeit abzielt. Die Identitätsarbeit der Kinder am Horizont elterlicher Erinnerungen wird jedoch nicht auf die Erinnerungsarbeit der Elterngeneration, d.h. nicht auf die biologische Ursprungsfrage beschränkt; ihr räumt die Erzählwelt Entfaltungsmöglichkeiten ein. Dies geschieht nur, weil die Identitätsarbeit sich in einem sozialen Rahmen vollzieht, den die Jetztzeit der Erzählung erst modelliert. Dieser soziale Raum durchläuft interkulturelle Veränderungen, die an der Hochzeitgesellschaft metaphorisch gestaltet werden. Die Hochzeitgesell628   Allafi: Gabriela findet einen Stapel Papier, 2012, 50. 629   Minnaard: New German, New Dutch, 2008. 630   Allafi: Gabriela findet einen Stapel Papier, 2012, 251.

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schaft als Metapher interkultureller Prozesse bedeutet die Zusammenführung der historischen und der gegenwärtigen Perspektive, aus der Transformationen des Kulturellen ablesbar werden. Die Figurengruppen der Eltern und Kinder gestalten die Erzählwelt der Frankfurter Trilogie als interkulturell. Die Eigenschaften dieser interkulturellen Erzählwelt lassen sich in der Offenheit gegenüber von Differenzen, der Bereitschaft zum Wechsel des kulturellen Kommunikationskontexts und nicht zuletzt in der Mehrsprachigkeit zusammenfassen. Was diese Figurengruppen in der ausgestatteten Erzählwelt miteinander verbindet und diese Verbindung als Narrative der Kultur beschreibt, ist ihr gemeinsamer Beitrag zur Modellierung des sozialen Rahmens in der Erzählwelt. Die wechselnde Perspektive dieser Modellierung auf kulturelle Semiosis erzeugt die Dynamik der Erzählwelt zum einen und veranschaulicht zum anderen die Wandelbarkeit der Kultur.631 Diese zweite Gruppe wird in der Frankfurter Trilogie durch die Figuren Anaroxana und Victoria vertreten, die trotz ihrer plurikulturellen Identitätsarbeit – oder vielleicht gerade deswegen – die Mechanismen einer kulturellen Mehrheits- und Minderheitskonstruktion umso deutlicher vor Augen führen. Die Mehrheit der Figuren in der Frankfurter Trilogie trägt ihren Namen dem kulturellen Kontext entsprechend. Hierzu gehören die typischen Namen Hans, Hassan, Gabriela und damit die herkömmlichen und vertrauten Identitätsmuster. Fabians zukünftige Frau aber trägt einen zweiteiligen Namen: Ana und Roxana. Die Etymologie des Doppelnamens ist griechisch und iranisch. Der erste Bestandteil verweist auf den in europäischen Sprachen gebräuchlichen griechischen und hebräischen Namen Anna. In der Etymologie geht der Name Roxana auf den avestischen Namen Raoxshna zurück, der sich im Neupersischen zu Roshanak (die Strahlende, Morgenröte) entwickelt und in dieser Variante auch in den ostiranischen Sprachen wie etwa in Paschtu gebräuchlich ist. Über das Griechische fand er in die europäischen Sprachen Eingang. Zu diesem Namen gehört auch seine Geschichte: Roxana (ca. 343-310 v. Chr.) war die Tochter des sogdischen Stammesfürsten Oxyartes, die er vor dem Ansturm Alexanders d. Gr. in die Felsenburg des Ariamazes brachte.632 Roxana wurde bei der Einnahme durch Alexander gefangengenommen. Schließlich heiratete dieser Roxana gegen alle herrschenden Regeln Griechenlands.633 Die Schönheit Roxanas wurde mit der der Gattin des persischen Königs Dareios III. verglichen und sie deshalb die zweitschönste Frau Persiens genannt.634 In Anaroxana tritt die interkulturelle Identifizierung bereits im Namen zu Tage. Anaroxanas Identifikation in der Jetztzeit der Erzählwelt als iranisch-deutsch spielt auf die interkulturelle Gestaltung der Erzählwelt nach der Metapher der Hochzeitsgesellschaft an. Kulturelle Heterogenität ist das Kennzeichen des Namens wie der Hochzeitsgesellschaft. Mit ihr wird das kulturelle Verständnis der Elterngeneration herausgefordert: Alles war ihrem [Gabrielas und Angelas] Empfinden nach durcheinandergeraten, nichts war mehr an seinem Platze. Obwohl sie durch ihren Beruf intensiven Kontakt zu jungen Menschen hatten, fühlten sie sich außerstande, diese Wesen wirklich zu verstehen.635

631  Koschorke: Wahrheit und Erfindung, 2012, 101-106, hier 102. 632   Curtius Rufus: History of Alexander, 1976, VIII, 232-363. 633  Plutarch: The Life of Alexander, 2008, VII, 4. 634  Arrian: Anabasis, 1884, IV, 19. 635   Allafi: Gabriela findet einen Stapel Papier, 2012, 72

3. Mediale Bilder interkultureller Identitätsarbeit

Eine Erweiterung erfährt die plurikulturelle Identifikation in den interkulturellen Begegnungen Victorias. Diesen Namen trägt sie nicht von ungefähr; sie repräsentiert in der Erzählwelt der Frankfurter Trilogie eine Figur, die sich als einzige in verschiedenen kulturellen Situationen behaupten kann und sich so im kulturellen Wandel als Siegerin zeigt. Während im ersten Teil der Frankfurter Trilogie Hassan und Hans – um mit Gabriela und Angela zu sprechen – ›an ihrem Platz stehen‹ und ihre historische Identitätsarbeit ungeachtet des Ortes, an dem sie sich gerade befinden, in der Jetztzeit der Erzählwelt jeweils im iranischen und im deutschen Kontext leisten, dreht sich die Perspektive bei der Positionierung von Victoria in Die letzte Nacht mit Gabriela um, so dass durch sie der Iran aus deutscher Perspektive erfahren wird. Victoria ist Hans’ Arbeitskollegin und Freundin mit einer eigenartigen Lebensauffassung, die der Maxime »Wer suchet, der findet«636 folgt. Das Motiv der Suche gilt in Victorias Leben als wegweisend. Nach Hans’ Trennung von Gabriela bahnt sich zwischen Victoria und Hans eine Beziehung an, die ihren Höhepunkt in der Beschäftigung mit der iranischen Kultur erreicht. Für Hans bedeutet diese Beschäftigung einen Selbstfindungsprozess und die Möglichkeit einer »inneren Revolution«637. Seine Begeisterung für die iranische Kultur und für den Sufismus wird später in einen Reiseplan in den Iran praktisch umgesetzt. Teils in Deutschland, teils im Iran entdeckt er die Sufis, lässt sich für ihre Lebensweise und Weltanschauung begeistern und nennt sich schließlich »ein[en] deutsch gebürtig[en] Derwisch«.638 Das Derwisch-Dasein macht aus dem einst rebellisch-kommunistischen Hans nun einen idealistischen und zufriedenen Sufi. Der verwirrte Idealist durchläuft im zweiten Teil der Trilogie die Metamorphose von einer politischen zu einer mystischen Weltanschauung. Hans mag die charmante, hübsche und selbstbewusste Victoria639 und hatte den Verdacht, in sie verliebt zu sein, obwohl er sie noch nicht allzu lange kannte. Viele Männer hatte sie [Vitoria] kennen gelernt, aber keiner von ihnen war in den Genuss ihres entzückenden Körpers gekommen, eines Körpers oder, ihrer Wortwahl nach, einer physischen Erscheinung, deren Schönheit kaum zu beschreiben war. Sie ließ höchstens einmal jemanden wie Hans im Schweiß ihres Körpers baden. Das tat der Erwählte dann voller Wonne. Und kein Mann wagte es, mehr zu tun als das, was Hans getan hatte, es wäre auch schade gewesen, anders mit ihrem Körper umzugehen.640 Victoria vereint vieles in sich, dies erfährt der Leser aus der Erzählerperspektive: Victoria hatte sich vor vielen Jahren geändert, Stück für Stück. Sie stammte aus einer […] modernen Familie. Ihr Vater war Deutscher, ihre Mutter Engländerin, die ihrerseits aus einer englisch-iranischen Familie stammte. Die beiden waren kurz vor dem zweiten Weltkrieg in die Staaten übergesiedelt, unabhängig voneinander. »Ich bin in und um vier Kulturen aufgewachsen«, sagte sie immer. Damit meinte sie die amerikanische,

636   Allafi: Die letzte Nacht mit Gabriela, 2000, 80. 637 Ebd., 136. 638 Ebd., 162. 639 Ebd., 68. 640 Ebd., 71.

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die deutsche, die englische und die iranische Kultur. Und daraus hatte sie ihre eigene Kultur entwickelt.641 Sie identifiziert sich mit vier Kulturen und lebt ihre eigene Kultur. Ihr Vater war Professor für Deutsche Literatur an einer New Yorker Universität, ihre Mutter Lehrerin. Sie selbst hatte zwar jahrelang die Geschichte des Nahen Osten studiert, abgeschlossen hat sie das Studium jedoch nicht. Vielmehr verhalf es ihr, einen »festen Glauben an den orientalischen Geist« und »dessen Unannehmlichkeit, die man ihrer Meinung nach nicht erforschen, sondern verinnerlichen sollte«,642 zu entwickeln. Den ›Glauben an den orientalischen Geist‹ erlebt sie als Journalistin, die nun in den »persische[n] Teil ihrer Herkunft mütterlicherseits«643 reist. Den Entschluss dazu erläutert sie durch den Überdruss am Leben im Deutschland der Globalisierung. Kaum jemand sei hier »in der Lage, sich zu freuen«; »Jammerlappen« und »Meckertanten« nennt sie die Menschen, die sich anderen gegenüber »missgünstig«, »geistlos« und besserwisserisch verhalten.644 »Das ist mein gutes Recht«, erwidert sie Hans, »auf einen Teil meiner Kultur zu verzichten«.645 Victorias kritische Ref lexionen über Deutschland machen Hans nachdenklich. Er begibt sich an das Mainufer, den Ort des Erinnerns und Sinnierens: »Wer sind diese Deutschen?«, fragt er sich. »Ach Blödsinn!«, antwortet er sich zornig und warf seinen Zigarettenstummel auf den Boden. Schon der Gedanke an dieses Wort zerrte ihm an den Nerven. ›Die Deutschen sagen Deutsche, die Ausländer sagen Deutsche, […] wir sind doch in Deutschland, das ist doch klar, dass wir Deutsche sind, das braucht man doch nicht ständig zu betonen‹, schrie er außer sich […].646 Victorias Weltanschauung entfaltet sich in einer Lebensauffassung, die individuell und heterogen ist und sich deshalb einem »Kulturenzwang«647 entzieht. Ihre Identitätsarbeit ist vielschichtig. Sie spricht die Sprachen der Kulturen, die sich in ihr versammeln, auf die sie aber ihre Identifikation nicht festlegt, sondern individuell zwischen ihnen wechselt. Victorias Fähigkeit plurikultureller Identifikation löst im monokulturellen Hans eine Identitätskrise aus. Er erfährt, dass Victoria Deutschland zunächst in Richtung England und dann in den Iran verlassen will. Am Mainufer bemerkt er jedoch, dass für ihn ein Leben ohne Victoria »nicht als Mensch«, sondern als »Horizont, vor dem er die neue Welt sah« und sich »zugleich auch neugeboren« fühlte, keinen Sinn mehr hat.648 Die Mystikerin Victoria hört gerne klassische persische Musik und geht in ihr bis zur Ekstase auf. Ihre Lebensweise ist individuell und vielschichtig, ihre Weltanschauung selektiv und plurikulturell; Hans nennt diese Lebensweise und Weltanschauung schlicht »Victorias Kultur«649. Ihr Charakteristikum liegt in der Existenz eines individuellen Rau641 Ebd., 67. 642  Ebd. 643  Ebd. 644 Ebd., 116. 645 Ebd., 117. 646 Ebd., 122f. 647 Ezli et al. (Hgg.): Wider den Kulturenzwang, 2009. 648   Allafi: Die letzte Nacht mit Gabriela, 2000, 126. 649 Ebd., 64.

3. Mediale Bilder interkultureller Identitätsarbeit

mes zum Sinnieren über den Zweck des Lebens. Die Ordnung dieses Raumes bestehe laut Hans im Anspruch des Individuums auf Nachdenken und Mündigkeit und auf die Gestaltung des Lebens durch die völlige Hingabe an das, was der Geist begehre. ›Victorias Kultur‹ gestaltet sich in der Gegenwart, erteilt weder der Geschichte eine Absage, noch folgt ihr unreflektiert; Gegenwart und Geschichte finden zueinander und erzeugen etwas Neues.650 Für Victorias Lebensweise und Weltanschauung interessiert sich Hans zunächst im höchsten Maße. Sein Lebensweg beginnt in Deutschland mit der Lektüre von Büchern über Mystik und mit dem Erlernen des Persischen.651 Sein Zugang ist persönlicher Natur und folgt keiner wissenschaftlichen Maxime. Daher fasste er die Mystik eher als Sehnsucht nach der Unendlichkeit, nach der Ewigkeit der Freiheit, der Freiheit von dieser materiellen Welt auf, der Freiheit von den Dogmen der Religion und Ökonomie, ohne Hass und Gier und die Worte »haben« und »mein«, ohne schießen und erschossen werden, ohne Lüge und Arroganz. Eine ganz einfache Freiheit, ohne großes philosophisches und politisches Getöse.652 Mit der Freiheit in ihrer mystischen Auffassung im Sein und nicht im Haben entdeckt Hans die Vielfalt des Freiheitsbegriffs und verwirft seine Vorstellungen vom westlichen Individualismus.653 Allmählich beginnt er, seine anfangs erteilte Absage an ›Victorias Kultur‹ und die Ablehnung des sophistischen »Geschwafel[s]«,654 zu revidieren. Es scheint, als würde er das »Geheimnis, wie sie [Victoria] bei der Arbeit so rational und distanziert und im privaten Leben so emotional und gesellig« sein kann und wie sie es schafft, »in einer metaphysischen Welt zu schweben, und zwar ohne irgendwelche Hilfsmittel außer der Musik«,655 begreifen. Neben die Mystik tritt die Lektüre der persischen Literatur, von der Hans als Teil von ›Victorias Kultur‹ begeistert zu sein scheint. »Gelesen hatte sie […] weder Krimis noch leichte Literatur, nur Klassiker, und zwar die alten iranischen Mystiker« in Originalsprache, denn das Persische beherrschte sie äußerst gut; sie »war dankbar für das Erlernen dieser Sprache, die ihre Mutter wiederum von ihrer Großmutter geerbt hatte«.656 Sprache wird auf diese Weise nicht nur zu einem historischen Identitätskriterium von ›Victorias Kultur‹, sondern auch zu ihrem Schutz: »Sie hätte sich damals nicht vorstellen können, dass ihr diese Hälfte ihrer mütterlichen Kultur solch 650   Dies spiegelt sich auch in Hans’ und Hassans abschließender Perspektive auf das Leben wider. Im letzten Teil der Frankfurter Trilogie resümieren sie gemeinsam: »Der Mensch hat nun einmal eine Geschichte, und die spielt eine große Rolle, in der Gegenwart ebenso wie in der Zukunft« (Allafi: Gabriela findet einen Stapel Papier, 2012, 34). Beide warnen jedoch davor, den Menschen auf seine Geschichte zu reduzieren. Victorias Bekenntnis lautet: »die Geschichte könne niemanden abschließen« (Allafi: Die letzte Nacht mit Gabriela, 2000, 67). 651   In seinem Sprachkurs für Persisch lernt Hans einen jungen Mann namens Joachim kennen, der »mit einer Schönheit aus Iran befreundet oder verheiratet« war und deshalb auch den Sprachkurs besuchte (Allafi: Die letzte Nacht mit Gabriela, 2000, 136). Merkwürdig kommt Hans vor, dass »alle Teilnehmer des Sprachkurses mit einem Iraner oder einer Iranerin befreundet oder verheiratet waren, sowohl die Deutschen als auch die Nichtdeutschen« (ebd., 137). 652   Allafi: Die letzte Nacht mit Gabriela, 2000, 127. 653 Ebd., 129. 654 Ebd., 65. 655  Ebd. 656 Ebd., 69.

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ein Refugium böte, in dem sie die Strapazen des harten Lebens abschüttle«.657 Durch die Fähigkeit, ihre eigene Kultur zu gestalten, wird Victoria nicht als konservative Anhängerin der Mystik repräsentiert, die sich nur Klischees bedient, sondern geht gegen diese Klischees vor: Sie kleidet sich »schick und dezent«, legt großen Wert auf ihre Schönheit und Körperpf lege mit dem Argument: »Je gesünder und schöner der Körper ist, desto gesünder und freier ist die Seele«.658 Neben den äußeren Merkmalen modifiziert Victoria durch individuelle Ref lexionen – sie ist »kreativ, denkend und handelnd«659 – auch die Inhalte der Mystik etwa in der Auffassung des Irdischen und Metaphysischen: Das »Ich«, das jeder Mystiker zu vernichten sucht, indem er zu »entwerden« versucht, um sich in Gott aufzulösen, was für ihn bedeutet, die höchste Stufe in der Welt der Mystik zu erreichen, ließ sie im mystischen Teil ihres Lebens hochleben.660 Worin sich die Mystik in ›Victorias Kultur‹ von dem herkömmlichen Konzept der Mystik noch unterscheidet, kommt in der Auffassung von Rationalität und Irrationalität zum Vorschein: »Kein rationaler Mensch kann wirklich beabsichtigen, seine Lebensgrundlage zu zerstören«.661 Diese Grundlage ist nicht die transzendentale, sondern die irdische Sphäre des Lebens. Die Fähigkeit in ›Victorias Kultur‹, die iranische Mystik und die moderne Philosophie pragmatisch zu kombinieren, charakterisiert Victoria als »aufgeklärte Frau mit außerordentlichem Denkvermögen«662 und als Anhängerin des europäischen Auf klärungsdiskurses. Je mehr Hans sich in ›Victorias Kultur‹ vertieft, umso näher fühlt er sich ihr, bis er schließlich selbst »ein Anhänger von Victoria« wird: Jeder Sufi war am Beginn seines sufistischen Entfaltungsprozesses der Anhänger oder, wie sie selbst sagen, Eleve eines Meisters – in Hans’ Fall Meisterin – und zwar aus freien Stücken, mit Herz und Seele.663 Hier erlebt Hans seinen tiefen Wandel: Er beginnt, Bücher über den Sufismus nicht allein zu lesen, sondern zu studieren und führt mit Victoria intensive Gespräche über Mystik, in denen er Victorias Geheimnis der Freiheit entdeckt, das sich in Prozessen der Überschreitung widerspiegelt. Victoria entgeht dem Zwang zur Sesshaftigkeit durch das Wandern: »Lange an einem Ort zu bleiben und lange bei einer Arbeit, ist für den Genuss meines Lebens schädlich«,664 bekundet sie im Gespräch mit Hans. Sie hegt keine Gedanken über eine kulturelle Revolution, sondern sieht ihre Stärke im ref lektierten Umgang mit der »sogenannten modernen Welt« und in der Fähigkeit, »nur partiell den Regeln dieser Welt« zu folgen. Hans schließt sich Victoria an und wandert mit ihr auch auf dem mystischen Pfad des Lebens: 657   Ebd. – Für SAIDs Ich ist das Deutsche ein »auffanglager« (SAID: deutsch als auf fanglager, 2004, 2535); für Victoria hat das Persische diese Funktion. 658   Allafi: Die letzte Nacht mit Gabriela, 2000, 71f. 659 Ebd., 129. 660 Ebd., 73. 661 Ebd., 72. 662  Ebd. 663 Ebd., 114. 664 Ebd., 118.

3. Mediale Bilder interkultureller Identitätsarbeit

Sie schmolzen zusammen, Hans und Victoria, seelisch wie körperlich. Die Momente des Einsseins waren der Höhepunkt ihrer Rituale und des geistigen Bekenntnisses zu dem Weg, der zur Wahrheit oder der Ewigkeit der Liebe führte, wo Hans sich in Victoria sah und zugleich sie in sich, also war sie doch seine Göttin, wenn auch beschränkt auf diese Weise.665 Das Motiv der Liebe als mystisches Prinzip der Vereinigung lehrt Hans den Weg, das Himmlische und das Irdische zusammenzubringen. Die Mystik und ihre anwendungsbezogene Umsetzung ermöglichen ihm, über seine Funktion als »teilnehmende[n] Zuschauer« von ›Victorias Kultur‹ hinaus666 auch den Erwerb der Fähigkeit, sein Leben »in das offizielle und das private«667 aufzuteilen. Je mehr Hans in ›Victorias Kultur‹ involviert wird, umso mehr muss er erkennen, dass »das, was sich zwischen ihnen beiden abspielte, keine bürgerliche romantische Liebe war, schon gar nicht eine emanzipierte Liebe«,668 sondern die ›Wahrheit‹, und »die Wahrheit war eben der Mensch«.669 Das Wandern und die Suche nach der Wahrheit werden zu zwei Parametern im Prozess von Victorias und Hans’ Identitätsarbeit.

3.5.3.3 Individuelle Reflexionen kultureller Spiegelungen Die interkulturelle Schreibweise der Frankfurter Trilogie erfolgt in zweifacher Weise: Es werden sowohl Momente des Scheiterns als auch des Gestaltens dargestellt. Die Intensität der zweifachen Deutungsmuster lässt sich über die Figurenkonstellation Victoria und Hans hinaus auch an der Art und Weise erkennen, wie die Figuren Mariam und Joachim miteinander in Beziehung gesetzt werden. Diese Beziehung wird mit der zwischen Victoria und Hans kontrastierend konstruiert. Joachim und Hans lernen sich in einem Persisch-Kurs kennen. Ihre Gemeinsamkeit finden sie in der Ansicht, dass der Anschluss an eine andere Kultur grundsätzlich nur über menschliche Beziehungen möglich sei. Mit dieser Ansicht spielt die Romanpoetik auf die notwendige Voraussetzung einer interkulturellen Kommunikation. Diese Männer verfolgen aber unterschiedliche Ziele: Hans will in den Iran reisen, um der Welt der Sufis näherzukommen, Joachim aber lernt Persisch seiner Freundin wegen; was aber letztlich nur eine Absicht bleibt. Gespräche zwischen Hans und Joachim zeugen von einem Spannungsverhältnis, das insbesondere aus der Frage nach der kulturellen Andersartigkeit entsteht und mit der geschlechtsspezifischen Andersartigkeit in Zusammenhang gebracht wird. Jeder der Männer nimmt die Frage nach der Differenz zum Anlass, um die Perspektive des anderen in Frage zu stellen. Das Mittel dazu ist Ironie. Für Hans bedeutet das Kennenlernen kultureller Andersartigkeit nicht unbedingt, dass man sich sofort verlieben müsse;670 Joachim betrachtet Hans’ ›Metamorphose‹ zu einem Sufi mit kritischem Blick. Mit seiner scharfen Missbilligung der sufistischen Weltanschauung, von der er allerdings wenig versteht, wird er am Bei665 Ebd., 115. 666   Ebd. – Dass der Soziologe Allafi sich hier auf das Prinzip der teilnehmenden Beobachtung als Methode der sozialwissenschaftlichen Feldforschung bezieht (Clifford: On Ethnographic Authority, 1983, 118146), ist offensichtlich. 667   Allafi: Die letzte Nacht mit Gabriela, 2000, 116. 668 Ebd., 119. 669 Ebd., 129. 670 Ebd., 140.

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spiel der profanen und mystischen Liebe auch als Gegenfigur zu Victoria positioniert. Bei der Kritik an der Mystik bedient sich Joachim stereotypischer Bilder über die Sufis und ihre Lebensweise und bezeichnet die Mystik als »Irrweg«.671 Die Sufis hätten, so Joachim, wegen »Armut und Unterdrückung« die Sphäre des realen Lebens verlassen, wir aber, setzt er fort, lebten in »Wohlstand und Freiheit«.672 Joachim repräsentiert die Figur eines Polemikers. Ohne auf einen Diskussionskonsens bedacht zu sein, determiniert er die kulturelle Andersartigkeit vor dem eigenkulturellen Erfahrungshorizont. Konkret wird diese Art kultureller Determinierung auf die Asiaten und Orientalen übertragen, auf das Harem-Stereotyp erweitert und endet in der kulturalisierenden Bewertung der Frauen auf der Grundlage ihrer Sexualisierung.673 Wie sehr Hans’ und Joachims Weltanschauung schließlich auseinanderfallen, wird wiederum am Symbol der Gemeinschaft dargestellt. Es ist dieses Mal nicht eine Hochzeitgesellschaft, sondern eine Party, die den Rahmen für individuelle Ref lexionen kultureller Spiegelungen bildet. Auf dieser Party tanzen junge Asiatinnen mit alten deutschen Männern und alte nicht mehr schöne deutsche Frauen mit jungen Afrikanern oder Indern. ›Satanische‹ Party wird sie von Hans genannt. Fluchtartig verlässt er die Feier, um dem profanen Einf luss von Joachim zu entgehen. Die Iranerin Mariam lebt in Deutschland und musste nach einem Scheidungsdrama ihrem Mann ihren Sohn und ihre Tochter überlassen. Hans und Mariam lernen sich kennen und werden später heiraten. Es ist diese Heirat, die Hans in den Genuss bringt, im Geiste von ›Victorias Kultur‹ endlich »seinen Fuß auf den Boden seines Märchenlands Iran« zu setzen; für Mariam ist der Iran aber das »Dreckland«.674 Deutschland bedeutet für Mariam Freiheit, der Iran der Sufis für Hans.675 Die entgegengesetzten Perspektiven verdeutlichen, wie Hans und Mariam sich mit einer Wahl-Heimat identifizieren. Die Rolle Mariams in Hans’ Leben geht über die Heirat als Möglichkeit zu einer legalen Reise in den Iran hinaus. Mariam ist nämlich auch die Instanz, an der Hans seine Kenntnisse über den Iran und über die Mystik und Lebensweise der Sufis überprüft; aber er »denkt dabei stets an Victoria und das, was er von ihr gelernt hatte«.676 Mittlerweile trägt Hans das weiße Gewand der Derwische, einen Bart und lange Haare und hat ein herzliches Verhältnis zu den Iranern. An ihm werden in der als iranisch ausgestatteten Erzählwelt die Techniken der Kulturalisierung erprobt, die Hans’ Ref lexionsvermögen erfordern. Zwei Momente schildern die Prozesse der Kulturalisierung auf eine prägnante Weise. Während der Fahrt wird Hans vom Taxifahrer nach seiner Herkunft gefragt. Sobald er erfährt, dass Hans Deutscher ist, erwidert er:

671 Ebd., 141. 672  Ebd. 673 Ebd., 143 – siehe zur Inszenierung der Fremdheit im Kontext der germanistischen Interkulturalitätsforschung Gutjahr: Fremde als literarische Inszenierung, 2002, 47-67; im Kontext der Frauenbilder und der Postcolonial Studie Lewis et al.: Harem and the Veil, 2003, 487-609. 674   Allafi: Die letzte Nacht mit Gabriela, 2000, 152. 675  Ebd. 676 Ebd., 153.

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»Bayern Munich got, Oliver Beerman got player, but Hitler very bad, man people – Krrchch.« Dabei fuhr er sich mit dem Zeigefinger quer durch den Hals. Hans schwieg, aber am liebsten hätte er gesagt, du kannst dir dein Bayern München und Hitler in den Arsch stecken!677 Die Einstellung des Taxifahrers, das Gespräch, Hans’ Unmut und sein innerer Monolog werden durch den Erzähler kommentiert und treten umso mehr in den Vordergrund: Nun wurde er [Hans] gewahr, warum die Iraner in Deutschland so empfindlich reagieren, wenn die Deutschen, nachdem ein Iraner sich vorgestellt hatte, sofort anfingen, von Khomeini zu reden. Wieder einmal erhob er nach alter Manier den Zeigefinger und tadelte die Menschen, die nicht fähig waren, die Dinge etwas differenzierter zu sehen.678 Die Spiegelung der Fremdheitserfahrung wird sich für Hans beim Treffen mit Mariams Familie in einer trivialen Gesprächssituation, in der man über »Gott und die Welt«679 spricht, noch verstärken: Ein namenloser alter Mann lässt Hans an seinen Erinnerungen teilhaben und erzählt ganz langsam auf Persisch: »Wir haben damals das Hitlerbild an unsere Laden gehängt, wir waren gegen die Engländer«.680 Der alte Mann spielt auf die politischen Turbulenzen der 1930er Jahre und die Ereignisse des Zweiten Weltkriegs an, die den Iran trotz offizieller Neutralität in den Krieg hineinzogen. Dieses interkulturell konstruierte Gespräch verweist auf die kulturell ungleiche Perspektive der Beteiligten und beschreibt das Misslingen der Kommunikationssituation, denn aus der Erzählwelt geht nicht hervor, dass Hans diesen Teil der iranischen Geschichte kennt. Während der alte Mann versucht, in der Kommunikationssituation durch die historische Gemeinsamkeit Irans und Deutschlands Empathie zu erzeugen und so zur interkulturellen Gestaltung dieser Kommunikation beizutragen, gerät Hans immer mehr in Bedrängnis. Er ist schockiert und sprachlos, wie der alte Mann Hitler verehrt! Dieser, der Hans’ Sprachlosigkeit auf die Sprachbarriere zurückführt, lässt seine Worte ins Englische übersetzen, aber Hans’ Reaktion bleibt unverändert. Das Nichtwissen und die monokulturelle Perspektivierung einer gemeinsamen Geschichte sind sowohl bei Hans als auch bei dem alten Mann der Grund dafür, dass keiner von ihnen diese nun immer komplexer gewordene Kommunikationssituation meistern kann. Die interkulturell profilierte Figur Mariam greift schließlich ein, stoppt den Übersetzer und klärt auf: »Lass das […]. Die Deutschen mögen nicht von Hitler reden, für sie ist diese Gestalt der größte Verbrecher ihrer Geschichte. Zumindest für die Mehrheit, und für Hans ganz besonders«.681 Der Alte fährt fort: »Ist er Kommunist? […] Damals waren auch die Kommunisten in Iran gegen Hitler«.682 Die Figuren des Taxifahrers und des alten Mannes sind namenlos, was ihren Wirkungskontext als allgemein erscheinen ließe. Sie kehren die Perspektive auf die indivi677   Allafi: Die letzte Nacht mit Gabriela, 2000, 159. 678  Ebd. 679 Ebd., 164. 680 Ebd., 165. 681  Ebd. 682  Ebd.

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duelle Verortung an Fixpunkten kulturellen Geschehens um und projizieren sie auf Hans. Dabei wird Hans durch die Konfrontation mit Hitler als Figur eines kulturellen Reduktionismus einer ähnlichen Situation ausgesetzt wie ein Iraner durch die Konfrontation mit Khomeini. Mit dieser Gleichsetzung geht auch die Kulturalisierung des Individuums Hand in Hand. Momente kommunikativer Missverständnisse fordern Hans im Umgang mit ›Victorias Kultur‹ heraus und führen letztlich zum Scheitern seiner Ideenwelt. Im Iran findet er nicht das Land, das er aus Victorias Erzählungen kannte; in der Islamischen Republik sind die ›Rosen verdorrt‹ und die ›Nachtigallen verstummt‹.683 Die Menschen waren gegeneinander aufgehetzt, jeder war gegen jeden, jeder war neidisch auf den anderen, egal aus welchem Grund, gleich, ob Intellektueller oder Packer, Frau oder Mann. Selbst die Kinder waren gezwungen, bei den Intrigen der Eltern gegeneinander mitzuspielen. Man war bereit, kaputtzumachen, weil alles kaputt war. Dem einen fehlte das Geld zum Leben, dem anderen der Sinn im Leben. Wenn einer noch unbeschädigt war, passte er nicht in das kaputte Bild. Also machten ihn die anderen kaputt. Eine kranke Gesellschaft, würde ein Soziologe sagen. Eine verrückte Welt, würde ein Künstler meinen. Ein erbarmungsloses Land, würde ein frommer Mensch sagen. Ein Scheißland würden viele wie Mariam sagen.684 Zusammen mit Mariam entscheidet Hans, den Iran gen Bundesrepublik zu verlassen. Allerdings hält das oppositionelle Verhältnis einer phantastischen, aber misslungenen interkulturellen Begegnung nach ihrer Rückkehr an, ref lektiert jedoch zwei unterschiedliche Ergebnisse. Erstens: Mariams Erfahrungen in Deutschland decken sich mit denen von TORKANs weiblicher Figur in Tufan. Gemeinsam ist ihnen, dass sie erst durch den kurzen Besuch im Iran zu sich selbst finden. Der erste Schritt im Prozess der Selbstfindung zeigt sich darin, dass sie sich bewusst und endgültig zur Einwanderung entschließen. Die historische Heimat, die aus der Ferne zuerst idealisiert wurde, erweist sich in der konkreten Wieder-Begegnung als Utopie:685 Mariam war froh und traurig zugleich. Traurig, weil sie dieses Mal ihr Geburtsland, ihre Geburtsstadt, für immer verlassen würde und das letzte Zeichen von ihrem Leben in diesem Lande, nämlich die Mutter und der Bruder, nun auf diese Weise erloschen war. Andererseits war sie froh, das Privileg zu haben, dieses Land überhaupt verlassen zu können. Richtig fremd fühlte sie sich nun, wie eine Frau, die in die Fremde geht.686 Für Mariam bedeutet die Rückkehr nach Deutschland einen erkenntnisreichen Wendepunkt in ihrem Leben. Zweitens: Für Hans bleibt der »kurze gemeinsame Lebensweg« mit Mariam nur ein »Intermezzo«.687 »Merkwürdig schien ihm, dass beinahe ein ganzes Volk sein Land, in dem es seit Jahrtausenden Generation für Generation gelebt

683   Ebd., 211. – Rosen und Nachtigallen entstammen beide der Symbolik der persischen Literatur zur Beschreibung von profaner und mystischer Liebe. 684 Ebd., 214f. 685   Siehe auch das Motiv der Heimat. 686 Ebd., 217. 687 Ebd., 232.

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hatte, verlassen wollte«.688 Nach der Iran-Reise erlebt Hans Momente des Versagens, des Verlusts und der absoluten Orientierungslosigkeit. In Deutschland sucht er wieder Gabriela auf und gesteht ihr, am »Ende des Lebens«689 zu stehen und »einseitig alle gesellschaftlichen Verträge aufgekündigt«690 wissen zu wollen. Sein einziger Wunsch sei, eine letzte Nacht mit Gabriela: Die letzte Nacht. Die Nacht der wahren Liebe. Die Nacht des Wiedersehens. Und in dieser Nacht musste alles geschehen, die Welt musste zu Ende gehen. Die letzte Nacht mit […] der schönen Gabriela. Wie alt, wie dürr und zerbrechlich sie war.691 Das, was für Hans noch existiert, sind Erinnerungen: »Sollte dieser Abend nichts Neues bringen, dann blieb eben die ferne Vergangenheit, die schöne Zeit musste in Erinnerung gerufen werden«.692 Seine letzten Worte wolle er nur Gabriela mitteilen und dann »einen Schlussstrich unter alles […] ziehen. Sich zu wiederholen braucht ein konkreter Mensch wie ich nicht. Wiederholung ist die Aufgabe der Geschichte«.693 Mit Hans’ Besuch bei Gabriela wird auf die Selbstmordszene im ersten Teil zurückgegriffen.694

3.6 ›Rethinking German Culture‹ – Fallbeispiele kulturellen Umdenkens Die ausgestattete Erzählwelt der Frankfurter Trilogie entwirft mit Hilfe von Motiven, Metaphern, Symbolen und Erzählschemata familien- und gesellschaftsähnlicher Gemeinschaftsbildung ein literarisches Modell koexistierender und kohäsiver Erzählwelten, die über ihre literarische Qualität hinaus auch Bilder kultureller Transformationen darstellen. Die Suggestivkraft der Erzählwelt in individuellen und kollektiven Ref lexionsmomenten erlaubt, die ausgestattete Erzählwelt im Sinne ihres Ausdrucksraums als polysemen Kommunikationsakt aufzufassen. Aus den Interpretationen von Kommunikationsakten dieser Art werden Rückschlüsse auf die interkulturelle Konstruktion der Erzählwelt gewonnen. Diese Konstruktion weist prozessual eine bestimmte Richtung auf, die vom Ursprung in die Gegenwart der Erzählwelt hinein reicht. Die Anisotropie der kulturellen Umwandlungen als Merkmal der interkulturellen Konstruktion folgt dem symbolischen Gemeinschaftsmodell der Generationsbildung. An der Besprechung der Frankfurter Trilogie wurde deutlich, dass diese Gemeinschaftsmodelle sich nicht ablösen, sondern miteinander existieren können ineinander greifen. Die literarische Modellierung der plurikulturellen Gemeinschaftsmodelle legt polyseme Konstruktionen offen, deren Bedeutungen sich in den interkulturellen Verf lechtungen des Erzählten entfalten und die Perspektive des Rezipienten über die reduktionistischen Ursprungsfragen hinaus erweitern. Die Figur Victoria ist ein 688 Ebd., 224. 689 Ebd., 258. 690 Ebd., 259. 691 Ebd., 262. 692 Ebd., 275. 693 Ebd., 281. 694 Ebd., 294f. – Hans’ Selbstmordszene wird im letzten Teil der Trilogie detailliert wieder ausgeführt, um den Kreis des Geschehens auch strukturell zu schließen.

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prädestiniertes Beispiel für die Positionierung eines Individuums, das interkulturelle Verf lechtungen nicht nur ref lektiert, sondern diese auch erzeugt. Victoria stellt außerdem ein literarisches Beispiel dafür dar, dass plurikulturelle Räume und Figuren differierende Merkmale genauso in sich tragen wie ähnliche. Ihre Interpretation durch ein einheitliches Narrativ wie Migration wäre also unzulässig. Wie ein Sonderfall sich zu einem Normalfall umwandelt, wird an den Metaphern der Hochzeit und Party als Symbole für die gesellschaftliche Interaktionen beschrieben; und dass es sich hier um eine kulturelle Umwandlung handelt, geht aus dem Gespräch zwischen Gabriela und Angela über die Hochzeitsgäste hervor. Weder in dem einen, noch in dem anderen Falle erhebt die Erzählwelt einen Anspruch auf Zeit- und Endlosigkeit kultureller Erscheinungen. Wie Narrative des Kulturellen plurikulturelle Bedeutungen erzeugen, dies wird im Folgenden als Interpretationsgrundlage der Fallbeispiele noch einmal zusammengefasst ins Gedächtnis gerufen, um nachzuweisen, dass Figuren wie Victoria und Anaroxana in den medialen Darstellungen kultureller Transformationen keine Sonderfälle mehr sind. Ein Rückblick auf die Textanalyse unter erzähltheoretischen Parametern lässt die Feststellung darüber zu, dass nicht allein Figuren und ihre jeweiligen Erzählwelten im Modus der Transformationen gestaltet werden; auch das gesamte Erzählmaterial wird als Ausdruck der interkulturellen Kommunikationskette verstanden. Die Anfänge des deutsch-iranischen Migrationsgedächtnisses ist durch SAIDs vereinsamte Figur charakterisiert, die nach Halt und Orientierung sucht und sich dabei um das Heimischwerden in der Sprache bemüht. Die Vereinsamung geht in TORKANs Werk graduell in eine Vergemeinschaftung über, indem der familiär-private Kontext, der bei SAID lediglich eine Grundlage zur individuellen Abrechnung bildet, bei der Gestaltung der Migranten-Figur in TORKANs Schreib-Szene immer mehr eine aktive und öffentliche Rolle annimmt. Hinzukommt die Erweiterung der Erzählperspektive auf die geschlechtsspezifischen Aspekte, die zwar im Rahmen einer Migrationsgeschichte erzählt werden, ihren Ursprung jedoch im freiheitlich-demokratischen Geschlechterdiskurs haben. Ferner ist der Auftritt des Kindes als Figuration kultureller Transformationen strukturell und inhaltlich relevant. Strukturell bildet diese Figur den Übergang zu Allafis Erzählwelt; inhaltlich veranschaulicht sie Prozesse des Generationswechsels im deutsch-iranischen Migrationsgedächtnis. Mit seinem Roman Leyla knüpft Allafi an dieses Gedächtnis an und erweitert die Erzählperspektive in der Frankfurter Trilogie. Hier wird eine Gemeinschaft konstruiert, in der Geschlechter und Generationen auch kulturübergreifend miteinander interagieren. Ein gemeinsames Narrativ des deutsch-iranischen Migrationsgedächtnisses sind die Islamische Revolution und die sozialistisch-marxistische Ideologie, denn sie verursachen die Migration aus dem Iran und liefern das leitende Motiv einer interkulturellen Identitätsarbeit in der Schreib-Szene. Interessant ist dabei die Beobachtung, dass keine der Figuren als Intellektueller oder Vordenker der Revolution positioniert werden, d.h. es findet in ihrer literarischen Welt kein spezifischer Diskurs der Islamischen Revolution oder des Sozialismus statt.695 Vielmehr lassen sie sich als Mitläufer, als Resignierte und als Alltagsfiguren mit einem besonderen Drang zu kultureller

695   Siehe zum intellektuellen Diskurs der Revolution und des Sozialismus Gheissari: Iranian Intellectuals in the 20th Century, 1998.

3. Mediale Bilder interkultureller Identitätsarbeit

Identifikation charakterisieren.696 Interessant ist diese Erscheinung deshalb, weil die Analyse solcher Figuren keine Rückschlüsse auf kulturelle Transformationen als einen Sonderfall erlaubt; vielmehr werden sie in Alltagserfahrungen hervorgehoben. In der Konstruktion des deutsch-iranischen Migrationsgedächtnisses verlässt Migration in ihrer literarischen Modellierung den externen Ort der Kultur, der beispielsweise am Motiv des Exils beschrieben wird, und färbt immer stärker die liminalen und porösen Räume der Kultur. Der Übergang ließ sich am Motiv des Gedächtnisses als orientierungsbildender Grundlage der Identitätsarbeit erläutern. Die Literarisierung der Identitätsarbeit in der interkulturell ausgestatteten Erzählwelt bedient sich kognitiver Schemata, die sich sowohl in der Figurenkonstellation und -kommunikation als auch das Verhältnis zwischen der interkulturell ausgestatteten Erzählwelt und dem interkulturell profilierten Rezipienten bemerkbar machen.697 Diese Welt erweist sich keineswegs als einheitlich oder homogen, sondern ist zum einen durch die Gedächtnishorizonte der Figuren geprägt und zum anderen durch die Konstruktionen heterogener Konstellationen in der Jetztzeit der Erzählung. Wie Fabian und Anaroxana, Victoria und Hans, Mariam und Joachim in der Frankfurter Trilogie zeigen, unternehmen Figuren bei der Verschränkung der Gedächtnishorizonte und der heterogenen Konstruktionen Versuche zur Bewältigung interkultureller Herausforderungen. An ihrer Selbstpositionierung lässt sich nicht nur ablesen, wie Differenz und Ähnlichkeit miteinander in Beziehung gesetzt werden; auch deren Relevanz in den individuellen und kollektiven Interaktionen wird hervorgehoben. Das Konstruieren dieser Beziehung verläuft für die Figur selbst in einem Spannungsfeld von Vergangenem und Gegenwärtigem, das Handlungsstrukturen, Situationen und kognitive Sinnzusammenhänge miteinander verbindet und der Figur ermöglicht, sich als Ergebnis dieses In-Beziehung-Setzens zu profilieren.698 Das In-Beziehung-Setzen lässt seinerseits die Notwendigkeit von Ich-Varianten je nach Erzählsituation und im Spannungsfeld des Vergangenen und des Gegenwärtigen erkennen. In diesem Spannungsfeld vollziehen sich der Auf bau des Verhältnisses zwischen einem erzählenden und einem erzählten Ich – wie dies bei SAID und bei TORKAN vorherrschend ist – und die Positionierungen von Figuren in Relationen zueinander;699 beides zusammen entscheidet über die Qualität und die Nuancen der interkulturell ausgestatteten Erzählwelt. Innerhalb dieser Welt gewinnt das Kriterium der Interaktion, die sich zwischen den Figuren dialogisch oder polyvalent vollzieht, eine herausragende Bedeutung. Durch die Interaktion zwischen den Figuren in den Erzählsituationen bezieht die Erzählwelt selbst gegenüber Norm und Abweichung, Aussage und Gegenaussage Position. Es wäre also nicht im Sinne der interkulturell ausgestatteten Erzählwelt, die Geschichten der Figuren lediglich auf eine Migrationsgeschichte – sofern sie überhaupt eine solche Geschichte haben – zu reduzieren. Die Analyse der Figuren hat gezeigt, dass ihr Gedächtnis ein multiples Bedeutungssystem besitzt, dessen Analyse deutlich 696   So auch im englischsprachigen Analysekontext iranischer ›Diaspora‹ in Fotouhi: The Literature of the Iranian Diaspora, 2015. 697   Chiellino: Der interkulturelle Roman, 2002, 41. 698  Wolf: Soziale Positionierung im Gespräch, 1999, 69-94; Bamberg: Is There Anything Behind Discourse?, 1999, 220-227; Wortham: Interactional Positioning and Narrative Self-Construction, 2000, 157-184; Wortham: Narratives in Action, 2001. 699  Koschorke: Wahrheit und Erfindung, 2012, 38-44.

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mehr erfordert als die Vereindeutigung einer Migrationsgeschichte. Folgende intermedial ausgewählte Beispiele für die interkulturell ausgestattete Erzählwelt verdeutlichen noch einmal die Erzähltechniken, die Figurenkonstellationen, die Zeit- und Ortkriterien von Geschichten und den Handlungsauf bau. Sie zeigen, dass der mediale Raum kultureller Transformationen nicht allein eine Migrationsgeschichte beschreibt, sondern Geschichten einer Identitätsarbeit in Verf lechtungen kultureller Umwandlungen. Diese Werke lassen sich inhaltlich als Fallbeispiele für ein Umdenken im Umgang mit kulturellen Veränderungen betrachten (2.3). Methodologisch sollen sie die Verschränkung textueller und filmischer (1.4) Erzähltechniken700 prüfen und Theorien über die Textualität des Filmes ergründen,701 ohne die theoretischen Ansätze (1.4.2) an dieser Stelle zu wiederholen. Schließlich soll es der Interpretation der Fallbeispiele auch um die Feststellung gehen, wie sich das deutsch-iranische Migrationsgedächtnis wandelt und was für einen Stellenwert im Vergleich zu dem deutsch-türkischen Migrationsgedächtnis in der deutschsprachigen Literaturlandschaf t besitzt (1.5, 2.4). Die Interpretation soll das Bedürfnis eines Umdenkens (rethinking) und einer Neudefinition (redefining) kultureller Zugehörigkeit und Identifikation in das Bewusstsein rufen.702

Selam Berlin Yadé Karas Familien- und Generationsromane Selam Berlin (2003) und Café Cyprus (2008) thematisieren den kulturellen Wandel durch die Zusammenführung von privat-familiären und öffentlich-politischen Kontexten. Der Roman Selam Berlin beschreibt diesen Wandel aus der Ich-Perspektive seines Protagonisten auf eine Familiengeschichte und auf die deutsche Wiedervereinigung. Die Ich-Erzählsituation verortet die Geschichte im Spannungsfeld der Eltern- und Kindergeneration. Said Kazan und seine Frau Sevda, die abwechselnd in Westberlin und in Istanbul leben, repräsentieren die Elterngeneration. Mit ihr wird die Generation ihrer Söhne Hasan und Ediz kontrastiert. Die Verschränkung des Privaten und Politischen auf der Grundlage kultureller Veränderungen hat das Interesse der germanistischen Literaturwissenschaft unter dem Gesichtspunkt des Wende- und Nachwenderomans bereits erweckt.703 Unter dem Aspekt des Interkulturellen fand der Roman in eine nicht unproblematische Interpretation Eingang, die hier unter Berücksichtigung ihrer Problematik hervorgehoben werden soll. Diese besteht darin, dass der Protagonist Hasan Kazan als Figur des ›Dritten‹ beschrieben wird.704 Die Verortung von Hasan als einer solchen 700   Griem et al.: Filmnarratologie, 2002, 155-183. 701 Bateman et al.: Film, Text, Kultur, 2013, 7-15; siehe zu Text als Film auch Wildfeuer: Der Film als Text?, 2013, 40-48. 702  Zepp: Redefining Germany, 2007. 703 Zu den Terminologien der Wende- und Nach-Wende-Narrationen schreiben Gerhard Jens Lüdeker und Dominik Orth mit Blick auf Erinnerung und Identität, die Nach-Wende-Literatur thematisiere nicht die Wende selbst, sondern die gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklungen, die sie ausgelöst habe. Demnach seien die Nach-Wende-Narrationen davon geprägt, die historischen Ereignisse des Mauerfalls zwar als Bezugspunkte der Erzählung zu sehen, sie aber nicht zwingend als Teil des Handlungszeitraums zu begreifen. Dass die Grenzen dieser Termini fließend sind, wird nicht bestritten (Lüdeker et al.: Zwischen Archiv, Erinnerung und Identitätsstif tung, 2010, 7-15). 704  Holdenried: Eine Position des Dritten?, 2012, 94-104.

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Figur lässt ein binäres Verständnis von Kultur durchblicken und belebt die Kategorie des Eigenen und des Fremden. Die Problematik besteht also darin, dass die Entscheidung über die Figur des Dritten den Binarismus erst voraussetzt.705 Eine mögliche Folge ist die Kulturalisierung des Protagonisten durch seine Reduzierung auf eine türkische Migrationsgeschichte, an der er selbst keinen entscheidenden Anteil hatte. Die Kulturalisierung geschieht auf diese Weise entgegen der Eigenpositionierung der Hauptfigur, d.h. Hasan als Kreuzberger. Hasan weist aber die Eigenschaften einer plurikulturellen Figur auf. Er besitzt die Souveränität, sich nicht nur gegen festgesetzte Schemata kultureller Identitätszuschreibung706 zu positionieren, sondern auch sich in unterschiedlichen kulturellen Kontexten zu behaupten und diese Kontexte auch zu beeinf lussen. Hierdurch steuert er im Roman gegen die vermeintliche Übereinstimmung von Identifizierungen von außen und rückt bei seiner Gegenpositionierung den Aspekt der Selbst-Identifikation707 in den Vordergrund. Die ›Selbstfindung‹ der Hauptfigur – so der erste Satz im ersten Kapitel – wird in Selam Berlin zum Kardinalthema der Erzählwelt, weil die ›Selbstfindung‹ nicht als Angelegenheit der Hauptfigur allein bleibt, sondern sich auch auf die Selbstfindungsprozesse der wiedervereinigten Bundesrepublik Deutschland erweitert. Die Identitätsarbeit der Figur und des Landes gehen also Hand in Hand. Die Figur wie das Land haben eine Vor- und eine Nachgeschichte, deren Erzählung den Wandel kenntlich machen soll. Die Schilderung der Geschichte dieses Wandels am kulturträchtigen Ort Berlin708 fällt mit der Geschichte von Hasans Selbstfindung in Berlin zusammen. An der Parallelisierung individueller und kultureller Selbstfindungsprozesse erproben sich Narrative kultureller Transformationen. Mit Sicherheit Hasans Eltern, aber nicht immer Hasan selbst unternehmen ihre Identitätsarbeit zwischen der Türkei, West- und Ost-Deutschland. Sobald Hasan wieder in die indes wiedervereinigte Bundesrepublik zurückkehrt und hier seine Identitätsarbeit beginnt, stehen die Räume West- und Ost-Deutschlands unter dem Eindruck des Mauerfalls und der Wiedervereinigung verstärkt im literarischen Fokus und nicht die Räume West-Ost-Deutschlands und der Türkei.709 Die Berliner Mauer und ihr Fall werden auf diese Weise die Hauptnarrative des kulturellen Wandelns. Für die Bundesrepublik wie für Hasan beginnt eine neue Epoche der Identifikation. Durch die Präsenz der Berliner Mauer als Motiv des Spannungsverhältnisses in Geschichte und Gegenwart wird die erzählerische Gestaltung der Romanwelt von einer äußeren und inneren Dynamik begleitet. Die äußere Dynamik entsteht durch den Blick vom Bosporus auf Berlin in der Jetztzeit der Erzählung. Durch den Wechsel zwischen damals und heute wie hier und dort bereits zu Beginn der Erzählung710 wird fortwährend eine innere Dynamik erzeugt. Sie beruht auf der Auseinandersetzung von Hasan und dessen Bruder Ediz mit der Frage nach dem Lebensort. Ediz versucht, Hasans mehr oder minder idealisierte Vorstellung mit den Worten zu konterkarieren, dass dieser 705   Siehe zur theoretischen Grundlage den Abschnitt 2.2.2.3 dieser Arbeit. 706  Hauser: Kulturelle Identität in einer globalisierten Welt, 2006, 316. 707 Ebd., 322. 708   Siehe zur Bedeutung von Berlin und seiner außergewöhnlichen Position in der europäischen Geschichte der Nachkriegszeit Peters: Stadttext und Selbstbild, 2012, 61-78. 709  Fachinger: Yadé Kara’s Selam Berlin, 2011, 241, 250f. 710  Kara: Selam Berlin, 2003, 5.

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in Deutschland »immer Kanake« bleibe, »ob mit Abi oder ohne, Kanacke bleibst du immer in Berlin«; schnell folgt aber Hasans selbstsichere Antwort: »Na und, dann bin ich halt Kanacke!«711 Die innere und äußere Dynamik, die sich in Dialog-, Erinnerungsund Ref lexionsszenen entfaltet,712 macht aus Berlin einen Ort, an dem Identität verhandelbar zu sein scheint.713 Was Ediz von einer Identifizierung mit Deutschland abhält, wird wiederum am Motiv der Mauer geschildert: Zuerst bauen sie dicke fette Mauern und wollen nichts miteinander zu tun haben, und jetzt reißen sie sie wieder ab. Als wäre gar nichts geschehen. Als hätte es keine Mauertoten, keine Stasischikane, keine Unterdrückung, Lügen und Propaganda gegeben. Als wäre alles Friede, Freude, Eierkuchen […].714 Bei Hasans Rückkehr aus Istanbul nach Berlin wird die Distanz zwischen dem Bosporus und Berlin aufgehoben. Dadurch wird Berlin ganz nah erlebt. Infolge von Hasans Interaktion in und mit der Stadt steigt auch die innere Dynamik der Erzählung, und zwar dadurch, dass der Mauerfall für Berlin wie für Hasan eine Wiedergeburt bedeutet: »Und von da an war nichts mehr so, wie es einmal war«,715 ist aus Hasans Munde zu erfahren. Kaum ist Hasan in Berlin, wird die Stadt für ihn zum Ort der Suche nach sich selbst. Man könnte also von einer Wiedergeburt der Stadt und der Figur in der Jetztzeit der ausgestatteten Erzählwelt sprechen, die nur dann verstanden werden kann, wenn das Gedächtnis der kulturellen Identifikation offengelegt wird. Die Gedächtnisräume werden durch den Bezug zu mehreren kulturellen Bereichen konstruiert: die Türkei, die Bundesrepublik und die Deutsche Demokratische Republik sind diese Bereiche, deren Zusammenführung durch die Figuren auch die Überlappungen der Gedächtnisräume beschreibt. Die Überlappungen werden von den Figuren getragen und an der Stadt Berlin als »play zone«716 dargestellt. Indem Berlin in Hasans Plädoyer am Ende des Romans zu einem Ort interkultureller Lebensmöglichkeiten erklärt wird, spiegelt die Stadt selbst ihre Geschichte als Konstrukt liminaler Räume wider. Sie trägt die entscheidende Bedeutung in den Beschreibungen politischer und kultureller Transformationsprozesse in der Nachkriegsgeschichte beider deutscher Staaten. Der Mauerfall als Verbildlichung dieser Prozesse bedeutet nicht nur Momente des topographischen Wechsels,717 sondern auch das Ende des Kalten Krieges und so den Zusammenbruch der ideologischen Verstaatlichung sozialer und politischer Konzepte. Hasan steht zuletzt am Potsdamer Platz, hört das Feuerwerk anlässlich der deutschen 711 Ebd., 19. 712   Gestärkt wird die innere Dynamik der Erzählung durch die interkulturelle Konstellation, die durch eine Reihe von Figuren repräsentiert wird. Neben Hasan sind es sein Stiefbruder Ricki, seine Cousine Leyla als »Wessitürkin« und Adam als »Ossitürke«, als das Gegenstück zu Leyla (Kara: Selam Berlin, 2003, 252). 713  Peters: Stadttext und Selbstbild, 2012, 61. 714  Kara: Selam Berlin, 2003, 150. 715   Ebd., 6. – »Plötzlich standen Straßen, Plätze, Orte meiner Kindheit im Interesse des Weltgeschehens. Autos hupten, Leute brüllten, grölten, jubelten und feierten bis spät in die Nacht. Sie tanzten, lachten und sangen auf ein neues Berlin« (Kara: Selam Berlin, 2003, 8). 716  Kara: Selam Berlin, 2003, 244. 717  Fachinger: Yadé Kara’s Selam Berlin, 2011, 244.

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Wiedervereinigung und blickt gleichzeitig auf eine Baustelle, die für ihn Auf bruch und Neubeginn symbolisiert.718 Diese Symbolik der Stadt Berlin bedeutet den Zusammenbruch einer Grenze, die eine konkrete und eine übertragene Bedeutung trägt. Die konkrete Bedeutung spiegelt sich in der Berliner Mauer wider, die übertragene lässt sich aus der Jetztzeit des Romans gewinnen und im Sinne kulturellen Übergangs zur Zukunft, die zugleich auch die Zukunft des Protagonisten bedeutet, markieren. Aus Hasans Blickwinkel teilte die Mauer nicht allein die Stadt als Raum, sondern sie teilte auch die Zeit, die Kulturen, Handelszonen und nicht zuletzt auch die Menschen. Auf der einen Seite wächst die Technologie und – denken wir an Max Webers Theorie des Fortschritts – auch die Kultur, auf der anderen Seite bleibt die Zeit stehen. Auf der östlichen Seite schreitet man zwar voran, erzielt aber keinen Fortschritt wie dies im Westen der Fall ist. So gesehen greift die Mauer über ihre konkrete raumbildende Funktion hinaus auch auf die metaphorische Bedeutung über, die sich im Roman noch weiter entfalten wird. Wie die Mauer das private Leben der Vaterfigur Said einst beeinf lusste, zeigt sich darin, dass Said auch im Osten eine Frau und einen Sohn hat. Die heimliche Familie tritt erst nach dem Mauerfall auf. Der Mauerfall lüftet Saids Geheimnis im Osten und spaltet zugleich Saids Familien im West und Osten. Die trotz des Mauerfalls andauernde Spaltung des Westens und des Ostens wird durch die Figur Ingrid, die Ehefrau von Hasans Onkel, personifiziert. An ihr werden nicht nur Strategien der Kulturalisierung, sondern auch die Vorstellung von einer ›Leitkultur‹ am Beispiel der Sprache und Integration thematisiert (2.1.2). Die Ref lexion über diesen Aspekt wird Sevda in den Mund gelegt: »Ingrid hat den alten Mann [Onkel Breschnew] kolonialisiert«.719 Als Metapher für den Wandel erfüllen die Stadt Berlin und ihre Mauer in Selam Berlin eine zweifache Funktion. Erstens: Sie integrieren eine Familiengeschichte in eine kulturelle Geschichte und fungieren als Orientierungsinstanz individueller und kultureller Identitätsarbeit.720 Zweitens: Die Funktion der Mauer wird über ihren Fall hinaus auf die Symbolik der Umwälzung familiärer und kultureller Trends erweitert. Die ausgestattete Erzählwelt vereint beide Funktionen und macht aus der Mauer ein Gedächtnismedium, das dem Protagonisten als Individuum sowie der gesamten Gesellschaft als Kultur zur Verfügung steht und von ihnen auf unterschiedliche Weise aktiviert wird. In ihrer Eigenschaft als eine konkrete Grenze mit politischer Funktion und Bedeutung zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik deutet sie auf eine Geschichte hin, die nur noch im individuellen Gedächtnis der Figuren und im kulturellen Gedächtnis der Gesellschaft existiert. Als Archiv wird dieses Gedächtnis durch die Tätigkeit von Hasans Nachbarn Opa Wessel beschrieben, der alle Zeitungsartikel sammelt, so das Archiv schafft und das Gedächtnis erst stiftet. Generationsbedingt interpretiert Opa Wessel diese Geschichte durch die Brille des Kalten Krieges: In Berlin »waren die Russen auf der anderen Seite der

718  Peters: Stadttext und Selbstbild, 2012, 114. 719 Ebd., 127. Hervorhebung von H.T. 720   So erzählt Hasan: »Alles änderte sich, nur die Mauer stand in unserer Gegend so wie früher« (Kara: Selam Berlin, 2003, 150). Die Mauer gestaltete die ›Landschaft‹ von Hasans Kindheit: »›Immer an der Mauer entlang‹, sagte Mama, und das tat ich […]. So konnte ich mich nicht verlaufen« (Kara: Selam Berlin, 2003, 34).

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Mauer«.721 Zur Trennungsfunktion der Mauer tritt in seinen Erzählungen so auch ihre Schutzfunktion. Hinzu kommen der repräsentative Charakter und die ideologische Bedeutung der Mauer im Kontext des Ost-West-Konf likts. Die konkrete Funktion und Bedeutung der Mauer legt Verknüpfungen historischer Ereignisse des Krieges, der Teilung und der Wiedervereinigung offen und ihre symbolische Bedeutung eine »Realität«, in der sich der »Idealismus multikulturellen Zusammenlebens als illusorisch erweist«.722 Wie die historische und politische Funktion von Berlin auf der Folie der Mauer durch Opa Wessel beschrieben wird, so wird die Wirklichkeit von Hasans Leben durch eine Reihe von Figuren repräsentiert. Hierzu gehören seine Eltern, Freunde und Kollegen. Eines haben sie gemeinsam: Sie vertreten den »Standpunkt der Unversöhnlichkeit der Kulturen«,723 weil ihr Blick die kulturelle Bestimmung ausschließlich im Sinne der Herkunft erfasst. Zu diesem Standpunkt offenbart Hasan in seiner Erinnerungsarbeit eine distanzierte Haltung, indem er die Mauer selbst als Erzählmotiv entdeckt. Von seiner Position aus setzt er den kulturellen Maßstab der Figuren außer Kraft724 und erklärt die kulturelle Gedächtnisarbeit zu einer interkulturellen Angelegenheit, die sich in der Erzählwelt von Selam Berlin über zwei Generationen erstreckt.

Almanya – Willkommen in Deutschland Der Film Almanya – Willkommen in Deutschland,725 im Folgenden kurz Almanya, handelt von einer Familiengeschichte im Kontext des Generationswandels. Er erweitert die Erzählperspektive von Selam Berlin um eine weitere Genration. Sie erstreckt sich von der Migrationsgeschichte des Gastarbeiters Hüseyin Yilmaz und seiner Familie, bis zu Hüseyins Kindern und Enkelkindern in der Bundesrepublik Deutschland zwischen 1964 und der Gegenwart der Erzählung. Die türkisch-deutsche Familiengeschichte in Almanya behandelt mehrere Aspekte zugleich. Die Frage nach der Identitätsarbeit und Heimaterfahrung ehemaliger türkischer Gastarbeiter in der Bundesrepublik gestaltet den Hintergrund und dient als Erzählrahmen der Familiengeschichte. Die Erzählperspektive der Figur Canan bringt die Geschichte von drei Generationen zusammen und beleuchtet dabei die Migrationsgeschichte der Großelterngeneration und deren Auswirkungen auf die jeweiligen Familienmitglieder. In Canans Erzählung wird einer721  Kara: Selam Berlin, 2003, 98. 722 Elste: »Mann, Ehre, Waf fe – Hesse, Hitler, Holocaust«, 2010, 81. 723  Ebd. 724 Ebd., 82. 725   Im Jahre 2011 gingen die Auszeichnung für das beste Drehbuch und der Preis in Silber im Wettbewerb um den besten Film an die Tragikomödie Almanya, die am 10. März 2011 in die deutschen Kinos kam und mit 1,5 Millionen den vierten Platz bei den Besucherzahlen erreichte (FFA, Filmliste des Jahres 2011, Jahresliste National). Eine besondere Anerkennung erfuhr Yasemin und Nasrin Samderelis Film dadurch, dass er im Wettbewerbsprogramm der 61. Berlinale außer Konkurrenz lief (Wettbewerb der 61. Berlinale, 2011). Im Programm wurde aus Solidarität mit dem verurteilten iranischen Regisseur Jafar Panahi (*1960, Mianeh) sein Film Of fside, der bereits 2006 den Silbernen Bär erhalten hatte, am 11. Februar 2011, dem Jahrestag der Islamischen Revolution im Iran (1979), gezeigt. Almanya und Of fside teilen kaum etwas: Die iranische Geschichte erzählt von der Diskriminierung von Frauen in der Islamischen Republik am Rande der Fußballweltmeisterschaft im Jahre 2006 und von den politischen, aus dem religiösen Fanatismus herrührenden Konflikten im Zusammenleben von Frauen und Männern in einem theokratischen Staat.

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seits eine Migrationskultur erzeugt; andererseits wird den Zuschauern die Möglichkeit gegeben, diese Kultur in ihrer unmittelbaren Verschränkung mit der deutschen Kultur nachzuvollziehen. In der Synchronisierung individueller und kultureller Erfahrungen bei der Identitätsarbeit liegt die künstlerische Besonderheit von Almanya. Personifiziert werden individuelle und kulturelle Erfahrungsbereiche hauptsächlich durch den Großvater Hüseyin und dessen jüngstes Enkelkind Cenk. Die Interaktionen von diesen Generationsvertretern und ihre vielschichtigen Dialoge verleihen der Erzählperspektive eine Dynamik. Sie entsteht in der filmischen Darstellung durch einen Wechsel zwischen den Erzählsituationen der Figuren in der Ich-Form und der Perspektive von Canna in der Rolle einer auktorialen Erzählerin, welche die gesamte historische Perspektive in den Blick nimmt und an der Gegenwart partizipiert. Durch die Fokussierung der Migrationsgeschichte der Familie Yilmaz werden kognitive Schemata ausgearbeitet, auf die sich die Gedächtnisarbeit im Filmgeschehen stützt. Mit dem Wechsel der Erzählperspektive greifen Veränderungen von Zeit und Raum ineinander. Gleich zu Beginn des Filmes wird die historische Perspektive durch die musikalische Vertonung des Textes Konjunktur Cha-Cha-Cha (1961) von Kurt Feltz (19101982) mit dem Gesang des Schweizer Jazzmusikers und Orchesterleiters Hazy Osterwald (1922-2012) bestimmt. Die Aufforderung des Refrains, Geh’n Sie mit der Konjunktur! schlägt sich in der Präsentation der neuen Arbeitskräfte, Einstellungsannoncen, Industrie und Volkswagen nieder. Die Arbeitskräfte werden in Gruppen eingeteilt und auf ihre Tauglichkeit geprüft. Der Nachrichtenkommentator vergleicht diese Szene in der Vermittlungsstelle mit dem ›Viehmarkt‹. Zugleich wird der Spiegeltitel aus dem Jahre 1964 Gastarbeiter in Deutschland eingeblendet. Der allgemeine historische Kontext des Anwerbens von Arbeitern wird verengt, indem in einem Fernsehinterview die deutsche Perspektive lediglich auf türkische Gastarbeiter gerichtet wird. Daran wird Hüseyin Yilmaz’ Ankunft in Deutschland am 10. September 1964 angeschlossen. Im Hinblick auf die Erzähltechnik und unter Berücksichtigung der Theorie über die Textualität des Filmes relevant ist die Frage nach der Erzählinstanz. Diese wird in Almanya, wie oben kurz angedeutet, durch Canan repräsentiert. Die zweiundzwanzigjährige ist sowohl eine der Hauptakteurinnen als auch die Erzählerin der Migrationsgeschichte ihrer Großeltern. Ihre Rolle als Erzählerin endet mit dem Tod des Großvaters auf der Familienreise in der Türkei. Aylin Tezel (*1983, Bünde) spielt die selbstbewusste, unabhängige, zielorientierte aber auch sensible und verletzliche Canan. Als Erzählerin verkörpert sie in der Zuschauerperspektive die Ref lexionsinstanz des Geschehens, steuert im Verlauf ihrer Erzählung die historische Identitätsarbeit und konstruiert dabei das Netzwerk der Generationen. Wenn es um die Geschichte der Großeltern geht, meldet sich die Erzählerin als Stimme im Hintergrund der Sequenz zu Wort. Auf diese Weise wird die erzählte Geschichte in der ausgestatteten Erzählwelt des Filmes zur Wirklichkeit. Geht es um die Migrationsgeschichte, so ist Canan also keine Akteurin, sondern die Erzählerin – ein Bindeglied zwischen den Generationen. Geht es aber um das aktuelle Geschehen, an dem sie selbst beteiligt ist, so erfährt der Zuschauer die Geschichte aus der Perspektive der jeweiligen Figuren, die sie erlebt bzw. geprägt haben. In der Rolle der Akteurin erscheint sie als Produkt Made in Germany.726 In dem Erzählstoff, der sich aus dem kulturellen Gedächtnis der Türkei und der Bundesrepublik zusammensetzt, schließt Canans Erzähltechnik Polarisie726   Siehe zur Deutung Cha: Made in Germany, 2005, 78-97; Bower: Made in Germany, 2014, 357-376.

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rungen ein, die mit Blick auf die Generationsvernetzung verbindend wirken: Sie hebt die Bedeutung des Ortes und der Zeit für die Identifikation hervor, leitet aber zugleich die Relativierung einer nur auf die territoriale Bestimmung beschränkten Identitätsarbeit ein, indem sie die Identität als ein Sowohl-Als-Auch beschreibt. Die treibende Kraft bei dieser Art der Identitätsarbeit ist Cenk, das jüngste Enkelkind der Familie Yilmaz, gespielt von Rafael Koussouris (*2002, München). Anders als Canan, die über eine interkulturelle Kompetenz727 verfügt, besitzt der gerade mal sieben jährige Cenk diese Fähigkeit kaum. Er wächst bei seiner deutschen Mutter Gabi und seinem Vater Ali, dem dritten und in Deutschland geborenen Sohn728 von Hüseyin und Fatma, auf. Deutsch ist Cenks erste Sprache; Türkisch spricht er nicht. In der Geschichte dient er zur Problematisierung der Aspekte Herkunft, Geburtsort, Aussehen und Sprache, an denen sich die Identifizierung häufig durch kulturelle Analogien der Mitmenschen729 vollzieht. Charakterisierte man Cenk als interkulturelle Figur, so liefe man Gefahr, seine Identifikation mit einer Geschichte in Verbindung zu bringen, die er selbst nicht unmittelbar erlebt hat. Die Frage nach dem Türkisch-oder-Deutsch-Sein stürzt ihn daher in eine Identitätskrise, während Canan diese Krise durch ihre Maxime vom Türkisch-und-Deutsch-Sein zu überwinden bemüht ist. Auf diesen für die plurikulturelle Identitätsarbeit relevanten Aspekt komme ich bei der Schilderung der historischen und gegenwärtigen Erzählperspektive und bei Cenks Verortung im Spannungsverhältnis dieser Perspektive zurück. Erschwert wird die Identitätsarbeit im Sinne der Herstellung einer kulturellen Analogie durch die Migrationsgeschichte der Großeltern. Der Hauptakteur dieser Geschichte ist Hüseyin Yilmaz. Im Filmgeschehen wird er in der erzählten Zeit als junger Gastarbeiter – gespielt von Fahri Yardim (*1980, Hamburg) – und als Rentner in der Gegenwart des Filmes – gespielt von Vedat Erincin (*1957, Istanbul) – verkörpert. Der junge Hüseyin, der zwischen Ende der fünfziger und Anfang der siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts versucht, ein gemeinsames Familienleben zu ermöglichen, reist 1964 in die Bundesrepublik Deutschland. In der Zeitspanne seiner Migrationsgeschichte wird er als ein offener Mann, mit modernen und traditionellen Anteilen in seiner Lebenseinstellung charakterisiert; er wird so gegen herrschende Klischees über türkische Männer positioniert. In späteren Jahren leidet er unter leichten Herzattacken, weiß bereits, dass er nicht mehr lange leben wird, und will deshalb die letzte Urlaubsreise mit seiner Familie in die ostanatolische Heimat unternehmen. So wird die Reise aus Deutschland nach Ostanatolien gleichzeitig zu einer Reise in das Generationsgedächtnis der Familie. Doch bevor dies geschieht, erfährt der Zuschauer von einem Ereignis, dass das gesamte Geschehen prägen soll: Hüseyin und seiner Frau Fatma (Lilay Huser, *1958, Türkei) soll nämlich die deutsche Staatsbürgerschaft zuerkannt werden. Hüseyins skeptische und Fatmas euphorische Haltung erfährt der Zuschauer in einem Gespräch zwischen ihnen vor einer Aldi-Filiale als Repräsentantin einer deutschen Discounter-Kultur. 727 »Unter interkultureller Kompetenz wird ein Set von Fähigkeiten verstanden, die es einer Person ermöglichen, in einer kulturellen Überschneidungssituation, unabhängig, kultursensibel und wirkungsvoll zu handeln« (Grosch et al.: Methoden interkulturellen Lehrens und Lernens, 2000, 8). 728   Als Ali in Deutschland auf die Welt kommt, nennt ihn sein Bruder Muhamed den ersten Deutschen der Familie. 729  Thomas: Psychologie interkulturellen Lernens und Handelns, 1993, 377.

3. Mediale Bilder interkultureller Identitätsarbeit

Die junge Fatma (Demet Gül, *1982, Stuttgart) gibt das Bild einer starken und tüchtigen Ehefrau und Mutter ab, die manchmal zur Dramatik neigt, hin und wieder einfältig erscheint, aber nie den Mut verliert. Auch sie wird entgegen der Vorstellung von einer türkischen Frau nicht als Unterdrückte und Machtlose positioniert. Zu ihrer Charakterstärke gehört beispielsweise, dass sie stets in der Lage ist, in der Familie für Harmonie zu sorgen und in Konf liktsituationen zu vermitteln. Sie folgt ihrem Mann nach kurzer Zeit mit ihrer kleinen Tochter und den zwei heranwachsenden Söhnen in die Bundesrepublik. Aus ihrer Sicht wird die Bundesrepublik auf der Folie eines vorurteilsbehafteten Images dargestellt: Die Deutschen essen alle Schweinef leisch und Kartoffeln, sind ungepf legt und unfreundlich. Die Perspektivenumkehrung von Fatma auf die Bundesrepublik konfrontiert den deutschen Zuschauer mit dem als deutsch vorgestellten Image in der Türkei. Das Zusammenführen von Fatma und Hüseyin einerseits, Canan und Cenk andererseits erfüllt in der Erzählwelt zunächst eine strukturelle Funktion: Während Hüseyin und Fatma als Akteure der Migration positioniert werden, verkörpern Canan und Cenk die Folgen der Migrationsprozesse. Durch die Begegnung der Generationen wird die Zeitstruktur des Geschehens geordnet. In der Raum-Zeit-Konstellation vollzieht sich die Erzählung innerhalb einer Mischung von Humor und Ernst, die die Erzählwelt nicht zu einer reinen Komödie werden lässt, sondern auch kritische, berührende und zum Nachdenken anregende Momente hervorhebt. In der Darstellung solcher Momente in der Migrationsgeschichte sind die Motive der Staatsbürgerschaft und ›Leitkultur‹ von zentraler Bedeutung. Sie bilden den eigentlichen literarischen und durch künstlerische Effekte medial gestalteten Stoff. Hierzu gehört der Rückgriff auf Fotos zu Beginn des Films, die den Übergang zwischen der Darstellung in der Jetztzeit und dem historischen Stoff der Erzählung schaffen und somit auch die Erinnerungsarbeit gestalten: Das eine Foto stammt aus dem Jahr 1987, zeigt Canan und ihren Großvater und ist ihr erstes Foto. Ihm folgt ein Foto aus der Gegenwart in Canans Erzählung. Auf diesem, das auf der Ferienreise nach Ostanatolien an einer Raststätte aufgenommen worden ist, ist zum letzten Mal die ganze Familie zu sehen. Mit diesem Foto wird die Reise nach Ostanatolien in der Gegenwart des Films zu einem kollektiven Erinnerungsakt. Canans Erzählperspektive konstruiert einen historischen Rahmen zwischen den Anfängen von Hüseyins erzählter Migration in die Bundesrepublik (1964) und der Gegenwart der erlebten Familiengeschichte (2011). So wird die ausgestattete Erzählwelt insgesamt einerseits durch die Erinnerungen der Großeltern, die Canan erzählt bekommen und sie wiederum als Erzählung weitergeben kann, gebildet und andererseits durch die Erzählung der Ereignisse, die Canan unmittelbar erfahren hat oder noch erfährt. Die historischen Eckpunkte dieser Erzählperspektive bilden Hüseyin und Fatma, die gegenwärtigen Canan und Cenk. An zwei Suberzählungen lässt sich die Zusammenführung der historischen und gegenwärtigen Erzählperspektive konkret darstellen. Zum einen ist die Frage der deutschen Staatsbürgerschaft der Großeltern, denn sie verweist auf den historischen Akt der Migration als Erzählgegenstand und auf die Nachwirkung dieses Aktes als aktuellen Erlebnisses in der Jetztzeit der Erzählung. Zum anderen ist die ungewollte Schwangerschaft der unverheirateten Canan, denn sie setzt in der Jetztzeit der Erzählung an und deutet am Motiv der Schwangerschaft auf eine bevorstehende Zukunft hin. Im Spannungsfeld der historischen und gegenwärtigen Perspektive wird Cenk positioniert.

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Narrative kultureller Transformationen

Cenk ist eine Figur, die (wie Canan) Geschichte und Erfahrung in sich vereint. Im Klassenraum soll jeder Schüler sein Herkunftsland nennen. Die Lehrerin markiert dann das entsprechende Land auf der Europakarte mit einer kleinen Fahne, die den Namen des Schülers trägt. Auf ihre Frage, wo sie Cenks Fahne anbringen solle, antwortet Cenk mit einem fragend-unsicheren Unterton: »Deutschland?« Die Lehrerin schmunzelt, senkt selbstsicher ihren Blick, spielt dabei mit der Flagge in der Hand und erwidert: »Ja, das stimmt schon! Aber wie heißt das schöne Land, wo dein Vater herkommt?«730 Nach einer kurzen Überlegung antwortet Cenk verwundert: »Anatolien« und freut sich über die Zustimmung der Lehrerin. In dem Moment merkt diese, dass die Europakarte nicht bis nach Anatolien reicht, sondern bei Istanbul auf hört. Sie setzt Cenks Fahne außerhalb der Karte auf die weiße Tafel und symbolisiert damit einen ›weißen Fleck‹ als terra incognita. Cenks Enttäuschung über diese Reaktion wird von der Kamera in das Zentrum gerückt. Diese verbal-kommunikative und visuell dargestellte Ausgrenzungsszene veranschaulicht im Kommunikationsakt die fehlende interkulturelle Handlungskompetenz731 der Lehrerin und Cenks Zweifel an seiner Identifikation. Die fehlende interkulturelle Kompetenz und die Identitätskrise werden bei der Wahl einer Fußballmannschaft (Deutsche gegen Türken) wieder aufgegriffen und erreichen dadurch, dass keine der Mannschaften Cenk als zugehörig betrachtet, ihren Höhepunkt. Am Beispiel von Cenk und von Identitätszuschreibungen seiner Mitschüler wird die Verf lochtenheit individueller und kultureller Identifikation dargestellt und innerhalb der Gemeinschaftskonstruktion durch stereotypische Identitätszuweisungen problematisiert. Cenk erfährt den Reduktionismus in der Interaktion mit der Schulgemeinschaft und ist im gesamten Geschehen darum bemüht, ihn zu überwinden. Der Reduktionismus erfolgt aufgrund des Aussehens, der Sprache und der Ursprungsfrage. Er sieht in den Augen der deutschen Gemeinschaft Türkisch aus, spricht aber nicht Türkisch. In der türkischen Gemeinschaft wird er auch deshalb ausgegrenzt. Diese Erfahrung einer doppelten Ausgrenzung erzeugt in ihm eine Identitätskrise, weil die individuelle Identifizierung durch kulturelle Analogien der Mitmenschen732 nicht gelingt. Der exkludierende Schulkontext sensibilisiert Cenk für die Frage nach der Herkunft, die für ihn zunächst ungeklärt bleibt. Diese Unklarheit macht Cenk zum Thema einer familiären Kontroverse am Esstisch. Auf diese Weise treffen die Aspekte des Deutsch-Seins und des Deutsch-Werdens aufeinander und heizen die Stimmung der familiären Zusammenkunft auf. Hüseyin hadert mit der Entscheidung zur Annahme der deutschen Staatsbürgerschaft und stört Fatmas Freude darüber mit der Nachricht, er habe in dem türkischen Dorf, aus dem beide stammen, ein Haus gekauft. Der Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft und der türkische Heimat-Kontext konfrontieren die Familienmitglieder auf eine doppelte Weise, nämlich mit den Fragen nach der individuellen Identifikation und der kulturellen Zugehörigkeit. Es wird dabei suggeriert, dass diese Ambiguität keineswegs zu überwinden sei, und dass sie sowohl in der öffentlichen als auch in der privaten Gemeinschaft für Turbulenzen sorgt. Die Schul- und die Esstisch-Szene schildern einen Aspekt individueller und kultureller Identitätsarbeit, deren historische Wurzeln bis zu den Diskussionen über die Staatsbürgerschaft Anfang der 1950er Jahre zurückrei730   Dabei kommt aber nicht sein Vater aus Anatolien, sondern sein Großvater. 731  Thomas: Interkulturelle Handlungskompetenz, 2006, 114. 732  Thomas: Psychologie interkulturellen Lernens und Handelns, 1993, 377.

3. Mediale Bilder interkultureller Identitätsarbeit

chen. Staatsbürgerschaft (citizenship) bedeutet nicht nur das Recht und das Privileg der Teilnahme an der Gestaltung einer politischen Gesellschaft, deren Mitglied man geworden ist, sondern darüber hinaus auch das Gefühl von Solidarität mit anderen Bürgern.733 Dieser Anspruch auf das Solidaritätsgefühl ist nicht allein politisch gemeint. Als nur ein Aspekt der Identifikation definiert die Staatsangehörigkeit, wer zu einer soziopolitischen Gemeinschaft gehört und wer außerhalb von ihr steht, wer als Bürger willkommen ist und wer ein Außenseiter ist.734 Bürger eines Staates zu sein, bedeutet das Streben nach Anerkennung trotz sprachlicher, ethnischer, religiöser und anderer Differenzen.735 Demnach werden außer zivilen, politischen und sozialen Rechten auch kulturelle und ökonomische Rechte als notwendige Bestandteile der Staatsbürgerschaft aufgefasst.736 Hüseyins und Fatmas zwiespältige Haltung gegenüber der deutschen Staatsbürgerschaft spielt gleichzeitig auf das Gefühl der staatlichen Solidarität und auf die Notwendigkeit des historischen Bewusstseins an. Sie unterstreicht aber auch die Problematik des Entscheidungszwangs bei der Staatsbürgerschaft in öffentlichen Debatten in Deutschland, die in Almanya in der Haltung des Einbürgerungsbeamten veranschaulicht wird. Die Darstellung der Staatsbürgerschaftsverleihung wird aber nicht unmittelbar gezeigt, sondern in eine Traumszene versetzt, um hierdurch die Absurdität des Verleihungsakts kunstvoll darzustellen. In Hüseyins Traum sitzen Hüseyin, Fatma und der Einbürgerungsbeamte an einem Schreibtisch, der anders als ein runder Tisch Grenzen klar definiert. Der Beamte stempelt die Einbürgerungsdokumente mit routiniertem Fleiß, wirft einen f lüchtigen Blick auf die Namen, wobei man an seiner Gestik erkennt, dass er zwar die Dokumente stempelt, sich die Namen aber nicht gemerkt hat, spricht die Antragsteller an und verweist auf Punkt vier, Anhang achtzehn der Einbürgerungsdokumente, der verlangt, dass die Antragssteller als baldige deutsche Staatsbürger sich zur Übernahme der deutschen Kultur als ›Leitkultur‹ verpf lichten. Während Hüseyin seine Frau fragend anschaut, nickt Fatma bejahend. Die mündliche Belehrung folgt: Als künftige Staatsbürger seien Fatma und Hüseyin verpf lichtet, erstens Mitglied in einem Schützenverein zu werden, zweitens zweimal in der Woche Schweinef leisch zu essen, drittens jeden Sonntag Tatort zu sehen und viertens jeden zweiten Sommer auf Mallorca zu verbringen. Trotz kurzen Protests seitens Hüseyins unterschreibt Fatma das Formular, worauf hin der Beamte ihnen ihre deutschen Pässe aushändigt und sie beglückwünscht: »Sie sind jetzt Deutsche!« In diesem Moment nimmt er drei Portionen Schweinshaxe aus seinem Schrank, Fatma verwandelt sich in eine Bayerin im Dirndl, und Hüseyin sieht sich in der Scheibe eines Aktenschrankes mit einem Hitler-Bärtchen. Hüseyin hört in der letzten Traumsequenz seine Frau sa733   Marshall: Citizenship and Social Class, 1950. 734   Genau auf diesen Aspekt referiert auch SAIDs Perspektive der Ich-Figur am Beispiel von Varianten des Passes und der Kontrolle. 735   Ișm: Theorizing Acts of Citizenship, 2008, 15-43. 736   Siehe zur Diskussion bereits zu Beginn der Globalisierungsdebatten Turner: Outline of a Theory of Citizenship, 1993, 160-190; Soysal: Limits of Citizenship, 1994. – An diese vorgestellten Thesen knüpfen auch Kaya und Kayaoglu an und führen in ihrem empirisch angelegten Beitrag aus, dass das nationale Verständnis von Staatsbürgerschaft seine Relevanz zwar nicht völlig verloren hat, »but actually has become even more essential for the emergence of a more cohesive and egalitarian society« (Kayaoglu et al.: Is National Citizenship Withering Away?, 2012, 114).

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gen: »Hab di nit so! Mia san immer noch Türkʼn«. Dass weder die ›deutsche Leitkultur‹ und noch die Vorstellung darüber, was sie sei, einen Referenzbereich kultureller Übereinkunft bilden können, wird in dieser Traumsequenz ironisch dargestellt. Die Frage nach der kulturellen Zugehörigkeit und nach der individuellen Identitätsarbeit scheint für Cenk eine grundsätzliche Dimension zu haben und nicht bloß eine administrative. Sobald Hüseyin am Esstisch den Kauf eines Hauses in Ostanatolien verkündet, bricht unter den Familienmitgliedern eine heftige Diskussion aus, die er mit dem Satz beendet: »Wir sind eine Familie; eine türkische Familie«. Dieser Satz, mit dem der Akt von Hüseyins emotionalem Ausbruch beendet wird, wird allerdings auf Deutsch ausgesprochen. Von den Konfrontationen in der Schule geplagt, fragt Cenk nun verwirrt und verärgert: »Was sind wir denn jetzt, Türken oder Deutsche?« Seine Eltern Gabi (Petra Schmidt-Schaller, *1980, Magdeburg) und Ali (Denis Moschitto, *1977, Köln) drehen sich gleichzeitig zu ihm, so dass sich die Eltern anblicken. Gleichzeitig antwortet Gabi »Deutsche« und Ali »Türken«, so dass ihre Stimmen einander überlagern. Diese Aporie wird von Canan aufgegriffen, indem sie zu Cenk sagt: »Man kann auch beides sein«. Die Konstruktion des Sowohl-Als-Auch bedeutet für Canan und Cenk die Fähigkeit zu plurikultureller Identifikation, bildet die Kernaussage des Films und thematisiert die »Skepsis gegenüber der Dichotomie von ›Eigen‹ und ›Fremd‹«737. Die Exklusionsstrategien in der Schulszene und die Problematik der ›Leitkultur‹ in der Traumszene veranschaulichen diese Skepsis, indem sie Mechanismen kultureller Identitätszuweisung und erfundener Regeln der Integration als Erziehungsmöglichkeit zu einem deutschen Verhalten offenlegen.738 Wozu die beliebig konstruierte Parole der ›deutschen Leitkultur‹ führen kann, wird in Hüseyins Traum mit dem Hitler-Bärtchen auf groteske Weise dargestellt und so dem Wunsch der eigenen Identifizierung entgegengestellt. Die Zusammenkunft im Schloss Bellevue fast am Ende der Geschichte beschreibt diese Skepsis gegenüber Dichotomien auf der gesellschaftlichen und solidarischen Ebene. In dieser Szene symbolisiert Cenk die Figur eines Deutschen, die jeglichen Klischees des Blonden und Blauäugigen widerspricht. Aufgrund der Tatsache, dass er weder Türkisch spricht, noch die historische Heimat kennt und ebenso wenig mit den türkischen Sitten und Gebräuchen vertraut ist, aber Deutsch spricht und sich zum Deutsch-Sein bekennt, soll er die sogenannte Figur des New German739 repräsentieren. Canan und Cenk vereinen Differenzen und Ähnlichkeiten. Durch ihre Erzählung macht Canan aus einer Familiengeschichte eine Generationsgeschichte, die Aspekte der historischen Migration genauso in sich trägt wie die des Anspruchs auf die individuelle Identifizierung in der Verf lechtung kultureller Umwandlungen. Diese Figur besitzt innerhalb ihrer Geschichte die Fähigkeit, sich mit mehr als nur einer Kultur zu identifizieren. Auch dieser Aspekt wird im Film umgesetzt und lässt sich als Höhepunkt auffassen. Bei der Trauerszene an Hüseyins Grab betrachtet Cenk seine große Familie. Jedes Mitglied der Familie wird von seinem Alter Ego in jungen Jahren begleitet. Dieser Effekt positioniert jede Figur als Individuum, das Vergangenes und Gegenwärtiges in sich trägt. Fatma, Cenk, Muhamed, Leyla und Veli haben ihre Geschichten, die in zwei kulturelle Kontexte in Szene gesetzt werden. Was dies bedeutet, wird von 737  Bhatti: Ähnlichkeiten/Similarities, 2015, 17. 738  Nowak: Leitkultur und Parallelgesellschaf t, 2006. 739   Minnaard: New German, New Dutch, 2008.

3. Mediale Bilder interkultureller Identitätsarbeit

Canan auf den Punkt gebracht: Sie zitiert einen »klugen Mann«, der einst auf die Frage danach, wer oder was wir seien, geantwortet haben soll: Wir sind die Summe all dessen, was vor uns geschah, all dessen, was unter unseren Augen getan wurde; all dessen, was uns angetan wurde. Wir sind jeder Mensch und jedes Ding, dessen Dasein das unsere beeinflusst, oder von unserem beeinflusst wurde. Wir sind alles, was geschieht, nachdem wir nicht mehr sind, und was nicht geschähe, wenn wir nicht gekommen wären.740 Die Schlussworte pointieren das, was Almanya im Wesentlichen kennzeichnet: das Bild plurikultureller Identifikation als Angelegenheit des Individuums. Dass die plurikulturelle Identifikation keinen Ausnahmefall darstellt, wird im Verlauf dieser Geschichte verbildlicht. Ihre Verbildlichung deutet im Hinblick auf das ungeborene Kind von Canan und ihres britischen Freundes David die Offenheit kultureller Transformationen an. Die Offenheit wird aber auch auf die Interpretation kultureller Zusammenhänge erweitert und spielt auf das Potential zum Erwerb interkultureller Identifikationsfähigkeit auf beiden Seiten der Kommunikation an. Im Abspann des Filmes bringt Cenk eine Türkei-Karte in die Klasse und fordert die Lehrerin auf, sie an die Europakarte anzuhängen. Nun ist auch Cenks historische Heimat auf der Karte erkennbar, und seine Fahne steckt ebenfalls auf der Karte neben den Fahnen der Mitschüler. Dieser Schritt symbolisiert den Wunsch nicht nur nach individueller Identifikation, sondern auch nach kollektiver Zugehörigkeit, Solidarität und nicht zuletzt auch nach Anerkennung.

Eines Dienstags beschloss meine Mutter Deutsche zu werden Die deutsche Staatsbürgerschaft steht im satirischen Roman Eines Dienstags beschloss meine Mutter Deutsche zu werden als Inhalt der Identitätsarbeit im Erzählfokus einer Familiengeschichte, die aber im Hinblick auf die historisch differierenden Bedingungen eines deutsch-türkischen und eines deutsch-iranischen Migrationsgedächtnisses auch einen kontextuellen Unterschied schildert. Der Unterschied besteht hauptsächlich in der Migrationsgeschichte selbst aber auch in der Art und Weise, wie die deutsche Staatsbürgerschaft erworben wird. Die Migration ist im Roman eine Fluchtgeschichte aus dem Iran. Dementsprechend muss zum Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft Hindernisse überwunden werden. Wie in Farsaies Erzählung Das Fenster zum Rhein wird auch in ihrem Roman die Familiengeschichte in den Blick genommen. In 52 Kapiteln wird die Geschichte einer vierköpfigen iranischen Familie geschildert: ihre Flucht aus dem Iran in die Bundesrepublik, die Ankunft in Berlin, die Gründung einer neuen Existenz bis hin zur Einbürgerung. Hinsichtlich der Staatsbürgerschaft ist die Mutter Sima Azad, vom Beruf Lehrerin, die Hauptfigur in der Migrationsgeschichte der Familie. Mit ihrem Mann 740   Das Zitat ist eine geringfügig veränderte Form einer Satzkette aus Salman Rushdies Roman Midnight’s Children (1981). In der Erzählung Sam und der Tiger bekundet der Erzähler: »[I]ch bin die Summe all dessen, was vor mir geschah, all dessen, was unter meinen Augen getan wurde, all dessen, was mir angetan wurde. Ich bin jeder Mensch und jedes Ding, dessen Dasein das meine beeinflußte oder von meinem beeinflußt wurde. Ich bin alles, was geschieht, nachdem ich nicht mehr bin, und was nicht geschähe, wenn ich nicht gekommen wäre.« (Rushdie: Mitternachtskinder, 1983, 443).

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Narrative kultureller Transformationen

Abbas hat sie eine Tochter namens Roya und einen Sohn namens Reza, der sich Ryan nennt. Teils korrelativ harmonisch, teils kontrastiv ironisch soll der Familienname die Migrationsgeschichte ausdrücken: Das substantivierte Adjektiv azad (im Deutschen frei) spiegelt einerseits den Wunsch nach Freiheit als Antriebskraft der Flucht aus der Heimat wider, legt aber andererseits die Interpretation zu, dass auch dieser Wunsch nicht gänzlich in Erfüllung gehen kann, denn selbst die Freiheit verliert durch administrative Einschränkungen ihre Bedeutung. Die weibliche Ich-Perspektive von Roya auf die Migrationsgeschichte korrespondiert mit der männlichen Ich-Perspektive von Hasan in Selam Berlin. Die Ich-Figur in Dienstags beschloss meine Mutter Deutsche zu werden ist eine selbstbewusste Frau, die sich im Verlauf des Geschehens in der deutschen wie in der iranischen Kultur gleichermaßen verortet, perfekt Deutsch und Persisch spricht, mit dem Buchhändler Peter befreundet ist und sich dank ihrer interkulturellen Kompetenz in der traditionellen Familie wie in der modernen Gesellschaft behaupten kann. Das Erzählen von Simas Einbürgerung, mit der sich die gesamte Familie befasst, ist retrospektiv. Es beginnt mit dem Tag des Sprachtests zur Einbürgerung, erzählt dann rückblickend Simas Leben und ihre Bemühungen während der Vorbereitung auf die Prüfung, bevor sie am Ende des Romans zum Prüfungstag, an dem Sima einen Sprachtest absolvieren muss, zurückkehrt. Abbas, das Oberhaupt der Familie, wird im Hinblick auf sein Identitäts- und Heimatgefühl als Pendant zu Said in Selam Berlin und Hüseyin in Almanya positioniert. Er ist ein stolzer Perser, der ohne »sein persisches Nationalgefühl […] das Gleichgewicht wie eine Katze ohne Schnurrbart«741 verlieren würde: Er war der Auffassung, dass die persische Sprache honigsüß sei und dass wir, egal wo wir uns befinden, Perser seien und für immer bleiben und dass der geehrte Iran auch unsere begehrte Heimat sei. Es sei unsere unumgängliche Pflicht, unser kulturelles Erbe – also auch die Sprache – zu kennen, zu bewahren und zu verbreiten.742 Die Perspektive auf die ›deutsche Leitkultur‹ wird durch Abbas’ Nationalgefühl sowie durch sein Plädoyer zur Bewahrung der Sprache als identitätsstiftenden Faktors in eine iranische gespiegelt. Die »Zugehörigkeit und Verbundenheit zur persischen Volksgemeinschaft«743 prägen Abbas’ Identifikationsmomente. Die Gegenposition zu Abbas vertritt die Ich-Figur, indem sie sich sprachlich durch den Gebrauch der indirekten Rede wie inhaltlich durch ihre Positionierung im Romangeschehen von der väterlichen Auffassung distanziert. Die kritische Einstellung zum Nationalgefühl teilt sie mit Sima. Die Mutter-Tochter-Bindung wird dadurch gestärkt. Nation und die von ihr abgeleitete bzw. mit ihr einhergehende Identifizierung gelten ihnen als »vergänglich«744. Eine freiwillige Rückkehr in den Iran steht für die Ich-Figur außer Frage, weil diese »keine schönen Erinnerungen« an die aus Abbas’ Sicht »begehrte Heimat« habe.745

741  Farsaie: Eines Dienstags beschloss meine Mutter Deutsche zu werden, 2006, 7. 742 Ebd., 43f. 743 Ebd., 13. 744 Ebd., 44. 745 Ebd., 44.

3. Mediale Bilder interkultureller Identitätsarbeit

Abbas’ Nationalgefühl wird durch weitere Merkmale determiniert: Wie der Vater von SAIDs Ich-Figur war auch Abbas ein hochrangiger Offizier im Iran. Dieser weist aber zu jener Vaterfigur einen gravierenden Unterschied auf, denn er war auch Mitglied der kommunistischen Tudeh-Partei (1.3.2), die nach dem Attentat auf Mohammad Reza Pahlavi verboten wurde und deren aktive Mitglieder sich entweder im Iran versteckt hielten, in der Sowjetunion oder der DDR Asyl suchten.746 Nach der Islamischen Revolution wollte Abbas nicht in einem iranischen Gefängnis eingesperrt werden; er f lüchtete und erreichte nach einem Monat die Bundesrepublik, in der er einen Asylantrag stellte und »sofort als einfache Arbeitskraft beim Bau eines Tunnels« beschäftigt wurde, damit »niemand ihn zum Wirtschaftsf lüchtling stempeln konnte«.747 Auf diese Weise wird er weitgehend unsichtbar. Nun besitzt er ein Kebab-Haus in Köln. Gegenüber Deutschland hegt er eine Abneigung aus verschiedenen Gründen, die in der Erzählwelt historisch bedingt zu sein scheinen. Diese ablehnende Haltung dient Abbas als Argument gegen Simas Entscheidung, sich einbürgern zu lassen. Um diese Abneigung darzustellen, wird die Figur Wilhelm, die die Erzählperspektive in eine fernliegende Vergangenheit führt, aufgebaut. Zugleich wird an Wilhelm auch die satirische und ironische Erzählebene konstruiert. Wilhelm war vor langer Zeit Gastarbeiter im Iran und war während dieser fünf Jahre auch mit der Tante der Erzählerin, Amineh, befreundet.748 Trotz seines langen Aufenthalts im Iran und seiner intensiven Freundschaft mit einer Iranerin hatte er es nicht geschafft, Persisch zu lernen, so dass er wegen der Missdeutung eines einfachen persischen Sprichworts einen tödlichen Schwächeanfall bei Amineh provozierte.749 Mit Wilhelm wird eine Projektionsfigur der ›Leitkultur‹-Debatte in einer umgekehrten Perspektive vorgestellt. Indem sich seine Wirkung auf den historischen Bereich beschränkt, werden mit ihm auch die Ansichten über eine ›Leitkultur‹ als überholt betrachtet. Unterstützt wird diese Lesart durch Abbas historische Perspektive. Mit Wilhelm greift Abbas auf die seit den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts andauernden Kulturdebatten zurück. Wenn Er seine Abneigung gegen alles Deutsche in der Jetztzeit der Erzählung mit Wilhelms Fehlverhalten in einer im Roman bereits historisch gewordenen Zeit begründet, so stellt er sich als eine Figur dar, die ihr Dasein und ihre Wirkung durch die Geschichte rechtfertigt. Die Stereotypisierung der Figur des Deutschen in Abbas’ Kulturalisierungsversuchen erzeugt das Image des Deutschtums, aus dem sich seine anti-deutschen Meinungsäußerungen speisen. Simas Entschluss, Deutsch zu lernen, die deutsche Staatsbürgerschaft zu erwerben und sich auf diese Weise in die soziale Gemeinschaft zu integrieren, relativiert nicht nur das National- und Heimatverständnis ihres Mannes, sondern erzeugt eine völlig andere Dimension des identitätsstiftenden Heimat-Gefühls, wenn Sima sagt: »Wo meine Kinder leben, bin ich auch zu Hause«.750 746 Sein Vorbild sucht er in der Figur Omar Scharifs im Film Lawrence von Arabien. Zwischen Omar Scharif und Abbas besteht äußerlich eine verblüffende Ähnlichkeit, die in der Erzählwelt als literarische Projektionsfläche dient. 747  Farsaie: Eines Dienstags beschloss meine Mutter Deutsche zu werden, 2006, 23. 748 Ebd., 64, 73. 749   Es handelt sich um ein Sprichwort, das in einer Situation gebraucht wird, in der Geduld gefordert wird, der Betroffene es aber eilig hat. Die Geschichte wird im fünfzehnten Kapitel ausführlich erzählt (Farsaie: Eines Dienstags beschloss meine Mutter Deutsche zu werden, 2006, 73-79). 750  Farsaie: Eines Dienstags beschloss meine Mutter Deutsche zu werden, 2006, 7.

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Das traditionelle Iran-Bild von Abbas und das familiäre Verbundenheitsgefühl von Sima werden durch den in Deutschland geborenen Sohn Ryan um eine Zukunftsperspektive, die zusammen mit dem Einbürgerungsthema den entscheidenden Aspekt des Romangeschehens ausmachen soll, erweitert. Ryan spricht gebrochen Persisch, aber perfekt Deutsch: »Es wunderte mich«, erfährt der Leser aus der Ich-Erzählsituation, dass Ryan »es schaffte, sich auf persisch in einer Reihe von abgehackten Sätzen auszudrücken und trotzdem verstanden zu werden«.751 Er ist mit Kai befreundet, dessen unkonventionelles und unverbindliches Verhalten Abbas’ Abneigung noch steigert: Mein Vater war von der Freundschaft seines Augenlichts [Ryan] mit dem grünäugigen Kai sowieso nicht begeistert. Er schrieb die Löcher in Ryans Nabel und Gesicht, auch seine hängende Hose allein Kai und seinem üblen Einfluss zu.752 Zur deutsch-iranischen Konstellation trägt auch Peter bei und steht analog zu Hans in der Frankfurter Trilogie, der sich auf eine Entdeckungsreise in den Iran begibt.753 An dem Buchhändler Peter werden außerdem Prozesse der Kulturalisierung nach kolonialem Muster beschrieben. Für ihn stellt seine Freundin Stereotype einer ›orientalischen Frau‹ dar; an ihr werden aus Peters Perspektive die Figur des Anderen754 und die Prozesse des Andersmachens geschildert: Stets redet er von »meinem Problem«, »deinem Problem«, von »meinem Geld« und »deinem Geld«, was mir völlig fremd ist. Peters scharfer Verstand gleicht einem Computer, so dass für ihn Gott und die Welt allein durch die Zahlen Null und Eins darstellbar und verständlich sind, unsere Liebesbeziehung nicht ausgenommen.755 Peter unterstützt im Gegensatz zu der Erzählerin und deren Bruder Sima während der Vorbereitung auf ihre Einbürgerung nicht, denn er ist im gesamten Verlauf des Romans mit den Vorbereitungen für seinen Urlaub im exotischen Ziel der Wüste Sinai beschäftigt. Diesen Urlaub wird er aber ohne seine Freundin unternehmen müssen, weil diese seit ihrer Flucht an einer »Wüstenphobie«756 leidet. Peters Einstellung zu Simas Einbürgerung erfährt der Leser in einem Dialog zwischen Peter und seiner Freundin: »Habt ihr den Verstand verloren? Ihr behandelt eure Mutter wie ein Kind. Lasst sie die Verantwortung für ihre Entscheidung selber übernehmen. Schon morgen tauchen bestimmt wieder Probleme mit ihrem Deutschwerden auf. Tu mir bitte einen Gefallen. Verschone mich mit diesen Geschichten, okay?« 757 751 Ebd., 43. 752 Ebd., 51. 753   Mit Kai, einem jugendlichen, und Peter, einem Intellektuellen in Gestalt eines Buchhändlers, und Herbert Weigel, Simas alleinstehendem Nachbarn, wird ein repräsentativen Schnitt durch die Gesellschaft gewonnen. 754  Scherpe: Der Schrecken der Anderen, 2010, 233-253. 755  Farsaie: Eines Dienstags beschloss meine Mutter Deutsche zu werden, 2006, 16. 756 Ebd., 88. 757 Ebd., 103.

3. Mediale Bilder interkultureller Identitätsarbeit

Peters kritische Bewertung von Simas Entscheidung offenbart sich im Kommentar der Erzählerin als kulturalisierend: »Mit meiner Herkunft«, führt die Erzählerin aus, »oder besser gesagt, mit der Benennung meiner Herkunft habe ich immer noch Probleme. Die darauf bezogenen typischen Kettenfragen lösen in mir oft eine Art Allergie aus«.758 Die ›typischen Kettenfragen‹ werden in Bezug auf Sima innerhalb von sozialen Konfrontationsmomenten auf Religion und Geschlecht beschränkt. Exemplarisch wird dieser Blick in einem Dialog zwischen Sima und ihrer Freundin Agnes dargestellt.759 Wie in Almanya ist auch im Roman Eines Dienstags beschloss meine Mutter Deutsche zu werden der Einbürgerungsprozess der Grund für die Familienkrise, die durch Abbas’ Haltung verschärft wird.760 Sima gibt ihre Entscheidung an einem Dienstag bekannt und provoziert Abbas’ Protest: Mein Vater unterbrach sie [Sima] empört und brüllte […]: »Was? Willst du wirklich Deutsche werden? Willst du unsere Kleinfamilie zerstören? Ist dir gleichgültig, was die persische Gemeinde hier sagt? Ist dir egal, wie ich meinen Kopf danach vor meinen Landsleuten, vor meinem Volk hochhalten soll?« 761 Hieran entzündet sich eine Diskussion über Perser und Deutsche. Natürlich geht es Abbas in dieser Diskussion um den persischen Stolz und dessen Verletzung durch die deutsche Staatsbürgerschaft. Für Sima ist die Frage nach der Staatsbürgerschaft eine rein pragmatische, denn sie will »ohne Angst und Sorge um ihr Aufenthaltsrecht bei ihren Kindern bleiben dürfen«.762 Hingegen dramatisiert Abbas Simas Entscheidung, indem er ihren individuellen Entschluss auf der Folie des Nationalen auffasst und auf den soziopolitischen Kontext zurückgreift: Der Identifikation mit nationalem Stolz stehen Angst vor Verfremdung entgegen. Simas Rolle besteht in diesem Spannungsverhältnis hauptsächlich in ihrer Widerstands- und Emanzipationskraft: Zuerst beschäftigte sie sich mit den Voraussetzungen, die man erfüllen musste, um einen deutschen Pass zu erhalten. Obwohl äußerliche Anpassung als Voraussetzung in den Verordnungen des Innenministeriums nirgendwo vermerkt war, färbte meine Mutter ihre Haare allmählich hell und heller. Sie legte ihre Standardkleidung, ausgeleierte Pullover und abgenutzte Jeans, beiseite und bestellte sich aus Katalogen ständig neue Hosenanzüge, elegante Jacken und Röcke. […] Jedenfalls stellte Sima […] nach unserer gelungenen Vorführung endlich bei der zuständigen Behörde einen Antrag auf Gewährung der deutschen Staatsangehörigkeit.763 Je entschlossener Sima beim Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft ist, umso stärker wird Abbas’ Ablehnung. Ihren Höhepunkt erreicht sie, wenn Abbas den iranischen Nationalstolz durch einen Rückgriff auf den deutschen Nationalismus retten 758 Ebd., 108. 759 Ebd., 176. 760 Ebd., 26, 30-34, 100, 103. 761 Ebd., 12f. 762 Ebd., 19. 763 Ebd., 35.

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will, ohne sich bewusst zu sein, dass er sich dabei eigentlich nur ein und desselben Phänomens bedient. Abbas beruft sich nämlich auf einen Artikel »des CSU-Politikers Beckstein«, in dem dieser »die wichtigste nationale Pf licht« der Deutschen darin sieht, »deutsches Blut und deutsche Kultur […] vor ausländischen Einf lüssen« zu schützen:764 Mein Vater war von der Lektüre so begeistert, als ob der bayerische Innenminister diesen Artikel nur zur Bestätigung von Abbas Aghas Theorien niedergeschrieben hätte. Erfreut sagte er: »Bitte schön! Ich habe von Anfang an gesagt, dies hier ist ein verdammtes Land.« 765 Das nationalistisch Deutsche in Becksteins Worten wird wie in der Traumszene in Almanya durch die Erzähltechnik in eine Absurdität umgewandelt, indem das Nationale in einem Text der Einbürgerungsprüfung mit Informationen gefüllt wird, »mit denen niemand etwas anzufangen wusste«: Die deutsche Nationalhymne wurde um 1841 zum ersten Mal gesungen; Oliver Kahn, der Torhüter Bayern Münchens, erhielt 2000 den Titel ›bester Fußballspieler des Jahres‹; der letzter Außenminister, Joschka Fischer, war gewalttätig, als er in seiner Sponti-Villa in Frankfurt wohnte. Damals habe er bei einer Demonstration einen Polizisten namens Jürgen Weber angegriffen.766 Die Banalität dieser Inhalte, die Sima sich zum Bestehen des Einbürgerungstestes einprägen muss, nutzt die Erzählerin, um einen Gegensatz zwischen Nützlichkeit und Lächerlichkeit zu konstruieren. Diese Groteske wird in Abbas’ Anti-Haltung durch Bedrohung und Monstrosität gestärkt. Abbas fordert nämlich seine Frau auf, sich auch mit den Informationen über den Tod von sechsunddreißig Menschen durch Rechtsradikale im Jahr 1999 und über Deutsche, die in den »sogenannten Dritte-Welt-Ländern unterwegs sind, um mit Kindern Sex zu machen«,767 auseinanderzusetzen. Durch die Polarisierung von Abbas und Sima entsteht ein Kommunikationsakt, in dem Integration zu einer willkürlichen Angelegenheit wird. Sima erhält schließlich die Papiere aus nordrhein-westfälischen Innenministerium zum Thema Einwanderung und gerät in Sorge über eine eventuelle Ablehnung ihres Antrags: »Was, wenn ich sie nicht überzeuge, dass ich eine anständige Deutsche werden kann?«768 Grundbedingung ist, dass Sima »als Einbürgerungskandidatin eine Sprachprüfung absolvieren« müsse; obwohl sie, kommentiert ihre Tochter, »der deutschen Sprache mächtig« sei, so hinderte ihr »Teheraner Akzent« dennoch die Zuhörer daran, sie richtig zu verstehen: »Sie kann bestimmte Konsonanten und Umlaute einfach nicht aussprechen und hat Schwierigkeiten mit Konsonantenverbindungen am Wortanfang«.769 Die nächste zu nehmende Hürde, die Sima aus den Unterlagen des Innenministeriums erfährt, besteht in einer 764 Ebd., 41. – Siehe zu den Thesen von Beckstein: Wie können in Deutschland Menschen unterschiedlicher Kulturkreise friedlich zusammenleben?, 1991, 35-39. (Online Ressource). 765  Farsaie: Eines Dienstags beschloss meine Mutter Deutsche zu werden, 2006, 41. 766 Ebd., 48. 767 Ebd., 49. 768 Ebd., 90. 769 Ebd., 94.

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vollkommenen Integration des Bewerbers in die deutschen Lebensverhältnisse. Sie protestiert wie folgt: Ich bin es aber nicht. Mein ganzes Leben habe ich mich nur um euch gekümmert […]. Ich habe höchstens ab und zu über die politische Lage im Iran gemeckert. Mit den Deutschen habe ich kaum zu tun gehabt. Doch, vielleicht mit einigen, die gegen Ausländer waren. Und das war’s.770 Simas Angst steigt weiter, als sie von der Ablehnung des Antrags eines Bekannten wegen fehlender »positiver Einstellung des Bewerbers zum deutschen Grundgesetz«771 erfährt. Gegen diese Angst hilft nur ein Strategiewechsel: »Ihr Entschluss, sich nicht länger theoretisch, sondern auf praktischer Basis der deutschen Kultur zu nähern, stand offensichtlich fest«.772 Die praktische Auseinandersetzung mit der deutschen Kultur bedeutet für Sima aber auch, die Deutschen mit der persischen Kultur vertraut zu machen: »Das heißt, zwei Kulturen gleichzeitig und gleichberechtigt behandeln und verbreiten«; von nun an befasst sie sich damit, wie sie einen solchen »Kulturaustausch«, dem ihre Tochter skeptisch gegenübersteht, betreiben kann.773 Die praktische kulturelle Auseinandersetzung soll mit Hilfe von Simas deutschem Nachbarn und Freund, Herbert Weigel, bewältigt werden. Während Abbasʼ Entwicklung in einem national-religiösen Kontext verläuft und er Sufi werden will, wird Sima Mitglied im Schützenverein, entwickelt sich allmählich zur »Verteidigerin deutscher Ordnung und Werte«774 und versucht, die deutsche »Tugend zu verinnerlichen«, zu der auch die Pünktlichkeit gehört,775 die sie allerdings nicht besitzt. Simas intensive Bemühungen, sich dem Deutschen sowohl kulturell als auch in ihren Lebensverhältnissen zuzuwenden, sollen nun im Sprachtest Früchte tragen. An einem Dienstagmorgen soll sie diese »letzte Phase des Einbürgerungsverfahrens«776 hinter sich bringen. Heute endlich war der lang herbeigesehnte Tag. Früh am Morgen machte sich Sima […] alleine auf den Weg zur Sprachprüfung. Sie war derart zuversichtlich, dass es mir beinahe leichtsinnig erschien. […] Vielleicht gelang es ihr deshalb nicht, den Artikel fließend vorzulesen, den der Prüfer ihr vorlegte. Folgerichtig konnte sie auch die Fragen nicht beantworten, die ihr zum Verständnis dieses die Darstellung der wirtschaftlichen Situation eines afrikanischen Landes betreffenden Textes gestellt wurden. […] Weinend fragte sie mich: »Was hat die elende wirtschaftliche Situation Ugandas mit meiner vollen Integration in die deutschen Lebensverhältnisse zu tun?« 777 Die Bedeutung des Dienstags kommt erst bei Simas Misserfolg zum Vorschein. Der Dienstag gilt in der Romanpoetik auf eine eigenwillige Art und Weise als Unglücks770 Ebd., 104. 771 Ebd., 129. 772 Ebd., 125. 773 Ebd., 126. 774 Ebd., 239. 775 Ebd., 249. 776 Ebd., 252. 777 Ebd., 256.

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tag. Alles Unglück ereignet sich im Roman dienstags. An einem trüben Dienstag misslingt der Einbürgerungsversuch eines aufmerksamen und integrationsfähigen Individuums administrativ. Was Sima eigentlich erreichen will, zeigt sich in ihrem Willen zum Erwerb einer interkulturellen Kompetenz zum Leben in Deutschland. Dies ist das vorherrschende Thema der Welt, an dem die Autorität des Ehemannes und die Rettung der persischen Kultur scheitern. Doch je intensiver sich Sima mit der Frage, was eigentlich die deutsche Mentalität und Lebensart ist, befasst, umso verwirrter ist sie. Sima bereitet sich im Verlauf des Romans auf den Einbürgerungstest vor, ahnt jedoch nicht, woran die Einbürgerung scheitern sollte. Woran sie scheitert, hat kaum etwas mit der deutschen Mentalität und Kultur, die sie gelernt hat zu tun. Ihr Versuch misslingt weder an der Frage nach den Lebensverhältnissen, Rechts- und Gesellschaftsordnung in Deutschland und noch an der Sprache, sondern an einer Frage, von der sie nicht weiß, was sie eigentlich mit der deutschen Kultur zu tun hat. Sima fehlt die interkulturelle Kompetenz, postkoloniale Geschichte Deutschlands decodieren zu können. Vermutlich liegt auch in ihrer Inkompetenz die Kritik an der Aufforderung zur Bewältigung historischer Fragen durch eine unbeteiligte Generation.

Salami Aleikum Der Film Salami Aleikum schildert die Geschichte einer aus dem Iran nach Köln immigrierten Familie, die durch einen Zufall in der verschlafenen Provinz Oberniederwalde in Ostdeutschland landet und hier die Bekanntschaft einer ostdeutschen Familie macht.778 Aus dieser Begegnung gehen zunächst Provokationen eines Kulturschocks, später jedoch Erfahrungen eines Kulturaustauschs hervor. Visuelle Effekte begleiten die Handlungssequenzen und konstruieren dank Bernhard Jaspers Kameraarbeit eine virtuelle Lebenswelt der Figuren. Der Film ist digital gedreht und bearbeitet sehr nah am Filmformat Farben, Kontraste und Schärfe, die in allen Traum- und Tanzszenen die Aussageabsicht der jeweiligen Szene unterstreichen. Kurze und typisch iranisch glaubhaft gemachte Videoclips untermalen den Film und wenden ihn dadurch bewusst ins Komische und Kitschige. Hinzukommt die iranische Musik des Komponisten Ali N. Askin. Sie verstärkt den Eindruck bei Rückblenden, Traum- und Wechselsequenzen im Stile Bollywoods. Ein traditionelles Flair gewinnt die Pop-Musik durch Mohammad-Reza Mortazawies Trommelmusik. Was sprachliche und musikalische Mischungen in der filmischen Darstellung bewirken, diskutiert Berna Gueneli mit dem Fokus auf Sprache und Musik als ästhetische Imagination eines vielfältigen und differenzierten Europas, das sich durch Polyphonie und Heterogenität auszeichnet. Aus Guenelis Sicht – dargestellt am Beispiel von Fatih Akins Film – ref lektiert »linguistic and musical soundtrack« diese Erfahrung, zu deren Akzentuierung die Musik im Allgemeinen und der Dialekt im Besonde778 Der Film trägt im Untertitel das Bekenntnis hamay-e alman saraye man ast (Das ganze Deutschland ist mein Zuhause) in persischer Schrift. Er kam am 23. Juli 2009 in Deutschland und am 1. Januar 2010 in Österreich in die Kinos. Beim Internationalen Filmfest Emden-Norderney 2009 gewann der Film den zweiten Preis des Bernhard-Wicki-Filmpreises und den NDR Filmpreis für den Nachwuchs. Im Jahre 2009 war er für den MFG-Star Baden-Baden nominiert. Im Rahmen der Berlinale 2009 erhielt der Film den Preis der Deutschen Filmkritik in der Kategorie Bester Debütfilm (ORF, 16. Februar 2010). Am 9. Mai 2012 wurde ihm der CIVIS Medienpreis für Integration zugesprochen (»Glanz, Glamour und große Ehre«, Civis media prize, 9. Mai 2012, WDR). Siehe die offizielle Internetseite des Films: Salami Aleikum, 2009 (Online Resoource).

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ren dienen; ihnen gemein sei »a filmic normalization of multilingualism and musical heterogeneity«.779 Salami Aleikum stellt durch die Mischung der Musikrichtungen, den persischen Gesang in deutscher Umgebung und die gemeinsamen Tanzszenen die Effekte der Polyphonie und Heterogenität dar. Wie relevant diese Mischungen für die Gestaltung der filmischen Szenen sind, zeigt sich in den Pointen der Schlussszene, die von der Gemeinschaft in gemischten Aushandlungsprozessen des Kulturellen handelt. An diesen Prozessen partizipieren Figuren, die sich je nach Grad ihrer interkulturellen Profilierung voneinander unterscheiden. Die Geschichte kultureller Aushandlungsprozesse wird durch den Protagonisten Mohsen Taheri (Navid Akhavan, *1980, Teheran), seinen Vater (Michael Niavarani, *1968, Wien), der im prä-revolutionären Iran Unteroffizier war, nach der Islamischen Revolution in die Bundesrepublik f lüchtete, nun mit seiner Frau in Köln lebt und eine Metzgerei betreibt, dominiert und von einer Reihe anderer Figuren ausgeführt. Mohsen ist ein empfindsamer und feinfühliger Jungen, der seine Zeit am liebsten mit einer Tätigkeit verbringt, die von seinem Geschlecht kaum zu erwarten ist: »Um die Zumutungen des täglichen Lebens besser ertragen zu können«, beschreibt die Erzählerin, »hat Mohsen eine schöne Beschäftigung gefunden. Seit er denken kann, strickt er an einem Schal, dem Schal seines Lebens«. Mohsen selbst nennt das Gestrickte sein »Tagebuch« und macht seinen Schal durch diese Bezeichnung zum Auf bewahrungsmedium von Erinnerungen. Das Schriftliche und das Gestrickte werden in Beziehung gesetzt. Diese Beziehung symbolisiert das Textuelle und das Gef lochtene und spielt auf Roland Barthes Definition des Textes als »Gewebe«780 an. Demnach soll durch das Stricken nicht nur Mohsens Sanftmut zum Ausdruck gebracht werden,781 sondern auch die Symbolik medialer Erfassung und die Lesbarkeit seines Lebens. Durch die Übernahme der väterlichen Metzgerei wird Mohsens ruhiges und sanftes Leben zum Abenteuer. Mohsen, der sich weigert, Schafe zu schlachten (denn dies geht über seine Tierliebe hinaus), bekommt eines Tages das Angebot eines polnischen Betrügers, gute und f leischreiche Schafe geschlachtet aus Polen zu importieren. An diese einleitende Geschichte knüpft die Binnenerzählung an, die sich in einer Liebesgeschichte und einer Kulturbegegnung entfaltet. Beide Themen werden durch die Metaebene der Erzählperspektive zusammengeführt. Die Erzählerrolle wird einem Lamm namens Gisela zugewiesen. Damit tritt das Lamm als Motiv (Ware) und als Erzähler zugleich in den Vordergrund und verleiht der Geschichte eine märchenhafte und satirische Färbung. Darüber hinaus gewinnt das Lamm auch eine symbolische Bedeutung, indem es zu einer Grenzgänger-Figur wird. Es wird nämlich bei der Schmuggelaktion an der deutsch-polnischen Grenze geboren. Mit dem sprechenden Tier als Stilmittel der Verfremdung in Salami Aleikum kann die Interpretation das Tier als Motiv und Figur in einen literarischen und visuellen Kontext stellen.782 In seiner Er779   Gueneli: The Sound of Fatih Akin’s Cinema, 2014, 337. 780  Barthes: Leçon/Lektion, 1978, 51. 781 Er kann kein Blut sehen; ihn widert die Fleischarbeit seines Vaters an, weshalb er gegen dessen Wunsch rebelliert, eines Tages die Metzgerei zu übernehmen. 782   Die Tradition der Einbindung von Tieren in der Literatur lässt sich bis auf Hesiod (700 v. Chr.) zurückverfolgen. In der Gegenwartsliteratur findet sich die Figur des sprechenden Tieres etwa in Georg Orwells Animal Farm (1945) aber auch in Günter Grass’ Die Rättin (1986). Mit seinen Zeichentrickfiguren lieferte Walter Disney (1901-1966) das prägende Beispiel in den visuellen Medien dafür, wie

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zählerrolle stellt das Lamm einerseits den Zusammenhang von Handlung, Motiv, Zeit und Ort her und führt andererseits den Zuschauer in einen fantastischen Kontext ein, in dem die Figuren jeweils durch Selbstidentifikation ihren eigenen Subkontext herstellen. Die Nebenfiguren leisten wenig Schauspielerisches; jede verbindet mit ihrem Auftritt eine eigene teils stereotypische Welt, Geschichte und Erwartung. Mit Blick auf die Hauptfigur Mohsen ist die Gasthaus-Szene in Oberniederwalde, wo Mohsen wegen einer Autopanne landet,783 bei der Zusammenführung von Subkontext und Erzählwelt einerseits und der Schilderung der Figurenwelt andererseits besonders relevant. Mohsen tritt in das Gasthaus ein und findet dort den Wirt und einige Gäste vor. Er wird von den Gästen angestarrt und vom Wirt unfreundlich angesprochen. Der Wirt lehnt Mohsens Bestellungen zunächst ab, serviert ihm aber dann verbrannte Schweinenieren mit den Worten: Oberniederwalde sei ein friedliches Dorf, und so solle es auch bleiben. Als Ausländer stößt Mohsen in Oberniederwalde auf Ablehnung und wird zu einer Figur des Fremden.784 Die Nacht verbringt er in seinem Lastwagen vor der Garage der Automechanikerin Ana Bergheim (Anna Böger, *1977, München). Ana ist eine große und kräftige Frau mit einer glänzenden Karriere als DDR-Kugelstoßerin; ihre Karriere endete jedoch aufgrund staatlich angeordneter Dopings. Ihre große Liebe, der Trainer, verließ sie und zog nach Westdeutschland, weswegen Ana seitdem allen Männern misstraut. Mit Mohsen und Ana werden zwei Figuren konstruiert, die sich in ihrer individuellen Geschichte zwar voneinander unterscheiden,785 am Ort ihres gegenwärtigen Daseins jedoch eine Gemeinsamkeit teilen, nämlich die individuelle Identifikation in einem neuen Raum kultureller Wirkung, deren Zusammenhang durch die Bundesrepublik hergestellt wird. Mohsen muss nach seiner Panne in Anas Werkstatt für einige Tage das Bett hüten; während dieser Zeit gelingt es ihm, Ana näherzukommen und ihr von seiner Geschäftsidee zu berichten. Als er aber erfährt, Ana sei Vegetarierin, spielt er ihr eine Geschäftsreise zwecks Wollimports für die Textilfabrik seiner Familie vor. Das Geschäft mit Textilien wird von Ana als gemeinsamer Punkt mit Mohsen aufgegriffen, denn sie möchte, dass ihr Vater, der einst im Textilbetrieb von Oberniederwalde als Vorarbeiter beschäftigt war, Mohsen kennen lernt. Nun wendet sich das Blatt, denn Vater Bergheim sieht die einzige Möglichkeit zur Wiederbelebung des Dorfmythos in Investitionen durch die vermeintlich reichen Perser. Eine Reihe von Filmsequenzen belebt Tiere mit Persönlichkeit ausgestattet werden (siehe zum literarischen Kontext der sprechenden Tiere in der Literatur Grimm et al.: Das Tier an sich, 2012, Borgards: Tiere in der Literatur, 2012, 87-118; Dichtl: Sprechende Tiere in Literatur und visuellen Medien, 2008). 783   Seine Ankunft in diesem abgelegenen Gasthaus hängt damit zusammen, dass er dem polnischen Händler sein ganzes Erspartes gibt und mit dem alten Lieferwagen seines Vaters Richtung Polen reist, um die Schafe nach Deutschland zu transportieren. In der Nähe von Oberniederwalde bleibt er mit seinem Lieferwagen liegen. Er wird ins Dorf geschleppt und bekommt dann Hilfe von der dortigen Automechanikerin. 784  Willke: Heterotopia, 2003, 7. 785   Der konkrete und historisch gewordene Kontext in Mohsens Identitätsarbeit wird durch die Vater-Sohn-Beziehung in der Phantasiewelt der Literatur gebildet. Diese Beziehung definiere sich, so meint die Erzählerin, durch die pädagogisch wertvollen Geschichten aus der Literatur, die Mohsen heute vielmehr eine Last seien als Trost. Von dieser Last erfährt der Zuschauer, wenn der Träumer Mohsen, in Konfliktsituationen gerät. Er träume, fährt die Erzählerin fort, von einer »besseren Welt […] voller Liebe und Harmonie«.

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von nun an stereotypisierende Eigenschaften des Persertums. Indes benachrichtigt Mohsen seine Eltern, die sich besorgt auf den Weg nach Oberniederwalde begeben. Ana repariert den Lieferwagen und begleitet Mohsen nach Polen. Hier fällt der Betrug auf, und Mohsen bekommt lediglich ein paar ausgehungerte Schafe. Die Schilderung der Szene am Grenzübergang greift die feindliche Atmosphäre im Gasthaus wieder auf: Der Zollbeamte verhindert die Einfuhr der Schafe, bezeichnet Mohsen durch die Anspielung auf den 11. September 2001 als Islamisten und ref lektiert den pauschalen Fremdenhass.786 In der Figur des Zollbeamten spiegelt sich auch die Grenze als staatliche Abwehr wider. Satirisch wird allerdings die Funktion der Grenze durch Giselas Geburt aufgehoben. Bis zum Zeitpunkt ihrer Geburt erzählt Gisela die Geschichte retrospektiv. Wenn sie am Ende des Filmes behauptet, sie sei dabei gewesen und habe alles gesehen, so trägt sie umso mehr zur Fiktionalisierung der Geschichte bei. Mohsens und Anas Rückkehr von der Geschäftsreise fällt mit der Ankunft von Mohsens Eltern in Oberniederwalde der zusammen. Mohsen, der gegen die Missverständnisse bislang nichts unternommen hat, verstrickt sich von nun an in weitere Lügen. Die Begegnung beider Familien schließt an Hans und Rita Bergheims Traumwelt an; sie sind beim Empfang von Mohsens Eltern die Hauptdarsteller, während Mohsens Eltern zunächst mit Erstaunen nur die Gast-Rolle erfüllen. Hans Bergheim (Wolfgang Stumph, *1946, Radków) fungiert als Dorfvorsteher, der nun Mohsen und seinen Eltern überaus freundlich gesinnt ist. Der Wechsel von Bergheims harscher und ausländerfeindlicher Ablehnung zu einer freundlichen Aufnahme der Gäste sowie sein plötzliches Interesse an der iranischen Kultur – insbesondere an der iranischen Kochkunst – erweisen sich als rein wirtschaftlich motiviert. Neben dem umsatzsteigernden Angebot persischen Essens im Gasthaus versuchen er und seine Frau, Persisch zu lernen, und stoßen dabei an ihre Grenzen, vor allem dann, wenn die wörtlichen Übersetzungen der Redewendungen aus dem Persischen ins Deutsche für sie höchst unverständlich und auch amüsant sind. Die persischen Redewendungen werden durch ihre Übersetzung ins Deutsche verfremdet. So etwa die Übersetzung des Willkommensgrußes ghadam-e shoma be chesch als Steigen Sie mir auf die Augen! Verfremdet werden manche Begegnungsszenen durch den iranischen Akzent der Familie Taheri bei der Aussprache des Deutschen. Sie ist vor allem durch den für das Persische charakteristischen Knacklaut im Anlaut der mit einem Konsonanten oder einer Konsonantenkette beginnenden Wörter wie [e]straße anstatt Straße gekennzeichnet und ist in der Mischung aus deutschen Wörtern und persischer Intentionen deutlich hörbar. Über das Phänomen der Sprache hinaus werden religiöse, ideologische und nationale Kriterien der Kulturbeschreibung in den Begegnungssequenzen kontrastiert. Bei der Zusammenkunft beider Familien wird der Blick auf eine persisch-deutsch konstruierte Welt gerichtet und dabei eine Reihe von Images aktiviert: Die Nationalf lagge und Nationalhymne Irans aus der vorrevolutionären Zeit, ein Gebetsteppich und die Vorstellung darüber, es gäbe im Iran schöne Frauen und Reichtum, tragen zur Satire des Filmes bei und verleihen einer persisch konstruierten Welt Ausdruck. Hierzu wird Bergheims DDR-Geschichte aus dem Blickwinkel der Familie Taheri parallelisiert. Neben nationalen Momenten stehen hierbei auch ideologische, die von Taheri unter dem Schlagwort des Kommunismus stereotypisiert werden. Zwei Kultur-Wel786   Gleichermaßen verhält sich auch Anas Ex-Freund Uwe, der Mohsen von Anfang an als Islamisten und Terroristen brandmarkt und ihm grundsätzlich nicht traut.

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ten treffen in der Kommunikationskette der beiden Familien aufeinander. Sie werden aber im Filmgeschehen nicht in ihrer Wirklichkeit, sondern in ihrer imaginierten und stereotypisierten Form dargestellt. Die Konstruktion dieser komischen Welt wird im Wesentlichen unter dem ökonomischen Aspekt realisiert und greift so auf den wirtschaftlichen Diskurs der Globalisierung zurück. Ein weiterer Aspekt der globalisierten Ökonomie wird in der Schlussszene entstehen, indem Kultur selbst zur Ware wird und Bergheim steigende Umsätze verspricht. Damit verbunden ist der Wandlungsprozess des Alt-Kommunisten Bergheim zu einem mittelständischen Kapitalisten. Die filmische Darstellung dieses Prozesses erfolgt durch eine Reihe von Sequenzen zwischen der Gasthof- und Schlussszene und verwandelt zugleich das Nationale und das Ideologische ins Satirische. Beim persischen Essen tauschen die beiden Väter ihre Erinnerungen aus der prärevolutionären Zeit im Iran und aus der Zeit der Deutschen Demokratischen Republik aus. Kennzeichnend für beide Erinnerungsabschnitte ist der Wechsel der jeweiligen politischen Systeme. Die Islamische Revolution, der Mauerfall, Exil, Bruch mit dem Ruhm und dem Stolz der Vergangenheit stellen die Wendepunkte im Leben beider Männer dar. Unter dem Erinnerungsaspekt erweisen sich beide Väter als ein eingespieltes Team. Der ehemalige Unteroffizier Taheri hat Interesse an Uniformen; diese Vorliebe teilt er mit Hans Bergheim. In einer Szene treten Taheri und Bergheim zunächst jeweils in ihren eigenen Uniformen einander gegenüber. Sie trinken »auf die Soldatenehre« und sind nach einigen Gläsern Schnaps betrunken; sie tauschen die Uniformjacken. So wird humorvoll die Verherrlichung einer vergangenen Geschichte als individuelles und auswechselbares Konstrukt dargestellt. Durch den Austausch von Erinnerungen werden die Vergangenheit aufgearbeitet, Missverständnisse beseitigt und Pläne geschmiedet. Der zukunftsweisende Plan ist die Gründung eines iranischen Zentrums in der Schlussszene. Das Konstrukt der Väter hat für Ana und Mohsen keine Bedeutung mehr. Während sich die beiden Väter näherzukommen versuchen, entwickelt sich die Liebesbeziehung zwischen Mohsen und Ana. Diese Entwicklung wird durch die Erzählerin auf den Punkt gebracht: Mohsen habe das Gefühl, durch die Liebe zu Ana zu Hause angekommen zu sein. Die Schlussszene stellt die Entstehung einer fiktiven iranisch-deutschen Welt dar, an deren Entwurf Bergheim und Taheri, die selbst über ein traditionelles Verständnis ihrer Umwelt verfügen, maßgeblich beteiligt sind. Die Entstehung dieser Welt geht mit der Gründung des iranischen Zentrums im ostdeutschen Dorf Oberniederwalde einher. Es ref lektiert eine Phantasiewelt als Metapher für dialogische Mischungen und führt das Lokale mit dem Globalen zusammen. Diese Zusammenführung dient wirtschaftlichen Zwecken, denn der ehemalige Vorarbeiter und der jetzige Restaurantbesitzer Hans Bergheim entdeckt sein neues Talent als Werber für das iranische Kulturzentrum. Weder die deutsche noch die iranische Kultur haben in dieser Szene Repräsentanten; vielmehr wird die interkulturelle Gesellschaft in Szene gesetzt. Musik, Sprache, Humor und Ironisierung von Images und Stereotypen gestalten den Wechsel zwischen Mohsens Phantasie-Welt und der fiktiven Film-Welt. In der Tanzszene werden persische Texte durch europäische Popmusik vertont, gesungen und tänzerisch von allen Schauspielern begleitet. Das Dorf Oberniederwalde, das nach der deutschen Wiedervereinigung aus den Erinnerungen beinahe verschwunden war, blüht durch die Gründung des iranischen Kulturzentrums auf und dient als Bühne einer wie auch immer gearteten Kultur in einer wie auch immer gefassten Färbung.

3. Mediale Bilder interkultureller Identitätsarbeit

Große Liebe Im Vergleich mit den bisher diskutierten Beispielen wird in der Erzählwelt von Große Liebe (2014) andere Modi entdeckt; in ihr ist nämlich die Migrationsgeschichte nicht mehr unmittelbar präsent, sondern auf sie wird in der Form literarischer Anspielungen auf eine solche Geschichte durch den Generationswandel referiert. Große Liebe lässt sich nicht bloß als literarische Repräsentationsform eines kulturellen Sonderfalls interpretieren; vielmehr erzeugt der Roman eine interkulturell ausgeprägte Erzählwelt, deren Verständnis eine interkulturelle Kompetenz voraussetzt. Die literarischen Anspielungen auf kulturelle Umwandlungen in Große Liebe lassen sich als Übersetzungen begreifen, wie sie in der Einleitung zu dieser Studie am Beispiel des West-östlichen Divan beschrieben wurden. In diesem Sinne gestaltet die Romanpoetik eine interkulturelle Kommunikation, die auf die Konstruktion von etwas Neuem abzielt. Dieses Neue lässt sich nicht durch eine monokulturelle Perspektive erfassen, sondern liegt in Chiffren und Symbolen verborgen. Diese tragen nicht nur zur interkulturellen Profilierung der Erzählwelt und deren Figuren bei, sondern heben die Notwendigkeit für die interkulturelle Interpretationsfähigkeit des Rezipienten (1.4.1) hervor.787 Auf die Analyse der interkulturellen Profilierung der Erzählwelt und eine interkulturelle Interpretationsmöglichkeit ist mein Augenmerk gerichtet. Dem Roman Große Liebe geht Dein Name (2011) voraus, der hier nur kurz erwähnt werden sollte, um die Prozesshaftigkeit der Erzählwelt noch einmal konkret hervorzuheben. Er handelt von einer west-östlichen Familiengeschichte, von Grenzerfahrungen einer Migrationsgeschichte und spielt an den Schauplätzen Teheran, Kabul und Köln. Ein iranischer Arzt nimmt seine Frau aus dem Iran über Afghanistan nach Deutschland mit. Der Sohn dieses Paares bewegt sich in der neuen Heimat zwischen individuellen, gesellschaftlichen, religiösen und sexuellen Herausforderungen. Die Ereignisse vollziehen sich in einer Zeitspanne zwischen der Gegenwart der Erzählwelt und einer Vergangenheit, die sich an Erinnerungen an die Familie und an die gestorbenen Freunde bildet. Das Erzählte wird von der Lektüre Jean Pauls und Hölderlins begleitet und auf diese Weise literarisiert.788 Die familiären Erinnerungen reichen bis in die Lebenszeit des Großvaters zurück und lassen so auch die Generationsfrage thematisieren. Als erstes Familienmitglied besucht der aus Isfahan stammende Großvater die Amerikanische Schule in Teheran und verfasst selbst Schriften, die von der Religionsgemeinschaft der Bahais handeln. Von hier ausgehend entwickelt sich die Perspektive auf eine Lebensgeschichte mit einer häufig variierenden Hauptfigur: Mal wird sie durch ein Ich, mal durch ein Er, bald durch ein Wir, dann durch ein Sie (der Romanleser) verkörpert. Die wechselnde Perspektive ref lektiert über soziale und kulturelle Veränderungen in einer als westlich konstruierten Gesellschaft. Die herausragende Rolle des Erzählers in Dein Name besteht in seiner Funktion als Islam-Erklärer und in der Fähigkeit, das Heilige mit dem Profanen zu verbinden. Auf diese Fähig-

787   Chiellino: Der interkulturelle Roman, 2002, 41-54. 788   Zu erwähnen ist ferner der intertextuelle Bezug dieses Romans zu Kermanis Schrift Über den Zufall Jean Paul, Hölderlin und der Roman, den ich schreibe (2012) aus den Frankfurter Poetik-Vorlesungen, in der Kermani versucht, seine Arbeit in die Geschichte der deutschsprachigen Literatur einzubetten und über die Prinzipien seines Schreibens zu diskutieren.

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keit greift der Roman Große Liebe zurück.789 Die Hauptfigur der Geschichte lebt sein interkulturelles Leben wie selbstverständlich und kann deshalb als die ausgebildete Form einer interkulturell profilierten Figur betrachtet werden. An dem Leben des fünfzehnjährigen Protagonisten lassen sich Schilderungen des früheren Lebens des heranwachsenden Kindes iranischer Eltern ablesen. Dieses Leben war geprägt vom Spannungsverhältnis zwischen ›fremder‹ Herkunft und ›deutschem‹ Leben, zwischen Isfahan und Siegen und wurde in der Selbstvorstellung des Autors vor der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung durch die Natursymbole Hitze und Regen ref lektiert. In diesem Spannungsverhältnis sinnt er über das Bücher-Schreiben nach.790 Große Liebe ist strukturell in genau hundert unterschiedlich angelegte Episoden einer Liebesgeschichte zwischen einem Jungen und einem zwei Jahre älteren Mädchen eingeteilt. Sie ist auf das Jahr 1983 datiert.791 Stilistisch ist Kermanis Roman in den Feuilletons in mehrfacher Hinsicht diskutiert worden. Ihm wird ein »artistische[s] Raffinement«, das »alle emotionalen Turbulenzen der Figuren in eine doppelte Distanz« rückt, zugeschrieben.792 Sie ergebe sich erstens aus der distanzierten Position des Ethnographen, die durch den Erzähler bei den Beschreibungen der Vorgänge auf dem Schulhof eingenommen wird, und zweitens aus der analytischen Perspektive des Protagonisten, der wie ein ›Fremder‹ positioniert wird, »dessen Handlungen und […] Beweggründe erst akribisch entziffert werden müssen«.793 Mit der Erzähltechnik der doppelten Distanz übernimmt der Roman eine spezifische Funktion, die – anders als in Dein Name – über ein autobiographisches Bekenntnis weit hinausgeht.794 Die Gestaltung der doppelten Distanz wird uns noch beschäftigen. Das zum Schreiben anregende Motiv wird in Große Liebe ein einziges Mal angesprochen. Der Ich-Erzähler hat bereits eine unglückliche Liebe hinter sich, die mit einer gescheiterten Ehe endete. Er hat einen fünfzehnjährigen Sohn, an dem er die verhängnisvollen Verhaltensmuster wiederentdeckt, die dreißig Jahre zuvor sein eigenes Leben bestimmt hatten. Zwischen ihm und seinem Sohn wechselt die Erzählsituation von der personalen zu der Ich-Situation hin und her und lässt dabei eine zwar komplexe, aber gelungene Erzähltechnik erkennen, welche die Rezeptionsseite sogar dazu anregt, Große Liebe als zeitgemäßes Pendant zu Goethes Werther zu charakteri-

789   Im Juni 2014 erschien Kermanis Buch Album, in dem nun seine frühen Texte und Erzählungen Das Buch der von Neil Young Getöteten, Vierzig Leben, Du sollst, Kurzmitteilung versammelt sind. Große Liebe erschien Anfang 2014 und wurde zwischen Februar und Juli mehrfach rezensiert. 790  Kermani: Woher ich stamme, ohne Datum. 791   Jede Episode ist eigenständig beschrieben und trägt eine Identifikationsnummer, die mit der Seitenangabe ungeachtet des Umfangs des betreffenden Kapitels übereinstimmt. Daraus ergibt sich die Erklärung für meine Zitierweise. Die erste Ziffer verweist auf das Kapitel bzw. auf die Seite, die zweite rechts vom Schrägstrich auf die Seite, auf der die zitierte Stelle steht. 792  Braun: Eros als Passion, 2014. 793  Ebd. 794  Schütte: Es war einmal die erste große Liebe, 2014. – Der Roman enthält durchaus konstruierte Aspekte des Zeitgeschehens, die hier weniger im Vordergrund stehen. Sie lassen sich aus einer Reihe von kulturellen Codes wie aus der Rollenverteilung der Eltern, aus »großen Umwälzungen« und aus »der Revolution im Land seiner Lieblingslektüre«, aus Massenprotesten »gegen die atomare Aufrüstung« der 1980er Jahre sowie aus den Demonstrationen gegen »den sogenannten Doppelbeschluß des Nordatlantikpakts« in Bonn ableiten (Kermani: Große Liebe, 2014, 20/1).

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sieren.795 Ein wesentlicher Unterschied besteht jedoch zu Werther, und zwar die mystische Färbung der Liebesgeschichte,796 die dem Erzähler einerseits die Mystifizierung der Liebesgeschichte des Jungen zu dem Mädchen und andererseits die Profanisierung der Liebesgeschichte des literarischen Liebespaars Leyla und Madschnun ermöglicht. In der Mystifizierung und Profanisierung der Liebesgeschichte ist ein weiterer Aspekt der doppelten Perspektive zu erkennen. Der Perspektivenkomplex setzt schon im ersten Kapitel und bei der Erörterung der identitätsstiftenden Frage nach dem Sein in der kurzen Geschichte des Königs ein.797 Der märchenhafte Beginn orientiert die Erzählwelt zunächst auf eine Selbstentdeckung hin, mit der dann auf unterschiedliche Weise hantiert wird: Sie umfasst die sowohl hermeneutische als auch mystische Reise zu sich selbst und wird als Selbstaufgabe zur Selbstfindung verstanden. In der mystischen Interpretation bedeuten Selbstaufgabe und Selbstfindung das Ent-werden vom Selbst und das Eins-werden mit der Geliebten.798 Das Werden erfolgt auf der Basis der Erkenntnis. Es wird in Große Liebe auf die erotische Dimension der Liebe erweitert und lässt die mystische Liebe auf diese Weise irdisch erscheinen. Das Motiv der Liebe in der doppelten Perspektive des Mystischen und des Profanen macht die Liebesgeschichte einer »pubertären Schulhofleidenschaft immer mehr zu einer subtilen Soziologie der Liebe in der grossen Gefühlsduselei«.799 In den Liebestexten, die der Jüngling seiner ›Schönheit‹ widmet, will die Rezeption zum einen eine Mischung aus »psychologischen Armseligkeiten und kleinen Narzissmen« sehen; zum anderen soll die Einmischung des Erzählers »die Bodenlosigkeit westdeutscher Liebesdiskurse mit den faszinierenden Einsichten« der Mystik konfrontieren.800 Weiterhin zeigt sich die doppelte Perspektive auch in dem Versuch, das Ich und das Er der Geschichte in ein nachvollziehbares Verhältnis zueinander zu setzen, was ohne den Faktor Zeit unmöglich wäre. Die Ich-Figur des Erzählers ist dreißig Jahre älter als Er. Diese Zeitspanne des Blickes begründet die für die autobiographische (Selbst-)Ref lexion notwendige Distanz.801 Während das Er in die Liebesgeschichte verwickelt ist, wird es vom Ich beobachtet und beschrieben. Geht es um die Ref lexionen über die Geschichte oder um die kritische Durchleuchtung von Handlungsmöglichkeiten des Er, so dominiert die bisweilen belehrende Perspektive 795  Braun: Eros als Passion, 2014. 796   Der Erzähler verortet die Liebe des Jungen zwischen den Sphären »Ausdehnung« und »Einschnürung« als zwei Grundzuständen, »in deren dialektischer Folge sich die mystische […] Erfahrungen vollzieht« (Kermani: Große Liebe, 2014, 13/1). Diese Erfahrung bringt er in den Kontext Ibn Arabis und beschreibt sie als »Vorgefühl, das die Seele von den Dingen habe, bevor diese in den Bereich der äußeren Sinne träten« (ebd., 13/2). 797  Kermani: Große Liebe, 2014, 1. 798   Ebd., 60/2. – Adelung verweist auf die Bedeutung von Entwerden und beschreibt dieses als einen Zustand, in dem man sich und seiner Sinne, seines Bewusstseins beraubt wird. Er zitiert Aramena: »Ich fande sie, mein Lamm, hier bey den Heereden,/Da ich mir selbst mußt ersten Blicks entwerden« (Adelung: Grammatisch-Kritisches Wörterbuch, 1811, Bd. 1., Sp. 1840). 799  Braun: Eros als Passion, 2014. 800  Ebd. 801   Durch sie wird nach Philippe Lejeune eine soziale Gegenüberstellung simuliert, in der eine grammatische Transposition mit einer Reihe von zusätzlichen Perspektivenverschiebungen einhergeht und eine Doppelung der Erzählposition verursacht (Lejeune: Autobiography in the Third Person, 1977/78, 27-50).

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des Ich. Der Blick ist somit von einer beschreibenden Instanz aus auf das Objekt der Beschreibung gerichtet: »Das erste Mal hat er mit fünfzehn geliebt und seither nie wieder so groß«.802 Das Erzähltempus der Vergangenheit und das Temporaladverb »seither« legen den Zeitrahmen fest. Die unmittelbare Identifikation der Ich-Figur mit dem Jungen erfolgt im siebten Kapitel, in dem sie bekennt: »[Der] Fünfzehnjährige, der ich war«.803 Auf diese Weise wird an die Erzähltechnik in Günter Grass’ Beim Häuten der Zwiebel erinnert.804 Ähnlich verfährt Kermanis Ich-Figur, wenn sie sich auf einem Foto als Fünfzehnjährigen wiedererkennt: »Mit dem Kind, das ich war, verbindet mich vieles noch«.805 Identifikationsmomente werden durch Distanzmomente geordnet, beherrscht und nicht zuletzt auch relativiert. Dieser Junge denkt nur an »seine eigene Behaglichkeit«, während »ich als Fünfzehnjähriger die Welt zu retten versucht hätte«.806 Distanzmomente zwischen Ich und Er zeigen sich vor allem auch in der reservierten Haltung des Ich gegenüber der Verhaltensweise des Jungen sowie in der »Verfremdung durch die dritte Person« als literarischem »Trick«.807 Hinzukommt die Anerkennung, dass der Junge deutlich mehr »Chuzpe« besessen habe als das Ich; oder in den Eigenschaften Schlagfertigkeit, Frechheit, Unerfahrenheit und Unsicherheit,808 die später vom Ich durch Souveränität ersetzt werden. Das herausragende Motiv individueller Entwicklungsprozesse ist eine Verbindung, »die den Namen Liebe«809 verdient. Die Erzählung über sie ist unmittelbar an Erinnerungen gebunden, welche die Liebesgeschichte bis zum Zeitpunkt des Schreibens aktuell erscheinen lassen. Ich und Er treffen aufeinander: Weshalb denke ich seit vorgestern an den Fünfzehnjährigen, nein, weshalb schrieb ich gestern über ihn, denn gedacht habe ich seiner oft, vielleicht sogar täglich, seit ich vor dreißig Jahren der Junge war, der die Pausen in der Raucherecke verbrachte […].810 Die Bindung an Erinnerungen fordert eine Gedächtnisarbeit am Meeresboden der Vergangenheit.811 Durch die Gedächtnisarbeit wird der Bezug zum Fiktiven hergestellt, und das Fiktive im Spannungsfeld der Identifikationsstrategien von Ich und Er macht das Autobiographische aus. Die Gedächtnisarbeit des Erzählers gewinnt auch strukturell an Relevanz, weil sie diesen überhaupt dazu anregt, einen Erzählplan anzufertigen. Von diesem Plan erfährt der Leser konkret in der sechsundzwanzigsten Episode:

802  Kermani: Große Liebe, 2014, 2. 803   Ebd., 7/1. 804  Tafazoli: Formen von Gedächtnis und Erinnerung in Beim Häuten der Zwiebel und Die Box, 2012, 328349. 805  Kermani: Große Liebe, 2014, 16/1. 806  Ebd. 807   Ebd., 16/2. 808   Ebd., 21/1. 809   Ebd., 4/1. 810 Ebd., 3. 811   Ebd., 53/1.

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Am sechsundzwanzigsten Tag – richtig, ich schreibe meine Geschichte täglich nur eine Seite fort, um dem Gedächtnis Gelegenheit zu geben, sich zu sortieren, ob ich auch selbst festlege, den berühmtesten Dichtern folgend, wie lang eine Seite ist – […].812 Immer wieder wird angekündigt, die Erzählung müsse sich genau an den Plan halten, um ihre Strukturierung und Pointierung sicherzustellen. Zu diesem Plan gehört auch, dass der Leser am neunundzwanzigsten Tag erfahren soll, wie der Junge das Herz seiner ›Schönsten‹ gewinnt. Hier wird ein zweiter Plan erstellt, der die Entwicklung der Liebe zwischen dem Jungen, der anders als sein Pendant Madschnun weder »befangen« oder »verwirrt« noch »schwachmutig« ist,813 und der ›Schönsten‹ beschreiben soll. Der »häufig genuin revidiert[e] Plan«814 sieht vor, »jede Station der Liebe«, d.h. Begegnung, Berührung, Liebkosung und Verzweif lung angemessen zu beschreiben, »damit selbst eine so große Liebe in hundert Tagen erzählt wird«.815 Die Methode, das Schreibpensum von hundert Tagen zu bewältigen, wirkt simpel und formalistisch; zugleich macht sie die Geschichte individualistisch: »schließlich ist es meine Geschichte, nicht seine [des Lesers]«.816 Das Objekt des Begehrens ist ein Mädchen, das – und damit muss sich der Leser abfinden – über Seiten hinweg »die Schönste«817 bzw. in einer Form des absoluten Superlativs die »Schönste des Schulhofs«818 genannt wird, bis man schließlich erfährt, dass sie auf den Namen Jutta hört. Dass der Name der ›Schönsten‹ sowohl dem Jungen als auch dem Leser zunächst geheim bleibt, gehört durchaus zu dem literarischen Plan. Ein ganzes Kapitel – eröffnet durch die mystische Liebeserfahrung – ist nämlich der Frage gewidmet, wie der Junge ihren Namen in Erfahrung bringt.819 Die Antwort auf diese Frage ummantelt die Annäherungsversuche des Jungen.820 Solche Versuche wiederholen sich, um die Augenblicke des Beisammenseins, so harmlos dieses auch scheinen mag, zu vermehren und das innere Verlangen zu stillen: »Was ihn jede Pause zwischen die breiten Rücken zog, war nur das Verlangen, sie aus den Augenwinkeln zu betrachten«.821 Alle Pläne bezwecken nur eines, nämlich Jutta einen Kuss zu entlocken. Die große Liebe spannt sich zwischen dem ersten Kuss und der Trennung und dauert nicht einmal eine Woche, der »Trennungsschmerz natürlich länger, in gewisser

812   Ebd., 26/1. 813   Ebd., 4/1. 814   Ebd., 16/1. 815   Ebd., 29/1. 816   Ebd., 82/1. 817 Ebd., 2. 818   Ebd., 10/1. 819   Ebd., 18/2. – Die in der Liebe zu entdeckende außerordentliche Feinheit, die durchdringende Leidenschaft und die überwältigende und schlafraubende Macht der Liebe führt das Ich auf den Sufi Ibn Arabi (1165-1240) zurück. 820   Das Risiko des Diebstahls des Schulheftes und der Versuch, die Nähe zur Geliebten zu schaffen, finden ihre Literarisierung durch den Einschub einer kurzen Geschichte, die von einem Dieb handelt, dessen Hand abgehauen wird. Der Dieb nimmt sie mit und sagt, auf ihr habe er den Namen seiner Geliebten geschrieben (Kermani: Große Liebe, 2014, 19). 821   Ebd., 7/1.

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Weise bis heute, sonst würde ich nicht unsere Geschichte erzählen«.822 Die Liebe als Ursache und Motiv des Schreibens und der Kuss als Verwirklichung der Liebe werden zu einem einheitlichen Motiv, das von der Ich- und Er-Perspektive erzählerisch gleichermaßen in Anspruch genommen wird: Der Jüngling arbeitet auf diesen Kuss hin, der Erzähler macht ihn zum Gegenstand seiner Geschichte.823 Diese Liebesgeschichte wird durch den Brief,824 der den Beginn und das Ende der Liebesgeschichte markiert, medial zugänglich und eingerahmt. Darüber hinaus ist der Brief ein Auf bewahrungsmedium des Gedächtnisses825 und wird selbst zunächst in einer Kiste, dann in einem Umzugskarton und letztlich in einer Holztruhe verwahrt.826 Die Liebesgeschichte besitzt zwar eine ungefähre Chronologie, steht aber unter dem Einf luss von Gedächtnis, das »die Zeit dehnt«.827 Dieses Spiel mit der Zeit, das durch die »Hilfsmittel«828 Brief, Tagebuch829 und Fotos830 vorangetrieben wird, rückt die Ungenauigkeit und Lückenhaftigkeit des Gedächtnisses ins Bewusstsein und zeigt, wie die Geschichte »der Willkür des Gedächtnisses gehorchend«831 zum »Einfallstor der Imagination«832 wird. Das Erzählen dieser Geschichte erweist sich als Widerspiegelungsmoment einer bewusst gesteuerten Fähigkeit zum Sich-Erinnern: Ich kann mich noch an die Überraschung erinnern, daß ihre Lippen sich gleichzeitig so weich und glatt anfühlten, als sei deren Oberfläche hauchdünn und die Substanz flüssig. Selbst den Geschmack ihres Lippenbalsams würde ich noch dreißig Jahre später erkennen, und in Drogerien gehe ich nie an dem Regal mit Hautcremes vorbei, ohne nach der Marke Ausschau zu halten, die sie benutzte.833 Die kaum eine Woche anhaltende Sehnsucht nach der Vereinigung mit der ›Schönsten‹ wird nach dem mystischen Liebesprinzip im Schreibplan eingeteilt und strukturell geordnet:

822   Ebd., 38/3. Es wird also nahegelegt, dass das Schreiben selbst eine Art Therapie zur Bewältigung des Trennungsschmerzes ist. 823   Ebd., 30/2. 824   Dem Brief des Jungen gegenüber steht der Brief der ›Schönsten‹. Er hat einen Umschlag »mit einer selbstgemalten Postkartenidylle« (Kermani: Große Liebe, 2014, 87/1); sein Inhalt jedoch bleibt das Geheimnis des Jünglings und des Älteren. 825   Die Funktion des Briefes als Mediums und lückenhaften Zeugnisses der Liebe wird auf den Beweis einer »zornige[n] Abrechnung« (Kermani: Große Liebe, 2014, 8/1) und des Scheiterns der Liebe erweitert. 826  Kermani: Große Liebe, 2014, 8/1. 827   Ebd., 7/1. 828  Assmann: Erinnerungsräume, 2006, 15. 829 Das Tagebuch dient ebenfalls dazu, »die zeitliche Abfolge zu rekonstruieren« (Kermani: Große Liebe, 2014, 90/2). 830  Kermani: Große Liebe, 2014,16/1. 831   Ebd., 30/1. 832  Wagner-Egelhaaf: Autobiographie, 2005, 47. 833  Kermani: Große Liebe, 2014, 32/1f.

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Für eine Streckung des Vorgangs sprächen überdies kompositorische Gründe, um die Vereinigung genau in der Mitte der Geschichte zu platzieren. Das »Bleiben im Entwerden« rückte eine Station näher nach hinten, wodurch der Verzweiflung immer noch vierzig Seiten bleiben […].834 Was der Leser hier erfährt, ist die Absicht über die Komposition einer schließlich in Verzweif lung einmündenden Geschichte von Kennenlernen, Zusammenkommen und Vereinigen. Dieser Plan scheint bei der Gestaltung der Erzählwelt zunächst profan, bis der Leser darüber unterrichtet wird, dass durch diese Komposition die Geschichte durch Ibn Arabi und die Wegstrecke als »Erfahrung des Heiligen«835 eine mystische Bedeutung gewinnen soll. Der Höhepunkt der Liebe in der »Vereinigung«836 in der vierzigsten Erzählung837 – das Glück also – hält drei Tage an, bis die Eltern des Mädchens die Liebesbeziehung entdecken, und Jutta sich dem Jungen auf eine unerklärliche Weise verschließt. Als Projektionsf läche zur Steigerung der Liebeserfahrung und als Sphäre zur Bedeutungskonstruktion einer Liebesgeschichte im Kontrast zum ›westdeutschen‹ Kontext der Lebensbeschreibung gewinnt die Mystik eine Funktion und spiegelt sich in der Komposition der Liebeserfahrung in der Rhetorik der Geschichte wider. Bei der Konstruktion dieser Liebeserfahrung ist die Ich-Figur die Erfahrungsinstanz und sein Gegenüber deren Spiegelfigur. Aus dem Ich gestaltet der Erzähler durch die Mystifizierung der Liebe in der wechselnden Doppelperspektive eine Figur mit plurikultureller Fähigkeit. Der Junge bleibt im Hinblick auf seinen Namen identitätslos. Was der Leser über die Identifizierung des Fünfzehnjährigen erfährt, ergibt sich lediglich aus der Semiose einer Schreibweise, die durch den Erzähler an dessen Ich-Figur erprobt wird. Die Darstellung des Verhältnisses, das das Ich zu seiner Welt auf baut, erlaubt eine interkulturelle Erzählwelt auszumachen, die sich in der semiotischen Praxis der Kulturübersetzung beim Konstruieren von Bedeutungsebenen zwischen dem Ich und Jutta wie zwischen dem Erzähler und dem Leser entfaltet.838 Das Konstrukt des Herkunftslandes, von dem das Ich als ›Land der Lieblingslektüre‹ spricht und es zugleich von seiner »Geburtsstadt«839 abgrenzt, ist eines dieser konstruierten Bedeutungsebenen. Das Ineinandergreifen des Vergangenen und des Gegenwärtigen durch die Konstruktion ›Land der Lieblingslektüre‹ in der Jetztzeit der Erzählwelt sowie die Herstellung von semantischen Ebenen durch die profane und mystische Schilderung einer individuellen Liebe kann nur gelingt, weil das Ebenbild des Erzählers in der Lage ist, sich sprachlich und kulturell vielfältig zu bewegen und zu verorten. Mit dem ›Land der Lieblingslektüre‹ wird eine Vergangenheit offengelegt, die in der Jetztzeit der Erzählung ausschließlich in der Form einer Lektüre präsent ist; sie wird les- und auch interpretierbar. Dem Leser wird hierbei die Möglichkeit genommen, diese Vergangenheit in die außertextuelle Wirklichkeit konkret zu verorten und sie geographisch, territorial 834   Ebd., 40/1. 835   Ebd., 40/1. 836   Ebd., 81/1. 837   Ebd., 40/1. 838  Bergland: Representing Ethnicity in Autobiography, 1994, 67-93. 839  Kermani: Große Liebe, 2014, 24/1.

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und historisch nach ontologischen Mustern festzulegen. Der Leser kann diese Vergangenheit nur bei der Lektüre deuten.840 Dem mystischen Prinzip entsprechend wird das vergangene Leben des Ich zu einem »Geheimnis«, das ›entziffert‹ werden muss.841 Es gilt nachzuweisen, wie sich das semiotische ›Gewebe‹ in der interkulturell ausgestatteten Liebeswelt bildet. An mehreren Stellen lässt sich diese Konstruktion aufzeigen. Die schöne blonde Europäerin Jutta wird durch die Figur Leyla als Abbild der Geliebten in der iranischen Literatur mystifiziert, deren erweitertes Bild nur Madschnun842 als Abbild des Liebenden repräsentieren kann. Somit dient Nizamis Liebesgeschichte von Leyla und Madschnun aus dem 12. Jahrhundert als Imaginationsfolie einer in der ausgestatteten Erzählwelt gegenwärtigen Liebeserfahrung.843 Wie Leyla ist die ›Schönste des Schulhofs‹ unverwechselbar: Sie hat eine Lücke zwischen den Vorderzähnen. Allerdings gilt die Zahnlücke dem Jungen nicht als Makel, sondern als Zeichen einer die Schönheit geradezu vollendenden Einzigartigkeit. Ferner dient sie dem Erzähler als Metapher zur Beschreibung der Kluft zwischen ihr und dem Jungen. Im Sinne der Schönheit spielt die Zahnlücke auf das Motiv des Muttermals in der persischen Poesie an: Wann immer er [der Junge] ihre Scham bemerkte, beschwor er wortreich die Vollkommenheit, die ihrem Gesicht ebender einzige Makel verliehe, der deshalb kein Makel wäre, sondern dem Muttermal der Geliebten in der persischen Poesie gliche.844 Der Erzähler ref lektiert die Liebesgeschichte des Jungen in der unerfüllten und unglücklichen Liebe von Rudakis (858-ca. 941) Liebespaar Leyla und Madschnun,845 und vergleicht die Liebe zwischen dem Ich und Jutta mit der dieses Liebespaares. Durch

840   Geertz: Dichte Beschreibung, 1983, 246. – Das Ich lässt sich also weder politisch noch geographisch verorten, sondern nur semiotisch und gewinnt einen zeichenhaften und interpretierbaren Charakter. 841  Barthes: Der Tod des Autors, 2000, 191. 842   Madschnun bedeutet »verrückt, »im pathologischen Sinne schizophren« (Kermani: Große Liebe, 2014, 48/2). Mit Ahmad Ghazali wird die Liebe im Hinblick auf Madschnun gedeutet: »In Wahrheit ist die Liebe nur ein Übel […]. Vertraulichkeit und Ruhe sind ihr fremd, sind ausgeliehen, denn in Wahrheit ist in der Liebe alle Trennung Zweiheit und nur im kurzen Augenblick der Paarung Einheit. Der Rest ist Phantasie, hat mit Vereinigung nichts zu tun« (ebd., 28). 843  Kermani: Große Liebe, 2014, 4/3. Neben den Liebesfiguren Leila und Madschnun verweisen weitere Motive auf Nizamis Poesie wie etwa das Meer der Liebe und das Versinken in diesem Meer (ebd., 6/2). 844   Ebd., 6/1. 845   In der iranischen Legende verlieben sich Qais und Leyla in ihrer Jugend. Als sie aber älter wurde, verhinderte Leylas Vater ihre Zusammenkunft. Qais wird in der Folge verrückt, woher er auch seinen Beinamen Madschnun, d.h. der Verrückte, hat (siehe zur der Legende und ihrer Rezeption in der modernen Lyrik Irans Tabatabai: Father of Persian Verse, 2010, 1-27). Die mystische Deutung der Liebe begreift den Zustand des Liebens als den Zustand des Närrisch-Werdens. Konkreter wird der Zustand des Verliebt-Seins bzw. der Zustand dessen, was einem »Kitzel« ähnelt (Kermani: Große Liebe, 2014, 7/2), wiederum im Dialog mit Ibn Arabi als »plötzliche Neigung zur Liebe« ausgeführt (ebd., 17/1), welche die Kraft besitzt, »die Vernunft« mit sich zu reißen und »geistige Besessenheit« hervorzubringen; sie bedeutet »Auszehrung«, »Unruhe«, »Schlaflosigkeit«, »das brennende Verlangen« und »das Feuer der Leidenschaft« (ebd., 27/1).

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die Projektion gewinnt die mystische Liebeserfahrung eine irdische Färbung; sie wird zu einer »Wirklichkeit«, »in der man Geschichten erzählt«.846 Nicht mehr herrschte er [der Junge] über seinen Blick, der zu ihr ging, unaufhörlich zu ihr, statt auf den Boden oder mal zu den Lehrern. Jedenfalls kommt es mir dreißig Jahre später vor, als habe er im Geiste Madschnuns, der, nach der Gebetsrichtung befragt, zur Antwort gab: »Wenn du ein unwissender Erdenkloß bist: der Stein der Kaaba, wenn du ein Liebender bist: Gott; wenn du jedoch Madschnun bist: dann richtest du dich im Gebet nach Leila« – als habe der Junge auf dem Schulhof unaufhörlich die Schönste angestarrt.847 Wie der Junge mit Madschnun identifiziert wird, so wird Jutta die Maske Leylas aufgesetzt: »keinerlei Schminke« benötigt sie wie die »sagenhafte Leila«; sie trank Milch und diese war »auf Wangen und Lippen zu Rosenfarben geworden«; ihre Mutter hatte Leila mit »Augensalbe und Schönheitsmal« auf die Welt gebracht.848 In einem Tagebucheintrag wird Jutta eine Reihe von Kosenamen beigelegt: »Fee«, »Märchenfee« und »Feeli«.849 An anderer Stelle im Tagebuch wird sie »Realistin« mit Sinn für »Ordnung« genannt; der Junge hingegen verkörpert den »Träumer« und das Chaos.850 Diese oder ähnliche ironisch als »substanzlose Poesie« erscheinende Erinnerungsstücke können zu den »Schilderungen konkreter Situationen« kaum etwas beitragen.851 Dies scheint auch nicht die Absicht zu sein. Einen komplexeren Aspekt in der Mystifizierung der irdischen Liebe in der interkulturell ausgestatteten Erzählwelt bilden die Schilderungen von Liebesstationen, an deren Ende das Ent-werden von Selbst und Eins-werden mit der Geliebten steht.852 Das »Bleiben im Entwerden«853 stammt aus der Weltanschauung von Attar, die bereits den Auftakt der Romanze bildet: Als ich vorgestern bei dem persischen Dichter Attar die Anekdote von dem Alten las, der nicht ich sein möchte, überfiel mich der Gedanke, daß eben darin, in dem Wunsch, sich loszuwerden, meine erste, niemals größere Liebe gegründet sei. Später nämlich, später, wenn man sich gefunden zu haben meint, will man sich doch oder wollte jedenfalls ich mich behalten, bestand ich auf mir und erst recht in der Liebe. Der Leser wird einwenden, ein unbedarfter Junge sei nicht mit einem heiligen Narren zu vergleichen, der Ichverlust, den er als Pubertierender womöglich anstrebe – einmal beiseite gelassen, daß man die Pubertät gewöhnlich gerade im Gegenteil als eine Ichsuche beschreibt –, der Ichverlust grundsätzlich anderen Gehalts als auf dem mystischen Weg, gänzlich banal. In der Hoffnung habe ich gestern begonnen, daß ich den Leser widerlege.854

846  Kermani: Große Liebe, 2014, 48/2. 847   Ebd., 15/1f. 848   Ebd., 42/3. 849   Ebd., 38/1. 850   Ebd., 67/2. 851   Ebd., 38/2. 852   Ebd., 60/2. 853   Ebd., 29/1. 854 Ebd., 3.

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Der Hinweis auf die Ich-Suche des Dichters und Mystikers Fariduddin Attar (ca. 1110-1221) zu Beginn lässt sich im Hinblick auf die Liebeserfahrung am Ende des Romans als interkulturellen Rahmen für die Identitätsarbeit und Identitätssuche eines heranwachsenden und pubertierenden Jungen interpretieren: »In Wirklichkeit liebt niemand die geliebte Person um ihretwillen […], man liebt sie einzig und allein um seinetwillen. Das ist die Wahrheit, ohne jeden Zweifel!«855 Diese ›Wahrheit‹ soll ihren Beleg mit Hilfe von Mansur al-Halladsch (857-922), der die Vereinigung mit der Geliebten als Moment auffasst, in dem nicht mehr Ich und Du unterschieden werden können, erfahren: »ich bin der, den ich liebe, und den ich liebe, ist ich […]. Es gibt auf der Welt kein anderes Ich als meins«.856 Mit Schehaboddin Sohrewardi (1154-1191) mündet der Zustand des Entwerdens in die Ekstase ein: Sie besteht darin, daß das Ich sein eigenes Wesen nicht mehr wahrnimmt, weil es zu tief in der Wahrnehmung des Gegenstands seines Entzückens versunken ist. Wenn es das Bewußtsein von allem außer seinem Geliebten, auch vom Entwerden, verloren hat, dann ist dies Tilgung und Auslöschung.857 Folgt man dem Bekenntnis der Liebesegozentrik, so bedeutet die Mystifizierung der Liebe zugleich die Ich-Suche in der Liebe. Durch sie wird das Individuum zwischen dem himmlischen und irdischen Pol positioniert. Das poetische Spiel der Suche entfaltet sich in der Konstellation des Jungen, der Schönsten und des Ich-Erzählers und vollzieht sich im Prozess des Schreibens als Selbstref lexion: »Mir […] tritt beim Schreiben die Angst, die Wut und der Trotz so konkret ins Bewußtsein, als sei ich erst gestern der Junge gewesen«.858 Durch die Profanierung der Liebe versucht das Ich, »Verliebtheit« als Zustand aufzufassen, der ihm »nicht erhabener als das gewöhnliche Dasein vorkommt, sondern konzentrierter, konzentrierter auf einen selbst«.859 In einem nächsten Zustand, nämlich in dem der Vereinigung vollziehen sich Momente des Himmlischen und Irdischen durch die Motive Seufzen und Stöhnen im Liebesakt: Im Seufzen und Stöhnen, so wird der Sufi Ibn Arabi zitiert, »atmet Gott durch die Liebenden hindurch«.860 Für den liebenden Jungen jedoch gleicht der Orgasmus dem »kleinen Tod«, der – christlich gesehen – nur dem Vorgang der Eucharistie vergleichbar und »physisch im Menschen vorhanden« ist: Eben hier endet auch schon die Analogie, die vor dem Sufismus bereits die Bibel zwischen der jugendlichen Verliebtheit und der religiösen Liebe herstellte, wobei die Religionen die Hingabe an Gott am Beispiel der körperlichen Vereinigung anschaulich

855   Ebd., 32/3. 856   Ebd., 63/3. 857   Ebd., 60/2. 858   Ebd., 55/2. 859   Ebd., 32/2. – Mit der Zurschaustellung der Liebe verstößt der Junge wissentlich gegen die mystischen Regeln der Liebe, denn durch eine »solche Eitelkeit« wird ihm in der Liebe – mystisch betrachtet – einer »der untersten Standplätze der Liebe« zugewiesen (ebd., 34/1). 860   Ebd., 66/1.

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machen, ich hingegen umgekehrt auf die religiöse Erfahrung mich beziehe, um eine ganz weltliche Liebe zu verstehen. Ihnen geht es um den Schöpfer, mir ums Geschöpf.861 Diese Auffassung vom Liebesakt nutzt der Fünfzehnjährige, um die Liebe vielmehr als »Verheißung« und weniger als »Erlösung« zu interpretieren.862 Aber auch diese Liebe bedarf der Praxis: Wie für das religiöse, ist auch für das sexuelle Erleben Übung, Körperkontrolle, wiederholte Praxis hilfreich – die Mystiker würden betonen: notwendig, und beständiges Gottgedenken, Rituale, das Studium von Büchern unterschiedlicher Wissensgebiete, überhaupt die Erfahrung der Welt und persönliche Reife hinzufügen –, damit sich der Liebende im Geschehen verliert […].863 Sich im Geschehen zu verlieren und in seiner Geliebten aufzugehen, d.h. ›Entwerden‹ ist das Ziel. Dies bedeutet, sich dem Willen der Geliebten zu unterwerfen, würde der Junge sagen, und dem Gottes, würde der Mystiker behaupten. Dass aber die Wegstrecke zur Vereinigung jedenfalls mystisch zu sein scheint, ist die profane Erkenntnis gegen Ende des Geschehens: Und selbst die Vereinigung – gut, sie brachte weder den Himmel zum Einsturz noch die Flaschen zum Umfallen, gleichwohl bescherte sie dem Jungen im Wortsinn eine Sensation, wie sie kein Rauschmittel jemals bewirkt.864 Die Beschreibung der Wegstrecke zur Vereinigung – als »Erfahrung des Heiligen«865 – wird ebenfalls individualisiert und profan geschildert: Begonnen wird die Wegstrecke im Frühjahr 1983 in einer westdeutschen Kleinstadt mit den Schilderungen der Momente vor dem »Beischlaf zweier Jugendlicher«.866 Dem Tanz der Kerzenf lamme folgt der nächste Schritt in der Bewunderung von Juttas nacktem Körper, bei dessen Beschreibung der Blick des Erzählers – an seinen eigenen fünfzehnjährigen Sohn denkend – den Jungen im Visier hat: Ich frage mich, ob es meinem Sohn wie dem Jungen ergehen wird, der zum ersten Mal eine Frau nackt auf einem Bett ausgestreckt sah, die beiden wellenförmigen Linien, die ihr schlanker Leib zeichnete, ihre Oberschenkel zusammengepreßt, als zweifelte sie 861  Ebd. 862  Ebd. 863   Ebd., 66/2. 864   Ebd., 81/1. – Dass die »enge Parallele zwischen der sexuellen Vereinigung und der mystischen Vereinigung mit Gott« (Ebd., 82/2) verpönt sei und als Blasphemie gelte, ist sich das Ich bewusst. Mit dem konkreten Verweis auf den britischen Mystikforscher Zaehner begründet es aber, dass Blasphemie nicht »im Vergleich, sondern in der Herabsetzung des einzigen Aktes, der den Menschen Gott gleichmacht, sowohl durch die Intensität in seiner Vereinigung mit seinem Partner wie dadurch, daß er durch diese Vereinigung ein Mit-Schöpfer Gottes ist« (ebd., 82/2f.) bestehe. 865  Kermani: Große Liebe, 2014, 40/1. 866   Beischlaf bedeutet Liebe als »Quelle« zu entdecken; Lieben heißt hier »Entwerden« von Selbst und Einswerden mit der Geliebten (Kermani: Große Liebe, 2014, 60/2).

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noch, aber die Lippen geöffnet und gaben also die eleusinische Zahnlücke preis, die fest gespannten Brüste vor Aufregung ebenfalls bebend, darauf die Türmchen gerade emporragend wie aus Ziegeln gefügt, die eine Hand auf dem Bauch, die andere zur Seite gelegt, um ihn mit einer Umarmung zu empfangen, nichts rasiert, das gab es ja in jener Zeit nicht, das hätte als widernatürlich und überkommen gegolten, ihre Scham, ihre Schenkel, ihre Unterarme und selbst die Achseln dem Jungen also wahrhaftig ein himmlischer Garten mit Wiesen und Wald – ich fragte mich, ob es meinem Sohn überhaupt noch ergehen kann wie ihm.867 Die Beobachtung und Schilderung von Juttas animalischem und zugleich paradiesischem Körper bildet die zweite Station auf dem Weg zur Vereinigung. Diese nackte Erscheinung, die »willentlich aufreizte«,868 steht nicht individuell und für sich allein, sondern wird in den politischen Kontext der Friedensdemonstrationen in Bonn sowie in den Kontext der sexuellen Revolution eingebettet.869 Die Vereinigung wird durch die Rollenzuweisungen bestimmt; der Junge unerfahren und passiv, Jutta erfahren und aktiv: Daß ihr von vornherein klar war, ihn in die Liebe einzuführen, weiß dreißig Jahre später ich, jedoch nicht der Junge, der sich mit einem Sprung nicht unähnlich einem Köpper auf sie stürzte, um sich alsbald zu fragen, wie man eigentlich schwimmt.870 Der Junge scheint unbeholfen und verloren; »ein Zustand der panischen Kopf losigkeit«,871 wie der Mystiker sagen würde. Der ironische Blick auf die Mystik erweitert sich im Kontext des Liebesakts mit Jutta, in dem ein »Feuerwerk« entsteht, dessen »Sprengmeister« der Junge selbst war.872 Die irdische Liebe erhält in der Weltanschauung des Jungen einen völlig anderen Stellenwert als die Liebe in der Mystik. Während der Junge beim Beischlaf bemüht ist, seinen vorzeitigen Samenerguss unter Kontrolle zu bringen, ref lektiert das Ich: Darüber sagen die Mystiker nichts, des Samens vorzeitiger Erguß scheint in ihrer Metaphorik nicht vorgesehen zu sein, so weit reicht die Vergleichbarkeit der unglücklich verlaufenden, weil durch äußere oder innere Störungen beeinträchtigten, abrupt endenden Ekstase, die doch vorgekommen sein muß, nicht einmal bei Baha-e Walad, der mit der Sakralisierung des Beischlafs zugleich den Ritus sexualisierte.873

867  Kermani: Große Liebe, 2014, 42/1. 868   Ebd., 42/2. 869   Ebd., 42/1f. 870   Ebd., 44/1. 871   Ebd., 44/2. 872   Ebd., 50/1. 873   Ebd., 54/1f. – Einen ironischen Ton erfährt die Beschreibung des Liebesakts durch die Anmerkung: »hätte Baha-e Walad als Schauplatz der Liebe auch einen Opel Ascona gelten lassen: ›Wo immer die jungen Frauen mit ihren jungen Gatten piepsen, zittern sie unter Gott‹« (ebd., 65/2).

3. Mediale Bilder interkultureller Identitätsarbeit

Der letzte Akt – mystisch gesprochen der letzte Zustand – der Liebesbeziehung ist die Verzweif lung, die zum einen durch das Moment der »Verlassenheit« charakterisiert,874 zum anderen aus der Doppelperspektive des Jungen und des Ich als Zustand einer »Ichsucht« beschrieben wird: Er selbst hatte ja kaum ein Bewußtsein von sich selbst, begriff noch lange Zeit nach der Trennung nichts; ich jedoch glaube, daß sich daselbst wieder die Ichsucht regte, so früh und von der Schönsten vorerst unbemerkt, die selbst der Größten Liebe zum Verhängnis werden kann.875 Die Trennung von der Geliebten findet ihre mystische Referenz wiederum in Attars Weltanschauung. Attar weigerte sich, die Geliebten zu sehen, mit dem Argument: »Mir ist diese Schönheit zu erhaben, als daß einer wie ich sie anschauen dürfte«.876 Die Niedrigkeit des Liebenden und die Erhabenheit der Geliebten bewegt den Liebenden zu einem Verzicht auf Augenkontakt, der das Ich mit den Worten eines der frühesten Mystikers, Dschunaid (830-910), beschreibt: »Wenn Er [Gott] mir befiehlt, ich solle Ihn anschauen, werde ich erwidern: Ich schaue Dich nicht an!, weil in der Liebe das Auge Nichtgöttliches, Gottfremdes ist«.877 Sehen und Vereinigung stehen in der mystischen Deutung der Liebe Trennung und Verzweif lung gegenüber, wobei diesen ein höherer Stellenwert zukommt. So beklagt auch der Junge bei der Beschreibung der Verzweif lung, die das letzte Viertel seiner Geschichte einnimmt, dass die Mystiker »ungleich länger«878 das Thema der Verzweif lung beherrscht. Der eigentliche Grund der Verzweif lung liegt in der Tatsache, dass die ›Schönste‹ einen anderen liebt. Die Verzweif lung beginnt mit einer harmlosen Eifersucht879 und geht in eine Demütigung über: So oberflächlich die Liebe des Jungen jedem Außenstehenden vorkommen muß, so kurz sie währte, so verhalten eigentlich gekämpft wurde – sie meldete sich ja einfach nicht, und seine Versuche, sie wiederzugewinnen, beschränkten sich nach einem einzigen Nachmittag unter ihrem Fenster darauf, in den Kneipen nach ihr Ausschau zu halten.880 In Demütigung bzw. »Selbsterniedrigung«881 geht die Verzweif lung über, weil die ›Schönste‹ den Jungen kaum mehr beachtet. Verzweif lung und Demütigung sind die eigentlichen Aspekte, die das Ich bis heute prägen und es zum Schreiben antreiben. Kermanis Erzähler im Roman Große Liebe thematisiert wenig die Herkunft, den Geburtsort und die kollektive Anerkennung zu einer nationalen Gemeinschaft. Alles, 874   Ebd., 67/1. – Die Trennung bzw. die Verzweiflung setzte ein, als die Eltern der Schönsten die Liebesbeziehung entdeckten (ebd., 80/1). 875   Ebd., 63/2. 876   Ebd., 63/1f. 877   Ebd., 63/2. 878   Ebd., 76/1. 879   Ebd., 84/1. 880   Ebd., 88/1. 881   Ebd., 92/1.

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was über die interkulturell ausgestattete Erzählwelt erfahren werden kann, lässt sich lediglich mit Hilfe von Ausdrücken, Motiven, Symbolen, Metaphern und Verweisen als eine individuelle Entdeckung der Liebeswelt in einer interkulturell ausgestatteten Erzählwelt dechif frieren. Die interkulturelle Schreibweise dieser Welt realisiert sich ausschließlich in der Überlappung kulturell unterschiedlicher Referenzbereiche einer Semiose, die nicht unmittelbar von Migration hergeleitet wird oder auf sie hinarbeitet, sondern sie bereits als Gegenstand der Geschichte auslegt. Die Ausarbeitung von Liebe als Kardinalthema lässt Tendenzen erkennen, die auf Kermanis bewussten Umgang mit der Liebessemantik in der deutsch- und persischsprachigen Literaturgeschichte hindeuten. Mit der mystischen Auffassung von Liebe als Kontrastpol zur islamisch-orthodoxen Moralvorstellung von Liebe, die ihr Postulat in der Ausgrenzung der Sexualität definiert, wird in profaner Ausarbeitung eine exemplarische Opposition konstruiert, die die Erfahrung der Sexualität geradezu fördert. In Große Liebe wird literarisch eine Liebeserfahrung konzipiert, die an die romantische Liebessemantik anknüpft und ihre Bedeutungsausdehnung anstrebt. Diese Liebeskonzeption semantisiert »Liebe als Ich-Begegnung, als empathische Erschaffung der Welt aus dem Du-Ich« und »lockt nicht nur mit der Verheißung der Lust, sondern auch mit der Freiheit«.882 Auf der Folie der Mystik entwirft Große Liebe eine »irdische Religion der Liebe«883, die in der Moderne zu einem Massenphänomen werden sollte.

3.7 Zusammenfassung Beim Übergang zu den Fallbeispielen bin ich von der Annahme ausgegangen, dass eine interkulturell ausgestattete Erzählwelt ihre Figuren nicht ausschließlich auf eine Migrationsgeschichte reduziert, sondern ihnen vielmehr einen poetischen Raum zur Verfügung stellt, in dem sich ihre Erinnerungsarbeit vollziehen kann. Das qualitative Merkmal dieses Erinnerungsraums besteht in dessen Funktion, die individuelle und kulturelle Identitätsarbeit der Figuren zu ermöglichen. Bei der Erinnerungs- und Identitätsarbeit lassen sich Migrationsgeschichten unter Berücksichtigung wechselnder individueller und kultureller Kontexte aufzeigen, die auf Umwandlungen von Figuren und ihrer Welt hindeuten. Weil Migration in diesen Umwandlungen nur einen Aspekt darstellt, sollte die Interpretationsarbeit von Erinnerungs- und Identitätsarbeit nicht auf diesen einen Aspekt eingeschränkt werden. An den Fallbeispielen wurde eine polyperspektivische Interpretationsarbeit dieser Konstruktionen erprobt. Methodisch wurde die Interpretationsarbeit im Rahmen von Verschränkungen textueller und filmischer Erzähltechniken884 und Theorien über die Textualität des Filmes885 gestaltet. Die intermediale und intertextuelle Interpretation ermöglichte den Auf bau eines Kontexts, in dem sich die Erzählinstanz, Figurenkonstellationen, Handlungen und das Zeit-Raum-Kriterium erzähltheoretisch erfassen ließen. Sie führte insgesamt zu der Erkenntnis, dass die wechselnden medialen Räume wie die verschiedenen Akteure einen Wandel individueller und kultureller Identi882 Beck et al.: Das ganz normale Chaos der Liebe, 1990, 222-266, hier 243. 883  Ebd. 884   Griem et al.: Filmnarratologie, 2002, 155-183. 885 Bateman et al.: Film, Text, Kultur, 2013, 7-15; Wildfeuer: Der Film als Text?, 2013, 40-48.

3. Mediale Bilder interkultureller Identitätsarbeit

fikationsmöglichkeiten widerspiegeln, die die Figur des Migranten und mit ihr auch die Migrationskultur nicht als Ontologie beschreiben lassen, sondern als ein in sich heterogenes und veränderbares Phänomen kultureller Differenzen und Ähnlichkeiten. Die Kategorisierung solcher Figuren im Sinne von »New German« verliert daher ebenfalls an Bedeutung. Wie die individuelle Identitätsarbeit in heterogenen und wechselnden Kulturen symbolisch dargestellt werden kann, wurde aus der Interpretation des Gedichtes Metamorphose gewonnen. Aus der Analyse der Gedächtnis- und Identitätskonstruktionen auf der erzähltheoretischen Grundlage sollten Erkenntnisse über die Poetik der Migration gewonnen werden, die sich an Erzähltechniken, Symbolen und Motiven erprobt. Dass eingangs die Rolle der interkulturell profilierten Figur hervorgehoben wurde, hängt damit zusammen, dass das Erzählte an die Position dieser Figur perspektivisch rückgebunden ist und nie den Anspruch auf eine endgültige Wahrheit erhebt. Mit der Positionierung der interkulturell profilierten Hauptfigur entsteht die Technik des Perspektivismus als Wirklichkeitsdarstellung. Perspektivismus lässt die Wirklichkeit in der Erzählwelt subjektiv gebrochen erscheinen. Die Perspektivierung des Erzählvorgangs schlägt sich u.a. in der Gesprächstechnik der Figuren nieder, die, wie wir beispielsweise verstärkt in der Frankfurter Trilogie, Almanya, Salami Aleikum gesehen haben, auch über die Figurenverhältnisse entscheidet. Perspektivierung als Gesprächstechnik verhindert, dass die Wirklichkeit selbst als Entität im Mittelpunkt steht; stets ist die perspektivische Einstellung einer Figur zur Wirklichkeit der Erzählwelt, die anderen Figuren ermöglicht zu dieser Wirklichkeit ihren eigenen Bezug zu finden, ihre Meinungen und Urteile nicht allein konvergieren, sondern diese manchmal sogar als mit ihrer eigenen Welt unvereinbar zu sehen. Durch die Figurengespräche schieben sich immer wieder Geschichten und Bilder zwischen wechselnde Dialoge und Wahrnehmungen der Figuren und verkomplizieren die Sphäre zwischenmenschlicher Beziehungen. Der Einschub von Geschichten und Bildern zeugt seinerseits von der Tatsache, dass jeder Mensch in komplexe, häufig fragmentarisch überlieferte Geschichten und Erinnerungen verstrickt ist. Das Figurengespräch erweist sich in diesem Zusammenhang als eine Technik, die Relativierung der Wirklichkeit mit Hilfe der Perspektivierung der Erzählwelt anzustreben, die Komplexität der Wirklichkeit angemessener wiederzugeben und der Erzählwelt mit einer polyperspektivischen Offenheit auszustatten versucht. Diese Offenheit lässt sich im Zusammenhang mit der Technik des Perspektivismus und Gesprächs als Hinweis auf die Beschränktheit jeglichen Wissens und Urteilens und auf die prinzipielle Unabschließbarkeit jeder Erkenntnis interpretieren. Die »poetische Produktivität«886 legt das Gedächtnis der Migration vergleichend in den deutsch-iranischen und deutsch-türkischen Konstruktionen als ein multiples Bedeutungssystem offen, das nicht nur Rekonstruktionen unterschiedlich erfolgter Migrationsgeschichten im Medium der Erzählung ermöglicht. Im Labyrinth der Interpretation lassen sich aus den Bedeutungssystemen auch Erkenntnisse über Erzähltechniken der interkulturell ausgestatteten Erzählwelt, Figurenkonstellationen, Handlungsauf bau und Zeit-/Ortkriterien gewinnen. In dieser Erkenntniskette ist Migration eines der Narrative, das sich für Modalitäten und Modifikationen des Migrationsgedächtnisses als besonders relevant erweist. 886  Honold: Die interkulturelle Situation und ihre poetische Produktivität, 2012, 24.

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Aus erzählerisch kombinierten Bedeutungssystemen geht schließlich hervor, wie die Stilmittel der Erzählung ihre Bedeutungen verändern und wie aus deren Veränderung Transformationen des Kulturellen abgeleitet werden können. Der Aspekt der Identität stand in diesem Zusammenhang im Zentrum. An ihr wurde gezeigt, wie sich das deutsch-iranische Migrationsgedächtnis gewandelt hat und was für einen Stellenwert im Vergleich zu dem deutsch-türkischen Migrationsgedächtnis in der deutschsprachigen Literaturlandschaft besitzt. Im literarischen Diskurs des Migrationsgedächtnisses belegt Identität das Bedürfnis eines Umdenkens und einer Neudefinition individueller Zugehörigkeit zu kulturellen Identifikationsfeldern. Dieses Bedürfnis habe ich insbesondere in dem Anspruch plurikulturell profilierter Figuren auf ein Sowohl-Als-Auch ihrer differierenden Identitätsarbeiten gezeigt. Dieser Anspruch spiegelte sich in der Notwendigkeit von Ich-Varianten im Spannungsfeld der Differenz und Ähnlichkeit und im Erzeugen von Nähe und Distanz wider. Die Notwendigkeit dieses Spannungsfeldes für die Identitätsarbeit belegten Erinnerungen an das Vergangene und Wirkungsmöglichkeiten des Individuums in dem Gegenwärtigen. Über die Untersuchung dieses Spannungsfelds hinaus stellte die Analyse von medialen Bildern interkultureller Identitätsarbeit Modellierungen und Modifikationen von interkulturell motivierten Identifikationsprozessen dar und versuchte, im theoretischen Rahmen der postmodernen Identitätsdiskurse die grundsätzliche Frage nach den Möglichkeiten individueller Identitätsarbeit und nach Varianten kultureller Identifikation im literarischen Schreiben zu beantworten. Im Vordergrund stand die Begründung der Annahme reziproker Identifikationsstrategien an den Überlappungsräumen individueller und kultureller Positionierungen in der textuell und filmisch interkulturellen Erzählwelt. Die Poetik interkultureller Begegnungen umfasst als Ergebnis dieser Analyse einige Charakteristika, die abschließend zusammengefasst dargestellt werden sollen. Als Motiv einer interkulturellen Profilierung konnte sich Bewegung herauskristallisieren. Sie wurde in einer allgemeinen Form als Antriebskraft für Grenzüberschreitung (Reise/Migration) und deshalb auch als wirksamer Faktor bei den dynamischen Herstellungsprozessen von Überlappungsräumen verstanden. In Migration als spezifischer Form der Bewegung konnten zugleich verschiedene Ebenen und Nuancen aufgezeigt werden, welche die Migrationserfahrung je nach Bewegungsgrund unterschiedlich semantisieren. Sowohl allgemein als auch spezifisch wurde Bewegung als Kriterium einer Epoche betrachtet, die sich bereits in den 1980er Jahren hin zur Mobilität und Globalisierung bewegt. Narrative der Transformationen mit dem spezifischen Blick auf das Thema Identität als Anliegen literarischen Schreibens konnten veranschaulichen, dass Migration nicht als Sonderfall einer literarischen Kategorie im Sinne der Migrationsliteratur betrachtet werden kann, sondern im anvisierten Zeitraum überhaupt einen literarischen Bestandteil individueller und kultureller Identitätsarbeit bildet. Mit Blick auf Identität als thematischen Schwerpunkt literarischen Schreibens wurde deshalb gegen die Annahme argumentiert, Identität als ein Spezifikum der sogenannten Migrationsliteratur vorauszusetzen. Unterstützt wurde dieses Argument durch die Rekonstruktion einer Vielfalt von Motiven und Symbolen, aus denen der literarische Diskurs Identität nur im Prozess des Werdens begreift. Dieses Werden wurde begriff lich durch Identitätsarbeit und Identifikation kenntlich gemacht. Über die Begründung meiner Kritik am Begriff Migrationsliteratur mit Hilfe literarischer Beispiele hinaus bestand das Anliegen dieses Kapitels auch in der Analyse

3. Mediale Bilder interkultureller Identitätsarbeit

interkultureller Schreibweisen am Beispiel individueller und kultureller Identifikation bzw. Identitätsarbeit bei der Grenzüberschreitung als Modus ihres Bewusstwerdens. Am Spannungsverhältnis der privat-familiären und öffentlich-politischen Identitätsarbeit wurde die Komplexität des Bewusstwerdens verdeutlicht. Dieses Spannungsverhältnis erzeugte durch die Raum-Zeit-Achse eine Dynamik, die sich bei der Identitätsarbeit in der Herstellung einer scheinbaren Kohärenz zwischen dem Vergangenen und Gegenwärtigen niederschlug. Die Gedächtnis- und Erinnerungsarbeit der Figuren wurde als unverzichtbares Medium ihrer Identitätsarbeit herausgestellt. Es wurde nachgewiesen, dass die Erinnerungsarbeit sich in der Gegenwart der Erzählwelt vollzieht und auf diese Weise Vergangenes und Gegenwärtiges zusammenführt. Der mediale Ort dieser Zusammenführung charakterisiert Erinnerung also weniger als Spiegel einer historischen ›Wahrheit‹, sondern vielmehr als eine Sinn stiftende Instanz der erzählten Wirklichkeit. Die Erzählwelt setzt das Gedächtnis des Vergangenen und das Bewusstsein des Gegenwärtigen zueinander in eine Beziehung und ermöglicht Interaktionen, an denen sich die Handlungsmöglichkeiten und Weltanschauungen von Figuren ablesen lassen. So eröffnete die Analyse der Erzählwelt einerseits die Perspektive auf die historische Dimension der Identitätsarbeit und andererseits auf die gegenwärtige Herausforderung eines interkulturellen Sich-Identifizierens. Diese Analyse wurde chronologisch am Beispiel des Generationswechsels und inhaltlich an dem des Generationswandels diskutiert. Der Fokus auf das Thema der Generation erlaubte seinerseits die Rekonstruktion der sozialen Struktur aus der Erzählund Figurenperspektive. Die literarische Modellierung der sozialen Zeit im Modus des Erzählens bestätigte die These darüber, wie die individuelle Zeitwahrnehmung Aufschlüsse über die Etappen der Identitätsarbeit und über die Beschaffenheit der Identität geben kann.887 Die Untersuchung literarischer Formen der Identitätsarbeit innerhalb des Generationswandels konnte zeigen, dass obwohl die Modellierung der sozialen Struktur im deutsch-türkischen und im deutsch-iranischen Migrationsgedächtnis Unterscheidungsmerkmale aufweist, innerhalb dieses Gedächtnisses dennoch Ähnlichkeitsmomente aufeinandertreffen, die unter Berücksichtigung des Generationswandels in der Gestaltung der Erzählwelt entscheidend wirken. Auf der einen Seite steht die Konstruktion dieser Welt unter dem Vorzeichen der Arbeitsmigration und auf der anderen Seite der Islamischen Revolution; beide prägen die Identitätsarbeit von jeweiligen Figuren der ersten Generation. In der Identitätsarbeit der ersten Generation werden Scheitern, Verlust, Rückkehr und Resignation im deutsch-iranischen Migrationsgedächtnis nicht zu Darstellungen einer misslungenen Migrationsgeschichte eingesetzt, sondern vielmehr als Resultat des eigenen Versagens in soziokulturellen Verstrickungen. Hiervon unterscheidet sich die Identitätsarbeit der nachkommenden Generation. Sie stellt nämlich kein Versagen dar, sondern vielmehr eine Herausforderung, an die jedes Individuum seinem eigenen interkulturellen Potential entsprechend herantritt. Die Positionierung der nachkommenden Generation (beispielsweise durch den Sohn von Asar in Tufan, Nilufar in Kaltland) wurde im intermedialen Vergleich des Migrationsgedächtnisses als Ähnlichkeitsmodus aufgefasst und an Erfahrungen von Figuren wie Victoria in der Frankfurter Trilogie, Hasan in Selam Berlin, Canan und Cenk in Almanya und Mohsen und Ana in Salami Aleikum erörtert. Der Fünfzehnjährige im Roman Große Liebe stellt eine an887  Sistig: Wandel der Ich-Identität in der Postmoderne?, 2003, 19-21.

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dere Dimension der kulturellen Identifikation her, indem er der Identitätsarbeit einen autobiographischen Rahmen verleiht und sie im Spannungsfeld des beschreibenden und des beschriebenen Ich diskutiert. Interkulturell wird diese Welt durch das Motiv der Liebe in ihrer mystischen und profanen Varianten gestaltet. Ein weiteres Kriterium der Identitätsarbeit in der interkulturell ausgestatteten Erzählwelt stellt der religions- und geschlechtsspezifische Schwerpunkt dar, der in SAIDs, insbesondere aber in TORKANs Werk Ausdruck findet. In TORKANs Schreiben standen Ref lexionen über das soziokulturelle Umfeld aus der weiblichen Perspektive im Vordergrund. Dies erweiterte den Blick über den poetischen Identitätsdiskurs von SAIDs geschlechtlosem Ich hinaus auf den geschlechtsspezifischen Diskurs in TORKANs Schreib-Szene. Vor allem im Kontext der weiblichen Erinnerungsarbeit in einer männlich und religiös dominierten Gesellschaft schließt TORKAN an die iranische wie deutsche Erzähltradition an. Was ihr Werk innerhalb des postmodernen Diskurses des Kulturellen auszeichnet, ist die Thematisierung der Freiheit und Gleichheit im Sinne der Auf klärung, die der Dogmatik der Islamischen Revolution entgegengestellt wird. Die Analyse literarischer Ref lexionen über das kulturelle Gedächtnis am Beispiel der Migration konnte auch den Beweis für Reduktionismus und Homogenisierung als Strategien der Kulturalisierung erbringen. Prozesse des ›Kulturenzwangs‹ werden im Allgemeinen unter dem Aspekt der Stereotypisierung geschildert. Sie gestalten in der interkulturellen Kommunikation eine Diskursform, die Menschen aus verschiedenen kulturellen Kommunikationskontexten umfasst. In diesem Diskurs stellten Stereotype der ausgestatteten Erzählwelt (bspw. in der Frankfurter Trilogie und Salami Aleikum) sowohl in ihrer inklusiven als auch exklusiven Funktion ein Hindernis dar. In den interkulturellen Kommunikationssituationen werden sich Stereotype zwar als notwendig erweisen, die eigentliche interkulturelle Herausforderung aber besteht darin, sie innerhalb der Kommunikationssituation abzubauen.888 Mit der Thematisierung der Stereotypisierung – aber auch des Images – unter dem Genre Satire und Komödie befasste sich dieses Kapitel insbesondere am Beispiel von Almanya und Salami Aleikum. Mit der Figur des Beamten in Almanya wird der Versuch in der Bildung einer Metapher der (administrativen) Kultur-Ontologie unternommen. Der Beamte wird zum Repräsentanten eines sensus communis, dem die Macht obliegt, die Regeln, was oder wer deutsch ist, ohne sie in Frage zu Stellen, umzusetzen. Mit ihm wird die Figur des sogenannten Migranten kontrastiert, die zeigen soll, wie die performativen Aussagen und Narrative von traditionellen Mustern abweichen, oder sogar mit ihnen brechen. Die performativen Aussagen und Narrative führen vor Augen, unter welchen Umständen und mit welchen Ergebnissen sich traditionelle, nationale und ideologische Konzepte einer Identitätsdeterminierung auf einen Kollisionskurs mit postmodernen Ansätzen der Kulturtransformation begeben. Dieser Kollisionskurs wurde an der Vater-Figur im Film Salami Aleikum und in Farsaies Roman Eines Dienstages beschloss meine Mutter Deutsche zu werden beschrieben. Die Loslösung von traditionellen, nationalen und ideologischen Konzepten einer Identitätsdeterminierung wurde als Anliegen von Allafis interkultureller Schreibweise betrachtet. Es bleibt jedoch eine Vermutung, dass es bei Allafis Erzähltechnik in der Frankfurter Trilogie auch um eine bewusst strukturelle Entscheidung hinsichtlich eines 888   Yousefi et al.: Interkulturalität, 2011, 93-101.

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progressiven Darstellungsplans dieser Loslösung geht. Unmissverständlich wird aber deutlich, dass diese Prozesse kein unabänderliches Kriterium der Migrationserfahrung darstellen, sondern sich grundsätzlich aus dem Umgang mit individuellen und kulturellen Andersheiten ergeben. In Allafis Schreib-Szene ist Andersheit zunächst ethnisch, politisch und geschlechtsspezifisch konzipiert und liegt individuellen und kulturellen Identifikationsprozessen zugrunde. Der Wandel vollzieht sich dann dort, wo die Identitätsarbeit den ontologischen Rahmen sprengt und die Überlappungsräume kultureller Veränderungen betritt. Die Analyse literarischer Ref lexionen über Identitätsarbeit und Identifikation in individuellen und kulturellen Kommunikationssituationen lässt sich abschließend im kulturtheoretischen Kontext zusammenfassen, beleuchtet die Problematik »der Vorstellung einer ursprünglichen und einheitlichen Identität ohne Brüche«,889 die durch den Begriff Migrationsliteratur suggeriert wird. In der Kritik stehen zunächst die Stabilität des Selbst, die Annahme über ein sich immer seiner Selbst bewusstes Subjekt890 und die ontologische Bestimmung des Subjekts.891 Aktuelle kulturtheoretische Ansätze wenden sich dem »endlose[n] performative[n] Selbst« als Teil ›neuer Versionen des Postmodernismus‹892 zu und führen diese Versionen zur Dekonstruktion essentialistischer Identitätskonzepte ein, die den Gebrauch des Begriffes Identität in der ›klassischen‹ Definition unmöglich machen und Identität vielmehr als Praktiken der Identifikation begreifen.893 Die Analyse literarischer Ref lexionen über individuelle und kulturelle Identitätsarbeit legt die Praktiken der Identifikation in den unterschiedlichen Kulturen offen. Diese Offenlegung liefert das Potential eines interkulturellen Diskurses der Identität jenseits des Essentialismus, Relativismus, Reduktionismus und der Homogenisierung. In diesen Diskurs finden nicht mehr binäre Konzepte von Identitätsbildung und Identitätsdeterminierung Eingang, sondern vielfältige Formen von Identitätserfahrung. Diese zeigen, dass interne Differenzen der Kulturen häufig gravierender sind als Divergenzen zwischen den Kulturen. Dafür stand in meiner Analyse die Motive der Islamischen Republik in SAIDs und TORKANs Schreib-Szene einerseits und der Monarchie und des Sozialismus (Frankfurter Trilogie, Salami Aleikum) andererseits. Interne Diversität von Kulturen ist für alle Formen der Kommunikation in und zwischen unterschiedlichen Traditionen grundlegend; daraus entsteht die interne Dynamik der Kulturen überhaupt. Grundlegend ist dabei die Prä889  Hall: Wer braucht ›Identität‹?, 167. 890   Hatfield: René Descartes, 2014. 891   Angespielt wird auf die Wende zwischen dem Freudschen Ausdruck über das Subjekt als »Herr im eigenen Haus« (Freud: Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse, 1966, 3-12) und Lacans strukturalistischer Formel »Ich denke, wo ich nicht bin, also bin ich, wo ich nicht denke« (Lacan: Das Drängen des Buchstabens, 1973, 43). 892  Hall: Wer braucht ›Identität‹?, 2004, 167. 893   »Identität ist ein solcher Begriff, der […] sich im Übergang der Bedeutungen formiert, zwischen seiner Aufhebung und seinem Auftauchen; der nicht mehr in der alten Weise, und zugleich nicht ohne die bisherigen zentralen Fragen daran, gedacht werden kann« (Hall: Wer braucht ›Identität‹?, 2004, 168). Die Annahme der Cultural Studies über die Formierung der Identität am Übergang der Bedeutungen erinnert an Michel Foucaults Überlegungen über die Herausforderung des postmodernen Subjekts, die laut Foucault in »einer Theorie diskursiver Praxis« (Foucault: Die Ordnung der Dinge, 1983, 15) besteht. Innerhalb der diskursiven Praxis gewinnt für Hall die Suche in der »Beziehung zwischen Subjekten und diskursiven Praktiken« (Hall: Wer braucht ›Identität‹?, 2004, 168-171) Priorität.

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misse, dass der Kulturwandel stets eine Folge tiefgreifenden sozialen Wandels darstellt. Insofern sollte das Ziel von einem Diskurs des Kulturellen in der Beantwortung der Fragen danach bestehen, ob die Kulturen sich ihres Wandels bewusst sind, inwieweit sie dies tun und bis zu welchem Grad sie ihre Erfahrungen den anderen Kulturen zur Verfügung stellen und von den Erfahrungen anderen Kulturen profitieren. Die Zusammenführung von Erinnerungs- und Identitätsarbeit einerseits, und von Migration als deren Auslöser anderseits versetzt Migration in einer gegenseitigen Bedingtheit individueller und kultureller Identifikationen. Die strukturelle und semantische Analyse dieser Synthese würde insofern Erfolg versprechen, als sie zum einen die kompositorische Methode der Kulturanalyse verdeutlichte und zum anderen strukturelle und inhaltliche Probleme in der Frage nach eigenkultureller Identifikation erkennen ließe. Hierauf stützte sich dieses Kapitel und versuchte, kulturelle Erfahrungen in Momenten ihrer Differenz und Ähnlichkeit in der Literatur zu erfassen. Insofern wurden Identität und Migration als literarische ingredientia und somit als Motive in den ästhetischen Formen kultureller Transformationen begriffen.

4. Der Mythos Europa – die Metapher der Heimat – die Macht der Sprache Die Entdeckung Europas durch iranische Intellektuelle1 in der Moderne erzählt die Geschichte einer Entzauberung. Die Entdeckung setzt im beginnenden 19. Jahrhundert ein und erzeugt schon in ihrer Anfangsphase ein diskrepantes Verhältnis zu Europa, das sich im Spannungsfeld von Begeisterung und Entmutigung, Hoffnung und Enttäuschung, Hinwendung und Resignation realisiert. Die Erzählung dieser Entdeckungsgeschichte modelliert Europa als Projektionsf läche für das, was der Iran selbst nicht war bzw. heute noch nicht ist: freiheitlich, liberal und demokratisch. Mit der Geschichte dieser Entdeckung befasst sich die kulturwissenschaftliche Forschung seit den Anfängen der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts, nachdem sich iranische Intellektuelle mit den Misserfolgen soziopolitischer Umwälzungen der Islamischen Revolution konfrontiert sahen. Die liberalen und freiheitlichen Vorstellungen, die intellektuelle Kreise in den sechziger und siebziger Jahren auf der Folie der Oktoberrevolution in Russland (1917) und der Französischen Revolution (1789-1799) zu politischen Ideen entworfen hatten, waren in der Politik der Islamischen Revolution zum Scheitern verurteilt. Mit diesem Scheitern und der Frage nach seinen Ursachen beschäftigen sich kulturwissenschaftlich orientierte Forschungsrichtungen je nach ihrem institutionellen Standort.2 In diesem Kapitel soll es darum gehen, einen Abriss der Begegnungsgeschichte intellektueller Iraner mit Europa vorzustellen, um die Bedeutung, Wirkung und den Stellenwert Europas im literarischen Diskurs des deutsch-iranischen Migrationsgedächtnisses vielleicht besser verorten zu können. Die moderne Begegnungsgeschichte der Iraner mit Europa lässt sich in ihren Anfangsphasen im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts datieren. Die Monographie Das politische Denken der Reformisten im Iran (2000) beschreibt diese Geschichte in der Anfangs- und Entwicklungsphase zwischen 1811 und 1906 an einem abwechslungsreichen Forschungsmaterial und verschafft einen soziopolitischen Eindruck über den Stellenwert Europas in der iranischen Perspektive. Die Reisebücher der Iraner, die erstmalig im frühen 19. Jahrhundert Europa besucht hatten, machen einen entscheiden Teil dieser Monographie aus. Obwohl sie die Begegnung mit Europa aus den Ansichten jeweiliger Reisender nur subjektiv schildern, helfen sie dem Verfasser zusammen mit dessen Abriss der iranischen Sozialstruktur aus demselben Zeitraum dennoch, 1   Siehe hierzu Boroujerdi: Iranian Intellectuals and the West, 1996. 2 Anders als im angloamerikanischen Sprachraum existieren kaum interdisziplinär angelegte Studien über die Entdeckung Europas durch die iranischen Intellektuellen in der deutschen Sprache.

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die Begegnungsgeschichte einer erweiterten Interessengemeinschaft zugänglich zu machen. Erwähnenswert ist diese Arbeit aus Gründen einer ersten historischen Orientierung bei der Frage nach der Entdeckungsgeschichte Europas durch iranische Intellektuelle. Beantwortet wird diese Frage ausgehend von dem epochemachenden Revolutionsjahr 1979. Für den Verfasser, Keramatollah Rasekh, markiert dieses Jahr einen Wendepunkt, den er in der einseitigen Annäherung damaliger, häufig in Europa ausgebildeter Intellektueller an die Geistlichkeit ausmacht. Dieses Ereignis sei, so Rasekh einleitend, für diejenigen, die sich mit dem Verlauf der iranischen Geschichte der letzten zweihundert Jahre befasst haben, nicht selbstverständlich gewesen. Dies ist ein entscheidender Hinweis, denn wie lassen sich soziopolitische Entwicklungen, an denen sich Intellektuelle zwar unmittelbar beteiligt haben, jedoch ein anderes Ziel erreicht haben als sie vorsahen, überhaupt bewerten. Dies führt zu der konkreten Frage nach Ansichten, politischen Denkweisen und Zukunftsplänen iranischer Intellektueller. Drei Perioden werden in dieser Entdeckungsgeschichte unterschieden, in denen Intellektuelle jeweils ihren eigenen Zugang zu Europa entdeckt haben: die Periode der Reformisten (1811-1906), der Modernisten (1906-1941) und der ›Gruppe der Erneuerer‹ (1941-1979).3 Ereignisse, die Rasekh zufolge diese drei Perioden kennzeichnen, sind die Begegnung der Iraner mit Europa über Russland und England in der ersten Periode, in der auch iranische Studenten nach England geschickt wurden (1811), die Konstitutionelle Revolution (1906) und die ersten soziopolitischen Veränderungen im Iran durch die Parlamentsgründung nach dem europäischen Modell in der zweiten und schließlich der sozioökonomische Aufschwung in den Jahren zwischen der Pahlavi-Monarchie und der Islamischen Republik (1925-1979) in der dritten Periode.4 Über diese Orientierung hinaus ist Rasekhs Unterscheidung von iranischen und europäischen Reformisten im Hinblick auf den Begriff des Intellektuellen von Relevanz, denn diese Unterscheidung lässt das oben erwähnte Spannungsfeld besser nachvollziehen: Zum einen beanspruchten iranische Intellektuelle die politische Macht, zum anderen sei ihr politisches Denken nur eine mit Einschränkung Contra-Reaktion auf die Entwicklungen im Westen.5 Das prädestinierte Beispiel für dieses Verhältnis ist das im Persischen geschriebene Buch Jalal Al-e-Ahmads (1923-1969) aus dem Jahr 1968.6 Dieser erörterte bereits vor der Islamischen Revolution den Stellenwert der ideologisch gesinnten Intellektuellen, predigte dabei ihre Annäherung an den Klerus und avancierte in wenigen Jahren zu einem Manifest.7 Dass Rasekhs Studie in der Untersuchung der Frage nach der Entdeckung Europas durch iranische Intellektuelle ihren Schwerpunkt auf die politische Kultur legt, wundert nicht. In seinem Buch Iranian Intellectuals in the Twentieth Century (1998) diskutiert Ali Gheissari den Einf luss der politischen Kultur Europas auf den Prozess der Moderne im Iran seit der Mitte des 19. Jahrhunderts und 3   Die unpräzise und offene Bezeichnung ›Erneuerer‹ wird in Rasekhs Studie für die Menschen gebraucht, die für gesellschaftliche Veränderungen nach westlichem Muster eingetreten sind. 4   Rasekh: Das politische Denken der Reformisten im Iran, 2000, 2. 5 Ebd., 3. 6   Die Übersetzung des Titels ins Deutsche kann etwa so lauten: Zu Verdienst und Verrat der Intellektuellen. 7 Darüber hinaus siehe zu weiterer Literatur, die sich mit dem Stellenwert der Intellektuellen befasst, in Rasekh: Das politische Denken der Reformisten im Iran, 2000, 7-9, zur eingehenden Analyse ebd., das dritte und vierte Kapitel.

4. Der Mythos Europa – die Metapher der Heimat – die Macht der Sprache

stellt in der Untersuchung der Begegnung iranischer Intellektueller mit Europa zwei Aspekte in den Vordergrund: die Autokratie und die Voreingenommenheit der Intellektuellen gegen den Einf luss des Westen.8 Entscheidend für die kritische Haltung der Intellektuellen und für das Entfachten einer anhaltenden Debatte über die Modernität sind nach Gheissari die Ereignisse im Sommer 1953, die zur Entlassung des Premierministers Mohammad Mosaddegh (1882-1967) führten.9 Gheissaris Studie setzt sich mit dem Dialog der Intellektuellen und Geistlichkeit, dem Auf kommen des iranischen Nationalismus während der Pahlavi-Monarchie und dem Einf luss der westlichen Moderne auf die politische Kultur Irans eingehend auseinander und lässt schließlich die Schlussfolgerung zu, dass die Islamische Revolution über die Machtfrage der Intellektuellen einerseits und über die Voreingenommenheit gegenüber der westlichen Moderne andererseits zugunsten ihrer eigenen Zwecke entscheiden konnte.10 Die Konfrontation der westlichen Moderne mit der religiösen Tradition der Geistlichkeit und das Scheitern der Intellektuellen scheinen durch die Annäherung der Intellektuellen an die Geistlichkeit bereits vorprogrammiert gewesen zu sein. Die Kleriker nutzten nämlich den Einf luss der Interkulturellen in politischen Diskussionen, entschieden aber die Machtfrage zum Schluss für sich selbst und rechneten mit den Intellektuellen während der ›Kulturrevolution‹ ab. Dieser Schritt führte zum Ausschluss, sogar zur physischen Beseitigung der Intellektuellen aus dem öffentlichen Leben und bewirkte schließlich die Resignation der verbliebenen Intellektuellen. Die politischen und soziokulturellen Konsequenzen, die Reaktionen der Intellektuellen auf den Machtgewinn der Geistlichkeit und auf die missglückten Versuche, den Iran zu der nach ihrem sozialistischen und marxistischen Verständnis ausgelegten europäischen Moderne zu bewegen, sind vielschichtig und unterschiedlich und bedürfen hier keiner weiteren Ausführung.11 Ich möchte das Augenmerk auf zwei Aspekte richten: Auf das, was das Europa-Bild der iranischen Intellektuellen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ausmachte, und auf die Migration einer Reihe von Schriftstellern in die Bundesrepublik Deutschland, die im Iran nicht nur ihre Ideale verloren sahen, sondern auch ihre Heimat. Darüber, dass das Europa-Bild der iranischen Intellektuellen sich hauptsächlich auf der Grundlage der politischen Kultur gestaltet, herrscht Konsens. Orientiert an Rasekhs Periodisierung der intellektuellen Bewegung im Iran lassen sich zunächst drei Generationen iranischer Intellektueller unterschieden: Die erste Generation bemühte sich in der Mitte des 19. Jahrhunderts um die Überzeugung derjenigen Staatsmänner, die Reformbewegungen ermöglichen konnten. Die zweite Generation konzentrierte sich während der Konstitutionellen Revolution auf die Umsetzung moderner Zivili8   Gheissari: Iranian Intellectuals in the Twentieth Century, 1998, x. 9   Ebd., 74-107. – Die politischen Turbulenzen der beginnenden 1950er Jahre werden in Shahram Rahimians (*1959, Teheran) Roman Dr. N. liebt seine Frau mehr als Mossadegh (2011) beschrieben. Aufgegriffen und weitergeführt werden sie in seinem anderen Roman Schiller Connection (2011), in dem die Lebensund Liebesgeschichte des fünfzigjährigen Marxisten Josef Ayene in den politischen Ereignissen der 1960er Jahre eingebettet wird. Sie werden hier nicht diskutiert, weil ich in meiner Lektüre keine Thematisierung der politischen Kultur im Diskurs der Intellektuellen auf der Folie Europas feststelle. 10 Siehe zu weiteren Diskussionsansätzen die Beiträge in Hooglund (Hg.): Twenty Years of Islamic Revolution, 2002. 11   Siehe ausführlich Boroujerdi: Iranian Intellectuals and the West, 1996.

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sationsprogramme, aber nicht auf einer Nachahmungsfolie, sondern im Sinne einer kohärenten und systematischen Vorgehensweise. Die Gründung des Parlaments und die Verabschiedung der konstitutionellen Verfassung gehören zu den wichtigsten Errungenschaften dieser Generation. Die dritte Generation ist insbesondere durch die Befürwortung und Umsetzung des russischen Kommunismus in der iranischen Gesellschaft und Politik gekennzeichnet. Die Popularität der kommunistischen Ideologie findet in der Tudeh-Partei die politisch-organisatorische und in Schariatis und Al-eAhmads Schriften die intellektuelle Stütze. Erweitert werden diese drei Generationen dann auf eine vierte,12 die im heutigen Iran in der Europa-Frage zu den herkömmlichen ideologischen und anti-westlichen Ansätzen der Vergangenheit Abstand gewinnen. Charakteristisch für diese Generation sind zwei (philosophische) Gesichtspunkte: Die Ausweitung der anti-utopischen Denkweise auf die intersubjektive Basis und die Notwendigkeit eines nicht-nachahmenden Dialogs mit dem Westen.13 Die Frage nach dem, was das Europa-Bild der iranischen Intellektuellen ausmacht, lässt sich in einem Rückblick auf das dritte Kapitel dieser Studie hauptsächlich innerhalb der dritten Generation der iranischen Intellektuellen erörtern. Dieser Generation lässt sich nämlich die erste Generation der Autoren (1.3.1) zuordnen: Sie war politisch interessiert oder aktiv, liebäugelte mit der Ideologie des Kommunismus und Sozialismus, immigrierte zunächst in den ausgehenden sechziger und beginnenden siebziger Jahren verstärkt aber nach der Islamischen Revolution nach Frankreich und Deutschland. Merkwürdig ist allerdings, dass die Deutsche Demokratische Republik, in der die Ideologie des Kommunismus und Sozialismus nicht nur propagiert, sondern auch politisiert wurde, nicht im Fokus iranischer Migranten lag, sondern die ›kapitalistische‹ Bundesrepublik. Die Phase der Resignation begann kurz nach der Islamischen Revolution und der Errichtung der Islamischen Republik zu Beginn der achtziger Jahre. Eine Rückkehr in den Iran erwies sich für viele Intellektuelle als nicht mehr möglich. Dieser historischen Tatsache entsprechend positionieren die Autoren auch ihre literarischen (Haupt-)Figuren. Beispiele liefern SAIDs Ich mit seinem politischen Einsatz in der Conföderation iranischer Studenten/National-Union (CISNU), Abbas als Anhänger der Tudeh-Partei in Farsaies Roman Eines Dienstags beschloss meine Mutter Deutsche zu werden, Tufan als Schariati-Anhänger in TORKANs gleichnamigem und die männlichen Hauptfiguren in der Frankfurt Trilogie. Die deutsch-iranische Begegnung eines Offiziers aus der Königlichen Armee Irans mit einem Offizier aus der Nationalen Volksarmee der Deutschen Demokratischen Republik wird in Salami Aleikum satirisch in Szene gesetzt. Die Gemeinsamkeit dieser Figuren besteht nicht nur in der Ref lexion über die Enttäuschungs- und Resignationsmomente eines dem Staat gewidmete Leben, sondern auch in der Migrationserfahrung und der Suche nach ›europäischen‹ Idealen und nach einer ›idealen‹ Heimat. Wie sich das Europa-Bild der Migranten-Figuren literarisch gestaltet, wird mich im ersten Teil dieses Kapitels beschäftigen. Dieses Bild, um einen Gedanken hier vorwegzunehmen, ref lektiert das Bemühen der literarischen Figur um die Entdeckung 12   Jahanbegloo: The fourth generation of Iranian Intellectuals, 2000; Khosrokhavar: The New Intellectuals in Iran, 2004, 191-202. 13   Siehe zum Diskurs der Intellektuellen im Iran im Spannungsfeld der Tradition und Moderne sowie im Hinblick auf die Generationsfrage der Intellektuellen Jahanbegloo (Hg.): Iran Between Tradition and Modernity, 2004, Milani: Lost Wisdom, 2004.

4. Der Mythos Europa – die Metapher der Heimat – die Macht der Sprache

eines vorgestellten Europas auf der einen Seite und die Mythologisierung eines freiheitlich-liberalen Europas auf der anderen. Weil nur wenige Figuren sich aufgrund ihrer Handlung und Einstellung in der Erzählwelt als intellektuell aufweisen, werden bei der Analyse nur diejenigen Texte eine Rolle spielen, in denen diese Figuren mit einem intellektuellen Anspruch und ästhetischen Vermögen ihre Handlungen und Ref lexionen mit den Europa-Bildern in Beziehung setzen. Aus dem In-Beziehung-Setzen von Figur und Europa werden die Fragen, was Europa für die Literatur bedeutet, welchen Stellenwert diese Bedeutung für die Europa-Bilder im deutsch-iranischen Migrationsgedächtnis besitzt und wie dieses Gedächtnis die Bedeutung der Europa-Bilder weiter entfaltet, erörtert. Das Europa der iranischen Intellektuellen lässt sich als das Europa liberaler Freiheiten interpretieren; es wird sich somit einer Territorialisierung entziehen. Das freiheitlich-liberale und entterritorialisierte Europa prägt die Europa-Bilder europäischer wie iranischer Intellektuellen und erzeugt so eine Gemeinsamkeit, die den Grundstein eines literarischen Europa-Diskurses im deutsch-iranischen Migrationsgedächtnis legt. Aus dieser Gemeinsamkeit wächst die ästhetische Repräsentation eines aus vorgestellten Werten konstruierten Europas in der Erzählwelt. In dieser wird Europa »sowohl als Kunstbegriff wie auch als politische Utopie«14 beschrieben; dieses Europa dient dann als Projektionsf läche zur Konstruktion eines Zukunftsmodells für Ideale. Wenn Europa und Heimat in diesem Kapitel zusammengeführt werden, so geschieht dies unter dem Aspekt ihrer Entterritorialisierung und Imagination für Ideale. Denn auch Heimat lässt sich für die Figuren geographisch kaum bestimmen und fixieren. Sie erweist sich als ein Konglomerat von Vergangenem und Gegenwärtigem, von Enttäuschungen und Wünschen, die sich an einem imaginären Ort der Heimat realisieren als an dem geographischen. In Szene wird dieser Ort hauptsächlich durch Sprache gesetzt. Sprache wird auf diese Weise selbst zu Heimat, weil sie die Migranten-Figur aufnimmt und ihr Möglichkeiten zur Entfaltung bietet. Die Entterritorialisierung von Europa und Heimat durch die Sprache und die Entfaltung der Migranten-Figur ebenfalls durch die Sprache hat für die Migranten-Figur eine identitätsstiftende Funktion. Darüber hinaus wird die Sprache zum Ort des Gespräches. Im Fokus der Analyse steht die Beweisführung für die These, dass eine singuläre Vorstellung von Europa, Heimat und Sprache im Sinne einer Entität, die der Begriff Migrationsliteratur suggeriert (2.2), sich zumindest für die Figuren nicht nachweisen lässt, denn Europa, Heimat und Sprache summieren Aspekte individueller Identitätsarbeit in kulturellen Umwandlungen und ermöglichen dem Individuum je auf eigene Weise seine Identifikation.

4.1 Der Mythos Europa Europa als Kunstgebilde bietet Ideen und Wünschen einen fruchtbaren Boden. Dieses Kunstgebilde findet im kulturellen Gedächtnis des Mythos und in den literarischen Konstruktionen Nahrung und drückt den Mythos von der phönizischen Prinzessin Europa und dem Göttervater Zeus in Stiergestalt wie die Poetik kultureller und politi-

14  Lützeler: Die Schrif tsteller und Europa, 1992, 29.

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scher Images aus.15 Die Frage nach literarischen Europa-Bildern geht mit der Rekonstruktion der Europa-Bilder in den Werken der deutschsprachigen Literatur einher. In seiner Habilitationsschrift Europabild und Europagedanke (1951)16 datiert der Historiker Heinz Gollwitzer (1917-1999) das erste Vorkommen des Wortes Europa »auf deutschem Boden im 16. und 17. Jahrhundert«.17 Nach dem Philologen Manfred Fuhrmann (19252005) stammt die älteste Schrift, die den Namen Europa bereits im Titel trägt, aus dem Jahr 1671.18 Das 17. Jahrhundert hat also in der historischen Analyse von Europa-Bildern und Europa-Bedeutungen eine Orientierungsfunktion, und zwar nicht allein wegen des schriftlichen Vorkommens des Wortes Europa. Im 17. Jahrhundert hat der Zusammenbruch der religiösen Einheit Europas bereits begonnen, in dessen Folge sich dieses auch als politischer Zukunftsplan gegenüber den konkurrierenden Konzepten und Ideen durchsetzen konnte.19 Ferner ist das 17. Jahrhundert deshalb wichtig, weil es das Erbe des Entdeckungszeitalters antritt, in dem Europa sich selbst im Bilde des Anderen entdeckte.20 Nimmt man dieses Zeitalter als Entdeckungszeit eines europäischen Selbstbewusstseins an, so lassen sich die ersten literarischen Spiegelungen in Grimmelshausens Simplicissimus (1668) finden,21 und zwar in der Literarisierung einer »Geschichte der Vorwärtsmobilisierung, in die das neuzeitliche Europa hineingerissen wird«.22 Eine Europa-Kritik, die gleichwohl auch Ideen im Sinne eines utopischen Entwurfs für eine bessere Gesellschaft enthält, legt Johann Gottfried Schnabel (16921751/58) mit seinem vierbändigen Roman Wunderliche Fata einiger See-Fahrer (1731-1743) vor.23 Schnabels frühauf klärerische und pietistische Romanperspektive auf Europa wird im 19. Jahrhundert durch Ernst Willkomms (1810-1886) Roman Die Europamüden. Ein modernes Lebensbild (1838) aufgegriffen. Durch den Begriff Europamüden ist nicht nur der Bezug zu Heinrich Heine, der diesen Begriff bereits 1828 als einen der wichtigsten Aspekte des Denkens im Vormärz geprägt hatte, erkennbar; mit Europamüden wird darüber hinaus Anschluss an ein literarisches Motiv gesucht, das Ref lexionen auf eine Zeit der Perspektivlosigkeit repräsentieren soll.24 Die Thematisierung der Perspektivlosigkeit und Ideenarmut in der Literatur geht in eine Europa-Debatte um die Wende des 19. zum 20. Jahrhundert über, das die auf kommenden Konzepte der Nationalstaaten und des Nationalismus widerspiegelt. Hier findet sich auch die Spur einer letzten historischen Etappe eines literarischen Europa-Bildes. Im ersten Teil von Ödön von Horváths (1901-1938) Roman Der ewige Spießer (1928-1930) werden unter dem Titel Herr Kolber wird Paneuropäer die Schwierigkeiten nationalistischer Europaidee bei der 15  Schmale: Europa als Mythos, 2012, 15-19; siehe zur Europa-Konstruktion in Kunst Oy-Marra: Der Mythos ›Europa‹ in der Kunst, 2012, 21-40 und in der Literatur Papiór: Der Mythos ›Europa‹ in der europäischen Literatur, 2012, 41-55. 16   Sie erfuhr im Jahr 1964 eine zweite, neubearbeitete Auflage. 17   Gollwitzer: Europabild und Europagedanke, 1964, 43. 18  Fuhrmann: Europa. Zur Geschichte einer kulturellen und politischen Idee, 1981, 27. 19   Rémond: Religion und Gesellschaf t in Europa, 2000, 33-39. 20  Friedeburg: Europa in der frühen Neuzeit, 2012; Elliott: The Old World and the New 1492-1650, 1992. 21  Hanenberg: Europa-Visionen in der deutschen Literatur, 1996, 127-133. 22  Steiner: Dingpolitik, 2008, 209. 23 Vgl. Dammann et al. (Hgg.): Das Werk Johann Gottfried Schnabels und die Romane und Diskurse des frühen 19. Jahrhunderts, 2004. 24  Papiór: Der Mythos ›Europa‹ in der europäischen Literatur, 2012, 51.

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praktischen Umsetzung vorgeführt. Horváths Figuren konstruieren ihr Europa weniger als etwas Grundsätzliches, sondern vielmehr als etwas Praktisches. Betrachtet man diese Europakonstruktion genauer, so entdeckt man in ihr die ersten Versuche der Entterritorialisierung. Unterstützt werden die literarischen Konstruktionsversuche vor allem durch die neuzeitlichen politischen Veränderungen während und nach der Französischen Revolution, die später auch durch iranische Intellektuelle entdeckt wurde. Europa beginnt sich hier zu einer »Grundterminologie« und zu einem konzeptionellen historischen »Erinnerungsort« zu profilieren und ref lektiert in dieser Konzeption Nostalgie und Zukunftsentwurf zugleich.25 Als solch ein konzeptioneller Ort tragen literarische Europa-Bilder zur Entfaltung der Idee über Nationenbildungen seit dem Ende des 18. Jahrhunderts entscheidend bei. Es ist jedoch bemerkenswert, dass Nationen zwar Territorien und diese wiederum Grenzen beanspruchen, durch die Europa-Idee aber zugleich die Grundlage für den wiederkehrenden Projektionsraum einer inter-nationalen europäischen Gemeinschaft entwerfen, die sich durch den Bezug auf die Antike26, das Juden-27 und das Christentum28 auf gemeinsame Traditionen und auf ein gemeinschaftliches Fundament beruft. Dass die Religionen aus dem sogenannten Orient stammen und die Traditionen teils griechischen, teils persisch-jüdischen Ursprungs sind, stört zunächst niemanden. Aus der Zusammenführung von Religion und Tradition lässt sich bis in das 20. Jahrhundert hinein eine Reihe von Kriterien herausarbeiten, welche die Idee der inter-europäischen Gemeinschaft über ihr mythisches Fundament hinaus in eine literarische Konstruktion umwandeln, die ihre Bedeutung und Wirkung in der Moderne aus Expansionen wie aus der Exklusion der restlichen Welt schöpft und sie außer in den verschiedenen westlichen Gesellschaften und Geschichten auch in ihrem globalen Ausmaß determiniert.29 Diese Determinierung leitet ihrerseits die europäische Gemeinschaftsidee in einen »Europa-Zentrismus«30 über, der nicht nur das Bedeutungsreservoir von allem Europäischen weiter ausbildet, sondern auch Kriterien amalgamiert, die Grenzübergänge und Überlappungsräume des Gemeinschaftlichen bisweilen ignorieren und das willkürlich Unpassende beliebig auszusortieren versuchen. Die Willkürlichkeit und Beliebigkeit ergeben sich aus der Beobachtung exkludierender Semantiken, die mal national, mal ethnisch und bald religiös, bald werteorientiert sind. Europa als politischer und kultureller Erinnerungsort bildet sich an einem Netzwerk von nationalen wie internationalen Erinnerungsorten und Weltkriegen einerseits und von ökonomischen Expansionen und erfinderischem Geist andererseits. Wenn der innereuropäische Wendepunkt im Europakonzept der Nachkriegszeit als ›Stunde Null‹ bezeichnet wird, so wäre es ein Irrtum, unter der ›Stunde Null‹ einen Bruch in der europäischen Geschichte auszumachen. Richtiger wäre die langfristigen Linien, die über die ›Stunde Null‹ hinausreichen (longue durée) als Entwicklungsprozess zu interpretieren, der sich insbesondere in bürokratischer, wirtschaftlicher, parlamentarischer, demokratisch-freiheitlicher und nicht zuletzt auch in der kulturellen Zusam25 Den Boer: Konzept Europa, 2012, 59. 26  Demandt: Das Erbe der Antike, 2012, 89-100. 27  Zimmermann: Judentum, 2012, 113-122. 28  Lobkowicz: Das Christentum, 2012, 101-112. 29  Hall: Der Westen und der Rest, 1994,137-179. 30 Den Boer: Konzept Europa, 2012, 61.

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menarbeit abzeichnet und der Europaidee – allerdings nur im westlichen Europa – ein gemeinschaftliches Identifikationsmerkmal bietet, dessen sich europäische Nationen in ihren Europa-Diskursen jeweils bedienen.31 Wenn der Historiker Miroslav Hroch im Hinblick auf das »Spannungsfeld zwischen Europa und Nation«32 auf den Begriff Identität zurückgreift, so verweist er ausdrücklich darauf, dass es sich bei diesem Begriff um einen Terminus handelt, der Identitäten nicht im Ausschluss voneinander, sondern im Zusammenhang miteinander auffasst. Von der Identität Europas in einem Zusammenhang mit Nationen zu sprechen, bedeutet, sich auf eine politische und kulturelle Realität zu einigen, die sich auf »Errungenschaften politisch-philosophischer Art« stütze, mit denen sich »Europa immer mehr identifiziert«.33 Dieser positiven Identifikation steht allerdings eine grundlegende Kritik entgegen. In seinem Buch Europa erfindet die Zigeuner stellt Klaus-Michael Bogdal nur wenige Phänomene fest, die sich als ›europäisch‹ erweisen und über einen Zeitraum von mehreren Jahrhunderten die Bedeutung und das Bild Europas ausmachen. Hierzu zählt er mit Norbert Elias den »Prozeß der Zivilisation«, die »Staaten- und Nationalbildungen«, »Revolutionen und Epochenumbrüch[e] (Reinhard Koselleck)«, den »Prozeß der theoretischen Neugierde (Hans Blumenberg)«, die »Rolle der Religion und des Religiösen« und die »bemerkenswerten Sonderentwicklungen wie die Geschichte der Bildung in Deutschland (Georg Bollenbeckt)«.34 Unter dem Letzteren lässt sich der Aspekt der Universitätsgründung und der Konzeption wissenschaftlicher Untersuchungsmethoden subsumieren. Das Konzept Europa umfasst also über den Europa-Mythos hinaus auch Konstruktionen und Ideen sowie deren praktische und nationale Umsetzung bis hin zu Europas Rolle als politischer und wirtschaftlicher Macht. Diese Rolle setzt sich bis in die Gegenwart durch und bildet auch den Gegenstand literarischer Ref lexionen.35 Wenn Zukunftsideen und Wünsche politischer Natur in Europa-Bilder einf ließen, so verleihen sie dem Gedanken über den Mythos Europa eine weitere Bedeutung: An vielfältigen Literarisierungsversuchen Europas vollzieht sich dessen Charakterisierung als das, was »schon im Keim ein Hybrid«36 ist. Unter diesem Geschichtspunkt werden die Europa-Bilder im deutsch-iranischen Migrationsgedächtnis nicht als ›Beitrag‹37 zu einem übergeordneten Europa-Diskurs verstanden, sondern als ein Teil eines interkulturellen Europa-Diskurses in der Literatur. In den Europa-Diskurs der Gegenwartsliteratur mit dem thematischen Schwerpunkt auf dem deutsch-iranischen Migrationsgedächtnis werden, dies wird im Folgenden noch zu zeigen sein, hauptsächlich die Revolutions- und Freiheitsidee sowie die Rolle des Ideologischen und Religiösen in kritischen Ref lexionen über gesellschaftliche Veränderungen einf ließen. In diesem Kontext wird die Figur des rebellischen, revolutionären und resignierten Intellektuel31  Hroch: Zwischen nationaler und europäischer Identität, 2012, 75-87. 32 Ebd., 75. 33   Mondot: Auf klärung, 2012, 160. 34  Bogdal: Europa erfindet die Zigeuner, 2011, 12. 35   Wie literarische Texte über Jahrhunderte hinweg in Europa einen übernationalen Wunschraum gestalten, diskutiert Anne Kraume an Europa-Bildern in der Literatur zwischen 1815 und dem Ende des Zweiten Weltkrieges (Kraume: Das Europa der Literatur, 2010). 36   Meyer: Die Identität Europas, 2004, 34. 37  Wilpert: Sachwörterbuch der Literatur, 2001, 518; Weinrich: Gastarbeiterliteratur in der Bundesrepublik Deutschland, 1984, 13.

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len näher betrachtet, die sich zur Überwindung ihrer Ernüchterung auf die Entdeckung eines imaginierten Ursprungs begibt, in dem sie die ersehnte ›absolute Freiheit‹, d.h. individuelle und soziale freiheitliche Grundideen zu finden hofft. Zwischen Auf klärung und Freiheit als europäischen ›Errungenschaften‹ erstreckt sie ihre Suche. Zu dem revolutionären und religiösen Aspekt tritt der Bildungswunsch und erlaubt, die Perspektive auf die Bildungsgeschichte dieser Figur zu erweitern, insofern sie als Nutznießer einer fortgeschrittenen europäischen Bildungsgeschichte betrachtet werden kann. Ob an diesen Europa-Bildern auch eine Identifikation seitens der Figuren abgelesen werden kann, und inwiefern die Interpretation der identitätsstiftenden Europa-Bilder das deutsch-iranische Migrationsgedächtnis prägt, wird im Folgenden zu erörtern sein. Durch die Diskrepanz zwischen dem vorgestellten und vorgefundenen Europa lassen diese Bilder Europa der Migranten-Figur als Projektionsf läche individueller Erwartungen und Wünsche interpretieren, aus denen auch Rückschlüsse auf die Identitätsarbeit der Figur selbst gezogen werden können. Was die Migranten-Figur leistet, ist eine ref lektierende Suche nach sich und seinem Europa. Nicht unwesentlich ist die Frage nach Europas Einf luss auf die Weltanschauung der Figuren und auf die Gestaltung ihrer Wirklichkeit in der Heimat durch die Sprache.

4.1.1 Europa als illusorischer Ort Mit Blick auf Europa als Konstruktionsraum individueller Wahrnehmungen interkultureller Herausforderungen folgt die Analyse der Erzählwelt auch hier der Frage danach, wie ein solcher Raum erzählerisch inszeniert wird. Unter Berücksichtigung dieser Frage erweisen sich SAIDs Ich-Figur und Allafis Figuren in der Frankfurter Trilogie als besonders wirkungsvoll, weil diese Figuren in der Schreib-Szene einen intellektuellen Diskurs ausarbeiten, der Europa unmittelbar vor die Frage nach der kulturellen Positionierung und Identifikation stellt. SAIDs Ich-Figur verbindet mit Europa den mentalen Raum, der ihr die Möglichkeit bietet, Europa von einer Metaebene aus zu beobachten, sich aus dieser Perspektive mit der Europa-Idee auseinanderzusetzen und dabei Europa einen Spiegel vorzuhalten. Allafis Figuren erfahren in Europa einerseits ideologische und zeitpolitische Identifikationsaspekte, lernen aber andererseits, wie diese Identifikationsaspekte Relativierungen und Transformationen kaum entgehen können. Der resignierte Intellektuelle, der Europa einst als Idee begriff und diese dann in das Ideologisch-Fundamentale umwandelte, zeigt sich von Europa enttäuscht.

4.1.1.1 Geschichten von Berührung, Begegnung, Enttäuschung Die Europa-Bilder in SAIDs Schreib-Szene setzen sich aus kurzen Ref lexionen über Europa in Selbstbildnis für eine ferne Mutter (1992), aus mosaikartigen Beschreibungen in Brief an Europa (1995)38 und aus dem Text ein kind auf der suche nach europa (2004) zusammen. Auf diese fragmentarischen Europa-Bilder sind literarische Entwürfe von Europa zurückzuführen, die Erfahrungen von Berührung, Begegnung und Enttäuschung einerseits, von Suche, Selbst-Entdeckung und Selbst-Erkenntnis andererseits widerspiegeln. Trotz der chronologischen Reihenfolge der oben genannten Texte suche ich bei meiner Interpretation einen inhaltlichen Zugang, denn ich bin der Meinung, dass der 38   Der Text ist ein Abdruck von SAIDs Rede an mehreren Universitäten in Japan während einer Lesereise auf Einladung des Goethe-Instituts.

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Text Brief an Europa SAIDs Europa-Bildern als Grundlage dient. In diesem Text bedient sich das vereinsamte Ich (3.4.1.1) abermals der Gattung des Briefes. Es gibt jedoch im Vergleich zu dem bereits besprochenen Text Briefe, aber an wen (3.3.3.1) einen wichtigen Unterschied. Brief an Europa hat nämlich Europa zum Adressaten und zum Gesprächspartner. Dieser Text wird durch den Erzähler eröffnet. Er begibt sich in der dreizehnten Zeile in die Position eines Beobachters, um die verschiedenen Varianten eines erinnerten Ich ex aequo in den Blick zu nehmen. Das erinnerte Ich ist bald ein Kind, das in der Erzählwelt vergleichsweise einen größeren Raum beansprucht, bald ein Fremder, bald ein Exilierter bzw. Flüchtling und schließlich auch ein Halbwüchsiger. Aus der Perspektive des Kindes erfährt der Leser, wie mit einem vorgestellten und gewünschten Europa Hoffnungen assoziiert werden. Die Perspektive des Halbwüchsigen, die im Übrigen den Blick des Exilierten und des Flüchtlings teilt, beschreibt die Strapazen bei der Suche nach dem freiheitlichen Europa. Aus der kollektiven Beobachtungsperspektive des übergeordneten und erhabenen Wir wird die Kritik an Europa geübt. Das Verstehen von Vorstellungen und Wünschen, von Veränderungen und Erwartungen, die die Europa-Bilder suggerieren, oder die das Ich mit seinem Europa verbindet, bedeutet, sich die Perspektivenverschränkungen näher anzuschauen. Zuerst aber sollte die strukturelle Analyse des Textes erfolgen. Strukturell lässt sich der Text Brief an Europa in drei Teilen gliedern. Er beginnt mit einer Anrede an Europa, die es gleich zu Beginn über einen Umfang von fast drei Seiten zum Gesprächspartner macht.39 Der erste Teil geht durch die Einführung des Partikels »Nun«40 in einen zweiten über. Dieser Übergang kann sowohl temporal gedeutet werden, weil an ihm die Gegenwart des Sprechens abgelesen wird, als auch modal interpretiert werden, weil er einen Aussagesatz einleitet, der im Verlauf des Textes den Gegensatz von Erwartung und eingetretener Wirklichkeit konstruiert. Konkret leitet der Übergang zum zweiten Teil also einen Wechsel des Modus und des Tempus ein. Beim Wechsel von der Vergangenheit im ersten Teil in das Präsens im zweiten Teil behält Europa seine Rolle als Gesprächspartner zunächst zwar bei, wird aber im zweiten Teil schrittweise zum Objekt des Gesprächs und zum Gegenstand der Analyse des Ich.41 Der allmähliche Übergang vom Gesprächspartner zum Gesprächsgegenstand wird im Verlauf des Textes durch die Position des Ich strukturiert. Im letzten Teil kehrt das erzählende Ich zu sich selbst zurück und offenbart seine Ref lexionen über sein Verhältnis zu Europa, wobei Europa zum Schluss das letzte Wort hat.42 Diese drei Teile werden im Folgenden eine inhaltliche Analyse erfahren und mit den bereits am Anfang dieses Abschnitts genannten Texten Selbstbildnis für eine ferne Mutter und ein kind auf der suche nach europa intertextuell in Beziehung gesetzt. Zu Beginn des Textes Brief an Europa wird Europa angesprochen und mit Hilfe der grammatikalischen und orthographischen Markierung der Anredeform der zweiten Person Singular personifiziert: »Erinnerst Du Dich, Europa«,43 fragt fordernd das Ich. Das Verfahren der Personifikation wird verfeinert, indem Europa ein Erinnerungsvermögen zugewiesen wird. Woran sich Europa erinnern soll, erfährt der Leser in der 39  SAID: Brief an Europa, 1995, 116-119. 40 Ebd., 119. 41 Ebd., 119-123. 42 Ebd., 123f. 43 Ebd., 116.

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zweiten Zeile, nämlich »an unsere ersten Berührungen«. Diese sollen sich ereignet haben, als das Ich »ein Halbwüchsiger« im Alter von 16/17 Jahren war.44 An Berührung als erster Kontaktaufnahme plant das Ich seine Annäherungsversuche an Europa, die sich am Übergang vom ersten zum zweiten Teil auch strukturell als eine bewusste Strategie erweist. Der Halbwüchsige ist der Jüngling, der sonst in SAIDs Werk als Revolutionär und Norm-Gegner auftritt. Diese Figur begibt sich nach der Phase der Berührung nun in die einer weltanschaulichen Entdeckung. Diese Phase wird durch seine »unausgegorene Wut auf die Diktatur«45 begleitet und knüpft durch den Aspekt der Freiheit an eine der fundamentalen Errungenschaften Europas an. Hierdurch tritt das Ich in Europa als Erinnerungsraum ein, teilt diesen Raum mit Europa durch Erinnerungen und gestaltet ihn dann zu einer Projektionsf läche für Europa selbst; durch die Projektionsstrategie konstruiert das Ich Europas Blick in den Spiegel. Das zentrale Motiv dieses Erinnerungsraumes ist Freiheit. In einer Steigerungsformel bezeichnet das Ich sie als Habitus des Menschen – als »die Farbe der Menschen«.46 Die Allegorie der Farbe ist in SAIDs Werk ein identitätsstiftendes Stilmittel. Im Märchen Es war einmal eine Blume (3.3.2) wurde sie zur Konstruktion von Gemeinschaftsgefühl einerseits und von Identifikation andererseits eingesetzt und deutete auf die individuelle Entscheidungsfreiheit hin. Nun wird die Allegorie der Farbe von dem individuellen Bereich auf einen kollektiven erweitert: Die Freiheit wird sogar als Habitus des Menschen verabsolutiert. Mit der Allegorie der Farbe für Freiheit schreibt SAIDs Ich der Freiheit eine Eigenschaft zu, denn Freiheit als ›Farbe der Menschen‹ macht den Menschen als solchen überhaupt erst identifizierbar. Dadurch, dass sowohl der Mensch als auch Europa die ›Farbe der Freiheit‹ tragen, erhält Freiheit für den Menschen wie für Europa eine identitätsstiftende Funktion. Hier sind nämlich »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit« nach den »Fanfaren der Französischen Revolution« zu Hause.47 Europa als Erinnerungsraum in SAIDs Werk erhält hier seine erste Charakterisierung. Das Besondere an dieser Charakterisierung sind Prozesse der Entterritorialisierung zunächst durch das Motiv der Freiheit. Die Erinnerungen von SAIDs Ich-Figur führt die erste Berührung mit Europa chronologisch auf den »Anfang der 60er Jahre« in Teheran zurück, wo es den Spuren der Freiheit in den Werken westlicher Autoren, darunter Albert Camus‘ Die Gerechten, Jean-Paul Sartres Die Mauer, Marie-Henri Beyles alias Stendhals Rot und Schwarz, Jean Laffittes Die Lebenden und Maxim Gorkis Die Mutter folgte. Der Halbwüchsige verstand sie nicht; Wußte aber, dieses Europa bedeutet Freiheit. Und er liebte sein Europa.48

44 Ebd. – Die erste Kontaktaufnahme mit Europa als Berührung und nicht Begegnung zu beschreiben, schließt an den Mythos Europa und an die Berührung von Europa und Zeus an. 45  Ebd. 46  Ebd. 47 Ebd., 117. 48 Ebd., 118.

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Der Halbwüchsige konstruiert sich sein eigenes Europa mittels Literatur anhand von Autoren, die zum Teil im 19. Jahrhundert lebten. Gründe, warum er sie nicht versteht, sind offen; sie können sprachlicher oder auch inhaltlicher Natur sein. Aber was der Halbwüchsige bereits zu diesem Zeitpunkt über Europa weiß, sind dessen Wirkung und Bedeutung außerhalb von ihm selbst. Die anfänglichen »Berührungen, die uns weckten«,49 münden in eine Liebe ein, die den Halbwüchsigen dazu ermuntert, sich in »die Arme Europas« und in »den Schoß der Freiheit« zu begeben. Spätestens hier wird die anfängliche Vermutung, ob die Berührung vielleicht auch eine erotische Dimension besäße, bestätigt. Sie lässt sich auf diese Weise auch als eine Art erotisches Vorspiel interpretieren, bevor der Halbwüchsige sich in die Arme Europas begibt. Die Steigerung von Berührung zu Begegnung wird insofern auch strukturell markiert, als der zweite Teil des Briefes ansetzt: »Nun ist er in Europa –/um die Mitte der 60er Jahre«.50 Widerspiegelungsmomente des erzählten und erzählenden Ich determinieren den Übergang. Die Begegnung scheint keineswegs die Erfüllung der Träume zu bewirken, denn der Halbwüchsige »erleidet einen Schock«: Albert Camus, den er daheim nach langer Suche und unter riskanten Bedingungen ergattert hatte […], lag hier stumm auf dem Wühltisch – für einige Pfennige zu haben – und niemand kümmerte sich darum.51 Das Verramschen legt die Interessenlosigkeit, Gleichgültigkeit und Vernachlässigung der Freiheit gegenüber nahe. Aus dieser Perspektive bewirken die ›Schock‹-Momente Enttäuschungen, durch die sich die Distanz zwischen dem erzählten und erzählenden Ich vergrößert. Verstärkt wird diese Distanz vor allem durch die Polarisierung der Europa-Vorstellung im Erinnerungshorizont des erzählten Ich. Was der Halbwüchsige in Europa vorfindet, bezeichnet er als ›Vergessen‹, ›Verdrängen‹ und ›Verramschen‹ der »Apostel der Freiheit« durch Europa selbst.52 Diese Enttäuschung lässt ihn nicht resignieren, sondern ermuntert ihn zur Suche »nach seinem Europa« – nach dem Wunschraum also – und führt ihn in die »Revolte der Studenten«.53 Durch die Formulierung »sein Europa!«54 entsteht zwischen Europa und dem Halbwüchsigen ein Bündnis, das zumindest politisch in den Studentenrevolten seinen symbolischen Ausdruck findet. »Freiheit, Solidarität und Freundschaft«55 charakterisieren die Begegnung des Halbwüchsigen mit Europa. Dem Halbwüchsigen gilt Europa weiterhin als imaginierter Ort zur eigenwilligen Bilanz europäischer ›Errungenschaften‹. In den

49  Ebd. 50 Ebd., 119. 51  Ebd. 52  Ebd. 53  Ebd. 54 Ebd., 120. 55  Ebd.

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Studentenrevolten findet er jene Vorstellungen wieder, die er einst bei seiner Europa-Berührung erfahren hatte: Diese Begegnung prägte ihn für immer. Er hoffte wieder. Und er lernte mehr von Europa: vor allem von seinen Schriftstellern, die ihm zu jenem aufrechten Gang verhalfen, den er und seine Freunde bitter nötig hatten für die kommenden Jahre. Und noch eines lehrte ihn sein Europa, daß nämlich Freiheit immer die »Freiheit der Andersdenkenden« ist!56 Die Werke der europäischen Schriftsteller, von denen bereits die Rede war, verhelfen dem Halbwüchsigen zu einer ideellen Vollkommenheit. In Freiheit als Postulat menschlicher Gesellschaften betrachtet er seine Vorstellung über das gesellschaftliche Zusammenleben der Realisierung sehr nah. Nur mit dem Bekenntnis zur Freiheit und mit der Freude, sich den gleichgesinnten revoltierenden Studenten anschließen zu können, fühlt sich der Halbwüchsige bei seiner Begegnung mit Europa angekommen. In dieser Begegnung besinnt, lernt er sich über die Lehre durch Europa kennen und beginnt selbst anders zu denken. Hier nehmen seine individuellen Wandlungsprozesse ihren Anfang. Während das Europa der Studentenrevolte den Halbwüchsigen begeistert, kritisiert dieser Europa als globalen Wirtschaftsort und entdeckt in ihm »ein häßliches«57 Gesicht. Der Halbwüchsige erfährt, dass Handschellen, Gummiknüppel, Elektroschockgeräte, Giftgas und Gasspürpanzer ebenfalls »aus seinem Europa«58 stammen: Alles verkaufst Du, Europa, […] Schizophrenes Europa, mal eine unschuldige Jugendliebe, mal eine konvertierbare Hure!59 Die ›unschuldige Liebe‹ und die ›konvertierbare Hure‹ versinnbildlichen die erotischen Konstruktionen der Berührung und der Begegnung. In ihnen werden zwei entgegengesetzte Gesichter Europas beschrieben: Freiheit und Kriegsgewinnler. Das Freiheit versprechende und kapitalistische Europa liefert dem Halbwüchsigen ein irritierendes Doppelbild, für das er einen kritischen Ton findet. Europa wird aus der Position der dritten wieder in die der zweiten Person Singular versetzt:

56  Ebd. 57  Ebd. 58 Ebd., 120f. 59 Ebd., 121.

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Während Du unsere ausgestreckte Hand ausschlägst, suchst Du die Hand der Mörder, die Dich um Waffen und Kredite bitten und unsere Länder in restlose Verschuldung und Abhängigkeit stürzen.60 Mit dem Bild der ›konvertierbaren Hure‹ spielt SAID bereits im Selbstbildnis für eine ferne Mutter: Europa, diese konvertierbare Hure mit Bruchgold in den Augen und versilberten Schlüsseln, die um die Hüfte klimpern […]. Europa, eine halbnackte Sirene, mit verstopften Ohren, deren Gesang mich noch immer betört.61 Das metaphorische und personifizierte Bild Europas wird nun um eine Dimension erweitert. Das Bild des beschädigten, im Wert aber konstanten ›Bruchgolds in den Augen‹ und der versilberten Schlüssel erweitert die Bedeutung Europas als Hure um die Dimension einer auf den ökonomischen Wert bedachten Wächterin. In diesem Zusammenhang lässt sich das Bild der Konvertierbarkeit nicht nur als religiös, sondern auch als ökonomisch interpretieren, so dass dem kapitalistischen und gewinnorientierten Europa Religion und Währung als beliebig wechselnde Komponenten der Gewinnerhöhung dienen. Der zweite Teil des Gedichtes spielt zwar auf die homerische Sirenensage an, verändert diese jedoch an einer entscheidenden Stelle. In der Sirenensage sind es die Gefährten, deren Ohren Odysseus auf den Rat der Zauberin Kirke mit geschmolzenem Wachs verschließt, damit sie der Verführung von Sirenen nicht verfallen. Sich selbst aber lässt Odysseus an den Mast des Schiffes binden, so dass er den Sirenen-Gesang dennoch hören kann. Das Hören-Können lässt sich als Lust interpretieren, die verführerisch und zugleich gefährlich ist. SAIDs Gedicht überträgt das Bild der verstopften Ohren auf eine halbnackte Sirene. Geht man von der homerischen Sirenensage aus, so ist die Gestalt des weiblichen Fabelwesens ein Mischwesen von Mensch und Vogel. In der Deutung des mythischen Wesens haben ihre Körper halb Vogel-, halb Mädchengestalt.62 SAIDs Sirene ist zunächst einmal eine halbnackte. Außerdem wird das Bild der verstopften Ohren anders als im homerischen Original auf die Sirene übertragen. So haben wir es mit einer zugeschriebenen und einer veränderten Eingeschalt der Sirene zu tun. Die zugeschriebene Eigenschaft ist die halbe Nacktheit; über das Aussehen der Sirenen berichtet Homer nämlich ebenso wenig wie über ihre Herkunft und 60 Ebd., 122. 61  SAID: Selbstbildnis, 1992, 24. 62   Vgl. die Anmerkung zum zweiten Gesang der Odyssee in Homer: Odyssee, 1971, 471.

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Namen. Die veränderte Eigenschaft ist, dass das Nicht-Hören-Können von Odysseus’ Gefährten nun auf die Sirene übertragen wird. Um sowohl die Steigerung der Verführungskunst durch die Nacktheit als auch das Bild der verstopften Ohren besser nachvollziehen und ihre Interpretation in der deutschen Literatur leichter verorten zu können, kann ein Hinweis auf eine ähnliche Strategie weiterhelfen. Franz Kaf kas Parabel Das Schweigen der Sirenen (1917) gilt als zentraler Text zur Diskussion von Weiblichkeit.63 Hier widersteht Odysseus den Verführungsakt, indem er sich ebenfalls die Ohren verstopfen lässt. Homers Odysseus ist neugierig,64 so aber nicht der Kaf kas. Auf das Mittel der verstopften Ohren vertrauend fährt Odysseus in Kaf kas Text den Sirenen entgegen und bleibt siegreich. Außerdem deutet er an, als würden die Sirenen überhaupt nicht singen, sondern schweigen. Das Schweigen der Sirenen sieht die größte Gefahr nicht in der Verführung durch die Sirenen, sondern in deren Schweigen.65 Obwohl Kaf ka und SAID die mythologische Bedeutung der Sirenen auf je eigene Weise umwandeln, steht bei ihnen die Weiblichkeit und die mit ihr verbundenen Eigenschaft der Verführung im Vordergrund. Kaf kas Sirenen schweigen, nicht aber so die SAIDs. Darin besteht auch der Unterschied dieser literarischen Umwandlung des antiken Stoffes. Durch das Schweigen lässt die Verführungskunst der Sirenen nach. Der Gesang der Sirene in SAIDs Gedicht aber steigert zusammen mit der halben Nacktheit ihres Körpers ihre Verführungskunst. Dass dies auch vom Autor beabsichtigt sein kann, lässt sich mit Hilfe von Gustav Schwabs Nacherzählung zeigen, denn SAIDs Konstruktion von Europa als Sirene in ihrer gesteigerten erotischen Verführungskunst lässt Europa als verführerische Frau66 auftreten, die nicht nur durch ihren Gesang und ihre Nacktheit, sondern auch durch ihr attraktives Schmeicheln ihre Verführungskünste ausübt. Anders als im Original wird in Schwabs Nacherzählung die Beschreibung von Kirke deutlicher, die vor den Nymphen warnt, die »jedermann betören, der auf ihr Lied horcht«.67 Das Verb betören steht in SAIDs Konstruktion von Europa unverändert. Was bedeutet aber, wenn die Sirene sich die Ohren verstopft? Geht man wiederum vom homerischen Original aus, locken die beiden Sirenen die Seefahrer nicht allein durch ihre bezaubernde Stimme, sondern auch durch ihre Fähigkeit, alles auf Erden Geschehene wissen und of fenbaren zu können. Das Bild einer Sirene mit verstopften Ohren, ließe sich so interpretieren, dass durch das Verstopfen der Ohren die Fähigkeit des Wissens und des Offenbarens entweder gar nicht mehr, oder nur gewollt und beschränkt gegeben ist. Die verstopften Ohren könnten so auf das Nicht-Hören-Wollen und demnach auch das Nicht-Wissen- und Nicht-Offenbaren-Wollen anspielen. Diese Deutung korrespondiert mit dem gewinnorientierten und ökonomischen Europa-Bild im ersten Teil des Gedichtes insofern, als dort die Wächterin selbst die Schlüssel und so auch die Kontrolle besitzt. Beide Bilder entlarven Europa als Instanz der Macht und Kontrolle. Die Verführungskunst Europas besteht für SAIDs Ich also in der gleichzeitigen Ausübung von Kontrolle und Verführung, d.h. auch von Macht. Ganz im Sinne 63   Jagow et al. (Hgg.): Kaf ka-Handbuch, 2008, 67. 64 Vgl. Horkheimer et al.: Dialektik der Auf klärung, 1998, 53. 65  Hochreiter: Franz Kaf ka, 2007, 83-86. 66  Schwab: Die schönen Sagen des klassischen Altertums, 2001, 447. 67 Ebd., 417.

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der Sirenensage will Europa nur Sieger, aber kein Freund sein und stelle »die Tagesvernunft« stets »gegen den Anstand«.68 Europas Personifikation als Hure, Verführerin, Wächterin und als ›taube‹ Profitsuchende zielt auf die subjektiven Begegnungserfahrungen des Ich ab und fördert die Steigerung von dessen Enttäuschungsmomenten. Enttäuschungen der ersten Begegnungsphase ergeben sich aus dem Verramschen von Schriften Freiheit suchender Autoren und beklagen den geistigen Verlust bei der Begegnung mit Europa. Die so bildreiche und an die antike anknüpfende Darstellung der Europa-Begegnung verbindet mit Europa verstärkt Erfahrungen der Resignation und legt so das in der Jetztzeit der Erzählwelt präsente Europa-Bild des Ich offen. Hier werden das auf klärerische (Berührung) und das globalisierte (Begegnung) Europa gegeneinandergestellt. Aus dieser Konfrontation gewinnt das Ich seine Ref lexionen über die Störung illusorischer Bilder Europas und schließlich über dessen Verfremdung. Im Selbstbildnis wird Europa als geruchlos vorgestellt.69 Und Geruch wird sich in SAIDs Werk als Metapher für die Erinnerungs- und Identitätsarbeit sowie für die Heimat-Konstruktion par excellence erweisen (4.2.3.2.1-4.2.3.2.3). Im dritten Teil des Brief an Europa wird Europa abermals angeredet. Der Erzähler wird zu einer klagenden aber auch vermittelnden Instanz: Er [Der Halbwüchsige] ist müde geworden, weil er weder zu denjenigen gehört, die Dich blindlings nachäffen, um ihre Identität auszulöschen; noch zu denen, die Dich so hassen, daß sie ihre Geschichte verleugnen müssen.70 Der Halbwüchsige steht zwischen zunächst zwei radikalen Positionen der grotesken Nachahmer und der Leugner. Innerhalb dieser Opposition wird die Verortung der Leugner, die Europa hassen und ihre eigene Geschichte verleugnen, verstärktet semantisiert, in dem die Leugner in einem historischen Kontext positioniert werden. Wer diese beiden Gruppen wirklich sind, wird offengelassen. Auffällig ist aber, dass die Opposition beider Gruppen pragmatisch und programmatisch gestaltet wird: Die eine Gruppe ahmt Europa so widerstands- und kritiklos nach, dass sie sogar ihre eigene Identität verliert. Die andere Gruppe entpuppt sich als Europa-Gegner, und dies wiederum so radikal, dass sie ihre eigene Geschichte verleugnen müsse. Orientiert an den Europa-Bildern, lässt sich nur mutmaßen, dass diese Opposition durch die Gruppen von Kapitalisten und Sozialisten konstruiert wird, was im Hinblick auf SAIDs politische Weltanschauung bestätigt werden kann. Diese Opposition scheint aber im Bild Europas bereits vorprogrammiert zu sein, denn dieses Bild hat für SAIDs Ich ein Doppelgesicht: Das Gesicht der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit einerseits, und das der Verführung und des Kapitalismus anderseits. SAIDs Europa wächst also ein Januskopf. Die Auseinandersetzung mit dieser Ambiguität führt über eine radikale 68  SAID: Brief an Europa, 1995, 123f. 69  SAID: Selbstbildnis, 1992, 25. 70  SAID: Brief an Europa, 1995, 123.

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Kritik an Europa hinaus, denn dieses wird zum Spiegel des Ich. Auch der Halbwüchsige trägt ein Doppelgesicht, wenn er sich als »Kompositum« aus »zwei Welten« vorstellt.71 Wie in seiner Identitätsarbeit so auch in seiner Beziehung zu Europa scheint sich SAIDs Ich mit vorläufigen Erkenntnissen zufriedenzugeben. Die Erkenntnis über die Ambiguität des Individuums und dessen Umfeld macht aus diesem Ich ein unruhiges und sich fortbewegendes Subjekt, das sich weniger mit einem Ergebnis oder einer Feststellung zufriedengibt. Wie die Identität im Blumen-Märchen so wird auch Europa nach den enttäuschten Erfahrungen lediglich zum Gegenstand einer utopischen Suche: er liebt und sucht sein Europa weiter. Und hofft, daß dieses Europa mehr ist als eine Finanzchimäre, daß es sich nicht in eine Festung verwandelt, sondern ein Geschenk bleibt, für alle, die Freiheit suchen.72 Auf diese Weise73 lässt sich Europa in Brief an Europa vor allem als ein Wunsch- und Vorstellungsraum interpretieren, der seine Bedeutung jeder Phase der Identitätsarbeit des Ich entsprechend zugewiesen bekommt. Europa als Geschenk deutet auf etwas Vorhandenes. In dem dieses mit der Suche nach Freiheit in Verbindung gebracht wird, lässt sich dieses Geschenk als Belohnung deuten, denn auf diese Weise ließe das Freiheit versprechende Geschenk Europa den Gedanken zu Europas Errungenschaften zurückführen und diese in der Jetztzeit der Erzählwelt als Utopie entlarven. Die letzten Zeilen dieser Textstelle zeigen vor allem, dass Europa über alle Eigenschaften hinaus ein Raum der utopischen Suche ist. Die Frage nach Freiheit als einer der Errungenschaften der deutschen Auf klärung und der Französischen Revolution versetzt SAIDs Halbwüchsigen in eine ambivalente Haltung zu seinem Europa. Solch eine Haltung konfrontiert den Halbwüchsigen im Prozess der Suche mit der Frage nach dem Zweck der Freiheit, der die existentielle und prägende Bedeutung von Freiheit durch Erfahrung offenbaren soll.74 In der Auseinandersetzung mit dieser Konfrontation greift SAIDs Ich-Figur auf diejenigen Bereiche zurück, die seine Identitätsarbeit steuern: Exil, Rückkehr und Vereinsamung. Dieser Rückgriff auf die Narrative ermöglicht dem Ich, die Identitäts- und Heimat-Suche miteinander in Einklang zu bringen. Bei dieser Suche wird sich eine Poetik der Entgrenzung entfalten, in der Freiheit zugleich Befreiung bedeutet: Um »das eigentliche

71 Ebd., 124. 72  Ebd. 73 Das Prädikat hof fen im zweiten Hauptsatz rahmt die Aussage von drei Nebensätzen ein und leitet zu dem eigentlichen Objekt des Hof fens über. Während die beiden Dass-Nebensätze die Europa-Kritik wiederholen, offenbart der letzte Nebensatz mit Ellipse der subordinierenden Konjunktion dass einen konträren Wunsch. 74  Flusser: Wohnung beziehen in der Heimatlosigkeit, 2013, 17.

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Problem der Freiheit« zu bewältigen, müsse erst das »geheimnisvolle Gefesseltsein an Menschen« und an Heimat bedacht werden.75

4.1.1.2 Europas ›unabkömmlicher Fremder‹ An Europa als fragmentarischer Komposition mit ambiguen Bedeutungen für die individuelle Verortung des eigenen Ich kann der intertextuelle Bezug von Brief an Europa und ein kind auf der suche nach europa erörtert werden. Im Vordergrund meiner Lesart steht die Interpretation von individuellen Erfahrungsmomenten, die an Freiheit und Religion verbildlicht und mit Europa in Szene gesetzt werden. Die Metaperspektive des Ich erfasst die konf liktreiche Inszenierung innerhalb widersprüchlicher Welten von Europa und Islam. An dieser Inszenierung wird in einer kontrastiven Darstellungsweise ein interkultureller Kontext konstruiert, in dem die Konf liktparteien jedoch gleichgestellt sind, wenn auch gleich schlecht.76 Beim Text ein kind auf der suche nach europa handelt es sich um den Epilog aus dem Erzähl- und Interviewband In Deutschland leben (2004). Der Text wird durch eine an grammatikalischen Merkmalen orientierte Aufteilung gestaltet, die sich aus der Analyse von unterschiedlichen Modi und des Perspektivenwechsels ergibt. Insgesamt lassen sich vier Abschnitte unterscheiden,77 die durch rhetorische Stilmittel Allegorie, Symbol, Metapher, Personifikation und durch die Vielfalt sprachlicher Bilder ein ästhetisches Ganzes bilden. Die Perspektive des Kindes eröffnet den Epilog: und das kind meint, ob es bleibe oder gehe, sei nicht von belang. wichtig allein sei, es merke und bemerke sein fremdsein – schon allein deswegen wolle es bleiben. es sei schließlich ein unabkömmlicher fremder – geworden.78 Sie wechselt schnell zu der eines ›unabkömmlichen‹ Fremden, der kommt und bleibt.79 Die Grenzüberschreitung gilt dem Kind als belanglos, anders das Fremdsein. Durch die Belanglosigkeit der Grenzüberschreitung wird Fremdheit aus ihrer Bindung an Räumlichkeit abgelöst. Fremdheit ist nur scheinbar und nicht (mehr) ortsgebunden. Der Grund des Bleibens liegt in der Unentbehrlichkeit des scheinbar Fremden. Der Leser erfährt nicht, für wen der Fremde unabkömmlich ist, und kann nur vermuten, dass er in diesem Text in seiner Rolle als identitätsstiftender Resonanzfigur des Eigenen zu verstehen ist. In ihrer literarischen Positionierung teilen das Kind und der Fremde die gleiche Rolle, weil beide in der dritten Person Singular auftreten und eine referenzielle Funktion erfüllen. Zwischen ihnen schaltet sich der Erzähler als vermittelnde Instanz ein und lässt den Leser die Diskrepanz beider Perspektiven mittelbar erfahren. Aus diesem Zusammenhang scheint die Perspektive des Kindes Züge der Naivität aufzuweisen. Bestätigt wird die Annahme der Diskrepanz durch den konsequenten Gebrauch der indirekten Rede, die in der personalen Erzählsitu75 Ebd., 19. 76   Vgl. Yousefi et al.: Interkulturalität, 2011, 40. 77 Zur Bestimmung dieser Abschnitte folgt der Seitenangabe nach dem Schrägstrich die Zeilenangabe: Erster Abschnitt SAID ein kind auf der suche nach europa, 2004, 111/1-113/6; zweiter Abschnitt ebd.,113/7-124/24; dritter Abschnitt ebd., 124/25-126/19; vierter Abschnitt ebd., 126/20-127. 78  SAID: ein kind auf der suche nach europa, 2004, 111. 79  Simmel: Exkurs über den Fremden, 1908, 509-512.

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ation die Konstruktion von zwei dialogischen Referenzbereichen des Ich ermöglicht. Zum einen ist es der Erzähler selbst, der sich aus der Metaebene des Textes parteiisch zu Wort meldet, zum anderen das Objekt in der dritten Person Singular, das zweckmäßig positioniert wird. Die Zweckmäßigkeit besteht in der Figuration des Kindes als Projektionsf läche zu einer Figur, aus deren Perspektive der in der Gegenwart des Textes historische Fremde konstruiert wird. Hierbei entsteht ein Spannungsverhältnis zwischen Geschichte und Gegenwart, das durch das Licht als Symbol verbildlicht wird. Das Licht spendet sowohl dem Kind als auch dem Fremdling Orientierung und Leben;80 denn, heißt es im Anschluss an die zitierte Passage, das Kind »habe nun sein licht, sein eigenes. es sagt, es wolle dieses mal dieses licht nicht verlieren; denn dieses kind braucht eine konstante«.81 Das Licht wird gegen die Eule »mit einem antiquierten licht in der hand«82 als »Symbol der das Dunkel durchschauenden Gelehrsamkeit und des Wissens«83 gespiegelt. Als »Symbol der Göttlichkeit, des geistigen Elements«, das »die Finsternis in ihre Schranken wies«,84 wird das Licht in SAIDs Schreiben aufgegriffen und im Sinne der Auf klärung zum Sinnbild für Europa erklärt. Dabei ist es in verschiedenen Kombinationen anzutreffen, bald als Symbol, bald als Metapher. Es steht insbesondere für die Umschreibung von Auf klärung und Freiheit in der Verknüpfung von Auf klärung und Licht, oder Licht und Freiheit.85 Wie der Homers Odyssee liefert hier nun die Auf klärung die poetische Grundlage für den Europa-Diskurs. Die Wiederbelebung dieser Symbolik knüpft weiter an die Auseinandersetzung mit der Freiheitsidee der Französischen Revolution an. Licht und Freiheit gelten als Antriebskräfte in einer aus dem Text Brief an Europa bereits vertrauten Formulierung: »der halbwüchsige brach also auf, auf der suche nach freiheit, auf der suche nach europa«.86 Hier stellt das Licht die vage Hoffnung auf eine andere, idealisierte Welt dar, wie einst die Berührung. Zur metaphorischen Verwendung des Lichts tritt dessen symbolischer Gebrauch im Sinne eines inneren Empfindens mit zwei unterschiedlichen Deutungsvarianten: »das licht, hell und ruhig« und »das licht: grell und hektisch«.87 Sie beschreiben eine ambivalente Haltung gegenüber der Umwelt. 80   Als Metapher wird das »Licht« auch für »Sprache« gebraucht. Im Kapitel über Sprache werde ich auf die Analyse näher eingehen. 81  SAID: ein kind auf der suche nach europa, 2004, 111. 82 Ebd., 116. 83  Biedermann: Knaurs Lexikon der Symbole, 1998, 125. 84 Ebd., 266. 85   Lorenz Westenrieder (1748-1829) schrieb 1780, es liege im Wort Aufklärung »ein Verstand«, nämlich das »[W]egräumen [von H.T.] mancherlei Hüllen und Decken vor den Augen, Platz machen dem Licht im Verstand und Herz, daß es jenen erleuchte, dieses erwärme, und eintreten in die Gebiete der Wahrheit, und der Ordnung, wo die Bestimmung des Menschen, die wahre Glückseligkeit thront« (Westenrieder: Auf klärung in Bayern, 1832, 271). Im zweiten Abschnitt seiner Schrift Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit (1774) gründet Herder die Auseinandersetzung mit der ›Weltverfassung‹ auf sein Verständnis von einem Zeitalter, das er als ›unser erleuchtetes‹ Jahrhundert bezeichnet (vgl. Herder: Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit, 1990). Christoph Martin Wieland spricht im ersten Abschnitt seiner Schrift Über die Rechte der Schriftsteller (1785) von der Freiheit des Denkens und der Presse und gebraucht das Licht als Symbol für Freiheit und Wissen (Wieland: Über die Rechte und Pflichten der Schriftsteller, 1854, 381f.). 86  SAID: ein kind auf der suche nach europa, 2004, 118. 87 Ebd., 115.

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Im zweiten Abschnitt behält die Perspektive des Kindes ihre referentielle Funktion bei, während der Konjunktiv nun durch den Indikativ ersetzt wird. Von der Gegenwartsperspektive des Textes erzählt das Kind über seine Erfahrungen auf dem Weg des Fremd-Werdens, auf dem es sich vom Dialog ernährt und sich mit Wollust an die ersten Berührungen mit Europa erinnert. Darüber hinaus bewirkt die gefühlsbetonte Wollust mit der unmittelbaren Referenz auf Berührung im Text ein kind auf der suche nach europa eine erotische Steigerung früherer Erlebnisse in Brief an Europa. Der intertextuelle Zusammenhang wird durch weitere Merkmale hergestellt. Hierzu gehören das Alter, die Wut auf die Diktatur, die Suche nach Freiheit, die Farbe der Menschen, die Französische Revolution, die Bücher der europäischen Intellektuellen, die Enttäuschung bei der Begegnung mit Europa, die Kritik an ihm – all das wird wortwörtlich übernommen.88 Eine Erweiterung der kritischen Perspektive auf Europa findet gesondert im Epilog statt, und zwar auf die Dimension des Kampfes der Kulturen, die einerseits mit der vorherigen Position des Dialogs kontrastiert und andererseits die Perspektive auf die Gegenwart der Erfahrung lenkt: der gegenwärtige dialog zwischen dem westen und dem islam erinnert das kind an ein gespräch zwischen einem tauben und einem blinden. der eine ist taub, weil saturiert; der andere blind, weil er nur auf sich schaut. der taube produziert, zuweilen auch waffen, der blinde setzt sie ein, zuweilen auch gegen den tauben. aus diesen starren attitüden entsteht dann das schlagwort »kampf der kulturen«.89 Die Erfahrung wird aus der Gegenüberstellung von Europa und Islam im politischen Diskurs gewonnen. Hier werden zwei Galionsfiguren in Opposition zueinandergesellt: Der eine ist der Erfinder der »achse des bösen«90, und der andere dessen angeblicher Repräsentant, der Islam. Bei dieser Polarisierung – und nur an dieser Stelle des zweiten Abschnitts – wechselt der Indikativ zum Konjunktiv Irrealis.91 Dabei wird eine Zwillingsbruderschaft zwischen den Akteuren des Dialogs und des Kampfes konstruiert, um zu zeigen, dass sie keine Opposition darstellen, sondern dieselbe Seite der Gewalt vertreten: das kind glaubt nicht, daß bomben und attentate politische probleme lösen können. das kind glaubt nicht an die vergeltung. das kind ist überzeugt, daß eine religion nie menschenfeindlich ist; es sei denn, sie strebe die macht an.92 Mit dem Tauben und Blinden werden zwei vertraute Motive aufgegriffen93 und in den Kontext eines konstruierten Dialogs integriert, um die vermeintlich oppositionelle Konstruktion beider Akteure ad absurdum zu führen, weil ihr jeweiliges Beharren auf ihrer Position es ihnen erschwert, sich einander mitzuteilen. Darüber hinaus wird 88 Ebd., 117-121. 89 Ebd., 122. 90  Ebd. 91   Magnusson: Die Gliederung des Konjunktivs, 1976, 41. 92  SAID: ein kind auf der suche nach europa, 2004, 123f. 93   Siehe zum allegorischen Gebrauch der Motive »Taube« (Röhrich: Lexikon der sprichwörtlichen Rede, 1994, 218) und »Blinde » (Wander: Deutsches Sprichwörter-Lexikon, 2001, 1040).

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durch diese Opposition die Defizite Europas im Hinblick auf das Thema der Religion thematisiert. Europa der Auf klärung und der Freiheit ist ein säkular orientiertes Gebilde, das durch den Islam herausgefordert wird. Die Idee eines Euro-Islams scheint bereits hier im Mittelpunkt der Kritik zu stehen. Für das Kind liegt die wirkliche Gewalt im Fanatismus und im Radikalismus. Seine eigene Antwort leitet es aus der Suche nach Freiheit und Gerechtigkeit ab. Mit einer appellartigen Antwort schließt der zweite Abschnitt des Textes ein kind auf der suche nach europa zwar strukturell, doch werden Vorstellungen und Ideen des Kindes im dritten Abschnitt weiter ausgeführt. Dass es sich nun um die Ideen und Wünsche handelt, wird durch die Häufung der Irrealitätsmarkierung ersichtlich. Der Erzähler distanziert sich zum einen von den Aussagen, die er hier zitiert, und entlarvt durch den Modus des Referentiellen und des Irrealen ihren fehlenden Realitäts- und Wahrheitsgehalt: und es kommen noch wanderer von den abgebrannten rändern und behaupten, sie hätten europa gesehen. ihre berichte widersprechen sich, und gerade in diesen widersprüchen versucht das kind, das konterfei seines verlorenen kontinents zu rekonstruieren. […] und manche geifern gar, europa sei ein kleiner aufgedunsener mann, der seinen lebensabend als kultivierter menschenfresser friste. […] und einige überraschen mit der botschaft, europa sei ein alter barde, der auf allen jahrmärkten auftrete und geschichten erzähle. […] und die, die ständig an die ränder abgedrängt werden, sagen, europa sei eine siebenzüngige retortensirene, deren synthetischer gesang die schiffe der flüchtlinge an die klippen lockte. […] und es gibt vorwitzige, die überzeugt sind, europa sei ein verbitterter alter mann im blauen overall mit einem eimer farbe in der hand. er gratwanderte an den virtuellen rändern des fortschritts, ziehe eine rote linie zwischen den fronten und achte akribisch darauf, daß niemand seinen fuß über diese linie setze. und die verwegenen flüstern, europa sei ein mickriger, griesgrämiger mann, der mit einer lupe in der hand auf den verengten straßen des nordens umherziehe und die hautfarbe der fremden untersuche.94 Wie diese Passage darstellt, erweist sich die Personifikation Europas als entscheidendes Kriterium im intertextuellen Vergleich zwischen Brief an Europa und ein kind auf der suche nach europa. Durch diesen Vergleich lässt sich einen Spannungsbogen innerhalb des Textes erzeugen, der den idealisierten Charakter Europas zunächst in Abrede stellt. Europas Personifikation mündet in die Vergleiche des dritten Abschnittes im Text ein kind auf der suche nach europa ein. Hier wird Europa zum »alten Seelenverkäufer«, zum »kleinen aufgedunsenen Mann«, zum »alten Barden«, zur »siebenzüngigen Retortensirene«, zum »verbitterten alten« – und »mickrigem, griesgrämigen mann«.95 Im letzten Abschnitt treten diesen Abwertungsattributen die Aufwertungsattribute Freiheit des Gedankens, der Rede und des Arbeitens gegenüber, steigern die Ambiguität des Europa-Bildes und schließen es an das Europa der Berührungsphase an. SAID verfährt im dritten Abschnitt mit insgesamt sechs Allegorien, die jeweils ein deutlich negatives Bild von Europa zeichnen. Darüber hinaus wird durch die Verwendung des Konjunktivs Irrealis sowohl eine Distanzierung von als auch eine Kritik an Europa unternommen. Mit dem Letzteren wird Europas Bedeutung für das Kind 94  SAID: ein kind auf der suche nach europa, 2004, 124-126. 95 Ebd., 125f.

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aus der Erzählperspektive und mittels des Ausdrucks »irrlehre«96 am Ende des dritten Abschnitts determiniert und von dem vierten Abschnitt abgegrenzt. Im vierten Abschnitt kehrt der Erzähler zum Indikativ zurück und versucht, nun resümierend eine Antwort auf den Komplex Europa zu finden. Sie entspricht auch hier der utopischen Suche. Was diese vier Abschnitte strategisch miteinander verbindet, ist die Erzählperspektive der dritten Person Singular. Was den vierten Abschnitt von den bisherigen unterscheidet, ist der Positionswechsel des Kindes von der dritten Person zur zweiten Person Singular. Das Kind wird zum Du, d.h. zum Dialogpartner des Erzählers und ersetzt somit Europa in dieser Funktion. Durch den Positionswechsel schlägt das Du, das abschließend in Form einer Apposition mit »mein[em] freund«97 angeredet wird, gleichzeitig eine Brücke zwischen dem Kind und dem Fremden, zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart: »hier bist du gealtert, auf der f lucht, hier bist du schön – weil du suchst«.98 Gelobt wird Europa aus der angeblichen Perspektive des Kindes im Text über Toleranz: »und dieses kind übersieht nicht, wie reich es von diesem kontinent beschenkt worden ist: das kind kann hier frei denken, seine gedanken frei äußern und arbeiten. […] europa bedeute freiheit«.99 Die Anspielung auf das Geschenk und dessen Zusammenhang mit Freiheit bestätigt die oben dargestellte Deutung des Geschenks als Belohnung. Der zentrale Aspekt, der Europa und Toleranz miteinander verbindet und für SAIDs Ich-Figur unentbehrlich ist, ist der Dialog, der in Bestiarium100 als essentiell charakterisiert wird. Dadurch, dass der Dialog mit dem Leben, der Monolog aber mit dem Tod assoziiert werden, bilden sie hier eine Opposition auf der sprachlichen wie lebenskonstruierenden Ebene. Dem Erzähler geht es um einen Dialog, der grundsätzlich Differenzen nicht ausschließe und keinem Konf likt aus dem Wege gehe; »dieser dialog bedeutet teilnahme an den anderen«.101 Die Konstruktion Europas in SAIDs Schreib-Szene lässt mit Blick auf die Modellierung der ausgestatteten Erzählwelt die Interpretation eines (utopischen) Vorstellungsund Wunschraums also zu. Mit diesem Raum wird Europa assoziiert und durch eine Reihe von Metaphern und Symbolen charakterisiert, deren Semantik sie aus einer Jahrhunderte altern Tradition ableiten. Explizit sind in dieser Europa-Konstruktion diejenigen Charakteristika bedeutungstragend, die für Europa eine identitätsstiftende Funktion erfüllen, nämlich die Auf klärung einerseits und Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit andererseits. Die Entdeckungsreise des Ich durchläuft die Etappen der Berührung, Begegnung, teilweise Enttäuschung aber auch Wollust und Erkenntnis. Dadurch, dass die Suche des Ich nie zu einem Finden als Endstation führt, suggeriert sie ein nie endender Prozess. Wie die Erzählwelt zeigt, wird dieser Prozess perspektivisch von den europäischen Errungenschaften in der Vergangenheit über die individuelle Entdeckung Europas in der Gegenwart bis hin in die Zukunft semantisiert. Migration bedeutet in diesem Zusammenhang zwar Grenzüberschreitung, die jedoch 96 Ebd., 126. 97 Ebd., 127. 98  Ebd. 99  SAID: über toleranz, 2010, 74. 100 Siehe zu dieser Form der Dichtung Franz Bleis (1871-1942) Großen Bestiarium der modernen Literatur (1921); Henkel et al.: Bestiarium, 1980, Sp. 2072-2080. 101  SAID: über toleranz, 2010, 77.

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nicht zwingend die geographische Grenzüberschreitung assoziiert, sondern sich auch mental vollzieht. Sie ist in ihrer mentalen Bedeutung kein Motiv, das Kausalitäten beschreibt, sondern vielmehr eines, das Kohäsionen ermöglicht. Die Ich-Figur suggeriert immer wieder, sie kennte ihr Europa eigentlich, wodurch die Fremdheit Europas für Ich-Figur an Bedeutung verlieren sollte. Umgekehrt aber verortet er sich gegenüber Europa als unabkömmlichen Fremden. Was die Fremdheit zwischen Europa und dem Ich hervorbringt, ist dessen Enttäuschung in der Phase der Beggenung über fehlende Errungenschaften, die es bereits in der Phase der Berührung kennen gelernt hatte. Die Thematisierung dieser Enttäuschungen wird perspektivisch vorgenommen. Veränderungsprozesse werden innerhalb des Perspektivenwechsels dargestellt – so etwa die Veränderung Europas von der Französischen Revolution über politische Umwälzungen bis hin zu den globalen Märkten. Das Ich positioniert sich selbst ebenfalls als eine für Europa unverzichtbare Figur des Fremden, denn sie dient Europa ebenfalls als Projektionsf läche für das, was Europa nicht ist, der Fremde aber von ihm fordert. Zwischen Fremdheit von Europa und Ich besteht so ein dialektisches Verhältnis. Die Europa-Bilder konstruieren ein Gedächtnis, das im Hinblick auf den Ort der Berührung und den der Begegnung aus der Perspektive von SAIDs Ich-Figur als deutsch-iranisches Migrationsgedächtnis bezeichnet werden kann. Seine interkulturelle Dimension erreicht dieses Gedächtnis durch seine Teilbarkeit mit dem Gedächtnis der dritten Generation iranischer Intellektueller und mit dem Europas. Mit der Idee der Freiheit wird der Zusammenhang mit dem sozialistischen Kontext, der dem Ausbruch der Islamischen Revolution vorausging, hergestellt. Mit Blick auf die Verf lochtenheit der Sozialstruktur und der politischen Motivation der dritten Generation iranischer Intellektueller sucht SAID als einer der ersten aus dem Iran nach Europa immigrierten Autoren durch seine literarischen Europa-Bilder die Nähe zum Europa-Diskurs seit den ausgehenden 1960er Jahren. Seine Europa-Bilder, die in der Erzählwelt durch den Perspektivenwechsel der Ich-Figur, des Kindes, des Halbwüchsigen und des Erzählers entworfen werden und die Gestaltungsmodi der Erzählwelt auf den miteinander korrespondierenden Ebenen der Erzählsituationen und der Erzählverfahren herstellen, aktivieren und bilden kognitive Schemata, die für die Arbeit des Rezipienten von entscheidender Bedeutung sind. Die kognitiven Schemata, die in der ausgestatteten Erzählwelt selektiv zusammengesetzt werden, werden durch den Rückgriff auf das kulturelle Gedächtnis Europas und auf das des vergleichsweise jüngeren Irans interkulturell in Beziehung gesetzt und thematisch aufeinander bezogen. Auf diese Weise bringt das Erzählen der Europa-Bilder, indem es in der Gegenwart der Erzählwelt vergangenheitsbezogen organisiert ist, nicht nur eine kritisch-idealisierte Form der gegebenen wirklichen Welten hervor, sondern wirkt in die gesellschaftliche Praxis der Erzählwelt hinein102 und konstruiert dabei ein transmissives Verhältnis zwischen dem Erzählstoff und der Wirkung seiner Mitteilung.103 Die Beschreibung möglicher Welten104 durch die Bilder eines idealisierten und utopischen Europas erfolgt nicht durch die bloße Bewertung des Faktischen und des Fiktiven, sondern durch die Hervorhebung von Unterscheidungsmerkmalen dieser möglichen Welten. Das Motiv der Suche entlarvt aber die möglichen Welten nicht als gegebene 102  Koschorke: Wahrheit und Erfindung, 2012, 25. 103 Ebd., 106. 104  Surkamp: Narratologie und possible-worlds-theory, 2002, 153-183.

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Welten, die man betreten kann, sondern als noch zu entdeckende und zu gestaltende. Die kritisch-idealisierte Form der poetischen Wirklichkeit, die selbst im Gedächtnis der Literatur existiert – was durch den Rückgriff auf die Mythologie deutlich wird – gilt SAID nicht als unantastbar; er greift in sie ein und verändert sie zugleich. Hinzukommt auch, dass die Europa-Bilder der Erzählwelt den europäischen Diskurs der Freiheit mit der Idee der Freiheit im Kreise der iranischen Intellektuellen der dritten Genration zusammenführen und so ein gemeinsames europäisch-iranisches Repertoire des kulturellen Gedächtnisses schaffen. Als erster immigrierter Intellektueller legt SAID mit den Europa-Bildern die Grundlage eines intellektuellen Europa-Diskurses außerhalb Irans in der deutschen Sprache. Dadurch, dass die hier zur Diskussion gestellten Autoren bei der Konstruktion des deutsch-iranischen Gedächtnisses nicht häufig Europa im kritischen Blick haben, wirkt SAID im Europa-Diskurs dominant, was sicherlich nicht zum Nachteil des Autors ausgelegt werden sollte.

4.1.2 Europa als Feld politischer Revolten Über die aus der Auf klärung und Freiheitsidee abgeleiteten Europa-Bilder hinaus werden die kognitiven Schemata in der ausgestatteten Erzählwelt durch ideologische, politische und ökonomische Aspekte gebildet und erinnern an ein Europa jüngeren Datums. Mit diesem Europa befasst sich die Frankfurter Trilogie und positioniert dabei ihre Figuren in einem deutsch-iranischen Migrationsgedächtnis. Daher konzentriert sich die Analyse auf diejenigen Aspekte, die dieses Gedächtnis literarisch gestalten. Dabei werden Motive und Techniken herausgearbeitet, die einerseits den Wunschraum Europa repräsentieren, andererseits das Scheitern als Folge von Enttäuschungsmomenten in den Blick nehmen.

4.1.2.1 Europa als politische Gemeinschaft Hans und Hassan, die männlichen Hauptfiguren in Allafis Frankfurter Trilogie, legen das Individuum eigensinnig in seiner revoltierenden Rolle innerhalb einer sich sozial und politisch engagierenden Gemeinschaft aus. Im dritten Teil der Frankfurter Trilogie werden sie von Gabriela als Menschen charakterisiert, die »die Allgemeinheit für sehr wichtig« halten und davon ausgehen, dass die allgemeine Befindlichkeit einer Gruppe auf ihren Entwicklungsstand und damit auch ihren Zerfall oder ihre Beständigkeit hindeutet, sonst ist es ja klar, jeder Einzelne hat seine eigene Geschichte, die jeweils von der des anderen stark abweichen kann oder auch nicht.105 Dabei werden diese Menschen nicht auf ihre individuelle Rolle reduziert, sondern in Abhängigkeit von ihrem kollektiven Wirkungsbereich verortet. Um die Einstellung gegenüber Menschen als Individuen in einer kollektiven Geschichte einerseits und ihre Entwicklungsgeschichte innerhalb des kollektiven Netzwerks anderseits kritisch zu veranschaulichen, wird im letzten Teil der Trilogie auch die einst mit Gabriela befreundete Dörte eingeführt:

105   Allafi: Gabriela findet einen Stapel Papier, 2012, 34.

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Sie war promovierte Soziologin und arbeitete erst beim Deutschen Gewerkschaftsbund und dann wechselte sie den Arbeitgeber und wurde Unternehmensberaterin. Sie verdiente viel Geld und hat sich im Laufe der Jahre völlig verändert. Ihre Kleidung, ihr Outfit, […] ihre Wohnungseinrichtung, ihr Freundeskreis, ihr Ehemann, und natürlich auch ihre Ansichten, die sie jahrelang überzeugt vertreten hatte, alles, bis auf ihre private Telefonnummer, die sie später auch hinschmiss.106 Dörtes Entwicklungsgeschichte verläuft von einem sozial engagierten Menschen zu einer skrupellosen Kapitalistin. Ihre Grundsätze verliert sie im Verlauf ihrer Entwicklung. Sie stellt »arme Leute an den Pranger« und erteilt dem Solidaritätsgrundsatz eine Absage, indem sie behauptet, »jeder sei für sein eigenes Elend selbst verantwortlich«.107 Ihre politische Identitätsarbeit erfolgt zunächst aus der linksorientierten Denkweise, der in einer Verf lechtung der Ich- und Figuren-Perspektive Ausdruck verliehen wird. An der Gestaltung der polyperspektivischen Identitätsarbeit wirken drei Gruppen: eine erste Gruppe, die alles in den »Dienst des Kommerzes« stellt (Angela und Dörte), eine zweite Gruppe, die mit dem Denken aufgehört hat und sich in der Vergangenheit verbarrikadiert (Hartmut Hartmann) und die dritte und größere Gruppe der Konservativen, die das Leben konstant halten will.108 Über diese entgegengesetzte Gruppenkonstellation spricht Hassan mit Gabriela, verweist dabei auf die Veränderungen in Europa und lenkt den Blick auf Deutschland mit der Frage, wie sehr die aus der Globalisierung herrührenden Veränderungen sich auf deutsche Verhältnisse auswirken.109 In Hassans Perspektive spiegelt dieser Gruppenkontrast das Gesellschaftsbild wider, auf dessen Entstehung und Fortwirken Medien einen starken Einf luss ausüben. Durch den kritischen Blick auf die Gesellschaft und auf deren mediale Beeinf lussung greift Hassan auf die europäischen Errungenschaften zurück, die er mit »Meinungsfreiheit und Toleranz«110 umschreibt. Seine Sicht auf die Einschränkung der Freiheit korrespondiert mit der Perspektive von TORKANs weiblicher Figur, die bei ihrer Suche nach der Freiheit alles andere als den Wirtschaftsliberalismus im Blick hat. Den Grund dafür, dass sogar Grundfreiheiten stets eingeschränkt sind, sieht Hassan in der Macht der Medien, denn diese definierten selbst die Begriffe, legten dabei »die Grenzen der Freiheit und Toleranz« fest, »und zwar nach ihrem Verständnis und selbstverständlich zu ihren eigenen Gunsten«.111 Der Vorwurf des Fehlens freiheitlicher Grundwerte wird in der Frankfurter Trilogie nicht lapidar geäußert, sondern zunächst im Gespräch zwischen Hans und seinem Chefredakteur, Franz Kaputtmacher, eingeführt, bevor er später im Zusammenhang mit dem Untergang der Republik thematisiert wird. Die Präfiguration kritischer Europa-Bilder erfolgt bei der Schilderung von Hassans Erfahrungen im Arbeitsamt,112 deren Zeuge Hans geworden war. Nun verfolgt dieser die Ab106 Ebd., 35. 107 Ebd., 38. 108   Ebd., 89. – Repräsentiert wird diese dritte Gruppe durch Herrn Schmitt. Er ist rechts-konservativ, vertritt einen klaren Standpunkt in politischen Themen und spricht gerne von den »konservativen christlich-abendländischen Werten« (ebd., 17). 109 Ebd., 187. 110 Ebd., 105. 111  Ebd. 112   Allafi: Die Nächte am Main, 1998, 126; siehe hier Abschnitt 3.5.3.

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sicht, Hassans Erlebnis in der Zeitung zu veröffentlichen, deren Chefredakteur Franz Kaputtmacher ist. Das Streitgespräch zwischen ihnen führt schließlich zu einem von Kaputtmacher verhängten Publikationsverbot von Hans’ Beitrag. Als Konf likt-Figur entlarvt sich der Chefredakteur auch im Hinblick auf seine Interaktion mit Hassan, als dieser beginnt, für die Zeitung zu arbeiten und von seinem Chef aufgefordert wird, über den Islam zu schreiben; das müsse er, so Kaputtmacher, als Iraner und Moslem glaubwürdiger als die anderen können: Hassan fragte, woher Kaputtmacher wisse, dass er Moslem sei. Franz Kaputtmacher antwortete, er komme doch aus dem Iran, oder? Da regte Hassan sich auf und brüllte ihn an: »Ihr Idioten, jeder, der aus dem Iran kommt, ist doch nicht unbedingt Moslem, und jeder Moslem weiß nicht alles über den Islam, insbesondere diese Scheiße, die hier als Islam diskutiert wird, und diesen ganzen Unfug, der über Moslems verbreitet wird! Darüber hinaus bin ich in Deutschland und will über Deutschland schreiben, über deutsche Verhältnisse, die prägen mich, denn in denen lebe ich! Herr Kaputtmacher, warum rafft ihr das nicht, warum versucht ihr immerzu, die anderen in eine Ecke zu drängen, wo sie überhaupt nicht hin wollen?! Die Juden waren über vierhundert Jahre und länger in Europa, aber man hat sie immer ausgegrenzt, bis ein Verrückter kam und sie an Orten konzentrierte, die er Konzentrationslager nannte, und sechs Millionen von ihnen ermordete, also beinahe alle. Und jetzt wollt ihr auf Schritt und Tritt – wie scheinheilig ihr doch seid! – judenfreundlich sein, dabei vergesst ihr, so viele Juden habt ihr gar nicht übrig gelassen!113 Hassans Disput spricht zunächst zwei Punkte an: Erstens geht es ihm um den kulturalisierenden Blick und zweitens spezifisch um Deutschland als kulturellen Identifikationsraum. Dieser Standort wird aus einer doppelten Perspektive codiert. Die Gegenwartsperspektive wird von Hassan selbst getragen, der nicht nur in Deutschland ist, sondern sich auch für das Land interessiert. Aus dieser Perspektive wird Deutschlands Umgang mit dem Islam diskutiert. Die Thematisierung dieses Umgangs schließt zum einen die Frage ein, wie der Islam in Deutschland betrachtet wird und wie aus dieser Betrachtungsweise der Kulturenzwang hervorgeht, und zum anderen das mangelnde Ref lexionsvermögen der Gesellschaft selbst. Adressiert ist all das an Kaputtmacher, der durch das Pronomen Ihr eine kollektive Repräsentationsfunktion herstellt und durch die Zusammenführung von Islam und Iran ein Image konstruiert. Diese Funktion hat in Europa eine Geschichte, nämlich die der Judenfeindlichkeit. Die Analogiebildung von Juden und Muslimen ref lektiert die religiöse Entmündigung und die Konstruktionsstrategien stereotypisierender Feindbilder. Die westliche Deutungshoheit dieser Bilder veranschaulicht die Machtperspektive dem von Kaputtmacher konstituierten Ihr gegenüber. In der Gestaltung der interkulturellen Kommunikationssituation folgt Kaputtmachers Vorgehensweise dieser Deutungshoheit, um den »Erhalt eines positiven Selbstbildes« zu bewirken.114 In Kaputtmachers Perspektive wird Hassan außerhalb von dessen Daseins- und Wirkungsbereich verortet – an einem Ort, an dem er sich gar nicht sieht. Hassans Antwort fällt weniger anspruchsvoll denn pragmatisch aus: 113   Allafi: Gabriela findet einen Stapel Papier, 2012, 105f. 114  Thomas: Die Bedeutung von Vorurteil und Stereotyp im interkulturellen Handeln, 2006, 5.

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[…] diese Generation der deutschen Intellektuellen sei dermaßen steif und beschissen, dass einem nichts anderes übrig bleibt, als sie in ihrem Zustand zu bedauern. »Bleibt in eurem Käfig und schimpft über die anderen, die Welt ist zu nobel für euch, ihr habt es nicht verdient, dort einen Platz zu finden!« 115 Pragmatisch ist diese Reaktion, weil Hassan keine Diskussion mit seinem Vorgesetzten Kaputtmacher suchen kann; eine Konfrontation wird also gemieden. Hassan löst seine Geschäftsbeziehung mit Kaputtmacher auf. Hassans Reaktion ist aber auch intellektuell, weil in ihr die Beschwörung der Pressefreiheit und in dieser Beschwörung auch die Kritik an der Freiheit verborgen liegt. Der dreifache Disput zwischen Hans, Hassan und Kaputtmacher hat in der Frankfurter Trilogie weitreichende Folgen für andere Figuren, weil er diese mit ihren eigenen Idealen konfrontiert und aus der Konfrontation ihre Identitätskrise provoziert. Im Vordergrund steht die weibliche Hauptfigur Gabriela: […] sie merkte häufig, wie sie innerlich an ihre Grenzen stieß und immer wieder irgendwelche Vorbehalte gegenüber anders aussehenden oder sprechenden Menschen empfand, seien sie negativ oder positiv. Sie spürte die Grenzen, die man irgendwie in ihr festgelegt hatte. Dann fühlte sie sich im Käfig ihrer Erziehung, deren besondere Charakteristika Angst, Schweigen, Verdächtigungen und Zurückhaltung war.116 Der Erziehungskäfig erinnert zum einen an das Bild von dem ›stahl-harten Gehäuse der Hörigkeit‹117 und zum anderen an das Postulat vom ›Denken-wie-üblich‹118. Während der Erziehungskäfig unref lektiert von Gabriela akzeptiert wird, ruft erst die Begegnung mit »anders aussehenden oder sprechenden Menschen« ihn in das Bewusstsein und konfrontiert Gabriela mit ihrem eigenen Denken. Das Phänomen des Erziehungskäfigs und die Konfrontation des Individuums mit sich selbst durch die Konstruktion der poetischen Alterität wird in der Frankfurter Trilogie zunächst in der Begegnung zwischen Hassan und Kaputtmacher individuell dargestellt und am Beispiel des Irans und Islams kulturalisiert. In Gabrielas Sicht werden sie in den Bereich des Alltäglichen projiziert und wirken zum Schluss auch emotional. Während die Mechanismen einer interkulturellen Kommunikationssituation im ersten Falle das Individuum kulturalisiert, scheinen sie in Gabrielas Ref lexion eine allgemein gültige Wirkung zu erzielen. Der doppelte Blick auf die interkulturelle Kommunikation wird um die Dimension eines Drittens erweitert. Elkes Freund, Hamid, der im letzten Teil der Trilogie mit Angela die Durchsicht von Hans’ und Hassans Papieren und Theatervorbereitungen übernimmt, erfasst schnell deren Gesellschaftskritik und erweitert die Perspektive auf die gesellschaftspolitische Lage im Iran der Islamischen Republik. Diese Perspektivenerweiterung wird ebenfalls durch Schlüsselbegriffe wie »Angst, Schweigen, Verdächtigungen und Zurückhaltung« beschrieben.119

115   Allafi: Gabriela findet einen Stapel Papier, 2012, 106. 116 Ebd., 107. 117  Weber: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, 1920, 203. 118  Schütz: Der Fremde, 1972, 58. 119   Allafi: Gabriela findet einen Stapel Papier, 2012, 107.

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Viele Iraner und Iranerinnen haben wie die Deutschen kapituliert und ihre Ideen, falls sie welche hatten, ad acta gelegt. Ich sage bewusst, falls sie welche hatten, weil Iran, beziehungsweise die sogenannten Iraner, immer nachgeahmt und nachgeplappert haben, was gerade weltweit in Mode war, und das tun sie immer noch.120 Durch Hamids selbstref lektierende Äußerung gewinnt die bereits von Hans, Hassan und Gabriela geteilte Gesellschaftskritik eine Geltung für die Kulturbereiche, die sie vertreten. Durch das Korrelationsadverb wie wird in diesen Kulturbereichen ein kulturelle Gedächtnis konstruiert, das sich durch die Mitwirkung der Figuren als deutsch-iranisch bezeichnen lässt. An der Konstruktion des deutsch-iranischen Gedächtnisses lässt sich ein Europa-Diskurs führen: Hamids zitierte Kritik bezieht sich auf die dritte Generation iranischer Intellektueller und pauschalisiert diese als Menschen, die im Grunde nicht wissen, was sie eigentlich wollen. Das Prädikat Nachahmen lässt einen intertextuellen Bezug zu SAIDs Figur des Halbwüchsigen herstellen, der eben nicht zu denjenigen gehören will, der Europa »blindlings nachäffen«.121 Hassan streitet über Stereotype deutscher Meinungsmacher und der Nachkriegsgeneration hinsichtlich Juden und Muslime; und Gabriela fühlt sich durch ihre Erziehung eingeengt. Allem Anschein nach befindet sich keine dieser Figuren in einem idealen Lebensraum, so dass ein solcher Raum immer stärker den Charakter einer Utopie gewinnt und in diesem Sinne auch mit dem utopischen Wunschraum Europa in Verbindung gebracht wird. Dieser Wunschraum verhält sich den wirklichen Europa-Bildern gegenüber konträr.

4.1.2.2 »Untergang der Republik«: eine Inszenierung Mit Hilfe der Figuren Kaputtmacher und Gabriela werden Denkmodelle entworfen. Der Chefredakteur verfügt über die notwendigen Ressourcen und Organisationen zur Bildung der öffentlichen Meinung. Gabriela repräsentiert die Öffentlichkeit als unkritische Konsumentin medialer Meinungsbildung und nimmt die Welt zunächst auf diese Weise wahr, bis sie mit der gesellschaftlichen Realität konfrontiert wird. Die Konstruktion von Kaputtmacher und Gabriela dient zunächst als Exempel für eine größere, nämlich die gesellschaftliche Ordnung. Die Konfiguration der gesellschaftlichen Ordnung in der Frankfurter Trilogie wird schließlich auf die Bühne gebracht. Die Vorbereitungen auf die Aufführung eines Theaterstückes zeugen aber zuvor von einer interkulturellen Kommunikationssituation, die sich kaum als Dialog im Sinne der Teilnahme an den Anderen122 charakterisieren lässt. Vielmehr scheinen unterschiedliche Kommunikationssituationen erst die Momente und Gründe ihres Scheiterns zu offenbaren. In der Vorbereitungsphase bildet das einleitende Motiv der Theatralisierung der Papierstapel den Gegenstand des letzten Teils der Trilogie. Vor Gabrielas Tür taucht eines Tages ein Stapel Papier auf, der Hans’ und Hassans Notizen enthält und schließlich zu einer Zusammenarbeit von Gabriela und ihrer Freundin Angela führt. Angela unterbreitet Gabriela den Vorschlag, diese Notizen zum Stoff einer Theateraufführung in der Schule umzuarbeiten. Die Schule wird von Gabriela als Ort mit »überwiegend 120 Ebd., 213. 121  SAID: Brief an Europa, 1995, 123. 122  SAID: über toleranz, 2010, 77.

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erzkonservative[n] Menschen«123 beschrieben, die sich für politisch-gesellschaftskritische Ref lexionen von Hans und Hassan wohl kaum interessieren dürften. Dennoch lässt sich Gabriela von Angela für die Idee gewinnen. Aus Gesprächen zwischen den Freundinnen und aus einer Reihe von Szenen in der Schule erfährt der Leser nur indirekt, dass der Papierstapel Themen wie Migration, Vorurteil, Freiheit und gesellschaftliche Veränderungen beinhaltet und dass die Durchsicht der Notizen Angelas Perspektive auf den sozialen Wandel prägt: So ergab es sich, dass sie in Anwesenheit mehrerer Kollegen und Kolleginnen einen Kollegen zusammenstauchte, als er sagte, die Kinder mit Migrationshintergrund könnten sowieso nicht so gut deutsch, egal wie sehr sie sich anstrengen würden. »Was ist denn das für ein rassistischer Scheiß?«, fuhr sie ihn an. »Das ist doch völliger Unfug, den du hier verbreitest! Von den vier Kindern in meiner Klasse, die am besten Deutsch können, haben drei Eltern mit anderer Herkunft!« 124 Das Zusammenbringen von Herkunft, Sprache und Migration und die lapidare und klischeehafte Schlussfolgerung durch Angelas Kollegen richten den Blick auf die Problematik einer ontologischen Auffassung von Kultur in der teilweise gebildeten Schicht der Gesellschaft, die der Hochzeitsszene125 als symbolischer Ref lexion gegenwärtiger Gesellschaftsformen entgegensteht (3.5.3.1). Vor dem Hintergrund der Hochzeitsszene mit Angelas Sohn Fabian und Anaroxana als Hauptfiguren im privat-familiären Bereich spiegelt Angelas Verteidigungskurs in der Interaktion mit den Schulkollegen den öffentlichen Bereich wider und zeugt von ihrem eigenen Selbstentdeckungsprozess. Hierbei gewinnt sie sogar die Sympathie des Erzählers: Es war aber tatsächlich so, dass an dem Gymnasium, wo Gabriela und Angela unterrichteten, die Kinder der sogenannten Migranten, was die Strebsamkeit auch im Deutschunterricht anbelangte, in der ersten Reihe standen, die meisten von ihnen hatten Eltern mit höherem Bildungsniveau, die sich sehr wohl um ihre Kinder kümmerten. Es war wirklich so, wie Angela gesagt hatte, und dieser Kollege war einer, der politisch ganz rechts stand, was alle wussten, aber bis zu jenem Zeitpunkt hatte sich keiner getraut, ihm bei solchen ungerechtfertigten Äußerungen zu widersprechen.126 Diese Sympathie wird Angela auch deshalb entgegengebracht, weil sie bei den Vorbereitungen des Theaterstücks mit ihrem Umfeld in einen kritischen Dialog tritt und so ihre eigene Ausgrenzung in Kauf nimmt. Hinzukommt ihre Überzeugungsarbeit, andere Freunde wie Elke und deren Freund Hamid für die Mitarbeit beim Theaterstück zu gewinnen.127 Zwischen die Vorbereitungsphase und die Premiere wird die Beschreibung einer Informationsveranstaltung eingeschoben,128 die nicht nur die Metamorphose von An123   Allafi: Gabriela findet einen Stapel Papier, 2012, 142. 124 Ebd., 144. 125 Ebd., 49. 126 Ebd., 145. 127 Ebd., 208-211. 128 Ebd., 225-245.

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gelas Weltanschauung ref lektiert, sondern diese auch als Dialog-Stoff zwischen den Institutionen Schule und Familie in den Vordergrund stellt. Durch die Platzierung der Informationsveranstaltung steigt ferner die Spannung der Szenenbeschreibung, die in der Inszenierung eines Amoklaufs ihren Höhepunkt erreicht. Die Informationsveranstaltung wird in Gestalt einer Gruppe von Migranten und einer von denjenigen, die »für die Unfähigkeit ihrer Kinder immer die Schuldigen in den Reihen der Migranten«129 sucht, polarisiert. Während der Streit zwischen diesen Gruppen zu eskalieren droht, schießt ein Amokläufer in die Runde130 und verletzt den Schuldirektor131: Die Polizisten haben sofort festgestellt, dass der Junge bloß eine Schreckschusspistole hatte, und hatten das allen Anwesenden mitgeteilt. In seinen Taschen entdeckten sie statt Handgranaten zwei Orangen und nichts weiteres. Es stellt sich heraus, dass er sogar an dieser Schule seinen Abschluss gemacht hatte und dass er an dem Schuldirektor […] Rache nehmen wollte.132 Der Streit über die Migrantengruppen einerseits, die Rhetorik der anscheinend rechtsradikal gesinnten Antimigrantengruppe andererseits werden aus der auktorialen Perspektive erzählt und nehmen durch die institutionelle Verortung in der Schule die gesellschaftspolitischen Diskrepanzen der Öffentlichkeit in den Blick. Die Stereotypisierung der Migranten-Figur verliert in dem Moment ihre Wirkung, als der Amoklauf schließlich als privater Racheakt eines Schülers entlarvt wird. Der Erzähler entwirft durch das Auftreten des Amokläufers, sein individuelles Handeln und die Qualität seiner Positionierung jenseits der Migrantengruppe eine Szene, die der Kausalität von Migration und steigender Kriminalität, die von der Antimigrantengruppe propagiert wird, entgegentritt. Diese Szene präsentiert Migranten nicht als Verursachende, sondern neben allen anderen als Betroffene und stellt die Gewaltszene an dem »Schwarzen Freitag«133 als einen Akt im öffentlichen Interesse dar. Zugleich deckt der Erzähler in dieser Szene die Medien als Nutznießer von Turbulenzen in der Öffentlichkeit auf, indem er Kaputtmacher auftreten lässt, der zwar zuvor kein Interesse an der Veröffentlichung von Hans’ und Hosseins Papieren zeigte, die öffentliche Spannung aber ausnutzt und plötzlich eigenmächtig die Veröffentlichung verkündet.134 Insbesondere durch die Positionierung von Kaputtmacher als Meinungsmacher, Gabriela als Konsumentin medialer Meinungsproduktion und Angela als engagierter Person wird eine Kommunikationssituation hergestellt, in der die Parteien kaum zueinander finden und deshalb auch nicht in der Lage zu sein scheinen, einen Dialog im Sinne der Teilnahme an den Anderen zu führen. Durch das Fehlen eines solchen Dialogs und durch die öffentliche Spannung entsteht ein nur scheinbar leerer Raum, der von dem Chefredakteur medial in Anspruch genommen wird, damit dieser ihn so gestaltet, wie er am profitabelsten ist. Diese in der Schreib-Szene entwickelte Inszenierung gesell-

129 Ebd., 229. 130 Ebd., 239. 131 Ebd., 245. 132 Ebd., 243f. 133 Ebd., 248. 134 Ebd., 299.

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schaftlich-öffentlicher Diskrepanzen korrespondiert mit dem Theaterstück, das Angela aufzuführen gedenkt. Der ursprüngliche Aufführungsplan wird nach der Eskalation in der Schule verworfen. Allerdings ist in Die letzte Nacht mit Gabriela von einem Theaterstück die Rede, das mit dem Inhalt des Papierstapels korrespondiert. Ob es sich bei diesem Theaterstück tatsächlich um dasjenige handelt, von dem in der Schule die Rede war, bleibt unklar. »Untergang der Republik«135 ist ein Titel in Die letzte Nacht mit Gabriela. Und Gabriela selbst schaut sich das Stück an. Im Saal sitzen weder »sogenannte Prominente«, weil sie es sind, die »diesen Untergang verursacht hatten«, noch die breite Schicht der Öffentlichkeit; »nur eine hauchdünne Schicht des Volkes«.136 Das Stück stammt von einigen kritischen Künstlern der Gegenwart, die von den so genannten »gut situierten Damen und Herren der feinen Gesellschaft« als verlumpte Künstler bezeichnet werden.137 Die Figur des kritischen Künstlers wird auf der Bühne von einem kaputten, beängstigenden Mann mit strähnigen und wirren Haaren und zerlumpten Kleidern gespielt, der aber im Blick des Erzählers das Bild eines der Folter ausgesetzten Obdachlosen abgibt. »Stolz, aber erhitzt und voller Empörung protestierend« wendet er sich in seinem Monolog an das Publikum: Ihr sitzt alle so bequem auf euren Hintern, ihr guckt nur zu und schweigt. Jeder Einzelne von euch hat sich freiwillig einen Maulkorb umgebunden! […] Uns zeichnen sie als verrückt und euch als verblödet. […] Euer Schweigen wird sich rächen! Die Menschheit hat solche Momente schon öfter erlebt! Ich erinnere euch an den Untergang der griechischen Demokratie! Ich sage extra griechische Demokratie, nicht etwa Weimarer Republik, weil sich heute so viele in diesem Lande und überall auf dem Kontinent zur Wurzel unserer Demokratie, zur Antike, zurücksehnen. Genau diese Demokratie und die Blüte der Kultur sind durch die Gleichgültigkeit und die uneingeschränkte Intention der jungen Menschen – ich bin mir bewusst, dass die Jugend in unserer Gesellschaft dabei ist, zu einer von der Marginalisierung bedrohten Spezies zu werden – auf einen hedonistischen Lebensstil untergegangen.138 Diese Rede enthält Klage und Warnung zugleich: Klage über teilnahmslose Beobachter und Warnung vor schweigender Gleichgültigkeit gegenüber dem Untergang der Demokratie. Die Positionierung des kritischen Künstlers verleiht dessen Präsenz auf der Bühne eine politische Bedeutung: Er ist nämlich auf eine Konstruktion gefesselt, die einem elektrischen Stuhl ähnelt. Nach seiner Rede an das Publikum herrscht absolutes Schweigen auf der Bühne, die sich in einen kalten und beängstigenden Raum verwandelt.139 Auf der Bühne entsteht auf diese Weise eine bedrohlich wirkende Atmosphäre, die nach einer Weile durch das verächtliche Lachen eines Mannes durchbrochen wird. Der Mann wendet seinen Blick von den Zuschauern zur Bühne. An der 135   Allafi: Die letzte Nacht mit Gabriela, 2000, 39. 136  Ebd. 137  Ebd. 138 Ebd., 40f. 139 Kälte und Angst werden insbesondere durch das blasse Licht, durch das Zischen des Windes durch die Gassen eines in tiefen Schlaf gesunkenen Dorfes in einer kalten Winternacht, das Geheul von Wölfen und Schakalen und das Bellen von Hunden wahrgenommen (ebd., 41).

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Ecke der nun hell erleuchteten Bühne ist ein Café eingerichtet, und eine »nicht ganz so reizende Dame«140 bedient die Gäste: zwei Frauen und einen Mann – alle drei sind Single und sitzen jeweils an einem Tisch. Sie starren die gefesselte Gestalt an, während diese sie anbrüllt: »Weil es euch gibt, geht die Republik unter! Richtige Ochsen seid ihr!«141 Nach einer kurzen Stille beginnen auch die Schauspieler zu sprechen: Die eine Frau spricht über ihr Fußbad, der Mann über seinen Konzertbesuch und die jüngere Frau über ihren Kaffeegenuss. Zwei Uniformierte tauchen auf und hindern den Mann mit aller Gewalt daran, weiterzusprechen, indem sie ihm abwechselnd einen Korken in den Mund stopfen, sobald er zu sprechen beginnt. Von der linken Seite betritt ein Betrunkener mit einer halbleeren Whisky-Flasche in der rechten Hand und einem Buch unter dem linken Arm die Bühne: »Kritik ist gut«, schreit er mit der Flasche auf das Buch zeigend, »aber […] nur im Rahmen dieses Buches«: Die gefesselte Gestalt konnte sich nicht mehr beherrschen, so brüllte sie: »Leck mich am Arsch mit deiner kritischen Redaktion, du alter Stümper, du Nicht-mal-Hanswurst! Du hast doch bloß Angst, ein paar Schlucke weniger trinken zu können! Du und deine kritische Redaktion, ihr seid nichts anderes als Mittäter, ihr seid nicht mehr und nicht weniger als das Sprachrohr eurer Herren! Ihr solltet euch schämen, anstatt euch kritisch zu nennen!« 142 Die Analogie der gefesselten Gestalt als kritischen Sprechers zu Hans und Hassans und des Betrunkenen und Ermahnenden zum Verleger Kaputtmacher ist nicht zu übersehen. Zwischen der gefesselten Gestalt, dem Betrunkenen und den Gästen bricht eine heftige Diskussion aus, die durch die Aufforderung der Uniformierten plötzlich abgebrochen wird: »Ja, jawoll Herr Wachtmeister, schweigen … Schweigen ist angesagt«.143 Während die gefesselte Gestalt sich in ihrer Rede an das Publikum bereits zu Beginn als intellektuellen Revolutionär zu erkennen gibt, erfährt der Zuschauer nach und nach von der Repräsentationsfunktion anderer Figuren auf der Bühne: die drei Gäste repräsentieren als Bürger die Öffentlichkeit, der Betrunkene die Presse und die Uniformierten die Ordnungshüter des Staates. Diese Figurenkonstellation wird durch das Hinzutreten eines dünnen, weißhaarigen und greisen Mannes ergänzt, der sich mit dem »Marsch eines Philosophen der Republik«144 an das Rednerpult stellt. Was er sagt, hat weder direkt mit dem Volk zu tun, noch wird es von diesem verstanden. So wirkt seine Bezeichnung als »Volksweiser«145 auf dem ersten Blick vielleicht ironisch. Durch die Charakterisierung des Volksweisen könnte die Pointe aber auch in der Doppeldeutigkeit seiner Funktion als jemanden, der das Volk nicht nur belehrt, sondern auch weist, gesehen werden. Begleitet wird er von seinem auserwählten Publikum, das ihn mit großem Respekt auf der Bühne zur Seite steht: »Es scheint, als seien sie ihm alle treu ergeben. Er sah wirklich heilig aus, es fehlte nur der Heiligenschein um

140  Ebd. 141  Ebd. 142 Ebd., 44. 143  Ebd. 144 Ebd., 46. 145  Ebd.

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seinen Kopf, dass man ihn hätte Christus der Zeit nennen können«.146 Mit ihm wird die Runde des Bürgers, der Presse, der Staatsordnung und des Intellektuellen nun um die Figur des Weisen oder Weisenden ergänzt. Der Volksweise beginnt seine Rede mit der Ankündigung »Unsere schöne Republik ist leider am Ende«147 und verkündet den Übergang zu einer anderen Epoche. Diesen Epochenübergang nennt er Dialektik der Geschichte. Das, worin die alte, schöne Republik übergeht, bezeichnet er nicht einfach als Materialismus der Moderne, sondern als supermodernen Materialismus und bringt diesen mit der Globalisierung in Einklang. Globalisierung definiert er als Versuch, »unsere westliche und zugleich einmalige Zivilisation noch intensiver und extensiver auf dieser unserer Erde zu verbreiten«.148 Nach seinem Plädoyer für die Globalisierung und ihre Ziele richtet der Volksweise seinen Blick auf die Globalisierungskritiker und widerlegt die Auffassung, Globalisierung wirke dem Humanismus entgegen. Auf diese Weise polarisiert er den Gesellschaftsdiskurs der Globalisierung und den Europadiskurs des Humanismus. Zwischen Humanismus und Globalisierung öffnet sich eine Kluft, die der Greis insofern zu veranschaulichen versucht, als er innerhalb der europäischen Zivilisationsgeschichte Momente aufzeigt, in denen Werte des Humanismus verletzt wurden. Der europäische Humanismus wird folglich nicht nach seinen Werten beschrieben, sondern nach den Momenten der Verletzung und nach dem Verletzungsgrad dieser Werte: Wir sind Nachfahren jener Menschen, die dreißig Jahrzehnte lang Kreuzzüge durchführten. Es wird zwar versucht, uns zwei Weltkriege und fast zweihundert weitere Kriege danach […] anzulasten, aber man muss nur einmal in der Lage sein, das Ergebnis dieser mit jenem zu vergleichen.149 Die Hervorhebung der Verletzungsmomente erklärt Humanismus zu einem in der Globalisierung kaum funktionsfähigen Muster. Die Polemik des Greises nährt sich aus der Selektion wie der Analogie der Ereignisse und versetzt Globalisierung und Republik in ein Verhältnis, das zusammenzubrechen droht, wenn eine gewisse Ordnung nicht hergestellt werde: Die Republik kann dem Zwang der Globalisierung nicht standhalten. Sie kann sich nicht mehr wie früher vor dem Außen schützen. Etwas poetisch gesagt, die Ideale und das Behagen im Kapitalismus sind etwas für eine kurz währende Dauer gewesen, und die ist vorüber […]. Es ist nicht mehr an der Zeit, sich zurückzulehnen und zu sagen, was ganz in der Ferne passiert, ist nicht meine Sache oder unsere Sache, denn […] es gibt keine Ferne mehr.150

146 Ebd., 47. 147  Ebd. 148 Ebd., 48. »Wir stehen am Beginn der Epoche der Züchtung und der grundsätzlichen Verbesserung der Menschengattung durch die Genmanipulation, gezielte Eingriffe in das Erbgut des Menschen werden bald an der Tagesordnung sein«. 149  Ebd. 150 Ebd., 50.

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Diese Ordnung sollte auf der Basis der Erkenntnis, es gebe keine Ferne mehr, hergestellt werden. Durch die Gegenüberstellung von Globalisierung und Republik einerseits und durch den Hinweis auf das Verschwinden der Ferne als entscheidende Erkenntnis andererseits wird für eine neue Verantwortung gegenüber der Republik gesprochen. Fast bei jeder Hypothese, die der Volksweise ausführt, schreit die gefesselte Gestalt in die Menge und wird schnell von den Ordnungshütern zum Schweigen gebracht. Dem Volksweisen wirft sie zum Schluss vor, er wolle lediglich die Globalisierung im eigenen Interesse retten. Als Intellektueller entlarvt er die Rede des Volksweisen als egozentrischen und eigennützigen Plan und legt die Interpretation nahe, dass eine demokratische Republik im Geiste des europäischen Humanismus unter den Vorzeichen teilnahmsloser Bürger, obrigkeitshöriger Ordnungswächter, voreingenommener Presse und des Mundtotmachens der Kritiker ihrem Untergang entgegensieht. Zu dieser Interpretation gelangt der Leser über die Analyse des Theaterstücks hinaus auch in der Lektüre des dem Theaterstück folgenden Kapitels, in dem die Figur Professor Dr. Joachim Schneider im Mittelpunkt steht. Schneider ist ein Greis und ein Denker, dessen Philosophie auf der pessimistischen Prämisse gründet, der Mensch sei der Vasall dessen geworden, was er selbst geschaffen habe; er habe sich selbst vernichtet. Das letzte Wort spricht der Erzähler in seiner Kritik an Schneiders Gedanken: Einen Fehler aber hatte Professor Dr. Joachim Schneider gemacht, indem er den Menschen nicht differenziert betrachtete, meinten seine Kritiker, deren Meinung ihm mittlerweile nichts mehr wert war. Damit hatte er Recht, sein Fehler war kein Fehler, sondern das Komödie-Tragödie-Schicksal des Menschen, das der Mensch einst selbst in der Hand gehabt hatte, aber nun nicht mehr. Darüber sinnierte er, seit er emeritiert war.151 Die Gesellschaftskritik, die im dritten Teil der Frankfurter Trilogie von den Figuren Hans, Hassan, Gabriela und Angela getragen wird, wird in Die letzte Nacht mit Gabriela auf die Bühne versetzt, von Gabriela als Zuschauerin betrachtet und dem Leser mitgeteilt. Gabriela, die einst das »Gefühl der gemeinsamen Einsamkeit«152 mit Angela teilte, distanziert sich nun bewusst von der globalisierten Konsumgesellschaft. Angela wird nicht direkt adressiert, sondern durch eine Reihe von Codes wie Laptops, Notebooks, iPhone und iPod charakterisiert und als Apple-Besitzerin, die in der Masse untertauchen, degradiert.153 Gabrielas neue Verortung verläuft entlang kritischer Beobachtung der Figur des Intellektuellen und schenkt im letzten Teil der Trilogie der Teilnahmslosigkeit als herausragendem Kriterium der Konsumgesellschaft kritisch ihre Aufmerksamkeit. Sowohl durch das Theaterstück als auch durch Gabrielas Ref lexionen werden auf die Errungenschaften Europas wie Humanismus, Freiheit und Demokratie wiederholt zurückgeblickt und vor ihrem Zerfall gewarnt. Zugleich wird Gabrielas pessimistischer Blick auf Globalisierung in der Polemik des Intellektuellen und in der Philosophie Schneiders relativiert, indem Globalisierung ebenfalls als europäische Errungenschaft betrachtet wird. Das oppositionelle Verhältnis des Volksweisen und Schneiders zu dem intellektuellen Künstler soll die Globalisierung nachvollziehbar

151 Ebd., 63. 152   Allafi: Gabriela findet einen Stapel Papier, 2012, 21. 153 Ebd., 23f.

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machen und den Bürger als machtlose und gefesselte Figur dieser Rationalisierung darstellen. In ihrer Gesellschaftskritik distanziert sich Gabriela von dem Volksweisen und Schneider mit dem Vorwurf, sie seien mit sich selbst beschäftigt, hielten ihre Nase hoch und wüssten immer alles besser, was wiederum die Kritik der gefesselten Gestalt aus der Bürgerperspektive aufgreift. Darüber hinaus wirft Gabriela der Masse fehlendes Denkvermögen vor: »Aber heutzutage, wie sich die neuen Möglichkeiten entwickelt haben, denken die Massen, oder sagen wir mal, dass sie denken, oder sie bilden sich ein, dass sie denken«.154 Ihre Ref lexionen in stiller Einsamkeit offenbart die Kluft zwischen der politischen Ordnung, die von dem Volksweisen betrieben wird, dem institutionellen Diskurs, den Professor Schneider zu führen angibt, und der einfachen Bürgerin, die Gabriela selbst repräsentiert. Der gefesselten Gestalt wird die Chance, die Öffentlichkeit für sich zu gewinnen, verwehrt. Der elektrische Stuhl als Todessymbol verdeutlicht die Chancenlosigkeit dieser Figur. Ihr Ende verläuft analog zu dem von Hans und Hassan: Sie begehen Suizid, teilen sich aber der Nachwelt durch ihren Stapel Papier mit. Die gefesselte Gestalt wird durch eine staatliche Ordnung verurteilt. Ihnen gemein ist aber, dass sie weitere Veränderungen, die eventuell anstehen, nicht mehr erleben werden. Die Europa-Kritik in Allafis Trilogie vollzieht sich in interkulturellen Kommunikationssituationen, deren Konstruktion dem Leser bereits aus dem Zusammenhang privater und öffentlicher Identitätsarbeit vertraut ist. Die Figuren stehen miteinander im Gespräch, so dass in der Erzählsituation eine Unmittelbarkeit der Kommunikationssituation entsteht, aus der Einblicke in die Sozialstruktur jeweiliger Figuren gewonnen werden können. In der Sozialstruktur der ausgestatteten Erzählwelt werden Figuren so positioniert, dass jede von ihnen einer bestimmten gesellschaftlichen Ordnung folgt. Unterbrochen wird die Unmittelbarkeit der Kommunikationssituation durch die Einmischung des Erzählers, indem dieser die Figurenkommunikation in einer realistisch-naturalistischen Mischung kommentiert und die kritische Figurenwahrnehmung in eine urteilende Erzählereinstellung umwandelt. Dies hat zur Folge, dass Figuren ihre Selbständigkeit und Eigenartigkeit zumindest vorläufig verlieren. Unüberhörbar ist die wohl nach sozialistischen Maßstäben konstruierte Kritik an Europa, für welche die Figur des intellektuellen Künstlers stellvertretend für Hans und Hassan auf die Bühne gebracht wird. Das Scheitern dieser Figuren vergegenwärtigt die Desiderate der Gesellschaftsdebatten in intellektuellen Kreisen. An der Beschreibung des Scheiterns formuliert der Erzähler seine Kritik an Europa und an dessen sozialer Wirkungslosigkeit in den Momenten, in denen Europa laut dem Volksweisen und Schneider Gefahren entgegensieht und auseinanderzubrechen droht. Insbesondere steht das Bürgertum im Zentrum dieser Kritik, auf welche die Unruhen in der Schul-Szene anspielen. Das transmissive Verhältnis zwischen dem Erzählstoff und dessen Wirkungsbereich wird bei der Darstellung dieser Szene durch das Thema Migration hergestellt, an dem Prozesse der Stereotypisierung, Kulturalisierung und Meinungsbildung geschildert werden. Dieses Thema wird im Kontrast zu der öffentlichen Meinung nicht in ein Phänomen außerhalb der Gesellschaft umgedeutet, sondern als integraler Bestandteil derselben. Diese Lesart wird insofern bestätigt, als die Prozesse der Migra-

154 Ebd., 24.

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tion, so lässt der Schluss vermuten, nicht die Gründe für den Untergang der Republik ausmachen, sondern die Republik selbst. Mit der Figur des Intellektuellen und vor allem ihrem Scheitern thematisiert Allafi ebenfalls die Kritik an der dritten Generation iranischer Intellektueller, zu der auch er selbst gehört. Dass seine Kritik im einem deutsch-iranischen Migrationsgedächtnis, das hauptsächlich durch Hans und Hassan konstruiert wurde, erfolgt, darf den Rezipienten nicht dazu verleiten, die Frankfurter Trilogie bloß als ein Stück Migrationsliteratur zu etikettieren. Sie nimmt Problemfelder in den literarischen Blick, die Europa prägen; Migration ist nur ein Thema aus diesen Problemfeldern.

4.2 Die Metapher der Heimat Aus der Untersuchung der Europa-Bilder wurden Erkenntnisse über die Entterritorialisierung Europas und über dessen Semantisierung als Ref lexions-, Vorstellungs- und Wunschraum gewonnen. Es wurde deutlich, dass Europas Bedeutung für die Migranten-Figur sich insbesondere aus einer Reihe von Wertzuschreibungen zusammensetzt, die bei der Begegnung mit Europa nicht gefunden, sondern immer noch gesucht werden, weshalb Europa sich im literarischen Diskurs als ein utopischer Raum begreifen ließe. Unter dem Aspekt der entterritorialisierten Semantisierung wird der Zusammenhang von Europa und Heimat gesucht. Der Zusammenhang von Europa und Heimat wurde eingangs dieses Kapitels unter dem Aspekt der Entterritorialisierung und Offenheit hervorgehoben. Er darf nun auf der Grundlage der oben besprochenen Europa-Bilder auf die Dimension des Utopischen erweitert werden, denn auch Heimat wird sich für die Figuren geographisch kaum bestimmen und fixieren lassen. In Heimat wird ein Konglomerat gesehen, das Vergangenes und Gegenwärtiges ebenso enthält wie Gewünschtes und Wertvolles. All das findet in der subjektiven Bedeutungszuschreibung des Heimatlichen eine Gemeinsamkeit. Die Heimat scheint also einen imaginären Ort zu bilden. Von entscheidender Relevanz ist jedoch, ihre identitätsstiftende Funktion. Viele iranische Intellektuelle der dritten Generation haben während und nach der Islamischen Revolution ihren Geburtsland nach Europa oder Amerika verlassen, sich mit dem Thema der Heimat auseinandergesetzt und ihre Ansichten in Kunst, Film und Literatur dem Publikum zugänglich gemacht. Diese dritte Generation bildet, wie oben bereits dargestellt, die erste Generation der Migranten in der Geschichte der iranischen Moderne seit dem Jahr 1979; erst seitdem kann von einer Migrationswelle gesprochen werden. Daher liefern die Heimatref lexionen dieser Generation die erste Grundlage eines Heimat-Diskurses außerhalb Irans. Diese Ref lexionen hier in ihrer Ganzheit zu erfassen, ist weder möglich noch beabsichtigt, zumal französischsprachige Heimat-Diskurse iranischer Migranten in der Literatur (noch) nicht vorlegen. Der englischsprachige Kontext ist beispielsweise durch die Arbeit von Persis Karim155 nur zum Teil erschlossen. Der Fokus meiner Studie liegt, wie bisher auch die Analysepraxis war, auf der interkulturellen Heimatkonstruktion im deutsch-iranischen Migrationsgedächtnis. 155 So etwa in Let Me Tell You Where I’ve Been, 2006, A World Between, 1999 und in den Übersetzungen von Moniru Ravanipurs Satan’s Stones, 1996.

4. Der Mythos Europa – die Metapher der Heimat – die Macht der Sprache

Im Deutschen wie im Persischen wird der Begriff Heimat sprachlich nur im Singular gebraucht. Literarisch impliziert er jedoch eine plurale Assoziation mit Heimat. Wie literarische Konstruktionen des Heimat-Diskurses im deutsch-iranischen Migrationsgedächtnis erfolgen, wird im Folgenden näher untersucht. Mit dieser Untersuchung verbinde ich zwei Fragen: Unterscheidet sich die deutschsprachige Heimat-Auffassung grundsätzlich von der im deutsch-iranischen Migrationsgedächtnis? Ist der Begriff Migrationsliteratur im Hinblick auf die Narrative der Heimat zur Bezeichnung dieses Gedächtnisses von Nutzen? In seinem Beitrag über Heimat schreibt der Philosoph Hans-Dieter Bahr, ein Mensch scheine heimatlich zu werden, wenn er sich »wieder und wieder durchstreifen« lasse, und betont, er spreche bewusst vom Durchstreifen, weil wir dabei vom anderen berührt werden würden.156 Bahr liefert hier keine Definition von Heimat, sondern bildet im Kontext der poetischen Alterität eine Metapher der Berührung. Heimat sei ein »Gefilde offener Grenzen«157, das Ähnliches und Unähnliches wie Vertrautes und Unvertrautes zugleich enthalte. Heimat erweist sich in dieser Beschreibung als offene Sphäre für all das, was der Mensch berührt, erfährt, empfindet und entdeckt. Die persönliche Erfahrung der Heimat-Entdeckung bildet den Gegenstand literarischer Ref lexionen, die mit Blick auf das deutsch-iranische Migrationsgedächtnis näher betrachtet und ihre Qualität beschrieben wird.

4.2.1 Heimat: Denken – Schreiben – Erzählen Die primäre Verwendung des Heimat-Begriffs geht auf das ausgehende 18. Jahrhundert und insbesondere auf das 19. Jahrhundert zurück.158 Er wurde im juristischen und geographischen Sinne benutzt, um Menschen in den Verwaltungsangelegenheiten bei Ämtern und Polizei zu personalisieren und zu lokalisieren. Diejenigen, die mittellos waren, wurde keine personale, örtliche und lokale Existenz zugesprochen. Den Behörden galten sie daher als heimatlos. Erst 1877 wurde der Heimat-Begriff von Wilhelm Carl Grimm und Jacob Ludwig Karl Grimm präziser erfasst und bezeichnete das Land (oder den Landstrich) der Geburt, des dauerhaften Aufenthalts, des Wohnorts und des elterlichen Hauses.159 Mit dieser Definition geht die emotionale Bindung zu einer Gegend oder einem Ort einher. Diese Definition räumt dem Heimat-Begriff die Fähigkeit ein, zwischen Mensch, Raum und Ort ein verbindliches Verhältnis zu schaffen. Dieses Verhältnis scheint aber, durch Grenzverschiebungen und Raumumgestaltungen alles andere zu sein als verbindlich. Die Komplexität des Heimat-Begriffs erweist sich daher im Verständnis dieses Verhältnisses einerseits und in den Auslegungen emotionaler Bindungen andererseits. In seinem Buch Heimatlos (2017) hebt Ulrich Greiner die Komplexität des Heimat-Begriffs hervor und beschreibt Heimat als Raum, in welchem der Mensch sich zu Hause fühle. Er determiniert diesen Raum nicht zwingend mit dem Raum, in dem der Mensch aufgewachsen oder geboren ist; Heimat könne ein geistiger und kultureller 156  Bahr: Heimat, 1997, 21. 157  Ebd. 158   Siehe zur Geschichte des Heimat-Begriffs aus einer interdisziplinären Perspektive Constadura et al. (Hgg.): Heimat gestern und heute, 2016, 9-17. 159   Siehe zur begrifflichen Untersuchung Bastian: Der Heimat-Begrif f, 1995.

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Raum sein, heißt die Botschaft. Nicht immer, so könnte die Kritik lauten, kann ein Ort, in dem man zu Hause ist, gleich Heimat sein. Migrationsursachen belegen diese Kritik. Was zur steigenden Komplexität des Heimat-Begriffs beiträgt, ist die Beschreibung der Heimat als geistigen und kulturellen Raumes. Denn gerade in dieser Beschreibung werden Räume poröser und Grenzen fragiler. Nicht nur mit dieser Beschreibung, sondern auch mit den Fragen danach, ob die Heimat bestehe oder erst geschaffen werden müsse, setzen sich die humanwissenschaftlichen Disziplinen auseinander.160 Der Heimat-Diskurs steht in meinem Zusammenhang jedoch nicht in seiner ganzen Breite zur Diskussion. Drei Eingrenzungen sollten an dieser Stelle getroffen werden: Zum einen geht es um Heimat im interdisziplinären Diskurs der Wissenschaften und zum anderen – und hier konkret – um den Heimat-Diskurs der deutschsprachigen Literatur in einem Zeitraum im Sinne der Studie. Die ersten beiden Eingrenzungen versetzen Heimat von einem eingegrenzten territorialen Raum in das Reich der Sprache, in der Grenzen des Territorialen, des Sprachlichen und des Kulturellen nicht deckungsgleich sind. Im Reich der Sprache (ver-)schwindet die mehr oder minder geographische Klarheit der Heimat. Mit dieser dritten Eingrenzung wird der Bedeutungsverlust von Heimat im Sinne eines ›Kulturkreises‹ oder eines ›Kulturraums‹ hervorgehoben161 und durch die Auffassung von Heimat als Möglichkeit,162 Vergangenheit und Gegenwart, Entfernung und Nähe, Differenz und Ähnlichkeit, Geistiges und Kulturelles aufeinander zu bewegen und ihnen im Reich der Sprache Ausdruck zu verliehen. Den gesellschaftlichen und politischen Umbruchphasen Europas, die in der Heimatforschung mit der Französischen Revolution einhergehen, verdankt der Heimat-Begriff auch seine Relativierung. Entscheidend für das Verständnis von Heimat als »relatives Phänomen« sind drei Momente, die interdisziplinär und historisch untersucht werden; diese Untersuchung macht die »Formatierungsphase« der Heimat von 1770 bis 1830/50 aus und kennzeichnet Heimat als Phänomen der Multidimensionalität, als Phänomen der Reaktion und als Begriff der Ref lexion.163 Alle drei Momente der Formatierungsphase erfahren nicht nur literarische Konstruktionen, sondern werden von der Literatur auch hervorgebracht. Literarisch-publizistische Auseinandersetzungen mit Heimat machen in der historischen wie gegenwärtigen Vielfalt der Heimat-Diskurse einen wesentlichen Bereich aus.164 Heimat als literarisches Motiv besitzt eine lange Tradition in der deutschen Kulturgeschichte.165 Es wurde in den Epo160   Siehe die Beiträge in Cremer et al. (Hgg.): Heimat. Analysen, Themen, Perspektiven, 1990. 161   Mit diesen beiden Begriffen diskutiert Stephan Günzel die gegenwärtige Auffassung von Raum unter Berücksichtigung von zwei Denkweisen, nämlich Schachtelmodell für Kulturkreis und Containerisierung für Kulturraum und problematisiert ihre Anwendung auf Heimat (Günzel: Raum, 2017, 60-69). 162   Der Begriff Möglichkeit soll hier die Aufhebung der Negation von Existenzformen suggerieren. In seiner Auseinandersetzung mit der kopernikanischen Umwendung diskutiert Edmund Husserl, dass das Ruhen auf der Erde keine Negation von Bewegung, sondern allererst deren Ermöglichung sei (Husserl: Kopernikanische Umwendung der Kopernikanischen Umwendung, 2006, 159, 163f.). 163   C onstadura et al. (Hgg.): Heimat gestern und heute, 2016, 11. 164 Ebd., 17-20. 165 Sie reicht bis zum Hildebrandslied mit Hildebrand als Flüchtling Wißener et al. (Hgg.): Die Lieder Neidharts, 1999, Nr. 11, Str. XI) zurück. Von den Themen Flucht und Fremdheit leitet auch Walther von der Vogelweide seine Klage über das Fremd-Sein in der Welt ab und beschreibt das Gefühl der Heimatlosigkeit (Cormeau: Walther von der Vogelweide, 1996, Vers L. 31, 25).

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chen Klassik und Romantik – bei Schiller, Goethe und Hölderlin – bis hin zum Realismus bei Wilhelm Raabe und Theodor Fontane auch regional aufgegriffen und diskutiert.166 Ihre belastende Entwicklung erfuhr Heimat in beiden Weltkriegen und wurde in diesem Zusammenhang teils als Motiv zur Kriegsführung und Vertreibung eingesetzt, teils aber auch als Ort betrachtet, der alles andere bieten konnte außer der mit ihr assoziierten Geborgenheit. In der deutschen Kulturgeschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erfuhr der Heimat-Begriff einen Wendepunkt, der vor allem darin bestand, dass ihm seine positive Aufwertung durch ideologische Zuschreibungen – ob nationalistisch, ob rassistisch – zugeschrieben wurde.167 Auf den ideologisch geprägten Heimat-Begriff reagierte die Literatur unter Berücksichtigung von Heimat in den Momenten ihres Fehlens. Dies zeigt eine Reihe von Werken während der Naziund in der Nachkriegszeit im besonderen Maße. Friderike Mayröcker (*1924) spricht beispielsweise in ihren Magischen Blättern (2001) zwar von ihrer Heimatstadt, mit dieser fällt aber das Wort Heimat selbst nicht zusammen. Man könnte meinen, dass Heimat als Begriff für Mayröcker noch nicht genug von den Assoziationen mit der Besatzungsmacht der Nazis befreit ist. Für sie wie für viele Flüchtlinge und Vertriebene ist das Wort Heimat mehr durch sein Fehlen geprägt.168 Der Heimat-Diskurs der deutschsprachigen Literatur in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts verschafft dem Heimat-Begriff durch die literarische Verarbeitung von Heimat im Sinne eines ästhetischen Spezifikums nachkriegsgeschichtlicher Ref lexionen eine neue Konjunktur.169 Sie zeigt sich insbesondere darin, dass der Heimat-Begriff von einer ideologischen zu einer vergleichsweise offenen Perspektive umgedeutet wurde.170 Der literarische Diskurs der Heimat hat hier ref lektierende Momente, voranschreitende Suchprozesse und modifizierende Suchoptionen für sich entdeckt. Zu den Modifikationen gehört auch, dass Migration und Heimat kein paradoxes Verhältnis sui generis zueinander

166 Siehe hierzu Arendt: Vom literarischen ›Recht auf Heimat‹, 2001, 15-30. 167  Krockow: Heimat – Eine Einführung in das Thema, 1990, 56-69. – Folgen hatte der Nationalsozialismus für die Auffassung von Heimat insofern, als Heimat mit Blick auf Flucht und Vertreibung sowohl während des Nationalsozialismus als auch in den letzten Jahren des Zweiten Weltkriegs für viele nicht mehr Geborgenheit und Sicherheit bedeutete, sondern einen existentiellen Verlust durch Ausgestoßen-Sein und Todesdrohung. Ähnliches widerfuhr Heimat auch später im West- und Ost-Deutschland (Kossert: Kalte Heimat, 2008). 168 Eine Fülle weiterer Beispiele mit unterschiedlichen Intentionen der Heimat in der deutschsprachigen Literatur liefern beispielsweise Manfred Kluge, Christine Nöslinger, Gert Jonke, Herta Müller, Guntram Vesper in einer Edition von Wilhelm Solms (Beutner: Allerlei Heimat, 2008, 21f.). 169   Rosenstein: »Heimat«-Bilder, 1994, 47f. 170 Es darf hier nicht der Eindruck entstehen, als setzten Veränderungsprozesse nur einmalig in der Nachkriegszeit an. Rainer Piepmeier bringt diesen Wendepunkt mit dem Zeitalter der Industrialisierung in Verbindung, in dem die Mobilität der Ware und des Menschen das Nah-Fern-Verhältnis aus dem Gleichgewicht bringt; mit dem Verlust dieses Gleichgewichts wird das Verhältnis des Menschen zu den »bestehenden Nahwelten« problematisiert (Piepmeier: Philosophische Aspekte des Heimatbegrif fs, 1990, 95). Wie Piepmeier beschreibt, verliert der Heimat-Begriff während und infolge der Industrialisierung seine rechtlich-präzise und ursprünglich auf das Eigentum bezogene Bedeutung und wird zu einem Kompositionsbegriff, der sich auf räumliche und zeitliche Ausdifferenzierungen bezieht.

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auf bauen.171 Die Suche nach einem anderen vielleicht modifizierten Heimat-Begriff ist durch die neugierige und vor allem wenig belastete und verkrampfte Beschäftigung mit Heimat charakterisiert.172 Gekennzeichnet ist diese Suche vor allem dadurch, dass in ihr Heimat und ihre Erfahrung in verschiedenen Epochen der deutschen Kulturgeschichte als ein doppeldeutiges Motiv zur Darstellung von Fremdem und Fremdheit,173 von Identitätskrise und Identitätssuche sowie von reziproken Beziehungen zwischen Heimat und Sprache aufgefasst werden. In diesem Sinne bleibt der literarische Heimat-Diskurs kaum nur auf eine vergangenheitsbezogene und nostalgische Heimat-Auffassung fokussiert, sondern visiert auch die Zukunftskonstruktionen der Heimat als Vorstellungs- und Wunschräume an. Die Umwandlung der Heimat-Auffassung gelingt, aus der nationalen und territorialen Heimat-Fixierung eine Projektionsf läche für die nebeneinanderliegenden, sich überlappenden und ineinander aufgehenden Heimat-Entwürfe zu gestalten, die den Anforderungen des globalen Zeitalters und der Menschen als dessen mobilen Akteuren einen Raum zur individuellen Entfaltung bieten. Mit dem Gedanken über die Entfaltung geht der Zusammenhang von Heimat und Selbst-Identifikation einher. Entfaltungsmomente ergeben sich aus der Fähigkeit der Kohäsion auf der einen und der Kontinuität auf der anderen Seite und machen das Individuum erst handlungsfähig. Die Handlungsfähigkeit des mobilen Menschen im globalen Zeitalter erweist sich innerhalb eines sozialen Netzwerks als wirksam, das im Hinblick auf Heimat eine individuelle, eine kollektive, eine ref lektierende und eine kulturelle Bedeutungsachse besitzt. Ihre Konstruktion und Codierung durch das handlungsfähige Individuum macht aus Heimat einen Raum, der nicht nur, oder nicht immer ist, sondern sein oder werden kann.174 Nach dieser Auffassung braucht Heimat, nicht erst geschaffen zu werden; es gibt sie bereits. Auf dieses Gegebene darf sie jedoch nicht reduziert werden; vielmehr richtet sich die Frage danach, in was für einem Verhältnis Erinnerungen an das Gegebene, Ref lexionen über das Gegenwärtige und Erfahrungen des Kommenden zueinander stehen. Das handlungsorientierte Individuum und dessen Fähigkeit, seinen Daseins- und Wirkungsraum frei gestalten zu können, untermauert die »Entscheidungsfreiheit«175 bei der kulturellen Verortung von Erinnerung und Erfahrung des Individuums. Diese Entscheidungsfreiheit ist insbesondere deshalb wirksam, weil sie dem Individuum das Potential mehrfacher und unterschiedlicher Verortungs- und Identifikationsmöglichkeiten zugesteht. Wie die Heimat-Diskurse im 20. Jahrhundert zeigen, trägt Literatur einen beachtlichen Anteil bei der Erörterung der Frage nach dem Sein, Werden und Wirken der Heimat. Die ent171   Globalisierung stehe, so Hermann Bausinger, für die Postmoderne, während Heimat sich auf die Vergangenheit beziehe: »Heimat steht grundsätzlich unter Senilitätsverdacht« und ist etwas für Leute, »die mit der Gegenwart nicht zurecht kommen und sich deshalb in die Vergangenheit sinken lassen« (Bausinger: Globalisierung und Heimat, 2002, 30). 172  Safranski: Wieviel Globalisierung verträgt der Mensch?, 2003, 78f. 173  Watrak: Das Fremde als Komponente des Begrif fs der Heimat, 1991, 207-214. Alexander Honold überträgt die bipolare Ordnung des Eigenen und des Fremden auf Heimat und Fremde: Während in Heimat »Herkunft und Zuhause in eins fallen«, macht die Fremde aus der Perspektive des Sprechers den Rand des Befindens aus und hebt sich als »Gegenpart« der Heimat hervor (Honold: Das Fremde, 2006, 27). 174   Vgl. Greverus: Auf der Suche nach Heimat, 1979, 28. 175  Flusser: Wohnung beziehen in der Heimatlosigkeit, 2013, 24.

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scheidenden Kriterien hier sind das Bewahren der Heimat durch Erinnerungen zum einen und das Gestalten der Heimat als individueller Berührungs-, Entdeckungs- und Erfahrungsort zum anderen. Die Literatur bietet diesem Anliegen einen fruchtbaren Boden. Aber ob es nur eine einzige Sprache oder Literatur an einem einzigen Ort sein soll, die einem einzigen Heimatgefühl vermittelt,176 steht nun im Diskurs des globalen Zeitalters und unter Berücksichtigung individueller Entscheidungsfreiheit wohl in Frage. Vermutlich führten gerade die Suche und die Neugier dazu, dass sich deutschsprachige Autoren weniger für einen einheitlichen und konsensuellen als vielmehr für einen individuell ausgearbeiteten Heimat-Begriff begeisterten. Deshalb schlagen die Herausgeber des Bandes Heimat (2007) vor, den Heimat-Begriff als »Assoziationsgenerator«177 zu verstehen. Dieses Verständnis solle uns erlauben, nicht von einer bloßen Definition des Begriffes auszugehen, sondern nach vielseitigen Komponenten, die den Begriff Heimat in einem globalen Zeitalter überhaupt noch brauchbar machen können, Ausschau zu halten. Heimat wird aus dieser Perspektive zu einem Auslegungsbegriff, der theoretisch und interdisziplinär Interpretationsvarianten zur Verfügung stellt. Das Plädoyer für eine offene, relative und ref lektierende Auslegung von Heimat im Diskurs der Globalisierung führt aber auch zu Kontroversen, die beispielsweise von Rüdiger Safranski mit seinem Essay Wieviel Globalisierung verträgt der Mensch? mit der Aufforderung einer Neuorientierung im Sinne einer »Positivbewertung von Heimat« aufgegriffen wird.178 Die positive Neubewertung lässt sich nicht so verstehen, als müsste mit ihr der Missbrauch von Heimat in ihrer Geschichte aus dem Gedächtnis gelöscht werden; durch Distanz und Neuorientierung sollten die Heimat-Bilder in der Geschichte sogar deutlicher bewusstwerden. Die positive Neubewertung sollte uns die »Ortsfestigkeit« und mit ihr auch die Ausbalancierung von »Mobilität und Weltoffenheit« ermöglichen, denn wir könnten, so Safranski, »global kommunizieren und reisen, aber nicht im Globalen wohnen«.179 Die »Ortsfestigkeit« weist allerdings ein paradoxes Verhältnis zur »Mobilität und Weltoffenheit« auf. Die Assoziation der Heimat mit Ortsfestigkeit setzt die reziproke Bindung von Raum und Grenze voraus. Diese gegenseitige Bindung geht im philosophischen Diskurs des Raumes bis auf das Aristotelische Postulat zurück, nach dem die Grenze den Dingen ihre Gestalt gibt, das Wesen des Einzelnen bestimmt und Bewegung wie Handlung steuert.180 Hiervon geht auch Martin Heideggers Determinierung der Grenze aus: Die Grenze sei das, wovon etwas sein Wesen beginne.181 Nach Heidegger beginne der Raum sein Bestehen erst durch die Grenze; er sei etwas »Eingeräumtes« und zugleich »Freigegebenes«.182 Doch werden die Funktion und Wirksamkeit der Grenze erst bei 176   So Beutner in seinen Erörterungen über Sprache und Heimat im Anschluss an E. Y. Meyers Grazer Heimat-Rede von 1979 und unter Berücksichtigung von Exil und Emigration (Beutner: Allerlei Heimat, 2008, 25-28). 177   Gebhard et al.: Heimatdenken, 2007, 9. 178  Safranski: Wieviel Globalisierung verträgt der Mensch?, 2003, 24. Der pessimistischen Auffassung wird durch den Gedanken über Heimat als »eine ominös[e] Utopie« (Morley et al.: Spaces of Identity, 1995, 89) und als Erhaltung von Grenzen und mit diesen auch Beschränktheit Ausdruck verliehen. 179  Safranski: Wieviel Globalisierung verträgt der Mensch?, 2003, 24. 180  Aristoteles: Metaphysik, 1990, 133f. 181  Heidegger: Bauen Wohnen Denken, 1954, 155. 182  Ebd.

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deren Überschreitung bewusst.183 Somit wird Überschreitung zum Bestimmungsfaktor der Grenze par excellence, denn sie bringe diese dazu, »im Moment ihres drohenden Verschwindens aufzuwachen, um sich in dem wiederzufinden, was sie ausschließt«, oder sich sogar erstmalig erkenne; sie erfahre »ihre tatsächliche Wahrheit in der Bewegung ihres Untergangs«.184 Migration und ihre Varianten wie Vertreibung und Exil stören jedoch die auch traditionell begründete reziproke Bindung von Raum und Grenze185 und führen zur Feststellung, als würden sie deren vermeintliche Ordnung in eine immer stärker werdende Unordnung verwandeln, die dann ihrerseits das territoriale und räumliche Verständnis von Heimat im hohen Maße problematisiert. Begreifen wir Heimat als Verhältnis von Mensch und Raum – so schwierig dieses Verhältnis auch sein mag –, dürfen wir die Auswirkungen veränderter Formen von Raum bei der Untersuchung dieses Verhältnisses nicht ignorieren. Die kulturwissenschaftliche Untersuchung des Raums spricht, wie bereits unter dem Aspekt Migration und das kulturelle Gedächtnis von Literatur (1.5) besprochen wurde, von einer gesteigerten Aufmerksamkeit für Raum und betrachtet sie als Folge einer grundlegenden Umwälzung, deren Tragweite kaum endgültig abzuschätzen wäre. In der kulturwissenschaftlichen Diskussion wird die gesteigerte Aufmerksamkeit für Raum als Wende zum Raum bezeichnet, deren Gründe vielfältig und keineswegs einheitlich sind. Die im Zusammenhang mit Migration und kulturellem Gedächtnis vorgestellten Gründe für die Wende zum Raum sind dafür ausschlaggeben, dass es auch eine Wende des akademischen Diskurses gebe, im Zuge dessen Raum als Thema, Kategorie oder Begriff relevant werde.186 Die Wende zum Raum und die Wende des akademischen Diskurses legen es offen, dass es eine grundsätzliche Form von Raumveränderung gibt.187 Man könnte sie zwar Globalisierung nennen, ob diese Bezeichnung die Raumveränderung in deren ganzen Vielfalt und Komplexität erfasst, bleibt jedoch zu erörtern. Der unmittelbare Zusammenhang von Heimat und Raum, der grundsätzlich in der Forschung diskutiert wird, und die Erkenntnisse über die veränderten Formen von Raum und dessen Diskurs relativieren doch die Auffassung über die ontologische Bedeutung von Heimat. Mit Blick auf die Überlegungen über die Wende zum Raum, auf die Folgen der Raumveränderung und nicht zuletzt auf die ästhetisch konnotierten Formen, die die Raumveränderung und Raumrelativität geradezu ausstellen, würde der Heimat-Diskurs der Literaturwissenschaft vermutlich zu konstruktiveren Ergeb183  Derrida: Positionen, 1986, 47. 184  Foucault: Vorrede zur Überschreitung, 2003, 69. 185   In den Erzähltexten der Literatur der Antike ist der Raum der Herkunft bereits ein wichtiger und orientierender Bestandteil der erzählten Geschichte, und zwar ungeachtet dessen, ob er den Haupthandlungsplatz ausmacht oder nicht. In der Regel stammt der Held aus solch einem Raum wie beispielsweise Odysseus, der von Anbeginn den Wunsch hat, nach Ithaka zurückzukehren. Dieser Ort scheint zu Beginn der Geschichte nah zu sein, rückt jedoch in ihrem Verlauf immer weiter in die Ferne. Schließlich gelingt Odysseus nach dem Aufenthalt am Phaiakenhof die Rückkehr (siehe hierzu das Kapitel Nature and Narratives. Feeding the Fiction of the Body in Homer’s Odyssey in Slattery: The Wounded Body, 2000, 21-30). In den Erzähltexten des mittelalterlichen Liebes- und Abenteuerromans, des galanten und des höfischen Romans des Barock und in den modernen Epen wird der Heimat-Raum ebenfalls durch den Herkunftsraum der Hauptfigur und durch das spannende Muster von Auszug und Abenteuerreise gebildet. 186   Günzel: Raum, 2017, 14. 187 Ebd., 9-23.

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nissen gelangen, wenn er die Heimat eben nicht ausschließlich an physikalischen Orten des Seins und so an einer Ortsfestigkeit fixiert. Dieses Anliegen lässt sich unter Berücksichtigung der veränderten Kommunikationsstrukturen auch als Herausforderung des literarischen Migrationsdiskurses betrachten: Die Vorstellung über die Ortsfestigkeit der Heimat relativiert sich, wenn die Perspektive des Außen auf die Heimat in eine Perspektive des Innen umgewandelt wird. Die Innenperspektive geht vom Individuum selbst und dessen Entscheidungsfreiheit aus und folgt nicht zwangsläufig den von außen zugewiesenen Heimat-Determinationen. Migration als Antriebskraft soziokultureller Veränderungen entwickelt Heimat zu einem komplexen Phänomen, weil aus Migration zunächst der Verlust der sogenannten Ortsfestigkeit und dann der Aufenthalt an einem oder sogar an mehreren anderen Orten folgt. Die Gewissheit darüber, dass das Sich-Auf halten für immer sein wird, existiert für den Migranten nicht. Berührungen, Entdeckungen und Erfahrungen mit diesen Orten werden nicht deckungsgleich sein, so dass von einem ortsfesten und Orientierung bietenden Heimat-Begriff nicht ausgegangen werden kann. Vor allem deshalb nicht, weil Migranten bereits eine Heimat haben und diese auch mit sich mittragen. Migration schließt in erster Linie diejenigen Voraussetzungen ein, welche die Entfernung von geographisch-territorialen wie sprachlich-kulturellen Fixpunkten begünstigen und durch diese Entfernung auch die Verräumlichung der Heimat im Kern relativieren.188 Daher befassen sich moderne Heimat-Konzepte mit der Frage, ob es Alternativmodelle zur Codierung der Heimat jenseits rein territorialer Maßstäbe geben kann; wenn ja, welche sind sie?189 Ein mögliches Alternativmodell, das für die Literaturwissenschaft ausschlaggeben ist, wird im Kriterium der Sprache gesucht. Geographisch-territoriale Grenzen lassen sich im Gegensatz zu den sprachlich-kulturellen aufgrund ihrer ontologischen Setzung leichter festlegen, während sprachliche Grenzen f ließender und deshalb auch der Herstellung von Überlappungsräumen dienlich sind. Geographisch-territoriale Grenzen führen außerdem eine determinierende Fixierung des Fremden außerhalb der Heimat herbei und ermöglichen Konfrontationen mit kultureller Alterität, indem sie ausgehend von dem Fremden die Heimat als geschützten oder als zu schützenden Raum begreifen. Die Sprache hingegen ref lektiert den prädestinierten Ort, an dem die Berührung, Entdeckung und Erfahrung der Heimat sich erst gestalten und so auch kommunikativ erfassbar werden.190 Auf der aus dem oppositionellen Verhältnis zwischen den geographisch-territorialen und sprachlich-kulturellen Heimat-Konstruktionen herrührenden Erkenntnis basiert meine These, dass die sprachlichen und ästhetischen Heimat-Konstruktionen in der Literatur traditionelle Heimat-Bestimmungen im Sinne eines historischen und ausschließlich Herkunft orientierten Fixpunktes relativieren. Literarische Heimat-Relativierungen, auf die sich meine Lektüre in diesem Abschnitt konzentriert, spiegeln die Fähigkeit des Individuums – in meiner Lektüre der Migranten-Figur – wider, sich in den und durch die erzählerischen Konstruktionen die historische Heimat zu verwahren, eine neue Heimat zu schaf fen und diese auch individuell zu gestalten. Die ausschlaggebende Frage lautet daher, wie Heimat im Erzählten entsteht und auf welcher theoretischen Grundlage sich die Heimat-Erzählungen erörtern lassen. Ich gehe bewusst 188  Seiler: Heimaten, 2001, 18. 189   Cremer et al.: Heimat in der Moderne, 1990, 33-55. 190  Tafazoli: Heimat denken, 2018, 96-107.

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von Heimat-en als Plural aus, um nicht nur Heimat als Komponente individueller und kultureller Identifikation in der interkulturellen Lesart von Kultur als »plurale tantum«191 zu verorten, sondern auch um das singuläre Verständnis von Heimat im Sinne einer Ortsfestigkeit zu problematisieren. Die Lektüre der Werke wird zeigen können, dass Heimaten der Migranten-Figuren keine ontologische Repräsentationsgröße besitzen, sondern als poetische Raumgestaltung betrachtet werden, die sich gleichzeitig aus Erinnerungen an eine Vergangenheit und als Erfahrungen in einer Gegenwart zusammensetzt. Die Poetik der Heimat macht aus Heimat ein Konglomerat individueller Entscheidungsfreiheit. Die ästhetischen Mittel, aus denen diese Poetik gewonnen wird, ließen sich aus der Fähigkeit plurikulturell profilierter Figuren rekonstruieren. Diese bewegen sich zwischen den Räumen und legen es offen, wie deren Grenzen relativiert, ja sogar aufgehoben werden. Die Konzentration auf Raum und Bewegung ermöglicht, in den literarturwissenschaftlichen Heimat-Diskursen auf die Idee über die »Korrelierung von Raum und Bewegung« zurückzugreifen und so die jeweiligen – auch gescheiterten – »Verortungsversuche« der Heimat aufzeigen.192 An den Narrativen der Migration ließe sich diese Korrelierung daran ablesen, dass die Migranten-Figur ihre Heimat mit sich mitträgt, neue Erfahrung an sie anknüpft und Altes wie Neues ineinandergreifen lässt. Das Anknüpfen und das Ineinandergreifen erzeugen in der Erzählwelt dynamische und prozessuale Vorgänge der Heimat-Entwürfe.193 In diesen Prozessen kann der aktive Heimat-Begriff, der jedem Individuum erlaubt, seine Heimat im Gedächtnis zu verwahren, sie zugleich neu zu denken und zu gestalten, seine Bedeutung wiederfinden.194 Der aktive Heimat-Begriff verweist zum einen auf das historische Verhältnis zwischen Individuum und Heimat; zum anderen bekräftigt er die Rolle des Individuums beim Entwerfen seiner neuen Heimat. Greifen das historische Heimat-Verhältnis und der gegenwärtige Heimat-Entwurf ineinander, so stellt sich die Frage nach der identitätsstiftenden Bedeutung der Heimat für das Individuum neu. Das individuelle Verwahren, Erfahren und Gestalten der Heimat nimmt Abstand von der Idee über die unveränderbare Ortsfestigkeit der Heimat und erweist sich in den Poetiken der Heimat als deren Merkmal. Diese Poetiken verorten die Heimat entlang der ›Netzorte‹195, die zueinander in vielfältige Beziehungen gesetzt werden können, aus deren Vergleich Ähnlichkeiten wie Differenzen wachsen können. Das gleichzeitige Auftreten von Ähnlichkeiten und Differenzen bedeutet in der Perspektive der plurikulturell profilierten Figur, die Fähigkeit anzustreben, Heimat immer wieder neu für sich zu definieren: Ist diese Heimaterfahrung erst einmal gemacht, kann sie mit dem Älterwerden auf immer neue Räume, Institutionen und Kommunikationen übertragen werden. Wir können dann auch neu heimisch werden. Heimaterfahrung kann sich pluralisieren, es gib dann 191  Hamacher: Heterautonomien, 2003, 167. 192 Hallet et al.: Raum und Bewegung in der Literatur, 2009, 27. 193  Eigler: Heimat, Space, Narrativ, 2014, 16-29; Eigler: Critical Approaches to Heimat, 2012, 27-48. 194  Daum: Wo ist Heimat?, 2002, 76. – Der Philosoph Vilém Flusser hat bereits auf die Verbindung von Mensch und Heimat durch ›geheime Fasern‹ verwiesen, deren Trennung die Heimat deshalb bewusstwerden lässt, weil sie diese erst aus dem »unartikuliert[en] Gedächtnis« in das artikulierte versetzt (Flusser: Wohnung beziehen in der Heimatlosigkeit, 2013, 17f., hier 18). 195  Waldenfels: Topographie des Fremden, 1997, 12.

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mehrere Heimaten; sie kann sich entlokalisieren (Aufhebung der Bindung an einen Ort) und enttemporalisieren.196 Damit gehen Überlegungen über den Wandel von einer traditionell definierten und ausschließlich auf einen kollektiv reduzierten Raum von Geburt und Herkunft197 in eine gestaltbare und transformierbare Raumerfahrung über, die ein wiederholtes Heimisch-Werden ermöglicht.198 Die Frage nach dem literarischen Diskurs des Verwahrens und des Entwerfens von Heimat eröffnet der Literaturwissenschaft die Möglichkeit, ihren Heimat-Diskurs in einem Spannungsverhältnis von Sein und Werden zu führen und in Heimat ambigue Beziehungen und Bedeutungen zu erkennen, welche die Möglichkeiten von Kohäsion mehrerer Heimaten offenlegen. Diese Möglichkeiten realisieren sich am Ort der Erzählung, der Heimat zu einem Bedeutungsraum schlechthin gestaltet und selbst ein kultureller Bedeutungsträger wird, der über seine Eigenschaft als Ort der Erinnerung und der Handlung hinaus auch eine bedeutungs- und identitätsstiftende Funktion aufweist. Am Ort der Erzählung avanciert Heimat zu einem codierten Raum literarischer Ref lexion und Produktion; hier wird er lesbar. Es wäre also kaum ertragreich, den literarischen Heimat-Diskurs an Eckpunkten des Eigenen und des Fremden zu fixieren oder auf die der Her- und Ankunft zu reduzieren und Heimat auf diese Weise in ein paradoxes Verhältnis zur Fremde zu setzen. Vielmehr scheint die Suche nach Antworten auf die Frage sinnvoller zu sein, wie Literatur Heimat aus dem unartikulierten Gedächtnis in artikulierte Erinnerungen vertrauter Vergangenheit und gegenwärtiger Erfahrungen transferiert, und in welchem Verhältnis diese Erinnerungen zu den jeweiligen Erfahrungen über individuelle und wechselnde Heimaten stehen. Um Letzteres auch erzähltheoretisch kenntlich zu machen, wird von erzählten Heimat-en199 gesprochen. Das Verständnis von erzählten Heimaten findet sein Beispiel in Maria 196  Winter: Zum Diskurs über Heimaterfahrung, 2006, 356. Hervorh. von H.T. 197 Siehe zu den Schwerpunkten Ecker: Heimat, 1997, 7-31. Andrea Bastian gibt in ihrer Studie zum Heimat-Begriff einen ausführlichen Überblick über die Entwicklung und die Bezugsbereiche des Begriffs aus historischer, sprachlicher, alltagsbezogener, politischer, religiöser und nicht zuletzt auch literarischer Perspektive (Bastian: Der Heimat-Begrif f, 1995); siehe zur Analyse des Heimat-Begriffes beim Aufkommen des deutschen Nationalgeistes Schaefers: Unterwegs in der eigenen Fremde, 2010, 46-57; zur Auseinandersetzung mit dem Bedeutungswandel des Heimat-Begriffes und Systematisierung der Bedeutungsvielfalt aus sozialgeschichtlicher Perspektive zwischen den 1960er und der Mitte der 1980er Jahre Bolten: Heimat im Aufwind, 1986, 23-38. Will Cremer und Ansgar Klein verschaffen in Heimat in der Moderne einen Überblick über die Geschichte des Heimat-Begriffes bis hin zu seiner Renaissance (Cremer et al.: Heimat in der Moderne, 1990, 35-37). Andrea Lobensmeier untersucht in ihrer Studie zwar Heimat-Konzepte der Zeit zwischen 1989 und 2001, diesen geht aber eine historische Analyse zwischen dem Mittelalter und der Gegenwart voraus (Lobensmeier: Die Suche nach »Heimat«, 2010, 63-105). 198   So diskutiert Rainer Piepmeier den modernen Heimat-Begriff in einem Diskurs mit Max Frisch, Claude Lévi-Strauss, Helmut Heißenbüttel und Ernst Bloch im Kontext einer systematischen Bedeutungsanalyse und im Sinne von Waldenfels’ gelebtem Raum als »Bereich realer Lebenswelt« (Piepmeier: Philosophische Aspekte des Heimatbegrif fs, 1990, 96), der zu gestalten sei und subjektiv angeeignet werde; somit sei Heimat gebunden an »den empfindenden, handelnden, arbeitenden, denkenden Menschen« (ebd., 97). 199 Siehe hierzu vor allem das Kapitel zu »Narrativ and Space« in Eigler: Heimat, Space, Narrativ, 2014, 31-50 und Bhabha: DissemiNation, 1990, 291-322.

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Gabrielle Ambrosionis Lektüre von Czeslaw Milosz (1911-2004), wenn Heimat hier der »space of memory and words«200 im Prozess des Schreibens genannt wird. Heimat als Raum der Erinnerung und Sprache stellt in der deutschsprachigen Literatur keinen Ausnahmefall im Sinne einer Migrationsliteratur dar. Vor dem Hintergrund der deutschsprachigen Diskurse der Heimat wird im Folgenden der Frage nachgegangen, wie der Ort der Erzählung einen Heimat-Diskurs führt und inwiefern das deutsch-iranische Migrationsgedächtnis diesen Diskurs mitgestaltet.

4.2.2 Potentiale deutschsprachiger Heimat-Diskurse In der Frage nach dem Erzählort der Heimat im deutsch-iranischen Migrationsgedächtnis kann der literaturwissenschaftliche Heimat-Diskurs auf die deutschsprachige Literatur seit den achtziger Jahren zurückblicken und dabei (kultur-)theoretische Konzepte der Heimatforschung auf die Frage hin untersuchen, inwiefern der literarische Heimat-Diskurs die kulturtheoretische Idee einer Distanzierung von territorialen, nationalistischen und ideologischen Heimat-Konzepten201 in der Literaturwissenschaft anstrebt. Die im Zusammenhang mit der These über die Wende zum Raum besprochenen geopolitischen Verhältnisse und veränderten Kommunikationsstrukturen spiegeln sich in den literarischen Assoziationen mit der Heimat-Teilung während des Kalten Krieges einerseits und in den neuen Formen der Heimat-Werdung nach der Wiedervereinigung andererseits wider. Hinzukommen die Assoziationen über den Verlust nationaler und regionaler Besonderheiten in Folge von Migrationsprozessen und die Zusammenführung dieser Assoziationen mit Gefühlsmomenten der Sorge und Angst um die eigene kulturelle Identität. Assoziationen mit dem Verlust der kulturellen Identität durch Migration führen dazu, dass die sogenannte Zielgesellschaft sich in der Frage nach der Migration in einem Spannungsverhältnis von kultureller Entfremdung und Abschottung befindet. Dieses Spannungsverhältnis kann eine Identitätskrise herbeisteuern, sofern der Heimat unveränderbare identitätsstiftende Aspekte zugeschrieben werden. Dies wird schließlich zur Verstärkung von Verteidigungs- und Schutzmechanismen führen. Dieses Spannungsverhältnis entspringt der emotionalen Bindung an die Heimat und ist überaus komplex. Es entsteht, wie Norbert Mecklenburg beispielsweise im Heimatkomplex Die grünen Inseln (1987) geschildert hat, im verstärkten Maße durch ein Bewusstwerden der Heimat bei der Verknüpfung von Hinwendung auf das Naheliegende und dem gleichzeitigen Anspruch auf die Bewahrung des Besonderen und Individuellen unter Berücksichtigung von der Sorge um die Erhaltung von Bedingungen des Überlebens.202 Diese Beschreibung des Spannungsverhältnisses suggeriert eine negative203 Einschätzung dessen, in dem eine wie 200  Ambrosioni: Global Exil, 2000, 261. In ihrer Auseinandersetzung mit dem Werk von Czeslaw Milosz und basierend auf ihrer These, dass Heimat für ausgewanderte Schriftsteller lediglich in ihrem Gedächtnis und ihrem Schreiben existiert, stellt Maria G. Ambrosioni fest: »Milosz and the poets of Eastern Europe have refused to lose their cultural memory and they have believed in the forcefulness of poetry as a necessary human act« (ebd., 262). 201  Bormann: Geborgenheit im Widerspruch, 1985, 9-11. 202 Vgl. auch Winter: Zum Diskurs über Heimaterfahrung und -verlust in literarischen Texten der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, 2006, 352. 203   Ebd., hierzu die Begriffskette ›zerstörerische Tendenzen unserer Industriegesellschaft‹.

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auch immer geartete ›Zerstörungsgefahr‹ für die Heimat vermutet wird. Heimat könne also mit dem Anspruch auf Identifikation und Existenz dem global-industriellen Spannungsverhältnis kaum Stand halten und sei folglich von Zerstörung bedroht.204 Dass die Auffassung über eine unbegründete und angebliche Zerstörung der Heimat nur eine Absurdität darstellt, zeigen die wiederkehrenden Konjunkturen der Heimat seit den achtziger Jahren. Die ästhetische Umsetzung dieser Konjunkturen erprobt die Heimat-Trilogie von Edgar Reitz (*1932) vorbildlich. Der erste Teil Heimat – eine deutsche Chronik205 handelt von der Geschichte Maria Simons (1900-1982) – gespielt von Marita Breuer – zwischen ihrem 19. und 82. Lebensjahr und einem ländlichen Leben im Hunsrück. Der zweite Teil Die zweite Heimat – Chronik einer Jugend (1992) erzählt die Geschichte Hermann Simons von seinem Abitur (1960) über das Musikstudium bis hin zur Rückkehr in die Heimat (1970).206 Wie im ersten Teil sind auch hier die Privatund Zeitgeschichte miteinander verwoben. Im zweiten Teil richtet sich die Perspektive von dem dörf lichen Raum der Heimat auf das Milieu der künstlerischen Avantgarde in der Münchner Studentenszene der sechziger Jahre.207 Im dritten Teil Heimat 3 – Chronik einer Wende (2004), der wiederum hauptsächlich im Hunsrück spielt, werden die Charaktere aus den beiden vorausgegangenen Teilen zusammengeführt. Die Geschichte steuert auf den Fall der Berliner Mauer zu, spiegelt die mit dem Mauerfall verbundenen gesellschaftlichen Veränderungen der neunziger Jahre und schließt mit dem Jahr 2000. Dieses Ende deutet den Übergang zum neuen Millennium an. Reitz’ Heimat-Trilogie thematisiert die Epoche des Vormärz am Beispiel der Auswanderung aus dem Hunsrück nach Brasilien in der Mitte des 19. Jahrhunderts.208 Heimat wird als Besitz, Konstrukt und als »etwas Schönes«209 in Frage gestellt und in ihrer begriff lichen Bedeutung für Nationalität und Herkunft mit dem Veränderungspotential kultureller Identitäten kontrastiert. Transformationen bleiben also nicht allein auf die Gesellschaft beschränkt, sondern vollziehen sich auch in dem Gebilde, das Heimat zu erfassen angibt.210 An der Heimat-Trilogie lassen sich in Schilderungen kultureller und politischer Veränderungen die mit ihnen einhergehenden kulturellen Umwälzungen ablesen. Diese lassen sich nicht losgelöst von gesamteuropäischen Veränderungen begreifen. An den Netzorten kultureller Umwälzungen stellen der Fall der Berliner Mauer als iconic image, die Wiedervereinigung Deutschlands 204 Das zwiespältige Verhältnis zur Heimat und die doppelte, bisweilen widersprüchliche Dimension des Heimat-Begriffes in seiner Nachkriegsgeschichte wird von Jürgen Bolton als »Zerfalls- und Veränderungsgeschichte« bezeichnet (Bolton: Heimat im Aufwind, 1986, 24). 205   Er wurde in den Jahren 1981/1982 gedreht und 1984 gezeigt. 206   Marias Sohn, das Hermännchen, wird in je verschiedenen Lebensabschniten von Jörg Richter, Peter Harting und Henry Arnold gespielt. 207   Siehe zur Diskussion in Mecklenburg: Heimatsuche, 1983, 591-603. 208  Historisches Dorf für neuen »Heimat«-Film, 2011; SWR-Bericht mit einem Interview mit Edgar Reitz, 2012. 209   Reitz: Heimat ist keine heile Welt, 2007, 69. 210   Sowohl Reitz’ medial konstruiertes Heimat-Konzept als auch die Auseinandersetzung mit der Sozialgeschichte der Heimat im spezifischen Blickwinkel der Heimatliteratur als Genre (Glaser: Neue Heimatliteratur, 1997, 636f.) führen den Beweis, dass Heimat angesichts soziokultureller Veränderungsprozesse ihre Funktion als Schutz- und Identitätsraum und ihre singuläre Form allmählich verliert.

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und das Auseinanderfallen des Sozialismus prägende Momente dar. Wie die Analyse soziopolitischer Identitätsarbeit im letzten Kapitel gezeigt hat, beschreiben diese Momente auch kulturelle Umwälzungen; sie spiegeln den Zusammenbruch der Metaerzählung wider und können als »symptomatisch für die postmoderne Verfassung der Gegenwart«, die selbst durch eine »Abkehr von Totalitätsmodellen« gekennzeichnet ist, bezeichnet werden.211 Der Fall der Berliner Mauer, die deutsch-deutsche Wiedervereinigung und das Auseinanderfallen des Sozialismus lassen sich im literarischen Diskurs des deutsch-iranischen Migrationsgedächtnisses als Narrativen betrachten, die in der Darstellung der Heimat im Spannungsfeld von Vergangenheit und Gegenwart grundlegende kulturelle Umwandlungen erfassen und die Symbolik neuer Ordnungen ausdrücken. Ich gewinne aus Reitz’ Heimat-Trilogie die Erkenntnis, dass für die Auffassung einer Heimat mindestens zwei Perspektiven eröffnet werden sollten. Die eine Perspektive erfasst Vergangenes; ihre Inhalte sind an Erinnerungen gebunden. Aus diesem Blickwinkel ist Heimat ein Konstrukt im individuellen und kulturellen Gedächtnis. Wird sie in diesem Gedächtnis verwahrt und gepf legt, kann sie nicht wirklich verloren gehen. Die andere Perspektive ist die des Gestaltens; ihre Inhalte sind an Empfindungen und Erfahrungen gebunden, die ein Individuum in seiner Gegenwart macht und das kulturelle Gedächtnis der Zukunft stiftet. Das Gestalten der Heimat ist keine Angelegenheit der Stunde Null, sondern schließt an das kulturelle Gedächtnis. In der Erzählung erprobt es Versuche, die dieses Gedächtnis in der Gegenwart lesbar machen und es für die Zukunft offenhalten. Als erzählerisches Produkt des Verwahrens und Gestaltens ist Heimat und all das, was sie an Zeichen, Symbolen und Bedeutungen enthält, polyperspektivisch. Die Beschäftigung mit dem deutsch-iranischen Migrationsgedächtnis am Beispiel der individuellen und kulturellen Identitätsarbeit hat ferner gezeigt, dass gesellschaftliche Umwandlungen dann in das kulturelle Bewusstsein treten, wenn die Gesellschaftsmitglieder das Bedürfnis von Modifikation und Vergewisserung ihres kulturellen Selbstbildes bemerken. In den Prozessen identitätsstiftender Modifikation und Vergewisserung spielt Heimat als Kriterium der kulturellen Identifikation eine herausragende Rolle. Basierend auf meiner Diskussion, kulturelle Transformationen ließen sich an der individuellen und kulturellen Identitätsarbeit ablesen, steht nun die Frage im Zentrum, welche Bedeutung Heimat in den Verf lechtungen der Identifikation und Transformationen hat. Es ist anzunehmen, das deutsch-iranische Migrationsgedächtnis problematisiere einerseits die angenommene Diskrepanz zwischen Heimat und Migration, relativiere diese andererseits, indem es Erweiterungsmodelle der Heimat-Entwürfe im Wirklichkeitskomplex kultureller Identifikationen vorstellt. Der literaturwissenschaftliche Heimat-Diskurs bespricht solche Entwürfe bereits am Beispiel von deutsch-polnischen Heimat-Ref lexionen und weist nach, dass die Befreiung des Menschen aus den gegebenen und eingegrenzten Räumen der Geschichte sowie seine Aneignung neuer und poröser Lebensräume seine Heimat-Vorstellung nicht unberührt lassen.212 Darüber hinaus bestätigt dieser Diskurs die These über »mobile sense of Heimat«213 und die Auslegung des Heimat-Begriffs als »relative

211  Lützeler: Europäische Identität in der Postmoderne, 1993, 100. 212  Eigler: Heimat, Space, Narrativ, 2014, 13-29. 213 Boa et al. (Hgg.): Heimat, 2000, 207.

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term« mit »multiplicities of meaning«214. Davon ausgehend kann der literaturwissenschaftliche Diskurs der Heimat in dieser eine bedeutungstragende und bedeutungskonstruierende Instanz sehen, welche die individuelle wie kulturelle Identifikation und ihre Transformationen ermöglicht und steuert. Als solch eine Instanz erfüllt Heimat eine ähnliche Funktion wie Europa und Sprache. Wenn ich nun ausgehend von den Überlegungen über den Erzählort der Heimat die Behauptung aufstelle, Sprache bewege die Heimat und vice versa, so möchte ich zwei Aspekte diskutieren. Erstens: die literarische Konstruktion von Heimat in dem Spannungsverhältnis des Historischen und des Gegenwärtigen. Zweitens: die (literatur-)wissenschaftliche Bedeutung der Heimat und deren Begriff im Sinne der Befreiung von festgesetzten Konzeptionen215 hin zu identitätsstiftenden Konstruktionen. Sprache, mit ihr auch Literatur entwerfen an Heimat einen Ort, an dem Erinnerungen, Gegenwarts- und Zukunftsideen ihre Artikulationsformen finden. Meine Diskussion beruht auf dem Vorschlag über »liberation of space«216 und sieht in Heimat ein »frame of mind«217. Der Ausdruck frame lässt zwar die Bindung der Heimat an einen Ort erkennen, durch die Idee der liberation aber wird deutlich, dass solch ein Ort keineswegs ontologisch verstanden werden kann, sondern stets neu gedacht und definiert werden muss.218 Dieser Prozess setzt voraus, dass das Individuum in Variationen einer mindestens »doppelten Bewegung der Entfernung und Annäherung«219 lebt und seine Heimaten dementsprechend auch denkt.220 Am Motiv der Rückkehr wurde im letzten Kapitel deutlich, dass die Migranten-Figur beide Voraussetzungen erfüllt. Die Bewegungs- und Denk-Variationen erlauben, in Heimat Vorstellungen zu entdecken,221 die inhaltlich mit Raumerfahrungen genauso besetzt werden können wie mit Erinnerungen, Gefühlen und emotionalen Qualitäten von Flucht, Exil und Migration. Sie gehen alle von sich bewegenden Subjekten aus, die Erfahrungen, Erinnerungen und Emotionen situationsbedingt und eigenwillig semantisieren, ordnen und verorten. Insofern befindet sich Heimat im Sinne von Erzählorten der Migranten-Figuren in Prozessen des Erinnerns und Gestaltens zugleich. Heimatentwürfe der Migranten-Figuren werden somit von dem oppositionellen Verhältnis von 214  Blickle: Heimat, 2002, 4. 215   Eigler beschreibt die Herstellung einer solchen Konzeption auf der Grundlage ontologischer Kriterien und Konnotationen (Eigler: Critical Approaches to Heimat, 2012, 27f.). 216   Soja: Postmodern Geographies, 1989, 12. 217 Boa et al. (Hgg.): Heimat, 2000, 195. 218  Daum: Wo ist Heimat?, 2002, 73; Blickle: Heimat, 2002, 4. – Heimat wird in Hermann Bausingers Diskussion über Globalisierung und Heimat »überall ein bisschen und je nach Situation« beschrieben; dem »Heimatlichen« wird eine Vielfalt zugesprochen, von der »Heimatbezüge und Heimatgefühle profitieren« (Bausinger: Globalisierung und Heimat, 2002, 75). 219  Waldenfels: Der Ort der Heimat, 2007, 24. 220  Schumann: Heimat denken, 2002, 235f. 221   So etwa in José Jiménez’ Worten über die »verlorene Heimat« (Jiménez: Heimatlos, 1992, 173-177); Schlink: Heimat als Utopie, 2000; Eigler: Heimat, Space, Narrative 2014, 1, 3; Bossle: Heimat als Daseinsmacht, 1990; Applegate: A Nation of Provincials, 1990. – Heimat als Utopie signalisiert einen unerreichbaren (Flucht-)Ort, der durch ihre Abwesenheit inszeniert werde. So wird sie zu einem Nicht-Ort. Allerdings bedeutet Heimat als Utopie oder als Nicht-Ort zunächst, von ihr als Räumlichkeit auszugehen, bevor ihr diese Räumlichkeit abgesprochen wird. Das Verstehen der Utopie als Nicht-Ort kann es aber nur geben, wenn die Utopie auf einen festen Ort bezogen werde (Lobensommer: Die Suche nach »Heimat«, 2010, 90-92).

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Eigenem und Fremdem befreit. Die Gegenüberstellung von Heimat und Fremde geht auf die Frage nach dem scheinbar oppositionellen Verhältnis von Raum und Ort zurück, wie es etwa von Emmanuel Levinas in Heidegger, Gagarin und wir diskutiert wurde.222 Für dieses Verhältnis interessiert sich die Phänomenologie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf eine besondere Weise und ist bestrebt, Erkenntnisse nur ausgehend von der Erfahrung zu gewinnen. Die Bestrebung führe der gegenwärtigen kulturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Raum zufolge dazu, Subjektivität radikaler zu erfassen und von den Empfindungen des Ich auszugehen.223 Diskussionen über Heimat in den achtziger und neunziger Jahren thematisieren die Opposition von Heimat und Fremde weiterhin. Dabei werden diejenigen Aspekte einer Kritik unterzogen, die Heimat und Fremde als eine sich ausschließende räumliche Erfahrung betrachten und dem Ersteren eine Orientierungsfunktion für individuelle und kulturelle Verortung zuschreiben, indem sie Heimat das Vermögen zur Schaffung von Identität, Vertrautheit und Geborgenheit als Konstanten beimessen. Dieses Vermögen macht aus Heimat einen »orientierten Raum«224, der durch das Auftreten des Fremden deshalb gestört wird, weil dieses Auftreten in den »orientierten Raum« eines Anderen dieses in dessen an räumlichen Orientierungen gebundener Vertrautheit verunsichert. Beim oppositionellen Verhältnis von Heimat als identitätsstif tender und Fremdem als identitätsstörender Instanz erweist sich die territoriale Funktion der Heimat als Verortung der Nation weiterhin als problematisch, denn diese Funktion schreibt der Heimat eine Bedeutung zu, auf deren Grundlage das Fremde per se zu einer Gefahr und Bedrohung, die Heimat hingegen als schutzbedürftig erklärt wird. Ergänzt wird die Dichotomie von Heimat und Fremde bei der Erweiterung des Letzteren als Instanz, in der die Erfahrung über Heimweh gemacht werden soll. Es heißt, Heimat und Heimweh bedingten sich; dagegen wird aber argumentiert, dass erst der Abstand und Verlust der Heimat in der Fremde Heimat in das Bewusstsein rückt.225 »Nach der Erfüllung des Fernwehs«, wird behauptet, erscheine »die Heimat als wiedergewonnener glanzvoller Wert«.226 Der Widerspruch von Heimat und Fremde wird schließlich dadurch aufgehoben, dass sie lediglich eine notwendige Orientierung der »Erfahrungsräume«227 im Sinne von »Geborgenheit und Unbewußtheit« und »Verlorenheit und Bewußtsein« bieten.228 Ein Widerspruch von Heimat und Fremde geht aus dem deutsch-iranischen Migrationsgedächtnis nicht hervor. Was sich in diesem Gedächtnis als bemerkenswert erweist, ist die Art und Weise, wie die ästhetischen Heimatentwürfe zwischen Heimat und Fremde stets neu zu denkende Relationen auf bauen; diese Relationen bewegen Heimat und Fremde auf eine eigenartige Weise, die noch zu zeigen ist, zueinander. In der Diskussion über die Identitätsarbeit im Zusammenhang mit dem Motiv Rückkehr wurde gezeigt, wie sich die Migranten-Figur zwischen Heimat und Fremde bewegt, wie sie sich in der historischen Heimat entfremdet und sich in der Fremde beheimatet. 222  Levinas: Heidegger, Gagarin und wir, 1992, 173-176. 223   Günzel: Raum, 2017, 46. 224  Waldenfels: Heimat in der Fremde, 1990, 110. 225  Krockow: Heimat, 1990, 56-69. 226  Bossle: Heimat als Daseinsmacht, 1990, 126. 227  Erdheim: Heimat, Geborgenheit und Unbewusstheit, 1992, 39. 228 Ebd., 52.

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Solche Umwandlungen lassen sich aus der Erinnerungs- und Identitätsarbeit der Migranten-Figur auch am Beispiel von Heimat rekonstruieren. Sie geben darüber Aufschluss, wie Heimat in Erinnerungen verwahrt und wie sie gestaltet werden soll. Im Erzählort des deutsch-iranischen Migrationsgedächtnisses repräsentiert Heimat keine Ontologie; im Gegensatz: Sie wird an diesem Ort durch Erinnerungen, Empfindungen und Erfahrungen gestaltet, die von interkulturell profilierten Figuren erzählt werden, die sich in den vielschichtig individuellen und kulturellen Zusammenhängen immer wieder neu bewegen und verorten. Mit ihren Erzählungen verlegen die Figuren Heimat in das Reich der Sprache und führen einen literarischen Diskurs der Heimat, der diese entgegen allen Behauptungen über Heimat als Fixpunkt der Geschichte zu einem Erinnerungs-, Erfahrungs- und Wunschraum avanciert. Wenn in ihren Erzählungen Geschichte und Gegenwart, das wie auch immer geartete Iranische und Deutsche ineinander greifen und eine kulturelle Synchronität erzeugen, die in der Heimat auch Möglichkeitsräume kultureller Auseinandersetzungen zu sehen erlaubt, so ließe sich an Heimat Inhalte und Semantiken ablesen, die diesen Ort im Modus des Erzählens zu einem interkulturellen Ort profilieren. Die interkulturelle Profilierung der Heimat im literarischen Diskurs erklärt den theoretischen Anspruch (literatur-) wissenschaftlicher Art auf der Rezeptionsseite. Heimat am Erzählort des deutsch-iranischen Migrationsgedächtnisses gestaltet sich außerdem im Spannungsverhältnis von Nostalgie und Utopie.229 Poetische Konstruktionen dieses Spannungsverhältnisses ermöglichen, Heimat im literaturwissenschaftlichen Diskurs außerhalb von einem eingegrenzten, geschlossenen Raum mit einer physikalischen Entsprechung zu betrachten. Die 1980er Jahre als Zeitraum, in dem die deutschsprachige Literatur den Diskurs des deutsch-iranischen Migrationsgedächtnisses zu gestalten begann, kann in den literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit Heimat deshalb einen Wendepunkt einleiten, weil in diesem Zeitraum auch die Potentiale deutschsprachiger Heimat-Diskurse sich in den wiederkehrenden Konjunkturen der Heimat, die Ref lexionen kultureller Transformationen als Bestandteil ihres Diskurses integrieren, zeigen. In diesem Zeitraum kann daher die Suche nach Alternativmodellen der Heimat-Konstruktion im Hinblick auf die Wirklichkeitskomplexe der Heimat als identitätsstiftenden Kriteriums einsetzen. Eines dieser Modelle, das für die Literaturwissenschaft folgenreich ist, betrachtet in der Sprache und so auch in der Literatur das Medium zum Heimatentwurf. Literarische Heimatentwürfe machen Heimat erinnerbar, erfahrbar, lesbar und schließlich auch interpretierbar. In diesem Erzählort, der mit Hilfe interkultureller Schreibweisen Ausdruck findet, verortet sich Heimat in einem Spannungsfeld von Verwahren und Gestalten. Diese Verortung wird im Folgenden in einer Reihe von Motiven und Symbolen noch erörtern. Ihre Analyse wird erstens belegen können, dass Heimat im literarischen Diskurs aus einer Mischung von Erinnerungen, die das Gedächtnis freigibt (Verwahren), und von Suche, die sich aus der aktiven Teilnahme von Figuren an der ausgestatteten Erzählwelt zusammensetzt (Gestalten), erst gewonnen wird. Die Ablösung des oppositionellen Verhältnisses von Heimat und Fremde sowie die Entterritorialisierung der Heimat ermöglichen zweitens, in der interkultu229   Damit setze ich im Rekurs auf die Diskussionen in interdisziplinärer Sicht auseinander und verzichte auf die begriffliche Problematisierung (siehe Voßkamp: Interdisziplinarität in den Geisteswissenschaf ten, 1987, 94).

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rell profilierten Figur eine Instanz zu sehen, die Prozesse der literarischen Kohäsion vom Erinnern und Erfahren in der ausgestatteten Erzählwelt maßgeblich steuert. Sie lässt drittens zu, Heimat und Migration nicht als gegenseitige Ausschlusskriterien zu betrachten. Hieraus folgend kann die Annahme über die Existenz des Eigenen zugunsten der Absenz des Fremden verworfen werden. Als diskursiver Erzählort ließe sich Heimat im Sinne einer geistig und kulturell gestaltbaren Sphäre interpretieren. Dieses Gestalten, weil es sich in der literarischen Kohäsion von Erinnerung und Erfahrung im Modus des Erzählens vollzieht, schreibt Heimat eine doppelte Bedeutung zu: Zum einen geben Erinnerungen Heimat eine bestimmte Form; zum anderen legen Erfahrungen die Relativität dieser bestimmten Form offen. An Ref lexionen von Erinnerungen und Erfahrungen am Erzählort der Heimat soll erörtert werden, dass die ontologische Bindung der Heimat an Räumen des Ursprungs und der Herkunft für den globalen Heimat-Diskurs kaum fruchtbar sein kann.230

4.2.3 Heimat verwahren – Heimat gestalten Das deutsch-iranische Migrationsgedächtnis beschreibt Heimat als Ort, an dem Erinnerungen verwahrt und Erfahrungen gemacht werden können. Erzählung ist das Medium, in dem Erinnerungen und Erfahrungen Ausdruck finden. Das Erzählen entfaltet Heimat zu einem vielschichtigen Motiv und befreit sie folglich von der Idee über einen teilbaren Raum von Her- und Ankunft. Im Erzählort Heimat koexistieren Vergangenes und Gegenwärtiges, Erinnerungen und Erfahrungen. Der Heimat-Diskurs des deutsch-iranischen Migrationsgedächtnisses spiegelt die Koexistenz wider und zeigt im Kontext der deutschsprachigen Literatur der Gegenwart, wie der literarische Diskurs der Heimat diese zu einem pluralen Konstrukt avanciert. Das Motiv der nie endenden Suche, das bereits im Zusammenhang mit der Identitätsarbeit der plurikulturellen Figur diskutiert wurde, spielt auch hier eine zentrale Rolle und demonstriert, wie diese Figur die Fähigkeit des Heimisch-Werdens an den Netzorten der Geschichte und Gegenwart entwickelt. In diesen Prozessen nimmt der Wunsch nach einer Einbindung ins soziale Umfeld allem Anschein nach zu, je ausgeprägter die Migrationserfahrung ist. Ref lexionen über Vereinsamung als Manko des Exils belegen das Verlangen nach dieser Art der Identifikation. Das Beispiel von SAID zeigt, dass Migrations- und Ausgrenzungserfahrungen sich zwar gegenseitig bedingen,231 die Figur des Migranten aber dennoch um das Überwinden der Vereinsamung bemüht ist. Sein Motiv der Rückkehr beschreibt, dass die Überwindung in der Erzählwelt mit der Erkenntnis über die Unmöglichkeit, die alte Heimat tatsächlich wiederzugewinnen, ansetzt. Erst diese Erkenntnis führt die Figur zur Suche nach einer alternativen Heimat. Allerdings scheint dieser Alternativort kein Negationsort der alten Heimat zu sein, sondern vielmehr ein Raum zur Verwahrung und zur Gestaltung. Am Motiv der Suche kann beides abgelesen werden. Durch das gleichzeitige Verwahren und Suchen gestaltet das Ich seine Heimat. Prozesse der Verwahrung schlagen sich in individuellen Erinnerungen nieder und begleiten die Erfahrungsmomente am neuen Heimat-Ort in der Gegen230 Folgende Studien diskutieren die Theorie ausführlich: Boa et al. (Hgg.): Heimat – A German Dream, 2000, Blickle: Heimat, 2002, Moltke: No Place like Home, 2005. 231   Siehe zur Problematik des Exils, der Migration und Heimat unter Berücksichtigung der Vereinsamung Bauer: Die mitgeschleppte und die ausgedachte Heimat der Exilierten, 1986, 25-34.

4. Der Mythos Europa – die Metapher der Heimat – die Macht der Sprache

wart der Erzählwelt. So wie das Subjekt mit der infolge des Abschieds von seinem Herkunftsort eingetretenen Isolation bricht, befreit es auch die Heimat aus der Reduktion auf einen Fixpunkt Herkunft. Das Gestalten der Heimat durch das Ich erfolgt wie die Identitätsarbeit durch und in der Sprache, so dass die Sprache ihre identitätsstiftende Funktion nicht nur weiter besitzt, sondern im Diskurs der Heimat auch verfeinert. Sie wird nämlich selbst zur Heimat. Sprache als Ort der Heimat erweist sich in SAIDs Schreib-Szene als Metapher für Projektion und Imagination und entwickelt sich zu einem kulturellen Raum der Identifikation. SAIDs Ich ist zwar namenlos, aber nicht heimatlos. Es bewegt sich nicht auf einer Brücke des ›Dazwischen‹; genauso wenig beabsichtigt es, für die eine oder die andere Heimat eine bindende Entscheidung zu treffen. Es konstruiert seine Heimat so, dass es sich in ihnen bewegen und sie immer wieder aufs Neue suchen kann. Die Reduktion auf eine Heimat ist nicht mehr möglich, so dass Heimat ihren singulären Ort verliert. Was dieses Ich empfindet, lässt sich vielleicht so beschreiben: »Ich bin heimatlos«, schreibt Vilém Flusser ironisch, »weil zu zahlreiche Heimaten in mir lagern«.232 Die Konstruktionsgeschichte poröser und liminaler Räume der Heimat geht auf literarische Versuche in den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts zurück und fehlt so mit den Konstruktionsanfängen des deutsch-iranischen Migrationsgedächtnisses zusammen. Diese Versuche deuten bereits in ihren Anfangsphasen auf ein plurales Verständnis von Heimat hin. Sie sind jedoch nicht allein ein Charakteristikum dieses Gedächtnis, sondern hinterlassen ihre Spuren auch im deutsch-türkischen Migrationsgedächtnis. Osman Engins Essay Der Deutschling (1987) etwa handelt von der Geschichte eines Mannes, der in der Türkei geboren wurde und bereits lange in der Bundesrepublik Deutschland lebt. Engins’ Migranten-Figur agiert in wechselnden Räumen und Zeiten und gestaltet gleichzeitig die Prozesse seiner Heimat-Suche in der Bundesrepublik und der Türkei. Nach siebzehn Jahren in der Bundesrepublik kehrt sie in die Türkei zurück und beschreibt das Heimat-Gefühl folgendermaßen: Entweder habe ich wirklich Heimweh nach Deutschland oder ich habe mich in all den Jahren in Deutschland so daran gewöhnt, Heimweh zu haben, daß ich es jetzt immer noch habe, obwohl ich längst in der Türkei bin.233 Engins Ich-Figur beschreibt Heimweh nicht allein als Folge des Bewusstwerdens einer historischen Heimat, sondern erweitert es auf seine gegenwärtige Heimaterfahrung und ironisiert das Verhältnis zu einer singulären Heimat, indem sie sowohl in Deutschland als auch in der Türkei von Heimweh geplagt wird. Aus diesem Exempel geht zwar das Bewusstwerden der historischen Heimat infolge der Entfernung hervor; 234 es bekräftigt aber zugleich die Koexistenz beider Orte. In Engins Kurzerzählung werden mittels der Perspektive von außen, die durch das Sich-Entfernen von der Heimat entsteht, die Selbstverständlichkeit einer Heimat als fixen Ortes hinterfragt. Dieses Beispiel leitet zu der grundsätzlichen Frage, wie die Erzählwelt Erfahrungen von immigrierten Figuren mit dem Aufeinandertreffen der historischen und der

232  Flusser: Wohnung beziehen in der Heimatlosigkeit, 2013, 15. 233  Engin: Der Deutschling, 1987, 55. 234  Winter: Zum Diskurs über Heimaterfahrung, 2006, 353.

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gegenwärtigen Heimat ref lektiert und wie die Sprache als Medium zur Schilderung von Erinnerungen und Erfahrungen sich selbst zu einer Heimat profiliert.

4.2.3.1 Erzählte Heimaten Erinnerungen und Erfahrungen von Figuren, die am Gewebe des deutsch-iranischen Migrationsgedächtnisses partizipieren, gestalten die Heimat für diese Figuren in einer Weise, die den singulären Ort der Heimat hinterfragt und die Heimat entterritorialisiert. Die Konstruktion der Heimat als Erzählorts führt dazu, dass Heimat selbst zum Gegenstand und Motiv der Schreib-Szene wird. Als ein solches Motiv macht sie Vergangenes zugänglich und belebt Gegenwärtiges. Aus der Verf lechtung von Erinnerungen und Erfahrungen wächst ein Heimat-Konstrukt, das seine Bedeutungen im Modus des Erzählens erst erfährt. So wird Heimat im Erzählen mehrfach und vielschichtig codiert. Ihre Mehrfachcodierung verdankt sie der Migranten-Figur, die aufgrund ihrer interkulturellen Profilierung das Privileg besitzt, die erzählten Orte der Heimat zu durchstreifen. Erzählte Heimaten sollen auf die Mechanismen von Bedeutungskonstruktion und Mehrfachcodierung anspielen. Sie lassen sich nicht auf ein bestimmtes Territorium übertragen, sprengen so auch das normative Verständnis von Heimat und entwerfen schließlich ein Konzept, das die Revision von Heimat-Konzepten im literaturwissenschaftlichen Kontext der poetischen Alterität nahelegt. Erzählte Heimaten gestalten die Heimat zu einer geistigen und kulturellen Sphäre der individuellen und kulturellen Identifikation. Ein prädestiniertes Beispiel für eine solche Heimat-Konstruktion ist Kermanis Roman Große Liebe. In der Erzählwelt dieser Jugendliebe ergänzen sich die historischen und die gegenwärtigen Heimat-Orte mit Hilfe der Metapher Land der Lieblingslektüre, die bei der Erzählung über die Liebeserfahrung des verliebten Jungen erst ihre Bedeutung gewinnt. Bemerkenswert ist die Zusammenführung von Land und Lektüre. Während das eine die Semantiken eines territorialen Verständnisses besitzt, versetzt das andere die Heimat in das Reich der Sprache. Diese Zusammenführung findet in der Erinnerungsarbeit des Ich-Erzählers statt. Das Erzählen dieser Erinnerungen in der Gegenwart der Ich-Perspektive einerseits und die Erfahrungen des verliebten Jungen andererseits erzeugen in der Erzählwelt ein vielschichtiges »Gewebe«235, in dem die Heimat ihre Bedeutung im Ort wie im Text erfährt. Die reziproke Verbindung zwischen Land und Lektüre wird durch die Liebe und deren spezifische Deutung in der persischen Mystik hergestellt. Die mystische Liebe dient insofern als Chiffre, als sie der Heimat eine literarische Dimension verleiht und sie daher nicht unmittelbar erfahrbar werden lässt. Mit der Chiffre der Mystik wird Heimat in die Dichtung versetzt und lesbar gemacht. Die lesbare Heimat des Jungen wird in der Erzählwelt nicht unmittelbar erfahren, sondern lässt sich mit Hilfe von Codes dechiffrieren. Zu den Chiffren gehören der Dichter Hafez oder die Namen und Texte iranischer und arabischer Mystiker. Sie liefern im Roman eine Projektionsf läche, auf der die Liebe im Spannungsfeld des Mystischen und des Profanen beschrieben wird und schließlich zu einem geheimnisvollen Motiv avanciert. Geheimnisvoll bleibt auch die Metapher Land der Lieblingslektüre, denn nirgendwo im Roman wird sie entziffert. Die mystische Folie, gestaltet das Land der Lieblingslektüre für das Ich zu einem polysemen Konstrukt der Identifikation, das sich in den Ref lexionen des Ich über die Liebe Ausdruck findet. 235  Barthes: Leçon/Lektion, 1978, 25.

4. Der Mythos Europa – die Metapher der Heimat – die Macht der Sprache

Dieses polyseme Konstrukt führt den Rezipienten in ein Labyrinth der Interpretation ein, in dem das Land der Lieblingslektüre mit Heimat des historischen Ich korreliert. Dem lesbar gewordenen Heimat steht ein anderer Ort gegenüber, der im Gegensatz zu dem geheimnisvollen Land der Lieblingslektüre konkret genannt wird: Er heißt Siegen. Dieser andere Ort wird mit der profanen Liebe zwischen dem Fünfzehnjährigen und Jutta semantisiert; er heißt nicht Heimat, sondern »Geburtsstadt«236. Die Erzählorte der Heimat werden im Spannungsfeld der mystischen und profanen Liebe miteinander in Beziehung gesetzt. In dieser Beziehung spiegeln sie für das erzählte und erzählende Ich eine Identifikationsfunktion. Die am Motiv der Liebe konstruierten Orte koexistieren und korrelieren. Durch die Mystifizierung der irdischen Liebe und die Profanierung der mystischen Liebe werden sie in der Erzählwelt zwischen dem Vierzigjährigen und dem Fünfzehnjährigen ausgehandelt; zugleich wird die Gleichzeitigkeit der historischen und gegenwärtigen Heimaterfahrung ermöglicht. Die Literarisierung des Hauptmotivs Liebe konstruiert das Land der Lieblingslektüre, ohne dieses Land je beim Namen zu nennen. Die Suche nach Kriterien, die eine Heimat im Sinne von Territorium, Herkunft, Verlust und Abschied bestimmen, wird zur Bestimmung dieser Heimat zu keinem Ergebnis führen. Schließlich bleibt dem Leser nicht verborgen, dass bei den Heimat-Konstruktionen die Rede von mindestens zwei Räumen ist: dem Land der Lieblingslektüre als vorgestelltem und imaginärem und der Geburtsstadt als konkretem Raum des Heimischwerdens. In der Erzählwelt erfüllen beide Räume je auf eigene Weise eine identitätsstiftende Funktion. Von zentraler Bedeutung ist aber, dass die erzählten Heimaten nicht mit einander konkurrieren, d.h. sie schließen sich nicht aus, sondern existieren in Abhängigkeit von einander. Diese Abhängigkeit wird durch die Perspektive des Erzählers und des Jungen nach dem Prinzip des Autobiographischen erzählerisch hergestellt. Das Resultat der erzählerischen Verf lochtenheit der Heimat ist ein Konstrukt des Kulturellen. Eine pragmatische Variante der Heimat wird in Farsaies Roman Eines Dienstags beschloss meine Mutter Deutsche zu werden konstruiert. Zwei wesentliche Unterschiede zur Heimat-Konstruktion der Großen Liebe sind hervorzuheben: Zum einen charakterisiert Farsaies Erzählwelt Sima (die Figur der Mutter) eindeutig als Migranten-Figur. Zum anderen belegt das Verb beschließen nicht nur im Titel, sondern auch im Inhalt des Romans eine individuelle und bewusste Entscheidung bei der Wahl der Heimat. Diese Wahl wird schon zu Beginn des Romans durch das Bekenntnis bekräftigt, ihr Zuhause sei dort, wo ihre Kinder lebten.237 Die Bedeutung von Heimat ergibt sich für Sima indirekt durch die emotionale Bindung an deren Kinder. Sima und ihr Mann Abbas repräsentieren die erste Generation iranischer Auswanderer. In Simas Bewusstsein ist die historische Heimat präsent und wird insbesondere durch wiederholte Referenzen Abbas’ auch genannt. Zwischen diesem und seiner Heimat besteht ebenfalls eine emotionale Bindung, die aber nicht durch die Kinder, sondern durch den nationalen Stolz definiert wird. Simas Tochter Roya verbindet aufgrund ihrer Fluchtgeschichte mit Heimat schmerzhafte Erinnerungen. Diese stehen Abbas’ nostalgische Glorifizierung der Heimat entgegen, so dass Heimat im Disput zwischen dem Vater und der

236  Kermani: Große Liebe, 2014, 24/1. 237  Farsaie: Eines Dienstags beschloss meine Mutter Deutsche zu werden, 2006, 7.

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Tochter in einem Spannungsverhältnis von Bleiben und Rückkehr verortet wird. Die Erzählerin berichtet: Ich wäre ungern freiwillig in den Iran zurückgekehrt, weil ich keine schönen Erinnerungen an meine »begehrte Heimat« hatte, an den herausfordernden Stock des Großvaters und seinen Umhang. Dennoch war ich schlauer als Ryan Djahn, der dachte, er sei in Deutschland zu Hause und keiner konnte ihn zwingen, nach Teheran, in ein fremdes Land zurückzugehen.238 Vater und Tochter beziehen sich in ihrer Erinnerungsarbeit auf denselben Ort, verbinden mit diesem aber unterschiedliche Konnotationen. Die Heimat des Vaters entsteht im Kontext einer positiven Erinnerungsarbeit, welche die Heimat glorifiziert. Diese Erinnerungen an die Heimat kontrastieren aber mit Royas Heimat. Die Generation bedingte Konstruktion der Heimat in der Erzählwelt hat also ambigue Bedeutungen. Heimat im Sinne des Geburtsorts bedeutet für den Vater noch Zuhause, für die Tochter jedoch nicht. Für diese kommt eine Rückkehr in den Iran zumindest freiwillig nicht in Frage. Die »begehrte Heimat« des Vaters, die ohne nostalgische und stolze Assoziationen auch ihre kulturelle Bedeutung verlöre, scheint in Royas Verständnis nicht zu existieren. Sie sucht nach einer von schmerzhaften Erinnerungen befreiten Heimat. Die erinnerte und in der Geschichte erzählte Heimat bildet die Welt von Farsaies früherer Erzählung Die Flucht und liefert den Projektionsraum einer Spurensuche. Die Erzählung handelt von einer Frau, die sich auf der Flucht aus ihrer iranischen Heimat einer Schlepperbande anschließt. Ihr einziges Andenken an die bereits im Moment der Flucht vergangene Heimat ist ein »vergilbter, zusammengefalteter Zettel, der bald wie alte Seide auseinanderzufallen drohte«.239 Auf diesem Zettel ist eine Katze gezeichnet, die ihr einst ihr Großvater malte. Beim Anblick der Katze erinnert sich nun die Fünfunddreißigjährige an den Großvater und an seine Sätze: »Wir alle in diesem Land sind eine große Familie. Kämpfe, um es zu schützen!«240 Das Spannungsverhältnis der Generationen bildet auch hier den Erzählrahmen: Nicht nur der Großvater in Die Flucht weist ähnliche Züge zu der Großvater-Figur in Eines Dienstags beschloss meine Mutter Deutsche zu werden auf, sondern auch die weibliche Figur, die auf der Flucht immer häufiger an »ihre Heimatstadt«241 zurückdenkt. Von dieser erfährt der Leser nur durch Rückblenden und Erinnerungen aus der Figurenperspektive die Heimat. Die Rückblenden und Erinnerungen der weiblichen Figur werden in der Erzählwelt mit den nostalgischen Heimat-Erinnerungen des Großvaters in Beziehung gesetzt. In der Erinnerungsarbeit der Fünfunddreißigjährigen sind der vergilbte Zettel und der Anblick der gezeichneten Katze die Erinnerungsstützen der Heimat. Das Bewahren des Zettels vor dem Zerfallen soll verhindern, dass Erinnerungen an die historische Heimat des Großvaters dem Vergessen anheimfallen.242 Der vergilbte Zettel erweist sich für die Fünfunddreißigjährige als Gedächtnismedium, das ihr ermöglicht, in der Heimat 238 Ebd., 44. 239  Farsaie: Die Flucht und andere Erzählungen, 1994, 8. 240  Ebd. 241 Ebd., 11. 242 Wie der Verlust von Archiviertem die Erinnerungen an eine historische Heimat wachrufen, wird uns im Zusammenhang mit TORKANs Erzählungen noch beschäftigen.

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eine doppeldeutige Semantisierung zu sehen: Es sind zum einen die Erinnerungen, die Heimat je nach Erinnerungsgehalt und -wert erzählerisch gestalten und verwahren. Zum anderen sind es Heimat-Erfahrungen, die im Verlauf der Erzählung variieren. Die Variationen der Heimat-Erfahrungen spiegeln sich in den Dialogen zwischen Abbas und Roya wider. Abbas scheint wegen seiner stark emotionalen Bindung an die historische Heimat nicht in der Lage zu sein, sich mit dem neuen Ort als Heimat zu identifizieren. Umgekehrt vollzieht sich Royas Heimat-Konstruktion. Diese versetzt Roya und Ryan in ein oppositionelles Verhältnis zueinander, dessen Konstruktion von der Stärke der interkulturellen Profilierung der jeweiligen Figuren abhängt. Dass Roya sich schlauer als ihr Bruder vorkommt, hängt mit dieser Stärke zusammen, denn Roya kennt beide Kulturen, die iranische wie die deutsche. Selbst wenn sie eine Rückkehr in den Iran als unmöglich angibt, bestreitet sie die Existenz der historischen Heimat in dem Generationsgedächtnis keineswegs. Für Ryan, den in Deutschland geborenen Sohn der Familie, existiert keine unmittelbare Erfahrung der historischen Heimat, sondern lediglich eine Heimat, die er im Jetzt und Hier erlebt. Im Roman Eines Dienstags beschloss meine Mutter Deutsche zu werden erfährt die Heimat eine fünffache Perspektivierung: erstens durch den Großvater als historische Figur, zweitens durch den Vater, der die historische Heimat in sich trägt und sie in der Erzählwelt durch den Ausdruck der »begehrten Heimat«243 vergegenwärtigt, drittens durch Sima, die Heimat als Lebensort der Kinder begreift, und viertens durch die Erzählerin, deren Perspektive auf Heimat kohäsiv gestaltet wird. Die Erzählerin ist die Migranten-Figur mit einer interkulturellen Profilierung. Diese ermöglicht ihr die historische Heimat zwar mit sich zu tragen, sich aber zugleich durch die Erfahrungen in Deutschland eine Heimat zu gestalten. Das Verwahren und Gestalten der Heimat greifen in der Perspektive der Erzählerin ineinander. Schließlich bildet Ryan das letzte Glied dieser Generationskette. Indem er nur gebrochen Persisch spricht, wird seine Bindung an die historische Heimat der Eltern nur ironisch dargestellt. Umso stärker ist jedoch seine Affinität zu Deutschland. Exemplarisch legt der literarische Heimat-Diskurs offen, dass die Reduzierung der Heimat auf den Ursprung und auf die Herkunft im Hinblick auf die interkulturelle Profilierung der Erzählt und auf die Komplexität des Generationsaspekts nur noch nach Maßgabe der Exklusion erfolgen kann. Von den Figuren wird die Existenz eines Ursprungsorts keineswegs geleugnet; manche sehen an diesem Ort die Glorifizierung und manch andere die Schmerzen ihrer Vergangenheit. Heimat bleibt hier ein Produkt subjektiver Erinnerungsarbeit. Diese Figuren gestalten einen Erzählort der Heimat, der Zu- und Abneigung, Freude und Schmerz zugleich enthält. Diese doppelte Optik gilt auch für den Erfahrungsort. In der Verf lechtung von Erinnerungen und Erfahrungen werden bei der Modellierung der Erzählwelt Heimaten konstruiert, die von den Figuren bewohnt sind und sich gegenseitig bedingen. Die Bedeutungen der Heimat als Ort ambiguer Beziehungen erschweren den Versuch, diesen Ort mit dem Begriff Migrationsliteratur zu erfassen. Die Polysemie dieses Ortes versetzt Heimat in einem klaren Widerspruch zu den Exklusions- und Reduktionsmechanismen des Begriffs Migrationsliteratur, die deshalb entstehen, weil er Heimat lediglich im Sinne der Her- und Ankunft begreift und im Prozess der Migration nur eine Bewegung vom 243  Farsaie: Eines Dienstags beschloss meine Mutter Deutsche zu werden, 2006, 7.

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Ursprungs- hin zum Migrationsland suggeriert. Farsaies und Kermanis Figuren charakterisieren die Heimat auf unterschiedliche Weise: als »resided in memory«244 einerseits und als Konstrukt von »integration of memory and spatiality into narrative«245 andererseits. Betrachtet man die historischen und die gegenwärtigen Heimatkonstruktionen dieser Figuren zusammen, so lässt sich die Heimat insgesamt als ein Artefakt vielstimmiger Erzählungen im Sinne Bakhtins Discourse in the Novel begreifen,246 das sich hauptsächlich in einem Verfahren des Erinnerns und Erzählens realisiert. Dieses Verfahren weist eine progressive Geschichte auf.

4.2.3.2 Narrative einer Heimat-Suche Von der »Sehnsucht des Exilierten nach seinem Geburtsort«247 und »nach den Kindheitsorten«248 profitiert auch die Heimat-Konstruktion im deutsch-iranischen Migrationsgedächtnis. Hier erweisen sich Exil und Sehnsucht als zwei Hauptmotive einer Heimat-Suche, die von Rückkehr und Entfremdung begleitet wird. Sie offenbaren eine Vergangenheit, aus der, weil sie lediglich im Archiv des Gedächtnisses existiert und selektiv zugänglich ist, nur noch ein phantastisches Bild der historischen Heimat abgeleitet werden kann. Erst durch die Konstruktion der erzählten Heimat wird die Synchronität eines bereits vergangenen und illusorischen Kindheitsortes, dessen Heimatwert der Leser in einem Verfahren der Retrospektivität erfährt, und eines in der Erzählwelt noch im Entstehen begriffenen idealen Wunsch-Orts, der noch Heimat genannt werden sollte, erkennbar. Die perspektivische Ordnung dieser Synchronität veranlasst den Leser, sich bei der Lektüre stets der Zeit- und Ortskontinuitäten der Vergangenheit und Gegenwart der Migranten-Figur bewusst zu werden. Dieses Bewusstsein erlaubt, Nuancen und Varianten der Heimaten in einem intertextuellen Verfahren aufzuzeigen. SAIDs Ich-Figur weist eine prägende Exilerfahrung auf, die sich im Hinblick auf den politischen Kontext der dritten Generation intellektueller Iraner aus der Konfrontation von zwei Regierungssystemen und aus individuellen Ansichten über ihr sozial-politisches wie privat-familiäres Umfeld entwickelt. Die Einteilung ihrer Exilgeschichte in prä- und post-revolutionär sowie die durch den Exilierten nicht zu bewältigenden Umstände des Politischen in der Bundesrepublik Deutschland versetzen sie in ein Spannungsverhältnis, das nicht nur ihre Identitäts-, sondern auch ihre Heimat-Suche fordert. Teheran und München werden in SAIDs Schreib-Szene zu Projektionsorten für die Vergangenheitsbewältigung und Gegenwartshinwendung. SAIDs Heimat-Erzählungen verlaufen nicht chronologisch; weder beginnen sie bei der Kindheit in der Form einer autobiographischen Ref lexion, noch lassen sie Einblicke in verschiedene, ortsgebundene Situationen der Ich-Suche zu. In dieser Hinsicht korrespondiert auch TORKANs weibliche Ich-Figur mit der SAIDs, erweitert aber die Perspektive zum einen auf die familiäre Bindung am Ort der historischen Heimat und zum anderen auf den spezifisch weiblichen Blickwinkel auf die Heimat. Gemein ist ihren Figuren der historische Geburtsort, der zwar Teheran genannt wird, in ihren 244  Demshuk: The Lost German East, 2012, 5, 7. 245  Eigler: Critical Approaches to Heimat, 2012, 45. 246  Bakhtin: Discourse in the Novel, 1988, 259-422. 247  Schami: Sophia, 2015, 23. 248 Ebd., 151.

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Schreib-Szenen jedoch unterschiedlich konstruiert wird. An den unterschiedlichen Konstruktionen entscheidet sich auch die Frage nach polysemen Konstruktionen der historischen Heimat, gefolgt von denen der gegenwärtigen, die für SAIDs Ich-Figur bald in Frankfurt, bald in München und für TORKANs Figur in Hamburg ihren Ort findet. Was TORKANs und SAIDs Ich-Figuren im Wesentlichen teilen, zeigt sich im Motiv Exil als Projektionsf läche für die Darstellung von Erinnerungen an die historische Heimat einerseits und von Gründen einer Heimat-Suche in der Gegenwart der Erzählung andererseits. Das In-Beziehung-Setzen von Teheran und Frankfurt, Teheran und München oder Teheran und Hamburg ermöglicht den jeweiligen Figuren ihre Heimatkonstellationen vorzunehmen. Durch dieses mit Hilfe von Zeit-Raum-Kontinuen hergestellte Spannungsfeld geschieht aber auch etwas anderes, nämlich die Rückkehr in eine doppelte Perspektive: von der Bundesrepublik Deutschland aus auf den Iran und vice versa. Am Motiv Rückkehr lässt sich die Semantik des Blickes auf die Heimaten deuten. Sie erlaubt die Erkenntnis darüber, wann die Migranten-Figur überhaupt von einer Rückkehr spricht, was diese bedeutet und wie sie im Hinblick auf Heimaten ausgelegt werden kann. In SAIDs und TORKANs Schreib-Szene lässt sich Rückkehr als Ähnlichkeitsmotiv zur Beschreibung von Empfindungen und Erfahrungen betrachten, das je nach Figurenperspektive differierende Vorstellungen, Empfindungen, Erwartungen und Hoffnungen in Bezug auf Heimat-Orte offenlegt. Rückkehr als Motiv, an dem die gleichzeitige und gleichörtliche Heimat-Erfahrungen geschildert werden, markiert die Liminalität der Erfahrungsräume von Gestern und Heute wie von Hier und Dort. Darüber hinaus werden an Rückkehr auch Erfahrungen der Entfremdung geschildert. Wie das reziproke Verhältnis dieser Motive in der Erzählwelt in Szene gesetzt wird, wurde am Beispiel der Identitätsarbeit bereits diskutiert (3.5.1.2). Nun gilt es, dieses Verhältnis im Hinblick auf die Heimat-Konstruktionen genauer in den Blick zu nehmen. Das Motiv der Rückkehr leitet zur Entfremdung als Erfahrung am ursprünglichen Heimat-Ort über und treibt die individuelle Heimat-Suche an. Durch die Motive der Rückkehr und Entfremdung positioniert SAID seine Ich-Figur in einem Spannungsfeld nostalgischer und romantischer Gefühle, aus denen Resignationsmomente der intellektuellen Figur abgeleitet werden. Die Auf lösung der historischen Heimat scheint das eigenwillige Ich bis an seine Grenze herauszufordern. Anders verfährt TORKANs weibliche Figur, die sich die Ablösung der historischen Heimat durchaus leichter gestaltet. Ihr gilt diese als Sinnbild für Unerfülltes, Schmerz und Missachtung wie für geschlechtsspezifische Entfaltungshindernisse. In der Erzählung Tufan, in der jeder Traum bereits im Moment des Träumens zum Scheitern verurteilt ist, wird die historische Heimat weniger geliebt als dramatisiert. Der endgültige Abschied von der historischen Heimat bildet zwar wiederum den gemeinsamen Aspekt in SAID und TORKANs Werk, erzielt aber eine unterschiedliche Wirkung im Prozess zukünftiger Heimat-Suche. TORKANs Ich-Figur kehrt der historischen Heimat den Rücken. Dieser Ort scheint allmählich bewusst in Vergessenheit zu geraten und mit Farsaies Bild vom vergilbten und auseinanderfallenden Papier als Erinnerungsstück an die Heimat zu korrespondieren. Wenn TORKANs Ich einmal nach Teheran, dem Ort der Erinnerungen, zurückgeht, thematisiert es die Erinnerungen durch das Fehlen von Erinnerungsgegenständen wie Geschäften, Häusern und Straßen. An den Motiven der Rückkehr und der Entfremdung thematisieren SAIDs und TORKANs Ich-Figuren die Erinnerungen an die historische Heimat. Sie nehmen dabei

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Abschied von dem ›Ort der Geschichte‹249, ohne ihre eigene Geschichte zu leugnen. In der literarischen Gestaltung avanciert Abschied selbst zu einem zentralen Motiv der Erzählwelt und erweist sich für das Ich deshalb als charakteristisch, weil durch dieses Motiv das Ich als Migrant und der Migrant als eine Figur mit Geschichte positioniert wird. Durch diese Positionierung wird der Migranten-Figur eine Eigenschaft zugeschrieben, die sie von der Figur des Fremden als einer ohne eine Geschichte250 unterscheiden soll. Die Hinwendung zu einem neuen Ort, der sich perspektivisch als Heimat profilieren soll, ist das Anliegen literarischer Produktion der Autoren, die ihre Arbeit in den neunziger Jahren beginnen. Das leitende Motiv Exil ist zwar weiterhin präsent, das Motiv der Rückkehr aber scheint ausgedient zu haben. Für Falakis Exil-Figur wird Hamburg zur Wahl-Heimat; von einer Rückkehr ist hier nicht mehr die Rede. Mit Falakis Werk beginnt eine neue literarische Phase, die wie in Selam Berlin mit dem Fall der Berliner Mauer zeitlich zusammentrifft. Hierfür steht die Positionierung der Migranten-Figur in der Übergangsphase der Wiedervereinigung und der binnendeutschen Heimat-Diskussion. Heimat fungiert hier nicht als Orte der Herkunft oder des Ursprungs, sondern als Ort der Ideologie, Politik und Geschichte, wenn es um die Vergangenheit geht, und als Ort des Globalisierung-Diskurses, wenn auf die Gegenwart Bezug genommen wird. Auch in Allafis Frankfurter Trilogie stehen Teheran und Frankfurt als Projektionsorte kultureller Auseinandersetzung im Mittelpunkt, wobei in ihrem Verhältnis ein Ungleichgewicht entsteht. Frankfurt a.M. ist der Ort der Handlung und in der Gegenwart der Erzählung präsent. Mit Teheran hingegen wird der Ort der Geschichte assoziiert.

4.2.3.2.1 Exil Bevor metaphorische Verwendungen von Exil in den Primärtexten eine Rolle spielen konnten, gilt die Auseinandersetzung mit einem empirischen Exil-Begriff als notwendig. Diese Diskussion bildet den Ausgangspunkt für die Erweiterung des Exil-Begriffes auf die deutschsprachige Literatur exilierter Autoren unter Berücksichtigung von Exil-Kriterien, die auch komplementär zueinander sind.251 Das dritte Kapitel hat gezeigt, dass die metaphorischen Verwendungen des Exil-Begriffes bei einer interkulturellen Interpretationsarbeit entscheidend sind. Die Konstruktion der Heimat durch Exil-Erfahrungen verstärkt nun die Annahme darüber, dass der literarische Diskurs der Heimat ebenfalls entlang identitätsstiftender Komponenten geführt wird. In SAIDs Schreib-Szene fungieren Erfahrungen des Exils als Orientierung. Auf der Grundlage von Exilerfahrungen bilden sich auch die Erfahrungen in und mit der Heimat. In der Exilerfahrung macht den entscheidenden Aspekt die Beziehung zu Teheran aus, die sich am Motiv der Rückkehr ablesen lässt, weil in ihr Teheran und München als historische und gegenwärtige Heimaten zugleich zusammenfinden. Mit Rückkehr beginnt auch das zweite Exil, von dem außerdem Prozesse der Heimat-Suche ausgehen. Die siebenwöchige Begegnung mit dem post-revolutionären Teheran spielt in der Erzählwelt des später nach München heimkehrenden Ich eine überaus 249 Vgl. Waldenfels: Topographie des Fremden, 1997, 12. 250  Schütz: Der Fremde, 1972, 66. 251 Siehe zu Diskussion Palm: Exil und Identitätskonstruktion in deutschsprachiger Literatur exilierter Autoren, 2017, 515.

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wichtige Funktion, denn bei diesem Wiedersehen fällt auch die Entscheidung über das zweite Exil und mit diesem auch für die Wahlheimat. An der Rückkehr nach Teheran werden demnach Bruch und Kontinuität gleichzeitig thematisiert: »Nach einer längeren Abwesenheit« bedeutet die Rückkehr »den Schock der ›Doppelung‹ von Gleichheit und Differenz erneut zu erfahren«.252 Das Spiel mit Bruch und Kontinuität, Gleichheit und Differenz schlägt sich in SAIDs Heimat-Konstruktion in zwei zentralen Motiven nieder: der Stadt Teheran und der Figur der Mutter. Sie repräsentieren die räumliche bzw. biologische Instanz der Geburt. Beide müssen aber zunächst historisch verortet werden, bevor im Erinnerungsprozess auf sie zurückgegriffen werden kann. Das Motiv, das diesen Prozess einleitet und dominiert, ist der Geruch. SAIDs Ich-Figur im Text Briefe, aber an wen hat bereits Verf lechtungen von Vereinsamung und Identitätsarbeit gezeigt (3.4.1.1). Auch bei der Heimat-Konstruktion gewinnt Vereinsamung an Wirkung. Die Figur des vermeintlich Heimatlosen, die beispielsweise für Vilém Flusser »das wache Bewußtsein aller Beheimateten«253 sichert, taucht bei SAID in Gestalt eines vereinsamten Exilierten auf und wird über den Text Briefe, aber an wen hinaus auch in der Perspektive des Erzählers im Selbstbildnis mit den »Beglückten«254 in der Heimat kontrastiert. Noch scheint die Heimat dem Exilierten unersetzbar zu sein, und das Glück, in ihr zu leben, unteilbar, denn der Exilierte assoziiert mit dem Exil den Ort, »wo man alles kaufen kann/bis auf den staub unserer gassen«.255 Das Ich befindet sich fern der Heimat, impliziert aber durch die Verwendung des kollektiven Possessivartikels unser das Zusammengehörigkeitsgefühl mit den in der Heimat verweilenden »Beglückten«. Das Verhältnis der gleichzeitigen Distanz und Nähe wird auf zweifache Weise ausgedrückt: Erstens in der Metapher des Staubes der Heimat. In welchem Zusammenhang diese Metapher interpretiert werden kann, wird erst später deutlich. An dieser Stelle soll zunächst festgehalten werden, dass das Verhältnis des Ich zu seiner Heimat mit Blick auf das Motiv des nicht zu kaufenden Staubes jegliche territoriale Auffassung widerlegt. Hingegen suggeriert die Beziehung zwischen Ich und Heimat ein Heimat-Verständnis, das in Gefühlen und Empfindungen wächst. Wenn die poetische Gestaltung dieses Verständnisses durch den Geruchsinn geschieht, so verliert die Heimat in der Perspektive der Ich-Figur nicht allein die räumliche Bedeutung; mit Hilfe des stärksten Sinnes wird Heimat zu einem Erinnerungsmotiv. An diesem Motiv wird die historische Dimension der Heimat hervorgehoben. Dass der Staub nur der Heimat eigen ist, verstärkt die historische Bedeutungsvariante. Zweitens: Während am Motiv des Staubes die historische Perspektive auf Heimat gebildet wird, gestaltet sich am Motiv des Exils die Gegenwartsperspektive. Exil und Heimat werden in ein scheinbares Konkurrenz-Verhältnis zueinander gesetzt, wobei die ambivalente Haltung des Ich zum Exil wie zur Heimat hervorgebracht wird, denn Exil entwickelt sich zu einer Sphäre, in der sowohl die geographische Entfremdung des Ich von der historischen Heimat als auch die Bemühung um die Suche nach einer neuen Heimat erfolgt. Das Spannungsverhältnis zwischen Heimat und Exil, dem Historischen und dem Gegenwärtigen, wird durch das Motiv Rückkehr hergestellt. Dieses Motiv dient also nicht nur zur Identitätsarbeit des Ich, sondern er252  Hall: Kulturelle Identität und Diaspora, 1994, 32. 253  Flusser: Wohnung beziehen in der Heimatlosigkeit, 2013, 30. 254  SAID: Selbstbildnis, 1992, 15. 255  SAID: ruf zurück die vögel, 2010, 34.

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möglicht es diesem auch seine Heimat im Sinne des Kindheitsorts erst einmal wiederzuentdecken. Erinnerungen sind die treibende Kraft der Wiederentdeckung. Bei der Wiederentdeckung der Heimat durch Erinnerungen wirft das Ich dann einen ref lektierenden Blick auf den Kindheitsort und lässt die Entfernung, ja die Entfremdung von der historischen Heimat einerseits und das Bedürfnis einer Heimat-Suche anderseits bewusst werden.

4.2.3.2.2 Rückkehr Das alternde Ich schlägt den Weg in die alte Heimat ein, setzt sich aber eine Maske auf: »wir kinder«,256 beschreibt es im Selbstbildnis, konstruiert dabei ein Kollektiv und blickt mit diesem auf Teheran, die »Stadt meiner Kindheit«257 genannt wird. Die Hinwendung zum Kindheitsort und die Assoziation mit der historischen Heimat ermöglicht dem alternden Ich eine Retrospektivität, zu deren Gestaltung es ein erzähltes Ich benötigt. Am Kindheitsort wird bei Gehversuchen auch die Begegnung des erzählenden Ich und erzählten Ich inszeniert. Geleitet werden die Gehversuche durch den Geruch der roten Beete, entlang der Straßen und Gärten. Die Gerüche sollen dabei das Gedächtnis stimulieren, Erinnerungen beleben und an nun zurückliegenden Orten (Neu-)Entdeckungen ermöglichen. Die Gehversuche erfolgen von dem alten Viertel in Südteheran, in dem die ›Kindheit des Ich wohnte‹,258 durch die Goethe-Straße bis zur Schule und rufen Erinnerungen an ›genussvolle‹ Erlebnisse in Teheraner Straßen hervor. Einzig wird die Goethe-Straße beim Namen genannt. Ihre konkrete Benennung in Teheran legt die Vermutung nah, dass der Bezug zur deutschen Dichtung, die dem erzählenden Ich später zur Heimat werden sollte, bereits in dieser Phase impliziert hergestellt werden soll. Durch diesen Bezug sollen auch das erzählende und das erzählte Ich miteinander in eine Beziehung gesetzt werden. Mit ihr legt die ausgestattete Erzählwelt den Weg von der Kindheit an als vorgezeichnet offen. Wenn aus dem Geschmack von »maulbeerbäume[n] der kindheit«259 Erinnerungen gewonnen werden, so werden die Schritte des alternden Ich auch außer vom Geruchssinn auch vom Geschmacksinn geleitet. Durch die Zusammenführung der Sinne und der Schritte auf dem Spaziergang wird ein komplexes und bildliches Heimat-Motiv geschaffen, das Erinnerung, Bewegung und Empfindung zusammenführt. Die historische Heimat gewinnt zwar durch eine Mischung von Teheran und Deutschland scheinbar eine konkrete Bedeutung und erweckt den Eindruck von bestimmten Orten, dieser Eindruck bleibt jedoch auf der Oberf läche, denn bald verlässt die Heimat den vermeintlich konkreten Ort und wird mit Emotionen semantisch aufgebürdet. Diese ambigue Bedeutung problematisiert die Heimat-Verortung der Ich-Figur. Die historische Konstruktion durch Erinnerungen machen Heimat für das erzählende Ich zum Objekt der Betrachtung und ermöglichen die notwendige Distanz der Beobachterperspektive, in der das erzählte Ich seine Position findet. Die emotionale Semantisierung der historischen Heimat gestaltet so das Spannungsfeld zwischen dem erzählenden und erzählten Ich und befreit zugleich die Heimat von einer bloß durch Raumstrukturen vorgeschriebenen Eingrenzung. So wird etwa jenseits der territorialen Heimat256  SAID: grenzgänge, 2004, 13. 257  SAID: Selbstbildnis, 1992, 22. 258  SAID: grenzgänge, 2004, 21f. 259  SAID: ruf zurück die vögel, 61.

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grenzen von Spaziergängen am Hafen von Piräus und in Kairo erzählt, wo Teheran plötzlich präsent wird: »nach dem abendessen ein kurzer spaziergang. ein liebliches licht. jetzt erinnern mich die menschen und die straßen an teheran vor vierzig jahren«.260 Der Versuch über den poetischen Entwurf einer entterritorialisierten Heimat durch Emotionen und Sinne gelingt insofern, als das erzählende Ich sein Teheran zunächst als Sinnbild einer vergangenen Welt betrachtet. Am Hafen von Piräus und in Kairo wird durch die Motive des Geruchs und des Spaziergangs auf dieses Sinnbild zurückgegriffen, wodurch am Jetzt-Zeit-Ort des Erzählens Erinnerungen an die fernliegende Heimat ausgelöst werden. Diese Strategie lässt die Reduzierung der Heimat auf nur einen Fixpunkt der Geschichte durchaus als problematisch erscheinen. Vielmehr wird in Heimat eine Metapher erzeugt, an der Erinnerungen und Empfindung des Ich abzulesen wären. Durch diese Metapher entsteht eine Poetik, die selbst der lokale Bezug zu Teheran zu solch einem Ort entlarvt. Auf Heimat als Metapher für Erinnerung und Erfahrung ist die Perspektive von SAIDs Ich-Figur gerichtet. In den durch den Erzähler, Vater, Bruder und die Mutter figurativ organisierten Erinnerungsakten thematisiert die Ich-Figur grundsätzlich die heimatbezogene Gedächtnis- und Erinnerungsarbeit jenseits eines nationalen und ›völkischen‹ Kontexts. Völker hätten, so bekundet das Ich, ein anderes Gedächtnis als einzelne Menschen.261 Obwohl Heimaterinnerungen in SAIDs Schreib-Szene einen vermeintlich kollektiven Charakter aufweisen – so etwa in der Formulierung »wir kinder« – wird Teheran vor dem Hintergrund individueller Sozialisationsversuche des erzählten Ich bei der Rückkehr des erzählenden Ich zum Sinnbild für Vertrautheit und Fremdheit zugleich. Diese doppelte Erfahrung entfaltet sich in einem weitern Motiv, nämlich in dem der Suche. An ihm lassen sich Zukunftsvorstellungen ablesen, deren Anfänge durch ein drittes Motiv, d.h. Exils erzählt werden. Ohne Exil haben erzählte Erinnerungen an Teheran kein funktionales Identifikationsmerkmal in der Geschichte, Gegenwart und Zukunft der Ich-Figur: die stadt lebt von den fortgegangenen und vom fleisch ihrer erzählungen.262 Der genitivus possessivus ›Fleisch der Erzählungen‹ symbolisiert Teheran als Ort, der nur noch als reichhaltiger Stoff in den Erzählungen der Fortgegangenen existiert und nur in diesen Erzählungen auch verarbeitet werden kann. Das Präfix fort- im Ausdruck der »fortgegangenen« bekräftigt einerseits die historische Perspektive, die der Vorbereitung des Erinnerungsstoffs vorausgehen muss, verweist aber andererseits auch auf die Progressivität der und so auf die Zukunft hin gerichtete Suche selbst, die durch die Spuren der Vergangenheit und Forderungen der Gegenwart motiviert ist. Die Stadt beginnt erst dann zu leben, wenn die Fortgegangenen sie ihren Erzählungen einverleiben. Mit dem Fortgehen assoziiert SAIDs Schreib-Szene Exil und Abschied von Teheran und von der Mutter (4.2.3.2.4). Das Motiv der Rückkehr in der Erzählung Tufan bildet den Inhalt des gesamten zweiten Teils und den Titel dieses Kapitels. Dadurch, dass Tufan nur aus zwei Kapiteln 260  SAID: kairiner miniaturen, 2005, 150. 261  SAID: die rebellion denkt nicht, 2004, 60. 262   Reich, SAID: Das Haus, das uns bewohnt, 2009, 58.

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besteht, wird die thematische Relevanz der Rückkehr auch strukturell unterstrichen. Es thematisiert Asars Ref lexionen über ihre Rückkehr nach Teheran und macht die historische Heimat durch das retrospektive Erzählen zu einem erzählten Ort in einer erzählten Zeit. Auf diese Weise wird Heimat in der Geschichte der Figur durch Teheran und Familie erst konstruiert. Bei Asar entwickelt sich während ihres ersten Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland und vor ihrer Rückreise in den Iran im Spätsommer 1977 ein Verständnis von Heimat, durch das die Rückkehr gerechtfertigt aber negativ assoziiert wird: »Ich wollte das Land besuchen, das mein Land nicht mehr war«.263 Anderes als bei SAIDs Ich-Figur, die zunächst mit dem Gedanken über ein Bleiben spielt, erfolgt Asars Rückkehr im Zeichen »der befreienden Gewißheit, nicht bleiben zu müssen«.264 Rückkehr und Abschied erfolgen nicht chronologisch, sondern werden in der Figurenperspektive zusammengeführt, so dass Heimat bereits bei der Rückkehr der Vergangenheit zugehörig erschient. Diese Annahme findet ihre Bestätigung darin, dass die Zeit in der Bundesrepublik zuallererst dem Bewusstwerden einer historischen Heimat dienen soll: Zuviel und zu häufig hatte ich über euch [die Familienmitglieder] nachgedacht, ich hatte mir Gedanken über das Land gemacht – immer unwirklicher erschienen mir diese Gedanken. Meine Gedanken über euch und über das Land hatten sich selbständig gemacht, sie wurden unabhängig von eurer Wirklichkeit. Meinen Vorstellungen erwuchs eine Wahrheit, die eure nicht war. Eure Wirklichkeit wollte ich sehen!265 Der Gebrauch der zweiten Person Plural, die kontextuell das Individuum mit der Familie verbindet und zugleich trennt, indem sie in der Familiengeschichte eine Grenze zieht, lässt sich als die kollektive Identifikationsform mit der historischen Heimat begreifen. Verschärft wird die Trennung durch das Unabhängig-Werden der individuellen Erinnerungen von der Wirklichkeit der familiären Heimat. Fundamental wirkt die Grenze durch die Opposition dieser Wirklichkeiten, die diese Trennung herbeiführt. Die Rückkehr dient also nicht zu einer Wiedergewinnung der Heimat, sondern zum bewussten Distanzauf bau, an dem letztlich dargelegt wird, wie die Figur und die Heimat sich voneinander entfremdet haben; die Heimat ist im Moment des Wiedersehens bereits Fremde. Ähnlich ergeht es auch Marjam im zweiten Teil der Frankfurter Trilogie, als sie mit Hans den Iran besucht. Auf der Iran-Reise wird die Frage nach Heimat zwar aus Marjams Sicht thematisiert, der Leser erfährt aber auch, dass auch Hans die territoriale Auffassung von Heimat in Frage stellt, denn von keinem der beiden wird Heimat mit dem Ort von Herkunft und Ursprung gleichgesetzt. Beide implizieren beim Verlassen der Heimat Entfremdung und klagen über unerfüllbare Erwartungen an dem vermeintlichen heimatlichen Ort. Anders als die historische Heimat verhält es sich mit der Wahlheimat: Für Marjam bedeutet Frankfurt a.M. den Ort ihrer Träume, und Hans findet in Teheran seine Traumstadt. Während Frankfurt ihm gegenüber Teheran »wie ein verschlafenes Dorf«266 erscheint, strahlt Teheran für Hans ein gewisses 263   TORKAN: Tufan, 1983, 119. 264  Ebd. 265  Ebd. 266   Allafi: Die letzte Nacht mit Gabriela, 2000, 154

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»Anderssein«267aus. Diese Andersheit dient der Figur kontrastiv als Identifikationsmerkmal und entfaltet sich zu einem Motiv zur Herstellung der poetischen Alterität. Hans’ Gefühl reicht so weit, dass er in Teheran beginnt, in ›Victorias Kultur‹ nach der Überprüfung und Vertiefung seines wiederentdeckten Selbst als Sufi zu suchen.268 In dieser Poetik geschieht auch Marjams Heimat-Verortung. Die Rückkehr nach Teheran führt bei Marjam – ähnlich wie im Falle Asar – auch nicht zu einer Wiederentdeckung, sondern zu einem Abschied vom Iran und zu einer bewussten Entscheidung einer Heimat-Identifikation mit Deutschland. Marjam wird bewusst, dass das einst als Heimat geltende Teheran zu etwas geworden ist, »in dem einem die einfachsten Wünsche verwehrt bleiben«; wäre es von einem Staat zu viel verlangt, fragt sie sich, »wenn man ohne Probleme seine Familienangehörigen besuchen will?«269 Sowohl für Marjam als auch für Asar (und im Übrigen auch für Roya) spiegelt die historische Heimat lediglich einen Erinnerungsort unerfüllter Wünsche wider. Dass die alte Heimat dennoch als Referenzsphäre einer historischen, zugleich kritischen Identitätsarbeit angesehen wird, wird von keiner der Figuren bestritten.

4.2.3.2.3 Entfremdung Rückkehr, Wiedersehen und Abschied haben sich als Motive herausgestellt, die bei der Heimat-Verortung und deren Verknüpfung mit der Identitätsfrage eine orientierungsbietende Funktion erfüllen. Sie erzeugen Bedeutungen, die Versuche, Heimat an geschichtlichen Fixpunkten oder innerhalb von territorialen Grenzen zu verorten, aus der Perspektive der Hauptfigur bzw. des Erzählers durchaus als problematisch beschreiben. Die erzählerische Gestaltung dieser Perspektive erfolgt durch die Beschreibung von individuellen Erkenntnissen, die der Erzähler bzw. die Hauptfigur in komplexen Prozessen von Rückkehr, Wiedersehen und Abschied gewinnt. Zur Darstellung des Gewinns bedient sich der Erzählwelt des Motivs Entfremdung. Bei der Auseinandersetzung mit Entfremdung im literarischen Diskurs lässt sich der Begriff Entfremdung auf der theoretischen Seite im sozialphilosophischen Sinne verstehen. In diesem Zusammenhang wird mit Entfremdung ein Deutungsmodell konzipiert, in dem das »Selbst- und Weltverhältnis, individueller Selbstbezug und überindividuelle Lebensform […] miteinander verschränkt sind«.270 Dieses Konzept untersucht »ein komplexes Bild der Person in ihrer Relation zu Welt«271 und betrachtet in dieser Relation auch Beziehungen und Emotionen. Im Sinne dieser Relation wird mit Entfremdung »eine gesellschaftliche Lebensform« ref lektiert, »mit der der Einzelne sich nicht identifizieren, in der er sich nicht ›verwirklichen‹, die er sich nicht ›zu Eigen‹ machen kann.«272 Entfremdung bezeichnet also nicht die »Abwesenheit einer Beziehung«,273 sondern eine defizitäre Beziehung. Unter dieser Voraussetzung besteht zwischen Rückkehr und Entfremdung ein kausales Verhältnis: Rückkehr führt zur Realisierung von Absenz, diese zum Gefühl der Entfremdung. 267  Ebd. 268 Ebd., 153. 269 Ebd., 214. 270   Jaeggi: Entfremdung, 2005, 15. 271 Ebd., 13. 272 Ebd., 15. 273 Ebd., 19.

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Entfremdung ist in den zur Diskussion stehenden Heimat-Diskursen deshalb ein bedeutungstragendes Motiv, weil bei der Darstellung der Entfremdung Nuancen des Heimat-Gefühls in der Auffassung der jeweiligen Figuren Ausdruck finden und in der Schreib-Szene je nach individueller, familiärer und kultureller Bindung der Figuren unterschiedlich verarbeitet werden. Für SAIDs Ich existiert ein offenes Fenster zur Heimat. Der Blick durch dieses Fenster suggeriert zunächst ein gerahmtes Heimat-Bild; eine Interpretation, die das Fenster als Motiv zuließe. Doch wird die Heimat nicht betrachtet; mit Geruch und Geschmack verlässt Heimat den Bereich des Sehens und wird mit stärkeren Sinnen gefasst. Das offene Fenster entlarvt sich als Motiv der Hoffnung auf eine schöne und erinnerungswürdige Heimat; mit den Gerüchen und Geschmäcken wird dann die Heimat als etwas Schönes erinnert. Die Nähe zum romantischen Heimat-Diskurs ist nicht zu übersehen. In TORKANs Erzählungen Tufan und Kaltland wird mit der Konstruktion der historischen Heimat ebenfalls Erinnerungsräume assoziiert, die sich aufgrund indizieller und familiärer Differenzen kaum zu einer kollektiven Gemeinsamkeit erschließen lassen. Das Ideal der Heimat findet in TORKANs Schreibweise keinen Raum. In Farsaies Roman vollziehen sich die Heimat-Konstruktionen so individuell und vielfältig, dass eine Heimat-Bestimmung jenseits figurativer Perspektivierungen unmöglich ist. Jeder der Figuren hat ihr eigenes Verständnis, was Heimat sei. Im Roman Große Liebe ist die historische Heimat in ihrer lesbaren Form stets präsent. Für diese Präsenz sorgt die Mystik. Heimat wird als das Land der Lieblingslektüre bezeichnet, in das Reich der Mystik versetzt und entzieht sich in ihrer Mystifizierung jedweder Verortung außerhalb des Geistes. An den Poetiken der Heimat lassen sich also differierende Beziehungen von Figuren zur Heimat ablesen. Sie führen einen Heimat-Diskurs, der zeigen soll, wie Heimat im Moment ihrer Verortung sich jeglicher Art der Fixierung entzieht. Am Beispiel von TORKANs Erzählungen Tufan und Kaltland wird Heimat zum Ort der Uneinigkeit über die Wirklichkeit und mit der Zeit auch der Entfremdung. Unterschiedliche Auffassungen von der Wirklichkeit erlauben, in der historischen Heimat nicht die »Chiffre für den Anspruch auf eine vertraute Welt«274 zu sehen, sondern eine defizitäre Beziehung zur Heimat und mit ihr auch ein Negativum der Identitätsarbeit. Anders als in SAIDs Motiv Fenster entwickelt sich Heimat in TORKANs Schreib-Szene zu einem Motiv, das der individuellen Identitätsarbeit insofern dienlich ist, als es die Distanz zu ihr stets im Bewusstsein vergegenwärtigt. Die Figur Marjam in der Frankfurter Trilogie bedient sich ebenfalls solch eines Heimat-Bewusstseins. Das Motiv Rückkehr hat gezeigt, dass Teheran und die Mutter für SAIDs Ich-Figur die örtlichen und biologischen Orientierungsmotive der Geburt bilden. Diese Motive modellieren in der Schreib-Szene die Beziehungen, die sich im Spannungsfeld der Doppelperspektive von Rückkehr und Abschied abspielen. Am prägnantesten wird dies im Gedichtband Wo ich sterbe ist meine Fremde in einem Spannungsverhältnis der Wiederbegegnung mit Teheran und mit der Mutter einerseits sowie des Abschieds andererseits beschrieben. Das Wiedersehen mit Teheran dient dem ›heimkehrenden‹ Ich dazu, die iranische Heimat mit Gegenständen, Gerüchen, Farben und mit dem unverwechselbaren Charakter eines iranischen Lebens ins Gedächtnis zurückzurufen, zu verwahren und weiter zu geben. Je weiter der Erinnerungsvorgang voranschreitet, 274   Cremer et al.: Heimat in der Moderne, 1990, 34.

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umso stärker tritt die Entfremdung in das Bewusstsein des Ich. Dies geschieht paradoxerweise in der Jetzt-Zeit seiner Rückkehr nach Teheran. Obwohl dieser Prozess in der Jetztzeit des zurückkehrenden Ich voranschreitet, löst er sich dort auf, wo das Ich bei den ›Gehversuchen‹ durch die Teheraner Straßen seine Heimat durch Gerüche, Geschmäcke und Gefühle zu bewahren bemüht ist. Die Jetztzeit auf der einen und die Erinnerungen auf der anderen Seite konstruieren in SAIDs Schreib-Szene Heimaten so, dass sie nur in einer Doppelperspektive des Empfindens und des Erfahrens erfassen werden können.275 Es ist auch diese Doppelperspektive, in der Entfremdung als Motiv gestaltet wird. Die soziale und politische Lage in Teheran steuert schließlich den Entfremdungsprozess und führt diesen zu einem Höhepunkt. Das Ich, Erzähler und Hauptfigur zugleich, nimmt diesen Höhepunkt zum Anlass, um mit Gedanken über eine Rückkehr – diesmal nach Deutschland – zu liebäugeln. Diese Doppelperspektive bildet auch die Erzähltechnik in den Schilderungen des Wiedersehens mit der Mutter innerhalb individueller Erinnerungsarbeit. Das Wiedersehen findet beim ersten Mal in Teheran nach der Rückkehr und ein zweites Mal in der zweiten Exilphase und beim Besuch in Toronto statt. Während bei der Rückkehr nach Teheran sich die Figur der Mutter und die Stadt kreuzen, fallen sie in Toronto auseinander. In den Begegnungsszenen in Toronto ist die Mutter in der Wirklichkeit der ausgestatteten Erzählwelt präsent; Teheran dient dem Ich aber lediglich als Projektionsf läche der Erinnerungen. Das Poem Selbstbildnis handelt von dem Wiedersehen mit der Mutter und den Erinnerungen an Teheran. Hier erfährt der Leser von dem Zweiundzwanzigjährigen, der im Frühjahr 1979 seine Mutter in Teheran getroffen hatte und dieses Treffen nun zum Gegenstand seiner Erzählungen über Toronto macht. Die Begegnungsgeschichte in Teheran wird auf diese Weise literarisiert. Sie wird nämlich in den Landschaf ten wieder aufgegriffen und im doppelten Rückblick erfasst: Von der Gegenwart des Textes Landschaf ten wird in die Vergangenheit des Wiedersehens und abermals in die Jugend zurückgeblickt. Wiederholt spielt das Ich mit der doppelten Perspektivierung der Erinnerungen, die den Leser von der Wirklichkeit der Landschaf ten in die Wirklichkeit des Selbstbildnis überführt; beide Wirklichkeiten bestehen selbst aus Erinnerungen. Ähnlich wie Marcel Proust276 stellt auch SAID mit der Positionierung seines Ich die 275   Rüdiger Görner vertritt in seinem Beitrag über Hölderlins Heimaten die These über das »Heimatempfinden« (Görner: Im Wort wohnen, 2007, 72). Wem dieses Empfinden verwehrt wird, der »bleibt wohl wirklich ein Wildfremder, nicht einmal ein Gast […] Fremd, fremder, wildfremd: eine seltsame Wortprägung im Deutschen als Ausdruck äußerster Steigerung des Unbehausten« (ebd.). 276 Betrachtet man das Spiel mit Erinnerungen an die Heimat näher, so lässt sich die literarische Vorlage in Marcel Prousts (1871-1922) autobiographischer Schrift Auf der Suche nach der verlorenen Zeit finden, in der ein ebenfalls weitgehend anonymes Ich erzählt (nur einmal wird sein Name, Marcel, genannt) und mühsam an seine Kindheitserinnerungen heranzutreten versucht. Bei Proust vollzieht sich die Erinnerungsarbeit freiwillig und unfreiwillig zugleich. Erinnert sich das Ich freiwillig, so sind seine Erinnerungen vollständig, in Sequenzen geordnet und nachvollziehbar. Erfolgt die Erinnerungsarbeit aber unfreiwillig, zeugt sie nicht von einem psychischen Erlebnis, sondern stellt einen literarischen Kunstgriff dar, der dem Erzähler die Bildung von Assoziationsketten ermöglicht. Das bekannte Beispiel für eine solche Erinnerungsarbeit stellt der Madeleine-Effekt dar. Dem Ich als Erwachsenen wird das Gebäckstück von seiner Mutter serviert. Sein Geschmack aktiviert die Kindheitserinnerungen und vergegenwärtigt dem Ich Bilder, Klänge, Geschmäcke und Gerüche (vgl. hierzu Evers: Proust und die ästhetische Perspektive, 2004, 111). À la recherche du temps perdu ist das Hauptwerk von Marcel Proust. Es wurde zwischen 1908/09 und 1922 geschrieben und erschien zwi-

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Gedankenverknüpfungen und Assoziationsketten der Heimat durch den Geruchssinn her, an dem zum einen das Gedächtnis der Heimat verwahrt werden soll und zum anderen Erinnerungen an die immer mehr fremd werdende Heimat in jeder Zeit und an jedem Ort hervorgerufen werden sollen. Der Geruchssinn als Motiv für das Verwahren der Heimat korrespondiert auf diese Weise mit dem Sinnbild des Fensters als Motiv für Hoffnung. Der ›Rückkehrer‹ schildert die erste Begegnung mit Teheran, das im Poem Selbstbildnis die »Stadt meiner Kindheit«277 genannt wird. Anderenorts wird Teheran bescheinigt: »hier hat jede Straße ihren Geruch«.278 Meine Sinnesorgane rächen sich für die geruchlosen Jahre.279 Die Sinnesorgane rächen sich für die Zeit im ersten Exil, indem sie jede Empfindung, jeden Sinn und jede Erfahrung aufmerksam wahrnehmen und bearbeiten. Die Wahrnehmungen und Bearbeitungen werden literarisch in Szene gesetzt: Die erlebte Zeit eines Jungen und die erfahrene Zeit eines Exilierten werden in der Reihenfolge mit dem Bezug auf Heimat und Fremde erzählt und auf diese Weise kontrastiert dargestellt. Von Heimat-Gerüchen ist noch keine Rede.280 Kurz vor der Landung des Flugzeugs auf dem Teheraner Flughafen Mehrabad beschreibt das Gedicht Land in Sicht das Wiedersehen mit Teheran aus der Vogelperspektive: Grundlos aufwachen und Tausende von Kerzen unter den Füßen spüren – wie zu meiner Begrüßung gezündet Teheran, in der Nacht. flüstern meine ungläubigen Lippen. Teheran, wiederholen meine müden Hände. Ein Fenster nur trennt uns.281 Das Ich nimmt Teheran also durch das Sehen wahr. In der Nacht verwandeln die leuchtenden Kerzen die Dunkelheit in Licht. Die szenische Darstellung von Teheran durch das Sehen wird durch andere Sinnesorgane begleitet: Die Lippen f lüstern Teheran, die Hände wiederholen den Lippen folgend Teheran. Das Flüstern und Widerholen versetzen die Beschreibung von Wahrnehmungen und Empfindungen in das Reich der Sprache. Das bekannte Motiv Fenster ist mit Blick auf das Flugzeug zunächst ein konkreter Gegenstand, der trotz seiner Trennungsfunktion das Sehen ermöglicht und so die Verbindung mit Teheran ankündigt, was durch die Partikel »nur« in der Bedeutung schen 1913 und 1927 (Helbling: Erinnertes Leben, 1988). Ich beziehe mich auf die Frankfurter Ausgabe von Prousts Schriften 2004. 277  SAID: Selbstbildnis, 1992, 22. 278  SAID: Wo ich sterbe ist meine Fremde, 1983, 26. 279  Ebd. 280 Dies wird sich in der Phase des zweitens Exils noch ändern. Hier werden die Sinnesorgane als Speichermedien eingesetzt. 281  SAID: Wo ich sterbe ist meine Fremde, 1983, 14.

4. Der Mythos Europa – die Metapher der Heimat – die Macht der Sprache

als Beruhigung und Ermunterung ausgedrückt wird. Licht und Fenster werden so zu einer Metapher für die Wahrnehmung der Heimat und deuten ein Wiedersehen mit Hoffnung voraus. Dann folgt die erste Begegnung mit Teheran, die bildlich dargestellt wird: Zwei Frauenhände aus einer dunkelblauen Uniform. Eine Tür wird geöffnet – wie verschlossen sie war all diese Jahre.282 Die dunkelblaue Uniform und die Tür des Flugzeuges dienen als Symbole der Grenzüberschreitung, die ihren Erfahrungshöhepunkt in dem Motiv des Passes erreicht. Das Gedicht Empfang handelt von dieser Erfahrung: Paßkontrolle. Ein Zeigefinger sucht in einem Buch mit vielen Namen. Ein Zeigefinger erinnert mich an andere Orte. Das Dröhnen eines Stempels behauptet: Ich bin kein Fremder mehr.283 Die wiederkehrenden Motive Reisepass und Flughafen in SAIDs Schreib-Szene treten im Zusammenhang mit Ref lexionen über Fremderfahrung auf. Bei der ersten Reise der Ich-Figur in die Bundesrepublik Deutschland ist der Frankfurter Flughafen der Ort einer Begegnung mit der Fremde. Beim zweiten Wiedersehen mit der Mutter vollzieht sich diese Erfahrung am Flughafen Toronto. Die Erinnerungen an die Aufenthalte an unterschiedlichen – fremden – Flughäfen werden mit dem Aufenthalt an Mehrabad kontrastiert. Die Macht der Grenze wird durch den Stempel der Flughafenkontrolle symbolisiert und verbildlicht für das fühlende Ich einen emotionslosen, aber verbindlichen Moment.284 Diesem emotionslosen Moment wirkt ein emotionaler entgegen: Der sonst namenlose ›Rückkehrer‹ muss seinen Namen – sein Identifikationsmerkmal – nicht mehr buchstabieren. Welch eine Freude! Hier schreibt man meinen Namen, ohne daß ich ihn buchstabieren muß.285

282 Ebd., 16. 283 Ebd., 19. 284   Das Gegenteil spiegelt sich in der Begegnung mit dem Münchner Beamten und bei der Abgabe des iranischen Nationalpasses wider. Die Identifizierung mit dem Pass ist hier ein emotionales Ereignis, wird allerdings nicht durch das Ich, sondern durch den Münchner Beamten ins Bewusstsein gerufen (SAID: Briefe, aber an wen, 1986, 19). 285  SAID: Wo ich sterbe ist meine Fremde, 1983, 25.

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In Teheran angekommen, unternimmt der ›Rückkehrer‹ die »ersten Gehversuche«286 und begibt sich auf die »Suche nach/Den Hinterhöfen meiner Kindheit«.287 Teheran ist bereits hier ein geschichtlicher Ort, der nun bewusst erinnert wird. Die ›Gehversuche‹ werden zum Sinnbild für die individuelle Erinnerungsarbeit: Meine Augen brauchen Zeit, um sich zu erinnern, um sich zu vergewissern.288 Waren im Flugzeug die Hände und die Augen das Organ der Heimaterfahrung, sind es nun die Füße und die Augen. Das ›Sich-Vergewissern‹ über Erinnerungen bestätigt die Bedachtsamkeit des Ich. Das Bewusstwerden der Heimat hinterlässt seine Spuren in Sehen, Fühlen, Riechen, Sprechen und Hören. Die mit diesem Prozess einhergehenden Identifikationsversuche des Ich messen sich an den Gedächtnisinhalten, sind alltäglich und selektiv: Die Messingschale, gekettet an den Kübel mit getrübtem Wasser, wandert von Hand zu Hand Unhygienisch? Ich trinke Und verlasse mich auf das Gedächtnis meiner Eingeweide.289

Obwohl Heimat im Gedichtband Wo ich sterbe ist meine Fremde einen, wie oben beschrieben wurde, Prozess des Bewusstwerdens durchläuft, stellt Heimat für den Erzähler in grenzänge. eine erinnerung paradoxerweise »ein[en] begriff des unbewußten«290 dar: wenn ich die heimat beschreiben will, kann ich nicht über die fahne, die nationalhymne oder den stolz sprechen. das wäre in diesem jahrhundert ein scherz. ich muß von den sinnen sprechen. den farben und gerüchen, die es nur in teheran gibt.291 Von der nationalen Auffassung der Heimat distanziert sich das Ich entscheidend und erklärt die Heimat zu einem heutzutage unpolitischen Begriff. Die Problematisierung der politischen Heimat-Auffassung hat für die Ich-Figur eine persönliche Note: Ihr Vater war nämlich Offizier und so auch eine Figur in einer Uniform als Symbol für die 286 Ebd., 17. 287 Ebd., 48. 288 Ebd., 23. 289 Ebd., 29. 290  SAID: grenzgänge, 2004, 22. 291 Ebd., 13.

4. Der Mythos Europa – die Metapher der Heimat – die Macht der Sprache

nationale Einheit. Das Ich selbst lebt im Exil, musste seinen iranischen Nationalpass abgegeben. Und im Gedichtband Wo ich sterbe ist meine Fremde erfährt der Leser, dass Teheran nur eine Stadt vergangener Erlebnismomente ist. Teheran ist jedoch die Geburtsstadt des Ich und die Hauptstadt mit einem national-repräsentativen Charakter. Daher ließe sich Teheran zu Motiv erklären, das emotionale und nationale Gefühle zugleich repräsentiert. Dieses Motiv erklärt Teheran zu einer Erinnerungsstadt, an der individuelle und kulturelle Identifikation durch Hinwendung und Verneinung abgelesen werden. In der Erinnerungsarbeit des Ich steuert der Verlust dieser Identifikation Prozesse der Heimat-Entfremdung und motiviert die der Heimat-Suche. Die Positionierung des Vaters als eine Figur zur Gestaltung der historischen Identitätsarbeit einerseits und als Offizier-Figur anderseits trägt in der Erzählwelt eine besondere Bedeutung. Auch in Farsaies Roman Eines Dienstags beschloss meine Mutter Deutsche zu werden diente Royas Vater unter der Regierung Mohammad Reza Pahlavis. Politisch identifizierte er sich mit der kommunistischen Tudeh-Partei, f loh nach der Islamischen Revolution nach Deutschland und arbeitete hier an einem nostalgischen Heimat-Bild, das allerdings nur ihm selbst dienlich sein konnte. Die Offizier Taheri in Salami Aleikum wird als nationale Heimat-Figur positioniert und zusammen mit Bergheim als Vertreter einer Generation verortet, die ihren Stolz in einem nationalen Sinn für Heimat und in der Treue zu ihr sieht. Dieser Sinn wird vor allem durch die Uniformen der Königlichen Armee (Taheri) und der Volksarmee (Bergheim) symbolisiert und satirisch dargestellt. Dass Taheri und Bergheim betrunken die Uniformjacken tauschen, dass plötzlich ein Kommunist als Erzfeind der Monarchie die Uniform Seiner Majestät und ein Offizier der Königlichen Armee die Uniform eines Kommunisten trägt, erzeugt Satire und auch Staunen. Mit der zweiten Exilphase setzen Prozesse der Entfremdung in SAIDs Schreib-Szene an. Hier beginnt auch die Suche der Ich-Figur nach der Heimat. Konstruktionen, in denen diese Suche eingebettet wird, verbildlichen die Kontrastierung des Historischen und des Gegenwärtigen, indem sie bei der Begegnung mit der historischen Heimat in der Jetzt-Zeit der Erzählung auch Störungsmomente thematisieren.292 Die Identitätskrise des Ich wird präfiguriert. Mit Begegnung, Rückkehr, Berührung und Wiederentdeckung werden in SAIDs Schreib-Szene Erinnerungsmomente erzählt, an denen ein Heimat-Entwurf gebildet wird, der politische und staatliche Grenzen der Heimatbestimmung überschreitet. Die Darstellung dieser Erinnerungsepisoden orientiert sich an dem Motiv des Exils und erfolgt in einem Erzählkontext, in dem auch die zuvor besprochene Entfernung von der historischen Heimat Gestalt gewinnt. Kaum ein anderes Motiv hätte sich als Bild für diesen Übergang besser angeboten als das Motiv des Fensters: mein unruhiges fenster will offen bleiben auf eine stadt laut und chaotisch 292   Aus diesen Strategien der Heimat-Konstruktion gewinnen die jüngeren Studien über Raum ihre theoretische Grundlage, beispielsweise in dem Sammelband Störungen im Raum – Raum der Störungen. Die hier versammelten Beiträge befassen sich auf der Grundlage der Wechselbeziehung zwischen Literatur- und Kulturwissenschaften mit dem Ansatz, Überlappung und Hybridisierung als Prozesse zu begreifen, die einst gültige Gesetze, Normen und Vereinbarungen zunehmend in Frage stellen bzw. ergänzen (Gansel et al. (Hgg.): Störungen im Raum, 2012).

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mit einem eigenen geruch bewaffnet mein fenster hasst den lärm von draußen will ihn aber von innen betrachten mir kommt seine seele gespalten vor ihm ist das nie aufgefallen mein fenster verschließt sich den göttern um andere gebete zu vernehmen.293 Die mit den Attributen ›chaotisch‹, ›lärmend‹ und ›geruchvoll‹ geschmückte Stadt ist keine andere als Teheran. Das Motiv des ›unruhigen Fensters‹ wird personifiziert und durch die Sinne auch emotional semantisiert: Es hört, sieht, hat eine gespaltene Seele und besitzt die Fähigkeit, sich den Göttern zu verschließen, um andere Gebete zu vernehmen. Die Personifikation des Fensters macht es zu einem Dialogpartner des Ich, das – so gab es sich bereits im Text Briefe, aber an wen zu erkennen – die Suche nach einem Gesprächspartner nie aufgibt. Durch diesen fiktiven Gesprächspartner entsteht eine Kommunikationssituation, die das Mitteilungsbedürfnis des Ich befriedigen soll. In diese Kommunikationssituation projiziert das Ich seine eigenen Erwartungen. Die in diesem Text praktizierte Erzählstrategie erinnert stark an den früheren Text Brief an Europa und schafft einen intertextuellen Bezug, in dem auch das Motiv Fenster betrachtet werden soll. Das Fenster, das einst das Licht der Heimat und das Ich voneinander trennte, oder sie einander näherbrachte, zeigt nun menschliche Unruhe. Intertextuell betrachtet, wird mit dem Fenster zum einen die Grenze zwischen Wunsch und Realität beschrieben, wobei das Fenster selbst zu einem porösen Raum, der den Blick von Innen nach Außen führt, gemacht wird. Zum anderen wird mit der Doppelfunktion des Fensters eine Allegorie für das Ich gebildet, die auf dessen Zwiespältigkeit hindeuten soll. Dreimal wird es nämlich ›mein Fenster‹ genannt. An der Zwiespältigkeit ist das paradoxe Verhältnis des Ich zu Teheran ablesbar. Dieses Verhältnis erfährt eine komplexe Steigerung, wenn die Stadt mit sich widersprechende Bedeutungsvarianten suggeriert. In einem der bereits zitierten Stelle vorausgehenden Gedicht gibt Teheran »seine anweisungen im f lüsterton/um schlummernde fremde nicht zu wecken«.294 Es ist nicht mehr laut und chaotisch, sondern f lüstert nur dem Ich zu, das im letzten Vers auftritt und bekundet, Teheran liege seinen Händen fern; es bezeichnet die Stadt als sein »abgetragenes land«.295 An anderer Stelle heißt es: Teheran, eine dunkle Stadt mit zwei geöffneten Fenstern für meine Rückkehr. Und die Verbannten, Mutter, nahmen sie auch die Fenster mit?296 293  SAID: ruf zurück die vögel, 2010, 11. 294 Ebd., 10. 295  Ebd. 296  SAID: Selbstbildnis, 1992, 14.

4. Der Mythos Europa – die Metapher der Heimat – die Macht der Sprache

Die einst bei der Rückkehr des Ich beleuchtete Stadt ist nun in Dunkelheit versunken. Es sind aber hier zugleich zwei geöffnete Fenster, die mit der Rückkehr in Verbindung gebracht werden. Wenn, wie oben bereits deutlich wurde, das Ich Teheran zuallererst durch das Sehen wahrnimmt,297 so wird durch die dunkle Stadt auch das Motiv des Sehens wiederbelebt. Das Ich blickt in die Dunkelheit, will sehen und erkennen, die Dunkelheit hindert sie jedoch am Erkenntnisgewinn. Die beiden Fenster verbinden die auf das Erkennen bedachte Innenwelt des Ich und die dunkle Außenwelt der Stadt und lassen sich auch Metapher für die beiden Augen interpretieren. Dem Motiv des Fensters wird zunächst die Bedeutung der Hoffnung zugeschrieben. Diese Bedeutung wird dann auf die des Sehens und Erkennens erweitert. Das, was schließlich geschieht, erklärt die Stadt, d.h. die Heimat endgültig der Vergangenheit: Die suggestive Frage an die Mutter zum Schluss kehrt die Perspektive zu dem Vereinsamten Ich zurück und stellt das Fortbesteht der Hoffnung und somit auch die (endgültige) Rückkehr in Frage. Die Dunkelheit siegt über die Hoffnung. Der Sieg ruft im lyrischen Ich die Furcht vor dem Verlust der historischen Heimat. Diese Furcht wird durch verschiedene Referenzen thematisiert. Hierzu gehören das Politische im Allgemeinen, die verfehlten Ziele der Revolution und die Unerfülltheit der freiheitlichen Ideale im Besonderen. Die Angst schlägt sich darin nieder, dass man f lüstert, wenn man über Freiheit spricht: Immer noch nimmt meine Stimme den Flüsterton an, wenn von Freiheit die Rede ist.298 Mit Rückgriff auf Freiheit als Grundwert, an dem – wie bereits erörtert – die Europa-Erfahrungen des Ich sich ablesen lassen, ref lektiert das lyrische Ich nun über seine Suche nach der Freiheit. Die Perspektive, in der diese Suche erzählerisch Gestalt gewinnt, wird mit Hilfe von zentralen Motiven Europa, Heimat und Freiheit gebildet. An dieser Stelle setzt das Motiv Freiheit die Heimat in der Erinnerungsperspektive des Ich mit der in dessen Erfahrungsperspektive in eine Beziehung. So heißt es im Gedicht Ein Zeitungsfoto: Nach dem Sturz des Schah – vor dem Zentralgefängnis von Teheran warten Tausende auf ihre Nächsten. Ein Vater trägt den Sohn auf den Schultern, der Sohn hält in den Händen ein Plakat: FREIHEIT Ein Mann wartet auf seine Frau Ein Sohn 297  SAID: Wo ich sterbe ist meine Fremde, 1983, 14. 298 Ebd., 46.

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wartet auf seine Mutter. Und die Freiheit – worauf wartet die Freiheit?299 Freiheit ist das Einzige Wort in diesem Gedicht, das in Kapitalbuchstaben geschrieben ist, so dass die Relevanz dieses Begriffes – besser gesagt dieses Wertes – für das lyrische Ich auch graphemisch hervorgehoben wird. Die Klage über das Verfehlen der politischen Ziele, über die unerfüllten Ideale und über die Sehnsucht nach Freiheit korrespondiert mit dem Bild von Teheran als ›abgetragenem Land‹ in Dunkelheit. Im Gedicht Die letzte Nacht schlägt die anfängliche Euphorie des Wiedersehens in die Erkenntnis um, »daß Wiedersehen traurig macht«.300 Auch diese Trauer wird durch den Geruchssinn ausgelöst. So heißt es im Gedicht Was ist geschehen mit meiner Stadt: Die Flieder duften nicht wie früher. Früher gingen die Menschen einfach langsamer. Und die Tauben – sie sitzen nicht mehr auf dem Gehsteig.301 Auf der öffentlichen Ebene wird die Entfremdung bei der Rückkehr in die historische Heimat durch das Einbeziehen des Kollektivs thematisiert, um dadurch die Eigenartigkeit des Heimkehrers umso deutlicher hervorzuheben: Immer wieder falle ich den Menschen auf – als Fremder. Woran liegt es? An meinem Blick? An meiner ungebügelten Hose? Weil ich den Zeitungsverkäufer zuerst grüße? Weil ich auch Frauen die Hand schütteln will? Sind wir – die Heimkehrer – eine eigene Rasse geworden?302 Die Erkenntnis über die Entfremdung des Ich mündet schließlich in den Abschied am zentralen Schauplatz des Ich, am Teheraner Flughafen303 ein: 299 Ebd., 57. 300 Ebd., 79. 301 Ebd., 71. 302 Ebd., 75. 303   Das Motiv Flughafen findet sich in SAIDs Werk öfter. Zum ersten Mal taucht es in der Erzählung über die erste Abreise des Siebzehnjährigen ins Ausland am 19. November 1965 im Kontext der Ab-

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Letzter Blick auf diese Stadt. Schon einmal habe ich sie verlassen, wie ein Mann, der Zigaretten holt. Emigrant ist, wer länger bleibt.304 Dieser Abschied schlägt am Ende des Gedichts zwar in eine Banalität um; er wird aber zugleich zu einem quälenden Ereignis, das das gesamte zweite Exil prägen wird: Teheran! Hinter meinen Pupillen wächst die Bitterblume in den Nächten des Exils, die alle Deinen Namen tragen.305 Genauer betrachtet ist dieses Ereignis kein Abschied, von dem das gleichnamige Gedicht handelt, sondern ein Anlass zur Charakterisierung einer vergangenen und ›abgetragenen‹ Stadt, die von nun an in einer erinnerten Geschichte existieren wird. Die abgetragene Stadt gleicht einem Kleidungsstück, das jahrelang seine Dienste geleistet hat, indem es sich dem Körper des Ich angepasst hat, dieses nach außen bedeckt, aber auch kenntlich gemacht hat. Nun sind kleine Falten und Löcher sichtbar geworden, so dass dieses Kleidungsstück schließlich nicht mehr brauchbar ist. Es ist alt, unmodisch und verschwindet aus dem Blick. Bestätigt wird diese Deutung auch dadurch, dass Teheran für das Ich einer Blume mit bitterem Duft gleicht, die hinter den Pupillen wächst. Teheran wird in diesem Gedicht wieder angesprochen. Das Ausrufezeichen deutet auf die f lehende Bitte des Ich an, seine Situation zu verändern. Die Nächte im Exil werden durch die Erinnerungen an Teheran geprägt. Insofern kann die Anrufung des alten, positiv besetzten Teherans als Bitte aufgefasst werden, die Bitterkeit des Exils aufzuheben. Das Abstandnehmen von Teheran geschieht vorsichtig und durchläuft mehrere Etappen. Als Heimat verschwindet Teheran nicht gänzlich, sondern bleibt als Ort des Gedächtnisses stets präsent. Das Gedächtnis, »diese brüchige haut der seele«306 wird zu einem tragenden Motiv der Heimat-Verwahrung:

schiedsszene auf, in der das weinende Gesicht des Vaters und das Flugzeug der Iran Air prägende Momente sind (SAID: grenzgänge, 2004, 16-18). 304  SAID: Wo ich sterbe ist meine Fremde, 1983, 82. – In der Abschiedsszene gibt es eine Steigerung, und zwar im Gedicht Auf der Einstiegstreppe: »Zwanzig Stufen/Auf so einem Metallding führen/in eine andere Welt./Die Tür wird geschlossen/und wir steigen/in die leere Luft« (ebd., 86). 305 Ebd., 84. 306  SAID: ruf zurück die vögel, 2010, 58.

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meine augen beten nicht mehr sie haben zu viel gesehen meinen sie um sich noch zu verschließen doch sie verschwören sich oft mit meinem gedächtnis dem einzigen feind der mir geblieben ist in solchen momenten empfangen sie botschaften mit geschlossenen lidern das licht das sie dann öffnet nennen sie ihr eigenes.307 Die Augen mit ihrer Fähigkeit das Licht – die Wirklichkeit – zu sehen, werden zu Komplizen des Gedächtnisses im Kampf gegen das Ich. Beide wirken zusammen, rufen gemeinsam Bilder wach und gewinnen auch diesen Kampf. Im Selbstbildnis heißt es: weißt Du, aus der Ferne, in der Fremde vergißt man wenig; man konserviert die Sinne für den tag der rückkehr.308 Der Blick des Ich auf die Heimat ist aus der Ferne auf sie gerichtet. Die Sinne sind für die Heimat geschaffen und werden in der Ferne zum Komplizen des Ich und sollen sich erst wieder voll entfalten, wenn die Rückkehr möglich ist. Die Sinne sollen verhindern, dass die neuen Eindrücke in der Ferne die alten in der Heimat überlagern. Der ›Tag der Rückkehr‹ bleibt unpräzise und unbestimmt. Er soll die Hoffnung erkennen lassen, mit der SAIDs Ich in seinem zweiten Exil zu leben lernt. Wie zentral das Motiv der Sinne für die Heimat ist, zeigt sich nun im zweiten Exil. Hier lässt das Ich die Heimat nämlich durch die Sinne zum Vorschein kommen, und zwar dort, wo man sie am wenigsten erwartet. Ein Exempel dafür ist die Beschreibung von Farben, die heimatspezifische Eigenschaften ins Gedächtnis rufen. So geht Teheran im Lyrikband Wo ich sterbe ist meine Fremde plötzlich in Rom auf, wie das Ich seiner Geliebten erzählt: ich habe sie gefunden, die blaugestrichene Holztür, auf die wir gestoßen sind am Ende einer Gasse in Rom. Weißt du noch, wie ich dich davor festhielt

307 Ebd., 12. 308  SAID: Selbstbildnis, 1992, 25.

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und zitterte? Weißt du noch?309 Ein weiterer Versuch erfolgt beim Spaziergang am Hafen von Piräus in dem späteren Text grenzgänge: in palermo habe ich eine packung sonnenblumenkerne gekauft und bin spuckend durch die straßen geschlendert wie als vierzehnjähriger in teheran. und in piräus habe ich einmal einem straßenhändler mit einem handkarren einen maiskolben abgekauft. ich habe salz darauf gestreut, wie man es in teheran tut. am hafen von piräus stehend, habe ich so die heimat wiedergekäut.310 Zwar geht es aus dem Gedicht nicht hervor, in welchem Zusammenhang die »blaugestrichene Holztür« an Teheran erinnern soll, aber das Motiv der Augen und des Sehens werden hier wieder aufgegriffen. Beim Sehen vergegenwärtigt sich die Heimat. Das Bild des Wiederkäuens, d.h. des sich langen Auf haltens mit dem Verdauen und des immer wieder Durchkauens schließt hier das Heimat-Werdens als ein stets wiederholtes Verfahren. Beim Vergegenwärtigen der Heimat werden Vergessen und Erinnern miteinander nicht kontrastiert, sondern treten im »inneren auge«311 des Ich als sich bedingende Komponente auf. Das ›innere Auge‹ hat nämlich die Fähigkeit, Erinnerungen wieder zu beleben, sogar wenn sie »ein wenig fremd geworden – ein wenig ausgefranst«312 sind. Es korreliert in seiner Funktion als Instanz der Bewahrung mit dem Bild von ›konservierten Sinnen‹, die, bis die Rückkehr möglich ist, nicht intensive genutzt werden. Die Gedächtnis- und Erinnerungsarbeit erfüllen für SAIDs Ich-Figur ihre Aufgabe im Sinne einer Orientierung, die in der Konstruktion der historischen Heimat in der Ferne beginnt. Zahlreiche Bildern veranschaulichen zum einen, dass die Konstruktion der historischen Heimat im Wesentlichen einem individuellen Zugang folgt, der in SAIDs Schreib-Szene insbesondere durch die Sinne geprägt und organisiert ist. Zum anderen zeigt dieser individuelle Zusammenhang, dass die historische Heimat im Grunde überall existieren kann, wo die Sinne erweckt werden und wo sie im Gedächtnis einen Referenzbereich besitzen, der die Erinnerungsarbeit aktivieren kann. Einmal in den Sinnen gespeichert, gleicht die historische Heimat einem Konstrukt, das von Ich auf seinen weiteren Entdeckungsfahrten getragen werden kann.

4.2.3.3 Abschied Ästhetische Anspielungen auf Erinnerungen an die historische Heimat bleiben in den achtziger Jahren ein Merkmal in SAIDs Schreib-Szene und erzeugen dort, wo diese Heimat verwahrt werden soll, auch Bedeutungen, durch die das Heimat-Verständnis der Ich-Figur vermutet werden kann. Das Fenster als verbildlichte Hoffnung auf eine Rückkehr in die Heimat ist ein relevantes Beispiel für die ästhetische Anspielung auf Erinnerungen an die Heimat. 309  SAID: Wo ich sterbe ist meine Fremde, 1983, 53. 310  SAID: grenzgänge, 2004, 22. 311 Ebd., 14. 312  Ebd.

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Die Heimat am Horizont der Hoffnung zu verorten, erweist sich als literarische Strategie in den 1980er Jahren und trägt differierende Aspekte eines exterritorialen Heimat-Verständnisses zutage, die in einem intertextuellen Vergleich erörtert werden können. An Heimat im Sinne einer Hoffnung auf ein Wiedersehen, wie dies am Motiv der Rückkehr bereits beschrieben wurde, lässt sich nämlich ein oppositionelles Verhältnis zur Heimat-Verortung in TORKANs Schreib-Szene aufzeigen. In der Erzählung Tufan legt Asar ihrem Bruder gegenüber das Bekenntnis ab, sie wolle nichts mit dem Iran zu schaffen haben.313 Zwar kehrt die Figur in die historische Heimat zurück, nimmt aber die Rückkehr und das Wiedersehen als Anlass zu einem Abschied. Die Rückkehr und das Wiedersehen rufen in TORKANs Schreib-Szene in das Bewusstsein der Figur Entfremdung hervor. An den Poetiken der Entfremdung lässt sich die Heimat-Verortung ablesen. Nichts Politisches verleitet TORKANs Figur zur Loslösung von der Heimat, sondern das Familiär-Private: Spätsommer 1977. Ich kehrte zurück Ich kehrte nicht zurück in einer Hoffnung, von euch geliebt zu werden. Ich kehrte nicht zurück, bei euch zu bleiben Ich war nicht gekommen, vor euch Rechenschaft abzulegen. Ich hoffe, an nichts erinnert zu werden, nicht an die letzten Tage, nicht an jene letzte Nacht ... Ich wollte nicht bleiben, wollte nicht die zerrissenen Fäden der Verwandtschaft wieder zusammenknüpfen, ich wollte auch nicht eine verlorene Liebe beweinen.314 Hier wird die Identitätsarbeit beim Wiedersehen in zweifacher Weise gestaltet: Durch die Familie – dreimal wird die zweite Person Plural angesprochen – wie durch die »Verwandtschaft« und durch die »verlorene Liebe«. Die Gesamtaussage dieses Abschnittes wird durch wiederholte Negationen determiniert. Die negative Determination lässt die Haltung der weiblichen Ich-Figur bei der Rückkehr in das Heimatliche als eine durchaus distanzierte interpretieren. Für diese distanzierte Haltung spricht auch die Symbolik der ›zerrissenen Fäden‹, um deren Zusammenknüpfen das Ich sich nicht bemühen will. In dem Spannungsverhältnis der Rückkehr und der Wahrung der Distanz wird die Figur des Bruders mit einer widersprüchlichen Funktion verortet: Zum einen bereitet sie Asars Distanz zum familiären Kontext vor, zum anderen relativiert sie diese Distanz, indem sie Heimat-Erinnerungen in Asars Gedächtnis zurückruft. In Asars Erinnerungsarbeit spielt Tufan insofern eine zentrale Rolle, als sein Besuch in der Bundesrepublik unmittelbar der Rückkehr Asars aus dem Iran nach Deutschland folgt. Strukturell wird die Geschichte seines Besuches im ersten Kapitel mit dem Titel Erinnerung erzählt, um diese Geschichte im zweiten Kapitel Rückkehr mehrmals aufgreifen zu können. Durch die Figur des Bruders werden »Gedanken ohne Bilder der Erfahrung«,315 Erinnerungen »verblasst mit Jahren« und die »letzten Fäden der Empfindung« neu angeknüpft.316 Das Motiv der Rückkehr präfiguriert die Distanzierung von Erinnerungen und die Distanzierung den Abschied von der Heimat. In TORKANs 313   TORKAN: Tufan, 1983, 173. 314 Ebd., 119. 315 Ebd., 108. 316 Ebd., 119.

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Schreib-Szene wird die Hauptfigur Krisenmomenten ausgesetzt, die ihre Dynamik in einem Spannungsfeld von Rückkehr und Abschied entwickeln; hierbei erfahren die Krisenmomente ihre poetische Darstellung und rufen Entfremdung hervor. Die poetische Darstellung der Krisenmomente vollzieht sich in den Augenblicken des Sich-Erinnerns bei den Spaziergängen durch die Teheraner Straßen: Ich ging diese endlose Allee entlang, ging stadtauswärts gen Norden – und konnte mich an nichts erinnern. Meine frühere Schule wirkte wie eingezwängt zwischen den steilen Fassaden der Hochhäuser, die dort früher nicht standen. Das prunkvolle Schultor war verschwunden./An meiner Bushaltstelle, an der ich jeden Mittag und jeden Nachmittag gestanden hatte, war ein Taxi-Stand./Die Konditorei, die Apotheke, das Delikatessengeschäft waren wegsaniert – da stand nur ein braunes Gebäude.317 Die Gebäuden und Einrichtungen, auf die sich die Erinnerungsarbeit stützen soll, existieren nicht mehr. Die bedeutungstragenden Erinnerungsmedien sind verschwunden, aber die Ich-Figur erinnert sich dennoch. Das Aufarbeiten von Gedächtnisinhalten vollzieht sich also in widersprüchlichen Momenten des Sich-Erinnerns, die Erinnerungen in das Bewusstsein der Ich-Figur hervorrufen. Wenn die Erinnerungsarbeit durch die Absenz der für die Ich-Figur bedeutungstragenden Erinnerungsmedien gesteuert wird, so erzeugt die Erinnerungsarbeit ein Paradoxon, mit dem Erinnerungen nicht auf die Identifikation der Ich-Figur mit der Heimat hin, sondern auf die Entfremdung von ihr erzählt werden. mein geburtshaus war heruntergekommen, unbewohnt und die fensterscheiben waren zerbrochen. ein anderes haus war mittlerweile in drei wohnungen aufgeteilt worden. man steht davor und weiß, daß man etwas verloren hat. über die schwelle tritt man nicht mehr.318 Asar verfolgt bei ihrer Rückkehr eine völlig andere Absicht als SAIDs Ich-Figur, nämlich die des totalen Bruches mit ihrer Vergangenheit. Diesen Bruch will sie sich nur noch einmal durch einen Besuch bestätigen. Der Bruch gelingt aber nicht, denn die historische Heimat bleibt in den Erinnerungen wie in der Erzählwelt präsent. Das Gefühl der Euphorie und der Nostalgie, die der Leser in SAIDs Schreib-Szene erfährt, wird hier durch Melancholie ersetzt und präfiguriert die Abschiedsszenen bereits vor zweiter Abreise der von TORKANs Hauptfigur aus Teheran. Erinnerungsverluste erlauben keine Anknüpfungspunkte zwischen Vergangenem und Gegenwärtigem. Während die Sinne von SAIDs Ich-Figur Vergangenes und Gegenwärtiges ineinander verschmelzen lassen, produziert TORKANs Erzählwelt nur »Gedankenbilder«, »auf bewahrte Bilder«,319 »Splitter der Erinnerungen an die gesellschaftliche Wirklichkeit«320. Diese Metaphern deuten darauf hin, dass Heimat durch den Zusammenbruch bzw. den Verlust von Gebäuden und Einrichtungen sowie durch die Unvollständigkeit der Erinnerungen allmählich selbst dem Vergessen anheimgefallen ist. Diese Inter317   TORKAN: Tufan, 1983, 121f. 318  SAID: grenzgänge, 2004, 21f. 319   TORKAN: Tufan, 1983, 122. 320 Ebd., 127.

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pretation geht auch aus dem Motiv des ›braunen Gebäudes‹ hervor. Es ist ein neues und Asar unbekanntes Gebäude mit einer bestimmten Bedeutung. Es vergegenwärtigt nämlich den Verlust von früheren Gebäuden und so auch von Erinnerungen. Dadurch, dass es neu und Asar unbekannt ist, ist es für sie ein inhaltsleeres Gebäude. So verstärkt das ›braune Gebäude‹ auch die Entfremdung von Heimat. Teheran wird für Asar schließlich zu einer fremden Stadt wie Paris und Rom, zu denen sie keine Bindung herstellen kann. Entscheidend im Vergleich zu SAIDs Ich-Figur ist aber auch, dass Asar dem Verlust weder mit Wehmut noch Traurigkeit begegnet. Hoffnung und Nostalgie kommen ebenfalls nicht auf. Letztlich ist Asar froh, nichts mehr vorzufinden, was heimatliche Gefühle in ihr wachrufen könnte. Anders reagiert SAIDs Ich-Figur, denn sie ist sogar darauf angewiesen, die Heimat wiederzuentdecken. Asar spürt bei der Rückkehr in die historische Heimat statt »schmerzlicher Erinnerungen der Vergangenheit« eine »sanfte Ruhe«: »Nun brauchte ich keine Angst mehr vor meiner Erinnerung zu haben«.321 Indem die Erinnerungsarbeit nicht die unmittelbare Identifikation der Ich-Figur mit der Heimat, sondern die Entfremdung von ihr beschreibt, indem sie keine Hoffnung und Nostalgie, sondern Abschied und Melancholie hervorbringt, problematisiert TORKANs Erzählwelt das Gefühl des Heimwehs. Dieses Gefühl scheint bei der Identitätsarbeit der Figur nicht unwichtig zu sein. Familie und Gesellschaft – zwei Motive der Identitätsarbeit – dienen Asar auch zur Schilderung ihrer eigenen Entfremdung. Auch hier sind es die Vater- und Brüder-Figuren, an denen sich die familiäre Distanz entfaltet und Momente der Entfremdung beschrieben werden.322 So schreibt Asar in ihrem fiktiven Brief an Tufan: »Ich hatte meine Heimat mit neuen Augen zu sehen gelernt. Nicht nur ich war eine Fremde geworden, auch ihr wart mir fremd«.323 Die Momente der Entfremdung, die in der Interaktion mit der Familie die emotionale Distanz trotz der räumlichen Nähe hervorrufen, bleiben nicht auf die private Sphäre beschränkt. TORKANs Erzählwelt greift auf das Motiv der Religion zurück, das den politischen und kulturellen Diskurs im Iran der 1980er Jahre geprägt haben, und beschreibt dabei die Entfremdung auch im öffentlichen Kontext. Mit Gesellschaft und Familie werden zwei Motive gebildet, die auf Diskurse des Kulturellen hinweisen. Ihr Bindeelement ist die Religion, genauer gesagt der Islam, dessen Wirkungen seit den 1990er Jahren exterritoriale Dimensionen gewonnen haben. In diesem Zusammenhang entfaltet sich die Entfremdung von der Heimat ohne die Perspektive des Eigenen und des Fremden. Vielmehr werden an der Hauptfigur Prozesse gradueller Heimat-Entfremdung geschildert, die auf Transformationen des Kulturellen jenseits eines geographischen Raumes verweisen. Die ontologische Bestimmung des Eigenen und Fremden wird auch anderenorts aufgehoben. Blickt man auf die Erzählung Kaltland zurück, so ist die Bundesrepublik Deutschland vor dem Mauerfall zunächst etwas Fremdes, der Protagonistin aber bietet Deutschland die Möglichkeit der Aneignung. Vergleicht man beide Texte intertextuell, so lässt sich ein Prozess rekonstruieren, an dem der Austritt der weiblichen Figur in Tufan aus der historischen Heimat und die Suche nach Heimat in Kaltland sich zum Erzählstoff avancieren. Am vorläufigen 321 Ebd., 122. 322 Ebd., 45. 323 Ebd., 162.

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Ende dieses Prozesses wird eine Figur positioniert, die das Generationsgedächtnis in sich tragen soll. Sie ist das Kind einer Perserin, das in der Bundesrepublik geborenen ist. An der Modellierung dieser Figur vollzieht sich eine Perspektivenumkehrung. Das namenlose Kind hegt in Bezug auf die Heimat und Sprache der Mutter Fremdheitsgefühle. Gleichzeitig wird es aber am deutschen Ort seiner Geburt mit Fremdheit konfrontiert. Entfremdung und Fremdheitszuschreibung greifen ineinander. Die Perspektivenumkehrung wird durch Onkel Tufan, an dem die einzige Verbindung zu der historischen Heimat hergestellt wird, verstärkt. Die Verstärkung zeigt sich darin, dass das Kind nicht direkt, sondern aus Tufans Perspektive verortet wird. Von der Positionierung des Kindes im Wechsel des Generationsgedächtnisses und des individuellen Gedächtnisses profitieren die Motive der Rückkehr und des Abschieds. Bei Asars Rückkehr nach Teheran repräsentiert das Kind die ›deutsche‹ Komponente eines Migrationsgedächtnisses. Im Flugzeug in Richtung Iran nimmt eine Mitreisende wahr, wie Asar mit ihrem Kind Deutsch spricht: Sie ist eine Perserin! Und sie spricht ausländisch mit ihrem Kind! Diese Möchtegern-Europäerinnen! Kaum zwei Monate außer Landes – und schon sprechen sie kein Persisch mehr! … Und das Kind! … Das Kind versteht tatsächlich kein Persisch! … Wessen Schuld ist das wohl? … Und sie? Sie muß doch wohl noch Persisch können! Sie tut nur so, als verstehe sie nicht […].324 Im Flugzeug ist es die Sprache, an der sich Strategien der Inklusion und Exklusion verwirklichen. Im Flughafen Mehrabad sind es »getrennte Schlangen, Inländer – Ausländer«.325 Asar, eine Iranerin mit deutschem Reisepass, stellt sich in die Schlange der Ausländer und hört die Bemerkung einer Person von der Inländer-Schlange: »Ich könnte schwören – sie ist eine Perserin! Wer weiß, vielleicht ist sie das uneheliche Kind eines Persers mit einer Ausländerin«.326 Diese Szene thematisiert den Identitätszwangs, der hier im Spannungsfeld von Heimat, Herkunft, Aussehen, Sprache und Reisepasses beschrieben wird. Unter diesen Aspekten korrespondiert die Schreib-Szene mit der Darstellungsszene in Almanya, in der genau diese Aspekte zwecks Identitätszuschreibung zusammengeführt und problematisiert werden. Bei der Instrumentalisierung der Heimat zwecks Identitätszuschreibung ist die Funktion wie Bedeutung der Bundesrepublik Deutschland evident, denn sie fungiert als oppositioneller Pol der Heimat-Bestimmung, wobei die Schilderung von persischen Besonderheiten durchaus dominant ist. Die entsprechende Szene ist die Beschreibung iranischer Handelsmentalität, aus der die Besucherin ihren Eindruck über Vielfältigkeit und Widerspruch ableitet.327 Der Projektionsbereich dieses Eindrucks ist der Norden Teherans als Ort des Wohlstands, des Luxus und der Eleganz: »Frauen, nach der neuesten und verrücktesten Pariser Mode gekleidet, halbnackt, verführerisch und elegant«.328 An diesem Ort sprechen »die Perser gebrochen farsi aber f ließendes Englisch«, und zwar Oxford-Englisch, denn in diesen feinen Kreisen gelten »die Nordamerikaner 324 Ebd., 120. 325  Ebd. 326  Ebd. 327 Ebd., 129. 328 Ebd., 141.

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und Europäer als kulturlose Barbaren«.329 Europa gilt offenbar hier nicht als Hort der Auf klärung und Freiheit, sondern ref lektiert das Image der längst der Vergangenheit angehörenden Kolonialmacht Großbritannien. Durch die Verlagerung des Europa-Bildes von dem Image der Freiheit auf das des Kolonialismus kontrastiert die Hauptfigur ein Gegenbild des durch den Kolonialismus geläufigen ›kulturlosen Orientalen‹ und beschreibt dabei »die andere Wirklichkeit des Orients – eine Elite«, die Kapitalismus und Mode nacheifert.330 Im modernen Bild des prä-revolutionären Irans sieh Asar ein Bild des Widerspruchs, das von ihr geliebt und gehasst wird, in dem sie Abstoßung und Reiz gleichzeitig entdeckt.331 Die binnengesellschaftlichen Differenzen gestalten das Heimat-Bild und zeugen von einem gespaltenen Verhältnis des zurückkehrenden Ich zu der iranischen Heimat, auf die es retrospektiv in dem Brief an Tufan eingeht: Ich gestehe: Ich hatte einen schmerzvollen Gefallen an euch gefunden. Gefallen an euren Widersprüchen, euren Spielen, euren wortlosen Gefühlen und euren gefühllosen Worten – Worte, die mir nichts über euch sagten, Taten, die Feuer und Eis vermischten. Ich hatte einen verwirrend widersprüchlichen Gefallen gefunden an euren Bergen, sandig und steinig der Wüste zugewandt und gleich wieder saftiggrün dem Strand und gleich wieder saftiggrün dem Strand und Meer zugeneigt.332 Widerspruch als Erkenntnis über die Entfremdung gilt Asar als treibende Kraft ihres Fortgangs: »Ich mußte weit fort. Es würde mich zerreißen unter euch in eurem Land zu leben. […] Ich werde leben können fern von meinem Volk«.333 Weder ist Exil oder Vertreibung, noch Arbeitsmigration der Grund, sich eine neue Heimat zu suchen, sondern der freie Wille eines dem Widerspruch ausgesetzten Individuum, das in der historischen Heimat keinen wohligen und heilen Ort sieht, an den es sich später in »bittersüßer Sehnsucht« erinnert; sie ist ein Ort der Zerrissenheit.334 Mit der Erkenntnis darüber, sie sei im Iran eine Ausländerin,335 und mit dem Konf likt, der sich in ihren Gedanken über sich selbst und über ihr Kind abspielt, nimmt Asar Abschied von Teheran.

4.2.3.3.1 Korrelationen von Heimat-Orten und Heimat-Figuren Mit den Motiven Rückkehr, Wiedersehen und Abschied gestaltet die Erzählwelt Teheran als Ort einer historischen Heimat. Verfestigt wird diese auch durch die Positionierung von Figuren. Hierzu dient die Figur der Mutter. SAIDs Selbstbild und Landschaf ten beschreiben die Verschränkung von Stadt und Mutter als Instanzen einer historischen Heimat. Wie die Stadt wird auch die Mutter in ein Spannungsverhältnis von Nähe und Ferne versetzt, das wiederum im Motiv Geruch Ausdruck findet. Ferner erfolgt die Distanzierung von der Mutter durch die Schilderung von Entfremdungsprozessen des Ich sowie durch die wachsende Entfernung von der die historischen 329  Ebd. 330 Ebd., 142. 331 Ebd., 142f. 332 Ebd., 156. 333 Ebd., 157. 334 Ebd., 158. 335 Ebd., 159.

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Heimat repräsentierenden Figur der Mutter. Beides wird durch das Ich als Folge des Exils perspektiviert. An der Figur der Mutter haften Erinnerungen, die, sofern sie aus der Erinnerungsperspektive der Ich-Figur erfahren werden, »muttergerecht«336 sind. Die Perspektive auf die Heimat als die erste Umgebung, in der Menschen nach ihrer Geburt aufwachsen,337 wird im Kontext der Geburt auf die Mutter erweitert. Im epilog zu einer verlorenen mutter in den Landschaf ten greift der Erzähler auf das Motiv des Abschieds zurück und kontextualisiert dadurch Heimat und Mutter: ich hatte angst vor diesem abschied. denn ich wußte: dieser besuch [in Teheran] bedeutet den abschied von einer mutter, die ich kaum kennengelernt habe. heute weiß ich mehr. dies bedeutet noch einen anderen abschied, den ich immer wieder hinausgeschoben habe. der abschied von einem land, das sich mein vaterland nennt, das ich – trotz alledem – noch als mein land bezeichne. ein abschied von dir und von meinem land. beide habe ich geliebt, auf meine weise. beide wurden mir mit der zeit unzugänglich gemacht.338 Eine nähre Betrachtung dieses Kontexts mit Blick auf die individuelle Geschichte der Ich-Figur bei deren Heimat-Besuch erlaubt die Annahme, dass mit dem Motiv Abschied gleichzeitig Heimat und Mutter positioniert werden, denn im Erzählen der Abschiedsgeschichte avancieren die Heimat wie die Mutter zu der immer fremder werdenden Instanz der Unzugänglichkeit.339 Die Unzugänglichkeit hat für die historische Identitätsarbeit des Ich selbst Konsequenzen, denn sie macht das Ich im Text grenzgänge zu einem machtlosen Objekt. Es sei, heißt es hier, die Geschichte, die entscheide: »doch die geschichte hat sich gegen mich entschieden. nicht, weil ich wichtig wäre, sondern weil sich die geschichte oft gegen die menschen entscheidet«.340 Das einst rebellierende Ich, das politisch Geschichte machen wollte, unterwirft sich nun der Geschichte. Gleiches geschieht in Bezug auf die historische Heimat. Während das Ich in seinem nostalgischen Rückblick unauf hörlich von »meinem Teheran« spricht, gesteht es zum Schluss den Verlust ein: »den korpus des landes habe ich durch die jahre des exils verloren. er ist zerronnen durch meine finger, die die zeit festhalten wollten«.341 Auch hier sind es »die jahre des exils«, d.h. die Zeit und mit ihr auch die Geschichte. Durch das Motiv des Exils erzeugt das Ich ein Spannungsfeld zwischen der Figur der ›fernen‹ Mutter, von der nur selbst entworfene Landschaf ten existieren, und der ›dunklen‹ Stadt Teheran. Dieses Spannungsfeld dient in der Erzählwelt gleichzeitig zum Auf bau von Distanz und Nähe einerseits und zur Darstellung von Erinnerungsund Entfremdungsakten andererseits. Aus der Ich-Perspektiv werden diese Momente zum Beispiel beim Wiedersehen in Toronto mit den Worten eingeleitet: »ich rieche an dir. das einzige, was ich jetzt machen kann, in deinem griff«.342 Die Umarmung bestimmt die Beziehung zur Mutter näher: »dein haar. am ersten tag roch ich daran. der 336  SAID: Selbstbildnis, 1992, 57. 337  Türcke: Heimat wird erst, 2007, 35. 338  SAID: Landschaf ten, 2003, 85-117, hier 85. 339 Ebd., 86. 340  SAID: grenzgänge, 2004, 23. 341  SAID: Landschaf ten, 2003, 86. 342 Ebd., 38.

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geruch von feldblumen. der geruch von kleinen leuten aus der provinz. dichtes, kräftiges haar. meist unter dem kopftuch versteckt«.343 Die emotionale Nähe entsteht durch den Geruch nach Feldblumen und wirkt der räumlichen Ferne entgegen. Die Inszenierung von Nähe und Distanz durch die Positionierung der Mutter aus der Ich-Perspektive der Hauptfigur durchläuft bestimmte Phasen und erinnert stark an die Beschreibung von Distanz und Nähe am Beispiel von Heimat. Im Selbstbildnis erfährt der Leser, dass das Ich seine Mutter nach ihrer Scheidung kaum mehr gesehen hat; die emotionale Ferne setzt also bereits hier an. Die räumliche Loslösung von der Mutter erfolgte aber, als der Siebzehnjährige erstmals Teheran verließ. Auf dieses Verhältnis blickt das heimkehrende Ich in Selbstbildnis zurück und versucht, die Schilderung des zweiten Exils an diesen Rückblick anzuknüpfen. Dabei steht die Mutter als Motiv zwar im Vordergrund, dient jedoch zur Selbstpositionierung des Ich. Eine Technik, die sich schon im Titel Selbst-Bildnis niederschlägt: Nun hast Du angerufen nach 41 Jahren Aber ich betrüge uns schon wieder; nur 28 Jahre warst Du abwesend das zweite Mal. Und nun hast Du doch Angerufen.344 Die Schreib-Szene spiegelt die Botschaft des Titels insofern wider, als sie von einem autobiographischen Annäherungsversuch des Ich an sich selbst zeugt. Mit Blick auf die bereits zitierten und auf die folgenden Verse kann man von einem Selbstentwurf des Ich unter bestimmten Steuerungstechniken sprechen. So beschreibt das Ich die Freude der Mutter auf das Wiedersehen: Du läßt die Bilder tanzen, meine Bilder, unsere Bilder. Du hast mehr Bilder von mir, denn Du hast mich geboren. Sicher verlässt Dich nie dieses Bild, obgleich Du mich sofort verlassen hast.345 Bilder stellen das Gedächtnismedium des Ich und von dessen Mutter dar und machen im Wiedersehen Gedächtnisinhalte zugänglich. Die Entzifferung dieser Inhalte gibt dem Ich den Impuls zu Ref lexionen über die Geburt und über das spätere Verlassenwerden. Die individuelle Erinnerungsarbeit bestätigt nicht nur die subjektive und egozentrische Erinnerungsperspektive – denn die Mutter kommt nicht selbst zum 343 Ebd., 76. 344  SAID: Selbstbildnis, 1992, 7. 345 Ebd., 45.

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Sprechen –, sondern offenbart auch die andere Seite der Erinnerungsarbeit, nämlich das Vergessen: Vergessen wir alles, was zwischen uns war. Deine Liebe zu mir, weil Du mich geboren hast. Meinen Zorn auf Dich, weil Du mich verlassen hast. Vergessen wir alles! Auch die vielen Briefe, die Du mir schreibst, bis hier in die Fremde […].346 Erinnern und Vergessen variieren in individueller und subjektiver Abhängigkeit voneinander und machen in ihrer Konstruktion Schilderungen einer Befindlichkeit zugänglich, indem sie »das Los von Verlorenen und Vergessenen« umkreisen und »eine Art Zuversicht« über das Erzählte untermauern.347 In dieser Konstruktion wird das Verhältnis der Ich- und Mutter-Figur zunächst in der Verf lechtung von drei Perspektiven dargestellt: die Perspektive des erzählenden nun 41-jährigen Ich, des erzählten Ich im Alter von dreizehn Jahren348 und der Mutter. Das erzählende Ich dominiert die Erzählsituation und versucht, in seiner Position des Allwissenden mit der Geschichte abzurechnen. Dies gelingt ihm jedoch nicht ganz. Es offenbart zunächst Erinnerungen an die Niederlagen des erzählten Ich in dessen Abhängigkeit von der Mutter, indem diese zu einem »Widerhaken […],/an den ich meine Niederlagen hängte«349 degradiert wird. Aus dieser Rolle wird die Mutter jedoch durch das Einschreiten anderer Figuren befreit: Dich retteten nur meine Geliebten – Deine geöffneten Verbündeten, als wären sie Brücken zu Dir, zu einer Mutter, die ich nur einmal gesehen habe.350 Vergessen schreitet ein, sobald das Ich versucht, sich an das Gesicht der Mutter zu erinnern; die Erinnerungsarbeit scheint zu versagen. Aber Erinnerungen werden auf eine andere Weise gerettet, nämlich durch den Duft der Feldblume:

346  Ebd. 347   C amartin: Nur nicht stehen bleiben!, 2006, 45. 348 Ebd., 26-29. 349 Ebd., 26. 350  Ebd.

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Noch heute habe ich keine Erinnerung an Dein Gesicht; nur der Geruch ist geblieben. Die Mutter roch stark Nach Feldblumen.351 Anders als im Verhältnis von Ich und Geschichte scheint das Verhältnis von Ich und Erinnerungen geordnet. Kompensiert wird sie immer wieder durch die Sinne. Das Auge und der Geruchssinn gehen dabei ein sich ergänzendes Verhältnis ein, mit dem das Ich sich zu behelfen weiß. Um die Verkettung von Entfremdungsprozessen und Sinnesorganen zu verstärken, lässt das Ich einen Bruder auftreten. Dieses Mal ist es aber nicht das Gesicht, sondern die Stimme; nicht das Auge, sondern das Ohr, durch das der in Toronto lebende Bruder Gestalt gewinnt: Eine fremde Stimme war es, die nach mir fragte. Und es war ein Bruder; so sagte er zumindest. […] Ich hörte eine fremde Stimme weinen in meiner Muttersprache.352 Die Distanz zwischen der Stimme und der Behauptung der Stimme, sie sei ein Bruder, wird durch das Weinen in der Muttersprache relativiert – gar aufgehoben, indem diese nicht als die jenes Bruders, sondern als ›meine‹ Muttersprache determiniert wird.353 Die Verbindung zur Außenwelt des Ich wird nun nicht allein über die Sinne, sondern auch über Sprache hergestellt. Die Verbindung zum Bruder wird nicht durch die Gegebenheit der Verwandtschaft, sondern durch die Sprache hergestellt. Somit gilt Sprache über ihre Funktion als Kommunikationsmedium hinaus auch als Identifikationsmedium. Sie wird zu einem Motiv, das Geschichte und Gegenwart zueinander führt. Dieses Motiv wird uns im nächsten Abschnitt beschäftigen. Die Gegebenheit der Verwandtschaft wird durch die Schablone der Fremdheit problematisiert: Dann kam ein anderer Fremder – […] Und dieser Fremde erklärte mir, der erste Fremde sei mein Bruder Und der Fremde erklärte – Fremde können manche Dinge Des Herzens besser erklären –, daß mein Bruder weinte, 351 Ebd., 29. 352 Ebd., 9. 353   Der Verweis auf die Sprache ist hier nicht unwichtig, denn Sprache gestaltet schließlich auch den Ort, an dem SAIDs Ich seine Wahlheimat zu finden bemüht ist.

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weil er mein Bruder ist, weil er nun sicher ist, daß er mein Bruder ist – geworden ist, durch das Telephonat. Und der Fremde entschuldigte sich […] Und der Fremde schluckte […] Und der Fremde sagte, meine Mutter würde gerne mit mir sprechen.354 Die Perspektive des zweiten Fremden zur Konstruktion des ersten Fremden und die darauf auf bauende Mutter-Beziehung erfolgt auch hier durch das Spiel von Distanz und Nähe und rückt die Mutter durch die Schablone der Fremdheit weiter in die Ferne, bevor diese dann im Verlauf des Gesprächs allmählich aufgehoben wird. Dieses Spiel erreicht seinen poetischen Höhepunkt, wenn das erzählte Ich die Figur des Bruders im Gespräch mit der Mutter schließlich als deinen Sohn bezeichnet und so einerseits die Nähe des Bruders durch den Verwandtschaftsgrad der Mutter herstellt, sich andererseits aber von ihm distanziert, indem es den Bruder häufig in der zweiten Person Singular – »Dein Sohn« – und selten wie zögernd in der ersten Person Singular – »mein Bruder« – auftreten lässt: Denn Dein Sohn sagte, seine Mutter könne auch schreiben. Kannst Du überhaupt schreiben, Mutter? Aber meine Mutter kann auch schreiben, sagte mein Bruder – mein Bruder, wie das klingt für einen, den ich nur gehört habe.355 Der Kontext, in dem die Umwandlung des Ausdrucks »Dein Sohn« zu der Bezeichnung »mein Bruder« erfolgt, ist wiederum der des Exils.356 Die durch eine Reihe von Distanzund Fremdheitsmerkmale aufgebaute Gesprächssituation mit der Mutter dient an erster Stelle als Möglichkeit einer (Wieder-)Entdeckung des Ich und seiner eigenen Geschichte. Diese Geschichte wird so erzählt, dass sie zum einen die Empfindungen des Exilierten ins Zentrum rückt, diese zum anderen stark an die konstruierten Räume Teheran, München und Toronto bindet und schließlich in den Kontext des Kardinalthemas Exil einbettet, denn erst das Exil erzeugt die Ferne, ruft sie ins Bewusstseins 354  SAID: Selbstbildnis, 1992, 11. 355 Ebd., 14. 356 Ebd., 32f.

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und ermöglicht die Retrospektivität der Erzählung. Dabei sucht das erzählte Ich die Gelegenheit, seine eigene Identitätskrise irgendwie zu überwinden. Doch scheint es so, als wäre diese Überwindung jenseits der historischen Heimat nicht möglich. Versuche über die Überwindung der Identitätskrise mit Hilfe von Erinnerungen an die historische Heimat erweisen sich als Strategie zur Gestaltung einer Erzählwelt, die auch anderen Orts Beispiele findet, und zwar am Treffen mit dem Sänger Fuat Saka (*1952, Trabzon), den SAIDs Ich als seinen Freund bezeichnet. Saka singt ein Gedicht auf das Kaspische Meer;357 SAIDs Ich referiert auf das Meer, entfaltet dieses zu einem historischen Identifikationsmerkmal, indem es das Meer als Geburtsregion der Mutter identifiziert, und stellt so ein Zugehörigkeitsmerkmal her,358 das sowohl die Figur als auch den Ort der historischen Heimat repräsentieren soll. Durch den Blick aus der Ferne auf die Geburtsregion der Mutter und auf die Geburtsstadt des erzählten Ich rückt die historische Heimat immer weiter in eine Ferne, die für das erzählende Ich nur mittels Erzählung von Erinnerungen überbrückt werden kann. Mit dem Erzählen von Erinnerungen blickt das erzählende Ich auf die Geschichte und baut dabei die Distanz zu ihr wie zur historischen Heimat auf. Der Distanzauf bau dient in SAIDs Schreib-Szene auch dazu, dass das Erzählen nicht allein zum Medium einer individuellen Vergangenheitsbewältigung, sondern auch zum Darstellungsmedium der Entfremdung avanciert. Am Thema Exil finden die unvollendete Vergangenheitsbewältigung und die Entfremdung einerseits und die Suche nach der Selbst-Identifikation und der Selbstentwurf andererseits zusammen. Als literarische Technik zur Darstellung von Entfremdung und Selbst-Identifikation dient die Polarisierung der Orte Teheran (historisch) und München (zukünftig) in der zweiten Phase des Exils. An der Polarisierung beider Städte ist dann zu erkennen, dass Teheran die erinnerungsträchtige und München die noch erinnerungsstiftende Instanz der Identifikation darstellen sollen. In beiden Fällen ist die Verknüpfung einer Metaebene der Sprache unübersehbar – eine Ebene, auf der sich, wie es im nächsten Teil noch zu zeigen sein wird, Prozesse der Heimat-Gestaltung vollziehen. Im Spannungsfeld der Erinnerungen ist die Fremdheitsperspektive auf die historische Heimat gerichtet. Die Erinnerungsbilder der historischen Heimat sind einer Ambiguität verfallen. Sie repräsentieren auf der einen Seite die historische Heimat als Stadt der Kindheit, bilden mit der Figur der Mutter eine vertraute Sphäre der Identifikation und leiten zu der Erkenntnis, dass die noch zu gestaltende Heimat mit der identitätstragenden Sphäre der historischen Heimat nicht konkurrieren kann. Auf der anderen Seiten bringt die Gegenwartsperspektive des Rückkehrers in der zweiten Exilphase Konturen dieses Bildes ins Schwanken, indem die Gegenwartsperspektive eine andere und noch zu gestaltende Heimat anvisiert. Teheran und München avancieren in der Erzählwelt zu einem Konstrukt der Heimat, das für das Ich zu einem »Spaltmesser«359 wird. Erfahrungen dieser ambiguen Beziehungen zur Heimat konfrontieren das Ich mit der Tatsache, dass die Kluft zwischen den Heimat-en auf nur eine individuelle Weise zu schließen ist. Auch hier stellt die Erinnerungsarbeit das Mittel dar. So werden in ihr

357 Ebd., 19. 358   ebd., 35. – Mit dem Kaspischen Meer wird in einem Gespräch das Schwarze Meer mit einer ähnlichen Bedeutung für die türkischen Freunde polarisiert (Ebd., 35f.). 359 Ebd., 22.

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Erlebnisse und Erfahrungen des Ich in der Wahlheimat mit den Erinnerungen in der historischen Heimat zusammengeführt. Die Schreib-Szene legt die Polyperspektivierung und die gleichzeitige Präsenz der Heimat-en offen und stellt auf diese Weise die Singularität der Heimat in Frage. Für SAIDs Ich scheint nicht die Verortung der Heimat ersten Ranges zu sein. In Der lange Arm der Mullahs heißt es nämlich: »Ich weiß, daß ich keine Heimat mehr habe./Denn die Heimat ist die Zeit, die wir verloren haben«.360 Vielmehr scheint die Suche im Vordergrund zu stehen, die sich im Akt des Schreibens vollzieht: »was bleibt ist die suche«, und »wer so viel verloren hat, sucht nach sich selbst«.361 Suche Als Motiv bestätigt die Auffassung von Heimat als: »Ein tieferes Geheimnis als dasjenige der geographischen Heimat ist das der Suche nach dem anderen. Die Heimat der Heimatlosen ist der andere«.362 All das, was SAID in den achtziger und neunziger Jahren am Beispiel des Motives Heimat bereits in Szene gesetzt hat, wird nun im Zusammenhang mit seinen Überlegungen über Literatur und Gedächtnis auf einen gemeinsamen Punkt gebracht: Es ist so, dass wenn man eine Heimat verloren hat, und Heimat hat ja nichts zu tun mit einer Fahne oder einer politischen Meinung, das ist die Summe von Sinnesäußerungen, die man wahrgenommen hat im Laufe der Jahre: Bis heute ist für mich der Begriff Sehnsucht, der Begriff Heimweh verbunden mit einem bestimmten Geruch, mit bestimmten Geräuschen auf der Straße, mit einer gewissen Farbe, also alles, was die Sinne anbetrifft. Aber wenn man es verloren hat, sogar zwei Mal in diesem Falle, dann weiß man, der Kopf weiß, dass diese Heimat nicht wieder gewonnen werden kann. Das Herz wünscht sich das, denn die Heimat, wie es in meinem Kopf steht, die gibt es ja nicht mehr. […] Damit sind wir bei dem alten Thema, der Widerspruch: Der Kopf weiß, dass es nicht geht, das Herz begehrt es dennoch.363 Der Bedeutungsgewinn der Heimat durch die Narrative der Stadt und der Mutter bereitet dieser Suche nach dem Selbst den historischen Boden. Die Selbstsuche wird nur bedingt an dem Ort und an der Figur der historischen Heimat erfolgen, sondern verstärkt in der Sprache, denn nur hier ist der Entwurf einer plurikulturellen Heimat denkbar.364 In den Landschaf ten bedeutet Heimat die Suche nach einem »unschuldigen land […] mit unfertigen ufern«.365 Das unschuldige Land mit unfertigen Ufern hat »kein[en] ewige[n] Wert«,366 sondern stellt ein Projekt, eine »spezifische Technik« und eine ebenfalls spezifische »Funktion« dar.367

360  SAID: Der lange Arm der Mullahs, 1995, 136. 361  SAID: deutsch als auf fanglager, 2004, 31. 362  Leao: Vilém Flusser und die Freiheit des Denkens, 2013, 8. 363   Hoffmann: Literatur muss auch Geständnis sein, 2013. 364  SAID: deutsch als auf fanglager, 2004, 32. 365  SAID: Landschaf ten, 2003, 86. 366  Flusser: Wohnung beziehen in der Heimatlosigkeit, 2013, 17. 367  Ebd.

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Im Buch parlando mit le phung368 gesteht der Erzähler im Gespräch mit dem Fisch seine »krumme liebe«369 zu Teheran: »ich würde teheran, selbst wenn die politik es je zuließe, nie wieder betreten«; und er lässt den Fisch antworten: »betreten? ich dachte, es ist eine stadt. du redest so, als sei es ein haus«; die Relativierung des Erzählers folgt prompt: »eine behausung – vielleicht«.370 Darauf verwies SAIDs Ich bereits im Erinnerungstext grenzgänge: »heimat ist ein begriff des unbewußten. hätten sie mir 1964 in teheran gesagt, das ist deine stadt, hätte ich geantwortet, es ist doch nur eine stadt«.371 Wie in Selbstbildnis und Landschaf ten, in denen der Leser die Figur der Mutter und die Stadt Teheran durch den Erzähler erfährt, schaut er auch hier auf die Liebesgefährtin mit dem Blick des Erzählers in einer erinnerten Zeit. Innerhalb der erinnerten Zeit vollziehen sich auch die Verortungen des Ich, von dessen Heimat und Heimat-Figuren.

4.2.3.3.2 Der ›grüne Zweig‹ der Heimat Der fremd gewordenen Welt der historischen Heimat in Tufan steht die Suche nach einer neuen Heimat in Kaltland gegenüber. Auch hier wird die historische Heimat in Teheran verortet. Vor dem Hintergrund dieser Verortung ist die Beobachtung interessant, wie Entfremdung, von der Tufan im Wesentlichen handelt, sich nun in Kaltland vollzieht. In der Erzählwelt werden die historische Heimat und der Ort, an dem die Heimat gestaltet werden soll, kontrastiert. An Teheran lassen sich Erinnerungen und an Hamburg Erfahrungen ablesen; der Kontext ihres Spannungsfelds bildet Europa. So berichtet die Erzählerin in ihrem fiktiven Brief, der an die historische Figur des Vaters adressiert ist: Babu, ich bin in Europa und habe noch nichts Europäisches372 gesehen. In Vienne habe ich Europa gesucht und nicht gefunden. Die Danub ist grau, die Straßen, in denen unser Bus fuhr, waren eng, und die Häuser finster und zerfallen. Babu Djan, was für eine Enttäuschung dieses Europa für mich und die anderen, die diesen Kontinent zum ersten Mal befahren! Wir haben gedacht, Europa sieht wie der Norden Teherans aus, mit verschnörkelten Villenfassaden, großzügigen Eingängen und riesigen Gärten. Babu, wer hatte uns glauben gemacht, daß in Europa alles neu und modern ist. Du warst ja nie aus dem Land gefahren, das konnte nicht von dir sein.373

368  Parlando mit le phung ist ein charakteristisches Beispiel für SAIDs Vorliebe für die Suche im Erzählund Schreibprozess. Die Geschichte handelt von einem verlassenen Mann mit Liebeskummer, der einem Fisch namens le phung seine Liebesgeschichte erzählt. Interessant ist die Positionierung des Fisches im Teich vor dem Fenster des Erzählers, denn hier taucht abermals das Fenster als Motiv zur gleichzeitigen Darstellung von Distanz und Nähe auf. Der Fisch wird zu einem Ohrenzeugen, erlebt die Liebesgeschichte des namenlosen Erzählers, wird selbst zu einem Teil dieser (Liebes-)Geschichte und verschwindet an ihrem Ende, indem er verzehrt wird. 369  SAID: parlando mit le phung, 2013, 23. 370 Ebd., 24. 371  SAID: grenzgänge, 2004, 22. 372 Darüber, was das Europäische in der Ich-Perspektive ausmacht, wird hier nichts gesagt. 373   TORKAN: Kaltland, 1984, 12f.

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Durch die persische und in Anlehnung am Französischen gebildete Bezeichnung Vienne und die auf das Iranische zurückgehende Bezeichnung Danub374 für Donau schildert die Erzählerin ihre Begegnung mit Europa und stellt diese als Ort der Enttäuschung dar. Bei der Begegnung löst sich der Mythos Europa in eine Realität auf: Babu, ich bin quer durch Europa gereist. Es regnete immer, und alle Städte, vom Süden bis Westen, fand ich grau vor. […] Ich mußte mich in jeder Stadt darum sorgen, wie ich mir eine Bleibe suchen und finden könnte und wie und für welche Richtung ich mir wieder eine Fahrkarte besorgen könnte, da ich nirgends bleiben wollte. Landan, Brussel, Paris – das alles war noch nicht Europa! Paris erinnerte mich so sehr an das Zentrum Teherans, daß ich einigemale dachte, nur den Bus nehmen, gen Norden und da wohnst du […].375 Durch die Korrelation von Teheran und Paris wird ein Ähnlichkeitskriterium konstruiert, das Teheran und Paris hinsichtlich des städtischen Flairs einander näherbringen soll. Auch wenn diese Nähe anderenorts, nämlich in Tufan durch Erinnerungen an Nord-Teheran bemängelt wird, so erfüllt Teheran in den Erzählwelten von Tufan und Kaltland für die Erzählerin weiterhin seine identitätsstiftende Funktion. Diese erfährt bei der Ankunft der Erzählerin in Hamburg sogar eine Steigerung. Denn in Hamburg werden Erinnerungen an die Region Bandar Pahlawi376 geweckt. Hier ist die Erzählerin geboren. Erinnerungen an Bandar Pahlawi und Teheran einerseits und Erfahrungen, die die Erzählerin in Hamburg macht, andererseits erzeugen ein Spannungsverhältnis, in dem sich die Hauptfigur zunächst bewegt, bevor sie Hamburg die ›Heimat‹-Stadt nennt, zu deren Bewunderung sie »keine historischen Vorkenntnisse«377 benötigt. Selbst wenn die Stadt der Erzählerin grau und halb verschlafen erscheint, ist sie der phantastische Ort von Wünschen und Träumen: Ich kaue an dem Zweig dem grünen Zweig den er, gerade aus der Heimat gekommene Mann der Fremde, mein Landsmann mir überreichte. […]378 Das titellose Gedicht beschreibt den Übergang eines Lebens von einer weitzurückliegenden Vergangenheit in eine erfahrbare Gegenwart. Das lyrische Ich eröffnet das Gedicht, nimmt den aus der Heimat kommenden Landsmann als Fremden auf und

374   Die Etymologie des Namens Donau lässt sich aus dem Iranischen und aus dem Keltischen ableiten. Sowohl im Awestischen wie im Keltischen lautet das Wort für Fluss danu und ist auf die indogermanische Wurzel *danu zurückzuführen. Aus der Erzählung geht nicht hervor, dass die Erzählerin sich dessen bewusst ist. Interessant ist jedoch, dass sie durch die Variante ›Danub‹ statt Danu den Namen selbst verfremdet. 375   TORKAN: Kaltland, 1984, 13. 376   Die iranische Hafenstadt in Gilan am Kaspischen Meer im Norden des Irans. 377   TORKAN: Kaltland, 1984, 55. 378  Ebd.

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beteiligt ihn durch das Überreichen des grünen Zweiges am Geschehen.379 Im Vordergrund steht der Geschmack-Sinn und das Blick des Wiederkäuens. Der Geschmack des grünen Zweigs wird am Schluss der letzten Strophe wiederholt und greift so auf den ersten Vers der vierten Strophe zurück, kehrt die Perspektive auf den ersten Vers der ersten Strophe um und stellt durch die Symbolik die strukturelle Einheit des Gedichtes her. Inhaltlich spiegelt die Symbolik die Heimat durch die Sinne wider. Die strukturelle und inhaltliche Einheit des Gedichts wird durch seine Positionierung in der gesamten Erzählung unterstützt. In Kaltland ist das Verhältnis von Erinnerung und Erfahrung an die Geschichte und die Gegenwart des Ich gebunden. Die Gegenwart wird zwar aus der Perspektive der Ich-Erzählerin beschrieben, diese bedient sich aber zwei Kinder-Figuren, deren Geschichte sich von der der Ich-Figur grundlegend unterscheidet. Es sind ihr eigenes Kind und Nilufar, die Tochter von Kurosch und Inge. Mit der Kontrastierung der Perspektive wird das Generationsgedächtnis befragt. Das Erzählen dieses Gedächtnisses teilt die Erzählwelt in Vergangenheit und Gegenwart. Die Positionierung des Gedichtes macht diese Teilung auch strukturell sichtbar. Erzählt wird nach dem Gedicht nicht mehr aus der Perspektive des lyrischen Ich, sondern aus der eines jungen iranischen Studenten, der später den Namen Kurosch erhält. Durch Kurosch wird dann die Brücke zu Nilufars Geschichte und somit auch in die Gegenwart geschlagen. Was vom Ich nun bleibt, beschreibt das Kapitel, das dem Gedicht unmittelbar folgt:380 Es sind Erinnerungen an die »Salzwüste«381, die im Gedicht durch die trockene Erde des Orients versinnbildlicht wird. Das neue und hoffnungsvolle Leben ist jedoch ohne die Rolle des Landsmanns nicht denkbar, denn der Landsmann ist schließlich derjenige, der dem Ich den grünen Zweig überreicht und dabei ermöglicht, dass sich die ›weitzurückliegende Vergangenheit und die bekannte Gegenwart in der wandernden Seele des Ich‹ in einem Augenblick aufeinandertreffen. Der würzige Geschmack hinterlässt Spuren; die trockene Erde des Orients metaphorisiert die weitzurückliegende Vergangenheit, die durch den Landsmann wiederum in die Nähe rückt. Das Ich aber, so die fünfte Strophe, bleibt nicht in der Vergangenheit, denn es spricht sowohl den Landsmann als auch das Kollektivum des Ihr an und impliziert durch den Gebrauch der zweiten Person seine Distanzhaltung. Das Ich verortet sich als Instanz, die die Transformation des Vergangenen in das Gegenwärtige selbst miterlebt und mitgestaltet. Die Kinder-Figuren deuten die Zukunft an. Vor dem Hintergrund der Orte Bandar Pahlawi, Teheran und Hamburg sowie der Positionierung von Figuren gewinnt Heimat ihre Bedeutung für das Ich in einer Relation, die sich aus Erinnerungen, Erfahrungen und Visionen ergibt. Sie wird also aus dem Ursprungsort der Geschichte befreit und in der Gegenwart relativiert. SAIDs und TORKANs Heimat-en zeigen, dass Heimat keineswegs statisch zu begreifen ist. In der Perspektive der Figuren befindet sie sich stets im Werden. Dies gilt mit Blick auf die literarischen Heimat-Diskurse der neunziger Jahre als gemeinsamer Aspekt. Hinzukommt die Konstruktion der Heimat als Ort der Sinne und Emotionen. Diese Verwahren die historische Heimat im individuellen Gedächtnis der Figuren und 379 Auch hier bilden Heimat und die von hier stammende Figur des fremden Landsmanns ein Paradoxon. Erinnert sei an die Figur des Bruders in Tufan, der die gleiche Funktion zugeschrieben wurde. 380   TORKAN: Kaltland, 1984, 151-156. 381 Ebd., 151.

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pf legen sie in Erinnerungen. Das Erzählen ermöglicht diesem Ort seine Ausdrucksformen und schildert ihre Transformationen in den Gegenwartserfahrungen der Figuren. Die Zukunftsperspektive beschreibt diesen Prozess als unabgeschlossen.

4.2.4 ›Wenn die Elbe ins Kaspische Meer fließt‹: Konstruktionen einer plurikulturellen Heimat Die Analyse von SAIDs und TORKANs Werk hat gezeigt, dass Heimat durch Erinnerungen an Orte und Figuren erst ihre Bedeutungen gewinnt. Sie entstehen in der Erzählwelt hauptsächlich durch Strategien der Verräumlichung und Personifikation. Aus der Thematisierung dieser Bedeutungen in der Perspektive der jeweiligen Figuren resultiert die Erkenntnis darüber, dass Heimat im Moment ihrer Determinierung dabei ist, sich zu transformieren, weil mit ihr eine Vergangenheit assoziiert wird, die für die Hauptfigur in einer erfahrbaren Form gar nicht mehr existiert. Was von ihr bleibt, sind Erinnerungen, die je nach Perspektive unterschiedliche Bedeutungen erzeugen. Orte und Figuren sind Medien eines Gedächtnisses, das sich mit Blick auf die Positionierung von Figuren als Generationsgedächtnis auffassen lässt. Es wird zwar befragt, hält aber nur bedingt Antworten bereit. Selektion als Strategie der Erinnerungsarbeit bringt Erinnerungslücken hervor, an denen sich die Erzählwelt mit Narrativen von Vergessen und Entfremdung erprobt. In der Erinnerungsarbeit der Figuren werden multiple Verhältnisse von Figur und Raum geschildert, die Heimat je nach Raum, Figur und Perspektive auf unterschiedliche Weise semantisieren. Neben den Unterschieden gewinnt ein gemeinsames Merkmal besonders an Relevanz: Die Singularität der Heimat scheint bei der Darstellung dieser Verhältnisse durchaus problematisch. Mit diesen Darstellungen wurde an einer Reihe von Motiven und Symbolen ein vielschichtiges und vielfältiges Konstrukt entworfen, das Heimat nur als plurikulturell zu begreifen erlaubt und deren historisch-erinnerungswürdige wie zukünftig-gestaltende Funktion gleichermaßen erfasst. Der literarische Diskurs der Heimat löst diese von einem wie auch immer gearteten Fixpunkt der Geschichte aus und eröffnet dem literaturwissenschaftlichen Diskurs die Möglichkeit, Heimat im Sinne von mapping memory in den Blick zu nehmen. In diesem Zusammenhang erfassen die interkulturellen Schreibweisen Heimat gleichzeitig und gleichörtlich, indem sie unterschiedliche Narrativen erzeugen, die den Umgang mit Erinnern und Vergessen historisch wie gegenwärtig thematisieren. Es wäre, so meine Überlegungen zu Beginn des Abschnittes zu Heimat, die Aufgabe des literaturwissenschaftlichen Diskurses, Methoden zu entwickeln, mit deren Hilfe Heimat zwischen unterschiedlichen Gruppen und Generationen Gültigkeit besitzen kann. Überlegungen zu solch einem Diskurs liefert über die oben diskutieren Erzählungen und Gedichte auch Mahmood Falakis Werk. Den Anfang bilden Darstellungen über die Alpträume und Ängste eines Flüchtlings in einer jahrzehntelangen Verbannung in der Erzählwelt von Verirrt. Die Verbannung bildet einen Kontext, der mit Hilfe von Rückkehr und Entfremdung des Protagonisten in die historische Heimat erzählerisch gestaltet wird. Das Motiv der Rückkehr und das Fehlen von Erinnerungsmedien gehen auch hier Hand in Hand. Falakis Protagonist kann sein Elternhaus nicht wiederfinden, niemand kennt ihn und sein Elternhaus mehr und kann ihm den Weg dorthin zeigen. Die Bindung an die Heimat scheint gerissen zu sein. Diese eigenartige Schilderung der Entfremdung wiederholt sich in Falakis späterem Erzählwerk, steuert das Gestal-

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ten der Heimat innerhalb von Figurenkonstellationen und erweist sich als Charakteristikum von Falakis Erzählstrategie. Den Verlust einer Bindung an die Heimat ref lektieren in Falakis Erzählwerk vor allem Figuren, die ihre Erfahrungen über ein Leben außerhalb ethnischer und nationaler, gewohnter und elterlicher Lebensräume miteinander teilen, obwohl ihre Erinnerungen diese Einschränkungen geradezu offenbaren. Falakis Figuren verorten sich in familiären Kreisen, begreifen sich als Teil größerer Gemeinschaften und sind in diese auch eingebunden. Dabei werden Wurzeln und Herkunft nicht geleugnet, sondern als Grundlage einer Welterfahrung begriffen. In diesem Spannungsverhältnis wird die Heimat im Sinne eines Ursprungsorts hinterfragt und die Identifikationsfrage über reduktionistische Grenzen hinaus gestellt. Im Generationsgedächtnis wird die Heimat fortwährend als Ort der Geschichte zwar verwahrt, in der Jetztzeit der Erzählwelt begegnen sich aber Figuren, die sich interkulturell profilieren und dies zum Anlass nehmen, um die Heimat durch ihre eigenen Erfahrungen zu gestalten. In den Erzählungen dieser Figuren wächst ein Gewebe, das Heimat als Verf lechtungsort von Erinnerungen und Erfahrungen erfasst. In den Interaktionen der interkulturell profilierten Figuren entwickelt sich Heimat schließlich zu einer sozialen Angelegenheit der Erzählwelt. Diese Erzählwelt wird durch Akteure melancholischer Lebenszustände in einem ironischen und surrealen Erzählstil entwickelt. Eine solche Entwicklung lässt sich beispielsweise im Gedichtband Lautlos f lüstern (1995) beobachten. Die hier versammelten Gedichte integrieren Begegnungserfahrungen mit Fremdheit und Gefühle der Heimatlosigkeit in eine gehaltvolle und poetische Erzählatmosphäre, die später im Band Klang aus Ferne und Felsen (2008), der teils ins Deutsche übersetzte, teils auf Deutsch geschriebene Gedichte enthält, noch einmal aufgegriffen und durch Liebe und Fremdheit weiter entwickelt wird. In der auf diese Weise entwickelten Erzählstrategie werden Prozesse der Selbstsuche beschrieben, deren charakteristische Merkmale sich in den interkulturellen Erfahrungen der Figuren erst bilden. Diese Erfahrungen vollziehen sich in einem Spannungsfeld von Verlust und Entdeckung an den Netzorten der Geschichte und Gegenwart. Die Erzählwelt verbindet also Ref lexionen über eine Spurensuche in einer verdunkelten Geschichte und in den Erinnerungssplittern mit denen über die Erfahrungen. Mit dieser Erzählkunst knüpft Falaki an die epische Tradition Irans an und sucht dabei Anschluss an die modernere Verfremdungstechnik der westlichen Literatur. Ref lexionen über die Spurensuche in Erinnerungen und Erfahrungen werden aus den Perspektiven der interkulturell profilierten Figuren erzählt. Die interkulturellen Figurenkonstellationen und die Polyperspektivität der Erzählwelt lassen sich exemplarisch am Roman Die Schatten (1997) beschreiben.382 Ausführlicher werden sie dann 382   Auf eine interessante Weise geht Mahmood Falaki in seinem zunächst im Persischen entstandenen, später ins Deutsche übersetzten Roman Die Schatten (2003) mit Strategien der erinnerten Zeit um. In diesem Kriminalfall ist der Erzähler zugleich auch der Ermittler. Erinnerungen verlängern sich hier »in die Breite des Lebens« (Falaki: Die Schatten, 2003, 6), werfen zugleich Schatten auf das erzählte Leben und lassen nur bedingt eine Rekonstruktion zu. »Ich muß«, bekräftigt der Erzähler, »meiner Kindheit helfen, wieder lebendig zu werden« (ebd., 6). In der erinnerten Zeit stehen das erinnernde und das erinnerte Ich im Dialog miteinander. So gestaltet sich der zweite Teil des Romans, in dem das elfjährige und das zwölfjährige Ich im Gespräch stehen (ebd., 70). Der bewusste Versuch des Sich-Erinnerns belebt Erinnerungen nur teilweise: »Eine Erinnerung zu erzählen[,] ist nicht leicht, wenn sie die Form einer Geschichte annehmen will« (ebd., 10). Diese erinnerte Geschichte wird

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im Roman Carolas andere Tode (2009) untersucht. Der Ich-Erzähler des Romans Die Schatten ist zugleich auch dessen Verfasser. In seiner ref lektierten Erzähltechnik versetzt er den Leser in die Position eines Zeugen für den kulturellen Disput der Figuren über Identität und Heimat. Mit dem Erzähler reist auch der Leser in die Kindheit und Jugend des Ich zurück und erfährt von hier aus die Geschichte seiner Schriftstellerkarriere. Dabei behält der Erzähler den naiven Blick auf die Geschichte über mehrere Abschnitte bei, nimmt Bezug auf politische Ereignisse seiner Zeit und gestaltet diesen politischen Kontext zu einem Teil einer kollektiven Geschichte, die auch sein eigenes Leben episodenhaft prägt. Auslöser der Erinnerungsarbeit ist der Mord am Onkel des Erzählers. Dieser Mord wird im Erzählverlauf zu einem Motiv der Vergangenheitsbewältigung entwickelt. Um den mysteriösen Mord aufzuklären, reist der Erzähler nach mehr als dreißig Jahren an den Ort seiner Kindheit zurück und taucht tief in die Erinnerungen an seine Familiengeschichte ein, die sich in einem kleinen Ort am Kaspischen Meer zu Beginn der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts abspielt. Am Motiv der Rückkehr wird genau das geschildert, was uns aus allen bisher diskutierten Erzählungen bekannt ist, nämlich die Thematisierung der historischen, das Bewusstwerden der gegenwärtigen Heimat und die Entfremdung. Auf diese drei Aspekte greift der Roman Carolas andere Tode zurück, beschreibt den Distanzauf bau zur Geschichte und gestaltet eine Erzählwelt, die veranschaulicht, dass Identität und Heimat ohne das Spannungsfeld von Geschichte und Gegenwart ihre Bedeutung verlören. Der Protagonist Behrus Panahi lebt in Hamburg, führt ein Leben, das zwischen Distanz und Nähe krisenhaft erscheint, und ordnet dieses Leben so, dass er selbst als Nutznießer interkultureller Prozesse hervortritt. Die Erfahrung des Interkulturellen wird durch das Motiv Liebe hergestellt. Der Schauplatz seiner Geschichte ist die Stadt Hamburg, die als Ref lexionsort interkultureller Erfahrung in Falakis Schreib-Szene eine determinierende Bedeutung besitzt. Diese besondere Bedeutung ließe sich anderenorts am Beispiel eines Kurzgedichts näher beschreiben. In diesem Gedicht wird Hamburg, die Stadt in Norddeutschland an der Mündung der Alster in die Unterelbe, mit der Stadt Ramsar in der Provinz Mazandaran im NordIran am Kaspischen Meer und am Elburs-Gebirge zusammengeführt. An Hamburg und Ramsar, der Elbe und dem Kaspischen Meer werden Motive erzeugt, die in eine Metaphorik von Bewegung und Dynamik konstruieren. Eine solche Konstruktion bildet ausgehend von Wasser auch die Metapher für das Leben: Jedes Mal, wenn ich die Elbe ins Kaspische Meer fließen lassen wollte, damit die Wasser der Welt lernen, die gemeinsame Sprache von Fisch und Mond, sprachen im Haus des fremden Nachbarn die Zungen des Feuers so hastig, durch Fotos unterbrochen und zugleich bestätigt: »Erinnerung ist wie ein herrenloser Hund. Die geliebten Episoden werden mit einer gehörigen Portion Übertreibung erzählt, die unerwünschten werden zensiert. Oder man bildet sich einfach das Erinnerte ein. Ein Foto verhindert solche Schwätzerei« (ebd., 7). Selbst wenn Fotos als Gedächtnismedium herangezogen werden, erweisen sich Erinnerungslücken bisweilen als nicht zu schließen.

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dass alle Wasser der Elbe seinen Mund nicht schließen konnten.383 Das Gedicht besteht aus neun Versen und lässt sich in zwei Abschnitte teilen: Die ersten fünf Verse handeln von der Elbe, vom Kaspischen Meer und von der Absicht des lyrischen Ich, sie in eins f ließen zu lassen. Die poetische Aussage verteilt sich auf den dritten, vierten und fünften Vers. Zunächst sollen sich die Elbe und das Kaspische Meer vereinen, um die Welt eine gemeinsame Sprache zu lehren. Diese ist die Sprache von Fisch und Mond, die sich im Wasser begegnen. Für den Fisch bedeutet es Leben,384 für den Mond den Spiegel seiner selbst. Beide erfahren ihre Existenz im und durch das Wasser. Zu dieser Funktion tritt eine weitere, denn das Wasser als gemeinsames Motiv verringert auch die Entfernung zwischen dem Fisch und dem Mond, in dem es beide in sich vereint. Diese gemeinsame Sprache des Lebens wird im zweiten Teil des Gedichts mit der Zerstörungskraft des Feuers kontrastiert. Das Wasser sei nicht imstande, den »Zungen des Feuers« Stand zu halten. Der Sieg des Feuers über das Wasser als Sprache des Lebens erzeugt den melancholischen Ton des Gedichts. In der Poetik der gemeinsamen Sprache relevant ist die Symbolik des Wassers als lebensspendend für den Fisch und den Mond und die des Zusammenf lusses der Elbe und des Kaspischen Meers. Mit Wasser als Naturelement im ersten Teil des Gedichts wird Feuer als Pendant im zweiten Teil kontrastiert. Während der erste Teil durch das lyrische Ich personifiziert wird, dominiert der ›fremde Nachbar‹ den abschließenden Teil des Gedichtes. Auf diese Weise werden auch das lyrische Ich und der Nachbar zunächst oppositionell positioniert, bevor sie in ihrer Opposition jeweils eine spezifische Bedeutung erfahren. Sowohl die Opposition von Wasser und Feuer als auch die von Ich und Nachbar ist einem Ungleichgewicht ausgesetzt. Wasser und Feuer bilden zwar beide eine Metapher für Sprache, der Inhalt dieser Metapher aber wird semantisch unterschiedlich aufgeladen. Der Zusammenf luss der Elbe und des Kaspischen Meers soll eine gemeinsame Sprache stiften, während die »Zungen des Feuers« aus dem Haus des fremden Nachbarn diese Gemeinsamkeit zerstören sollen. Die ›Zunge des Feuers‹ weist eine ambigue Bedeutung auf, weil ›Zunge‹ sowohl als die Schlagkraft des Feuers gedeutet werden kann als auch als Sprache. Die Metapher des Zusammenf ließens bedeutet die Bereicherung durch ein gemeinsames Leben; ihr wirkt aber die Gewalt des Feuers im Sinne einer Zerstörung entgegen. Bei der Personifikation der Naturelemente Wasser und Feuer durch das lyrische Ich und den ›fremden Nachbarn‹ wird auch der Anteil des Menschen in der Natur beschrieben. So wird das Ich als Erbauer und der fremde Nachbar als Zerstörer, nach dem herkömmlichen Muster des Eigenen und Fremden also, determiniert. Im Roman Carolas andere Tode ist die Stadt Hamburg die Wahl-Heimat des Protagonisten Behrus Panahi. Dieser ist in Ramsar am Kaspischen Meer geboren und aufgewachsen, verließ im Alter von 23 Jahren seine Geburtsstadt zum Studium der persischen Literatur in Richtung Teheran und kommt später nach einem Aufenthalt in einem Asylheim in Hamburg an. Bei der Beschreibung Hamburgs findet sich das Motiv des Fensters wieder, seine Bedeutung von Hoffnung und Wunsch wird aber auf 383  Falaki: Klang aus Ferne und Felsen, 2008, 50f. 384   Siehe zum Motiv Fisch auch Zacharieva: Metamorphose, 1986, 42 und meine Interpretation im Abschnitt 3.3.1.

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die Wirklichkeit individueller Erfahrung erweitert. Das Fenster öffnet sich nämlich nicht in Richtung der Heimat und leitet deshalb auch nicht die Retrospektivität des Lebens ein. Es ist das »Schaufenster zur Welt«385 und lässt sich als Abwandlung der Zuweisung Hamburg als Das Tor zur Welt deuten. Das Fenster befindet sich in der Wand von Behrus Lieblingskneipe Zapf hahn: Jedes Mal, wenn er [Behrus] alle Menschen der Welt auf einmal sehen wollte, kam er hierher, lehnte sich mit dem Rücken zum Tresen an das Fensterbord und starrte durch die Scheibe auf die gegenüberliegende Vorhalle, die alle Sorten von Menschen passierten. Eine Vorhalle mit verschiedenen Staturen, Gerüchen, Rassen, Farben und Gesten. Sämtliche Menschen der Welt versammelten sich in diesem sieben mal zwanzig Meter großen Raum. Er nannte ihn die Vorhalle der Gleichheit, die auf östlicher Seite an eine Postfiliale und einen Zigarettenladen, im Westen an eine Konditorei, im Süden an den Zeitungskiosk und im Norden an den Parkplatz grenzte. Hier war keiner dem anderen überlegen. Alle wurden nebeneinander und miteinander an einem bestimmten Ort für einen kurzen Augenblick gleich. […] Diese Bühne war keinen Augenblick menschenleer.386 Die Momentaufnahme des öffentlichen Raumes am Beispiel der Hamburger Außenwelt, betrachtet aus dem Fenster des Zapf hahn, symbolisiert eine ›Vorhalle der Gleichheit‹ und verbildlicht durch die »Bühne« eine Interaktions- und Beobachtungsebene. Diese »Bühne« stellt keine Sphäre der Gleichheit für die gesamte Menschheit dar, sondern stellt ein bevorzugtes Modell vor. Zugleich impliziert die Vorhalle die allgemeine Ungleichheit, von der sich Behrus in der ersten Zeile wegbewegt. Die Koexistenz von Gleichheit und Ungleichheit motiviert die Figur als, eigene Entscheidungen zu treffen. Somit wird ein Individuum anvisiert, das die Entscheidung über den Austritt aus der einen und den Eintritt in die andere Welt aus eigener Kraft zu treffen vermag. Umgekehrt bewegt sich die Figur von der »Gleichförmigkeit und Gleichheit« zu den »Momenten«, »die sie über diese Welt« erheben.387 Die Erfahrung beider Sphären – dies wäre die Pointe – wird in Hamburg ermöglicht. Auf diese Weise profiliert die Figur die Stadt zu einem Raum, der Bedingungen von Erinnern und Erfahren ermöglicht. Trotz der Präsenz von Erinnerungen haben Erfahrungen in Hamburg eine gewisse Wirkung auf die Figur. Diese Wirkung entfaltet sich im Motiv der Liebe, das die Figuren vereint, aus deren Perspektive die interkulturell profilierte Erzählwelt Gestalt gewinnt. In Hamburg entdeckt Behrus Carola Kandinsky, in die er sich verliebt. Von dem Moment der Begegnung mit ihr an wird diese zu einer Figur der Nähe in Behrus’ Welt. Liebe wird zu einer interkulturellen Erfahrung des Protagonisten und erinnert an den Roman Große Liebe. Die Liebesgeschichte Behrus’ zu Carola und die Beziehung zu Hamburg gliedern sich strukturell in drei ungleich lange Schilderungen, von denen die erste die längste ist; während diese in zehn kleinere Erzählungen geteilt wird, werden die zweite und dritte Schilderung ohne Suberzählungen dargestellt. Über den Protagonisten Behrus erfährt der Leser zunächst, dass er aus dem Iran gef lohen ist und nun in Hamburg 385  Falaki: Carolas andere Tode, 2009, 29. 386 Ebd., 29f. 387 Ebd., 2009, 31.

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lebt. Mit dem Iran als Herkunftsort des Protagonisten und dessen Familie wird ein kollektives Gedächtnis, erzählt das Fragen individueller und kultureller Identifizierung historisch verortet. Diese Verortung ermöglicht dem Protagonisten die Versuche, historische Hintergründe in der Gegenwart der Erzählung in ein kritisches Licht der Selbstref lexion zu rücken. Treffen Vergangenheit und Gegenwart in der Erzählwelt aufeinander, so konfrontieren sie den Protagonisten mit einer Identitätskrise. Diese wächst aus dem Aufeinanderprallen eines Kulturenzwangs, dem der Protagonist vor allem in seiner historischen Heimat ausgesetzt war, und einer Pluralität, welche die Stadt Hamburg repräsentiert. Dass es in dieser komplexen Erzählwelt auch einen Erzähler gibt, wird bereits in der allerersten Zeile deutlich. Bis in die zweite Schilderung hinein bleibt jedoch die Frage unbeantwortet, wer dieser Erzähler eigentlich ist. In der zweiten Schilderung wird der Leser angesprochen und in die Erzählsituation einbezogen: »Alles, was Sie bisher gelesen haben, hat mein Freund Sohrab Dschirdaschtani geschrieben«.388 Diese auktorial vorbereitete Klarstellung der Freundschaft zwischen Sohrab und Behrus hat auch eine inhaltliche Funktion, denn sie offenbart dem Leser die Identität des Erzählers und dessen Verhältnis zu Behrus retrospektiv. Für die Erzähltechnik entscheidend ist in diesem Zusammenhang, dass die Perspektive in der zweiten Schilderung von der Metaebene der ersten Schilderung nun in die Ich-Perspektive des Protagonisten Behrus wechselt und auf die Erzählung von Sohrab Bezug nimmt. So schwindet die Distanz vom Protagonisten und Erzähler, weil der Protagonist von nun an nicht mehr das Objekt der Erzählung ist, sondern sich zum Subjekt erhebt und den gleichen Stellenwert mit dem Erzähler beansprucht. In der dritten Schilderung kehrt die Perspektive der Metaebene zurück, aber dieses Mal aus der Ich-Perspektive von Sohrab und in einem Dialog mit Carola, so dass der Protagonist nun hier zum Objekt der Betrachtung wird. Der Unterschied zur ersten Schilderung besteht in der Klarheit der Verhältnisse und Positionen. Hier wird alles Rätselhafte, dem der Leser ausgesetzt war, gelöst. In der Gesamtheit der Erzählung bildet sich auf diese Weise eine doppelte Perspektivierung der Geschichte, die ihre Fiktionalität ebenfalls in eine Dopplung rückt, zumal Behrus in der zweiten Schilderung sich stets genötigt fühlt, in Sohrabs Geschichte Korrekturen vorzunehmen und die »Realität«389 seines Lebens zu erzählen. Beide Perspektiven werden durch eine dritte, nämlich die des auktorialen Erzählers kommentiert. In dieser polyperspektivisch ausgestatteten Erzählwelt entwickelt sich die Erzählung selbst zum Agens des Distanzauf baus: Das einst freundschaftliche Verhältnis zwischen Behrus und Sohrab wird durch die Erzählung selbst getrübt; die Ironie besteht darin, dass die Erzählung einst die Verbindung zwischen Sohrab und Behrus herstellte. So sagt dieser: Freund? Nein, … Ich glaubte, er sei mein Freund, aber nachdem, was er getan hat, kann ich ihn nicht mehr als solchen bezeichnen. Er hatte sich vorgenommen, mein Leben aufzuschreiben. […] Mir gefiel es, dass ein Schriftsteller über mich schrieb. Ich dachte aber nicht, dass er selbst etwas erfinden würde. Als ich sein Manuskript las (das Sie ebenfalls gelesen haben), entdeckte ich, dass er, um mein Leben romanhaft zu gestalten, fanta-

388 Ebd., 93. 389  Ebd.

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siert hatte. Offen gestanden war ich sehr verärgert. Abgesehen von allem anderen, hat es mich besonders verärgert, dass er mich getötet hat.390 Behrus lernte Sohrab eines Tages in einem Berliner Asylheim kennen und wurde mit ihm zusammen auf das sächsische Bahrendorf verteilt, von dem aus sie regelmäßig Spazierfahrten nach Hamburg unternahmen. In Sohrabs Erzählperspektive wird Behrus zu einem Beobachtungs- und Darstellungsobjekt der ausgestatteten Erzählwelt und sein Liebesleben zum Gegenstand der Erzählung. Was bleibt, ist die ironische Anspielung darauf, dass es für zwei Perspektiven auf dieselbe Geschichte keinen Raum geben kann. Um seiner Geschichte Glaubwürdigkeit zu verleihen, zieht Behrus bei den Korrekturarbeiten seine Tagebuchnotizen mit Datum und Uhrzeit heran.391 Die Doppelperspektive auf den Erzählstoff erzeugt auf der Rezeptionsseite, wie bereits erwähnt, eine doppelte Fiktion. Der Leser erfährt die Geschichte in der Rückschau und liest die gleiche Liebesgeschichte mit Carola einmal aus der Sicht von Behrus und ein anderes Mal aus der von Sohrab. Die doppelte Fiktionalität der Geschichte sowie die Distanz zwischen ihr und dem Protagonisten werden dem Leser in der ersten Schilderung durch die Darstellung einer Traum-Szene aus Behrus’ Leben veranschaulicht: Er wartete auf den Bus. An der Haltestelle gab es einen Tisch und drei Stühle. Eine Frau und ein drei- oder vierjähriges Mädchen waren hinter dem rechteckigen oder runden Tisch – er erinnerte sich nicht mehr genau […]. Weder erinnerte er sich an die Jahreszeit noch an das Wetter. Er wusste nur, dass Stille herrschte. Die Tür, die er durchschritten hatte, um zur Bushaltestelle [sic!] zu gelangen, führte zu einer Wüste, als bestünde die gesamte Welt aus dieser Tür und der Wüste. Er wusste nicht, woher er gekommen war. Er wusste nur, dass er Reisender war, von einem fernen Ort […]. Ein Knabe saß neben den beiden anderen und sah ihn an. Wie sehr er doch ihm selbst ähnelte. Als er genauer hinsah, entdeckte er, dass es seine Kindheit war, die ihn ansah …392 So eröffnet die Erzählung an dem rahmenbildenden Motiv des Reisens schon zu Beginn die retrospektive Perspektive. Offenbar verfolgt dieser Traum den Protagonisten seit Langem; aber eines Tages ändert sich in ihm etwas Wesentliches: »Am 23. Mai 1997, um fünf Uhr fünfundvierzig, erwachte er wie gewöhnlich mit diesem Traum […]«; diesmal aber saß er selbst »statt seiner Kindheit« auf dem Stuhl und sah ihn an.393 Es folgt ein Selbstgespräch, von dem der Blick vom Traum allmählich in die Wirklichkeit der Erzählung wandert. Der Ort der Erzählung ist zunächst unbekannt. Die Zeitangaben wechseln sich ab; die Geschichten werden mit christlichem Datum versehen, wenn sie sich in Deutschland ereignen,394 und mit dem iranischen, sofern sie den Erinnerungen an das Leben im Iran folgen.395 Dass es im Wesentlichen um die Liebesgeschichten des Protagonisten Behrus geht, erfährt der Leser durch die drei aufeinanderfolgenden Liebesakteurinnen. Sie heißen Camelia, Fereshteh und Carola. Camelia – ihr 390  Ebd. 391 Ebd., 109. 392 Ebd., 7. 393 Ebd., 8. 394  Ebd. 395 Ebd., 18.

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Name mit »angenehmem, fremdartigem Klang«396 – ist die Tochter einer deutschen Frau und eines iranischen Mannes, die in der Stadt Ramsar leben. Sie ist Behrus’ Jugendliebe, bevor sie sich von ihm trennt und auf Wunsch ihrer Familie einen anderen Mann heiratet.397 Diese Heirat bedient das Stereotyp einer patriarchalischen Ordnung und präfiguriert die Leidensgeschichte der weiblichen Figur. Das Ergebnis dieser unglücklichen Ehe sind eine Tochter und ein Sohn, die später Camelia auf ihrer Flucht nach Deutschland begleiten werden. Dass sie nach ihrer Heirat den Kontakt zu Behrus aufrechterhält, wird im Zusammenhang mit dem Fluchtplan aus dem Iran deutlich. Mit Camelia und ihrer Familie wird Liebe als interkulturelles Motiv der Erzählwelt gestaltet; an diesem Motiv entfaltet sich die Erzählung über das Leben des jungen Protagonisten in der historischen Heimat. Diese eröffnet einen historischen Kontext, der seinerseits das Generationsgedächtnis wie das kulturelle Gedächtnis befragt. Behrus’ Trennung von Camelia im Iran wird nämlich im Kontext der Islamischen Revolution verortet und fordert die kognitive Erzählperspektive: »Als die Revolution ausbrach, wurde es für Camelia problematisch, bei Behrus zu sein. Sie fürchtete, verraten und gesteinigt zu werden«.398 Dieses Gedächtnis trägt auch die Fluchtgeschichte der weiblichen Figur. Camelia gelingt die Flucht mit ihrem Sohn nach Hamburg. Hier erfährt Behrus später, dass die im Iran zurückgelassene Tochter sein eigenes aus der Affäre hervorgegangenes Kind ist.399 Das Motiv Liebe im Leben des Protagonisten erfährt eine neue Dimension, die sich in dessen historischen Heimat, Teheran, entfaltet. Die Figur, an der diese Liebe erzählerisch Gestalt gewinnt, ist Fereshteh.400 Die Analyse dieser weiblichen Figur charakterisiert diese als Repräsentationsfigur, die in der Modellierung der Erzählwelten vergleichsweise eine erzählerische Vorlage besitzt. Fereshteh ist also keine modellierte Neuerfindung, sondern erweist sich als Pendant zu TORKANs Figur Tufan und zu Dörte in der Frankfurter Trilogie. Ihre Gemeinsamkeit besteht darin, dass sie als Ref lexionsfiguren eines politischen Kontexts positioniert werden, der in der Erzählwelt kritisch hinterfragt werden soll. Behrus lernte Fereshteh während der Studentendemonstrationen kennen, trennte sich aber nach der Revolution von ihr:401 Es »verschwand der Anlass, der mich an sie gebunden hatte. Hier nutzte weder Tapferkeit, noch war etwas von der Überzeugung übrig geblieben. […] Ihre ganze politische Klugheit setzte sie für Börsenspekulationen ein«;402 eine Tätigkeit, die sie nach Deutschland bringt, wo sie sich ausgiebig am Aktiengeschäft beteiligen kann. Während an Fereshteh und an Teheran die historische Perspektive der Erinnerungsarbeit gestaltet wird, schildern Carola und Hamburg Behrus’ Lebensinhalte in der Jetztzeit der Erzählwelt.403 Somit wird 396 Ebd., 19. 397 Ebd., 47. 398 Ebd., 75. 399 Ebd., 75-79. 400 Ebd., 117-123. 401   Auf eine ähnliche Weise schildert Rapithwin im Erzählband Mein deutsches Kind die Bekanntschaft zwischen einem Mann und einer Frau auf den Demonstrationen, die allerdings in ihre Ehe und ihr Zusammenleben in Deutschland nach der Flucht mündet (Rapithwin: Mein deutsches Kind, 2001, 1822). 402  Falaki: Carolas andere Tode, 2009, 122f. 403 Ebd., 12.

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an der Figur und an der Stadt wiederum eine historische Perspektive eröffnet, mit der die Gegenwartsperspektive kontrastiert wird. In der erzählerischen Gestaltung dieser Perspektive spielen Carola und Hamburg die zentrale Rolle. In Hamburg – in Grindelhof – besitzt Behrus einen Kiosk; dieser wird zum Begegnungsort von Behrus und Carola und hat in der Erzählung der Liebesgesichte eine Erinnerungsfunktion. An diesem Begegnungsort erfährt der Leser zum ersten Mal den Namen des männlichen Protagonisten bei der gegenseitigen Vorstellung von Behrus und Carola. Zu dem Kiosk wird der Leser im Verlauf der Erzählung immer wieder zurückgeführt, wenn er Einzelheiten dieser Bekanntschaft erfahren soll. Hinzukommt auch, dass die doppelte Perspektivierung der Geschichte des Protagonisten, wie sie bereits vorgestellt wurde, sich ebenfalls an diesem Begegnungsort vollzieht. Die Stadt Hamburg gilt in der Erzählung zunächst als Ort, an dem die Figurenperspektiven von Behrus und Sohrab korrelieren. Doch wandelt sich diese korrelierende Figurenperspektive in eine kontrastierende, sobald das freundschaftliche Verhältnis zwischen Sohrab und Behrus in eine Rivalität umschlägt. Dem Leser wird klar, dass nicht nur Behrus Carola liebt, sondern auch Sohrab. Der Liebesstreit, der Urheberrechtsstreit über die Wahrheit von Behrus’ Lebensgeschichte und Carolas Rolle als Akteurin und Adressatin der Geschichte erzeugen eine dreifache Perspektivierung der Erzählung, die thematisch ebenfalls durch ein dreifaches Verhältnis – Freundschaft, Rivalität und Urheberschaft – bestimmt wird. Die Polyperspektivität der Erzählung wird dem Leser jedoch nicht bereits zu Beginn geschildert; er entdeckt sie erst im Dialog zwischen Sohrab und Carola in der dritten und letzten Schilderung. Carola spielt in diesem Dialog die Rolle einer Augenzeugin und soll Sohrab die erzählten Geschichten über Behrus bestätigen. Erst in der letzten Schilderung erweisen sich die vorangegangenen Schilderungen als Binnengeschichte. Die korrelierende und kontrastierende Figurenperspektive modelliert eine Erzählwelt, in der die Frage nach dem historischen Wahrheitsanspruch der jeweiligen Perspektive unbeantwortet bleibt. Doch finden alle Perspektiven in einem Aspekt ihren gemeinsamen Bezugspunkt, nämlich darin, dass die Verortung der Heimat und die Identifikation des Selbst eine individuelle wie soziale Angelegenheit ist und je nach dem Ort der Befindlichkeit erneut verhandelt werden soll. Der Ort dieser Verhandlung ist in der Gegenwartsperspektive der Erzählung die Stadt Hamburg; hier werden interkulturelle Berührungsmomente verortet. Die Heimat- und Selbstdefinition im Sinne von individuellen und sozialen Verhandlungen stellen interkulturelle Erfahrungsmomente dar, die durch das Ineinandergreifen von Figur und Stadt konstruiert werden. Dieses Ineinandergreifen entsteht an den Netzorten von Geschichte und Gegenwart. Seine Gegenwart findet es in Carola, seine Geschichte in der interkulturell profilierten Figur Camelia, die nun nach ihrer Flucht aus dem Iran in Hamburg lebt. Interkulturelle Begegnungsmomente ergeben sich auch auch in alltäglichen Beobachtungen. In der Hamburger Kneipe Zapf hahn erfährt der Leser, dass der Protagonist Behrus an seiner eigenen Lebensgeschichte, die später den Gesprächsstoff im Dialog von Sohrab und Carola bilden wird, schreibt. Diese Erfahrung wird in die Schilderung einer Begegnung integriert. Eines Tages beobachtet ihn eine Frau im Zapf hahn beim Schreiben und spricht ihn an. »Soll ich es Ihnen vorlesen?« Die Frau kam näher, warf einen Blick auf sein Geschreibsel und sagte, »Oh, was für

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eine Sprache ist das?« »Persisch.« »Persisch? Das ist eine seltsame Sprache. Sie ähnelt der Malerei.« »Unsere Sprache ist nicht seltsam. So sieht die persische Schrift aus. Wir schreiben von rechts nach links.« »Wie? Wie ist das möglich?« »Weshalb glaubst du, von links nach rechts zu schreiben sei normal? Das ist nur eine Gewohnheit. Ihr habt euch daran gewöhnt, links zu beginnen. Für mich ist das ungewöhnlich.« Er übersetzte die Sätze, die er geschrieben hatte, für die Frau. Ihr Blick leuchtete, und sie näherte sich, unter dem Vorwand, das Geschriebene genauer anzusehen, mit dem Gesicht, das vom Alkohol gerötet war.404 Jeder Satz dieses Dialoges zwischen Behrus und der Frau, die sich später als Prostituierte entlarvt und Behrus auf ihr Zimmer einlädt, enthält eine Aussage, die Fremdheit und kulturelle Zugehörigkeit lediglich als subjektive Gewohnheiten darstellt. Die angeblich seltsame Art und Weise des Schreibens, die Infragestellung des ›Normalen‹ und das unref lektierte Aufeinanderbeziehen von Gewöhnlichem und Normalem im Sinne einer verbindlichen Norm, die die Perspektive der Prostituierten zur Kultur erhebt, sind tragende Aspekte dieses Gesprächs. Die szenische Thematisierung des kulturell Normativen hinterfragt die Techniken der Stereotypisierung und erweist sich in Falakis Werk als beliebter Stoff satirischer Darstellungen. Die Kurzerzählung Ein kurzes Gespräch mit einer netten deutschen Dame, um hier noch ein Beispiel zu nennen, erzeugt zwar eine interkulturelle Kommunikationssituation, aber dadurch, dass der Erzähler sich dabei durch die Fremdheitszuschreibungen einer alten Dame einem Kulturenzwang ausgesetzt fühlt, veranlasst ihn, die Kommunikationssituation als ein »ungleichberechtigt[es] Verhältnis«405 zu charakterisieren. »Ich habe mich daran gewöhnt«, beginnt Falakis Erzähler, »dass die Deutschen […] mich überall nach meinem Herkunftsland fragen«.406 Das Ungleichgewicht entsteht dadurch, dass der Erzähler »nie fragen konnte, woher sie kommen«.407 Es werden zwei Aspekte in den Vordergrund gestellt: Zum einen dient das Herkunftsland als Schablone für eine reduktionistische Identitätszuschreibung und zum anderen zur Kulturalisierung des Individuums in der als ungleich empfundenen Kommunikationssituation. Um beide Aspekte literarisch darzustellen, werden Witz und Ironie als Stilmittel verwendet, denn der Erzähler beantwortet die Herkunftsfrage unterschiedlich: Mal entscheidet er, Portugiese zu sein, mal Araber, mal Franzose und treibt dieses Spiel solange, bis er eines Tages einer alten Dame gesteht, er sei Iraner. 404 Ebd., 32. 405  Falaki: Ein kurzes Gespräch mit einer netten deutschen Dame, 2013, 7. Diese Geschichte ist eine der Kurzgeschichten aus Ich bin Ausländer und das ist auch gut so (2013). In diesem Erzählband sind Kurzgeschichten aus dem Alltag versammelt. Das Charakteristische an ihnen ist die literarische Schilderung durch die Relativierung von Perspektiven in der jeweiligen Kommunikationssituation mit dem Ziel, das Ungleichgewicht zu beleuchten. Dem Autor danke ich für die freundliche Zusendung dieses Bandes. 406  Falaki: Ein kurzes Gespräch mit einer netten deutschen Dame, 2013, 7. 407  Ebd.

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Erst hier werden die Exklusionsmechanismen ausgelöst, die eine Reihe von Vorurteilen der alten Dame über den Iran, den Orient und den Islam freisetzen. Zur szenischen Thematisierung reduktionistischer Identitätszuschreibungen auf der Folie der historischen Heimat bedient sich der Autor verstärkt des Motivs Sprache, wie die Begegnung von Behrus mit der Prostituierten auch zeigt, und hinterfragt die ausschließlich auf den Ursprung reduzierte Identifikation eines Individuum. In den Anspielungen der letzten beiden Sätze im Dialog mit der Prostituierten wird Kultur am Beispiel der Sprache als übersetzbar, interpretierbar, verstehbar und im besten Falle auch erlernbar begriffen. So erfüllt die Sprache nicht allein ihre Funktion im Sinne der Kommunikation, sondern ließe sich in die Reihe der Metaphern des ›Schaufensters zur Welt‹, der Elbe und des Kaspischen Meers einordnen. An ihnen werden gemeinsame Referenzbereiche der Identifizierung gestaltet. Das Gemeinsame wird zum einen an die Geschichte angeknüpft und zum anderen in der Gegenwart der Erzählung zukunftsfähig gemacht. Wenn Figuren und Orte in Szene gesetzt werden, so tragen die Szenen zur Konstruktion einer polyperspektivischen Erzählwelt bei, die auf die Relativierung der Figuren- und Erzähler-Perspektive zurückwirkt. In den Poetiken ref lexiver Identifizierung erweist sich Heimat als herausragendes Narrativ, weil sie sowohl die Reduktion der Identität auf den angestammten Raum des Individuums problematisiert als auch das Verhältnis von Mensch und Raum als wandelbar vorstellt.

4.2.4.1 Heimat in Bewegung Die Metaphern Fluss und Schaufenster zur Welt für Heimat charakterisieren diese als einen Ort der Bewegung und Interaktion. Zusammen mit den zuvor besprochenen Motiven des Geruchs, der Farben und des Geschmacks – der Sinnesorgane also – lässt sich die Poetik der Heimat als Erfahrungsort der Bewegung, Entdeckung und Sinnbildung beschreiben. Mit dieser Beschreibung lässt sich der Heimat-Diskurs aus dem Migrationszwang befreien. Im Diskurs der deutschsprachigen Literaturwissenschaft der neunziger Jahre wurden die Heimat-Konstruktionen in Bezug auf die Werke von Anna Seghers, Thomas Mann, Günter Grass, Heinrich Böll und Siegfried Lenz als Poetik eines »Wechselspiel[s] von Kenntnis und Distanzierung, Authentizität und Verfremdung«408 diskutiert. In der Literatur gewinnt die moderne Heimat als Motiv zur Inszenierung individueller Erfahrungen in kulturellen Hybridisierungsprozessen ambivalente Bedeutungen, denn sie wird nicht allein durch die Ansammlung greif barer Gegenstände wie beispielsweise durch Gedächtnis-Medien symbolisiert, sondern findet auch verbal Ausdruck und wird gleichzeitig mit positiven und negativen Vorzeichen versehen.409 So wird Heimat aus ihrer funktionalen Ebene als Sammelbehälter historischer Bedeutungsverfestigung in ein wandelbares Konstrukt mit unterschiedlich besetzbaren Artikulationsmöglichkeiten umgedeutet. Die Poetik der Heimat im deutsch-iranischen Migrationsgedächtnis bedient sich dieser Artikulationsmöglichkeiten und semantisiert Heimat mit weiteren Artikulationsformen, die über Erfahrungen von Exil, Vertreibung und Verlust hinaus insbesondere das wandelbare Konstrukt der Heimat verfeinern. Dieses Konstrukt in der interkulturellen Schreib-Szene benötigt zwar das museale Gedächtnis, um eine historische Orientierung der Heimat-Vorstellungen 408  Bastian: Der Heimat-Begrif f, 1995, 197. 409 Ebd., 206.

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überhaupt ermöglichen zu können, beschränkt sich aber keineswegs auf dieses Gedächtnis, sondern sucht nach Netzorten, an denen Erinnerung und Erfahrung zusammenfinden. Bemerkenswert ist insbesondere, dass das Erinnerungen an die Heimat sich von dem in der Jetztzeit der Erzählung konstruierten Gedächtnis zum Teil unterscheiden und auf diese Weise die Ontologie der Heimat untergraben. Dies geschieht, wie die Beispiele bereits gezeigt haben, mit Hilfe eines erzählerischen Kunstgriffs. So wird auf der einen Seite das Gedächtnis der historischen Heimat polyperspektivisch erzählt. Dabei sind sich die Figuren über das Generations- und kulturelle Gedächtnis, an dem sie selbst partizipieren, nur partiell und selektiv einig. Diese nur bedingt erzielte Einigung führt auf der anderen Seite dazu, dass die Versuche, das Gedächtnis der Heimat in der Jetztzeit figurativer Erfahrungsmomente zu befragen, aus unterschiedlichen, individuell erfassbaren Bewegungsgründen geschehen. Somit ist der Rezipient mit mehrdeutigen Gedächtnishorizonten konfrontiert, an denen sich – dies legen zumindest die Motive offen – keine einheitliche oder territorial motivierte Heimat-Definition erkennen lässt. Wenn die Figur des Migranten durch Ref lexionen über Erinnerungen und Erfahrungen, über Berührungen und Begegnungen und nicht zuletzt über Erkenntnisse in unterschiedlichen kulturellen Räumen und Zusammenhängen in der Lage ist, sich des kulturellen Gedächtnisses zu bedienen, um ihre Heimat in der Jetztzeit ihrer eigenen Wirkung zu gestalten, so zeugt diese Fähigkeit von der interkulturellen Profilierung der Figur und des Ortes derer Präsenz – der Erzählwelt. Die Gedächtnisinhalte bilden in der Gegenwart der Erzählwelt kein einheitliches und unveränderbares Gebilde, sondern ein ›fragmentarisches Universum‹410 mit unterschiedlichen Funktions- und Sinnbereichen. Die fragmentarisch zusammengesetzten Gedächtnisinhalte werden von der Migranten-Figur getragen, individuell konstruiert und auf das, was Heimat sein soll, projiziert. Diese Fragmente legen die Pluralität von Erfahrungen, die den Ort der Heimat in der Erzählwelt als gestimmten Raum auffassen hilft, offen. Wenn die Figur des Migranten vermittels ihrer interkulturellen Profilierung ihre Heimat-Orte mit sich trägt, so durchquert sie auch die imaginär gestimmten Räume, besetzt sie, gestaltet sie neu und verlässt sie auch wieder. Was diese imaginär gestimmten Räume ausmacht, sind ihre variablen Inhalte. Mit diesen Inhalten wird in der Poetik der Erzählwelt der Versuch unternommen, diese Räume als ideale Heimatmodelle zu gestalten. Daher lassen sich diese Räume im Diskurs der Literaturwissenschaft auch als literarische Utopien betrachten, die einen maßgeblichen Anteil an der Aushandlung kultureller Ordnungen haben.411 Aus der Erkenntnis über Heimat als Träger individueller, sozialer und kultureller Bedeutungen kann die Literaturwissenschaft mit Blick auf die Artikulationsmöglichkeiten der Heimat die Erkenntnis über Heimat als Konstrukt gewinnen, dessen Existenz sie den auf die Heimat projizierten Inhalten verdanken. Erinnerungen, Gerüche, Geschmäcke, Sprachen, literarische Lektüre gehören zu solchen Inhalten. Die beliebige Anwendbarkeit der Bedeutungszuschreibungen ist allen hier diskutieren Figuren gemein und spiegelt sich in den bereits diskutierten Heimat-Narrativen wider. In Szene gesetzt werden solche Bedeutungszuschreibungen am Beispiel von Heimat und Sprache in Abdolreza Mad-

410   Ich verwende diesen Ausdruck im Anschluss an Erwin Theodor Rosenthals Terminus Das fragmentarische Universum, 1970. 411 Hallet et al. (Hgg.): Raum und Bewegung in der Literatur, 2009.

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jdereys Gedicht Sprachnomadenleben (1986). Hier sind die Bilder der Heimat nicht still, sondern in Bewegung: Wenn die Sprachwolkenzüge Meinen Traumhimmel verdunkeln, wenn die Satzbäume entblättert auf Invasion des Winters warten, ziehe ich mit meiner Bibliothek Richtung sonnengetünchtem Süden, überwintere in Rosengärten von Schiraz, trinke mit Hafez, tanze mit Chaiyam und schlafe auf handgewebten Wortteppichen bunt. Dann wenn mein Blut zu sieden beginnt, Herz und Hirn zu ersticken drohen, Wortfeldbrandungen sich ausbreiten, habe ich Sehnsucht nach dem milden Tübingen, augustgrünem Dichterstreit und nach Ilse Benn, die mir manchmal von ihrem Gottfried erzählt.412 Madjdereys Gedicht teilt sich in zwei Strophen, die durch das Temporaladverb dann voneinander getrennt werden. Die erste Strophe wird durch die Verse »ziehe ich mit meiner Bibliothek/Richtung sonnengetünchtem Süden« in zwei Teile gegliedert. Das Gemüt des lyrischen Ich im ersten Teil der ersten Strophe ist durch Sprache bedingt, die den Naturelementen gleichgestellt wird und in diesem Sinne auch mit Falakis Wasser-Metaphorik korrespondiert, bedingt. So lässt sich der Ausdruck »Sprachwolkenzüge« als Benennung eines Augenblicks deuten, der dem lyrischen Ich jede Fähigkeit nimmt, seiner Traumwelt Ausdruck zu verleihen. Auch dieser Zustand wird durch die Natur symbolisiert, und zwar durch Satzbäume, die entblättert sind und auf die Invasion des Winters warten. Der zweite Teil der ersten Strophe handelt von der Reise des lyrischen Ich in den ›sonnengetünchten Süden‹, der den ersten Teil der ersten Strophe kontrastiv als Norden auffassen lässt. Anders als im ersten Teil treten nun Motive aus der persischen Literatur auf: ›Rosengärten von Schiraz’, ›Trinken mit Hafez‹ und ›Tanzen mit Khayyam‹. Die Metapher des ›handgewebten bunten Wortteppichs‹ bedeutet mit Blick auf Text als »Gewebe«413 zum einen den literarischen Dialog mit den persischen Dichtern, symbolisiert aber zum anderen den sicheren Boden, auf dem das lyrischen Ich schläft bzw. liegt,414 d.h. die Vertrautheit sprachlichen Ausdrucks.

412   Madjderey: Sprachnomadenleben, 1986, 163. 413  Barthes: Leçon/Lektion, 1978, 25. 414   So auch die Bedeutung des Begriffes Heimat, germanisch: haima, haimi von indogermanisch kei »liegen«.

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Mit der ersten Strophe konkurriert die zweite. Auch hier ist der Gemütszustand des lyrischen Ich der Grund für dessen Bewegung von Schiraz nach Tübingen. Während aber die trüben Momente in den ersten beiden Versen der ersten Strophe durch die fiktive Reise in die ›Rosengärten von Schiraz’ überwunden werden, ersetzt die zweite Strophe die heiteren Augenblicke durch die beinahe unerträglichen Momente des ›Siedens‹. Die hierauf folgenden Verse symbolisieren einen lebensgefährlichen Zustand, aus dem das lyrische Ich sich zu befreien vermag. Schiraz wird Tübingen zwar gegenübergestellt, doch nicht im Sinne eines Kontrasts, sondern einer Erweiterung. Während dort Hafez und Khayyam den literarischen Dialog im kulturellen Gedächtnis ermöglichen, übernehmen hier Ilse und Gottfried Benn diese Funktion. Der unterschiedlich große Zeitabstand und die Hilfe einer Augenzeugin zum Schluss sind nicht zu übersehen. Die Herstellung des fiktiven Dialogs des Ich mit den Dichtern in Schiraz erfolgt direkt und ohne den Einbezug einer vermittelnden Instanz; dies ist in Tübingen anders. Durch die vermittelnde Instanz wird im letzten Vers der Bezug zur Geschichte hergestellt, während der historische Bezug im letzten Teil der ersten Strophe unmittelbar vorhanden ist. Das sich bewegende lyrische Ich in Madjdereys Versen gestaltet und semantisiert selbst den gestimmten Raum, indem es sich je nach Empfinden entsprechende »Heimatwelten«415 für seinen vorläufigen Aufenthalt aussucht und den Bezug zur Geschichte individuell herstellt.

4.2.4.2 Heimat als Verhandlungsraum Der literarische Diskurs der Heimat wird in den Erzählungen modelliert, die auf das kulturelle Gedächtnis nicht nur Bezug nehmen, sondern es auch gestalten. Im Gewebe dieses Gedächtnisses wird Heimat aus einer territorialen und ontologischen Gegebenheit abgelöst und in der Perspektive der Figuren als Verhandlungsraum mit örtlichen, historischen, erinnerungswürdigen, sozialen, sinnlichen und emotionalen Komponenten charakterisiert. Aus dem Zusammenwirken dieser Komponenten in den erzählten Heimaten entsteht ein Konglomerat mit mehrdeutigen Semantiken; diese Mehrdeutigkeit findet in der außertextuellen Wirklichkeit keine Entsprechung. Die Semantiken lassen sich nur mit Hilfe von denjenigen Motiven beschreiben, die den literarischen Diskurs der Heimat gestalten und führen. Wie die Analyse bereits gezeigt hat, ist dieser Diskurs seine Polyperspektivität den interkulturell profilierten Figuren geschuldet. Diese fordern das konventionelle Heimat-Verständnis insofern heraus, als sie Heimat über ihre herkömmliche Bedeutungskomponente im Sinne eines Verhältnisses von Mensch und Raum hinaus in das Reich der Sprache versetzen. Die Poetiken der Heimat verhandeln das, was die Figuren vor dem Hintergrund ihrer Erinnerungen, Erfahrungen und Emotionen mit Heimat verbinden. Wenn die Konstruktionen von Heimat an die Erzähler- und Figurenperspektive gebunden sind, wenn die Erzählwelt sich als Ort ihrer Bildung, Entfaltung und nicht zuletzt als Artikulationsmöglichkeit des kulturellen Gedächtnisses versteht, so wird Heimat zu einem Narrativ, das individuelle wie kulturelle Bedeutungen nicht nur in sich trägt, sondern auch deren Umwandlungen ref lektiert. Um die Auseinandersetzung mit diesen Bedeutungen im Kontext des kulturellen Gedächtnisses ging es der Textanalyse. Sie widmet sich über 415   Cremer et al.: Heimat in der Moderne, 1990, 34. Aus der Poetik des gestimmten Raums wächst in der Heimatforschung auch die Erkenntnis über Heimat als ›einen gestaltenden Faktor des sozialen Wandels‹ (ebd., 36f.).

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den oben beschriebenen gestimmten Raum hinaus nun auch der Interpretation der Heimat als Verhandlungsraum. Beide Aspekte sollen gemeinsam bei der Ausweitung der Analyse auf die filmischen Darstellungen betrachtet werden. Eine Reihe von filmischen und textuellen Heimat-Darstellungen der Wendezeit hat Verschränkungen von Heimat und kulturellen Transformationen für sich entdeckt und Heimat auf der Grundlage dieser Prozesse neu verortet. Im theoretischen Teil dieser Studie habe ich auf die Überschneidungsmomente der bundesrepublikanischen Wiedervereinigung und Migrationsprozesse hingewiesen (2.4). Der Heimat-Diskurs in Literatur und Film gestaltet diese Momente auf eine eigenartige Weise. Sowohl mit dem Motiv der Berliner Mauer und dem Zusammenbruch der Grenze als auch mit Migration spielt der Heimat-Diskurs auf die spezifisch deutschen Phänomene der Migration und des Mauerfalls als treibende Kraft zur Entterritorialisierung der Heimat in einer europäischen Dimension an.416 Hierbei gewinnt Heimat als Ort der kulturellen Identifikation eine neue Bedeutungsdimension. Bereits in den Fallbeispielen wurde erörtert, wie der Roman Selam Berlin mit dem Motiv der Berliner Mauer einen literarischen Identitätsdiskurs führt. Auch im Diskurs der Heimat hilft die Mauer als Motiv, das euphorische Vorstellungen, Verherrlichung und Idealisierung der Heimat mit individuellen Heimat-Orten in Szene setzt. Die Inszenierung der Heimat in Selam Berlin gewinnt insbesondere deshalb an Relevanz, weil sie aus der Perspektive eines Protagonisten geschieht, dessen Identitätsarbeit sich im kulturellen Gedächtnis Deutschlands und der Türkei vollzieht. Nicht nur in diesem Sinne erfolgt die Identitätsarbeit des Protagonisten im interkulturellen Spannungsfeld; sie wird sogar zu einer Angelegenheit der deutsch-deutschen Wiedervereinigung. Diese Inszenierung ist auch deshalb wichtig, weil der Protagonist die Singularität der Heimat in Frage stellt. Aus seiner Erzählperspektive, die historische Erinnerungen und gegenwärtige Erfahrungen vereint, wird Heimat verwahrt und an den »empfindenden, handelnden, arbeitenden, denkenden Menschen«417 gewonnen und zukunftsorientiert hergestellt. Das Erzählen von Erinnerungen an die historische Heimat eröffnet die Perspektive auf den gelebten Ort. Zugleich wird Heimat aber auch durch die handelnde und denkende Figur in der Jetztzeit der Erzählwelt erfahren und ist deshalb auch eine erlebte Heimat.418 Sie schließt zwar die Vergangenheit an, geht jedoch in der Gegenwart auf, indem sie sich als Ort des Handelns kennzeichnet, an dem das Individuum teilhat, sich selbst und andere erfährt. Heimat wird zu einer sozialen Angelegenheit des Individuums. Indem die Erzählwelt individuell, familiär und gesellschaftlich kommunikative Auseinandersetzungen offenlegt, indem der Rezipient die Heimat schließlich als Folge einer Reihe von Verhandlungen erfährt, gilt der kommunikative Aushandlungsprozess in seiner Gesamtheit als Element der Heimat-Konstruktion. In diesem kommunikativen Zusammenhang lässt sich die Heimat-Erfahrung des Protagonisten von Karas Roman in Berlin als einer Stadt einordnen, die »an alternative identity and space for negotiation and cultural inclusion«419 bietet. Hasans Identitätsarbeit erfolgt zunächst zwischen Istanbul und Berlin, bis sich der Protagonist zu einem Leben in Berlin entschließt. In den kritischen Ref lexionen über den Heimat-Ort mit Blick auf 416 Siehe zur Diskussion Demshuk: The Lost German East, 2012. 417 Ebd., 97. 418 Ebd., 101f. 419   Marven: »Kanacke her, Almanci hin«, 2007, 191.

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die Ausgrenzungskriterien derjenigen, die Hasan beispielsweise in der Straßenbahn oder im Filmstudioset beobachten, greifen Ref lexionen über West- und Ost-Berlin ineinander und erzeugen kontrastierende Widerspiegelungsmomente, die der Leser aus Hasans Perspektive auf Berlin als sozialen Begegnungsraum erfährt. Durch das Ineinandergreifen von Stadt und Figur entsteht ein Dialog mit der Stadt, der auf der einen Seite die persönliche Bindung von Hasan an Berlin konstruiert420 und auf der anderen Seite Berlin als bunte und multikulturelle Metropole semantisiert. Aufgrund dieser Positionierung erweisen sich Ausgrenzungsversuche, die Hasan im Hinblick auf einen Teil der Berliner Gesellschaft kritisch bemerkt, als Gegensatz zum eigentlichen Kriterium der Metropole421 und der individuellen Identifikation Hasans. Das Beispiel Berlin in Karas Roman sieht in der Stadt eine privilegierte Position, die erlaubt, die Stadt als kommunikativen Verhandlungsraum von Figuren und ihrem Umfeld zu interpretieren. So wird Berlin als Sinnbild für den »Ausgangspunkt für tiefgreifende ästhetische Veränderungen«422.

4.2.4.3 Heimat im Generationsgedächtnis Selam Berlin ist nicht das einzige literarische Zeugnis, das Heimat als Artikulationsmöglichkeiten des Generations- und kulturellen Gedächtnisses konstruiert und eine mehrdeutige Lesart dieser Konstruktionen auf der Rezeptionsseite herbeisteuert. Als filmisches Pendant zum Roman erweist sich Almanya fast ein Jahrzehnt später. Hier avanciert die Heimat zum Narrativ einer Familien- und Integrationsgeschichte. Der Protagonist, an dem eine historische Heimat-Konstruktion vollzogen wird, ist der Großvater Hüseyin, der seine Familie an einer zentralen Stelle des Filmes mit der Aussage, er habe ein Haus in der Heimat gekauft, überrascht. Diese Verkündung erfolgt in der Esstisch-Szene, in der Hüseyin und seine Frau, Fatma, eigentlich den Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit bekanntgeben. Zentral ist diese Szene deshalb, weil sie durch die provokative Frage des Enkelsohns Cenk (Sind wir Türken oder Deutsche?) von der Gegenwartsperspektive des Filmes in Hüseyins Vergangenheitsgeschichte wechselt. Die Vergangenheitsgeschichte wird aus der Perspektive der Enkeltochter, Canan, erzählt. Die Gestaltung dieser Perspektive schafft dem Generationsgedächtnis ein Artikulationsraum. Hüseyins Verkündung präfiguriert also den Perspektivenwechsel und richtet den Blick zum einen auf die historische Verortung der Heimat, mit der er am Motiv des Hauses die Türkei verbindet, zugleich umfasst seine Perspektive aber auch die Gegenwart, weil er die Bundesrepublik ebenfalls als seine Heimat betrachtet. Dieses ambigue Heimat-Verhältnis verdeutlicht, wie die Zeitabschnitte der Prä- und Post-Migration im Leben des Protagonisten untrennbar ineinandergreifen. Der erste Zeitabschnitt umfasst die Geschichte Hüseyins als Gastarbeiters und wird durch das Motiv der Pendelfahrt zwischen der Türkei und Bundesrepublik dominiert. Diese Periode geht dann in eine neue über, als Hüseyin sich auf seiner letzten Reise in die Türkei dazu entschließt, seine Familie in die Bundesrepublik mitzuneh420 Ebd., 194-198. 421   Siehe zu dem Aspekt der Ausgrenzung in der Metropole Brockmann: Berlin as the Literary Capitol of German Reunion, 2007, 39-55. Die Metapher der Brücke, die häufig für Figuren wie Hasan gebraucht wird, erweist sich auch hier als Fehlbegriff (McGowan: Brücken und Brücken-Köpfe, 2004, 31-40), weil Hasan nicht etwa auf der Brücke zu Berlin lebt, sondern in Berlin. 422  Peters: Stadttext und Selbstbild, 2012, 31-35, hier  31.

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men und hier ein neues gemeinsames Leben aufzubauen. Die Einstellung des alten Hüseyin zur Heimat zeugt von einem undefinierten Verständnis, das vor allem in seiner Reise in die Türkei nun als deutscher Staatsbürger thematisiert wird. Indem Hüseyin das Wort Heimat in der Esstisch-Szene so unref lektiert ausspricht, löst er die Problematik dieses Begriffes in Cenks Gegenwartsperspektive aus. Das alte Schwarzweißfoto veranschaulicht diese Problematisierung. Hüseyin bewegt sich nicht auf der Zeitachse einer Entscheidung zwischen der Türkei und der Bunderepublik, weil er die Türkei als Heimat genauso wenig ablehnt wie die Bundesrepublik; vielmehr legt er durch eine Mischung von Gefühlen, Träumen und Wünschen die Kohäsion beider Orte in seinem Bewusstsein offen. Er macht keinen Hehl daraus, dass er mit der Festlegung der Heimat hadert, was beispielsweise in der Szene der Verleihung der deutschen Staatsbürgerschaft auch ausdrücklich zur Schau gestellt wird. Außerdem gibt Fatma auf Hüseyins Beerdigung in der Türkei selbst zu, ihr Mann habe nie einen deutschen Pass besitzen wollen, so dass die Vermutung über das Ungleichgewicht der Heimaten zumindest auf der administrativen Ebene zulässig wäre. An der administrativen Problematik einer Heimatbestimmung orientiert, wird Heimat aus individueller und nicht aus staatlicher Sicht thematisiert, zumal Hüseyin bekräftigt, der Pass sei nur ›ein Stück Papier‹. Kontrastiv zur individuellen Heimat-Verortung steht also die staatliche Heimat-Auffassung durch den Pass auf der administrativen Ebene der Identifikation und zeigt pointiert, dass gesellschaftliche Tatsachen politische Regelungen und Normen längst überholt haben. Die Heimat-Aushandlung findet auf der administrativen Ebene also keine Entsprechung. Als deutscher Staatsbürger darf Hüseyin in der Türkei nämlich nicht beerdigt werden. Bei den Diskussionen der Familie über die Beerdigung wird die Kluft der Administration und der Lebenswirklichkeit aufgezeigt und indirekt auf die administrativ ungelöste, abermals populär gewordene doppelte Staatsangehörigkeit angespielt; indirekt deshalb, weil es die türkischen Behörden sind, die die doppelte Staatsangehörigkeit nicht anerkennen. An die Problematisierung der administrativen Heimat-Zuschreibung schließt sich die familiär-individuelle Heimat-Auffassung in der Hausbesuch-Szene nach Hüseyins Tod. Das Haus, das Hüseyin seinem Enkel Cenk auf dem Schwarzweißfoto gezeigt hat, existiert in Wirklichkeit nicht, sondern nur in seiner Erzählung. Dieses vorgestellte Haus erweitert sich in der erzählten Geschichte zu einem Motiv für Projektionen von Erinnerungen, die beim Übertritt ins Haus in Szene gesetzt werden. An dem Motiv des fehlenden Hauses wird Fatmas Gedächtnis aktiviert, was durch Einblendungen auch filmisch dargestellt wird. Diese historische Heimat bietet kein Zuhause mehr, so dass in dieser Szene auch die Problematik semantischer Gleichstellung von Heimat und Zuhause bewusst wird. Dass es hinter der Tür kein Haus mehr gib, könnte bedeuten, dass die historische Heimat kein Zuhause mehr bieten kann. Das Konstrukt der historischen Heimat existiert für die Familie Yilmaz nur als Gedächtnisort, wie sie am Ende des Filmes in Canans Botschaft auch nahegelegt wird. Was mit dieser historischen Heimat geschehen kann, ist ihr Wiederauf bau im Sinne der Verwahrung. Der Wiederauf bau des Hauses symbolisiert das Gestalten der Heimat zwar basierend auf Erinnerungen, aber in einer neuen Form. In diesem Spannungsfeld soll eine Heimat entstehen, die Erinnerung und Erfahrung im Bewusstsein der Figuren widerspiegeln soll. Entscheidend ist in Almanya, dass der Zuschauer die historische Heimat aus der Erzählung einer Geschichte erfährt, die gegenwärtige Heimat aber direkt betrachtet und eine Zukunftsperspektive gewinnt. Durch die Erzählperspektive werden die territoriale und nationale Auffassung

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von Heimat mit Canans entterritorialisierter Heimat-Vorstellungen kontrastiert. Was dies für Cenk bedeutet, drückt sich in einer Zukunftsperspektive aus und wird durch die Erweiterung der Europakarte im Unterricht durch Cenk selbst symbolisiert. Dem einen kann diese Symbolisierung die Aufnahme der Türkei in die Europäische Union bedeuten, dem anderen – etwa Cenks Klassenkameraden – das Bekenntnis zu der eigenen Identifikation mit der historischen Heimat und zugleich auch die Anerkennung eines gemeinsam bestimmten Heimat in der Gegenwart.

4.2.4.4 Heimat im Werden Ali Samadi Ahadis Komödie Salami Aleikum trägt den persischen Untertitel hamay-e alman saraye man ast, das bedeutet: Das ganze Deutschland ist mein Zuhause. Das Adjektiv ›ganz‹ färbt dieses Bekenntnis mit einem Universalanspruch. In Salami Aleikum streift die Frage nach der Heimat auch die nach kulturellen Transformationen seit der deutsch-deutschen Wiedervereinigung. Die Migrationsgeschichte der iranischen Familie Taheri bleibt nicht auf die binäre Vorstellung Iran – Bundesrepublik beschränkt, sondern wird in die Geschichte gesellschaftspolitischer Umbrüche in beiden Ländern integriert, indem der Film die Geschichte einer iranischen Familie aus der prä- und post-revolutionären Zeit mit der einer Familie aus der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik nach der Wende zusammenführt und beide Familien als neue Bürger des wiedervereinten Deutschlands positioniert. Durch das Zusammenführen bürgerlicher Repräsentanten der DDR, BRD und des Irans zeigt Ahadis Film das vereinte Deutschland als Heimat für Menschen unterschiedlicher Herkunft mit verschiedenen historischen Hintergründen. Ahadi geht es bei diesem polysemen Heimat-Konstrukt um die Darstellung der Prozesse am Übergang von der historischen in die gegenwärtige Heimat; dieser Übergang darf allerdings nicht allein als Umwandlung der Orte, sondern auch der Figuren begriffen werden. Der ehemalige DDR-Textilarbeiter und jetzige Kneipenbesitzer Bergheim in Oberniederwalde wie der ehemalige iranische Offizier und der jetzige Metzger Taheri in Köln haben einen maßgeblichen Anteil in der Darstellung, wie das Verhältnis von Individuum und Heimat entsteht, sich kulturgeschichtlich relativiert und wandelt. Die historischen Heimaten beider Figuren (Iran vs. DDR und nun BRD) hätten kaum entfernter voneinander sein können. In der Szene, in der Taheri und Bergheim auf der Brücke aufeinandertreffen, beginnen sie ein Gespräch über ihre Erinnerungen an die Vergangenheit und Empfindungen in der Gegenwart. Taheri erzählt Bergheim von der Zeit, als er in die Bundesrepublik f lüchtete: »Ich habe nur meine Phantasie gehabt, und meine Geschichte«. Bergheim gesteht ihm, er hasse eigentlich Textilien – mit anderen Worten auch seine Geschichte. Was nach diesem Gespräch schließlich in der alten Fabrik geschieht, ist die Realisierung einer Idee, die vor allem eines bewirken soll: Geschichte, Geschichte sein zu lassen. Die jeweilige Mitwirkung am Gestalten der Heimat zeigt sich zuallererst in ökonomischer Hinsicht, und zwar im steigenden Umsatz der Kneipe durch den Verkauf persischer Speisen. Dieses Geld wird in den Auf bau eines deutsch-iranischen Kulturzentrums in Oberniederwalde investiert. Bergheims Idee geht auf, und das Kulturzentrum findet großen Zulauf. In diesem Kulturzentrum, das dem Zuschauer ein imaginiertes Bild persischer Kultur in einer deutschen Färbung vergegenwärtigen soll, spiegelt sich auch der Untertitel auf eine interessante Weise wider, denn jeder fühlt sich hier irgendwie heimatlich. Mit der Realisierung dieser phantasievollen Welt erfährt die Geschichte auch ein Happyend. Der Zuschauer sieht nämlich, wie sich das Lokale

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auf beiden Seiten allmählich öffnet, in einer konstruierten Mischung entwickelt und dabei das Interesse des Tourismus auf sich zieht.423 Die Brücke als Symbol des ›Dazwischen‹ verliert an Bedeutung, als Bergheim und Taheri sie in Richtung des Gasthauses verlassen. Das Verlassen der Brücke wird mit dem Nacherzählen der jeweiligen individuellen Geschichten beider Akteure betont. Zum Schluss steht das Motto des Filmes, das im Verlauf der Geschichte hier und dort kurzzeitig zum Ausdruck kommt und nun durch die Erzählerin auf den Punkt gebracht wird: »Eine verloren gegangene Heimat kannst du nur dann wiedergewinnen, wenn du sie dir neu erschaffst«: Eine Heimat, in der du dich als Teil eines Ganzen fühlst, in der du sein kannst, wie du bist, und in der du dich mit allen Schwächen und Stärken einbringen darfst. Wenn du das geschaffen hast […], dann bis du wirklich zu Hause angekommen. Sich die Heimat neu erschaf fen: Dies ist die Erkenntnis über ein im Sinne des Filmes zeitgenössisches Heimat-Verständnis. Wie das Neu-Erschaf fen der Heimat vonstattengeht, hat eine Reihe von Motiven und Symbolen gezeigt. Klar ist, dass unterschiedliche Heimat-Konstruktionen eine qualitative Gemeinsamkeit aufweisen: Heimat lässt sich nicht als einen fixen Punkt der Identifikation determinieren, sondern wandelt mit der Instanz ihrer Erschaffung, des Individuums als Akteurs innerhalb der Gesellschaft. Individuum und Gesellschaft, Figur und Heimat sind nicht getrennt voneinander zu denken. Was dieser Film leistet, liegt in einer Poetik, die – wie in den bereits diskutierten Werken auch –, das reduktionistische und ontologische Verständnis von Heimat ad absurdum führt. Die Poetik der Heimat lässt das Verhältnis von Heimat und Figur als ein reziprokes begreifen, das Veränderungen der Sozialstruktur folgt und diese auch bewirkt. Die Metapher des Flusses drückt diese Beziehung vielleicht am deutlichsten aus, denn sie impliziert sowohl die gegenseitige Berührung und Begegnung als auch die Anspielungen auf das Getragen-Werden. Der literarische Diskurs der Heimat, wie er in der interkulturell ausgestatteten Erzählwelt geführt wird, greift die Frage nach dem scheinbar oppositionellen Verhältnis von Heimat und Fremde auf und beschreibt Heimat als Netzort polyperspektivischer Verf lechtungen von Erinnerungen, Erfahrungen, Emotionen und Visionen. Diese Diskurs führt der gegenwärtigen kulturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Mensch und Raum zufolge dazu, Subjektivität radikaler zu erfassen und von den Empfindungen des Ich auszugehen. Die Subjektivität stand im Fokus dieses Abschnitts und exemplarisch an einer Reihe von Motiven begründet. Ihre Ausdruckseiten wurden aus der Erzähl- und Figurenperspektive in einem Spannungsverhältnis von Geschichte (Erinnerungen) und Gegenwart (Erfahrungen) beschrieben. Dabei wurde diskutiert, dass die Konstruktionen der Erzähl- und Figurenperspektive die Erzählwelt auf eine Weise modellieren, dass die Subjektivität hier nicht allein Ausdruck und Bedeutung findet; vielmehr trägt die polyperspektivischen Figurationen dazu, dass die Subjektivität zugleich auch Relativierungen erfährt. Dies spiegelt sich vor allem in dem ästhetischen Reservoir wider, an dem auch die Techniken des Artikulierens und des Relativierens gezeigt werden konnten. Anders formuliert: An den Begriffen, Symbolen und Metaphern wurde also eine »Ausdrucksperspektive«424 423   Göktürk: World Cinema Goes Digital, 2012, 198-211. 424  Schweitzer: Vom Sinn der Perspektive, 1953, 14.

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rekonstruiert, deren Charakteristik die Polyperspektivität ist. Das Spannungsfeld des Historischen und des Gegenwärtigen verstärkt diese und verdeutlicht, dass die vermeintlich normativen Formen der Anschauung keineswegs universell gültig sind; an ihnen können historische und kulturelle Spezifika nur je nach Perspektive abgelesen werden. In der Erzählung vollzieht sich die Konstruktion dieser Spezifika und mit dieser Konstruktion auch die Verstärkung der Polyperspektivität durch ästhetische Mittel wie Symbol, Allegorie und Metapher. Mit deren Hilfe wurde eine ästhetisch konnotierte Heimatform erzeugt,425 die ihre Relativität als solche ausstellt. Auf die Polyperspektivität gewendet bedeutet dies, dass Heimat keineswegs einem nur ästhetischen Raum entspricht; sie ist auch kein bloß theoretischer Entwurf. In der ausgestatteten Erzählwelt avanciert Heimat zu einem Narrativ des Kulturellen, das die Gültigkeit der Heimat als Fixpunkt der Geschichte in Zweifel zieht. Dieser Zweifel hat Folgen für den literaturwissenschaftlichen Diskurs der Heimat: Die Kohäsion des Historischen und des Gegenwärtigen widerlegt das xenophobe Raumdenken und problematisiert dessen Projektion auf Heimat. Heimat und Fremde werden in der Polyperspektivität der Erzählungen einander nicht mehr gegenübergestellt.426 In den Erzählungen wird ein blutfreies und nicht-containerisierendes Heimatkonzept entworfen, das einzig aus Erinnerungs-, Erfahrungs- und Wahrnehmungsstrukturen, die ihrerseits nicht auf die Egozentrik kulturalisierender Heimatzuschreibungen hinauslaufen, abgeleitet wird. In der ausgestatteten Erzählwelt weist Heimat komplexe Symbolisierungen auf, durch die sich Widerstand gegen etablierte Strukturen artikuliert, aus denen kulturalisierende Heimatbestimmungen resultieren. Die hier diskutierten Erzählungen legen diesen Widerstand offen. In ihnen avanciert Heimat zu einem Repräsentationsraum427 der Literatur und lässt sich im Kontext von Erinnerungen, Erfahrungen und Wahrnehmungen als Beispiel für Alternativen zu bestehenden Gesellschaftsgefügen begreifen. Das Neu-Erschaf fen der Heimat, wie es am Beispiel von Almanya zum Schluss meiner Interpretation beschrieben wurde, nimmt in der ausgestatteten Erzählwelt je nach Vorlieben der Figuren unterschiedliche Varianten an. Eine Variante, die dieses Kapitel zum Abschluss führt, ist die Sprache, und zwar nicht allein als Kommunikationsmittel, sondern als prädestiniertes Medium einer identitätsstiftenden Heimat-Konstruktion. Die Heimat in der Sprache neu zu erschaffen, lässt sich im deutsch-iranischen Migrationsgedächtnis nicht in dem Sinne verstehen, als schrieben iranische Autoren in Deutschland ihre Werke auf Persisch und bewahrten so ihre historische Heimat. Vielmehr ist es so, dass die deutsche Sprache selbst zum Medium des Neuerschaffens wird. Mit dem Neu-Erschaffen der Heimat in der Sprache befassen sich die in dieser Studie vorgestellten Autoren nicht in einer gleichen Intensität. Dass der Eindruck der Dominanz des einen oder des anderen Autors entstehen könnte, rührt daher, dass die Dichte und das Reichtum literarischer Sprachbilder, welche die Poetik der Heimat in der Sprache gestalten, (noch) nicht bei allen Autoren ausgeprägt sind.

425   C assirer: Mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum, 1985, 93-119. 426   Günzel: Raum, 2017, 56-60. 427   Siehe zu diesem Begriff im Zusammenhang mit literarischen Reflexionen über Heimat als Verhältnis von Mensch und Raum Günzel: Raum, 2017, 78f., 81-85.

4. Der Mythos Europa – die Metapher der Heimat – die Macht der Sprache

4.3 Die Macht der Sprache Der literarische Diskurs der Identität und Heimat, wie er in der Studie geführt wurde, bedient sich einer Reihe von Motiven, Symbolen und Allegorien, die ihren Ort der Entfaltung zuallererst in der Poesie und somit in der Sprache finden. Über diese Funktion hinaus erzeugt Sprache auch individuelle und kulturelle Identifikationsmomente. Sie ist schließlich auch das Medium kommunikativer (Selbst-)Verständigung und Verhandlung. Sprache in ihrer identitätskonstruierenden und -konstituierenden Funktion und Bedeutung dürfte zunächst zu einer Frage leiten, die sich vermutlich an mehreren Stellen dieser Studie im Hinblick auf einen persischen Heimat-Diskurs gestellt hat. Dass es literarische Diskurse der Heimat in den multiethnischen Kulturen Irans gibt, gilt als sicher. Als ebenso sicher gilt es, dass es bis heute keine fundierten literaturwissenschaftlichen Studien über die Heimat-Diskurse in der iranischen Kultur existiert, die diese Thematik ausschöpft. Ich werde also in diesem Teil der Studie keine literaturwissenschaftlichen Diskussionen über den Zusammenhang von Sprache und Heimat im literarischen Diskurs Irans beginnen, denn sie wird mehrere Bände beanspruchen, sondern lediglich kurz diejenigen historischen Zusammenhänge hervorheben, aus denen nur ein Eindruck über das transmissive Verhältnis von Sprache, Heimat und Identität in der iranischen Kultur entsteht, denn dieses Verhältnis steht auch im Zentrum des Interesses. Über die zeitliche Bestimmung der neuen Periode der persischen Sprache in der iranischen Geschichte herrscht Konsens. Historiker, Sprachwissenschaftler und Iranisten legen diesen Zeitraum auf das Jahr 700 fest, in dem das Neupersische sich als Literatursprache unabhängig gemacht und sich zu entfalten begonnen hat. Während der Untergangsphasen des Abbasiden-Kalifats (750-1258) im Bagdad des 9. Jahrhunderts begann die Wiederherstellung des persischen Nationallebens. Die Perser haben bereits hier angefangen, das identitätsstiftende Fundament des neuen Reiches auf die persische Sprache zu legen. In dieser Zeit wird im Allgemeinen von der Wiedergeburt des Neupersischen und von der Renaissance der persischen Literatur im Nordosten Irans, in Khorasan, gesprochen. Der Zusammenhang von Sprache und kultureller Identität bereits in den Anfangsphasen des Wiederauf baus erklärt auch die Verf lochtenheit von Sprache, Heimat und kultureller Identität während der persischen Renaissance. Der Dichter und Musiker Rudaki (858/59-941) mit der Übertragung der auf Sanskrit zurückgehenden Fabel Panchatantra in das Neupersische in seinem Meisterwerk Kalila wa Dimna und Ferdowsi (940/1019-1025) mit dem Epos Shahnama sind jeweils Repräsentanten literarischer und nationaler Gründungsjahre im 10. und 11. Jahrhundert und legen in dieser Zeit die Grundlage der neupersischen Literatur der nächsten 500 Jahre.428 Dass der iranische Nationalismus im 20. Jahrhundert vor allem während der Konstitutionellen Revolution im ersten Jahrzehnt und im Kreis der zweiten Generation iranischer Intellektueller seine soziale und politische Legitimität neben einer gemeinsamen Geschichte und Kultur auf die persische Sprache zurückführt, belegt die Relevanz, die dem Persischen beim Gestalten der kulturellen Identität zukommt.429 In dieser Tradition ist die dritte Generation iranischer Intellektueller zu sehen. Am Gewebe des deutsch-iranischen Migrationsgedächtnisses partizipieren 428  Browne: A Literary History of Persia, 1999. 429   C ottam: Nationalism in Iran, 1979.

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manche Autoren und ref lektieren in ihren Werken die Verf lochtenheit von Sprache, Identität und Heimat auch in ihren Migrationsprozessen; in ihnen werden kulturelle Identität und Heimat in einem literarisch konstruieren Spannungsfeld des Persischen und des Deutschen zu erfassen gesucht.

4.3.1 Sprache als Ort der Begegnung Die interkulturellen Schreibweisen, die sie sich aus der Werkanalyse herauskristallisierten, gestalten an den Narrativen der Identität und der Heimat einen literarischen Diskurs des Kulturellen, der Kultur in den entscheidenden Momenten ihrer Transformation beschreibt und diese Momente auch poetisch erfasst. Diese Poetik, so der abschließende Gedanke, hebt die Sprache als privilegierten Ort kultureller Transformationen hervor und spiegelt dabei die Verf lochtenheit von Sprache und Kultur wider. Der literarische Diskurs des Kulturellen lässt sich an den Sprachbildern präzisieren. Bereits Mitte der achtziger Jahre beschrieb Zafar Şenocak (*1961, Ankara) am Motiv der Gastarbeit die Verf lochtenheit von Sprache und Prozessen kulturellen Wandels. Hierbei bezeichnet er Gastarbeiter nicht nur als Akteure, die über Kultur reden, sondern vor allem als diejenigen, die durch die literarische Produktion Kultur machen.430 Damit ist unter Berücksichtigung des Generationsgedächtnisses auch gesagt, dass die literarische Produktion Kultur nicht bloß als ihren Referenzbereich begreift, sondern sie zu ihrem Gegenstand erhebt. Das Bild des Kultur-Machers entwickelt sich in den Folgejahren an der Figur des Intellektuellen und nimmt andere Dimensionen an, die sich außerhalb der Diskussion über die Gastarbeiter-Migration insbesondere aus dem literarischen Diskurs des deutsch-iranischen Migrationsgedächtnisses ausarbeiten lassen. Im literarischen Diskurs der achtziger Jahre wurde in den vorangegangenen Abschnitten die Erkenntnis gewonnen, dass die interkulturell profilierten Figuren das Subjekt jenseits des Kulturenzwangs an den Netzorten des kulturellen Gedächtnisses verorten. An diesen Netzorten begreift sich das Subjekt als Individuum, das sich ontologischen Zuschreibungen widersetzt und den Anspruch auf die kulturelle Identifizierung erhebt. Die Ref lexionen über die kulturelle Identifizierung entfalten sich in der interkulturell ausgestatteten Erzählwelt und erzeugen hier eine Poetik der individuellen und eigenartigen Sprachwelten. Der Gewinn der eigenen Sprachwelt ist zwar eine individuelle Angelegenheit der Figuren, wird aber stets in einem Bezug zur Sozialstruktur der Erzählwelt erzielt und von einer zweifachen Interaktion gesteuert. Diese lässt sich zwischen der in der Erzählwelt konstruierten Gesellschaft als System des output und der Figur als ref lektierender und relativierender Instanz des input beobachten. Diese dialektische Ordnung wird durch die angewandte Sprache der Erzählwelt und die latente Sprache der Figur gesteuert und gibt Impulse für Neuorientierungen.431 Die Erzählung spiegelt die Möglichkeiten einer Neuorientierung wider, indem sie die Sprache als Instanz zur Herstellung einer interkulturell geordneten Erzählwelt in den Blick nimmt. Auf diese Weise avancier Sprache zu einem Motiv der Erzählwelt. TORKANs Roman Kaltland entwickelt an der Sprache eine Metapher für die Beschrei430   Şenocak: Plädoyer für eine Brückenliteratur, 1986, 65. 431   Chiellino diskutiert die angewandte und die latente Sprache als grundlegende Aspekte eines interkulturellen Roman (Chiellino: Der interkulturelle Roman, 2002, 41f.)

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bung der Relation von Individuum zu seiner scheinbar fremdsprachigen Umwelt. In der Romanpoetik scheint die Sprache dem Rezipienten als Instanz, die der Figur die fremde Welt zu ›versperrt‹ und sie dadurch in den Rückzug in die eigene Sprache treibt. Indem die Funktion der Sprache als Artikulationsmöglichkeit zwecks Verständigung in das Gegenteil umgewandelt wird, entsteht eine Ironie, welche die Handlungsmöglichkeiten der interkulturell profilierten Figur umso stärker in den Vordergrund rücken soll. Der Rückzug der Figur in die eigene Welt wird zum Anlass genommen, um eine zweifache Wirkung zu beschreiben: die Absonderung der Figur von ihrem scheinbar fremdsprachigen Umfeld einerseits, ihre Zusammenführung mit gleichsprachigen Figuren andererseits.432 Durch diese zweifache Wirkung wird Sprache zu einem Motiv entwickelt, an dem ein System von Differenz und Ähnlichkeit erkennbar wird. Dieses System wird in der Erzählung durch eine dreifache Perspektivierung konstruiert: durch die Perspektive der Erzählerin, die des deutschen Freundes und die von dessen Mutter. So entsteht eine Dreieckbeziehung mit der Erzählerin an der Spitze, während ihr Freund und seine Mutter jeweils an den beiden anderen Ecken positioniert werden und so einen Bezugsboden herstellen. Die Modalitäten dieser Relation erfährt der Leser aus der Ich-Perspektive der Erzählerin, die anscheinend kein Deutsch spricht; merkwürdig ist aber, dass der Leser das Nicht-Deutsch-Sprechen-Können aus der Erzählperspektive auf Deutsch erfährt. Der Erzählerin gegenüber wird die deutschsprachige Mutter des Freundes positioniert, die wiederum kein Persisch spricht. In dieser ungleichwertigen Relation kommt dem Freund die Übersetzer-Rolle zu. Durch die Sprache wird die Fremdheitsgrenze zwischen der Erzählerin und der Mutter des Freundes konstruiert und markiert. Ebenfalls durch die Sprache wird diese Grenze auch relativiert. Im Falle der Relativierung dient Übersetzung als Vermittlungsstrategie. Aus dem Gespräch zwischen der Ich-Figur und ihrem Freund erfährt der Leser: Deine Mutter hat dich etwas gefragt, und du hast geantwortet. Ich verstand nur: doch, doch, doch! Ich dachte, sie wäre böse zu dir, vielleicht wegen mir. Deine Sprache hört sich hart und unfreundlich an. Ich habe das Gefühl, daß ihr immer miteinander schimpft, und denke dabei, daß ich diese Sprache nie lernen würde.433 Die Barriere in der interkulturellen Kommunikationssituation entsteht hier durch das Nicht-Verstehen der Sprache des Freundes. Das Nicht-Verstehen wird zu einer Verständigungsbarriere erklärt, die der Erzählerin unüberwindbar erscheint. Für sie wird der Freund zu einer Figur des unzugänglichen Fremden. Dort, wo das Verstehen nicht gelingt, wird Stereotypisierungen Raum gegeben: Ich glaube nicht, daß sie [die Mutter] mich überhaupt gern haben könnte. Sie hat mich hier hineingelassen, weil du ihr Sohn bist. Sie mag das Fremde in mir nicht. Sie duldet mich, aber sie mag mich nicht. Sie ist kalt und förmlich, vornehm und scheinfreundlich. Sie fragt dich, ob ich das und jenes kenne, immer wieder, ob es dies und das auch in meinem Land gäbe. Ich lächle ihr zu und bin stumm. Mein Lachen ist kalt, und meine Wan-

432   TORKAN: Kaltland, 1984, 24. 433 Ebd., 56.

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genmuskeln tun mir weh. Ich weiß, warum ich versuche, freundlich zu ihr sein, denn ich habe dich lieb, ich habe deine Stadt lieb, und ich versuche, hier leben zu können.434 Das Misslingen der verbalen Kommunikation wird auf das der nonverbalen erweitert, wenn die Körpersprache ebenfalls zu einer Verständigungsbarriere gemacht wird. Die interkulturelle Interaktion ist unter Berücksichtigung der Verständigungsbarrieren einer anscheinend unlösbaren Herausforderung ausgesetzt. Jedes Unverständnis und jede Geste wird als Zeichen des Unerwünscht-Seins gedeutet und führt schließlich dazu, das Heimisch-Werden der Ich-Erzählerin unmöglich erscheinen zu lassen. Die Konstruktion dieser Erscheinung vollzieht sich in der Sprache und im Spannungsfeld von Hier und Dort, Ich und Du – auf der Achse der Differenz also. So spricht die Ich-Erzählerin zu ihrem Freund weiter: Du, hast du […] an du gedacht? »Du meinst an dich?« […] Ich meine das Wort, Du, es ist so kurz und voller Bedeutung. Ich kann es in meine Sprache nicht übersetzen. Du hast mich angeschaut und nicht mehr gelacht.435 Die Differenz zwischen Ich und Du erzeugt in Hier und Dort eine Welt mit bedingtem Vermittlungspotential, weil jede dieser Verortungen versteckte Chiffren enthält, die allein durch die Übersetzung offenbar nicht aufgelöst werden können. Eine dieser Chiffren ist der Ton der Sprache, eine andere das unübersetzbare Du und eine dritte zeigt sich in den Liedern: »Wie heißt das, was du singst?«, fragt der deutsche Freund die Ich-Erzählerin; »Ich kann es nicht übersetzen«, antwortet diese und fährt fort, »genauso wie ich Du nicht in meine Sprache übersetzen kann«.436 Auf diese Weise entstehen zwischen der männlichen Figur und der Ich-Erzählerin unentzifferbare Sprachwelten. Sprache kommt in der Romanpoetik eine spezifische Funktion zu, die sich in ihrer kognitiven Funktionalität des Kulturellen widerspiegelt, indem sie sie auf bewahrt, distribuiert und partizipiert.437 Nur auf eine Weise lässt sich diese kognitive Barriere für TORKANs Ich-Erzählerin auf heben, und zwar wenn nicht mehr übersetzt, sondern gesprochen wird: Wir treffen uns jeden Tag. Du bringst mir jeden Tag immer mehr und immer wieder etwas bei. Ich finde deine Sprache nicht mehr hart und unfreundlich. Ich habe am Anfang deine Stadt geliebt, dann habe ich versucht, deine Sprache durch dich zu lernen, und habe mit der Zeit auch dich lieben gelernt.438 Das Nicht-Verstehen schwindet im Gesprochenen und mit ihm auch die Fremdheit und die Stereotype. Sprache gestaltet eine Übergangszone zwischen dem Ich und dem Du und besitzt die ambigue Fähigkeit, Fremdheit zu schaffen und gleichzeitig auch zu überwinden. An einer prominenten Stelle in Kaltland wird diese Fähigkeit der Sprache an der Kind-Figur der Erzählerin thematisiert. Sie wird hier so positioniert, dass 434  Ebd. 435 Ebd, 59. 436 Ebd., 59f. 437   Jäger: Vom Eigensinn des Mediums Sprache, 2005, 45-64. 438   TORKAN: Kaltland, 1984, 59.

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sie zum einen die Diskussion über den Generationsaspekt belebt und zum anderen das Prädikat ›Migrationshintergrund‹ problematisiert. Mutter und Kind weisen beide einen historischen Bezug auf, der in der Erzählung als iranische Heimat hervortritt. Trotz dieser Gemeinsamkeit erweist sich das Persische als Barriere zwischen ihnen. So sagt die Mutter zu ihrem Kind: Nun lernte ich Deutsch. Ich wollte in dieser Sprache genauso gut sein wie du, damit du mich nicht auslachtest, und langsam starb in mir unsere Sprache, die nur noch meine war, langsam und stückweise … Mit der neuen Sprache, die jetzt deine war, brachtest du mir auch das Unbekannte und die Geheimnisse des Lebens hier, und je besser wir beide im Deutschen wurden, desto größer das Tal der Entfremdung zwischen dir und mir.439 In der Interaktion zwischen Mutter und Kind ist die historische Identifikation durch das Persische nur bedingt gegeben. Dass nun das Deutsche sich zur Kommunikationssprache erhebt, hängt von der Bereitschaft der Mutter ab. Persisch und Deutsch wechseln in der interkulturellen Kommunikationssituation perspektivisch ihre Plätze. Die Figur des Freundes und die des Kindes zeigen, dass das Erlernen der deutschen Sprache als Annäherungsweg zum Freund und zum Kind Prozesse der Entfremdung der Ich-Erzählerin einleitet.440 Die Sprache als Kriterium kultureller Zugehörigkeit wird in der Erzählwelt insofern problematisiert, als der Stellenwert der Sprachen Persisch und Deutsch in der interkulturellen Kommunikationssituation in austauschbaren Relationen dargestellt wird. Solche austauschbaren Relationen sind keine spezifische Angelegenheit des Textes, sondern erfolgen auch in der filmischen Darstellung, wie dies im Film Almanya auch geschieht. Es sind weniger die Szenen gemeint, in denen übersetzt wird. Zu Beginn von Canans Geschichte sprechen die Figuren, welche die Vergangenheit der Geschichte repräsentieren, zunächst Türkisch. Weil Cenk diese nicht versteht, fragt er die Erzählerin Canan, ob ihre Figuren auch Deutsch sprechen könnten. Das Türkische und das Deutsche wechseln folglich die Position. Bei diesem Wechsel wird im imaginativen Sprachraum des Türkischen eine Situation erzeugt, in der alle, die aus der Türkei stammen, nun Deutsch sprechen. Das eigentlich Deutsche wird durch ein unverständliches und nicht identifizierbares Gemisch von Lauten wie das Kauderwelsch in Charlie Chaplins (1889-1977) Modern Times (1936) und The Great Dictator (1940) wiedergegeben. In Almanya entsteht eine Mise en abyme, die insofern illusionsstörend wirkt, als sie die Konstruiertheit der Geschichte, das Fremde aus der Sicht der Einwanderer zu repräsentieren und gleichzeitig durch das Befremden des Deutschen dem Zuschauer das Gefühl der Fremdheit zu vermitteln, sichtbar macht.

4.3.2 Der polyphone Ort der Sprache Literarische Ref lexionen über die Überschreitung sprachlicher und mit ihnen kultureller Grenzen zeugten für Şenocak »von der Synthese verschiedener Kulturen«, so dass der Schriftsteller lerne, die Füße auf zwei Ufern gleichzeitig zu bewegen.441 Kri439 Ebd., 82. 440   Mit Entfremdung assoziiert die Ich-Erzählerin im Kaltland auch Literatur und Musik (Ebd., 83). 441   Şenocak: Plädoyer für eine Brückenliteratur, 1986, 69.

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tisch angemerkt ist das Bild zweier Ufer allerdings keine Synthese, sondern legt die Interpretation von zwei Parallelen nahe. Şenocak geht es vermutlich um die Problematisierung von Ansichten über die monosprachliche Produktion literarischer Werke. Stimmte diese Vermutung, so müsste man ergänzen, dass die deutschsprachige Literatur bereits seit dem 17. Jahrhundert Beispiele dafür vorweist, dass die literarische Produktion kulturelle Kohäsion widerspiegelt. Diese Tatsache stellt spätestens seit dem Erscheinen des West-östlichen Divan einen literarischen Fakt dar. Solche literarischen Produktionen fordern zweierlei, nämlich dass sowohl der Autor als auch der Leser über die Fähigkeit interkultureller Produktion und Rezeption verfügen sollen. Für beide verläuft der Weg ihrer interkulturellen Profilierung über die Sprache und die Sprachbilder. Ginge es darum, die interkulturelle Profilierung bildlich darzustellen, so wäre die Metapher des Flusses angemessener als die des Ufers. Dieses Verständnis legen zumindest die Sprachbilder nah, die bereits am Beispiel der Elbe, des Kaspischen Meers und des Sprachnomadenlebens erörtert wurden. Was ihre Deutung nahelegt, ließe sich vielleicht so zusammenfassen: Poetiken der interkulturellen Schreibweisen hinterfragen die Ansichten über Literatur als monokulturellen Produktions- und Rezeptionsraum; hingegen erzeugen sie Sprachbilder, die Beispiele für Mehrstimmigkeit bereithalten. Konstruktionen dieser Beispiele, die an den Narrativen Identität, Europa und Heimat exemplarisch beschrieben wurden, eröffnen die Möglichkeit, die ausgestattete Erzählwelt als eine mehrstimmige zu begreifen. Dieses Verständnis wird in den literaturwissenschaftlichen Diskussionen mit dem Begriff »polyphon«442 bezeichnet, der bereits seit 1300 für verschiedene Arten der Mehrstimmigkeit in der Musik verwendet wird. Welcher Erkenntniswert aus den Poetiken der polyphonen Erzählwelt nun erzielt werden soll, wird im Folgenden zu diskutieren sein. An den Narrativen Identität, Europa und Heimat wurde die These begründet, dass die interkulturellen Schreibweisen differierende und ähnliche Erinnerungs- und Erfahrungsmomente im individuellen Gedächtnis des Kulturellen codieren. Ihre Codierung vollzieht sich im Spannungsfeld der angewandten und latenten Sprache der Erzählwelt. Dieses Spannungsfeld wird, wie die Sprachbilder auch gezeigt haben, symbolisch443 konstruiert. Die Symbolik der differierenden und ähnlichen Erinnerungs- und Erfahrungsmomente gestaltet die interkulturell ausgestattete Erzählwelt zu einem echten Ort der Begegnung, insofern die Figuren in ihr die Möglichkeit entdecken, eigene Erinnerungs- und Erfahrungsmomente miteinander in eine Beziehung zu setzen. Dieses In-Beziehung-Setzen verleiht den Figuren die Fähigkeit, in der Erzählwelt einen symbolischen Eigensinn444 zu erzeugen, der seine semantische Legitimität nicht allein in einer erzählten Welt sucht; vielmehr wechselt er die erzählten Welten und fordert dabei den Leser ebenfalls zu einem solchen Wechsel auf. Wo die erzählten Welten ineinander übergehen, miteinander kommunizieren und sich 442   Chiellino: Einleitung: Eine Literatur des Konsenses und der Autonomie, 2007, 54. Chiellino sieht in der interkulturellen Literatur ein polyphones Phänomen, das seit 1955 insofern eine kulturelle Wende eingeleitet hat, als es sich aus Stimmen von Autoren aus den »nationalen Sprachen der kultur-ethnischen Minderheiten« (ebd.) zusammensetzt, die sich für die deutsche Sprache als Mittel ihrer Kreativität entschieden haben. 443   C assirer: Philosophie der symbolischen Formen, 1964, 17-52. 444   Jäger: Sprache, 2013, 12; siehe auch Koppe: Thesen zu einer Literaturwissenschaf t in handlungsorientierter Absicht, 1973, 138-330.

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voneinander trennen, ist kaum exakt zu bestimmen. Deshalb fordert die Ästhetik der interkulturellen Schreibweisen auch mehrsprachliche, in kulturellen Kontexten je verschiedene Interpretationsverfahren. Ihren primären Referenzbereich haben solche Verfahren nicht in der außertextuellen Wirklichkeit, sondern nur in der ausgestatteten Erzählwelt. So erweist sich die Sprache als Artikulationsmedium solch einer Erzählwelt nicht als das Ergebnis einer interkulturellen Schreibweise, sondern diese wird überhaupt in der Sprache existenzfähig. David Martyn bezeichnet in diesem Zusammenhang Sprache als »Medium der Selbst- und Sinnkonstruktion«445 und diskutiert, wie Metaphern und Symbole der interkulturellen Schreibweisen in diesem Medium einen polyphonen Ort der Begegnung erzeugen. Damit wird die Sprache und mit ihr auch die Bildlichkeit der Schreib-Szene zum privilegierten Gegenstand der Analyse. In der Diskussion über den polyphonen Begegnungsort und die Bildlichkeit der Schreib-Szene geht Martyn der Frage nach, inwiefern die Metapher bei den »Zweisprachenautoren«446 einen kulturtopologischen Anspruch begründe. Von Aristoteles’ Poetik und Rhetorik herkommend setzt er die Metapher mit Fremdartigkeit par excellence in eine unmittelbare Beziehung. Aus seiner Sicht rührt die Fremdartigkeit der Metapher daher, dass sie als »unüblicher« und »weit hergeholt[er]« Ausdruck anstelle eines »vertrauten« Ausdrucks trete; sie scheine zwar auf das bereits Existierende hinzuweisen, tatsächlich aber sei es so, dass Metaphern »die Verhältnisse, auf die sie hinweisen, letztlich selber produzieren«.447 Metaphern müssten einerseits den gewohnten Ort der Sprache verlassen, um überhaupt zu funktionieren; sie bildeten aber andererseits auch ihren eigenen Ort, den es zu durchschreiten gelte, wenn er verstanden werden sollte. Folgendes ließe sich aus dieser These erschließen: Wenn Metaphern in den sprachlichen Artikulationen als Produzentin verstanden werden und wenn sie mit ihrem Auftreten in der Schreib-Szene auch Bedeutungen erzeugen, so gehen die Metapher und die Erzählwelt ein Abhängigkeitsverhältnis ein, dessen Semantiken sich zum einen in der Erzählwelt erschließen lassen. Metaphern verweisen aber auch auf Verhältnisse, so dass die in dem Abhängigkeitsverhältnis von Metapher und Erzählwelt entstandenen Semantiken zum anderen auf der Grundlage der Referenzbereiche, auf die verwiesen wird, erfolgen muss.448 Wo liegen aber die Referenzbereiche, auf die Metaphern verweisen? Martyn argumentiert im Anschluss an Marie-Cécile Bertaus Sprachspiel Metapher (1996), dass Metaphern gleichzeitig eine kulturspezifische Verortung und Codierung leisten. Er exemplifiziert seine Analyse mit dem Bezug auf wörtliche Übertragungen von Redewendungen und Idiomen aus dem Türkischen ins Deutsche, beschreibt, wie übliche Metaphern »in einem fremd anmutenden Gewand«449 zu gebrauchen wären und begründet schließlich die These, dass interkulturelle Schreibweisen den Leser aus vertrauten metaphorischen Orten zurückholen und ihn »auf den Textkörper selbst« hinlenken.450 Die Ausgangsfrage formuliert Martyn mit Blick auf ein Sprach-Konst445   Jäger: Sprache, 2013, 12f., hier  13. 446   Martyn: »Schif fe der Wüste«, 2005, 724. 447 Ebd., 724. 448   Siehe in diesem Zusammenhang auch meine Analyse der Familienkonstellation in Tufan (3.5.1.2) und die Beschreibung der Naturelemente als Metapher literarischer Reflexionen. 449 Ebd., 738. 450 Ebd., 744.

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rukt, das aus der Begegnung von Autoren, die »von ›weit her‹ kommen«,451 mit topographischen Phänomenen entsteht. Martyns Auseinandersetzung mit diesem Phänomen einerseits und mit der Bedeutungsproduktion der Sprachbilder in der Erzählwelt andererseits erlaubt die Schlussfolgerung, dass Sprachbilder der interkulturell ausgestatteten Erzählwelt weder sich selbst noch die Erzählwelt kulturspezifisch zuordnen lassen; sie erzeugen vielmehr ihren eigenen Sinn. Folglich kann es auch »keinen Boden, auf dem sie heimisch wären«,452 geben. Die Unmöglichkeit solch einer topographischen Zuordnung würde bedeuten, dass sowohl die Sprachbilder als auch die Erzählwelt ihren eigene metaphorischen Orte gestalten. Es gibt also keine Unterscheidung von ›üblich‹ vs. ›unüblich‹, ›vertraut‹ vs. ›fremd‹ und ›nah‹ vs. ›fern‹.453 Ausgehend von der Erkenntnis über den privilegierten Ort der Sprachbilder und über die Schwierigkeit seiner topographischen Zuordnung ist das Augenmerk nicht mehr auf Sprache versus Migration als zwei konkurrierende Instanzen gerichtet, sondern auf das poetologische Produktionspotential der Sprachbilder am Ort der Sprache. Das Verständnis interkultureller Schreibweisen lässt dieses Potential jedoch nicht einseitig interpretieren, sondern nimmt Prozesse der Übersetzung und Rück-Übersetzung in den Blick. Durch das Über-setzen werden geltende Ordnungen dekonstruiert und kulturelle Differenzen sichtbar gemacht, die allerdings nicht als Opposition voneinander getrennt werden; durch das Übersetzen werden sie ineinander hineingetragen.454 Die Fähigkeit der interkulturell ausgestatteten Erzählwelt, selbst Bedeutungen zu erzeugen, sowie die Techniken der Bedeutungskonstruktion im Verfahren der Übersetzung und Rück-Übersetzung eröffnen in dem literaturwissenschaftlichen Diskurs des deutsch-iranischen Migrationsgedächtnisses eine andere Perspektive. Sie ließe sich in den Fragen formulieren, mit welchen Metaphern und Symbolen die Poetiken dieses Gedächtnisses entstehen, wie die Verhältnisse der Sprachbilder und der Erzählwelt beschrieben werden können und schließlich welche Bedeutungen aus dem Abhängigkeitsverhältnis der Sprachbilder und der Erzählwelt wachsen. Die literarischen Diskurse der Identität, des Europas und der Heimat in den vorangegangenen Abschnitten haben diese Fragen zum größten Teil beantwortet. Im abschließenden Teil dieser Studie soll nun gezeigt werden, wie sich die Sprache selbst in Szene setzt und mit welchen Mitteln sie die Erzählwelt als interkulturellen Begegnungsort von Bild und Bedeutung gestaltet. Diese Diskussion schließt an die bislang ausgearbeiteten Ergebnisse an und begründet noch einmal die These, dass die Szenen der Relations, Beziehung, Begegnung und Kohäsion durch narrative Techniken konstituiert werden, deren Beschreibung keine genuine Entsprechung einer außertextuellen Welt im Sinne des Fremden hervorbringt. Diese Techniken setzen Figuren und Erzählwelten in eine Beziehung zueinander, die in der Sprache aufgeht und in den Sprachbildern ihre Bedeutungen erfährt.

451 Ebd., 731. 452 Ebd., 743. 453 Ebd., 744. 454   Bay: Der verrückte Blick, 1999, 42f.

4. Der Mythos Europa – die Metapher der Heimat – die Macht der Sprache

4.3.3 Sprach-Bilder des deutsch-iranischen Migrationsgedächtnisses Sich in der Sprache eine Heimat zu erschaf fen, setzt voraus, mit der Sprache mehr zu verbinden als ein bloßes Verständigungsmedium.455 Sie wird als »Gebilde begriffen, das eigene emotionale, ethische, ästhetische, logische Konnotationen mit sich führt«.456 Diesem Gebilde gelingt es, Identität und Heimat von ihren jeweils nur scheinbar fixen Orten des Ursprungs und der Herkunft zu lösen und sie als Konstrukte individueller und kultureller Ref lexionen zu begreifen. SAID ist einer der Autoren, dem es die Gestaltung eines solchen Gebildes gelingt. In seinem Blumen-Märchen thematisiert er durch die Metapher des Entwurzelns und Verwurzelns zunächst die Bewegung des Individuums und konstruiert dabei Narrative grenzüberschreitender Prozesse der Identitätsarbeit und Heimatsuche. Das Ich – verbildlicht durch die Blume – bewegt sich gleichzeitig in zwei scheinbar entgegengesetzten Welten: die der Farbe und die der Farblosigkeit. Die Bewegung artikuliert sich hauptsächlich in sprachlichen Bildern, aus denen das Ich diese entgegengesetzten Welten zu verstehen bemüht ist. Die aktive Ich-Behauptung resultiert von einem ständigen Gehen und Bleiben, das in SAIDs späteren Werken durch den Exil-Status der Ich-Figur personifiziert wird. Im Vordergrund des Blumen-Märchens steht das Erschaffen des Zugehörigkeitsgefühls durch das Bild der Farbe. Dieser zentrale Aspekt wird in SAIDs späteren Werken aufgegriffen und in Bezug auf die Ich-Figur anders ausgelegt. Diese Andersheit wird durch das Motiv Sprache erzeugt. Die Ich-Figur beginnt nach ihrem zweiten Exil sich zwischen Sprachen zu bewegen. Diese Bewegung hinterlässt durch Metaphern und Symbole ihre Spuren in der interkulturell ausgestatteten Erzählwelt und avanciert diese zum Ort der individuellen Identitätsarbeit, die sich im Spannungsfeld von Herund Ankunft vollzieht und diese auch hinterfragt. Dieser Technik entsprechend lässt sich auch Sprache in SAIDs Schreib-Szene nicht jenseits historischer Kontinuität und gegenwärtiger Produktivität betrachten. Was bleibt, ist das Bekenntnis zu der Sprache als Das Haus, das uns bewohnt.457 Unter diesem Aspekt bleibt SAIDs Erzählwelt im deutsch-iranischen Migrationsgedächtnis bis heute konkurrenzlos. Die Übertragung des Mystischen in das Profane und vice versa im Roman Große Liebe könnte als eine mögliche Variante der Gestaltung der interkulturellen Schreibweisen in der Sprache ausgelegt werden. Dagegen würde aber Folgendes sprechen: In diesem Roman sind es am Beispiel der Liebe die mystische und profane Weltanschauung, die interkulturell zueinander in Beziehung gesetzt werden und nicht die Sprachen an sich. Weder der Ausdruck der Liebe noch das, was sie bezeichnet, werden vom Erzähler er-

455 Der linguistische Aspekt der Identitätsbildung steht hier nicht primär zur Diskussion. Das komplexe Spannungsverhältnis zwischen Identität und Sprache hat auch in die empirisch-linguistische Forschung Eingang gefunden. Marijana Kresic zeigt in ihrer Studie, wie Sprache und Medien sich auf die Bildung der Identität auswirken und wie die Untersuchung dieser gegenseitigen Beeinflussung ein neues und zugleich weites Arbeitsfeld schafft. Auf linguistisch-theoretischer Basis untersucht Kresic das Spannungsverhältnis aus zwei Perspektiven: 1) Die sprachlichen Techniken der Selbstkonstruktion wird aus einem aus den Diskussionen über zentrale Identitätstheorien gewonnenen Identitätskonzept abgeleitet. 2) Durch das identitätskonstitutive Sprechen werden grundlegenden Positionen der Sprachtheorie ergänzt (Kresic: Sprache, Sprechen und Identität, 2006). 456  Fetscher: Heimatliebe, 1992, 32. 457   So der Titel des poetischen Dialogs in Reich, SAID: Das Haus, das uns bewohnt, 2009.

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schaf fen; dieser leistet seine Arbeit in der Übersetzung und Rück-Übersetzung. Will man die Romanpoetik unter Berücksichtigung der Sprache untersuchen, so wird man sie nicht unmittelbar in der Sprache entdecken, sondern in der mystischen Metaebene. Von hier aus werden sie in die Erzählwelt übertragen und mit der Auffassung der profanen Liebe in Verbindung gebracht. Es würde sich also mehr empfehlen, in der Erzählwelt der Großen Liebe die Verf lochtenheit und Vermischung beider Liebesversionen gleichzeitig in ihren kulturspezifischen Verortung und Codierung in der Erzählwelt zu untersuchen. Diese Untersuchung wird sich der mystischen und profanen Weltanschauung am Motiv der Liebe in einer interkulturellen Schreib-Szene widmen und eine eigene Monographie beanspruchen, die hinsichtlich der Auseinandersetzung mit der Mystik einen Umfang beanspruchen wird, der den Rahmen meiner Zielsetzung in der vorliegenden Studie sprengen wird. Vor dem Hintergrund meiner Fragestellung nach der Poetik eines deutsch-iranischen Migrationsgedächtnisses am Beispiel von Sprache, Sprachbildern und deren transmissive Beziehung bei der Identitätsarbeit und Heimatgestaltung steht SAIDs Schreib-Szene exemplarisch im Fokus der Analyse.

4.3.3.1 Die Lebenswelt der Sprache Sprache als Metapher für »Ortlosigkeit«458 zu beschreiben, ist SAIDs Anliegen. In einem titellosen Gedicht mit dem thematischen Schwerpunkt auf Migration spricht das lyrische Ich: Um zu bleiben, braucht man hier zwei Lungen für einen Atemzug, einen Wurzelstock für zwei Erdklumpen, zwei Schatten für eine Sonne, einen Kuß für zwei Hände.459 Der erste Vers offenbart die Absicht des lyrischen Ich zu bleiben. Geht man von dem Ort der Identitätsarbeit des exilierten Ich und vom Ort von dessen Sprechen aus (3.3, 3.4), so korreliert das Nah-Deiktikon »hier« im zweiten Vers mit Deutschland. Das Pronomen »man« verleiht dieser Aussage eine allgemeine Gültigkeit und erlaubt dem Ich, bei der Projektion seiner eigenen Perspektive ein allgemeines Bekenntnis über seinen Zustand zu beanspruchen. Seine Aussage ist in der Infinitivgruppe ›um zu bleiben‹ eingebettet, der eine Reihe von Hauptsätzen folgt. Aufschlussreich scheint das ungleichmäßige Verhältnis von Folge in den ersten beiden Versen und Voraussetzung in den folgenden zu sein. Die Differenz fällt zunächst einmal strukturell auf: »zwei Lungen« im dritten Vers folgen »zwei Erdklumpen« nicht im fünften, sondern im sechsten Vers, und zwei Schatten wiederum im siebten. Gleichmäßig wäre dieses Verhältnis, wenn jeweils die Verse drei, fünf und sieben die Doppelungsverhältnisse ausdrückten. 458   Martyn: »Schif fe der Wüste«, 2005, 734. 459  SAID: [Um zu bleiben H.T.], 2006, 179, wieder abgedruckt in SAID: ruf zurück die vögel, 2010, 59.

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Der letzte Vers steigert die Dynamik des Gedichtes, indem er »Kuß« und »Hände« in ein und demselben Kontext nennt und ihr Verhältnis nicht wie bisher auf zwei Verse verteilt. Inhaltlich wird ein Verhältnis des Singulars zum Plural gebildet, nämlich »zwei Lungen« auf der einen, »für einen Atemzug« auf der anderen Seite im dritten und vierten Vers. Im fünften und sechsten Vers stehen ein »Wurzelstock« und »zwei Erdklumpen«, im siebten und achten »zwei Schatten« und »eine Sonne« und schließlich im neunten Vers ein »Kuß« und »zwei Hände« einander gegenüber. Die singulären und pluralen Verhältnisse zwischen dem dritten und dem achten Vers bedingen sich gegenseitig. Der letzte Vers vereint beide Verhältnisse. Die strukturell ungleichmäßige Verteilung und die thematisch heterogenen Verhältnisse im Gedicht erweisen sich für Voraussetzung und Folge nicht als wirkungslos, denn auch sie werden innerhalb des Prinzips von Singularität und Pluralität entworfen. Aus dieser Interpretation lässt sich die allgemein gültige Aussage des Gedichts als Anspruch auf das Ineinandergreifen von Singularität und Pluralität deuten. Es heißt aber nicht, dass das Individuum sich teilt, um diesem Anspruch gerecht zu werden, sondern im Gegenteil: Es vereint diese Verhältnisse in sich; mit anderen Worten verschmelzen sie in ihm und machen folglich dessen Existenz aus. Wenn zwei Lungen einen Atemzug erzeugen, zwei Erdklumpen einen Wurzelstock halten, zwei Schatten durch eine Sonne erzeugt werden und zwei Hände einen Kuss teilen müssen, so plädiert das Gedicht hinsichtlich der Bedingtheit dieser Verhältnisse für Inklusion; erst diese schafft Leben und Halt. Hierfür implizieren die Metaphern des Atems, der Wurzel und der Erdklumpen die notwendige Voraussetzung für das Leben. In SAIDs Gedicht steht nicht die Entfremdung im Vordergrund, wie man diese beispielsweise in TORKANs Schreib-Szene entdeckt, sondern die Vermischung und die Schöpfung. Beides vollzieht sich für SAIDs Ich durch die Inszenierung in der Sprache und im Metaphorisieren der Sprache als einer konstruierten Lebens-Welt,460 die für die Ich-Figur ebenfalls der Suche verpf lichtet ist: »hier bis du gealtert, auf der f lucht, hier bist du schön – weil du suchst«461 SAIDs lyrischem Ich geht es um den Versuch der Herstellung einer Ästhetik, die uns die Welt (»hier«) nicht nur näherbringen soll, sondern sie auch bewusstwerden lässt. Deutlicher wird dieses Anliegen in der Metaphorik von Chamäleon und Fluss, der der Abschluss dieses Kapitels gewidmet ist.

4.3.3.2 Sprache: Ort der Identifikation Sprache scheint für SAIDs Ich nicht allein ein Instrument des verbalen Austauschs zu sein, sondern eine unverzichtbare Existenzgrundlage des bewegenden Ich. Sie ist darüber hinaus das, was es in personifizierter Form begeistert, anzieht, verlockt und verführt. die fremde sprache ist eine schöne dame, die der fremde anhimmelt. bei dieser liasion ist er nur ein unerfahrener liebhaber. er tobt sich aus auf dem gereiften körper der geliebten, und sie erduldet mit grandezza alles, was er in seinem jugendlichen elan ausprobiert. die reife geliebte weiß, erst wenn er sich ergibt, beginnt die liebe.462

460  Legendre: Der dogmatische Wert des Ästhetischen, 2012, 165. 461  SAID: ein kind auf der suche nach europa, 2004, 127. 462  SAID: deutsch als auf fanglager, 2004, 33.

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Die Sprache wird durch die »schöne Dame« personifiziert und charakterisiert. Abgesehen davon, dass sie im Einklang mit dem Genus des Wortes »Sprache« im Deutschen die Weiblichkeit repräsentiert – eine Erscheinung, die dem Neupersischen fremd ist –, wird sie durch das Verbum ›anhimmeln‹ zu etwas Erhabenem erklärt. Zwischen dem Ich und der Sprache kommt es zu einer Liebschaft, die sich allerdings nicht als ein gleichberechtigtes Verhältnis erweist. Dies zeigt sich insofern, als dem Verb ›anhimmeln‹ das Substantiv »Liaison« gegenübergestellt wird. Hinzukommt auch, dass es das Ich ist, das die Dame anhimmelt, und nicht umgekehrt, was wiederum von der Unterwerfung des unerfahrenen Ich gegenüber der erfahrenen Geliebten zeugt. Das Ich tobt sich mit seiner jugendlichen Begeisterung aus, sie aber er-duldet es würdeund hoheitsvoll. Das Bild des Ich und der Dame für die Konstruktion einer erotischen Beziehung zur Sprache wiederholt sich anderenorts auf eine ähnliche Weise: Ich schreibe meine Gedichte in einer fremden Sprache – einer schönen Sprache, in der Art, wie Mütter sind, die die Kinderstreiche ihrer pubertierenden Söhne auf ihrem gereiften Leib ertragen […].463 Auch hier ist das Gleichgewicht im Verhältnis zwischen dem »pubertierenden« Jugendlichen und der Mutter gestört. Bei der Berührung des Ich und der Sprache beginnt das erotische Spiel erst dann, wenn das Ich bereit ist, sich zu ergeben. Bleibt man bei SAIDs Metapher der schönen Dame und denkt dabei an das Ich, so muss sich auch die Sprache öffnen, um die Liebe zu empfangen – mit anderen Worten, um das Ich eindringen zu lassen. Der erotische Akt des Eindringens ist zwar nicht ausbalanciert, zeugt jedoch von einem beidseitigen Einverständnis über die Hingabe. Das Eindringen wird in der Metapher des Hofes noch einmal thematisiert: jede sprache hat einen eignen hof, und die frage ist, ob die sprache einen in den hof einläßt. betritt man diesen hof, dann gebietet es der respekt, auf den hof zu achten. der hof einer sprache läßt nicht zu, bei einem »ich bin ich, und du bist du« zu bleiben. man muß vielmehr – wie in der liebe – einen modus vivendi finden.464 Auch hier ist die Sprache als »Hof« der vermeintliche Ort des Einlasses; vielmehr scheint er aber einen heterotopischen Ort zu repräsentieren, weil das Ich weder ganz drin noch ganz draußen ist. Es ist aber jedenfalls angehalten, diesem Ort Respekt zu erweisen. Sowohl das Betreten des Hofes als auch der Liebesakt signalisieren auf der Basis des modus vivendi eine Art Verhandlung miteinander, oder gar Verschmelzung in und durch einander. Hierdurch wird die Entstehung einer neuen Welt symbolisiert: »eine welt öffnete sich, eine neue. eine welt mit eigener grammatik und eigenen grenzen – neuen grenzen«.465 Die neuen Regeln werden jedoch nicht territorial konstruiert, 463  SAID: Selbstbildnis, 1992, 38. 464  SAID: deutsch als auf fanglager, 2004, 35. 465 Ebd., 32.

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denn »in jeder sprache kehrt man heim oder man bewegt sich fort«,466 sondern temporal »zwischen heute und morgen«.467 Der schönen Dame ist das Ich schutzlos ausgeliefert, denn sie trägt es fort »zu einer staatenunabhängigen, von ihr und mir skizzierten freiheit«.468 Diese Unabhängigkeit scheint nur dem Verhältnis des Ich und der Sprache eigentümlich zu sein. Diese Lesart bestätigen die Verse an den Bruder im Selbstbildnis: Und ich sage ihm, daß ich meine Gedichte auf Deutsch schreibe, daß er sie nicht lesen kann.469 Weiter heißt es: »in einer fremden sprache kann man alles nachholen«, bis auf die kindheit«.470 Trotz des innigen Verhältnisses zwischen dem Ich und der Sprache spiegelt dieses Bekenntnis die Zerrissenheit des Ich wider, denn das Verhältnis zwischen dem Ich und der Sprache hat keine Geschichte, d.h. auch kein Gedächtnis, aber eine Gegenwart und – folgt man dem Ich – auch eine Zukunft. Diese Lesart wird insofern bestätigt, als sich während des Auf baus des Verhältnisses ein struktureller Wechsel bemerken lässt, nämlich von einer Allgemeinheit – »jede Sprache hat einen eigenen Hof« – zu der dritten Person Singular des Flüchtlings mit der Absicht, sich mitzuteilen. Hier wird die Sprache zugleich Ort und Medium einer wie auch immer gearteten Existenz. Es ist dann die Sprache, die dem Flüchtling ohne Weiteres Einlass gewährt: »er [der Flüchtling] hat zuf lucht gesucht und gefunden bei der neuen sprache. sie hat ihn aufgenommen, so gastlich sie konnte«.471 SAIDs Ich durchlebt im Verlauf seines Beziehungsauf baus zu der Sprache einen Wechsel von Gefolgschaf t zu Beherrschung. Von diesem Wechsel spricht der Autor mit Blick auf sein erstes deutschsprachiges Werk Es war einmal eine Blume: »damit übertrat ich eine grenze, eine schwelle, denn meine notizen waren in deutscher sprache geschrieben, nicht auf persisch«.472 Die Metapher des Gastes bei der Konstruktion der Beziehung zwischen dem Ich und der Sprache deutet in SAIDs Schreib-Szene Prozesse des Heimisch-Werdens an, die bereits in der Phase der Vereinsamung durch die Sprache selbst erfasst werden. Die Vereinsamung wird überwunden, in dem die Sprache bald zum Dialogpartner, bald zur Geliebten wird. Im seiner Beziehung zu der Sprache verlässt das Ich den stillen Status quo der Vereinsamung: »die einsamkeit des exils drängt nach dialog. der mikrokosmos, in dem ich bislang gelebt hatte, brach nun auseinander. er war geschlossen und harmonisch gewesen«.473 Die Beziehung mit und zu der Sprache zerbricht die geschlossene und harmonische Ordnung einer vertrauten Welt und setzt das hilf lose Ich zunächst einem Zustand der Ohnmacht aus, den es zu entgehen sucht: »Es sam-

466  SAID: ein blinder, zwei f lüsse, 2010, 21. 467  SAID: deutsch als auf fanglager, 2004, 32. 468  SAID: ein blinder, zwei f lüsse, 2010, 21. 469  SAID: Selbstbildnis, 1992, 37. 470  SAID: ein blinder, zwei f lüsse, 2010, 20. 471  SAID: deutsch als auf fanglager, 2004, 32. 472 Ebd., 33. 473 Ebd., 30.

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melt und schreibt gegen seine eigene Machtlosigkeit und gegen das Vergessen«.474 Das Schreiben in der Sprache wird doppelt semantisiert, nämlich als Überwindung der Machtlosigkeit und Möglichkeit gegen das Vergessen. Die einst fremde Sprache, welcher der Ausdruck der Kindheit fehlte, wird nun zu einem Ort des Erzählens und so auch des Gedächtnisses. Der Zusammenbruch der vertrauten Welt konfrontiert den Jüngling mit einer Herausforderung, der er allem Anschein nach durch das Betreten einer neuen Welt zu entgegen wagt: »als ich 17 war, wünschte ich mir, daß das deutsche ein teil von mir würde«.475 Die Begeisterung für die deutsche Sprache ist bereits vor oder während der ersten Exilphase von SAIDs Ich-Figur vorhanden; außerdem eröffnet die deutsche Sprache dem Ich nun nach der zweiten Exilphase die Möglichkeit, sich in ihr wiederzufinden. Damit verzeichnet das Ich einen Prozess, der auch seiner Identitätsarbeit steuert: »berauscht von dieser deutschen sprache. sie wurde nun meine sprache«.476 Zwischen dem Jüngling und dem Nun liegen fast vier Jahrzehnte: »heute bin ich 56 und weiß, daß ich ein teil dieser sprache bin«.477 Die Verschmelzung mit der Sprache bedeutet die Überwindung des Status quo – des Gast- und Gefangen-Seins478. Diese Überwindung führt das Ich nun zur Freiheits-Suche479 und ruft in ihm die Fähigkeit, sich in der Sprache auszudrücken, hervor. Sich dieser Fähigkeit bewusst durchbricht das Ich schließlich die Schranken der Vereinsamung im Exil. Nein, ich schreibe nicht auf Deutsch, weil mein Persisch ausgetrocknet ist in der langen Zeit der Enthaltung. Nur, in unserem dürren Exil wollte niemand meine persischen Gedichte. Es waren nur Kampflieder Angesagt in unserem Kreis – Die Exilierten, zweifach kastrierte Eunuchen, die versuchen, im Rudel heroisch zu wichsen. Da nahm ich Zuflucht Zur deutschen Sprache; Die mich aufnahm, so gastlich sie konnte.480 474  SAID: Der lange Arm der Mullahs, 1995, 8. 475  SAID: deutsch als auf fanglager, 2004, 28. 476  SAID: Landschaf ten, 2003, 94. 477  SAID: deutsch als auf fanglager, 2004, 28. 478  SAID: ein blinder, zwei f lüsse, 2010, 17. 479   Ebd. Dafür, dass diese Gefangenschaft nur symbolisch zu verstehen ist, spricht auch das Einhorn, das »seinen ständigen wohnsitz […] in der deutschen sprache eingerichtet« hat (SAID: Selbstbildnis, 1992, 20), obwohl es idiomatisch für unfangbar, unbezähmbar und einsamkeitsliebend gebraucht wird. 480  SAID: Selbstbildnis, 1992, 20.

4. Der Mythos Europa – die Metapher der Heimat – die Macht der Sprache

Hier versammeln sich Ref lexionsmomente einer Entwicklungsgeschichte von Ich und Sprache. Intertextuell betrachtet bedeutet ›die lange Zeit der Enthaltung‹ die Vereinsamung des Ich im Exil, worauf die Adjektive »ausgetrocknet« und »dürr« hindeuten, die sich einerseits auf die sprachliche, andererseits aber auch auf die persönliche Enthaltsamkeit beziehen, auf die wiederum zahlreiche Liebesgedichte hinweisen. Die Exilerfahrung wird aus der Ich-Perspektive im Langgedicht Selbstbildnis mit der Erfahrung über die Zermürbung eines Kindes umgeschrieben. Mit dem Zustand des Verdorrt-Seins verbinden sich grundsätzlich negative Assoziationen: Das eine Bild zeugt von der existentiellen Bedrohung des Kindes, das andere vom Ausgetrocknet-Sein in der Wüste. In beiden Bildern liegt der Akzent auf der defizitären Exilerfahrung. Das Persische und das Deutsche werden einander gegenübergestellt, während die eine Sprache kaum Adressaten findet und deshalb auch auf den Text Briefe, aber an wen zurückgreift, wird mit der Sprache des Exils bewusst nach Adressaten gesucht. Die Distanzierung vom politischen Exil – repräsentiert durch den Ausdruck »Kampflieder«481 – geschieht durch die Wahl der Sprache und durch die Akzentverschiebung des Mitteilungsbedürfnisses. Beides wird über die Sprache hinaus auch durch das Bekenntnis zum politischen Scheitern der »Exilierten« als »zweifach kastrierte[n] Eunuchen«482 artikuliert und erinnert dabei an Erfahrungen des Scheiterns im politischen Handeln, wie sie bereits besprochen wurden. Durch die Flucht aus dem verödeten Exil in die deutsche Sprache beginnen die Erfahrungen jenseits der Isolation.483 Das Bild des Verdorrt-Seins, die Wahl des Adressaten, die Akzentverschiebung des Mitteilungsbedürfnisses und folglich auch der Ausbruch aus der Isolation sind intertextuelle Merkmale von SAIDs Schreib-Szene. Ihnen gemein sind die Motive der Suche und der Freiheit. Freiheit wird aber nicht allein für das Ich beansprucht, sondern auch für die Sprache: »die sprache ist immer die sprache der durstenden, wenn sie keine folklore sein will«.484 Die Suche zeichnet aber einen Weg. Im Prozess von der Vereinsamung hin zur Entdeckung der deutschen Sprache ist ein Charakteristikum der Schreib-Szene nämlich besonders wichtig, denn erst dieses profiliert die Schreib-Szene zu einer interkulturell ausgestatteten Erzählwelt und das Ich zu deren plurikultureller Figur. Die Bewegung vom Persischen zum Deutschen bedeutet nicht die Absage an das Persische zugunsten des Deutschen. SAIDs Ich befindet sich stets in Situationen, in denen es behutsam zum Persischen wechselt, etwa wenn es ›zählt‹ oder wenn es ›krank‹ ist. Ein konkurrierendes Verhältnis von Persisch und Deutsch lässt sich also nicht ausmachen. Vielmehr scheint dieses Verhältnis auf das Ich ergänzend zu wirken. Es f lüchtet in die Lektüre der klassischen Literatur Persiens wie in die Gedichte von Hafez (1325/26-1389/90) oder in die moderne Dichtung von Ahmad Schamlou (1925-2000). Mit Hafez, »diesem grossen Bruder Goethes«,485 verbindet es ein Nationalgefühl, obwohl das Ich selbst nicht national denkt: »Ganz Iran glaube an Hafis!« Die historischen und identitätsstiftenden Semantiken des Nationalen werden 481   »Kampflieder« impliziert das Wort als Waffe im Ringen um Demokratie und den Adressaten als politisches Publikum. Mit ihnen verbunden betrachtet Werner Nell die Hauptfunktionen der Literatur im Exil (Nell: Zur Begrif fsbestimmung und Funktion einer Literatur von Migranten, 1997,43f.). 482 Siehe hierzu Weidner: Wortgewaltiger Reibungsverlust, 2001, 44. 483   Vgl. Mina: Said: Un Portrait, 1999, 115. 484  SAID: ein blinder, zwei f lüsse, 2010,13. 485  SAID: Selbstbildnis, 1992, 51.

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anscheinend zum Anlass genommen, zu zeigen, dass das politische Ich nicht ganz der Geschichte angehört, indem die literarische Sphäre des Nationalen gegen die Macht und Zerstörungen des islamischen Regimes im Iran positioniert wird: […] gegen grimmige Götter und ihre Statthalter auf der Erde, die nun alles beherrschen in unserem Land – außer unserer Schönheit, unbesiegbar mit Hafis!486 Bei SAID bleibt das Persische ein Zuf luchts- und wegen seiner Privatheit auch ein verborgener Sehnsuchtsort, der in der Literatur Legitimation erfährt. In Selbstbildnis wird Hafez im privaten Gespräch mit der Mutter im Kontext der Orakel erwähnt. In Das Niemandsland ist unseres ist diesem Dichter ein ganzes Kapitel gewidmet; hier wird er im Kontext seiner dreisprachigen Rezeption durch Goethe selbst literarisiert. Dieser literarische Kontext macht den einzigen Ort des vermeintlich Nationalen in SAIDs Schreiben aus. Im Kapitel hafis, du entschlüsselst alle geheimnisse treffen Hafez und Goethe im Geiste der Poesie und Nation aufeinander, indem Nicolas Bouviers Worte zitiert werden: »das iranische Volk ist das poetischste der welt«.487 In diesen Kontext wird Hafez zunächst nationalisiert, bevor er durch den Bezug zum West-östlichen Divan, zu August von Platens und Friedrich Rückerts Übersetzungen ins Deutsche internationalisiert wird. Das Schweben zwischen den Sprachen im deutsch-iranischen Gedächtnis der Literatur thematisiert die Sprachwelten im Sinne kultureller Horizonterweiterung.488 Der in der Sprache Lebende nimmt sich das Recht, jederzeit das »gitter der grammatik« zu verlassen und zu der Muttersprache, zu dem »gefilde ohne regel«, zu wechseln:489 ich jedenfalls ertappe mich oft dabei, daß ich auf persisch anders denke als auf deutsch. das dialogische denken auf deutsch steht gegen das monologische trachten im persischen. die logik der deutschen sprache gegen die mystik der persischen?490 486 Ebd., 52. – Ähnlich wie SAIDs Ich, das in manchen Momenten absoluter Vertrautheit und privaten Daseins zur persischen Sprache wechselt, agiert auch der Ich-Erzähler in Hamid Sadrs Roman Der Gedächtnissekretär, immer wenn er eine tiefe Sehnsucht empfindet und ins Persische wechselt (Sadr: Der Gedächtnissekretär, 2005, 63). 487  SAID: hafis, du entschlüsselst alle geheimnisse, 2010, 23. Der Schweizer Schriftsteller und Reiseautor Nicolas Bouvier (1929-1998) bereiste den Iran in den 1950er Jahren und beschrieb seine Erfahrungen in L’usage du monde, 1963. Die deutsche Übersetzung legte Trude Fein im Jahre 1980 unter dem Titel Die Erfahrung der Welt vor. 2001 erschien eine Neuedition. 488  SAID: ein blinder, zwei f lüsse, 2010, 17. 489 Ebd. »noch heute geht es mir so, dass das persische freier, wilder mit mir umspringt. das deutsche verlangt, auch von seinem gast, eine ordnung, um nicht zu sagen eine zucht« (ebd.,  21). Die Muttersprache gilt dem Ich als »sprache des flüsterns« (ebd., 20). Der Stellenwert des Persischen ist vor allem dadurch bestimmt, dass es seine eigene Welt mit Erinnerungen und Assoziationen hat; sie ist eine individuell gestaltete und nun im Gedächtnis existierende Welt (siehe hierzu ebd., 14f.). 490  SAID: ein blinder, zwei f lüsse, 2010, 18.

4. Der Mythos Europa – die Metapher der Heimat – die Macht der Sprache

Es entsteht ein merkwürdiges, ja bedeutsames Verhältnis zwischen den beiden Sprachwelten, denn »der gefangene verliert seine eigene welt, seine alte, nicht«.491 Blickt man auf das temporale Verhältnis von Ich und Sprache zurück, so ist Vergangenheit durch das Persische und Zukunft im Wesentlichen durch das Deutsche geordnet; die Gegenwart teilen sich beide Sprachen. Monosprachlich sind das Individuum und dessen poetische Welt also keineswegs. Die alte Welt geht nicht verloren, sondern wird »konserviert«;492 die zukünftige Welt lässt sich gestalten;493 und was geschieht mit dem Gefangenen in der Sprache? und somit [mit der Konservierung und Gestaltung] wird er zu einem kompositum aus zwei welten, ein weltbürger ohne eigenes fenster: »ein blinder,/zwei flüsse./niemand altert/in niemandsland;/hier stirbt man nur./die gehetzte sprache der verbannten/ kennt keinen raum/für proportionen.«494 Dass das Ich hier kein eigenes Fenster hat, deutet vor dem Hintergrund seiner Rezeption von Hafez und Goethe auf seinen Anspruch auf das Weltbürger-Sein hin. Das ›Kompositum aus zwei Welten‹ erinnert hier an Falakis Fluss-Metapher der Elbe und des Kaspischen Meers. In SAIDs Werk greift die Bestimmung des Kompositums über die Fluss-Metapher hinaus und findet in der Allegorie Chamäleon für die Existenzfähigkeit in wechselnden Welten einerseits und für die Variabilität der Identifikation andererseits ihre Projektion. Die Beschäftigung mit dieser Allegorie ist für das Verständnis der Fluss-Metapher nicht unerheblich.

4.3.3.3 Das Chamäleon Das Chamäleon ist die Hauptfigur des gleichnamigen kurzen Textes in der Sammlung Bestiarium495 und des zweiseitigen Textes bekenntnisse eines chamäleons.496 Neben der namens- und identitätslosen Figur sind die Personifikation von Tieren und ihr Auftritt als sprechende Figuren weitere Charakteristika von SAIDs Werk. Davon spricht der Autor selbst im Gespräch über parlando mit le phung: Tiere bedeuten für mich mehr als die Menschen. Ich nenne ein ganz banales Beispiel: Tiere foltern nicht, Tiere haben keine Gefängnisse, Tiere haben keinen Spitzel. Eine gewisse Freiheit genießen sie, solange der Mensch es überhaupt zulässt.497 Bestiarium ist das Ergebnis einer elfjährigen Arbeit und erschien ein Jahr nach dem Märchen Es war einmal eine Blume (1998). Ein alphabetisch geordneter Katalog von 74 Tieren und zwei Fabelwesen führt einen zoologischen Exkurs mit einem charakteris491 Ebd., 17. 492  Ebd. 493  SAID: deutsch als auf fanglager, 2004, 32. 494  SAID: ein blinder, zwei f lüsse, 2010, 17. SAID zitiert sich selbst in dieser Passage. 495  SAID: Dieses Tier, das es nicht gibt, 1999, 15. 496  SAID: bekenntnisse eines chamäleons, 2006, 59f. Bestimmte Stellen aus diesem Text sind in einer früheren Version in ein kind auf der suche nach europa. ein epilog, 2004, 111-127 abgedruckt. Im Folgenden gehe ich vergleichend auf beide Varianten ein. 497   Hoffmann: Literatur muss auch Geständnis sein, 2013.

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tischen Schwerpunkt auf Politik, Liebe und Religion.498 In bekenntnisse eines chamäleons greift die Personifikation der Tiere über die fabelhafte Verfremdung hinaus. Dies erfolgt vor allem durch die Sprache, die dabei keine Eigenschaft des Menschlichen allein darstellt, sondern existentiell par excellence wirkt. Das Chamäleon stellt ein Sinnbild dar, dessen literarische Bearbeitung auf Identität als einen kaum bestimmbaren Aspekt abzielt. Durch die Personifikation des Chamäleons mit Hilfe dessen Sprechfähigkeit wird dieses literarisch bearbeitete Sinnbild auf den Menschen und dessen Umfeld übertragen. Die poetische Bearbeitung des Chamäleons erzeugt Semantiken, aus denen die Erkenntnis über die wechselnde bzw. plurikulturelle Identifikation von SAIDs Ich-Figur gewonnen wird. Mit Blick auf die wechselnden Sprachen dieser Figur dient solch eine Identifikation auch zur Darstellung einer sprachlich untrennbaren Wechselbeziehung und zur Identifikation der interkulturell profilierten Figur als mehrsprachig.499 Betrachtet man die Texte Bestiarium und bekenntnisse zusammen, so stellt man die Rolle einer sprechenden und auf das Chamäleon blickenden Ich-Figur fest. Das Chamäleon selbst tritt als ein mit der menschlichen Sprache ausgestattetes Tier auf. Es wird in Bestiarium zunächst beobachtet: das chamäleon lebt von der luft und ihren farben; diese braucht das tier für die drohfärbung gegen seine natürlichen feinde – missionare und feinschmecker./an schönen tagen legt es sich in die sonne, öffnet das maul, schließt die augen, streckt die zunge heraus und stellt sich schlafend. wörter kommen auf leisen sohlen und setzen sich auf seine zunge. wenn dem chamäleon die zunge schwer wird, zieht es sie ins maul zurück, öffnet die augen, schmeckt die wörter ab, käut sie wieder und spuckt sie aus –/zuweilen glaubt das tier sogar, daß gedichte so entstehen./[…] das chamäleon ist äußerst sprachbegabt und läßt sich auf die jeweilige sprache und ihren hof ein./seine zunge verwest erst dreiunddreißig jahre nach seinem verenden.500 Der erste Satz charakterisiert das Wesen des Chamäleons als ein mit der Natur harmonisch lebenden Tieres. Gestört wird diese Harmonie durch natürliche Feinde, wobei das Attribut natürlich im Sinne von sich in der Natur befindenden Feinden, die den Konf likt als naturgegeben und legitim definieren, zu verstehen wäre. An diesem Verständnis wird die Personifikation des Chamäleons durch dessen Feinde, d.h. Missionare und Feinschmecker erst eingeleitet. Religion und Missionare haben in SAIDs Schreib-Szene nichts zu suchen. Mit Feinschmecker lassen sich vielleicht Literaturkritiker assoziieren, deren Arbeit auf das Ich genauso belehrend wirkt wie die der Missionare. Von nun an ist seine Aufgabe nicht das Verzehren von Nahrung, sondern das Wiederkäuen und Hinausspucken der Wörter, die ebenfalls personifiziert werden. Das Chamäleon ernährt sich nicht von Wörtern, indem es sie hinunterschluckt, sondern verleiht ihnen durch die Verarbeitung ein neues Leben, indem es sie zu Gedichten 498 Siehe zur Kontextualisierung Di Bella: SAID – Ein Leben in der Fremde, 2014, 60f. Mit diesem Exkurs schließt der Autor an eine bereits seit dem sechsten Jahrhundert v. Chr. existierende literarische Tradition an, die man etwa aus den Fabeln des Äsop kennt. 499 Siehe zur Wechselbeziehung der Sprache und Identität ausführlich Florio-Hansen et al. (Hgg.): Plurilingualität und Identität, 2003, VII; Hu: Mehrsprachigkeit, Identitäts- und Kulturtheorie, 2003. 500  SAID: Dieses Tier, das es nicht gibt, 1999, 15.

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werden lässt. Der Glaube, Poesie zu erzeugen, treibt die Eigenschaft des Chamäleons auf ihren Höhepunkt, denn es sei sprachbegabt, könne sich auf jede Sprache und deren Hof einlassen. Die Zunge des Chamäleons ist im Vergleich mit seinen wechselnden Farben etwas Beständigeres – mindestens für die Dauer einer Generation. Mit anderen Worten überlebt die sprachliche Produktionsfähigkeit des Chamäleons seine natürliche Fähigkeit zum Farbenwechsel. Das Spiel zwischen dem Chamäleon und den Wörtern symbolisiert ein existentielles Phänomen: Das Sich-Ernähren von Wörtern erweitert die Fähigkeit des Chamäleons über die natürliche Anpassung hinaus auf das dem Wesen des Chamäleons untaugliche Sprechen. Die Zunge, d.h. hier die Sprache, wirkt über sein Leben hinaus nach. Mit der Fähigkeit, sich beliebig anpassen und sich in eine gewissermaßen harmonische Beziehung zur Umwelt setzen zu können, lässt sich das Chamäleon vor dem Hintergrund dessen Personifikation als Sinnbild für die wechselnde Identifikation einerseits und für Metamorphose anderseits begreifen. Als Sinnbild für wechselnde Identitäten ist das Chamäleon ein beliebtes literarisches Motiv. Aus dem literarischen Bedeutungsreservoir des Chamäleons wächst auch die Erkenntnis über eine »Chamäleon-Identität«501, die sich fächerübergreifend entgegen »Fixeophobie« im Diskurs Zygmunt Baumans502 und in dem postmodernen Diskurs der Mobilität und der Identität503 etabliert hat. Über das Phänomen der modifizierbaren Identifikation hinaus steht die Sprache im Fokus der Chamäleon-Metapher. Sprache bildet auch den Gegenstand des Textes bekenntnisse eines chamäleons. In diesem Text besteht ein enger intertextueller Zusammenhang zwischen der Chamäleon- und der Fluss-Metapher.

4.3.3.4 Der Fluss »[Es] sind zwei f lüsse in mir«, heißt es zu Beginn des Textes bekenntnisse eines chamäleons, »hier der persische, dort der deutsche, jeder stillt einen anderen durst«.504 Fluss als Metapher zieht sich durch den gesamten Text und wird immer wieder auch zur Symbolisierung des existentiellen Verhältnisses von Sprache und Individuum aufgegriffen. Vor dem Hintergrund der Fluss-Metaphorik wird die Sprache als etwas Unverändertes und in ihrer Form stets Bestehendes hinterfragt.505 SAIDs Fluss-Metapher legt eine Interpretation nahe, welche die im literaturwissenschaftlichen Diskurs geläufige Auffassung von Sprache als Zwischenraum, in dem »two languages clash in a sort of ›in-between‹ language«506 wiederlegt. Eine frühere und kürzere Variante des Textes bekenntnisse eines chamäleons findet sich in dem bereits 2004 erschienenen Text ein kind auf der suche nach europa. Hier stehen das Ich und das Kind in einem Wechselspiel der Perspektive zwar einander gegenüber, es ist aber das Ich selbst, das dem historisch gewordenen Kind das Wort in den Mund legt. In diesem Kontext geht dem 501  Lippmann: Identität im Zeitalter des Chamäleons, 2014. 502  Bauman: Flaneure, Spieler und Touristen, 1997, 22. 503  Zschocke: Mobilität in der Postmoderne, 2005. 504  SAID: bekenntnisse eines chamäleons, 2006, 59. 505   Seamus Heaney (*1939, Castledawson) hat einen ähnlichen Zugang zur Sprache. In seiner kritischen Essaysammlung The Government of the Tongue (1988) schreibt er: »But now our river tongues must rise/From licking deep in native haunts/To flood, with voweling embrace,/Demesenes staked out in consenonats.« (Heaney: The Government of the Tongue, 1988, 27 [A New Song]). 506  Ambrosioni: Global Exil, 2000, 264.

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Satz »hier der persische, dort der deutsche; jeder stillt einen anderen durst« folgende Bemerkung voraus: »seither weilt nun das kind in einem zwischenland – zwischen zwei f lüssen«.507 In der Variante in bekenntnisse eines chamäleons kommt der Ausdruck »zwischenland« nicht mehr vor. In einem Gedicht aus auf den leib – ebenfalls aus dem Jahr 2004 – wird Wasser als Metapher für Sprache verwendet; bereits hier scheint es kein »zwischenland« mehr zu geben. Hingegen heißt es: Das wasser trennt uns nicht Es stillt den gemeinsamen durst […] das wasser bildet die brücke.508 Mit Blick auf die Fluss- und Wasser-Metaphorik in beiden Texten sowie auf das untrennbare Verhältnis der Gemeinsamkeit lässt sich schlussfolgern, dass es dem Ich der Erzählung und des Gedichts nicht wirklich um einen Zwischenraum, sondern um einen Existenzraum geht, in dem der Sprache über die funktionale hinaus auch eine verbindende und lebensnotwendige Relevanz beigemessen wird. Diese Lesart bestätigt auch die Chamäleon-Metapher. Mit den Lokaldeiktika »hier« und »dort« verortet sich das Ich unmissverständlich: Ersteres bezieht sich auf das Persische, Letzteres auf das Deutsche. Vom Sprecherort aus betrachtet, würde das Dort die Distanz zum Deutschen markieren. Hinzukommt, dass von zwei Durst-Varianten gesprochen wird; jede Sprache stillt einen anderen Durst. Zwischen der Verortung und der Sprechzeit liegen im Text bekenntnisse eines chamäleons vierzig Jahre: überhaupt habe ich das gefühl, dass sie sich im laufe der letzten 40 jahre dieser zwangsgemeinschaft selbstständig gemacht haben. […] diese flüsse sind miteinander keineswegs verwandt; sie treffen sich nur in meiner mitte.509 Die Mitte des Individuums wird zu einem Ort des Treffens und der Gemeinschaft. Diese Mitte ähnelt einer Mündung, an der zwei zunächst voneinander getrennt f ließende Flüsse dann aufeinandertreffen und sich schließlich vereinen.510 Doch schaut man von dieser Mündung zurück, so sind es immer noch zwei Flüsse, blickt man aber vorwärts, könnte es nur einen Fluss geben; darüber wird konkret nichts gesagt. Es sollte an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben, dass die Poetologie des Flusses der des Ginko-Biloba-Blattes (1.1) im Sinne von gleichzeitiger Entzweiung und Vereinigung durchaus ähnelt. Der Fluss als Metapher für Sprache legt die Interpretation nah, dass auch in der Sprache eine Vergangenheit der Entzweiung und eine Gegenwart der Vereinigung existieren. Dieses Bild lässt sich aus dem Verhältnis des Persischen und Deutschen schließen, denn zwischen ihnen wechselt das Individuum ständig. Die Pointe liegt da507  SAID: ein kind auf der suche nach Europa, 2004, 113. 508 SAID, Dummler: auf den leib, 2004, 4. 509  SAID: bekenntnisse eines chamäleons, 2006, 59. 510   Mit Blick auf Bernhard Waldenfels Topographie des Fremden lässt sich diese Mündung als Ort der »Verschränkung«, »Überkreuzung« oder »Überlappung« interpretieren (Waldenfels: Topographie des Fremden, 1997, 67).

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rin, dass beide Sprachen in ihm existieren – sie machen es überhaupt aus –, und dass in beiden gesprochen wird. Die Bilder des Sich-Vereinens in der Fluss-Metapher und der Liebkosung des tobenden Jünglings in der Anwesenheit der erfahrenen Dame in der Liebes-Metapher korrespondieren miteinander und verweisen in beiden Fällen auf Phänomene der Lebendigkeit, des Wachsens und der Herausforderung. Die Liebesverhältnisse, die Zwangsgemeinschaft der Flüsse und der Sprachen können sich nur dann vollziehen, wenn Differenzen zuvor und vielleicht auch weiterhin existieren: Die Flüsse stillten jeweils einen anderen Durst, und die Sprachen seien miteinander nicht verwandt, bekundet das Ich. Auch in der Liebesbeziehung gibt es kein Gleichgewicht der Paare: Der erfahrenen schönen Dame steht der tobende Jüngling gegenüber. Im Zusammentreffen dieser Differenzen berühren sich sprachliche Elemente, Prozesse und Strukturen und wirken aufeinander, indem sie sich trotz, oder besser gesagt in Differenzen vereinen. Hierfür spricht der Text: Beide Sprachen tauschen eigenwillig ihre Plätze, »ohne es für nötig zu halten, mich zu informieren« – eine Selbständigkeit, ja Selbstverständlichkeit scheint am Werk zu sein: im einen, dem persischen zähle ich – bis heute noch. der andere, der deutsche, zählt mich an – noch immer.511/das stumme denken findet auf persisch statt; das dialogische auf deutsch – wird doch die denkerische furt von der überschreitung der einzelnen wörter gezeichnet. auch kommt es vor, dass ich von einem leben ohne wörterbücher träume, oder zumindest von einem leben mit nur einer sprache.512 Das Zählen im Persischen und das Anzählen im Deutschen stehen einander gegenüber: Das Ich verkörpert im ersten Fall das handelnde und aktive Subjekt, im zweiten Fall aber eine Beinahe-Niederlage des Objekts. Dass das Persische und das Deutsche in der ›Mitte des Ich‹ ein Abhängigkeitsverhältnis eingehen, d.h. sich vereinen, zeigt sich im monologischen und dialogischen Denken. Die Wasser-Metapher kehrt hier in Gestalt einer Furt zurück. Diese ermöglicht wie die Brücke im Gedicht auf dem leib den Übergang zwischen beiden Sprachen und die Überschreitung einzelner Wortgrenzen. Die Fähigkeit des Wechsels, die auch das Chamäleon besitzt. In der Welt des Ich berühren sich »die wörter von beiden f lüssen […] zuweilen, mit einer zärtlichen komplizenschaft […]. ich weiß auch nicht, ob die f lüsse miteinander kommunizieren«.513 Dass solche Überschreitungen das Individuum sogar herausfordern, wird durch den Bezug auf den Traum deutlich; die Befreiung von der Herausforderung rückt

511 In der Version in ein kind auf der suche nach europa heißt es: »im einen, dem persischen, zählt das kind – heute noch, der andere, der deutsche, zählt das kind aus. – noch immer« (SAID: ein kind auf der suche nach Europa, 2004, 113). Die Modifikation der Zeitangaben »heute noch« und des Verbums »auszählen« anstatt »anzählen« sowie der Wechsel der Erzählperspektive (das Kind der früheren Version wird in der späteren Version durch das Ich ersetzt) lässt sich eine Bedeutungsverschiebung feststellen: Wenn die deutsche Sprache das Kind immer noch auszählt, so heißt es bildlich, das Kind müsse das Kollektiv verlassen. Es wird auf dieser Weise ausgegrenzt. Das Verb anzählen im Zitat konstruiert aber eine andere Situation, die einem Ringkampf ähnelt. Hierbei wird das Ich durch die Sprache geschwächt, befindet es sich jedoch weiter im Kampf mit ihr. 512  SAID: bekenntnisse eines chamäleons, 2006, 59. 513  Ebd.

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so in eine unmessbare Ferne.514 In der früheren Version des Textes in bekenntnisse eines chamäleons sind es die Passanten, die im Traum des Kindes »nur persisch sprechen«.515 Das Phänomen, um das es dem Individuum geht, zeigt sich anfangs darin, dass das Ich in der Lage ist, sich in beiden Sprachen zu bewegen. Diese Bewegung wird im Einklang mit der Wasser- und Fluss-Metapher als schwimmen bezeichnet: »in dem einen f luss schwimme ich mit, meist ohne bewusst zu sein, dass ich schwimme. in dem anderen kämpfe ich um jedes wort, um nicht zu ertrinken«.516 Das unbewusste Schwimmen im Fluss des Persischen und das bewusste Ringen im Fluss des Deutschen – beide zielen auf die überlegene Macht der Sprache ab. Beherrschen ließen sich Sprachen keineswegs; »bestenfalls beherrschen die sprachen uns«:517 weckt man mich sanft, meldet sich das persische; überfällt mich die trauer, auch. auch kann ich bis heute auf persisch besser schimpfen […]. wenn meine geliebte mich bittet, ihr ein märchen ins ohr zu flüstern, tue ich es auf persisch.518 Unkontrollierbar ist die Kommunikationssituation wegen des emotionalen Inhalts; sie ist eine Angelegenheit des Herzens. Aus dem Motiv Herz lässt sich dann die Tatsache über das Denken und den Wechsel in zwei Sprachen als notwendig und existentiell ableiten. Bestätigt wird diese Interpretation in der Erweiterung des Naturphänomens Wasser bzw. Fluss auf ›Luft‹: »denn jede sprache hat eine eigene luft; um zwei zu atmen, braucht man zwei lungen, zwei herzen«.519 Das im Gedicht Um zu bleiben bekannte Motiv Lunge wird mit dem Rückgriff auf die Bedeutung der Lunge als lebenserhaltendes Organ gebildet und tritt hier als Symbol für die Notwendigkeit mehrsprachlicher Produktionsfähigkeit des Individuums abermals auf. Mit Luf t und Atem wird Sprache Macht und Kraft zugesprochen, die die Existenz des Individuums sichern, aber zugleich auch verändern können: die zwei flüsse verwandeln mich in ein chamäleon, ohne eigene farbe. das tier weiß nicht einmal, ob diese sprachen nur brücken sind oder eigene pfade; es kennt auch nicht den treffpunkt der sprachen, den berührungspunkt.520 Das »zerrissene tier«, heißt es in ein kind auf der suche nach Europa, »träumt im persischen und wacht im deutschen […]. das chamäleon glaubt, es kann keinen der beiden

514   Um dieser Überforderung entgegenzutreten, bekennt sich das Tier zu einer »duale[n] sprachlosigkeit«, die dann eintritt, wenn »das tier müde ist« (SAID: bekenntnisse eines chamäleons, 2006, 60). 515  SAID: ein kind auf der suche nach europa, 2004, 113. 516  SAID: bekenntnisse eines chamäleons, 2006, 59. Das Kämpfen, um nicht zu ertrinken, korrespondiert hier mit dem aus der Boxersprache entliehenen Ausdruck des Anzählens. 517  SAID: bekenntnisse eines chamäleons, 2006, 60. 518 Ebd., 59. 519  Ebd. 520  Ebd.

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f lüsse verlassen – ohne zu verdursten«.521 Eine Ordnung zwischen den Sprachen zu schaffen, kann dem Ich nicht gelingen, wenn es am Leben bleiben will. Die Sprach-Bilder assoziieren mit der Sprache zuallererst ein Existenzkriterium. Hinzukommen die Eigenschaften der Vertrautheit und der emotionalen Hingabe und Verschmelzung. Diese Bedeutungen verbildlichen allerdings die Beziehung des Ich zum Deutschen und nicht zum Persischen, von dem, denkt man an den Ursprungsaspekt, angenommen werden kann, es sei die Muttersprache des Ich. Im Hinblick auf diese positioniert sich das Ich verhältnismäßig kritischer: »ich habe nie verstanden – und werde wohl immer weniger verstehen –, was die muttersprache verkörpert: eine maske oder gleich die f lucht?«522 Die Frage bleibt unbeantwortet. Dem Verständnis von Sprache als Maske und Flucht gemein ist zum einen ihre Eigenschaft des Verbergens und der Geborgenheit. Maske verdeckt das Gesicht und mit ihm auch die Identität. In der Sprache Flucht zu suchen, deutet ebenfalls auf Sprache als schutzbietende und verbergende Instanz an. Zum anderen kann dieses Verhältnis auch auf eine Eskalation anspielen: Ermöglicht die Maske das anonymisierte Anwesend-Sein, ist Flucht ein Sich-Entziehen. Das Fehlen der eigenen Farbe des Chamäleons und das Gefühl der Zerrissenheit implizieren symbolisch auch die Identitätskrise, die allerdings durch den zeitweiligen Halt in der persischen und durch die Hingabe an die deutsche Sprache überwunden wird: »das tier genießt die körperhafte523 geborgenheit« der deutschen Sprache, beschreibt das Ich, aber die Frage danach, ob diese Geborgenheit ebenfalls eine Art »f lucht« vor der Haltlosigkeit ist,524 bleibt offen und wird abschließend sogar ironisch aufgegriffen:525 das persische schaut zu und grinst in sich hinein, wie eine kluge lebensgefährtin, die die eskapaden des geliebten mit grandezza erträgt. sie ist klug, wie eine liebende frau./sie liebt und wartet. zuweilen vermischen sich die schatten der liebenden. ob die beiden damen auch die rollen tauschen – ohne mich zu konsultieren?/das tier weiß es nicht; nur eines weiß es: sie reiben sich, in seiner mitte, bis sie das tier gänzlich besiegen – bis zum endgültigen ort der sprachlosigkeit.526 Das Ich wird zum Objekt der Betrachtung und des Spottes der klugen Lebensgefährtin (das Persische), die den eleganten Sprachwechsel des Ich zur deutschen Sprache beobachtend und abwartend »erträgt«. Aber auch die deutsche Sprache begleitet die liebende Gestalt und geht mit dem Persischen eine ›Komplizenschaft‹ ein, die dem Ich 521  SAID: ein kind auf der suche nach europa, 2004, 113f. In bekenntnisse eines chamäleons lautet der Satz: »das chamäleon glaubt, es kann keinen der flüsse verlassen, denn sonst verdurstete das tier« (SAID: bekenntnisse eines chamäleons, 2006, 60). 522  SAID: bekenntnisse eines chamäleons, 2006, 59. 523   Die körperhafte Geborgenheit als Bild schließt sich an die körperliche Berührung des Jünglings und der schönen Dame an. 524  In ein kind auf der suche nach europa heißt es »das tier genießt die körperhafte geborgenheit einer fremden sprache. oder verdunkelt seine f lucht auch diese nähe?« (SAID: ein kind auf der suche nach europa, 2004, 114. Herv. von H.T.). 525  SAID: bekenntnisse eines chamäleons, 2006, 60. 526  Ebd.

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keinesfalls bewusst ist. Die Intensität dieses unbewussten Tausches ist anscheinend so hoch, dass das Ich sich nicht in der Lage sieht, den Tausch zu kontrollieren. Im letzten Satz werden die Macht der Sprache und die Ohnmacht des Ich insofern pointiert ausgedrückt, als die Sprache das Ich in einen Zustand der Sprachlosigkeit versetzt und so gegen ihre eigene Funktion wirkt. Mit Chamäleon und Fluss wird eine Metaphorik und mit der Liebesbeziehung zur Sprache eine Symbolik erzeugt. Sie dienen als ästhetische Mittel, um die Fixierung der Sprache als Identifikationskriteriums auf einen Ursprung zu problematisieren. Durch die Sprache wird das Subjekt vom einem fixen Ort der Befindlichkeit gelöst und in die Position eines wechselnden, suchenden und entdeckenden Individuums versetzt. Sprachen steuern und begleiten diese Prozesse nicht als Konstanten; sie sind f ließend und variabel. Das Tier weiß nicht einmal, »ob diese sprachen nur brücken sind oder eigene pfade«.527 Hierbei wird zwar behauptet, es gebe einen ›Treffpunkt der Sprachen‹ (Brücke), zugleich bekennt sich das Ich aber zu seiner Unwissenheit. Dass aber gerade die Unwissenheit die Antriebskraft für die Suche ist, lässt sich aus dem Vergleich der entsprechenden Textstellen in ein kind auf der suche nach europa und bekenntnisse eines chamäleons schließen. Dort heißt es: »bisweilen tobt sich das tier unbändig zwischen den f lüssen aus«;528 hier aber tobt sich das Chamäleon zwar »herrlich zwischen zwei f lüssen aus«, aber »produziert zeilen in der gastsprache«.529 Der Prozess eines ›unbändigen Austobens‹ in der Sprache wird zur Fähigkeit des Produzierens umgewandelt und mit dem Vermögen der poetischen Produktion des Chamäleons in eine Verbindung gebracht; und diese Fähigkeit ist, denkt man an das Bild des vereinsamten Ich zurück,530 die einzige Möglichkeit, aus der Vereinsamung auszubrechen. In ein kind auf der suche nach europa heißt es: irgendwann sei ihm [dem Kind] das licht geschehen. irgendwann habe jene sprache seine einsamkeit aufgefangen – dann sei jenes licht aufgetaucht. jenes licht, das seinen weg seit nun mehr als drei jahrzehnten begleite.531 Das wegweisende Licht kann hier als eine weitere Metapher für Sprache gedeutet werden, die insofern Orientierung bietet, als sie das Ich in den Zustand eines bewussten Produzierens versetzt; nicht nur befreit die Sprache das Ich, sondern weist ihm auch den Weg, wird ihm zu einem »dritten ohr« und bietet ihm einen »balanceakt«.532 Betrachtet man noch einmal die Texte bekenntnisse eines chamäleons und ein kind auf der suche nach europa zusammen, richtet aber den Blick auf das Verhältnis der Lokaldeiktika »hier« und »dort«, so entdeckt man einen weiteren interessanten Aspekt, der mit der Behauptung des Ich am Ende des Textes bekenntnisse eines chamäleons über die Sprachen korrespondiert, sie tauschten ihre Plätze, ohne das Ich zu informieren. Das Verhältnis von »hier« und »dort« besteht darin, dass das Erste sich auf das Persische und das Zweite sich auf das Deutsche bezieht. Dieses Nah-Fern-Verhältnis gerät im 527 Ebd., 59. 528  SAID: ein kind auf der suche nach europa, 2004, 114. 529  SAID: bekenntnisse eines chamäleons, 2006, 60. 530 So etwa in SAIDs Briefe aber an wen, 1986, 18-21, oder in Selbstbildnis, 1992, 48. 531  SAID: ein kind auf der suche nach europa, 2004, 111. 532 Ebd., 112.

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Text ein kind auf der suche nach europa ins Wanken.533 Hier wird die Einsamkeit des Kindes, das den Epilog beginnt, nicht etwa durch die Nähe zum Persischen, sondern zum Deutschen aufgehoben. Indem mit dem Deutschen nun der Ort des Sprechens markiert wird, wandelt sich das Deutsche nach Regeln der Deixis zum Hier. Mit dem Persischen wird folglich die Ferne assoziiert. Hergestellt und geregelt ist das Verhältnis der Nähe und Ferne im besten Falle nur temporär. Die Nähe zum Deutschen ist es gegeben, wenn es dem Exilierten »eine bleibe«534 bietet. Es wird ihm zum Haus des Seins und zur Ankunft des Seins selbst,535 nur mit dem Unterschied, dass SAIDs Ich dieses Haus beliebig verlässt, um wieder dorthin zurückzukehren. Das Verhältnis des Ich zum »Sein« ist also ambivalent: Die deutsche Sprache sei ihm »f lügel und gebrechen zugleich«.536 Während »Flügel« Freiheit und Bewegung impliziert, deutet das »Gebrechen« auf Leiden hin, das in SAIDs Schreib-Szene vor allem aus dem Exil herrührt.537 Mit den Metaphern Chamäleon und Fluss wird Sprache als identitätsstiftendes und identitätsveränderndes Kriterium thematisiert und die Ambivalenz des Individuums im Spannungsfeld der Mehrsprachlichkeit beschrieben. Die poetisch ausgearbeiteten Semantiken dieser Metaphern symbolisieren die Loslösung des Individuums aus den Schranken ontologischer Zuschreibungen und fixierten Kulturenzwangs und eröffnen ihm den Weg zu einer Suche nach individueller Identifikation als lebensbegleitender Aufgabe. Sie lassen die Interpretation zu, dass diese Suche in SAIDs Schreib-Szene von der Sprache selbst getragen wird.538 Diese Interpretation impliziert aber auch mit dem Bild der reifen Dame und des tobenden Jünglings die Macht der Sprache, denn diese kann zugleich verführen und irreführen, verbinden und trennen. Die Sprache durch den Fluss zu metaphorisieren, heißt, in ihr eine bewegliche und bewegende In-

533 Bisweilen baut sogar das Persische Distanzen auf. So beschreibt SAIDs Ich sein Persisch, das sich genauso wie es selbst entfremdet hat: »manchmal sitze ich mit iranischen freunden beisammen und mache einen witz, den schon die vierzehnjährigen nicht verstehen, weil er auf etwas anspielt, das sie nicht mehr kennen. wenn besuch aus teheran kommt, stellt er fest, daß mein persisch korrekt ist und rein, aber altertümlich wie konserviert. ich gebrauche nie fremdwörter, wenn ich persisch spreche. in teheran ist das persische voller amerikanismen« (SAID: grenzgänge, 2004, 21). 534  SAID: ein kind auf der suche nach europa, 2004, 112. 535  Heidegger: Über den Humanismus, 1949, 5. 536  SAID: ein kind auf der suche nach europa, 2004, 112. 537   Den Zustand des Leiden ist laut Vilém Flusser ein Charakteristikum der Migration: Sie ist »zwar eine schöpferische Tätigkeit [durch Sprache], aber sie ist auch ein Leiden« (Flusser: Wohnung beziehen in der Heimatlosigkeit, 2013, 17). Leiden, so Flusser, kennzeichne das Exil und werfe Schatten auf das Leben, wofür »die deutsche Sprache das Wort ›Heimweh‹ gemünzt hat« (Flusser: Exil und Kreativität, 2013, 104). Kreativ zu sein, erklärt Flusser weiter, sei die Möglichkeit, im »Ozean von chaotischen Informationen« überleben zu können und nicht »von den Wellen des Exils verschlungen« (ebd., 103) zu werden. 538   Dies ist im Übrigen die zentrale Einsicht, die Gadamers Philosophie über Sprache in Wahrheit und Methode zugrunde liegt. Aus der Einsicht darüber, dass erst mit der Sprache die Welt aufgehe, entwickelt Gadamer in Übereinstimmung mit Heidegger seine philosophische Hermeneutik. Auf diesen Aspekt zielt auch der Philosoph Humberto Maturana (*1928) in Vom Sein zum Tun (2002) im Hinblick auf die Existenz des Menschen in der Sprache ab. Zur Beschreibung, wie sich diese Existenz vollzieht, bedient sich Maturana ebenfalls der Fluss-Metapher. Die Erfahrung des Menschen vollziehe sich in einem Fluss unwillkürlicher Koordinierungen, die der Mensch selbst in der Sprache hervorbringe (Maturana: Vom Sein zum Tun, 2002, 84).

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stanz zu sehen, die Grenzerfahrungen im Moment ihres Überschreitens hörbar und lesbar macht. Auf der Grundlage der Sprachbilder in SAIDs Schreib-Szene lässt sich die Grenze nicht als eine Instanz verstehen, die »Unterscheidungsmerkmale in Trennungsmerkmale«539 umwandelt, sondern sie als Potential poetischen Austauschs in einer interkulturell ausgestatteten Erzählwelt erfasst. Aus solch einer Poetik lässt sich literatur- und kulturtheoretisch die doppelte Erkenntnis über Grenze gewinnen: Diese könne separierender Natur sein und als Trennlinie fungieren; sie könne aber auch einen Begegnungsraum bilden, in dem Interaktions- und Austauschprozesse stattfinden.540 Die Grenzen der beiden Flüsse wären in SAIDs Schreib-Szene sowohl funktional als auch bedeutungsstiftend. Ihre Funktion besteht darin, einerseits das Persische und das Deutsche als zwei verschiedene Sprachen zu konstruieren, um sie andererseits im individuellen Gebrauch des Ich zusammenzuführen. Aus ihrer Zusammenführung – so aus der Interpretation der Metaphern – entsteht Poesie. In dieser entfaltet sich das Ich zu einem »Multisprech«541. Beide Sprachen werden zwar verinnerlicht, sind aber weder wirklich eins, noch vollkommen getrennt. Durch ihr Zusammentreffen und durch ihren Wechsel gewinnt das Ich für seine Selbstbildkonstruktion Chancen und Entfaltungsmöglichkeiten.542

4.4 Plurikulturelle Schreib-Szenen In den bereits diskutierten Werken wird Sprache nirgendwo auf diese metaphorisch reichhaltige Weise zum Gegenstand und zum Träger interkultureller Identitätsarbeit und Heimatgestaltung gemacht wie in SAIDs Ref lexionen. Im Visier literarischer Ausarbeitungen des Wechsels von Sprachwelten stehen grundsätzlich die plurikulturelle Fähigkeit des Subjekts bei der Gestaltung seiner polyphonen Welt einerseits und die Modi dieses Wechsels anderseits (1.5). Die plurikulturelle Figur und der polyphone Ort der Sprache besitzen in interkulturellen Schreibweisen einen symbolischen Charakter, kommunizieren mit der sozialen Welt und modellieren die ausgestattete Erzählwelt. Als plurikulturelle Figur spielt Ryan im Roman Eines Dienstags beschloss meine Mutter Deutsche zu werden seine Rolle. Hier repräsentiert er die Eigenschaft, die ihm erlaubt, je nach Kommunikationssituation seine Sprache zu wechseln, obwohl das Verhältnis des Persischen und Deutschen durchaus unterschiedlich ist. In der Romanpoetik wird dieser Wechsel auch graphemisch sichtbar gemacht. Gespräche zwischen Ryan und Sima, die häufig auf Persisch erfolgen, den deutschsprachigen Wortlaut zu einem Persischen wechseln und so die Balanceakte in der Relevanz des persisch- und deutschsprachigen regulieren, finden sich nur bedingt in den anderen Werken, und 539  Bhatti: Heterogenität, Homogenität, Ähnlichkeit, 2015, 131. 540  Nünning: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, 2013, 282. 541 Erfurt: »Multisprech«, 2003, 5-33. 542 Vgl. hierzu Hu: Mehrsprachigkeit, Identitäts- und Kulturtheorie, 2003, 5; Grosjean: Bilingual Life and Reality, 2010, 125. Der Wechsel, den Grosjean als Wechsel der Attitüden beschreibt, wird in SAIDs Schreiben zu einer Angelegenheit der Emotionen. Das Ich kann auf Persisch besser schimpfen als auf Deutsch. Das erlebende Ich drückt grundsätzlich starke Emotionen wie Trauer, Wut und Liebe auf Persisch aus. Die Relevanz des Persischen besteht für das erlebende Ich darin, dass es zu seinem lebenslangen Begleiter geworden ist.

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zwar häufig im Zusammenhang mit der Thematik der kulturellen Entfremdung543 und Fremdheit544. Was in Simas Positionierung polarisierend wirkt, ist, dass das Persische bei dieser Figur die Sprachwelt umfasst, von der Sima aus- und in die sie zurückgeht. Sie geht von ihr aus, wenn sie sich um ihre Einbürgerung bemüht, und kehrt in sie zurück, wenn sie beispielsweise mit Ryan die privat-familiäre Sphäre betritt. Die zwanghafte und administrativ geregelte Anpassung an die deutsche Mentalität durch den Einbürgerungstest beschreiben aus ihrer Sicht einen Verpf lichtungsakt und legen den »Kolonialcharakter der Kultur«545 offen. Ryan aber ist diesem Zwang scheinbar enthoben, nicht allein deshalb, weil er in Deutschland geboren ist, sondern auch deshalb, weil er die Fähigkeit zum situationsbedingt abwechselnden Gebrauch von Persisch und Deutsch besitzt.546 Der Wechsel seiner Sprachwelten geschieht nicht durch Übersetzung und nach »dem Muster von Entlehnung und Interferenz«, sondern durch »die Nutzung mehrsprachlicher Ressourcen im sprachlichen Handeln der Sprecher«.547 Dass dieser Wechsel im Gespräch mit Sima geschieht, verweist indirekt auf Ryans Gespür für historisch-familiäre Interaktionsebenen. Die Pendants zu Ryan bilden Mohsen in Salami Aleikum, Hasan in Selam Berlin, Victoria und Anaroxana in Allafis Frankfurter Trilogie, Canan und Ali in Almanya. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie über ein interkulturelles Repertoire verfügen, das sie dazu befähigt, die kommunikativen Bedürfnisse in wechselnden Situationen sprachlich wie kulturell zu befriedigen.548 Während in der Elterngeneration dieses Phänomen nur bedingt und nicht routiniert erscheint, wird die Kindergeneration hineingeboren. Zugleich demonstriert sie, dass Identität und Heimat nicht an einem geographischen Ort der Herkunft fixiert erfolgt, sondern sich an Netzorten vollziehen, die dem Individuum Möglichkeiten zur Identifikation zur Verfügung stellen. Diese Möglichkeiten werden nicht allein durch Differenzen beschrieben, sondern auch durch Ähnlichkeiten. Innerhalb dieses Kontexts bildet Cenk im Film Almanya eine Ausnahme, denn ihm fehlt die sprachliche Interaktionsfähigkeit in einem türkischen Umfeld. Weder in Canans Erzählung kann er die Türken verstehen, noch auf der Reise nach Ostanatolien ist er in der Lage, sich mit dem jungen Verkäufer an der Raststätte zu verständigen. Folglich fehlt ihm zunächst das Mitwirken in einem polyphon konstruierten sprachlich-kommunikativen Akt.549 Dadurch, dass er beginnt, einzelne Wörter zu lernen, impliziert er die Erlernbarkeit plurikultureller Eigenschaften. Plurikulturelle Figuren, die den polyphonen Ort der Sprache, der Heimat und so auch der Identifikation gestalten, zeichnen sich insbesondere in den filmischen Darstellungen durch ihren Sprachakzent aus. Dieser deutet einerseits auf eine Migrationsgeschichte hin, wird aber andererseits – beispielsweise in Salami Aleikum – eingesetzt, um das Phänomen der Migration nicht allein als eine außerdeutsche, sondern 543   TORKAN: Kaltland, 1984, 84. 544  Falaki: Carolas andere Tode, 2009, 32. Siehe zur Diskussion Abschnitt 4.2.4 dieser Arbeit. 545 Siehe die entsprechende Textstelle in Farsaie: Eines Dienstags beschloss meine Mutter Deutsche zu werden, 2006, 36; zum Terminus Derrida: Die Einsprachigkeit des Anderen, 2003, 46. 546 Siehe beispielsweise Farsaie: Eines Dienstags beschloss meine Mutter Deutsche zu werden, 2006, 59f. 547 Erfurt: »Multisprech«, 2003, 18. 548  Lüdi: Mehrsprachiges Repertoire und plurielle Identität von Migranten, 2003, 40. 549   Siehe zu der theoretisch-argumentativen Grundlage Tabouret-Keller: Language and Identity, 2000, 324.

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auch als eine innerdeutsche Angelegenheit zu begreifen. Um den so häufig diskutierten unmittelbaren Bezug von Migration und Sprache zu thematisieren, werden in Salami Aleikum Figuren mit einer deutschen Herkunftsgeschichte positioniert, die einen Dialekt sprechen, der sie regional verortet. Familie Taheri spricht Deutsch mit einem persischen, Familie Bergheim aber mit einem sächsischen Akzent. Dabei wird zwar Deutsch gesprochen, aber durch den Dialekt erscheint die Kommunikationssituation differierend. Die Konstellation von Migranten-Figuren ref lektiert in diesem Zusammenhang die Überlegungen über »accented cinema«550 und macht die iranisch konstruierte Sphäre zu einem integralen Bestandteil der ästhetischen Erfahrung, die in Salami Aleikum als westdeutsch, ostdeutsch, polnisch und persisch interpretiert wird. Diese Vielfalt erfährt durch Musik und Gesang eine Erweiterung. Das vielstimmige Singen folgt zwar der Filmerzählung, besitzt aber eine eigene Dynamik, die auch performativ im Tanz Ausdruck findet. Durch Gesang, Musik und Tanz erfährt der polyphone Film eine »audiovisual aesthetic«, die die Erfahrung der Heterogenität als gänzlich ›normal‹ darstellt.551 Eine weitere und durchaus komplexere Stufe erreichen plurilinguale und plurikulturelle Kontexte und Figuren in SAIDs und Kermanis Schreib-Szenen, indem der Autor die Präsenz dieser Figuren so gestaltet, dass sie die Textwelt gleich poetisieren. Die Positionierung von Goethe und Hafez in einem fingierten Dialog konstruiert eine vieldeutbare Textwelt, deren Interpretation nicht monokulturell erfolgen kann, sondern im Kern plurikulturell ist. Die Poetisierung der plurikulturellen Schreib-Szene erreicht durch die Integration von Mystik zur Gestaltung einer literarischen Kommunikation über Liebe in Kermanis Roman Große Liebe ihren Höhepunkt. Hier wird Poesie selbst zu einem Ort heterogener Verhältnisse. Sie verlässt ihren primären Ort als verbales Kommunikationsmittel zwischen den Figuren und wird durch die Mystik zu einer Metaebene der Herstellung einer literarisch vielstimmigen Welt eingesetzt. Am vorläufigen Ende des kulturellen Wandlungsprozesses ist es nicht mehr die Figur, die ihren Sprachkontext wechselt, sondern die Sprache selbst. Die Vermischung der mystischen und irdischen Liebe in einer deutsch-persischen Liebespoetik erzeugt eine Ästhetik, welche die Singularität einer Deutungshoheit am Gegenstand der Erzählung als unzulässig repräsentiert.

4.5 Zusammenfassung Die Überlegungen in diesem Kapitel gründeten sich auf den Versuch, Konstruktionen von Europa, Heimat und Sprache im literarischen Diskurs des deutschen-iranischen Migrationsgedächtnisses zu analysieren und ihren thematischen Zusammenhang miteinander wie mit der Identität herzustellen. Zur Herstellung dieses Zusammenhangs trug die Auffassung von Sprache als Inszenierungsort bei. Die Sprache avancierte zu einem symbolischen Ort der Suche. Suche als Hauptmotiv zur Inszenierung der Identitätsarbeit vollzog sich innerhalb individueller und kultureller Verf lechtung. Ihre Ausdrucksseite fanden diese in den Narrativen Europa und Heimat. Ihr herausragendes Kriterium fanden Europa und Heimat in Strategien der Entterritorialisierung. 550   Naficy: An Accented Cinema, 2001, 25. 551   Gueneli: The Sound of Fatih Akin’s Cinema, 2014, 339.

4. Der Mythos Europa – die Metapher der Heimat – die Macht der Sprache

Von Sprache ausgehend und auf sie hinarbeitend wurde der Gedanke über die Entterritorialisierung von Europa und Heimat begründet. Als Hauptakteur der Entterritorialisierung qualifizierte sich die interkulturell profilierte Figur. Vermögens ihrer Profilierung konnte sich gegenüber Kulturenzwang Position beziehen. Aus der Analyse dieser Positionierung konnte das Ergebnis erzielt werden, dass Gedanken über Europa und Heimat, welche die interkulturell profilierte Figur entwirft, gleichzeitig Geschichten und Vorstellungen mit sich tragen. Der Ort, an dem diese Geschichten und Vorstellungen inhaltlich und gleichzeitig aufeinander treffen, ist die ausgestattete Erzählwelt. Aus der Beschreibung der Erzählwelt unter den Aspekten der Strukturierung und Modellierung konnten die Poetiken gewonnen werden, welche die soziale Welt der Erzählung als einen Gegenentwurf begreifen halfen. Die Singularität der Identifizierung, die Ethnizität der kulturellen Zugehörigkeit und die Marginalität der individuellen Positionierung wurden durch diesen Gegenentwurf beleuchtet und als nicht realisierbar deklariert. Die Strategien zur Bildung dieser Poetiken im literarischen Diskurs des deutsch-iranischen Migrationsgedächtnisses konnten durch die Analyse der Erzähl-, der Ich- und der Figuren-Perspektive aufgezeigt werden. Das herausragende Merkmal der Perspektiven, aus denen die Erzählwelt erfahren wurde, bestand in einer Eigenschaft, die als interkulturelle Profilierung bezeichnet wurde. Als solche wurde die Fähigkeit bezeichnet, Erinnerungs- und Erfahrungsakte gleichzeitig und gleichörtlich in Beziehung setzen zu können. Der erste Teil dieses Kapitels diskutierte die Frage nach Techniken dieses In-Beziehung-Setzens am Beispiel von Europa. Im literarischen Diskurs des deutsch-iranischen Migrationsgedächtnisses charakterisierte sich Europa zunächst als Entdeckungsgegenstand iranischer Intellektueller in vier Generationen seit dem beginnenden 19. Jahrhundert. Im Vordergrund stand nur die dritte Generation. Diese macht in der iranischen Migrationsgeschichte des 20. Jahrhunderts die erste Generation der Auswanderer aus. Diese entwarf ihr Europa im Sinne eines Abbildes für kulturelle Errungenschaften, politische Programme und Ideologien – allen voran die Auf klärung und die Französische Revolution, gefolgt von Marxismus, Sozialismus und Kapitalismus – und stellte die Demokratisierungs- und Modernisierungsprozesse im Iran seit den 1960er Jahren in Frage. Damit ist jene Phase der ›Berührung‹ gemeint, die von der Phase der ›Begegnung‹ in den ausgehenden siebziger und beginnenden achtziger Jahren nicht einfach abgelöst wird, sondern sie konfrontativ herausfordert. Aus der Werkanalyse ging die Uneinigkeit über das, was Europa ist, hervor. Diese Uneinigkeit bildete in den Öffentlichkeitsdebatten die Kontroversen der Intellektuellen, die ihrerseits auf die Moderne, die instabile Sozialstruktur Irans sowie die politisch-ideologischen Konf likte referieren und diese als Gründe vorstellten, die zu der Islamischen Revolution, zu den soziopolitischen Umwälzungen im Iran und zu der Auslösung der Migrationsprozesse führten. Mein Anliegen bestanden jedoch nicht in der historischen Begründung oder Widerlegung jener Argumente, sondern in der Auseinandersetzung mit den Migrationsprozessen, durch die ein deutsch-iranisches Migrationsgedächtnis überhaupt entstehen konnte. Die ersten literarischen Verarbeitungen individueller Ref lexionen über Migration lieferten in den 1980er Jahren SAIDs und TORKANs Werk. Im Vordergrund stand, die ausgestattete Erzählwelt aus der Perspektive der Hauptfigur zu betrachten und gegebenenfalls andere Perspektivierungen in einer Relation zu ihr zu sehen. Die Hauptfiguren wurden in der Erzählwelt

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mit Blick auf das Spannungsfeld privat-individueller und öffentlich-gesellschaftlicher Beziehungen erörtert. Vier stellen Aspekte den intertextuellen Bezug dar: Erstens: Es wurde eine Doppelkonstruktion der Erzählwelt (privat-individuell und öffentlich-gesellschaftlich) ausgemacht, die als verbindende Strategie der Identitätsarbeit in textuellen und filmischen Darstellungen dient. Zweitens: Entscheidend waren in SAIDs und TORKANs Werk die Motive Exil, Rückkehr, Entfremdung und Abschied, die schließlich zu einer bewussten Entscheidung für eine Heimat-Suche führten. Drittens: Als ebenfalls relevant hat sich das gesellschaftliche Engagement der Figuren vor allem in der prä-revolutionären Phase erwiesen, das im Hinblick auf ihre sozialistische Gesinnung als Ähnlichkeitsmoment politischer Identifikationen aufgefasst werden kann. Viertens: Erfahrungen des Scheiterns prägten die post- revolutionäre Phase; dies ist die Phase der Migration und geht mit Entfremdung und Resignation einher. Die Erinnerungsarbeit der Figuren an diese Phase – man könnte sie vorsichtig als Verarbeitung bezeichnen – erwies sich als facettenreich. In TORKANs Werk bereitete Resignation den Beginn einer Privatheit vor, die insbesondere im Verhältnis von Mutter und Kind zum Vorschein kam. Über die weibliche Hauptfigur und ihre sozialen Wirkungsmomente nach der Resignationsphase erfährt der Leser kaum etwas Neues mehr. Diese Tatsache ergibt sich auch daraus, dass TORKANs literarisches Schaffen in den ausgehenden achtziger Jahren endete. Es findet in ihrem Werk lediglich eine Europa-Diskussion statt, die sich im Allgemeinen auf das Thema Freiheit beschränkt, ohne jedoch klar zu werden, was mit Freiheit gemeint sein kann. SAIDs Ich-Figur hingegen begann, aus den sozialen und politischen Niederlagen durch Erinnerungsarbeit und ›Vergangenheitsbewältigung‹ Erkenntnisse zu erzielen. Der Prozess der Erkenntnisgewinnung verlief für sie zunächst über Europa, das einst ihre politische und soziale Identifikation prägte. Für die resignierte Figur des Intellektuellen bedeutete Europa nach einer Phase persönlicher Erfahrungen zunächst Enttäuschung, so dass Resignationserfahrungen über das Scheitern der soziopolitischen Ziele nun auch durch die Enttäuschungserfahrungen in und von Europa verstärkt wurden. In der Schreib-Szene werden die Entdeckung Europas und seine Entzauberungsgeschichte in einem Spannungsfeld von Hoffnung und Enttäuschung, Hinwendung und Depression zueinander in Beziehung gesetzt. Das Bedürfnis der Mitteilung, die Realisierung des eigenen Ich in den Prozessen des Schreibens und die Suche dem Adressaten für einen Dialog kennzeichnen SAIDs Erzählung als eine imaginäre Welt der Kompensation von Enttäuschungserfahrungen. Die Analyse literarischer Inszenierungen Europas erläuterten die Bedeutungen der Europa-Bilder im literarischen Diskurs des deutsch-iranischen Migrationsgedächtnisses. An den Inszenierungen wurde deutlich, dass Figuren und Europa gemeinsam am Gewebe eines ref lektierenden und relativierenden Gedächtnisses partizipierten. Dieses Gedächtnis wird in Allafis Frankfurter Trilogie zur Darstellung einer Europa-Kritik befragt. Die aus unterschiedlichen Gesellschaftsschichten stammenden Figuren stellten eine soziale Welt her, die von jeder Figur ihrer sozialen Schicht entsprechend anders getragen und repräsentiert wurde. Diese divergierenden Welten bildeten nicht allein den Gegenstand der Erzählung; ihre Inszenierung auf der Bühne machte sie zum Gegenstand kritischer Beobachtungen. Die Rollen bei dieser Inszenierung wurden je nach Figurenperspektive verteilt. Vertreten waren Mitglieder von Bürgertum, Wissenschaft, Kunst, Politik und Staat. Die Figur des kritischen Intellektuellen, die von der gefesselten Gestalt des Künstlers verkörpert wurde, erwies sich mit Blick auf

4. Der Mythos Europa – die Metapher der Heimat – die Macht der Sprache

die Europa-Kritik als bedeutungstragende Figur. Die Frankfurter Trilogie repräsentiert mit dieser Inszenierung Macht, Kapital und Europazentrismus und legt außerdem offen, dass das Europa der Globalisierung der Macht von Märkten, der Expansion der Wirtschaft und der Meinungsbildung der Medien verfallen ist. Die Frankfurter Trilogie eröffnet an diesen Themen eine neokoloniale Perspektive auf Europa und integriert Migration in Suberzählungen, die der Europa-Kritik der gesamten Erzählwelt dienlich sind. Die Figurenperspektiven in den Suberzählungen ref lektieren u.a. die Erinnerungen und Erfahrungen der ersten iranischen Migrantengeneration in den achtziger Jahren. Gleichzeitig beschreiben sie den Wandel in den neunziger Jahren und integrieren dann Ref lexionen auf den Generationswandel und auf die ökonomischen Herausforderungen der Globalisierung. Betrachtet man den Aspekt des Wandels genauer, so fällt es auf, dass die Europa-Bilder auf der Folie des Imaginären, Mythologisierten, Ideologisierten und Freiheitlichen entstehen. Europa als Mythos ist das Europa liberaler Freiheiten, die sich später in Europa als falsche Vorstellungen enthüllen und damit auch zu Mythos der Freiheit werden. Im literarischen Diskurs des deutsch-iranischen Migrationsgedächtnisses entzieht sich Europa deshalb jeglicher Territorialisierung und lässt sich als ein Ort vorgestellter liberaler Freiheiten interpretieren. Unter diesem Gesichtspunkt fungiert Europa in der Schreib-Szene als literarische Utopie und wird zu einer Projektionsf läche zur Konstruktion idealer Zukunftsmodelle. Als literarisches Motiv repräsentiert Europa keine Perspektivlosigkeit im Sinne der Europamüden; es spiegelt auch nicht Konzepte der Nationalstaaten und des Nationalismus wider, sondern wird auf die Anklagebank gesetzt, und zwar mit dem Vorwurf, es sei keine Werte-, sondern eine Interessengemeinschaft. Auf der Anklagebank wird das Demokratie und Freiheit versprechende Europa für die intellektuelle Figur zu einem Dialogpartner und muss sich den Vorwurf anhören, was es versprochen und nicht eingehalten habe. In der Figurenperspektive werden Europa der Vorstellung und Europa der Wirklichkeit literarisch gegeneinander ausgespielt. Aus diesem literarisch bildreichen Spiel erfährt der Rezipient eine Reihe von nicht realisierten Versprechungen Europas wie dessen ambigue Bilder; er weiß schließlich, was Europa nicht ist oder nicht sein soll. Was er jedoch zu erfahren wünscht, ist das, was Europa aus der Sicht der interkulturell profilierten Figur sein oder tun sollte. Daher lassen sich die Europa-Bilder nicht als strenge und realisierbare Zukunftskonzepte auffassen, sondern mehr als Bilder, welche die Europäisierung individueller Vorstellung ref lektieren. Diese Vorstellungen konstruieren auch die Bezüglichkeit von Europa und Heimat. Die Lektüre hat gezeigt, dass individuelle Erfahrungen eine geographisch-territoriale Bestimmung der Heimat an einem Fixpunkt der Herkunft und des Ursprungs grundsätzlich erschweren; vielmehr gestalten sie Heimat in der Sprache zu einem imaginieren Ort, an dem Geschichte und Gegenwart gleichzeitig wirksam zu sind. Diese Gleichwertigkeit ermöglicht einen Wechsel, welcher der interkulturellen Profilierung der Figur und deren Heimat nur dienlich sein kann. Literarische Konstruktionen dieses Wechsels konnten auf der einen Seite die Auffassung von Heimat als einen scheinbar ortsfesten und singulären Raum widerlegen und auf der anderen die These belegen, dass Heimat als Erinnerungsort verwahrt und als Erfahrungsort gestaltet werden kann. So wurde der kohäsive Ort der Heimat auch als geistiges und kulturelles Konglomerat beschrieben. Die Überlegungen über Heimat als Erinnerungs-, Erfahrungs- und geistig-kulturellen Raum wurden in und durch Sprache dargestellt. Ihre Darstellung beruht auf der Aufforderung nach Alternativmodellen für ein Hei-

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mat-Verständnis hinsichtlich veränderter Wirklichkeitskomplexe. Sprache als ein ästhetisches Alternativmodell unterstützt nicht nur die These über die Plurikulturalität der Heimat, sondern ermöglicht auch, Heimat, Sprache und Kultur in ihrer Reziprozität zu betrachten. In solch einem Verhältnis offenbaren die Poetiken der Heimat auch deren interkulturelles Potential. Der literarische Diskurs des deutsch-iranischen Migrationsgedächtnisses stellt ein Repertoire von Motiven und Symbolen zur Verfügung, die auf die interkulturelle Profilierung der Heimat anspielen. An ihnen konnten sich die Lesarten von Heimat als Gedächtnisort, als Erinnerung, die das Gedächtnis an den gelebten Raum freigibt, und als Vorstellung über das Gestalten entwickeln. Diese Lesarten spiegeln auch eine nie endende Suche wider. Heimat wurde in ihrer doppelten Bedeutung begründet. Einerseits geben erzählte Erinnerungen der Heimat eine bestimmte Form. Andererseits entwickelt sich Heimat in der Verf lechtung individueller Erfahrungen in kulturellen Umwandlungen. Die poetische Gestaltung der Heimat war eines der Themen in Kermanis Große Liebe. Hier erfuhr Heimat eine ambigue Semantisierung in der Erzählwelt der Jugendliebe, in der die Metapher Land der Lieblingslektüre und die Geburtsstadt in einer Relation zueinander gesetzt wurden. Was im Fokus dieser Relation stand, war die Erkenntnis darüber, dass das Liebes-Motiv die Heimat les- und interpretierbar macht. Aus der Analyse ging dann die These über den polysemen Ort der Heimat auf der Folie der Mystik hervor. Wirklichkeitsnah und pragmatisch war das Phänomen des Heimat-Werdens in Farsaies Roman Eines Dienstags beschloss meine Mutter Deutsche zu werden in einem unmittelbaren Zusammenhang mit Migration. In dieser Variante der Heimat-Konstruktion kommunizierten die Generationen der Eltern und Kinder über ihre jeweils einen anderen Bezug zur Heimat. Selbst in der Kindergeneration, vertreten durch Roya und Ryan, ließ sich der Heimat-Bezug als unterschiedlich auffassen. Die Verherrlichung der historischen Heimat durch die Vater-Figur stand ihrer Ablehnung durch die Figur der Tochter entgegen. Die Mutter-Figur hingegen traf die pragmatische Entscheidung durch den Bezug zu Kindern einerseits, durch die Bereitschaft zur Einbürgerung anderseits. Dass ihr Letzteres verweigert wird, sollte als Kritik an der herrschenden Ordnung betrachtet werden. Den Generationen gemeinsam ist jedoch, dass in ihnen familiäre und soziale Verhältnisse miteinander so verf lochten sind, dass keine ihrer Mitglieder nun in der Lage ist, einen singulären Heimat-Ort auszumachen. Auf die Verf lochtenheit von Erinnerungen und Wünschen ist das Augenmerk von SAIDs Ich-Figur und TORKANs Hauptfigur gerichtet. Die historische und die vorstellbare und noch zu gestaltende Heimat wurden in der Schreib-Szene zueinander in Beziehung gesetzt, aus der schließlich der Erinnerungswert der historischen Heimat durch Gerüche, Emotionen, Geschmäcke, Empfindungen und der Daseins-Wert der entdeckten Heimat durch Sprache hervorgingen. Als besonders interessant bei dieser Variante konnte sich, ähnlich wie in der Frankfurter Trilogie durch Hans und Marjam, die Umkehrung der Perspektive auf das Eigene und Fremde erweisen. Der Wechsel des Referenzbereichs führte dazu, dass nicht München oder Hamburg, sondern Teheran als fremd gilt. Hans galt Frankfurt als fremd, Marjam Teheran. Interessant ist die Umkehrung der Perspektive deshalb, weil sie die ontologische Setzung des Eigenen und Fremden relativiert. Genau gegen die ontologische Setzung argumentiert Falakis männliche Hauptfigur in Carolas andere Tode insofern, als sie mit Hamburg interkulturelle Verhältnisse konstruiert. In der Hinsicht ließ sich Falakis Wasser-Symbolik für Heimat mit der Symbolik des Mauerfalls in Selam Berlin zusammenbringen. Bei-

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de spielten auf Heimat als verhandelbaren Ort an. Die interkulturell profilierte Figur wurde hier in der Übergangsphase der Wiedervereinigung und des binnendeutschen Wandels verortet. Aus der Interpretation dieser Symbolik wurde die Erkenntnis über den Wandel und die Heterogenität des Heimat-Verständnisses an einem einst geteilten, nun wiedervereinten Land gewonnen. Der literarische Diskurs der Heimat im deutsch-iranischen Migrationsgedächtnis ref lektierte auf die kulturellen Transformationen und ihre Verf lochtenheit mit der politischen Geschichte. Er konnte dabei die scheinbare Diskrepanz zwischen Heimat und Migration verdeutlichen und diese insofern relativieren, als sie Alternativmodelle der Heimat-Konstruktionen vor dem Hintergrund des Wirklichkeitskomplexes der Heimat vorstellten. In der Auffassung über die plurikulturelle Heimat zeigte sich ein mögliches Modell und bildete das Motiv in Almanya und Salami Aleikum. Hier wurde Heimat über ihre historische und erinnerungswürdige Bedeutung hinaus in einen Kontext der Begegnung, Verhandlung und Gestaltung versetzt. In den Figurengesprächen zeigte sich die Auffassung über Heimat als vorherrschend und zukunftsweisend. Die Mischung von Erinnerungen und Erfahrungen, so die zentrale Überlegung, entwickelt Heimat nicht zwingend zu einem teilbaren Raum von Her- und Ankunft, sondern zu einem Raum von Kohäsion. Wenn im zweiten Abschnitt dieses Kapitels Europa und Heimat unter dem Aspekt der Entterritorialisierung zusammengeführt wurden, so konnte die Lektüre belegen, dass auch Heimat aus der Figurenperspektive an keinem geographischen Fixpunkt verortet werden kann. Es wurde klar, dass Heimat im Gedächtnis der Erzählwelt nicht zwangsläufig einen mit der außertextuellen Wirklichkeit korrespondierenden Referenzbereich vorzuweisen braucht. Eine Reihe von Motiven (wie etwa die Islamische und Französische Revolution, die Elbe und das Kaspische Meer) konnten lediglich in der Erzählwelt zueinanderfinden. Nur hier bildeten sie einen Referenzbereich von Erinnerungen und Erfahrungen. Daher gilt die Erzählwelt als Produkt subjektiven Gestaltens. Die subjektiven Versuche zur Verotung und Gestaltung der Heimat vollziehen sich in einer bildreichen Poetik und sind auch deshalb in der literaturwissenschaftlichen Lektüre interessant. Die Poetiken der Heimat belegen zweierlei. Erstens: Die Metaphern und Symbole, die den sogenannten Heimat-Verlust inszenieren, unterscheiden sich im Hinblick auf Verlusterfahrungen der deutschen und der iranischen Immigranten inhaltlich kaum voneinander. Selbst dort, wo ein Unterschied zu bemerken ist, zeigt sich dieser vielmehr auf der Oberf läche der Begriffsauswahl und weniger im poetischen Inhalt. Zweitens: Als unterschiedlich gelten aber der Zeitfaktor und die Sozialstruktur, die im Deutschland der ersten Hälfte und im Iran der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zum Heimat-Verlust führte. Während auf der einen Seite die Ideologie des Nationalsozialismus, ihre Umsetzung und die beiden Weltkrieg Gründe der Auswanderung ausmachten, waren es auf der anderen Seite die Islamische Republik und der Irak-Iran-Krieg. Ihre Ähnlichkeit finden die Hintergründe der Auswanderung jedenfalls in der Ideologie, Politik und im Krieg. Literarische Ref lexionen über diese Aspekte können sich nicht mit dem homogenisierenden Begriff Migrationsliteratur erfassen lassen, zumal sich das deutsch-türkische Migrationsgedächtnis, auf dessen Kontext der Begriff zurückgreift, grundsätzlich andere Migrationserfahrungen enthält. Der Begriff Migrationsliteratur betrachtet literarische Ref lexionen auf das Thema Migration in ihrer Kausalität: Die Bewegung vollziehe sich stets von einem Ort des Ursprungs zu einem des Gast-Seins. Herkunft und Ankunft gelten dabei als

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vorprogrammiert. Der Akteur dieser Bewegung sei am Ort der Herkunft ein Einheimischer, am Ort der Ankunft aber ein Fremder. So war es zu Beginn und so bleibt es noch nach mehr als einem halben Jahrhundert. Der Begriff Migrationsliteratur berücksichtigt die Veränderungsprozesse nicht, weil er den Blick auf Ursprung und Ziel, Herkunft und Ankunft, Deutschland und Nicht-Deutschland fixiert. Das, was zwischen diesen Polen geschieht, wird von der begriff lichen Reichweite erfasst. Die Gesamtheit sozialer und kultureller Prozesse, die ineinandergreifen, miteinander korrespondieren oder sich voneinander distanzieren, finden im reduktionistischen Bedeutungsreservoire dieses Begriffes keine Anwendung. Hingegen weist der literarische Diskurs des deutsch-iranischen Migrationsgedächtnisses Konstruktionen auf, die zwar auf das Persische und Deutsche Bezug nehmen, aber indem diese Kulturen erst in den Perspektiven der Figuren auf Erinnerungen und Erfahrungen erlebbar werden, werden sie selbst zum Thema. Durch Figurenkonstellationen werden die Kulturen des Persischen und des Deutschen perspektivisch geordnet und zueinander abwechselnd in Beziehung gesetzt. Dass das Eigene und das Fremde im deutsch-iranischen Migrationsgedächtnis erst in den 1980er Jahren konfiguriert und untergraben werden müssen, zeigt, dass es sie für die Figuren, die an diesem Gedächtnis partizipieren, per se nicht gegeben hat. Die literarische Schilderung dieser Konfiguration hat die Relativierung der Beziehung des Eigenen und Fremden deutlich gezeigt. Im literarischen Diskurs des deutschen-iranischen Migrationsgedächtnisses verortet sich die Figur des Migranten, selbst wenn sie sich Fremde nennt, nicht am Rande, um von hier aus als ein abgeschiedener Teil sozialer Interaktionen zu fungieren. Sie dringt von der Peripherie in das Zentrum hinein und mischt sich in die politischen und sozialen Strukturen ein. Damit geht auch ihre interkulturelle Profilierung einher. Der literarische Diskurs des deutsch-iranischen Migrationsgedächtnisses begründet, dass Migration als nur ein kulturelles Phänomen neben einer Vielfalt anderer Phänomene bezeichnet werden kann. Deshalb sollte der literaturwissenschaftliche Diskurs die Poetiken der Migration nicht an einem Fixpunkt der Geschichte, sondern im Rahmen kultureller Transformationen führen. Die Poetiken der Migration in einem literaturwissenschaftlichen Diskurs des Kulturellen zu erfassen, sollte bewirken, von der Idee, in Migration und Kultur eine Kausalität zu sehen, Abstand zu nehmen. Kausalitäten verfestigen kulturelle Verhältnisse. Kulturelle Verhältnisse sind aber bei Weitem keine Entitäten. Das Denken jenseits der Vorstellung über Kausalität von Kultur und Migration könnte vielleicht auch bewirken, nach Kohäsionen kultureller Verhältnisse Ausschau zu halten, denn an diesen Kohäsionen, seien sie durch Differenzen, seien sie durch Ähnlichkeiten entstanden, können Netzorte ausgemacht werden, die eine interkulturelle Lesart von Kultur nicht nur herausfordern, sondern sie im bestellen Falle auch ermöglichen.

Epilog Das Weltbild der Moderne umfasst mit dem Begriff Zeitgeist Versuche, die Denkweisen und Eigenart einer bestimmten Epoche zu vergegenwärtigen. Sie manifestieren sich in einem Fundus an Metaphern, d.h. in einer Bildlichkeit, die in diesen Versuchen eingesetzt wird. Ästhetische Darstellungsformen des Zeitgeists gestalten die Welt- und Selbstbilder der Kultur literarisch. Die Grundform dieser Ästhetik sieht die Literaturwissenschaft im Erzählen. Die Studie Narrative kultureller Transformationen setzte sich daher zum Ziel, im literarischen Erzählen als Medium der Kulturerzeugung die ausgewählten Artikulationsformen, an denen sich die Welt- und Selbstbilder der Kultur seit der Moderne ablesen lassen, auszuarbeiten. Die Auswahl beschränkte sich auf Identität, Europa, Heimat und Sprache. Damit richtete die Studie den spezifischen Blick auf Erzählungen, die das kulturelle Gedächtnis Deutschlands und Irans lesbar machen und begründete, dass Migration an den Netzorten dieses Gedächtnisses lediglich eine der epochalen Komponenten der Artikulationsformen ausmacht, auf die der Zeitgeist keineswegs reduziert werden darf. Somit wurde Reduktionismus als Kriterium vorgestellt, das die Kritik an dem Begriff Migrationsliteratur im Wesentlichen legitimiert. Zum Reduktionismus verleitet dieser Begriff, weil er diffuse und vielfältig interferierende Wechselwirkungen im Sinne eines linear und kausal verlaufenden Einf lusses vereindeutigt. Hingegen befasste sich die Studie mit diesen Wechselwirkungen und zeigte, dass die Literatur im Gedächtnis des Kulturellen ihre eigenen ästhetischen Formen entdeckt und selbst ein kulturelles Gedächtnis stiftet. Die Studie widmete sich der Analyse einer Literatur, die im Diskurs der Literaturwissenschaft generell mit dem Begriff Migrationsliteratur bezeichnet wird, und zeigte dabei verschiedene Problembereiche in der Wirkungsgeschichte dieses Begriffs auf. Die Problematik des Begriffs wurde in Kategorisierung, Exklusion, Reduktion, Homogenisierung und Kausalität betrachtet. Durch die kulturtheoretische Auseinandersetzung mit dem Begriff Migrationsliteratur in seiner Entwicklungsgeschichte wurde nachgewiesen, dass er in den Diskursen des Kulturellen nur im Sinne einer Definition ex negativo zu verstehen ist, weil er zuallererst angibt, was dem Bereich einer deutschsprachigen Literatur nicht zugehörig ist. Die Definition ex negativo wird zwar durch die Begriffskette ›Beitrag zur deutschen Literatur‹ gewissermaßen relativiert, behält aber ihren exkludierenden Charakter bei. Thematische Schwerpunkte, von denen die vermeintliche Nicht-Zugehörigkeit abgeleitet werden sollte, waren in erster Linie Identität, Europa, Heimat und Sprache. Sie wurden als Narrative vorgestellt, an denen Grenzen der kulturellen Exklusion und Inklusion gebildet und aufgezeigt werden. Der Zusammenhang mit Europa konnte zum einen durch dessen Stellenwert im Weltbild

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der dritten Generation iranischer Intellektueller hergestellt werden und zum anderen durch dessen Bedeutung in der deutschsprachigen Literatur seit dem 18. Jahrhundert. In den Europa-Diskursen der deutschsprachigen Literatur wurde die thematische Zugehörigkeit der genannten Bereiche im Hinblick auf die kulturelle Identifikation keineswegs bestritten; als ebenso unbestritten gilt weiterhin aber auch die Tatsache, dass Identität, Europa, Heimat und Sprache keine Ontologie bilden, vor allem dann nicht, wenn der literarische Diskurs der Migration diese Bereiche in das Reich der Sprache versetzt. Es konnte folglich zwischen ihnen auch keine scharfe Trennlinie gezogen, sondern die Tatsache in den Vordergrund gerückt werden, dass im literarischen Diskurs der Migration zwischen Identität, Europa, Heimat und Sprache transmissive Verhältnisse existieren, welche die Bildung kultureller Entitäten, aus denen der Begriff Migrationsliteratur seine Deutungshoheit gewinnt, geradezu erschweren. Zum Nachweis dieser These wurden Korrelations- und Kohäsionsvarianten ausgearbeitet, die Differenz zwar als notwendiges Kriterium eines interkulturellen Diskurses bestätigten, zugleich aber die Bedeutung eines anderen Kriteriums, nämlich Ähnlichkeit hervorbringen. So konnte gezeigt werden, dass der Begriff Migrationsliteratur seine Legitimität lediglich aus dem Bereich der Differenz gewinnt; durch Ähnlichkeit wird dieser Begriff mit einer Denkweise konfrontiert, die dessen Auslegung ein neues Gebiet eröffnet, auf dem er aufgrund seiner Entwicklungs- und Wirkungsgeschichte kaum weiterbestehen kann. Das Verhältnis von Differenz und Ähnlichkeit wurde im Migrationsgedächtnis hergestellt und durch Literatur und Film auch intermedial erörtert. Das Ergebnis zeigte sich darin, dass Migration als kein selbständiges Thema außerhalb der Kultur begriffen werden kann; im Gegensatz konnten an ihr Motive rekonstruiert werden, die differierende Erinnerungen und ähnliche Erfahrungen des Kulturellen zueinander in Beziehung setzen. Die Koexistenz von Differenz und Ähnlichkeit im kulturellen Gedächtnis der Migration wurde mit dem besonderen Schwerpunkt auf dem deutsch-iranischen Migrationsgedächtnis nachgewiesen. Unter der Prämisse Erzählung als Grundform von Kultur und ausgehend von den Theorien über Textualität des Films und Lesbarkeit des Bildes konnte ferner nachgewiesen werden, dass sich das Instrumentarium einer kulturwissenschaftlichen Narratologie auch auf das Medium Film anwenden lässt, obwohl es diesem Medium nicht um eine Schreib-, sondern um eine Darstellungsweise geht. Mit dem Begriff Schreib-Szene wurde das Verhältnis zwischen Schreiben und Darstellen methodisch hergestellt. Die Frage danach, ob und inwiefern Ref lexionen über Wirklichkeitserfahrungen unter Berücksichtigung medialer Andersartigkeit tatsächlich anders sind, wurde durch die eingehende Analyse der Erzählwelt beantwortet. Die Analyse hat gezeigt, dass bei der Interpretation der Erzählwelt im Film und Text sich Schnittstellen ausmachen lassen, die ungeachtet der medialen Spezifizität durch erzähltheoretische Modelle erfasst und beschrieben werden können. Die Perspektive der (Haupt-)figuren erwies sich hierbei nicht nur erzähltechnisch, sondern auch erzähltheoretisch als ertragreich. Erzähltechnisch eröffnete sie eine Innenperspektive der ausgestatteten Erzählwelt. Erzähltheoretisch erlaubte diese Innenperspektive, die Migranten-Figur als keine Sonderfigur des Kulturellen zu betrachten, sondern in ihr einen Akteur zu entdecken, der am Gewebe des kulturellen Gedächtnisses partizipiert. Im Gewebe des kulturellen Gedächtnisses wurden die Figur des Migranten und die literarische Formen der Kultur miteinander in Beziehung gesetzt. Das Ergebnis dieses In-Beziehung-Setzens zeigte sich im Verständnis der Figur als Gedächtnis- und Erinnerungsträger der Kultur. Die Eigen-

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schaft dieser Figur ist ihre interkulturelle Profilierung. Dieses Verständnis erschwerte dann die Fixierung der interkulturell profilierten Figur auf einen außertextuellen Ort des Ursprungs, der Herkunft und der Nationalität. Erschwert wurde die Fixierung dieser Figur auch durch die Ästhetik des transmissiven Verhältnisses von Differenz und Ähnlichkeit. In der interkulturell profilierten Figur eine mono-kulturelle Repräsentationsfigur auszumachen, würde bedeuten, den literarischen Ort kultureller Ref lexionen einem Kulturenzwang der Differenz zu unterwerfen. Als Gegenargument des Kulturenzwangs durchzog die Analyse über lokale und temporäre Vorläufigkeit der identitätsstiftenden Lebenszustände der interkulturell profilierten Figur die Studie, wobei nicht mehr von dem irreführenden Zustand der Kultur gesprochen wurde, sondern von deren Beweglichkeit. Als Akteur der Bewegung wurde die interkulturell profilierte Figur erfasst. Bei der Interpretation literarischer Formen der Beweglichkeit standen die Fragen im Fokus, welche Gründe die Bewegung der Migranten-Figur auslösen, wie diese sich bewegt, was sie bei ihrer Bewegung bewirkt, wie sie dabei zu einer interkulturell profilierten Figur avanciert und wie die Folgen ihrer Entwicklung in der Erzählwelt dargestellt werden. Als herausragend hat sich das Kriterium der Wirkung gezeigt, denn es verhalf, Erkenntnisse über eine Erzähltechnik zu gewinnen, welche die These über die Poetik der Migration überhaupt begründen konnte. An dieser Poetik konnte nämlich beschrieben werden, dass im deutsch-iranischen Migrationsgedächtnis die Kausalität der Migrationsverhältnisse kaum eine Rolle spielt. Dass geographische Fixpunkte existieren, steht außer Frage. Dass es Migration gibt und dass sich Literatur für sie auch interessiert, wurde nicht bestritten. In Frage gestellt wurde aber, ob der Begriff Migrationsliteratur weiterhin über die Legitimität verfügen sollte, den literarischen Diskurs des kulturellen Gedächtnisses auf einen ihrer Aspekte zu reduzieren und diesen ontologisch festzulegen. Die Annahme über Literatur als Gedächtnis rückt die Frage nach der Modellierung der Erzählwelt mit Blick auf Raum und Zeit des Erzählten in den Mittelpunkt und verortet literarische Gestaltungsvarianten des Gedächtnisses in einem pluralen Verhältnis, das in der Erzählwelt national und international, einsprachig und mehrsprachig, individuell und kulturell wie personen- und generationsbedingt zugleich ist. Dieses Verhältnis wird in der Poetik der Migration durch die miteinander korrelierenden Narrative hergestellt, mit denen sich das Ende des zweiten Kapitels, ausführlicher aber das dritte und vierte Kapitel auseinandergesetzt haben. Während der Begriff Migrationsliteratur vor dem Hintergrund seiner Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte Definitionen der Migration und der kulturellen Zugehörigkeit deren Akteuren vorgibt, spielt das kulturelle Gedächtnis der Migration auf individuelle wie kulturelle Konstruktionen der Migration an und zeigt auf, wie variabel solche Konstruktionen bei den Fragen nach Identität, Europa, Heimat und Sprache sind. Im kulturellen Gedächtnis erweist sich Migration nicht als Prozess, der zu seiner Realisierung zwangsläufig geographische Fixpunkte benötigt. Europa-Berührung zeigte beispielhaft, die mentale Hinwendung zu Europa gehe nicht mit der geographischen Grenzüberschreitung zusammen und brauche ihr auch nicht zu entsprechen. An der Metapher der Europa-Berührung zeigt sich das Kriterium der Kohäsion individueller und kultureller Identifizierung besonders. Die These über diese Kohäsion ermöglichte die interpretatorische Verlagerung von Migration von einem essentialistischen Ort des Kulturenzwangs hin zu der Perspektive kultureller Transformationen. Das reziproke Verhältnis von Kultur und Migration wurde darin begründet, dass kulturelle Umwandlungen Migration hervor-

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bringen, dass Migration zu kulturellen Veränderungen führt und diese sich wiederum an Migration ablesen lassen. An diesem reziproken Verhältnis wurde deutlich, dass Identität, Heimat und Sprache zur individuellen und kulturellen Selbstvergewisserung dienen. Doch hat sich das Verständnis über sie und ihre qualitative Rolle bei der individuellen und kulturellen Identitätsarbeit im Verlauf ihrer Geschichte verändert. Wenn ich meine Analyse der Identität und Heimat an die Diskurse des Kulturellen anknüpfte, so verfolgte ich das Ziel, das reziproke Verhältnis von Identität, Heimat und Kultur in Prozessen ihrer Umwandlung zu verdeutlichen. In der Interpretation suchte ich den Anschluss an literarische Auseinandersetzungen mit diesen Themenbereichen in der deutschsprachigen Literatur seit der europäischen Moderne. Dass sie auch für den literarischen Diskurs der Migration konstitutiv sind, wurde als Argument zur Bestätigung des Reduktionismus-Vorwurfs ausgearbeitet. Hinzukamen auch die Metaphorik der Sprache und die Metaphern in der Sprache, die Veränderungsprozesse umso deutlicher hervorheben konnten. Die Metapher des Wassers, des Schaufensters zur Welt, des Flusses und des Chamäleons sowie die Inszenierung des Untergangs der Republik können hier wiederholt werden. Ihnen gemein ist, dass sie Veränderungen, seien sie sozial, seien ideologisch oder politisch, je auf eigene Weise darstellen und in ihren Darstellungen sowohl Selbstkritik als auch Impulse zu gesellschaftlichen Ref lexionen zur Verfügung stellen. Ihnen gemein ist aber auch die Sensibilisierung für plurikulturelle Lebensformen als Erfahrungsbereiche des modernen, global denkenden und handelnden Individuums. Die Auseinandersetzung mit dem literarischen Diskurs des deutsch-iranischen Migrationsgedächtnisses führte zu der Erkenntnis, dass der Begriff Migrationsliteratur nach dem Prinzip der Definition ex negativo grundsätzlich exkludierend und reduzierend wirkt und insbesondere im Hinblick auf die Positionierung der Figuren die Polyperspektivität und mit dieser auch die Mehrdeutigkeit literarischer Erzählwelten zugunsten einer ontologischen, fixen und außerliterarischen Welt widerlegt. Er könnte lediglich als Prinzip einer Isotopie betrachtet werden, die eine einheitliche Lektüre fordert und zu einem Sammelbegriff wird, der verschiedene semiotische Phänomene abzudecken und im Lektüreablauf eine generelle Kohärenz herzustellen und diese mit der Gesellschaft der außertextuellen Wirklichkeit in eine harmonische Beziehung zu setzen glaubt. Als ein solcher Sammelbegriff erklärt Migrationsliteratur die verschiedenen, vom Horizont des monokulturell gefangenen Rezipienten abweichenden Formen literarischer Gestaltung des spezifischen Themas Migration für zweitrangig. Diese Wirkung erzielt der Begriff deshalb, weil er die Figur des Migranten zunächst auf ihre Geschichte reduziert, diese Geschichte dann phantasievoll fixiert, aus dieser Phantasie einen Repräsentationscharakter gewinnt und sie schließlich gemessen an seinem eigenen Horizont kulturalisiert. Hierbei blendet der Begriff die Wirkung dieser Figur in der Jetztzeit der Erzählung aus und ignoriert die Perspektiven der Erzählwelt auf die Veränderungsprozesse. Die Strategien der Kulturalisierung führen dazu, dass die Figur zugunsten kultureller Bestimmungskriterien des Rezipienten vereinnahmt wird. Ferner verursachen sie nicht nur die semantische und figurative Projektion des Migranten und des Fremden, sondern rechtfertigen auch den Anspruch auf die ontologische Fremdheit. Die Kulturalisierung der Figur hat im literaturwissenschaftlichen Diskurs der Migration weitreichende Konsequenzen. Sie versperrt nämlich den Blick auf die Wechselwirkung von Migration und Kultur und ignoriert kulturelle Transformationen, auf

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welche die Literatur in ihren Diskursen anspielt. Dass die Figur im deutsch-iranischen Migrationsgedächtnis – aber nicht nur hier, wie die Vergleiche auch gezeigt haben – um ihre kulturelle Identifikation bemüht ist und diese ebenfalls in der Sozialstruktur der Erzählwelt fordert und so auf die Gesellschaft auch zurückwirkt, vermag dieser Sammelbegriff nicht zu erfassen. Dabei haben Figuren wie Hassan, Hans, Victoria und Marjam in der Frankfurter Trilogie, Hasan in Selam Berlin, Sima in Eines Dienstags beschloss meine Mutter Deutsche zu werden, Canan und Cenk in Almanya, Mohsen und Ana in Salami Aleikum veranschaulicht, wie stark sich plurikulturelle Formen individueller Lebensgestaltung in ihrem Dasein widerspiegeln. Ihre Daseinsform widerlegt die Amalgamierung kultureller Identitäten sowie den Anspruch auf Macht und auf die Unterdrückung kultureller Diversität. Innerhalb dieses Bedeutungsreservoirs wird Migration mit dem Begriff Migrationsliteratur stillschweigend zu einer Störung nationaler Organisationsformen. Das Manko des Begriffes Migrationsliteratur in der literarischen Repräsentation dieser Organisationsformen besteht in der Semantisierung von Unterscheidungsmerkmalen als Trennungsmerkmalen. Sie legt die Konfrontation von Norm und Abweichung zugrunde und reduziert die kulturelle Identitätsarbeit auf die Achse von Herkunft und Ankunft, anstatt sie als Recht jedes Individuums bei seiner sozialen und kulturellen Identifikation zu begreifen. Von dieser Warte als Ursprungsform der Identität aus entwickelt der Begriff seine Dominanz. Die internationale Republik der Autoren als möglicher Ort interkultureller Schreibweisen stellt sich begriff lich, symbolisch und inhaltlich gegen diese Dominanz. Das dritte Kapitel suchte Anschluss an die Identitätsdiskurse der Moderne und zeigte, dass sich Identität als literarische Topik keineswegs als Spezifikum begreifen lässt, an dem sich die sogenannte Migrationsliteratur auf eine andere, besondere Weise profilieren könnte. Die Beweisführung hierfür erfolgte im Rahmen der Diskussionen über poetologische Versuche der Identitätsarbeit und beschrieb, wie die Identitätsarbeit unmittelbar vom spezifischen Chronotopos besonderer Momente der Narration abhängt. Auf die Beschreibung solcher Momente zielten die Lesarten des kulturellen Gedächtnisses ab und haben in ihm dif ferierende und ähnliche Momente der kulturellen Identifikation ausgemacht. Ihr Spannungsfeld gewann seine Dynamik durch das Ineinandergreifen von Erinnerungen und Erfahrungen in der Jetztzeit der Erzählung. Dass weder differierende noch ähnliche Momente als absolut und gegeben aufgefasst werden sollten, zeigte die Analyse am Beispiel Europa mit Hilfe von Metaphern der Berührung und Begegnung. Auf klärung und Freiheit, das soziale Miteinander und das dieses beherrschende Kapital, die Meinungsfreiheit und die staatliche Kontrolle, das ›Diktat der Zeit‹ und der Wunsch nach Veränderungen waren diejenigen Aspekte, die sich im Gedächtnis von Figur und Kultur als identitätsstiftend herauskristallisiert haben. Ihre Konstruktion in der Erzählwelt erzeugte eine Dialektik, in der Ähnlichkeiten nicht zugunsten der Differenzen verschleiert, sondern mit Hilfe von poetischen Mitteln in Szene gesetzt wurden. Die Inszenierungen widerlegten die Annahme über fertige Konzepte einer kulturellen Identität. Die nie endende Suche wurde als poetisches Mittel vorgestellt, an dem die unabgeschlossenen Prozesse individueller und kultureller Identifikation beschrieben wurden. Suche impliziert also zweierlei: Sie stellt ins Zentrum, dass die Identitätsarbeit nie vollendet wird, sondern Veränderungsprozessen folgt. Veränderungsprozesse rücken das Ziel der Suche immer wieder in die Ferne und lassen sie als unvollendet erscheinen. Die poetische Gestellung des Motives Suche hat für den literaturwissenschaftlichen Diskurs der Identität Kon-

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sequenzen. Die Disziplinen der Humanwissenschaften bieten in der Identitätsfrage keine einheitliche Antwort; aber zwei Antwortalternativen dominieren: Die erste geht von der Festigkeit der Identität aus, während die zweite auf ihren Prozesscharakter verweist. Mit dem Motiv der Suche lässt sich die zweite Variante für den literaturwissenschaftlichen Diskurs gewinnen. Identität als ein fertiges Produkt zu betrachten, bedeutet die Fixierung der Figur in den gegebenen und unveränderbaren Umständen. Demnach könne die Figur die Grenzen ontologischer Gegebenheiten per se nicht überschreiten und bliebe stets Figur des Außen und in dieser Funktion auch eine aus der Fremde. Aber genau das Gegenteil wurde nachgewiesen: Die Erzählungen haben mit ihren Figuren Prozesse veranschaulicht, die mit dem Motiv Suche als unabgeschlossen betrachtet werden. Die Figur in diesen unabgeschlossenen Prozessen verortet zu wissen, bedeutet, sie als Teil einer stets im Wandel begriffenen Welt zu betrachten. Der Wandel fordert die Welt und die Figur in ihrer reziproken Beziehung heraus. In solch einer Beziehung wird eine Figur nicht einfach geboren, sondern profiliert sich. Sie hat eine Geschichte, verleiht ihr durch das Erzählen von Erinnerungen Ausdruck und setzt diese Erinnerungen mit den Erfahrungen in der Jetztzeit der Erzählung in eine Beziehung. Dabei entsteht auch eine Verunsicherung über bindende Bedeutungen der Geschichte. Das differierende Merkmal der Erinnerungs- und Erfahrungshorizonte wurde zum Anlass genommen, diese Beziehung als interkulturell und die Figur als interkulturell profiliert zu bezeichnen. Derartige Figuren konfrontieren in der Identitätsfrage beide oben genannte Antwortalternativen miteinander und machen Identität zu einem Aushandlungsprozess. Dieser Prozess wurde Identifikation genannt und begriff Identifikation als ein individuell wie kulturell dialogisches Geschehen. Aus der Perspektive der interkulturell profilierten Figuren veranschaulichten die Ref lexionen über das differierende Merkmal der Erinnerungs- und Erfahrungshorizonte, dass die Steuerung der Identifikation insofern Schwierigkeiten ausgesetzt ist, als die Identifikation in den Aushandlungsprozessen stets mit dem Verfall vermeintlicher nationaler Identitäten gleichgesetzt wird. Damit wurde die kulturpessimistische Auslegungsvariante problematisiert, die in der Weltanschauung der interkulturell profilierten Figuren auch auf Widerstand stieß. Wird die individuelle und kulturelle Identifikation als Aushandlungsprozess verstanden, so müsste von einer permanenten Verschiebung von Identifikationsgrenzen ausgegangen werden, was seinerseits die Vorstellung einer dauerhaft stabilen Identität in Frage stellt. Interkulturell profilierte Figuren als Aushandlungspartner haben sich als prädestinierte Akteure zur Bewältigung und Überwindung von Momenten der Verunsicherung und der Angst gezeigt, auch wenn diese Momente historisch begründbar schienen. Dies haben sie nur deshalb tun können, weil sie nie von einem fertigen Muster individueller und kultureller Identität ausgehen. Mit der interkulturellen Profilierung der Figuren wird die Kritik an dem Begriff Migrationsliteratur noch einmal verdeutlicht: Indem er auf der Festigkeit der Identität und auf der Dauerhaftigkeit des Bestehenden beharrt, amalgamiert er die Momente der kulturellen Verunsicherung und benennt die Figur des Migranten als deren Verursacher. Auf diese Weise definiert er die Macht des Kulturellen und ihre Richtung, nämlich gegen die kulturelle Verunsicherung und somit auch gegen deren Akteure. Die Koexistenz und Kohäsion von Erinnerungen und Erfahrungen in der interkulturell ausgestatteten Erzählwelt bildeten die argumentative Ebene im literarischen Heimat-Diskurs. Auch hier wurden zwei scheinbar entgegengesetzte Konstruktionen

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deutlich: Die Heimat wurde einerseits an konkreten Orten verortet; die Festlegung der Heimat an den konkreten Orten wurde aber andererseits widerlegt, so dass schließlich keine endgültige Heimat-Findung erkennbar wurde. Heimat besitzt für die interkulturell profilierten Figuren in der außertextuellen Wirklichkeit kein konkretes Abbild. Dies fand seine Bestätigung in der Ausarbeitung derjenigen Techniken, durch die Heimat von einem scheinbar fixen Ort in das Reich der Sinne und der Sprache versetzt wurde. Diese Verortung der Heimat erfolgt literarisch durch ähnliche Strategien, die auch die ontologische Identitätsbestimmung untergraben hatten. Die Poetiken der Heimat erzeugen in der Erzählwelt eine Symbolik, die exkludierende und inkludierende Prozesse der Heimat-Suche widerspiegelt. Die Beispiele Metamorphose (Zacharieva), Wurzel (SAID), Das Fenster zur Welt (Falaki) und der Untergang der Republik (Allafi), um hier nur einige zu nennen, beschreiben die umfassenden Wandlungsprozesse, Fragmentierungen, Zusammensetzungen und koexistierenden Sinnzusammenhänge, welche die Prozesse der Heimat-Suche begleiten. Die monologische Ich- wie die dialogische Perspektive der Figuren konnten aus der in der Sozialstruktur der Erzählwelt konstruierten Opposition gesellschaftlicher Exklusion und Inklusion Erkenntnisse über die Desiderate der Sozialstruktur gewinnen. Die Frankfurter Trilogie, Selam Berlin, Almanya und Salami Aleikum haben hierzu einen entscheidenden Beitrag geleistet und gezeigt, wie die Konzentration auf die Erzähltechniken eine Interpretation jenseits von Reduktionismus und Homogenisierung ermöglicht. Ihre Figuren nehmen sich als Teil eines lebendigen Geschehens wahr und nicht als Repräsentanten einer europäischen Kultur(be)schreibung. Sie verweisen auf die Möglichkeiten solidarischer Bildung der Sozialstruktur in der Erzählwelt, in der kulturelle Unterschiede zur permanenten Selbstfindung jedes einzelnen Mitglieds beitragen. Die deutsch-deutsche Wiedervereinigung als ein prädestiniertes Beispiel für kulturelle Transformationen legt in der Erzählwelt einerseits das Aufeinanderprallen zweier Kulturen auf dem deutsch(-sprachig-)en Gebiet und andererseits die deutsch-deutsche Vereinigung selbst als problematisches Phänomen von zwei Teilgesellschaf ten, zwei Kulturen offen. Literarische Ref lexionen, die das Aufeinanderprallen und die Wiedervereinigung zugleich beschreiben, haben sich beispielsweise in Selam Berlin und Salami Aleikum aus der Erzählperspektive der Nachgeneration (Hasan und Leyla, Mohsen und Ana) gewinnen lassen. Kennzeichnend für diese Ref lexionen war wiederum ihr Erinnerungswert. Erinnerungen thematisieren die Verf lechtungen von kultureller Identitätsarbeit und Migration in der Gegenwartsperspektive der interkulturell profilierten Figuren und verdeutlichen dabei die Tatsache, dass die individuelle und kulturelle Identitätsarbeit im Gedächtnis der deutsch-deutschen Wiedervereinigung und im Migrationsgedächtnis ein Gewebe erzeugen, an dem Migration nicht allein als Angelegenheit im Außenraum der eigenkulturellen Wahrnehmung betrachtet werden kann. Allen gemein ist das Bemühen um die individuelle Selbstbehauptung und kulturelle Zugehörigkeit, um die Selbstfindung und Eigenlegitimation. Selam Berlin, Almanya und Salami Aleikum führen die individuelle und kulturelle Identitätsarbeit der deutsch-deutschen Vereinigung und der Migration zusammen. Sie stellen das Manko der kulturellen Identifizierung in dem Anschein vor, als geschehe diese in der Perspektive der sogenannten ›Orientalen‹ deutlich bewusster als in der der deutsch-deutschen Akteure der Erzählwelt. Durch die Kontrastierung dieses vermeintlich oppositionellen Verhältnisses relativieren sie die Verbindlichkeit nationalkultureller und repräsentativer Muster der Identität. Die individuelle und kulturelle

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Identifizierung beider Gruppen hebt nämlich auf ein Ziel ab: Sinnstiftung und Selbstvergewisserung im eigenen Dasein. Bei der Beschreibung dieses Prozesses werden in der Modellierung der Erzählwelt schleichende Veränderungsprozesse den scheinbar existierenden Konstanten der Identitätsvorstellung gegenübergestellt. Die interkulturell profilierte Figur lässt Zweifel an der Stabilität der sozialen Struktur auf kommen, indem sie die Struktur mit Reorganisation und mit Dezentrierung der Daseinsverhältnisse konfrontiert. Daher wirkt sie in einer auf Stabilität ausgerichteten sozialen Struktur herausfordernd und trifft auf Ablehnung. Sie konfrontiert das Selbstverständnis diese Struktur mit seiner eigentlichen Problematik, die aus der Figurenperspektive darin besteht, dass es Dezentrierung und Destabilisierung der Verhältnisse gegenüber pessimistisch eingestellt ist und diese grundsätzlich ablehnt. Das im Selbstverständnis der sozialen Struktur stabil erachtete System wirkt jedoch merkwürdigerweise nur bedingt. Der Roman Leyla. Auf der Suche nach Freiheit stellte dar, wie die Stabilität der sozialen Struktur am Beispiel der Geschlechterverhältnisse und des religiösen Zwangs für die interkulturell profilierte Figur zusammenbricht. Die Figur aber besitzt die Fähigkeit, dem System und dessen Zusammenbruch zu entkommen. Sie kontrastiert dabei das Selbstverständnis der Stabilität mit dem individuellen Anspruch der Mobilität und entzieht sich der Stabilität durch Migration. In dieser Opposition werden Homosexualität und religiöse Dominanz zwar in den Kontext der Migration integriert, machen aber bei weitem keine spezifischen Kriterien einer Literatur aus, von der mit dem Begriff Migrationsliteratur gesprochen werden kann; sie stellen ein grundsätzliches Problem postmoderner Gesellschaften dar. Die Auseinandersetzung mit kulturellen Erscheinungen der postmodernen Gesellschaften erfolgt im deutsch-iranischen Migrationsgedächtnis in einem markanten Moment des politischen Gedächtnisses in den ausgehenden sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts und wird durch die Studentenprozesse markiert, denen die Islamische Revolution ein Jahrzehnt später folgt. In literarische Ref lexionen kulturellen Wandels mischt sich die Figur des Revolutionärs und des resignierten Intellektuellen ein. Das Erzählen der Migrationsgeschichte ermöglicht diese Einmischung. Revolution, Migration und Resignation gestalten dabei die Suberzählungen. Ihre Narrative, die sich in das deutsch-iranische Migrationsgedächtnis einschreiben, konstruieren auf der Folie der Französischen Revolution und der deutsch-deutschen Wiedervereinigung einen europäischen Kontext, und zwar durch die Motive Auf klärung und Freiheit als Grundelemente der europäischen Lebensform. Hierdurch wird ein Ähnlichkeitsprinzip im deutsch-iranischen Migrationsgedächtnis konstruiert. Es ref lektiert nicht Themen, welche die Figur von außen mitbringt, sondern die, welche die identitätsstiftenden Ressourcen einer europäischen Idee prägen. Die literarischen Artikulationsformen der kulturellen Errungenschaften der Moderne zeichnen also einen Weg, der von Mikrowelten ausgeht; vom Lokalen und Regionalen her, bis hin in das Nationale und Kontinentale stiften diese literarischen Artikulationsformen das Gedächtnis des Kulturellen. In der Summe der Artikulationsformen bildet Migration einen Aspekt, der den Kulturwandel prägt und von diesem auch geprägt wird. Das Migrationsgedächtnis der Literatur ermöglicht, uns vorzustellen, was geschieht, wenn vorherrschende Kulturen in Frage gestellt und transformiert werden, wenn Regeln und Normen durch andere ersetzt werden bzw. gar verschwinden, wenn soziale und kulturelle Konfigurationen auf kommen, die neue Bedeutungen entstehen lassen; und es hat darüber

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hinaus auch einen analytischen Wert, indem es in dem Sozialen, Historischen, Literarischen, Kulturellen und Symbolischen die Sinnstiftung, Eigenlegitimation und Selbstvergewisserung ermöglicht.

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Narrative kultureller Transformationen

SWR-Bericht mit einem Interview mit Edgar Reitz, 12. April 2012, URL: https://www. youtube.com/watch?v=4YrwO4pwxdk, zuletzt abgerufen am 28. August 2015. Toppa, Alessandro: »Angriff auf das freie denken«, in: Neue Zürcher Zeitung, 12. November 2010. Vitzthum, Thomas Sebastian: »Flüchtlinge müssen deutsche Leitkultur anerkennen«, Interviewe mit Edmund Stoiber, in: Die Welt, 12. September 2015. Weidner, Stefan: »Wortgewaltiger Reibungsverlust. Familiengericht: Said macht den Leser zum Schöffen«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 152 (04. Juli 2001), S. 44. Wettbewerb der 61. Berlinale, 18. Januar 2011, URL:https://www.berlinale.de/media/pdf_ word/pm_1/61_berlinale/50_PM_Wettbewerb_final_18_01.pdf, zuletzt abgerufen am 03. November 2015.

Personenverzeichnis A

Achmatowa, Anna  186 Ackermann, Irmgard  98, 116 Adelson, Leslie A.  19, 37, 102, 109, 110, 120 Akhavan, Navid  305 Al-e-Ahmad, Jalal  330, 332 Alexander der Große  274 al-Halladsch, Mansur  318 Allafi, Mohammad H.  38, 39, 234, 235, 238, 239, 240, 244, 245, 246, 249, 252, 253, 255, 256, 257, 258, 262, 263, 265, 269, 270, 271, 272, 273, 284, 326, 327, 337, 352, 363, 364, 388, 467, 470, 481 Ambrosioni, Maria G.  374 Anz, Thomas  114, 115 Apatride, Jean  104 Askin, Ali N.  304 Assmann, Aleida  60, 63, 150, 151, 152 Assmann, Jan  63 Attar, Fariduddin  317, 318, 321

B

Bachelard, Gaston  78 Bahr, Hans-Dieter  365 Bakhtin, Mikhail  386 Bamberg, Michael  164 Banisadr, Abolhassan  142 Bauman, Zygmunt  28, 459 Beauvoir, Simone de  257 Beck. Ulrich  26 Bergson, Henri  62 Bergsson, Gudbergur  42 Berman, Nina  107, 108 Beyle, Marie-Henri  339

Bhabha, Homi K.  19, 105, 106, 108, 109, 112 Bhatti, Anil  23, 64, 66, 88 Biondi, Franco  92, 100, 131, 132 Blaschke, Bernd  83 Blioumi, Aglaia  162 Blumenberg, Hans  336 Bogdal, Klaus-Michael  12, 43, 336 Böger, Anna  306 Bolaffi, Angelo  95 Böll, Heinrich  205, 431 Bollenbeckt, Georg  336 Breuer, Marita  375 Bromley, Roger  105 Buz, Metin  162

C

Camus, Albert  339, 340 Canetti, Elias  87 Carlyle, Thomas  23 Cassirer, Ernst  62 Chamisso, Adalbert von  88, 99, 100, 171 Chaplin, Charles  445 Chiellino, Carmine G.  58, 59, 94, 98, 130, 131, 198, 232

D

Dal, Güney  30 Dareios III.  274 Derrida, Jacques  124, 156, 159, 167 Dörr, Volker  112, 113 Dschunaid, Abu l-Qasim  321 Düllo, Thomas  130

528

Narrative kultureller Transformationen

E

Eco, Umberto  19, 48, 54, 55, 61, 90, 128, 167 Elias, Norbert  336 Engels, Friedrich  210 Engin, Osman  381 Erincin, Vedat  292 Esselborn, Karl  98, 99, 100, 116

F

Falaki, Mahmood  39, 40, 177, 178, 182, 204, 206, 388, 421, 422, 423, 430, 433, 457, 472, 481 Fanon, Frantz  210 Farsaie, Fahimeh  38, 297, 326, 332, 383, 384, 386, 387, 394, 399, 472 Feltz, Kurt  291 Ferdowsi, Abul-Qasem  441 Fielder, Leslie  26 Flusser, Vilém  93, 94, 97, 102, 184, 189, 252, 381, 389 Fontane, Theodor  235, 367 Foucault, Michel  62, 81, 88, 107 Friedrich III.  139 Friese, Heidrun  150 Fuhrmann, Manfred  334

G

Gadamer, Hans-Georg  75 Gerhard, Ute  89, 93 Gheissari, Ali  330, 331 Goethe, Johann W.  13, 22, 23, 24, 39, 152, 153, 310, 367, 455, 456, 457, 468 Gollwitzer, Heinz  334 Gorki, Maxim  339 Göttsche, Dirk  118, 119 Gottsched, Christoph  115 Grass, Günter  87, 88, 183, 198, 312, 431 Greiner, Ulrich  365 Grimm, Jacob Ludwig Karl  135, 365 Grimm, Wilhelm Carl  135, 365 Gueneli, Berna  304 Gül, Demet  293

H

Habalik, Irena  103 Habermas, Jürgen  77, 95

Hafez, Mohammad Schamseddin  382, 433, 434, 455, 456, 457, 468 Hall, Stuart  15, 19, 27, 123, 124, 125, 126, 130, 131, 152, 167 Hamm, Horst  161 Hardenberg, Friedrich von Novalis  149 Hassan, Ihab  26 Heidegger, Martin  369 Heine, Heinrich  133, 334 Herder, Johann G.  22, 118 Herodot  73 Hesse, Hermann  87 Hitler, Adolf  281, 282 Hoffmann, Ernst Th.  205 Hoffmann, Sandra  42 Hölderlin, Friedrich  181, 309, 367 Homer  342, 343, 347 Horváth, Ödön von  334, 335 Huser, Lily  292

I

Ibn Arabi, Abu Abd Allah  315, 318 Iser, Wolfgang  157, 158, 159

J

James, William  154, 155 Jasper, Bernhard  304 Johnson, Richard  129, 130, 131 Junge, Matthias  239

K

Kaf ka, Franz  343 Kara, Yadé  41, 286, 435, 436 Karim, Persis  364 Kermani, Navid  40, 310, 312, 321, 322, 382, 386, 468, 472 Khayyam, Omar  433, 434 Khomeini, Ruhollah  141, 183, 184, 187, 188, 211, 262, 281, 282 Klotz, Heinrich  26 Kluge, Manfred  199 Kohl, Helmut  95 Kollontai, Alexandra  242 Koschorke, Albrecht  19, 55, 56 Koselleck, Reinhart  26, 121, 336 Koussouris, Rafael  292 Kracht, Christian  184

Personenverzeichnis

Kramer, Jürgen  75 Kreuzer, Helmut  98

L

Lacan, Jacques  155 Laffitte, Jean  339 Lenin, Vladimir  210 Lenz, Siegfried  431 Lessing, Gotthold E.  115, 240 Luhmann, Niklas  80, 136 Lützeler, Paul Michael  15, 18, 19, 26, 27, 85, 86 Luxemburg, Rosa  242 Lyotard, Jean-Francois  26

M

Madjderey, Abdolreza  38, 433, 434 Malinowski, Bronislaw  73, 74 Mann, Thomas  87, 431 Martyn, David  447, 448 Marx, Karl  93, 210, 259 Mayröcker, Friederike  367 Mead, George Herbert  155 Mecklenburg, Norbert  117, 118, 374 Merkel, Angela  95 Merz, Friedrich  76 Milosz, Czeslaw  374 Mitterrand, Francois  95 Mohafez, Sudabeh  88 Montaigne, Michel de  69, 148, 149, 153 Mosaddegh, Mohammad  331 Moschitto, Denis  296

N

Neubauer, Jochen  162, 163, 165 Niavarani, Michael  305 Nietzsche, Friedrich  93, 153, 159, 165 Nizami, Gamal ad-Din Abu Muhammad 316

O

Olearius, Adam  139 Ören, Aras  44, 88, 94, 96, 99 Osterwald, Hazy  291 Oxyartes [Sogdischer Fürst]  274 Özdamar, Emine  121, 199

P

Pahlavi, Mohammad Reza  34, 141, 187, 213, 214, 299, 399 Pahlavi, Reza I.  213, 214 Patrut, Iulia-Karin  108 Paul, Jean  309 Pazarkaya, Yüskel  101 Platen, August von  456 Proust, Marcel  395

R

Raabe, Wilhelm  367 Raddatz, Fritz J.  119 Rasekh, Keramatollah  330, 331 Rawls, John  16 Roxana [Tochter des sogdischen Fürsten Oxyartes]  274 Rückert, Friedrich  456 Rudaki, Abu Abd Allah  316, 441 Rushdie, Salman  21, 22, 23, 97, 117

S

Sachs, Nelly  87 Sadr, Hamid  88 Safranski, Rüdiger  369 SAID [Pseudonym]  33, 34, 35, 36, 37, 38, 40, 42, 87, 170, 172, 173, 175, 177, 178, 179, 180, 181, 182, 183, 184, 186, 187, 188, 189, 191, 195, 196, 197, 198, 199, 200, 201, 202, 203, 204, 205, 206, 210, 220, 226, 232, 233, 234, 239, 241, 252, 255, 268, 284, 285, 299, 326, 327, 332, 337, 338, 339, 342, 343, 344, 345, 347, 349, 350, 351, 352, 356, 380, 381, 386, 387, 388, 389, 391, 392, 394, 395, 397, 399, 404, 405, 407, 408, 410, 416, 417, 418, 420, 421, 449, 450, 451, 452, 453, 454, 455, 456, 457, 458, 459, 465, 466, 468, 469, 470, 472, 481 Said, Edward W.  55, 107 Samadi Ahadi. Ali  41, 438 Samdereli, Yasemin und Nasrin  41 Sarrazin, Theo  76 Sartre, Jean-Paul  257, 339 Sassen, Saskia  110, 111 Schami, Rafik  92 Schamlou, Ahmad  455

529

530

Narrative kultureller Transformationen

Schariati, Ali  205, 210, 218, 219, 247, 332 Schäuble, Wolfgang  76 Scheuerman, William E.  16 Schiller, Friedrich  13, 367 Schmidt, Helmut  95 Schmidt-Schaller, Petra  296 Schnabel, Johann G.  334 Schneider, Jost  85 Schopenhauer, Arthur  72 Schütz, Alfred  74, 79, 80 Schwab, Gustav  343 Schwarzer, Alice  257 Scott, Walter  18 Şenocak, Zafar  442, 445, 446 Simmel, Georg  73, 74, 76, 79 Simon, Maria  375 Sohrewardi, Schehaboddin  318 Spivak, Gayatri Ch.  108 Stumph, Wolfgang  307

T

Tehrani, Jamshid  135, 136 Tezel, Aylinv  291 TORKAN 36, 37, 39, 199, 200, 201, 204, 207, 211, 218, 220, 222, 223, 225, 233, 234, 239, 241, 244, 245, 252, 254, 255, 268, 282, 284, 285, 326, 327, 332, 353, 386, 387, 394, 406, 407, 408, 420, 421, 428, 442, 444, 451, 469, 470, 472

Ü

Üçüncü, Sadi  104

V

Virilio, Paul  75

W

Wagner, Peter  72 Waldenfels, Bernhard  81 Weber, Max  239, 289 Weigel, Sigrid  83 Weinrich, Harald  98, 99, 116 Willkomm, Ernst  334 Wilpert, Gero von  85, 86 Wustmann, Gerrit  33 Wuthenow, Ralph-Rainer  149

Y

Yardim, Fahri  292

Z

Zacharieva, Rumjana  168, 170, 172, 481 Zaimoğlu, Feridun  95, 103, 112, 121 Zetkin, Clara  242 Zielke-Nadkarni, Andrea  161

Literaturwissenschaft Achim Geisenhanslüke

Wolfsmänner Zur Geschichte einer schwierigen Figur 2018, 120 S., kart., Klebebindung 16,99 € (DE), 978-3-8376-4271-1 E-Book: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4271-5 EPUB: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4271-1

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Literaturwissenschaft Rebecca Haar

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Wilhelm Amann, Till Dembeck, Dieter Heimböckel, Georg Mein, Gesine Lenore Schiewer, Heinz Sieburg (Hg.)

Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 9. Jahrgang, 2018, Heft 2: Interkulturelle Mediävistik Januar 2019, 240 S., kart., Klebebindung 12,80 € (DE), 978-3-8376-4458-6 E-Book: 12,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-4458-0

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