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German Pages 304 Year 2017
Julian Osthues Literatur als Palimpsest
Interkulturalität. Studien zu Sprache, Literatur und Gesellschaft hrsg. v. Andrea Bogner, Dieter Heimböckel und Manfred Weinberg | Band 12
Editorial Differenzen zwischen Kulturen – und die daraus resultierenden Effekte – sind seit jeher der Normalfall. Sie zeigen sich in der Erkundung der »Fremden« schon seit Herodot, in der Entdeckung vorher unbekannter Kulturen (etwa durch Kolumbus), in der Unterdrückung anderer Kulturen im Kolonialismus oder aktuell in den unterschiedlichen grenzüberschreitenden Begegnungsformen in einer globalisierten und »vernetzten« Welt. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit »Interkulturalität« erfuhr entscheidende Impulse durch die »anthropologische Wende« in den Geisteswissenschaften und durch das seit den 1970er Jahren etablierte Fach der Interkulturellen Kommunikation. Grundlegend ist dabei, Interkulturalität nicht statisch, sondern als fortwährenden Prozess zu begreifen und sie einer beständigen Neuauslegung zu unterziehen. Denn gerade ihre gegenwärtige, unter dem Vorzeichen von Globalisierung, Postkolonialismus und Migration stehende Präsenz im öffentlichen Diskurs dokumentiert, dass das innovative und utopische Potenzial von Interkulturalität noch längst nicht ausgeschöpft ist. Die Reihe Interkulturalität. Studien zu Sprache, Literatur und Gesellschaft greift die rege Diskussion in den Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaften auf und versammelt innovative Beiträge, die den theoretischen Grundlagen und historischen Perspektiven der Interkulturalitätsforschung gelten sowie ihre interdisziplinäre Fundierung ausweiten und vertiefen. Die Reihe wird herausgegeben von Andrea Bogner, Dieter Heimböckel und Manfred Weinberg.
Julian Osthues (Dr. phil.), geb. 1983, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Bremen. Er studierte Germanistik und Musik an der Technischen Universität Dortmund und promovierte 2016 am Institut für deutsche Sprache, Literatur und für Interkulturalität an der Universität Luxemburg.
Julian Osthues
Literatur als Palimpsest Postkoloniale Ästhetik im deutschsprachigen Roman der Gegenwart
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Inhalt
Einleitung | 9
1. Literatur und Palimpsest | 9 2. Forschungskontext | 12 3. Konzept und Struktur der Arbeit | 15
TEIL I THEORIE : PALIMPSEST UND POSTKOLONIALISMUS 1. Zum Ort des Palimpsests in der Literatur- und Kulturtheorie: Forschungsstand und Desiderate | 21 2. Kleine Kulturgeschichte des Palimpsests | 27
2.1 Pragmatisch-historischer Kontext: Das Palimpsest als eine Erfindung der Krise? | 27 2.2 Metaphorisch-historischer Kontext: Zur Genese des Palimpsests als Metapher | 32 3. Das Palimpsest als postkoloniale Metapher | 37
3.1 Von den postcolonial studies zur postkolonialen Germanistik | 37 3.2 Kultur als Palimpsest | 44 3.2.1 Hybridität, différance, third space: Das Palimpsest bei Homi K. Bhabha | 44 3.2.2 Kultur als Verflechtung. Der Palimpsest-Gedanke bei Anil Bhatti | 51 3.3 Palimpsest und Gedächtnis | 55 3.3.1 Metaphern der Schrift | 56 3.3.2 Gedächtnis im Ausnahmezustand: Das Palimpsest bei Thomas de Quincey | 58 3.3.3 Sigmund Freuds Wunderblock | 60 3.3.4 Diskontinuität, Nichtwissen und die Geschichte der Anderen: Das Palimpsest als postkoloniale Gedächtnismetapher | 64 3.4 Palimpsest und Intertextualität | 70 3.4.1 Gedächtnis und Literatur: Das Palimpsest bei Renate Lachmann | 70
3.4.2 Gérard Genettes »Literatur auf zweiter Stufe«: Postkoloniale Perspektiven auf Hypertextualität | 74 3.4.3 Partizipation, Transformation, Tropik: Lachmanns Intertextualitätsmodell im Kontext von rewriting und Palimpsest | 79 4. Zwischenbilanz: Vom theoretischen Modell zum textanalytischen Konzept. Vorschläge einer postkolonialen Lektüre | 85
4.1 Palimpsest und poetische Alterität | 86 4.2 Palimpsest und rewriting | 87 4.3 Palimpsest und Verschiebung | 89 4.4 Palimpsest und Kontrapunktik | 92
TEIL II LEKTÜREN : POSTKOLONIALE ÄSTHETIK UND PALIMPSEST 1. Grundlagen: Ästhetik und Palimpsest | 97
1.1 Zwischen Reproduktion und Revision oder die Frage nach einem neuen Kolonialroman | 97 1.2 Umkehren, entstellen, verrücken, deplatzieren: Verfahren einer postkolonialen Ästhetik der Verschiebung | 101 1.3 Zwischenbilanz und Überleitung: Zu den drei Analyseebenen | 106 1.3.1 Palimpsest und Figur | 106 1.3.2 Palimpsest und Raum | 107 1.3.3 Palimpsest und Erzählen | 108 2. Palimpsest und Figur: Verfahren der komischen Überzeichnung | 111
2.1 Helden der Entdeckung? Verrückte Figuren in Christof Hamanns Usambara | 111 2.1.1 Hans Meyer: Der Entdecker als Karikatur | 114 2.1.2 Leonhard Hagebucher: Schelm und Underdog | 120 2.1.3 Zwischenbilanz: Merkmale der komischen Überzeichnung | 128 2.2 Der Aussteiger als exzentrische Figur: Christian Krachts Imperium | 130 2.2.1 Zwischen Eskapismus, Exotismus und (Post-)Kolonialismus: Zur literarischen Kategorie des kolonialen Aussteigers | 131
2.2.2 Kolonialismus als Groteske: Das eskapistische Südseeprojekt des August Engelhardt | 137 2.3 Verrückte Ordnung und Strategien der Täuschung: Verdrehte Völkerschauen und schelmische Mimikry | 144 2.4 Wie über den Kolonialismus lachen? Überlegungen zu den Grundzügen postkolonialer Komik | 152 3. Palimpsest und Raum: Symbolische Topographien der Überlagerung und Überschreibung | 159
3.1 »Deutscher Wald in Afrika«. Zur Dekonstruktion eines typisch deutschen Kollektivsymbols in Thomas von Steinaeckers Schutzgebiet | 159 3.1.1 Tacitus postkolonial? | 159 3.1.2 Die Kolonie als Pflanzstätte: Kolonialismus als Kultur | 163 3.1.3 Postkoloniale Lektüre: Canettis Wald | 168 3.2 Deutscher Berg in Afrika: Zur Dekonstruktion deutscher Größe in Christof Hamanns Usambara | 173 3.2.1 Der Kilimandscharo als Kollektivsymbol und seine Verortung im Horizont des kolonialen Imaginären | 173 3.2.2 Am Gipfel der Parodie. Die komische Überschreibung einer Schlüsselszene deutscher Kolonialgeschichte in Afrika | 178 3.2.3 »Fritz-Binder-Berg« oder der Berg als Projekt. Der Kilimandscharo als komplexer Ort der Überlagerung deutscher Geschichte | 184 4. Palimpsest und Erzählen: Die Ambivalenz von Geschichte | 199
4.1 Erzählen als Palimpsest | 199 4.1.1 Von Campe bis Kracht: Das Palimpsest in der aktuellen Forschung | 200 4.1.2 Neu-, Um-, Überschreiben: rewriting als Palimpsest | 204 4.1.3 Rewriting als Palimpsest am Beispiel von Christof Hamanns Usambara | 211 4.2 Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen: Zur Präsenz des Nationalsozialismus | 224 4.2.1 Poetik des Fremden? Uwe Timms Ablehnung einer »Einfühlungsästhetik« im Spannungsfeld zwischen Kolonialismus und Nationalsozialismus | 224 4.2.2 Reinheits-, Rassenwahn und Lagerphantasien in Thomas von Steinaeckers Schutzgebiet | 232
4.2.3 Deutschtümelei und Hitler-Parodie in Christian Krachts Imperium | 237 4.2.4 »Mein Kilimandscharo. Mein Kampf.« Spuren von Nazis im Familiengedächtnis in Christof Hamanns Usambara | 248 Schluss | 259 Siglen- und Literaturverzeichnis | 267
1. Siglenverzeichnis | 267 2. Literaturverzeichnis | 267 2.1 Primärliteratur | 267 2.2 Sekundärliteratur | 270
Einleitung
1. L ITERATUR
UND
P ALIMPSEST
Kein Ende in Sicht: Koloniale Stoffe haben im deutschsprachigen Roman der Gegenwart bis heute nicht an Anziehungskraft verloren. Seit der Jahrtausendwende ist eine beachtliche Zahl an Romanen erschienen, die das lange marginalisierte Thema der deutschen Kolonialvergangenheit literarisch ins Gedächtnis rufen. Nach und nach sind seitdem die Topographien des deutschen Kolonialismus zum Schauplatz von Literatur geworden und haben zu dem beigetragen, was Dirk Göttsche als »literarische[ ] Neuvermessung des Kolonialismus« (Göttsche 2003b: 265) bezeichnet hat: Von ehemals Deutsch-Südwestafrika1 über Deutsch-Ostafrika2, von Togo3 über Sansibar 4 bis in die ›deutsche Südsee‹ (Deutsch-Neuguinea) 5 – bis auf wenige ›weiße Flecken‹ 6 auf der literarischen Landkarte sind die Topographien ehemals deutscher Kolonialzeit inzwischen abgesteckt. Allerdings bleibt die historische Prspektive des Gegenwartsromans keineswegs auf den deutschen Kolonialismus beschränkt. Die Romane thematisieren den Kolonialismus nicht nur in seinen transnationalen Verstrickungen, sondern erweitern den historischen Blick zugleich auf
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Vgl. André Brinks Die andere Seite der Stille (2002), Christof Hamanns Fester (2003), Stephan Wackwitzs Ein unsichtbares Land (2003), Gerhard Seyfrieds Herero (2004), Andrea Paluchs und Robert Habecks Der Schrei der Hyänen (2004) und Ludwig Fels’ Die Hottentottenwerft (2015).
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Vgl. Hermann Schulz’ Zurück nach Kilimatinde (2003), Alex Capus’ Eine Frage der Zeit (2007) und Christof Hamanns Usambara (2007a).
3
Vgl. Thomas von Steinaeckers Schutzgebiet (2009).
4
Vgl. Hans Christoph Buchs Sansibar Blues oder: Wie ich Livingstone fand (2008) und Lukas Hartmanns Abschied von Sansibar (2013).
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Vgl. Marc Buhls Das Paradies des August Engelhardt (2011), Christian Krachts Imperium (2012) oder Hans Christoph Buchs Nolde und ich. Ein Südseetraum (2013).
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Zu diesen zählt u.a. die Literarisierung der deutschen Kolonialzeit in Kamerun.
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präkoloniale Phasen. Sie machen deutlich, dass koloniale Akteure stets weltweit agierten, ein koloniales Projekt demnach »immer als zugleich globales, europäisches und nationales Phänomen zu verstehen« ist (Kundrus 2009: 362). Der Topos der Entdeckungsreise zählt in diesem Kontext zu den »produktivsten Themen der Gegenwartsliteratur« (Bay/Struck 2009: 9).7 Innerhalb von postkolonialen Studien ist häufig von »Boom«, »Konjunktur«, »Revival« oder gar von »Welle« die Rede, wenn es darum geht, diese Entwicklungen als Ereignis hervorzuheben (vgl. Göttsche 2003b: 261f.; 2012b: 330f.; 2013: 1, 3; Hermes 2012: 143). Angesichts des anhaltenden Interesses an kolonialer Thematik scheint es mittlerweile nicht nur angemessen, von ›Kontinuität‹ zu sprechen und damit dem Phänomen Rechnung zu tragen, dass wir es mit einem Bereich deutschsprachiger Gegenwartsliteratur zu tun haben, der sich etabliert und verstetigt hat (vgl. Heimböckel 2016b: 363). Vielmehr drängt sich die Frage auf, wie diese Entwicklungen angesichts der Diversität des Feldes in ihren Tendenzen, Trends und Turns näher zu beschreiben wären. Eine zentrale Eigenschaft dieser Literatur ist dabei ihre Intertextualität, ihr Verhältnis zu anderen, auch nicht-literarischen Texten. Eine ganze Reihe der Romane arbeitet sich buchstäblich an kolonialen Quellentexten ab. Besonders die Gattung der Reise- und Entdeckerliteratur hat Autoren zum Um-, Neu- und Weiterschreiben nicht- bzw. semifiktionaler (z.B. Reiseberichte, Abhandlungen, Reden) wie fiktionaler Texte angeregt, die zur Zeit des Kolonialismus des 19. und 20. Jahrhunderts entstanden sind und in der Regel deutlich koloniale Implikationen aufweisen: Hans Christoph Buch bearbeitet etwa in seinem Roman Kain und Abel in Afrika (2001) Richard Kandts Reisebericht Caput Nili. Eine empfindsame Reise zu den Quellen des Nils (1904); in Thomas Stangls Der einzige Ort (2004) haben Briefe, Dokumente und Berichte von Alexander Gordon Laing und Réne Caillié Eingang gefunden; Daniel Kehlmann kolportiert in Die Vermessung der Welt (2005) Passagen des Reisetagebuchs Alexander von Humboldts, während Ilija Trojanow in Der Welten-
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Zu den populärsten Texten gehören Daniel Kehlmanns Die Vermessung der Welt (2005) sowie Ilija Trojanows Der Weltensammler (2006a); weitere sind u.a. Hans Christoph Buchs Kain und Abel in Afrika (2001) und Sansibar Blues oder: Wie ich Livingstone fand (2008), Felicitas Hoppes Verbrecher und Versager (2004), Thomas Stangls Der einzige Ort (2004), Marc Buhls Rashida oder Der Lauf zu den Quellen des Nils (2005), Max Blaeulichs Kilimandscharo Zweimeteracht (2005), Alex Capus’ Reisen im Licht der Sterne (2005) oder Lukas Hartmanns Bis ans Ende der Meere (2009). Eine Reihe von literarisierten Entdeckerberichten sind vor der Jahrtausendwende publiziert worden: vgl. u.a. Christoph Ransmayrs Die Schrecken des Eises und der Finsternis (1984), Raoul Schrotts Finis Terrae (1995), Michael Roes Leeres Viertel Rub’ Al-Khali (1996) und Alex Capus’ Munzinger Pascha (erst. 1997/2008).
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sammler (2006a) u.a. auf The Lake Regions of Central Africa (1860) von Richard Burton zurückgreift und Christof Hamann in Usambara (2007a) eine Vielzahl literarischer (z.B. von Wilhelm Raabe) und nicht-literarischer (bzw. semifiktionaler) Quellentexte überschreibt, wie etwa Oscar Baumanns Reisebericht In DeutschOstafrika während des Aufstands (1890) und Hans Meyers Ostafrikanische Gletscherfahrten (1890). Bewegen sich die Texte einerseits in den Spuren historischer Vorfahr(t)en und laufen dadurch Gefahr, koloniale Muster zu wiederholen, gelingt es ihnen andererseits durchaus, über literarische Verfahren der Re-Fiktionalisierung eine kritische Perspektive auf die Kolonialgeschichte zu entwickeln und zu dem beizutragen, was Herbert Uerlings als »Dekonstruktion des kolonialen Imaginären« (Uerlings 2012: 54–57) bezeichnet und als ein zentrales Merkmal einer ›postkolonialen Ästhetik‹ bestimmt hat.8 Einer solchen postkolonialen Ästhetik und ihren Eigenschaften gilt das Interesse dieser Arbeit. Wie die Beispiele bereits in Ansätzen zeigen, sind Aspekte der Überschreibung und Überlagerung, der Ambivalenz und Mehrfachcodierung, der Wiederholung und Differenz für diese Literatur konstitutiv. Die vorliegende Studie geht der Frage nach, inwiefern die Schriftmetapher des ›Palimpsests‹ eine Denkfigur bereitstellt, um das ästhetische Potential dieser Texte adäquat zu beschreiben und zugleich eine postkoloniale Perspektive zu entwickeln, die eine dekonstruktive Lektüre kolonialer Diskursmuster ermöglicht. Palimpsest – zusammengesetzt aus dem griechischen pálin (›wieder‹, ›wiederum‹, ›zurück‹) und psḗstos (›säubern‹, ›schaben‹, ›abreiben‹, ›abkratzen‹) – steht etymologisch für das ›wieder Abgeschabte‹ bzw. ›Gesäuberte‹. In der Paläographie bezeichnet es das nach Tilgung der Beschriftung zur erneuten Verwendung wiederaufbereitete Schreibmaterial (vgl. Bischoff 2004: 26; Dold 1950: 16; Hurschmann 1996: 188). Dieses Verfahren gelang allerdings nicht, ohne Spuren zu hinterlassen, wodurch das Palimpsest »sukzessiv zum Träger verschiedener Beschriftungen« (Assmann 1991: 19) wurde und der ursprüngliche Text somit als Subtext »noch in Fragmenten ›zwischen‹ dem neuen Überschreibungstext sichtbar« blieb (Winkgens 2013: 582). Palimpsest und Postkolonialismus werden hier keineswegs erstmalig ins Verhältnis gesetzt, ist das Palimpsest doch eine Metapher, die eine grundsätzliche Affi-
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Bemerkenswert erscheint zudem der Befund, dass Autoren, die sich mit der deutschen Kolonialvergangenheit auseinandersetzen, beinah ausschließlich männlich sind. Eine der wenigen Ausnahmen bildet Felicitas Hoppe mit ihrer Porträtsammlung Verbrecher und Versager (2004). Eine spiegelverkehrte Situation liefert ein Blick auf den Bereich sog. ›populärer Afrika-Gegenwartsromane‹, die überwiegend von Autorinnen verfasst werden. Über mögliche literatursoziologische Gründe für dieses Phänomen vgl. die Überlegungen Göttsches (2003b: 280).
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nität zu postkolonialem Denken aufweist. Dafür spricht insbesondere ihr Auftauchen in einer Vielzahl von Arbeiten innerhalb der postcolonial studies sowie in postkolonialen Studien der Germanistik. Jedoch ist das Potential der Metapher bislang weder eingehend thematisiert noch in seiner Spannweite für postkoloniale Überlegungen erfasst worden, sodass eine Modellierung der Palimpsest-Metapher sowohl als theoretisches als auch textanalytisches Konzept noch aussteht. Die heuristische Leistung dieser Denkfigur auszuloten und an zentrale Prämissen der postkolonialen Theorie anzuschließen, ist deshalb das Ziel dieser Arbeit. Damit ist sie zum einen von einem dezidiert theoretischen Erkenntnisinteresse geleitet, zum anderen geht es konkret um die Frage, inwiefern die hier fokussierte Literatur mithilfe des Palimpsests analysiert werden kann. Wie lassen sich etwa historische, epistemologische oder interkulturelle Phänomene als Prozesse der Überschreibung und Überlagerung am Text untersuchen? Kann das Palimpsest hier eine heuristische Kategorie der Textanalyse darstellen? Gibt es so etwas wie ein ›palimpsestartiges Erzählen‹, das eine postkoloniale Perspektive ermöglicht? Und welche ästhetischen Konsequenzen ergeben sich daraus?
2. F ORSCHUNGSKONTEXT Die vorliegende Arbeit verortet sich innerhalb der noch jungen postkolonialen Studien in der Germanistik, die sich seit der Jahrtausendwende nach und nach herausgebildet und inzwischen anerkanntermaßen fest etabliert hat. Diesen Entwicklungen trägt etwa der 2014 erschienene Sammelband Postkoloniale Germanistik bereits im Titel Rechnung (vgl. Dürbeck/Dunker 2014). Im Vorwort ziehen die Herausgeber Gabriele Dürbeck und Axel Dunker nicht nur Bilanz, vor allem formulieren sie das Selbstverständnis der postkolonialen Studien und profilieren wichtige Grundzüge der Forschung: Postkoloniale Studien haben sich als eigenständiges Feld in der kulturwissenschaftlichen Germanistik etabliert und stellen eine produktive Herausforderung für das Selbstverständnis des Fachs dar. Die Aufarbeitung der Darstellung der Kolonialthematik in Literatur und Kultur, Neulektüren kanonischer Literatur unter postkolonialer Perspektive und die Erschließung neuer Texte im Kontext von Weltliteratur sind zentrale Themenfelder. Dabei reflektieren postkoloniale Studien kulturelle Globalisierungsprozesse und überwinden durch die Thematisierung von kultureller Differenz, Hybridität, Inter-, Multi- und Transkulturalität nationalphilologische Grenzen. Der distinkte Charakter in Bezug auf Forschungsansatz und Gegenstandsbereich rechtfertigen [sic] es, von einer ›Postkolonialen Germanistik‹ als Teilfeld der Disziplin zu sprechen. (Dürbeck/Dunker 2014: 9)
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In Anlehnung an Gabriele Dürbeck, die unlängst das inzwischen stark gewachsene Forschungsfeld umrissen hat,9 geht auch diese Arbeit davon aus, »dass die postkolonialen Studien einen eigenständigen Forschungsansatz mit ausdifferenzierten Analysekonzepten (z.B. Kontrapunktik, Hybridität, third space, Mimikry) und mit einem spezifischen Gegenstandsbereich darstellen.« (Dürbeck 2014a: 27) Gleichwohl ist die Nähe zur Interkulturalitätsforschung zu betonen, in deren Referenzrahmen sich postkoloniale Studien grundsätzlich bewegen (vgl. Dürbeck/Dunker 2011: 14; Uerlings 2012: 40).10 Eine strikte Trennung erscheint sowohl theoriegeschichtlich fragwürdig als auch schwierig, da häufig »die Entscheidung, wo die postkolonialen Studien aufhören und die interkulturelle Germanistik beginnt, nicht eindeutig zu treffen sein« wird (Babka/Dunker 2013: 9).11 Die vorliegende Arbeit ist einem Methodenpluralismus verpflichtet, wie er für postkoloniale Studien kennzeichnend ist (vgl. Burtscher-Bechter 2004: 276;
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An dieser Stelle soll auf eine eingehende Darlegung des inzwischen stark diversifizierten Forschungsfeldes verzichtet und stattdessen auf Überblicksarbeiten verwiesen werden (vgl. Dunker 2011; Uerlings 2011; Wilke 2011; Dürbeck 2014a; Dunker 2016; Osthues 2016b). Dieser Schritt ist dem argumentativen Aufbau der Arbeit geschuldet. Wichtige Konzepte und Theorien gilt es folglich im Verlauf der Argumentation aufzurufen, zu erläutern und an die jeweilige Fragestellung anzubinden.
10 Allerdings weist u.a. Gabriele Dürbeck auf Unterschiede zur Interkulturellen Germanistik hin: »Beim Gegenstandsbereich der Interkulturellen Germanistik hingegen stehen weniger Diskurskritik und die rhetorisch-ästhetische Subversion von Machtasymmetrien als das produktive Wechselverhältnis von Fremdem und Eigenem, Fragen der interkulturellen Kompetenz und interkulturellen Kommunikation, Mehrsprachigkeit und Translationsprozesse im Zentrum.« (Dürbeck 2014a: 27) Vgl. auch Dirk Göttsches Kritik an der konzeptuellen Ausrichtung der Interkulturellen Germanistik (2004: 567, 569; vgl. Schößler 2006: 144). 11 Vgl. auch Uerlings (2011: 27; 2012: 39f.) und Dürbeck (2014a: 66). Die Schwierigkeit einer Unterscheidung ergebe sich u.a. dadurch, dass in interkulturellen Studien Analyseverfahren (z.B. ›Hybridität‹, ›Mimikry‹, ›third space‹) Einzug gehalten haben, die genuin postkolonialen Theoriedebatten entstammen. Dürbeck verweist u.a. darauf, dass postkoloniale Studien ein »spezifisches Erkenntnisinteresse« (ebd.: 66) besitzen, das sich in einigen Punkten von interkulturellen Studien unterscheide, sowie einen spezifischen Forschungsgegenstand. Zur Leistung einer postkolonialen Perspektive im Horizont der Interkulturalitätsforschung vgl. in chronologischer Abfolge Göttsche (2004: 572–576), Hofmann (2006: 27–36), Mecklenburg (2008: 270f.), Hofmann/Patrut (2015: 16–18) und Osthues (2016b).
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Dürbeck/Dunker 2011: 10; Febel 2012: 230; Struve 2012: 101). 12 Dieser Ansatz entspricht auch der Metaphorik des Palimpsests: Seit dem 19. Jahrhundert ist das Palimpsest von unterschiedlichen Diskursen aufgenommen worden, was seine Metaphorik nachhaltig geprägt hat. Indem das Palimpsest also in sich zahlreiche methodische und theoretische Aspekte und Ansätze vereint, birgt es ein erkenntnistheoretisches Potential, das es im Kontext postkolonialer Theorie vollständig zu erfassen und sowohl für theoretische als auch für textanalytisch-heuristische Perspektiven auf Literatur produktiv zu machen gilt. Hervorzuheben ist dabei die Rolle poststrukturalistischer Perspektiven, insbesondere der Dekonstruktion, die im Rahmen dieser Untersuchung allgemein als »Form einer kritischen Auseinandersetzung« aufgefasst wird, »die das ›koloniale‹ Denken in dichotomen Differenzen nicht einfach unter umgekehrten Vorzeichen wiederholt, sondern ›différance‹ (i.S. Derridas) markiert.« (Uerlings 2012: 39; vgl. Dunker 2012b: 325) Das Palimpsest könnte in seiner theoretisch-methodischen Mehrdimensionalität eine »›dynamischen‹ Lektüre« ermöglichen (Lubrich: 2005: 16), die der Komplexität postkolonialer Phänomene bzw. der Mehrschichtigkeit von Literatur gerecht würde. »[D]iskursanalytische Reduktionen« oder »binäre Schematisierungen« (ebd.; 2009: 357), Vereinfachungen zugunsten analytischer Kohärenz und das Ignorieren von Widersprüchen und Ambivalenzen würden auf diese Weise vermieden. So divers sich postkoloniale Studien inzwischen auch präsentieren, füllt diese Untersuchung dennoch eine Lücke. Zwar sind innerhalb der vergangenen zehn Jahre eine Vielzahl literaturwissenschaftlicher Beiträge sowie einige Sammelbände (vgl. u.a. Hamann/Honold 2009; Bay/Struck 2012) erschienen, allerdings bleibt die Anzahl an Monographien überschaubar, die sich mit der eingangs dargestellten Konjunktur der Kolonialthematik im deutschsprachigen Gegenwartsroman eingehend beschäftigen.13 Das leistet die vorliegende Arbeit, wobei sie nicht nur eine
12 Vgl. Dürbeck: »In methodischer und theoretischer Hinsicht lässt sich zusammenfassend feststellen, dass eine Verbindung von Hermeneutik und poststrukturalistisch orientierter Diskurskritik in den postkolonialen Studien in der deutschsprachigen Germanistik (und Komparatistik) dominiert.« (Dürbeck 2014a: 63) 13 Neben der Monographie Fahrten nach Südwest (2009) von Stefan Hermes und Ozeanische Affekte (2013) von Thomas Schwarz, deren Korpora die Gegenwartsliteratur allerdings ausschnitthaft thematisieren und nur bis ins Jahr 2004 (Hermes 2009: 247–256) und 2005 (Schwarz 2013: 240–266) reichen, haben sich drei Studien näher mit der Gegenwartsliteratur beschäftigt. Die eine ist die Arbeit Postkoloniale Erinnerungskultur in der zeitgenössischen deutschsprachigen Afrika-Literatur (2012) von Constant Kpao Sarè, die andere ist die einschlägige Arbeit Remembering Africa. The Rediscovery of Colonialism in Contemporary German Literature (2013) von Dirk Göttsche, die aus den zahlreichen Beiträgen des Autors hervorgegangen ist (vgl. u.a. 2003a; 2003b; 2010a; 2011;
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spezifisch postkoloniale Ästhetik ins Zentrum stellt, sondern darüber hinaus mit dem Palimpsest eine Denkfigur auf neue Weise in den Diskurs einbringen will, um diese Ästhetik zu beschreiben und damit einen Beitrag zu ihrer Theoretisierung zu leisten.
3. K ONZEPT
UND
S TRUKTUR
DER
A RBEIT
Die Studie gliedert sich in zwei Teile, die mit I. THEORIE und II. LEKTÜREN überschrieben sind. Der erste Teil befasst sich im Kern mit der Theoretisierung des Palimpsests, um es als kritische Denkfigur für postkoloniale Perspektiven zu profilieren und sein semantisches Potential als postkoloniale Metapher auszuloten.14 Ein Forschungsüberblick führt zunächst in den thematischen Zusammenhang von Palimpsest und Postkolonialismus ein und fragt nach dem ORT DES PALIMPSESTS IN DER LITERATUR- UND KULTURTHEORIE (I.1) von den 1980er Jahren bis zur Gegenwart. Dieser Abriss über den Forschungsstand zeigt auf, in welche Diskursbereiche das Palimpsest eingegangen ist, wie es an Theorien angeschlossen und vice versa durch diese geprägt wurde. Darauf folgt eine KLEINE KULTURGESCHICHTE DES PALIMPSESTS (I.2): Einleitend wird hier ein paläographischer Blick auf das Palimpsest geworfen und der pragmatisch-historische Kontext seiner Entstehung skizziert (I.2.1), wo auch seine
2012a). Die Dissertationsschrift »Niemand hier kann eine Stimme haben«? Mündlichkeit und Schriftlichkeit in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur aus postkolonialer Perspektive von Laura Beck erscheint voraussichtlich 2016. 14 Der Begriff ›postkolonial‹ wird in kulturwissenschaftlichen Studien nicht ein-, sondern mehrdeutig verwendet und bleibt bisweilen kontrovers (vgl. Dunker 2011: 55; 2016: 73; Göttsche 2004: 561). Im Rahmen der vorliegenden Arbeit wird ›postkolonial‹ in Anlehnung an Dirk Göttsche (1) als historisch/zeitlich ›nachkolonial‹, (2) als kolonialkritische Position im Sinne von ›antikolonial‹ und (3) als ein unabgeschlossenes, den historischen Kolonialismus überdauerndes, also nicht überwundenes Phänomen begriffen, das eine kritische Auseinandersetzung mit kolonialen Denk- und Wahrnehmungsmustern, wie sie sich bis in die Gegenwart hinein nahezu bruchlos fortschreiben, erforderlich macht (vgl. Göttsche 2004: 561). Zur Heterogenität des Begriffs vgl. ausführlich Dürbeck (2014a: 30–34). Ein Hauptanliegen postkolonialer Studien ist eine »diskurskritisch geprägte Analyseperspektive« (Dürbeck 2014: 34). Sie zielt auf die Untersuchung von Machtbeziehungen und damit verbundene Repräsentationen, auf die Infragestellung des kolonialen Diskurses sowie seine Kontinuitäten, um durch Analyse zu seiner Dekonstruktion – und (im Idealfall) ein Stück weit(er) zur Überwindung kolonialer Denk-, Wissens- und Handlungsmuster beizutragen.
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Genese als Metapher ihren Anfang nahm. Darauf aufbauend lässt sich die Entwicklung der Palimpsest-Metaphorik erklären, die in deutlichen Widerspruch zum pragmatischen Kontext tritt (I.2.2). Diese Brüche und Kontinuitäten zwischen metaphorischem und pragmatischem Kontext prägen die Metapher bis heute. Im Zentrum des Theoriekapitels steht die Herausarbeitung des PALIMPSESTS ALS POSTKOLONIALE METAPHER (I.3). Nicht nur die Präsenz der Palimpsest-Metapher in postkolonialen Studien, sondern auch die Art und Weise ihrer dortigen Verwendung belegen bereits eine grundsätzliche Affinität des Palimpsests zu postkolonialem Denken. Dieses Potential weiter herauszuarbeiten und gänzlich produktiv zu machen, ist Ziel des dritten Kapitels. Über eine allgemeine Verortung im postkolonialen Diskurs hinaus (I.3.1) geht es anschließend um das Verhältnis von Kultur und Palimpsest (I.3.2) sowie um zwei unmittelbar verwandte literaturtheoretische Forschungsansätze: das Palimpsest als Metapher für Vorstellungen von Gedächtnis, Erinnern und Geschichte (I.3.3) sowie der Zusammenhang von Palimpsest und Intertextualität (I.3.4) aus kultursemiotischer und texttheoretischer Perspektive. Am Schluss des Theorieteils steht eine ZWISCHENBILANZ (I.4). Auf Grundlage der Überlegungen zu Palimpsest und Postkolonialismus werden hier Vorschläge unterbreitet, wie LITERATUR ALS PALIMPSEST zu lesen und zu untersuchen wäre. Mit den vier Perspektiven ›Palimpsest und poetische Alterität‹ (I.4.1), ›Palimpsest und rewriting‹ (I.4.2), ›Palimpsest und Ästhetik der Verschiebung‹ (I.4.3) sowie ›Palimpsest und Kontrapunktik‹ (I.4.4) ist eine postkoloniale Ästhetik theoretisch umrissen, die wichtige Ansätze für postkoloniale Lektüren und Textanalysen bereitstellen. Im II. Teil, der LEKTÜREN gewidmet ist, steht eine postkoloniale Ästhetik des Palimpsests im Fokus. Ein einleitendes Kapitel konturiert die Grundlagen über den Zusammenhang von ÄSTHETIK UND PALIMPSEST (II.1). Hier rücken die spezifischen Eigenschaften der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur (II.1.1) sowie der grundlegende Zusammenhang zwischen Palimpsest und postkolonialer Ästhetik in den Blick (II.1.2 u. II.1.3). Wie eingangs hervorgehoben, dient das Palimpsest als Denkfigur für Prozesse und Phänomene der Mehrschichtigkeit, der Ambivalenz und Mehrfachcodierung. Das Verhältnis von kolonialem und postkolonialem Diskurs, das in der Literatur ganz unterschiedlich in Verhandlung tritt, soll nachfolgend als Ergebnis von Überlagerungen und Überschreibungen gelesen werden. Ihre Effekte führen zu dem, was im Rahmen der vorliegenden Arbeit als ›postkoloniale Ästhetik der Verschiebung‹ bezeichnet wird. Darunter sind literarische Verfahren zu verstehen, die in vielfältiger Weise zur Inversion, d.h. zur Irritation und Destabilisierung, ja gar zur Umkehrung und Deplatzierung, Entstellung und ›Verrückung‹ (d.h. im Sinne komischer Überzeichnung) von kolonialen Denk-, Wissens-, und Handlungsmuster, insbesondere ihrer Dichotomien, führen. Ihr spezifisch postkoloniales Potential entfalten diese literarischen Verschiebungen insbesondere in der Mög-
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lichkeit zur Dekonstruktion des kolonialen Imaginären, indem sie die »Faszinationen, Aporien und Paradoxien des kolonialen Begehrens« (Uerlings 2012: 56) bloßstellen, hintergehen und dadurch in ein kritisches Licht rücken. Diese Überlegungen leiten zu drei Kapiteln der Textanalyse über, die mit PALIMPSEST UND FIGUR (II.2.), PALIMPSEST UND RAUM (II.3.) sowie PALIMPSEST UND ERZÄHLEN (II.4.) überschrieben sind und an drei Romanen exemplarisch durchgeführt werden: Zu diesen zählen Christof Hamanns Usambara (2007a), Thomas von Steinaeckers Schutzgebiet (2009) und Christian Krachts Imperium (2012). Die Textauswahl ist einem spezifischen Erkenntnisinteresse geschuldet und zeigt zugleich auf, dass die Perspektive auf ›Literatur als Palimpsest‹ nicht nur Fragen nach Intertextualität aufwirft, selbst wenn – wie eingangs hervorgehoben – Formen der Um-, Neu- und Weiterschreibung im Bild des Palimpsests aufgerufen werden. Anhand der ausgewählten Romane gilt es vielmehr, das Palimpsest als Beschreibungsfigur einer postkolonialen Ästhetik weiter zu fassen und ganz unterschiedliche Merkmale eines ›palimpsestartigen Erzählens‹ zu ergründen. Mit Steinaeckers Schutzgebiet ist darüber hinaus ein Roman aufgerufen, der im Unterschied zu Hamanns Usambara und Krachts Imperium im Kontext postkolonialer Studien bislang kaum Beachtung gefunden hat.15 Ein wichtiges Anliegen ist es dabei, diese unterschiedlichen literarischen Texte nicht über einen Leisten zu schlagen, d.h. es zu vermeiden, das Palimpsest gewissermaßen von oben den Texten aufzupfropfen, sie theoretisch zu überformen und dadurch den Zugriff perspektivisch zu verengen und zu vereindeutigen. Die Palimpsest-Metapher erlaubt es, wie bereits vorgestellt, eine Vielzahl von Perspektiven auf vielfältige bzw. ›vielschichtige‹ Phänomene von Verschiebung zu entwickeln, die aus der Überschreibung und Überlagerung diskursiver Schichten resultieren. Diese sind jeweils am einzelnen Text zu untersuchen und keineswegs übergreifend »normativ zu deduzieren« (Dunker 2012b: 325). Anhand dieser Prämisse wird schließlich nachvollziehbar, warum die Arbeit zwei Teile unterscheidet, die nebeneinanderstehen. Theorie und Analyse suchen zwar Anschluss und Transfer, jedoch keineswegs um den Preis der heuristischen Reduktion. Das heißt im Umkehrschluss, dass es nicht darum gehen kann, das Palimpsest als theoretische Leitfigur schablonenhaft an literarische Texte anzulegen und diese leidglich auf theoriebildende Erkenntnisse hin abzuklopfen. Ein solcher Zugang würde nicht nur die Literarizität der Texte beschneiden, sondern der ›poetischen Alterität‹ von Literatur
15 Diese Annahme bestätigt ein Blick in die kürzlich erschienene Forschungsbibliographie von Gabriele Dürbeck (2014b: 579–651). Eine Ausnahme bildet die 2013 veröffentlichte Monographie von Dirk Göttsche (2013: 166–177) sowie ein von mir 2015 veröffentlichter Beitrag, der in großen Teilen Eingang in diese Arbeit gefunden hat (vgl. Osthues 2015). Unlängst ist Simone Brühl auf den Roman eingegangen (vgl. Brühl 2017).
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insgesamt nicht gerecht werden. Hat der Theorieteil also zum Ziel, die Bandbreite des theoretischen Potentials der Palimpsest-Metapher für postkoloniale Perspektiven aufzuzeigen, so gilt das Augenmerk der Analyse, vor dem Hintergrund der Überlegungen zu Palimpsest und postkolonialer Lektüre (I.4) einem ›palimpsestartigen Erzählen‹ bzw. einer ›Literatur als Palimpsest‹ nachzugehen, um Grundzüge einer postkolonialen Ästhetik im deutschsprachigen Roman der Gegenwart zu beschreiben.
Teil I Theorie: Palimpsest und Postkolonialismus
1. Zum Ort des Palimpsests in der Literatur- und Kulturtheorie: Forschungsstand und Desiderate
Das Palimpsest hat im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts innerhalb der Literaturund Kulturtheorie eine bemerkenswerte Geschichte geschrieben, die sich hier nur in ihren Grundzügen konturieren lässt. Auf ganz unterschiedliche Weise hat es dabei Einzug gehalten in theoretische Arbeiten sowie in Essays zu Kunst und Kultur. Auffallend ist sein Gewicht in Texten französischer Provenienz von Vertretern des Strukturalismus und Poststrukturalismus, die seit den 1980er/1990er Jahren auch verstärkt im deutschsprachigen Raum rezipiert werden: Mal wird das Palimpsest darin punktuell als Metapher herangezogen, wie etwa in Roland Barthes Schrift Cy Twombly oder Non multa sed multum (1983/1990: 165–183), in Michel de Certeaus Arbeit Kunst des Handelns (1988: 353–355) oder in Jacques Derridas Die Schrift und die Differenz (1972: 346), mal steigt es sogar zur tragenden Denkfigur einer Theorie auf, wie etwa im Falle des französischen Strukturalisten Gérard Genette, dessen Studie Palimpsestes. La littérature au second degré (1982) erst 1993 unter dem Titel Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe ins Deutsche übersetzt wurde. Genette überträgt darin Merkmale der Palimpsest-Metaphorik auf die Intertextualitätstheorie. Für seinen Entwurf einer fünfgliedrigen Typologie der »Transtextualität« hat das Palimpsest Modell gestanden, um einen spezifischen Typ der TextText-Beziehung (»Hypertextualität«), eine »Literatur auf zweiter Stufe« zu beschreiben. Der exemplarische Verweis auf diese Monographien macht bereits deutlich, dass das Palimpsest in ganz unterschiedliche Bereiche der Literatur- und Kulturtheorie eingegangen ist.1
1
Ein eindrückliches Beispiel, wie das Palimpsest in Schnittbereichen kulturwissenschaftlicher Theorien rezipiert wurde, ist die Arbeit von Roland Barthes, der es zur Beschreibung der Kunst Cy Twomblys heranzog (vgl. dazu auch die Überlegungen von Weinrich 2006: 8f.; 2007: 34). In der bildenden Kunst hat das Palimpsest bzw. verweist das
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Im deutschsprachigen Forschungsraum setzt eine eigene Auseinandersetzung mit dem Palimpsest Anfang der 1990er Jahre ein. Der Germanist Norbert Altenhofer zieht in seinen Studien zum Werk Heinrich Heines den Begriff des Palimpsests heran, um dessen Schreibweise zu charakterisieren, in der Altenhofer »ein wesentliches Moment der modernen Ästhetik« erkennt (Altenhofer 1993: 261; vgl. Jacob/Nicklas 2004: 14, 26). Wie wichtig sein Beitrag zur Forschung auf diesem Feld war, zeigt der 2004 in Erinnerung an Altenhofer von Joachim Jacob und Pascal Nicklas publizierte Sammelband mit dem Titel Palimpseste, der sich ebenfalls und aus unterschiedlichen Perspektiven mit dem Themenfeld Literatur und Palimpsest auseinandersetzt. Die Einleitung der Herausgeber mit dem Titel Der Palimpsest und seine Lesarten gilt inzwischen als einschlägig und liefert eine einführende Literatur- und Kulturgeschichte des Palimpsests. Weiteren Überblick verschafften die Publikationen Europäische Palimpseste (2006) und Schriften über Schriften (2007) von Harald Weinrich. Im selben Zeitraum wie Altenhofer griff schließlich auch Aleida Assmann das Palimpsest innerhalb der Erinnerungs- und Gedächtnisforschung auf. In ihrem Beitrag Zur Metaphorik der Erinnerung (1991) hat sie sich neben einer Reihe von Schriftmetaphern auch für das Palimpsest als Gedächtnismetapher interessiert, dessen Bedeutung sie für ihren Zusammenhang besonders hervorhebt (vgl. ebd.: 19).2 Jenseits der kulturwissenschaftlichen Gedächtnis- und Erinnerungstheorie ist das Palimpsest als Metapher Anfang der 1980er und 1990er Jahre auch von der deutschen Intertextualitätsforschung aufgenommen worden. Über Genettes wichtigen strukturalistischen Ansatz hinaus hat Renate Lachmann in Literatur und Gedächtnis (1990) den Begriff des Palimpsests geprägt (vgl. I.3.4). Ihre Überlegungen sind im Kontext eines weiten, poststrukturalistischen Verständnisses von Intertextualität zu lesen. Bei Lachmann steht das Palimpsest zwar weniger im Zentrum der Theoriebildung, doch bemüht sie es an einigen Stellen, um ihre Idee vom Gedächtnis der Literatur zu veranschaulichen. Erstaunlicherweise ist Lachmanns poststrukturalistische Profilierung des Palimpsests bislang in Überblicks- sowie in Einzelbeiträgen in den vergangenen Jahren weitgehend unberücksichtigt geblieben.3 Die vorliegende Studie unternimmt hingegen nicht nur den Versuch, Lach-
Palimpsestieren als Produktionstechnik auf eine Tradition, obgleich in der Kunstgeschichte der Palimpsest-Begriff »bislang nur höchst sporadisch und ohne systematischen Anspruch zur Anwendung« kam (Krüger 2004: 93). Bzgl. Künstlerische Arbeiten, die mit der Idee des Palimpsests oder Techniken des Palimpsestierens arbeiten vgl. u.a. Westphal (2011). 2
Vgl. dazu auch das gleichnamige Kapitel in ihrer Monographie Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses (2006: 149–178).
3
Vgl. etwa bei Jacob/Nicklas (2004) und Weinrich (2006; 2007).
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manns Ansatz aufzuarbeiten, sondern knüpft mit ihren Gedanken über das Verhältnis von Gedächtnis, Literatur und Intertextualität zugleich an postkoloniale Fragestellungen an. Sowohl Lachmanns als auch Genettes Überlegungen zur Intertextualität sind bisher im Kontext postkolonialer Theoriekonzepte, die sich mit Strategien der Um- und Überschreibung, mit Aspekten der Kanonkritik und -revision – kurz: mit Konzepten des sog. ›rewriting‹ – auseinandersetzen, wenig berücksichtigt oder gar ausgeklammert worden zugunsten einer produktionsästhetischen Perspektive, welche die soziokulturelle Position des Autors ins Zentrum rückt. 4 Dabei liegen hier wichtige Potentiale, die es freizulegen und zu integrieren gilt. Ab Mitte der 1990er Jahre hat das Palimpsest in literatur- und kulturwissenschaftliche Forschungsarbeiten Eingang gefunden, deren Anzahl bis zur Jahrtausendwende zunächst überschaubar blieb.5 Erschienen sind um diese Zeit neben dem Sammelband Palimpseste, der gleichsam Bilanz zieht,6 drei Dissertationsschriften, die das Palimpsest als Metapher aufgreifen und in je unterschiedlicher Weise in den Mittelpunkt ihrer theoretischen Arbeit stellen. 7 Allerdings nehmen diese Studien weder aufeinander Bezug, noch fragen sie eingehend nach den kulturgeschichtli-
4
Es geht in diesem Zusammenhang um Positionen, die Argumente gegen den Intertextualitätsbegriff in Anschlag bringen (vgl. Reif-Hülser 2006: 72; vgl. dazu Abschnitt I.3.4.3). Eine Ausnahme bildet ein Aufsatz von Axel Dunker, der in Bezug auf Christof Hamanns Roman Usambara (2007a) explizit auf das Palimpsest eingeht und dabei literaturtheoretische Beiträge zum Palimpsest einbezieht. In ähnlicher Weise, allerdings ohne konkret postkoloniale Perspektiven zu thematisieren, hat Eckhard Schumacher am Bsp. von Christian Krachts Imperium (2012) Verfahren der »Differenz und Wiederholung« erläutert, indem er die Metapher des Palimpsests verwendet (vgl. Schumacher 2013).
5
Vgl. dazu die Beiträge von Altenhofer (1993), Winkgens (1994) und Wolting (1998). Ein früher Beitrag der 1980er Jahre, auf den hier nicht näher eingegangen werden kann, ist Claus Uligs Kapitel zum Palimpsest innerhalb seiner Arbeit zur Theorie der Literaturhistorie (1982: 87–99).
6
Über den einschlägigen Überblicksbeitrag von Jacob/Nicklas (2004) hinaus sollen noch zwei Beiträge aus diesem Band hervorgehoben werden: der Aufsatz »Wiederholte Beobachtung. Beobachtungen zu Text- und Bildnis-Strukturen bei W. G. Sebald und zum Schreiben in mehreren Etagen« von Klaus Jeziorkowski (2004) und »›light falling upon light‹. De Quincey: The palimpsest of the mind« von Pascal Nicklas (2004).
7
Vgl. in chronologischer Reihenfolge die Studie Der Körper als Palimpsest. Die poetologische Dimension des menschlichen Körpers in der skandinavischen Literatur der Gegenwart von Hanna Eglinger (2007), Geschichte als Palimpsest. Erinnerungsstrukturen in der Poetik von Danilo Kiš von Tatjana Petzer (2008) und Postmoderne Palimpseste: Studien zur (meta-)hermeneutischen Tiefenstruktur intertextueller Erzählverfahren im Gegenwartsroman von David Ramon Kerler (2013).
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chen Bedingungen der Palimpsest-Metapher, wodurch stellenweise der Eindruck entsteht, es handle sich um eine einseitige, oft verkürzte Verwendung der Palimpsest-Metapher.8 Diese Studien lassen sich zwar auf die Thematik ein, ohne jedoch die Mehrdimensionalität der Metapher und ihr vielfältiges semantisches Potential gänzlich produktiv zu machen.9 Ist das Palimpsest, wie der hier vorgestellte Forschungsüberblick zeigt, innerhalb der Literaturwissenschaft längst kein ›unbeschriebenes Blat‹t mehr, so hat es dieser Situation zum Trotz bislang nur in zwei für die Germanistik einschlägigen Lexika Erwähnung gefunden, sodass seine bisherige Aufnahme in Fachlexika und Handbücher, die sicherlich auch ein Stück weit auf den Grad der Kanonisierung innerhalb der Theorie des Fachs schließen lässt, als eher zögerlich zu beschreiben
8
Eine Ausnahme bildet die Dissertationsschrift von Hanna Eglinger, die sowohl auf zentrale Arbeiten seit den 1990er Jahren rekurriert als auch auf die Diskursgeschichte des Palimpsests als strukturalistische wie poststrukturalistische Metapher eingeht, um diese besonders im Kontext der Erinnerung- und Gedächtnistheorie zu erläutern (vgl. Eglinger 2007: 27, 34–40). Da Pergament auf einen biologischen Grundstoff verweist (d.h. Haut, vgl. I.2.1), so weist die Autorin auf ein interessantes Merkmal hin, das sowohl dem Körper als auch dem Palimpsest gemeinsam ist (vgl. ebd.: 11). Für Eglinger erscheint der »tätowierte Körper« folglich als »anschaulicher Inbegriff der palimpsesthaften Überlagerung von ›natürlichen‹ und ›künstlichen‹ bzw. ›kulturellen‹ Einschreibungen, die den Diskurs über den Körper maßgeblich mitbestimmen.« (Ebd.: 18) Eglingers Arbeit macht darauf aufmerksam, welche Bedeutung das Palimpsest in Körperdiskursen einnimmt, in denen das Verhältnis von Körper, Schrift und Macht im Mittelpunkt steht (vgl. ebd.: 19f., 25).
9
So führt die Dissertationsschrift Postmoderne Palimpseste von David Simon Kerler (2013) die Engführung von Palimpsest und Intertextualität zwar im Titel. An späterer Stelle distanziert der Autor sich jedoch von Genettes Ansatz der Transtextualität, dem das Palimpsest als Vorstellungsmodell zugrunde liegt. Obwohl der Autor die Besonderheiten intertextueller Erzählverfahren im Spiegel postmoderner und poststrukturalistischer Ansätze fokussiert, sind die Gründe für diese Distanzierung m.E. in ihrer Konsequenz nicht nachvollziehbar. Dieser Denkschritt scheint die Potentialität der Denkfigur um wichtige Aspekte zu verkürzen, zumal ein Blick auf Genettes Studie Palimpseste. Literatur auf zweiter Stufe durchaus Positionen verhandelt, die einem poststrukturalistischen Verständnis von Intertextualität ähneln (vgl. I.3, Anm. 69; Schedel 2002: 227). Vgl. dazu Kerler: »Die von Genette weiter differenzierten Kategorien der Transformation und Nachahmung sowie die damit zusammen hängenden [sic] Register der Parodie, Travestie, des Pastiche und der Persiflage werden an dieser Stelle nicht verwendet. Sie sind für Zwecke der formalen Analyse nicht relevant, da sie primär eine funktionale Ebene beschreiben.« (Kerler 2013: 53; Hervorh. i. Orig.)
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ist. 10 Über den deutschsprachigen Raum und die Germanistik hinaus bleibt das Palimpsest jedoch weiterhin einflussreich, was u.a. die englischsprachige Monographie The Palimpsest. Literature, Criticism, Theory von Sarah Dillon (2007) vor Augen führt.
10 Gemeint sind hier die Lexika Metzler Lexikon Literatur und Metzler Lexikon Literaturund Kulturtheorie. Vgl. darin die Beiträge von Kern (2007) und Winkgens (2013).
2. Kleine Kulturgeschichte des Palimpsests
2.1 P RAGMATISCH - HISTORISCHER K ONTEXT : D AS P ALIMPSEST ALS EINE E RFINDUNG DER K RISE ? Not macht bekanntlich erfinderisch, und so war auch die Bedeutung, die das Palimpsest für die abendländische Geschichte der Schriftkultur von der Spätantike bis ins frühe Mittelalter gewinnen sollte, einer Situation des Mangels geschuldet. Wenn auch die Praxis, Palimpseste anzufertigen, älter sein mag, so ist ihre Bedeutung das Ergebnis politisch-ökonomischer Krisen. Dabei mag die Technik des Palimpsestierens, bei der Pergamente zu ihrer erneuten Wiederbeschriftung herangezogen wurden, aus heutiger Sicht nicht unbedingt verwundern, entspricht es doch inzwischen unserer alltäglichen RecyclingPraxis im Umgang mit Papier und anderen Materialien. Im Kontext seiner Zeit verdankt sich dieses Wiederverwertungsverfahren allerdings einer Verknappung und Verteuerung von Papyrus, wie er seinerzeit in klösterlichen Skriptorien des frühen Mittelalters zur Beschriftung Verwendung findet. Was ist um diese Zeit geschehen? Vom römischen Altertum bis ins frühe Mittelalter besitzt Ägypten gewissermaßen das »Monopol« (Bischoff 2004: 21) in der Herstellung von Papyrus, ein aus der Papyruspflanze (cyperus papyrus) 1 gewonnener Schreibstoff, der zur damaligen Zeit nahezu ausschließlich im Niltal verbreitet ist (vgl. auch Mazal: 1999: 72; Jakobi-Mirwald 2004: 115). Als in den Jahren 170–168 v.Chr. der syrische König Antiochos Epiphanes in Ägypten einfällt und Alexandria belagert, kommt die Versorgung mit ägyptischem Papyrus, damals der »wichtigste Schreibstoff der Antike« (Bischoff 2004: 21), nördlich des Mittelmeeres allmählich zum Erliegen. Daraufhin verdrängt das Pergament den günstigeren Schreibstoff Papyrus, wenngleich Perga-
1
Zur Herstellung von Papyrus sowie zu den Hauptfundorten von Papyrus in Ägypten vgl. Blank (1992: 56–62).
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ment, das aus Tierhaut gewonnen wird,2 in der Herstellung erheblich aufwendiger ist und dadurch als deutlich kostbarer gilt (vgl. Blank 1992: 63; Weinrich 2007: 23f.; Joachim/Nicklas: 8f.). Doch notgedrungen wird auf einen Schreibstoff zurückgegriffen, der bereits seit der Antike in vormodernen Agrargesellschaften zu Verfügung steht (vgl. Ludwig 2005: 61). Erst ab ca. 800 n. Chr. wird im heutigen Europa das Papier als neuer Schreibstoff auftauchen, das bereits im 2. Jahrhundert in China erfunden wurde (vgl. Bischoff 2004: 27f.). Somit gilt Pergament im östlichen Byzanz bis ins 11./12. Jahrhundert, im Westen Europas bis ins 12./13. Jahrhundert als »der dominierende Schriftträger, bis es vom Papier abgelöst« wird (Stein 2006: 94; vgl. Klopsch 2003: 60). Gegenüber dem spröden Papyrus und dem Pergament, das zwar beständiger, aber in der Herstellung aufwendiger und nicht fälschungssicher war, ist die Einführung des Papiers ein Ereignis mit revolutionärer Tragweite für die europäische Buchkultur, mit der eine Beschleunigung der Wissensproduktion einhergeht. »Neben der schieren Menge an Büchern, die jetzt überhaupt erst herstellbar war, kam es zu einer neuen Ordnung des Wissens«: Aufgeschrieben werden konnte nun alles: Nach der Einführung des Papiers in der arabischen Welt finden sich zum ersten Mal Kochbücher, neue Formen der Literatur werden entwickelt – die Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht sind bekanntestes Beispiel. Es findet ein großer Schub in der Bewegung von oraler zu schriftlicher Tradition statt, vergleichbar dem bei der Erfindung und Verbreitung der Schrift. Das Papier macht Aufklärung möglich. Seine Verbreitung in Europa ist Voraussetzung für die Erfindung des Drucks, der sich aufgrund der geringen Menge an beschreibbarem Material in Zeiten des Pergaments nicht als Notwendigkeit dargestellt hatte. (Jacob/Nicklas 2004: 8)
Doch bis zu jener Einführung von Papier mit ihren weitreichenden Folgen für die europäische Kulturgeschichte bleibt beschreibbares Material zunächst ein knappes Gut. Aus dieser ökonomischen Mangelsituation heraus entwickelt sich das Verfahren des ›Palimpsestierens‹, bei dem die alte Schrift abgeschabt oder abgewaschen wird, um ihr Trägermaterial, das wertvolle Pergament, anschließend wieder neu beschreiben zu können. Auf diesen Zweck der Wiederbeschriftung verweist auch die lateinische Bezeichnung codex rescriptus, wenngleich dieser Begriff im strengen Sinne das Buch (codex) als geschlossenen Textkörper meint, »während als Palimpsest sowohl ganze Bücher als [auch] Teile von ihnen, ja einzelne Blätter oder gar nur einzelne Stellen bezeichnet werden können.« (Dold 1924/1925: 87f.) Aufgrund der materiellen Beschaffenheit des Pergaments ist der Vorgang des Palimpsestie-
2
Zur Herstellung von Pergament vgl. die ausführliche Darstellung von Otto Ludwig (2005: 91–94), Karl Löffler (1997), Bernhard Bischoff (1986: 23) und Horst Blanck (1992: 62).
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rens jedoch nur begrenzt wiederholbar. Das Pergament kann demzufolge, davon zeugen wenige historische Beispiele, nur selten dreimal beschriftet (codex ter scriptus), d.h. zweimal abgeschabt und neu- bzw. wiederbeschrieben werden (codex bis rescriptus) (vgl. Wunderle 1999: 510f.; Jacob/Nicklas 2004: 9). Da die Tinte nicht tief in die Lederschichten eindringen kann, lässt sich die Schrift durch Abschaben mittels eines Bimssteins, einer Klinge oder einer Feile mechanisch entfernen (vgl. Wunderle 1999: 510; Dold 1950: 18; Wattenbach 1958: 302). Auch chemische Substanzen fanden zu dieser Zeit Verwendung. So wurden die Pergamentblätter bei diesem Verfahren, wie Wilhelm Wattenbach im Jahr 1871 schrieb, in eine Mixtur aus »Käse, Milch und ungebranntem Kalk« gelegt (Wattenbach 1958: 303), wodurch die Schrift »ausgelaugt« wurde (Bischoff 2004: 23; vgl. Mazal 1999: 95; Wunderle 1999: 519). Doch wenn Pergament aufgrund einer ökonomischen Krise trotz seiner Kostbarkeit vermehrt herangezogen und überschrieben wurde, so drängt sich abseits der Frage nach den Techniken, also nach dem ›wie‹, insbesondere die Frage auf, ›was‹ und vor allem ›warum‹ etwas palimpsestiert wurde. Welche Auswahlkriterien führten dazu, dass ein Text der Wiederbeschriftung zum Opfer fiel? Die Gründe der Neubeschriftung sind verschieden und je nach Kontext unterschiedlich zu beurteilen.3 Als gesichert kann aber gelten, dass vielfältiger historischer Wandel eine Vielzahl von Schriften überflüssig, ja wertlos machte. Aufgrund sprachlicher und typografischer Entwicklungen, wie der Einführung neuer Schrifttypen, waren mittelalterliche Leser zunehmend unfähig, ältere Schriften zu entziffern und zu verstehen. Reformen in der Schreibkonvention ließen eine Reihe von Texten nach und nach überflüssig werden (vgl. Wunderle 1999: 510). Als Beispiel hierfür wäre die Ablösung der sog. scriptio continua zu nennen.4 »Nur zu bald lag es deshalb da nahe«, so Alban Dold, »diese alten Schriften zu tilgen und das kostbare Pergament durch Schabung der darauf befindlichen Schrift für eine neuerliche Beschriftung wieder herzurichten.« (Dold 1950: 18; vgl. Bischoff 2004: 26) Damit eng verbunden zeichnete sich eine weitere historische Veränderung ab,
3
Die folgende Beschreibung orientiert sich an dem Einteilungsversuch von Elisabeth Wunderle (1999: 510), jedoch mit dem Anspruch, die von ihr aufgestellten Begründungen anhand weiterer Forschungsarbeiten nicht nur zu belegen, sondern auch zu erweitern. Vgl. ähnlich dazu auch Klopsch (2003: 60–62).
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Die scriptio continua bezeichnet eine stark an der Mündlichkeit orientierte Schreibform bzw. ein Schreibprinzip, das aus »unstrukturierten Reihen von Buchstaben« besteht. Bei dieser Schreibweise, die ganz ohne ›Spatien‹ auskommt, d.h. »ohne Abtrennung der Wörter und Sätze« (Ludwig 2005: 36) durch Leerstellen zwischen den Buchstaben, werden die Satz- und Wortgrenzen für den Leser im Vergleich zum heutigen Gebrauch nicht eindeutig markiert.
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die das Leseinteresse betrifft. So wurde zunehmend christliche Literatur der älteren griechischen und gotischen vorgezogen (vgl. Wunderle 1999: 510). Darüber hinaus gab es Texte, die »für spätere Generationen praktisch […] wertlos geworden« (Dold 1950: 18) und daher vornehmlich von Überschreibungen betroffen waren. Dazu zählen zum einen veraltete Gesetzbücher oder liturgische Texte, die durch aktualisierte, d.h. den zeitlichen Ansprüchen entsprechend modifizierte Ausgaben ersetzt wurden. So löste z.B. die lateinische Vulgata des Hieronymus (lat. für ›die allgemein Verbreitete‹) im 4. Jahrhundert n. Chr. ältere Bibelübersetzungen (Vetus Latina-Handschriften) ab und blieb »für lange Zeit der einzig gültige Bibeltext der römisch-katholischen Kirche« (Janzin/Güntner 2007:44).5 Auch »zufälliges Strandgut« (Bischoff 2004: 26) wie etwa hebräische Texte, für die man keine Verwendung fand, wurden wiederverwertet. Und galt nicht zuletzt eine Pergamenthandschrift als zu stark beschädigt, so führte dies dazu, dass die unversehrten Seiten für ein Palimpsest erneut verwendet werden konnten. 6 Zudem sei es möglich, dass Textausgaben, die mehrfach vorlagen, als Materialquelle für Palimpseste genutzt wurden (vgl. Wunderle 1999: 510; Jacob/Nicklas 2004: 11; Klopsch 2002: 60f.). Zusammenfassend zeigen die genannten historischen Gründe, dass ein ökonomisches Interesse an der Wiederverwertung des wertvollen Rohstoffs Pergament für die Entstehung und Privilegierung der Palimpsestier-Methode im Vordergrund stand. Nur vereinzelt ist das Motiv einer »absichtliche[n] Vernichtung – etwa häretischer Bücher – als primäres Motiv der Palimpsestierung« (Bischoff 2004: 26) in Betracht zu ziehen.7 Wattenbach entgegnet dem Vorwurf einer vorsätzlichen Zerstörung aus religiösen oder politischen Gründen, dass nicht einmal Mönche christlich-religiöse Texte immer höher geschätzt hätten als antike, nicht-christliche Texte (vgl. Wattenbach 1958: 307). Er zitiert eine Reihe von Beispielen, »um der falschen Vorstellung von einer Feindseligkeit der Mönche gegen profane Litteratur [sic], und überhaupt von einer Absicht bei der Zerstörung von Handschriften entgegen zu treten [sic].« (Wattenbach 1958: 305) Als Beleg dafür verweist er auf ein früh-
5
Vgl. auch Jacob/Nicklas (2004: 11) und Bischoff (2004: 26).
6
Vgl. Wunderle (1999: 510) und Jacob/Nicklas (2004: 11). Der palimpsestierte, d.h. wiederverwertete und überschriebene Text ist dabei nicht in sich geschlossenen. Elisabeth Wunderle verweist auf den Umstand, dass für eine neue Handschrift häufig »viele verschiedene P.e verwendet« wurden und bis heute »kein Text [existiert], »der vollst. als Palimpsest überliefert ist.« (Wunderle 1999: 510) Auch Wattenbach verweist 1871 auf die Forschung des Paläographen Konstantin von Tischendorf. Er habe »mit Recht darauf hingewiesen, dass man noch nie in einem Palimpsest ein vollständiges Werk, dagegen häufig Fragmente der verschiedensten Art neben einander [sic] gefunden hat.« (Wattenbach 1958: 306; vgl. Dold 1924/1925: 98)
7
Der Paläograph Alban Dold lehnt diesen Fall sogar kategorisch ab (vgl. 1924/1925: 89).
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christliches Palimpsest, bei dem die Korintherbriefe des Paulus mit einer IliasFassung überschrieben wurden. Dennoch lässt sich auch in Anbetracht dieser historischen Beispiele das Argument einer absichtlichen, politisch motivierten Überschreibung nicht kategorisch ausschließen, worauf zu Recht hingewiesen wurde (vgl. Klopsch 2003: 61). Der pragmatische Kontext des Palimpsests, also seine Entstehung aus einer materiellen Situation des Mangels heraus, ist auch für die vorliegende Arbeit, die sich im Wesentlichen für die immaterielle Dimension von Literatur und Kultur interessiert, insofern von Bedeutung, als er deutlich und vielsagend vom metaphorischen Kontext des Palimpsests differiert. Im Zuge seiner Metaphorisierung wurde dem Palimpsest eine Reihe von Bedeutungen eingeschrieben, die dem ursprünglich pragmatischen Bedeutungskontext zuwiderlaufen. Neben der vermeintlichen Motivation von Überschreibungen widersprechen auch die palimpsestierten Textschichten selbst der Palimpsest-Metapher. So wurden zur Herstellung eines Palimpsests, wie seitens der Paläographie 8 häufig betont wird, Pergamente unterschiedlicher Provenienz zusammengestellt, sodass aus der palimpsestierten Schrift keine in sich kohärente Textschicht zu rekonstruieren ist, sondern bloß völlig zusammenhanglose Textfragmente (vgl. I.2., Anm. 6). Für die Metaphorik des Palimpsests ist daher ein Fehlschluss entscheidend, bei dem »ein inhaltlicher Zusammenhang zwischen dem unteren und dem oberen Text unterstellt wird.« (Jacob/Nicklas 2004: 23) Diesen vermeintlichen Zusammenhang haben Jacob und Nicklas in Anlehnung an Norbert Altenhofer als »produktives Missverständnis« bezeichnet (ebd.: 23; vgl. Altenhofer 1993: 261). Produktiv ist der Fehlschluss, weil er den Ausgangspunkt darstellt, von dem aus das Palimpsest eine Vielzahl von Metaphorisierungen entwickeln konnte und zur Beschreibung anthropologischer Phänomene an Attraktivität gewann. Für die historische Genese der Palimpsest-Metapher ist dabei nicht nur charakteristisch, dass gewisse Bedeutungen aus dem pragmatischen Kontext suspendiert wurden, sondern zugleich neue hinzukamen. Vor allem die der Faktenlage zuwiderlaufende Unterstellung einer irgendwie inhaltlich motivierten Überschreibung spielt bei der Metaphorik des Palimpsests eine Schlüsselrolle, wie noch zu zeigen sein wird. Besonders für eine Profilierung des Palimpsests als postkoloniale Denkfigur erscheint diese Bedeutungsdimension, die den Akt der Überschreibung als politisch-ideologisch motiviert, unverzichtbar.
8
Bezeichnet die »[w]issenschaftliche Lehre von den Schriftformen, Beschreibstoffen, Schreibmitteln, Schreibgewohnheiten und den antiken bzw. mittelalterlichen Buchformen.« (Plachta 2006: 137)
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2.2 M ETAPHORISCH - HISTORISCHER K ONTEXT : Z UR G ENESE DES P ALIMPSESTS ALS M ETAPHER Das Palimpsest ist eine Metapher der Schrift,9 und ihre Karriere begann erstaunlicherweise vor Anbruch ihrer eigentlichen paläographischen Geschichte. Bereits ein frühes Zeugnis der griechischen Antike weist auf eine metaphorische Verwendung des Palimpsests hin. So überlieferte der Philosoph und Chronist Plutarch (um 45–125 n. Chr.) in seiner Schrift Moralia, »dass bereits Platon den sizilischen [sic] Tyrannen Dionysios mit einem Palimpsest verglich, weil dieser trotz aller philosophischen Äußerlichkeiten immer wieder den alten Menschen durchblicken ließ, so wie auf einem Palimpsest die alte Schrift durchschimmert.« (Mazal 1999: 94; vgl. Wattenbach 1958: 301; Jacob/Nicklas 2004: 11) Wörtlich heißt es bei Plutarch, so eine kürzlich erschienene Übersetzung, dass Platon den Dionysios antraf, dessen Äußeres für ihn »wie ein Buch mit ausgelöschter Schrift« erschien, das jedoch »die durch die Länge der Zeit tief eingedrungene und unauslöschliche Farbe der Tyrannei nicht mehr fahren ließ« (Plutarch 2012: 279). Weitere Beispiele einer frühen Verwendung des Palimpsests als Metapher lassen sich in Schriften von Kaiser Justinian I., Martial und Cicero aufspüren (vgl. Mazal 1999: 94f). Das häufig zitierte Beispiel Plutarchs zeige dabei, so schlussfolgern Joachim Jacob und Pascal Nicklas, dass lange bevor die eigentliche paläographische Geschichte des Palimpsests beginnt, doch schon die erste Voraussetzung dafür [existierte], mit dem Vorgang des Austilgens und Wiederbeschriftens übertragene Bedeutungen zu verbinden. Das Scheitern einer ursprünglichen Intention nämlich, sei es die Beseitigung einer ersten Schriftschicht, um einen neuen Schreibgrund herzustellen, oder sei es einen widerspenstigen Charakter bilden zu wollen. […] Denn wäre die beabsichtigte Auslöschung der Schrift wirklich erfolgreich gewesen, so wären nicht nur wichtige Zeugnisse der paganen (und christlichen!) Antike für immer verloren gewesen, sondern dann wäre auch aus der Metapher nichts geworden. Sie lebt davon, daß das Überschriebene auf dem Palimpsest Spuren hinterläßt und wieder sichtbar gemacht werden kann. (Jacob/Nicklas 2004: 11f.)
Dass ›Überschreiben‹ keinesfalls ›Löschen‹ bedeutet, ist eine zentrale Voraussetzung für die Palimpsest-Metapher: Im Scheitern der Tilgung nämlich, wodurch die Spuren der Erstbeschriftung in ihrer Latenz10 erhalten bleiben, liegt der Ausgangspunkt metaphorischer Bedeutungsproduktion. Das Palimpsest ist somit die meta-
9
Vgl. den Überblick zu Schriftmetaphern bei Assmann (1991: 18–22; 2006: 151–158).
10 ›Latenz‹ meint hier das Vorhandensein einer Schrift, die dabei nicht unmittelbar, sprich ›manifest‹, in Erscheinung tritt, aber dennoch existent und präsent ist.
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phorische Gegenfigur zur tabula rasa (lat. zusammengesetzt aus tabula f. ›Tafel‹ u. radere f. ›rasieren‹, ›schaben‹, ›schälen‹), die eine analoge Etymologie aufweist, allerdings in ihrer historisch gewachsenen Metaphorik auf etwas gänzlich anderes verweist als auf das Moment der Dauerpräsenz im Palimpsest. Das Beispiel Plutarchs zieht zugleich eine weitere wichtige Bedeutungsebene in die Palimpsest-Metaphorik ein. Die verschiedenen Schriften stehen demnach keinesfalls in einem zufälligen Verhältnis. Dieses verweist auf eine dialogische Beziehung der Interaktion, in der semantisch gegensätzliche Merkmalspaare in Verhandlung treten. 11 In dieser Tradition steht auch die Verwendung der PalimpsestMetapher in Heinrich Heines Die Harzreise von 1826 (verfasst 1824), auf die, wie auch auf eine frühere Verwendung bei Ludwig Börne,12 häufig verwiesen wird, um den Einzug des Palimpsests in die deutschsprachige Literatur des 19. Jahrhunderts zu belegen.13 In Heines Reisebericht beschreibt der Erzähler mit spöttischem Unterton das Aussehen einer älteren Dame. Dabei bedient er sich des Bildes vom Palimpsest, um das Widersprüchliche und Latente zu charakterisieren, das, wenngleich unter der Oberfläche, dem Betrachter doch präsent erscheint: Ihr Auge verriet einen krankhaft schwärmerischen Tiefsinn, um ihren Mund lag strenge Frömmigkeit, doch schien mir’s, als ob er einst sehr schön gewesen sei und viel gelacht und viele Küsse empfangen und viele erwidert habe. Ihr Gesicht glich einem Codex palimpsestus, wo unter der neuschwarzen Mönchsschrift eines Kirchenvatertextes die halberloschenen Verse eines altgriechischen Liebesdichters hervorlauschen. (Heine 1955: 55) 14
Ein wesentliches Merkmal der Palimpsest-Metaphorik bei Heine ist ihre binäre Struktur, die das Vergangene dem Gegenwärtigen, das Kirchlich-Religiöse dem Profanen-Säkularen sowie das Fromme und Lustfeindliche dem Nichtfrommen und Lustvollen gegenüberstellt und im Sinne einer Überlagerung und einer Interaktion zusammenfasst. Ähnlich hat Meinhard Winkgens das Palimpsest als Schriftmetapher in der Vorstellung einer »komplexen Interrelation zweier historisch differenter, asymmetrisch sich zueinander verhaltender Texte« beschrieben (Winkgens 2013: 582). Als »dynamisches zweipoliges Vorstellungsgeflecht« sei das Palimpsest ein Phänomen der
11 Hier: [Der äußerlich philosophisch Friedfertige] vs. [der innerlich unverändert gebliebene Tyrann]. 12 Heine habe Harald Weinrich zufolge sich des Palimpsests bei Börne bedient, den er zeitlebens rezipierte hatte und die sich gut kannten (vgl. Weinrich 2006: 5f.; 2007: 28f.). 13 Vgl. Jacob/Nicklas (2004: 13ff.), Weinrich (2006: 5; 2007: 28f.) und Altenhofer (1993: 259). 14 Vgl. dazu die Ausführungen von Jacob/Nicklas (2004: 15f.) und Weinrich (2007: 29).
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Doppelbeschriftung, genauer gesagt das eines »offiziellen, textuell konsistenten, gut lesbaren, autorisierten, späteren Überschreibungstextes und eines urspr., bis auf nicht getilgte Spuren verdrängten und marginalisierten überschriebenen Textes (Subtext)« (ebd.). In diesem Licht erscheint das Verhältnis der Textschichten als asymmetrische Machtbeziehung zwischen einem scriptum inferior und einem scriptum superior.15 Zwei konstitutive Merkmale der Palimpsest-Metapher heben sich also vom historisch-pragmatischen Kontext ab: zum einen die Prämisse, dass Überschreiben kein vollständiges Löschen bedeutet, zum anderen, dass die Schichten nicht zufällig und nicht unabhängig voneinander existieren, sondern in ein Verhältnis treten, sich also überlagern im Sinne von interferieren. Insofern sich diese Beziehung übereinander geschichteter Bedeutungssedimente als Interferenz denken lässt, erlaubt das Palimpsest unterschiedliche Möglichkeiten, diese Beziehung als dialogisches oder dialektisches Spannungsverhältnis zu fokussieren, das neben der räumlichen eine zeitliche Vorstellung evoziert. Kennzeichnend für diese Beziehung ist der Aspekt der ›Präsenz‹, der das Vergangene im Gegenwärtigen, das Alte im Neuen, das Originale bzw. Ursprüngliche in der Neuschrift bzw. Wiederbeschreibung aktualisiert. Neben den semantischen Merkmalen von ›Dauerpräsenz‹ und ›Interferenz‹/›Interaktion‹ koinzidieren in der Metapher des Palimpsests sowohl räumliche Vorstellungen der Kopräsenz als auch zeitliche Vorstellungen der Sukzession. Die Metapher des Palimpsests hat in der Literatur- und Kulturtheorie des 19. und 20. Jahrhunderts eine bemerkenswerte Resonanz erfahren. Ihr Reiz bei der Beschreibung von Kultur im Allgemeinen scheint in der grundsätzlichen Ambivalenz dieser Denkfigur begründet, mit der sich vermeintlich Gegensätzliches und Ungleichzeitiges, wie etwa Vergangenes und Gegenwärtiges oder Latentes und Manifestes, in der Vorstellung eines Schichtmodells in ein Verhältnis setzen lässt. Eine Systematisierung der Genealogie, Transformation und Proliferation der Metapher in unterschiedlichen Diskursen der Literatur- und Kulturtheorie haben Jacob und Nicklas (2004) vorgeschlagen. In ihrem wichtigen Überblick Der Palimpsest und seine Lesarten nehmen sie eine Einteilung in drei Felder vor, in die das Palimpsest seit dem 19. Jahrhundert Eingang gefunden hat: Als erstes Feld nennen die Autoren die Gedächtnis- und Geschichtstheorie, zweitens die Kulturtheorie und drittens die Literaturtheorie (ebd.: 12ff.). Auf je spezifische Weise hat das Palimpsest an diese Theorien und Ansätze Anschluss gefunden, um kulturelle und anthropologische Phänomene im Bild der Überschreibung und Überlagerung darzustellen. In der »modernen Entdeckung der Geschichte« sehen die Autoren dabei eine entscheidende Voraussetzung für die Karriere der Palimpsest-Metapher im 19. Jahrhundert: »Am Palimpsest zeigt sich das Gedächtnis der Geschichte« (Jacob/
15 Zu den Begriffen vgl. Jacob/Nicklas (2004: 18f.).
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Nicklas 2004: 12). Mit dieser Formel wird gleichsam ein verändertes Geschichtsverständnis pointiert. Als Denkmodell von Geschichte und Gedächtnis, bei dem die simultane Präsenz von Vergangenem und Gegenwärtigem aus einem linearen Denkgefüge herausgelöst und in eine Vorstellung überführt wird, in der zeitliche Ebenen als »Sedimentierungen der Geschichte« sich »›wie in einem Palimpsest‹ ablagern« (ebd.) und überlagern, avancierte das Palimpsest folglich zur anthropologischen Metapher, die Kultur nun als komplexe, historisch gewachsene Vorstellung zu verstehen suchte, in der das Vergangene als das Verdrängte unter gewissen Bedingungen in der Gegenwart wieder hervortreten könne. In dieser Tradition steht etwa auch die Vorstellung von der ›Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen‹, ein Diktum, das auf Ernst Bloch zurückgeht (vgl. Bloch 1985). So verstanden suspendiert das Palimpsest ein lineares Zeit- und Geschichtsverständnis und zieht folglich traditionelle, kohärente Modelle von Geschichte und Gedächtnis, von Raum und Zeit, Originalität und Wahrheit kategorisch in Zweifel. Eine zentrale Leistung der Metapher besteht also in der Irritation tradierter Kategorien wie ›Ursprung‹, ›Originalität‹ und ›Anfang‹ – kurz: von solchen »Authentizitätsdiskurse[n]« (vgl. Bhatti 2015: 128), die Aspekte kultureller Homogenität und Differenz betonen, statt Kultur als komplexe, dynamische wie heterogene Formation der grenzüberschreitenden Verflechtung und Überlappung zu begreifen. Das Palimpsest steht demnach nicht nur für eine andere Auffassung von Geschichte, an dem teleologische Modelle versagen. Zugleich liegt ihm eine Vorstellung von Kultur zugrunde, die sich nicht im Singular, sondern in ihren Überlagerungen immer schon im Plural, als sog. »plurale tantum« begreift (Hamacher 2011: 127; vgl. Heimböckel 2013a: 20). Das Potential der Metapher als Beschreibungsfigur für kulturelle Phänomene zeigt sich gerade darin, dass sie epistemologische Kategorien, die sich einer Vereindeutigung, einem Denken im Singular und der Kohärenz verschreiben, infrage stellt, verunsichert und destabilisiert. An die Stelle von Eindeutigkeit und Kohärenz setzt die Metapher Pluralität, Überlappung und Verflechtung von Geschichte und Kultur. Sie folgt einem offenen, dynamischen Kulturbegriff, der »Kulturen als historisches Resultat von vielen Schichtungen begreift.« (Bhatti 2012: 185; vgl. 2015: 128) Eine Ambivalenz von Absenz, Präsenz und ihre Simultanität, das Verhältnis von Latentem und Manifestem beschrieb auch Sigmund Freud in seiner Psychoanalyse mit dem Bild des Palimpsests: Für Freuds Konzept des ›Wunderblocks‹ habe das Palimpsest Modell gestanden (Jacob/Nicklas 2004: 12). Bei ihm kommt dem Akt des Ein- bzw. Überschreibens bereits eine wichtige Funktion zu, die insbesondere für spätere Gedächtnis- und Erinnerungstheorien an Bedeutung gewinnen sollte (vgl. I.3.3). Dabei hat das Palimpsest vor allem in der Literaturtheorie des späten 20. Jahrhunderts nach dem sog. linguistic turn eine erstaunliche Konjunktur erfahren (vgl.
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Jacob/Nicklas: 23; Winkgens 2013: 582). Über die Metapher der Überschreibung werden insbesondere Fragen aufgerufen, die das Verhältnis von Schrift und Macht thematisieren. In diesem Zusammenhang erscheint der Vorgang des Überschreibens, das Palimpsestieren, als epistemologischer Gewaltakt, der scriptum inferior und scriptum superior in eine Machtbeziehung setzt (vgl. ebd.; Eglinger 2007: 45). Beim Überschreiben im Sinne von »Wettstreit« geht es »nicht zuletzt um die Gewalt des Auslöschens, des Vergessenmachens und des ›Verzehrens‹ des Vorläufers […], um sich an die Stelle des Überschriebenen zu setzen.« (Jacob 2004: 145) Dieser Zusammenhang von Schrift und Macht ist insbesondere für Diskurstheorien relevant, die im Anschluss an Foucaults Arbeiten Machteffekte im Kontext diskursiver Prozesse in den Blick rücken. Wenn also im Akt der Überschreibung immer auch Machtfragen berührt sind, die auf asymmetrische Beziehungen verweisen, so verbildlicht das Palimpsest auch spezifische Aspekte der Intertextualität, wie sie etwa in den postcolonial studies unter Begriffen wie rewriting oder writing back diskutiert wurden und das kritisch-revisionistische Verhältnis zwischen kolonialem Prä- und postkolonialem Folge- bzw. Überschreibungstext aufrufen.16 Diese Vorstellung lässt sich an (post-)strukturalistische Ansätze der Literaturtheorie anknüpfen, in denen das Palimpsest seit den frühen 1970er Jahren eine beachtliche Resonanz erfahren hat und seither zur Beschreibung von Textualität im Allgemeinen und von Gedächtnis bzw. Text-Text-Beziehungen im Besonderen herangezogen wird: so etwa bei Jacques Derrida (1972), Renate Lachmann (1990) und – sicherlich die prominenteste unter den Arbeiten – bei Gérard Genette, bei dessen Entwurf einer Typologie der ›Transtextualität‹ das Palimpsest nicht nur im Titel präsent ist, sondern auch in seinen Überlegungen zur ›Hypertextualität‹ mitschwingt (vgl. Genette 1993).
16 Den Konzepten rewriting und writing back kommt innerhalb der vorliegenden Arbeit ein besonderer Stellenwert zu. Grundsätzliche Überlegungen werden sowohl innerhalb der Theoriebildung (I.3.4.3; I.4.2) weiter ausformuliert als auch im Rahmen der Textanalyse eingehend thematisiert (II.4.1).
3. Das Palimpsest als postkoloniale Metapher
3.1 V ON
DEN POSTCOLONIAL STUDIES ZUR POSTKOLONIALEN G ERMANISTIK
Das Palimpsest hat in unterschiedlicher Weise in postkoloniale Diskurse Einzug gehalten. Nicht nur innerhalb der anglo-amerikanischen postcolonial studies, sondern ebenso im Kontext der noch jungen postkolonialen Studien in der Germanistik, 1 die sich seit der Jahrtausendwende im deutschsprachigen Forschungsraum etabliert haben, lassen sich Spuren des Palimpsests erkennen. Seine bemerkenswerte Konjunktur in verschiedenen Diskursen lässt bereits eine grundsätzliche Affinität dieser Denkfigur zu postkolonialem Denken im Allgemeinen vermuten. Doch neben der Frage, ›wo‹ das Palimpsest Eingang gefunden hat, drängt sich insbesondere die Frage auf, ›wie‹ von dieser Denkfigur Gebrauch gemacht wird, um postkoloniale Überlegungen zu thematisieren. Im angloamerikanischen Diskurs der postcolonial studies hat Homi K. Bhabha das Palimpsest herangezogen, um seine theoretischen Überlegungen zu veranschaulichen. Er verwendet die Metapher des Palimpsests in seinem Essay Die Frage der Identität. Frantz Fanon und das postkoloniale Privileg (2000), um die paradoxe, gespaltene sowie instabile Identität des Kolonisierers zu umschreiben, in der »Selbst und Anderes« nur »überlagert« vorkommen (Schößler 2006: 150). Der Andere ist demnach »nie jenseits der eigenen Identität verortet«, vielmehr muss er »im Gegenteil als integraler Teil des Selbst verstanden« werden, sodass Bhabha zufolge »jeder Identität eine innere Differenz eingeschrieben« ist (Birk/Neumann 2002: 126). Das Palimpsest dient Bhabha als Metapher für die Identität des Kolonisierers, welche die Instabilität kultureller Entitäten veranschaulicht. Diese verweise auf eine »tiefe psychische Unsicherheit der kolonialen Beziehung selbst«; sie ist es, welche die simultane Gespaltenheit ihrer Repräsentation vor Augen führt: »Die ambivalen-
1
Einen einschlägigen Überblick zum Status Quo der Forschung liefert der Beitrag von Gabriele Dürbeck (2014a).
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te Identifikation der rassistischen Welt«, so schreibt Bhabha, »basiert auf der Idee vom Menschen als seinem entfremdeten Bild; nicht Selbst und Anderer, sondern die Andersheit des Selbst, die in das perverse Palimpsest der kolonialen Identität eingeschrieben ist.« (Bhabha 2000: 65)2 Bhabha zieht hier das Palimpsest als Metapher zwar heran, allerdings ohne das vielfältige Potential dieser Denkfigur für postkoloniale Überlegungen produktiv zu machen. Erst der Germanist Anil Bhatti, so viel sei bereits an dieser Stelle vorweggenommen, hat die Frage nach der Leistung des Palimpsests zur Beschreibung von Kultur und Alterität im Kontext postkolonialer Konstellationen weiter ausbuchstabiert. Dennoch lässt sich das Palimpsest, sei es in Bhabhas Theorie auch nur angeschnitten, vor dem Hintergrund seiner Überlegungen zu Identität und Hybridität weiter diskutieren. Daher gilt es der Frage, wie Bhabha das Palimpsest für seine theoretischen Überlegungen reklamiert und wie es in seinen Konzepten implizit selbst palimpsestartig ›durchscheint‹, in Abschnitt I.3.2.1 noch ausführlicher nachzugehen. Ein Blick in das von Bill Ashcroft, Gareth Griffiths und Helen Tiffin herausgegebene Lexikon Postcolonial Studies. The Key Concepts, das zentrale Konzepte des Theoriefeldes versammelt, zeigt, dass auch hier das Palimpsest als Leitbegriff Eingang gefunden hat (vgl. Ashcroft/Griffiths/Tiffin 2013: 190–192).3 Über die paläographische Herkunft des Begriffs versuchen die Verfasser zunächst die metaphorischen Dimensionen des Palimpsests zu beschreiben: Originally the term for a parchment on which several inscriptions had been made after earlier ones had been erased. The characteristic of the palimpsest is that, despite such erasures, there are always traces of previous inscriptions that have been ›overwritten‹. Hence the term has become particularly valuable for suggesting the ways in which the traces of earlier ›inscriptions‹ remain as a continual feature of the ›text‹ of culture, giving it its particular density and character. (Ashcroft/Griffiths/Tiffin 2013: 190)
Weder wird in dem Beitrag auf Bhabhas Verwendung des Palimpsests Bezug genommen noch das Palimpsest in Zusammenhang mit Intertextualität und postkolonialen Schreibkonzepten gebracht, wie etwa dem rewriting oder dem writing back,
2
Im Original der englischen Ausgabe heißt es: »[T]he idea of Man as his alienated image, not Self and Other but the ›Other-ness‹ of the Self inscribed in the perverse palimpsest of colonial identity.« (Bhabha 1994: 44; Hervorh. i. Orig.) Hier zitiert nach Bhabhas Vorwort zur Neuausgabe von Black Skin, White Mask von Frantz Fanon (Bhabha 2008: xxvii).
3
Im Lexikon Encyclopedia of Postcolonial Studies von John C. Hawley (2001) gibt es dagegen kein Lemma zu dem Begriff.
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um nach der Bedeutung von Phänomenen und Prozessen der ›Überschreibung‹ zu fragen. Die Autoren nutzen stattdessen die Palimpsest-Metaphorik, die sie als Vorstellungsmodell von Kultur und Identität aktualisieren, um historische Prozesse der Kolonialisierung zu beschreiben. Demnach fokussiert der Artikel vielmehr einen Kulturbegriff, genauer gesagt eine ›Kultur des Kolonialismus‹, welche die Gewaltgeschichte des Kolonialismus wie auch postkoloniale Erfahrung im Sinne einer Ablagerung von Schichten metaphorisch zu begreifen versucht. Er macht darüber hinaus deutlich, dass das Überschriebene keineswegs gelöscht ist, sondern dauerhafte Präsenz beansprucht: The concept of the palimpsest is a useful way of understanding the developing complexity of a culture, as previous ›inscriptions‹ are erased and overwrittten, yet remain as traces within present consciousness. This confirms the dynamic, contestatory and dialogic nature of linguistic, geographic and cultural space as it emerges in post-colonial experience. (Ebd.: 192)
Mit dem Bild des Palimpsests lasse sich demzufolge die Komplexität von Kulturen in ihren historischen Entwicklungen, von der kolonialen Vergangenheit bis zur postkolonialen Erfahrung der Gegenwart, adäquat modellieren: Any cultural experience is itself an accretion of many layers, and the term is valuable because it illustrates the ways in which pre-colonial culture as well as the experience of colonization are continuing aspects of a post-colonial society’s developing cultural identity. While the ›layering‹ effect of history has been mediated by each successive period, ›erasing‹ what has gone before, all present experience contains ineradicable traces of the past which remain part of the constitution of the present. Teasing out such vestigial features left over from the past is an important part of understanding the nature of the present. (Ebd.: 190)
Das Palimpsest ist somit ein key concept der postcolonial studies, ohne dass dort jedoch das semantische Potential der Metapher in seiner Bandbreite ausreichend erfasst worden wäre: Zahlreiche Aspekte des Palimpsests, wie sie im Kontext (post-) strukturalistischer Theorien, etwa zur Kultursemiotik (Lachmann) oder zur Intertextualität (Genette), formuliert wurden, finden keine Beachtung. Auch fehlt bei der Kanonisierung des Begriffs, hier exemplarisch in Form eines Lexikonartikels, der Rückbezug auf kulturtheoretische Arbeiten, die selbst eine explizit postkoloniale Perspektiven verfolgen (Bhabha/Bhatti/Spivak). In ganz verschiedenen Zusammenhängen taucht das Palimpsest in dem ebenfalls von Ashcroft, Griffiths und Tiffin herausgegebenen The Post-Colonial Studies Reader (2005) auf. So hat auch Gayatri Chakravorty Spivak in ihrem darin vorgestellten Konzept der ›Subalterne‹ an einer Stelle auf das Palimpsest zurückgegriffen. Spivak verwendet die Metapher in ihrem Aufsatz »Can the subaltern speak?«
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(vgl. 2005: 24–28) und in ihrer späteren gleichnamigen Studie (vgl. 2008), um in Anlehnung an Michel Foucault ein inferiores, subalternes Wissen zu veranschaulichen, das im Zuge von Kolonialisierung gewaltvoll ausgeschlossen wurde. Kolonialismus als »epistemische Gewalt« führe nicht nur dazu, »das koloniale Subjekt als Anderes zu konstituieren«, sondern darüber hinaus auch zur »asymmetrische[n] Auslöschung der Spuren dieses Anderen in seiner prekären Subjekt-ivität bzw. Unterworfenheit.« (Spivak 2008: 42; Hervorh. i. Orig.) Unter den diskursiven, westlich-hegemonialen Wissensformationen befinde sich nach Spivaks Verständnis ein verborgenes Wissen, das sie mit Foucault als »unterworfenes Wissen« bezeichnet (Foucault 1999: 15). Dieses inferiore, subalterne Wissen sei demnach als »Subtext des palimpsestischen Narrativs des Imperialismus« (Spivak 2008: 42) aufzufassen, als eine ganze Reihe von Wissen, die als nicht-begriffliches Wissen, als unzureichend ausgearbeitetes Wissen abgewertet wurden: naive, am unteren Ende der Hierarchie angesiedelte Wissen, Wissen unterhalb des verlangten Kenntnisstandes und des erforderlichen Wissenschaftsniveaus (Foucault 1999: 15; vgl. Spivak 2008: 42).4
Spivak nutzt die Palimpsest-Metapher, um Prozesse der gewaltvollen Überschreibung darzustellen und im Bild der Überlagerung dieses gewaltsam Überschriebene, die zum Schweigen verurteilten Subalternen mithilfe einer kontrapunktischen Optik wieder in Bereiche des Sichtbaren zurückzuholen. In ähnlicher Weise hat José Rabasa in seinem Beitrag zum Post-Colonial Stud ies Reader unter dem Titel »Allegories of Atlas« (2005: 358–364) den Zusammenhang von ›Raum und Palimpsest‹ fokussiert.5 Am Beispiel der Mercator-Weltkarte versucht er zu zeigen, wie Karten Machtstrukturen und eurozentrische Weltbilder eingeschrieben sind, die auch nach dem Ende der europäischen Expansion bestehen und noch in gegenwärtigen Kartierungen lesbar bleiben. Die Metapher des Palimpsests ist dabei Ausgangspunkt seines Beitrages, um Geographie als eine Serie von Löschungen und Überschreibungen zu begreifen, anhand derer sich das gewaltsam Überschriebene, so etwa die Spuren ehemals Ausgeschlossener, wieder sichtbar machen lassen:
4
Dass Spivak in ihrer Studie als scharfe Kritikerin Foucaults auftritt und ihm nur an einigen Stellen, wie etwa die zitierte, folgt, darauf sei hier allgemein aufmerksam gemacht (vgl. Spivak 2008: 21; vgl. dazu auch unlängst Dunker 2015: 72).
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Ebenso wird in der »Introduction« zum Abschnitt »Place« die Leistung der PalimpsestMetapher zur Repräsentation von Kartierung und rewriting hervorgehoben (vgl. Ashcroft/Griffiths/Tiffin 2005: 392).
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The transposition of the image of the palimpsest becomes an illuminative metaphor for understanding geography as a series of erasures and overwritings that have transformed the world. The imperfect erasures are, in turn, a source of hope for the reconstitution or reinvention of the world from native points of view…. (Rabasa 2005: 358)
Auch Chantal Zabus rekurriert in ihrem linguistischen Beitrag zum Reader »Relexification« (2005: 314–318) auf die Metapher des Palimpsests. Sie dient ihr dazu, Strategien der Überlagerung und Überschreibung in anglophonen und frankophonen Sprachen Westafrikas zu veranschaulichen. Hier findet das Palimpsest also Verwendung, um das Verhältnis von Original und Übersetzung zu beschreiben, aber auch, um ehemals unterdrückte Stimmen aufzuspüren, die gewaltsam überschrieben wurden, als sich die Herrschaftssprache der Kolonisierer durchsetzte: […] relexification is characterized by the absence of an original. It therefore does not operate from the language of one text to the other but from one language to the other within the same text. Such texts are... palimpsests for, behind the scriptural authority of the target European language, the earlier, imperfectly erased remnants of the source language are still visible. Just as these remnants may lead to the discovery of lost literary works of centuries long past, the linguistic remnants inhabiting the relexified text may lead to the discovery of the repressed source language. (Ebd.: 317)
Der Beitrag von Zabus ist insofern hervorzuheben, als ihr Ansatz der relexification im deutschsprachigen Kontext aufgenommen und weiterentwickelt wurde. Zu nennen ist hier ein Aufsatz von Susan Arndt mit dem Titel »Postkoloniales Palimpsest. Igbo-Relexifizierung und Lexemisierung in der englischsprachigen nigerianischen Literatur« (2007: 149–164). Die Autorin greift Zabus’ Verwendung der PalimpsestMetapher auf und weist ihr einen privilegierten Platz in ihren Überlegungen zu.6 Arndts Beitrag stellt dabei ein Scharnier zwischen anglo-amerikanischer und deutschsprachiger Forschung dar. In diesem bestimmt sie einen spezifischen Typ strategischer Mehrsprachigkeit (Sprachhybridisierung), um so »Strategien postkolonialer Subversionen und Neuformierungen der Kolonialsprachen« (Arndt 2007: 150) im Kontext englischsprachig-nigerianischer Literatur zu kennzeichnen. Die Autorin spricht in diesem Fall sogar explizit, wie der Titel zeigt, von einem »postkolonialen Palimpsest«. Arndt beruft sich nicht nur auf die Konzepte von abrogati-
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Vgl. auch dazu ihre Dissertationsschrift African Women’s Literatur. Orature and Intertextuality. Igbo Oral Narratives as Nigerian Women Writers’ Models and Objects of Writing Back (1998: 63–96).
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on (dt.: Aufhebung/Außerkraftsetzung) und appropriation (dt.: Aneignung),7 ganz wesentlich orientiert sie ihre Überlegungen zur »Igbo-Relexifizierung« (Arndt 2007: 158–163) an der Arbeit The African Palimpsest: Indigenization of Language in the West African Europhone Novel von Zabus (1991) und schließt an deren Konzept der relexifiation an. Das Palimpsest findet in diesem Zusammenhang als Bild Verwendung, um fremdsprachige Elemente der kolonisierten Kultur in der hegemonialen Herrschaftssprache (hier: Englisch) als strategisch subversiv zu fokussieren. Dies geschieht an literarischen Beispielen von igboischen Autorinnen und Autoren, »die in einem Englisch geschrieben sind, durch das das Igbo wie bei einem Palimpsest hindurchschimmert.« (Arndt 2007: 151) Es geht Arndt dabei um die »Markierung des ›Anderen‹ im Englischen – oder vielmehr des ›Eigenen‹ in der ›anderen‹ Sprache«, um eine »Markierung des sprachlichen Palimpsestes und damit der Strategien der appropriation und abrogation.« (Ebd.: 152) Diese Perspektive basiert auf der Annahme, dass das postkoloniale Englisch die politische Matrix des Kolonialismus [darstelle] und zwar insofern [,] als Englisch die oberste und sichtbarste (und damit dominante) Sprache des Palimpsests ist und Igbo jenem Teil des Palimpsests vergleichbar ist, der durchschimmert und um seine Sichtbarkeit ringen muss. (Ebd.: 163)
Dabei rücken Arndts Überlegungen in die Nähe von Vorstellungen, die mithilfe des Palimpsests Hybridität (Bhabha) und Heterogenität (Bhatti) zu denken versuchen (vgl. I.3.2). Wenn die Autorin etwa davon spricht, dass durch den Einfluss der Igbo-Sprache auf die dominante englische Hegemonialsprache eine dritte Sprache entstehe, »die weder Englisch noch Igbo« sei, sondern »Igbo-in-Englisch«, wodurch »den exophonen Figuren (und Autorinnen) eine Sprache ›gegeben‹ [werde], die zwar nicht die eigene ist, aber doch das Eigene enthält« (ebd.: 164), so greift sie Merkmale des Palimpsests auf, die bereits in Spivaks Konzept der ›Subalterne‹ zur Sprache kommen. Eine frühe Arbeit, die sich mit interkulturellen Perspektiven auf Literatur beschäftigt, bildet die Anfang der 1990er Jahre von David Simo publizierte Studie Intertextualität als ästhetische Erfahrung. Untersuchungen zum Werk Hubert Fichtes (1993). In dem vierten Kapitel »Palimpseste oder Interkulturalität als Methode« (ebd.: 153–222) verwendet Simo das Palimpsest als Metapher, nicht nur um es »im engen Sinne« Genettes als »Parodie, Travestie, Zitat, Kommentar usw.« zu gebrauchen, »sondern auch um ein Verfahren Fichtes zu charakterisieren, das darin be-
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Damit bedient sie sich der Terminologie, wie sie bereits in der für die postcolonial studies einschlägige Studie The Empire Writes Back (1989) von Ashcroft, Griffith und Tiffin Verwendung findet (vgl. Arndt 2007: 150f.).
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steht, zwei verschiedene Sachverhalte durch den mehr oder weniger expliziten Verweis auf ihre homologische Struktur oder ihr analogisches Erscheinen sich wechselseitig erhellen zu lassen.« (Ebd.: 153) Bei Simo findet das Palimpsest somit Verwendung, um eine interkulturelle Poetik zu veranschaulichen. Ähnlich macht Ortrud Gutjahr in ihrem für die interkulturelle Literaturwissenschaft wichtigen Beitrag Alterität und Interkulturalität (2002) vom Palimpsest Gebrauch, um interkulturelle Erfahrung im Bild der Überlagerung und Überschreibung zu begreifen (vgl. ebd.: 363). Dass es Gutjahr dabei um »Fremdheit als ästhetisches Verfahren« (ebd.: 362) geht, verweist – wie auch bei Simo – auf die Fähigkeit der Palimpsest-Metapher, eine Ästhetik der Mehrschichtigkeit und Interkulturalität zu beschreiben. Doch selbst wenn das Palimpsest also, wie anhand dieser Beispiele deutlich geworden sein dürfte, ebenfalls für interkulturelle Perspektiven eine attraktive Metapher darstellt, so kommt ihr heuristisches Potential auch hier nur ansatzweise zum Tragen und ist meines Erachtens für Theorien der Interkulturalität noch nicht zufriedenstellend erfasst worden. Seit der Jahrtausendwende ist das Palimpsest innerhalb von postkolonialen germanistischen Studien in ganz unterschiedlicher Weise herangezogen worden. In einer überschaubaren Zahl von Arbeiten dient das Palimpsest als Beschreibungsfigur für intertextuelle Verweisstrukturen und Mehrfach- bzw. Doppelcodierungen.8 Hervorzuheben sind zwei Beiträge, die zur Begründung der Textauswahl für die vorliegende Arbeit beitragen: Der eine stammt von Axel Dunker, der das Palimpsest in Bezug auf Hamanns Roman Usambara diskutiert (2012a), ein anderer von Eckhard Schumacher, der am Beispiel von Krachts Imperium auf das ästhetische Zusammenspiel von »Differenz und Wiederholung« (2013) eingeht. Das Palimpsest dient in diesen Beiträgen als Metapher, um Prozesse der ästhetischen Überlagerung und Überschreibung ein Bild zu geben und mit dekonstruktivistischen und strukturalistischen Perspektiven zu betrachten. 9 Dass das Palimpsest dabei stets in Zusammenhang mit methodischen Begriffen wie ›Relektüre‹ oder rewriting gebracht wird (vgl. Dunker 2012a), zeigt zum einen die grundsätzliche Anschlussfähigkeit des Palimpsests an Konzepte, die vor allem im Bereich der angloamerikanischen Postkolonialismusforschung entwickelt wurden. Seine Verwendung zeigt zum
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Folgende Beiträge aktualisieren das Palimpsest als intertextuelle Metapher: Reif-Hülser (2006: 65, 71), Hamann/Honold (2009: 13), Dunker (2012a: 167f.), Hamann (2013: 147, 167f.) und Schumacher (2013: 136f.). Anzumerken ist, dass die Metapher meist deskriptiv Verwendung findet, ohne auf das semantische Potential einzugehen oder sie an theoretische Konzepte anzuschließen (vgl. etwa bei Beck 2011: 62; Bachmann-Medick 2009: 210).
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Die Tragweite dieser Ansätze für die vorliegende Studie wird im Verlauf der Arbeit noch eingehender thematisiert. Vgl. dazu I.3.4 und besonders II.4.1.1.
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anderen, wie geeignet diese Denkfigur ist, eine Literatur zu beschreiben, die ihr postkoloniales Potential ganz maßgeblich aus der kritisch-revisionistischen Beziehung zu literarischen Prätexten bezieht. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass das Palimpsest in eine Reihe postkolonialer Studien Eingang gefunden hat, wenngleich seine Thematisierung nicht immer gleich ausführlich stattfindet. Anders als in den postcolonial studies steht in den deutschsprachigen postkolonialen Studien ein Interesse an intertextuellen Relationen im Mittelpunkt der Analysen, die Texte auf ihre vermeintlich postkolonialen Potentiale, aber auch auf ihre potentiell problematischen Verstrickungen mit kolonialen Kontinuitätslinien hin befragen. Insgesamt lässt sich bilanzieren, dass diese Arbeiten zwar von der vielschichtigen Metaphorik profitieren, die metaphorische Leistung des Palimpsests für postkoloniale Überlegungen über Kultur im Allgemeinen und Literatur im Besonderen jedoch längst nicht erfassen. Das Potential dieser Denkfigur für postkoloniale Perspektiven auf Kultur und Identität, Erinnerung und Gedächtnis sowie auf Intertextualität gilt es daher in den folgenden Abschnitten auszuloten. Die Präsenz des Palimpsests in Diskursen der postcolonial studies, der postkolonialen Studien in der Germanistik sowie ihrer Grenz- und Transferbereiche dürfte gezeigt haben, wie anschlussfähig die Metapher an postkoloniale sowie interkulturelle Überlegungen und Fragestellungen ist, und nicht zuletzt dafür einsteht, dass eine Modellierung des Palimpsests sowohl als theoretisches als auch textanalytisches Konzept, wie sie die vorliegende Arbeit unternimmt, insgesamt geboten ist.
3.2 K ULTUR
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3.2.1 Hybridität, différance, third space: Das Palimpsest bei Homi K. Bhabha Homi K. Bhabha hat mit seinen Beiträgen zur postkolonialen Theorie auch das Palimpsest geprägt. Obgleich er die Metapher keinesfalls in den Mittelpunkt seiner Überlegungen zur Frage nach der Identität postkolonialer Subjekte rückt, stellt das Palimpsest eine Figur bereit, die für sein Denken exemplarisch ist. Dass Bhabha zur Veranschaulichung seiner theoretischen Überlegungen (z. Bsp. zur Hybridität) von einer Reihe weiterer Metaphern Gebrauch macht, wie dem »Treppenhaus« oder der »Brücke« (Bhabha 2000: 5–7),10 erklärt nicht, warum das Palimpsest als Metapher
10 Vgl. dazu insbesondere die Einleitung in Die Verortung der Kultur (Bhabha 2000: 1–28; bes. 5, 7, 13). Oliver Lubrich stellt umfassend fest: »Homi Bhabha konzeptualisiert ›Kultur‹ in einer exzessiv metaphorischen Terminologie insbesondere der Verräumlichung,
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der Schrift bislang innerhalb der Bhabha-Rezeption so wenig Aufmerksamkeit erfahren und kaum zu einer Relektüre seiner Schriften angeregt hat. Der folgende Abschnitt geht deshalb der Frage nach, inwiefern Bhabhas Vorstellungen von kultureller Identität, die insbesondere mit dem Konzept der ›Hybridität‹ verknüpft sind, in mit seinem Gebrauch der Palimpsest-Metapher konvergieren. Was ist folglich die heuristische Leistung des Palimpsests für seine Vorstellung von Kultur? In welchem Verhältnis steht die Metapher zum Konzept des ›dritten Raum‹, der différance oder der ›Hybridität‹?11 Die Spur des Palimpsests führt Bhabha zunächst zu Frantz Fanon. In dem Essay »Die Frage der Identität. Frantz Fanon und das postkoloniale Privileg« (Bhabha 2000: 59–96) schreibt er über die Bedingungen (post-)kolonialer Identität, die er vor dem Hintergrund seiner Fanon-Lektüre entwickelt. Die »antikoloniale Befreiungstheorie« (Wolter 2000: 96) dieses Psychoanalytikers und Politikers bildet einen wichtigen Bezugs- und Ausgangspunkt für Bhabhas Überlegungen (vgl. Struve 2013: 25f.).12 Typisch für seine Methode, die der Psychoanalyse Jacques Lacans, der Dekonstruktion Jacques Derridas sowie der Diskursanalyse Michel Foucaults verpflichtet
aber auch von Zeitlichkeit, Architektur, Visualität, Genealogie, Forensik, Handwerk und Ökonomie, nicht zuletzt auch als Sprache, Rhetorik, Schrift und Zeichensystem sowie als Literatur, Theater oder Kunst.« (Lubrich 2009: 24) 11 Auf den Umstand, dass Bhabhas Theoriegebäude keinesfalls als ein homogenes, kohärentes Gebilde zu betrachten ist, was eine Systematisierung erschwert, bzw. dass er sich »einer eindeutigen Verortung als Literaturwissenschaftler oder als Kulturtheoretiker entzieht« (Struve 2013: 13), ist seitens der Forschung mehrfach hingewiesen worden. Karen Struve (ebd.: 12–30) hat in Bhabhas komplexem theoretischen Denken zwei Strömungen unterschieden: Ihr zufolge wird seine Auseinandersetzung mit kolonialismuskritischen, postkolonialen Theorien der Autoren Edward Saids, Frederic Jamesons und Frantz Fanons begleitet von kulturwissenschaftlichen Denktraditionen der Diskursanalyse (Foucault), Psychoanalyse (Freud/Lacan) und Dekonstruktion (Derrida) (vgl. Struve 2013: 19; so auch Babka/Posselt 2012: 8). Auch Oliver Lubrich hebt hervor, dass die »Originalität seines Denkens« darin liege, »postkoloniale Theorie mit poststrukturalistischen Theoremen« zu verschmelzen (2009: 32). Dazu Bhabha selbst: »I have chosen to give poststructuralism a specifically postcolonial provenance.« (Bhabha zit. n. Lubrich 2009: 32). 12 Zur Rolle Frantz Fanons als postkolonialer Vordenker vgl. den Beitrag von Jens Kastner (2012: 85–95). Vgl. auch das Kapitel zu »Frantz Fanons Kolonialismuskritik« in Julia Kerners Überblick Postkoloniale Theorien zur Einführung (2012: 43–53) wie auch die deutschsprachige Monographie Das obskure Subjekt der Begierde. Frantz Fanon und die Fallstricke des Subjekts der Befreiung von Udo Wolter (2001).
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bleibt, ist dabei eine grundlegende Denkoperation: Identität folgt bei Bhahba keinem Einheitspostulat, das auf der Vorstellung einer absoluten, homogenen und monolithischen Entität beruht. Stattdessen erklärt er das Subjekt zum Ort von »Spaltung« und »De-Plazierung« (Bhabha 2000: 59). Die von der postkolonialen Situation betroffenen Identitäten, das betrifft sowohl ehemalige Kolonisierer als auch ehemals Kolonisierte, 13 sind demnach von einer prinzipiellen Ambivalenz und Widersprüchlichkeit, von Brüchen geprägt (vgl. ebd.: 65–67). »Der Grundgedanke seiner Kulturtheorie«, so schreibt Oliver Lubrich in das Das Schwinden der Differenz (2009), läßt sich […] fassen als die Auflösung des Binarismus von ›Identität‹, ›Differenz‹ und ›Andersheit‹, dem eine Auffassung von Kulturen als essentiellen [sic] Größen zugrunde liegt, in die Idee einer dynamischen Prozessualität und ›Hybridität‹. Kulturen sind keine stabilen Selbst-Präsenzen, die sich als ›Identitäten‹ in klarer ›Differenz‹ zu anderen beschreiben ließen. […] Der ›Ort‹ einer Kultur, der Schauplatz kultureller Bedeutung, ist stets ein Zwischenraum. (Ebd.: 24f.)
Die Vorstellung fester, absoluter Entitäten und binärer Konstellationen (Dichotomien), ihre identifikatorische Grenzziehung, die das Verhältnis von Eigenem und Fremdem, Kolonisierern und Kolonisierten im kolonialen Diskurs14 asymmetrisch strukturiert, wird durch Bhabhas Denkbewegung grundsätzlich infrage gestellt, ja geradezu unterlaufen bis dekonstruiert. Ziel seines Denkens ist es, »aus dem Gefängnis der binären Dichotomien in der Kulturtheorie herauszugelangen und die damit verbundenen Macht- und Herrschaftsbeziehungen im Kräftefeld des Kolonialismus analytisch aufzubrechen.« (Bachmann-Medick 1998: 21) Dies gelingt Bhabha, indem er dem Logozentrismus ein »postmodernes Verständnis von Ambivalenz« entgegensetzt (Müller-Funk 2012: 83), wobei er nicht bei einer »binären Oppositionslogik stehen bleibt[,] sondern einen dekonstruktivistischen, dritten Weg einschlägt.« (Struve 2013: 30) Dieser Grundgedanke unterscheidet Bhabhas theoretisches Projekt von anderen Ansätzen mit kolonialismus- und kulturkritischen Anliegen, denen es stärker um kohärente Erklärungsmodelle denn um die Herausarbei-
13 Vgl. dazu Bonz/Struve: »Im Gegensatz zu postkolonialen Theoretikern wie Said geht Bhabha davon aus, dass auch die Identifikationsprozesse auf Seiten der Kolonisatoren von tief greifender [sic] Wirkung sind.« (Bonz/Struve 2011: 136) 14 Unter »koloniale[m] Diskurs« wird nachfolgend mit Herbert Uerlings »die Gesamtheit der Regeln bezeichne[t], nach denen auf dem kolonialen Feld Bedeutungen und mit ihnen verbundene Machteffekte performativ erzeugt werden. Diskursanalysen richten sich (also) primär auf die Semantiken des kolonialen Feldes, dann aber auch auf die Beziehung zwischen diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken.« (Uerlings 2005: 17; 2006: 5)
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tung von Ambivalenzen und Widersprüchen geht.15 Kolonisierer wie Kolonisierte sind in Bhabhas Verständnis nicht durch eine unüberwindbare Grenze getrennt, sondern durch eine Art »Spiegelblick miteinander verbunden, der Selbst und Anderes überlagert.« (Schößler 2006: 150) Identitäten sind demzufolge nicht über das räumliche Begriffspaar ›Innen‹/›Außen‹ zu verstehen (vgl. Struve 2013: 24). Mit Freud gesprochen wird das Andere (als das Unheimliche) stets als integraler, untrennbarer Teil des Eigenen (des Heimlichen) begreifbar.16 Der Andere ist nicht außerhalb der eigenen Identität lokalisiert, sondern untrennbar mit dem Eigenen verbunden, ist also als Teil von diesem zu betrachten, was beide Positionen zu partiellen werden [lässt], die von grundlegender Instabilität und innerer Gespaltenheit gekennzeichnet sind. […] Der Gegensatz von Identität, also Differenz, wird folglich nicht mehr als das Andere der Identität verstanden, sondern vielmehr wird die Differenz im Inneren der Identität angesiedelt. (Birk/Neumann 2002: 126)
Freuds Denkfigur des ›Unheimlichen‹17 ist für Bhabhas Verständnis von Identität wesentlich.18 Um einerseits die Präsenz des ›Anderen im Eigenen‹, andererseits die des ›Eigenen im Anderen‹ als Prozess wechselseitiger Durchdringung zu beschreiben und darüber hinaus die »psychische Unsicherheit der kolonialen Beziehung« darzustellen, bemüht er die Palimpsest-Metapher: Die ambivalente Identifikation der rassistischen Welt […] basiert auf der Idee vom Menschen als seinem entfremdeten Bild; nicht Selbst und Anderer, sondern die Andersheit des Selbst, die in das perverse Palimpsest der kolonialen Identität eingeschrieben ist. Und gerade diese bizarre Figur des Begehrens, die sich entlang der Achse aufspaltet, auf der sie beruht, zwingt
15 Zu Bhabhas Kritik an Benedict Andersons Konzept der ›Nation‹ sowie Saids ›Orientalismus‹ vgl. Lubrich (2009: 31; 2010: 357). Vgl. Bhabha (2000: 105–108). 16 An dieser Stelle scheint es notwendig, darauf hinzuweisen, dass zwischen den Begriffen ›Fremdheit‹ und ›Andersheit‹ zu unterscheiden ist. Während der Begriff des ›Anderen‹ aus psychoanalytischer Sicht die Grenzziehung innerhalb einer Identität versteht, also das »Andere meines Selbst Anerkannte[n]« umschreibt, wird die »Figur des und der Fremden«, so schreibt Wolfgang Müller-Funk in Bezug auf Bhabha und Paul Ricœur, erst »durch Exklusion und Differenz ›geschaffen‹«. Insofern ist der »kolonisierte kulturelle Fremde gerade nicht die Figur des Anderen.« (Müller-Funk 2012: 85f.) 17 Freuds Leitidee, die er 1919 seinem Aufsatz »Das Unheimliche« formuliert hat, geht davon aus, »das Unheimliche sei jene Art des Schreckhaften, welche auf das Altbekannte, Längstvertraute zurückgeht«. (Freud 1940a: 231; vgl. zu Freud bei Bhabha in Bronfen 2000: X) 18 Vgl. Bhabhas Bezüge zu Freud und Fanon (2000: 13–27).
48 | L ITERATUR ALS P ALIMPSEST Fanon dazu, die psychoanalytische Frage nach dem Begehren des Subjekts auf die historische Situation des kolonialen Menschen anzuwenden. (Bhabha 2000: 65)
Das Palimpsest dient Bhabha somit als Metapher, um der Ambivalenz und der Widersprüchlichkeit (post-)kolonialer Identitäten ein Bild zu geben. Kultur lässt sich für ihn damit weder als etwas Stabiles fassen, noch lässt sie sich in binäre Schemata einspannen. Sie wird vielmehr zum Ort von paradoxen Durchkreuzungen und Verflechtungen. Mithilfe der Palimpsest-Metaphorik suspendiert Bhabha Vorstellungen von Ursprung und Einheit einer Kultur und artikuliert stattdessen ein Moment wechselseitiger Überlagerung: »Kulturen sind niemals in sich einheitlich, und sie sind auch nie einfach dualistisch in ihrer Beziehung des Selbst zum Anderen.« (Bhabha 2000: 54) Einem Denken in binären Mustern setzt Bhabha deshalb das Konzept ›kultureller Hybridität‹ entgegen, das eine abstrakte Subjektposition räumlich umschreibt, die »weder das Eine […] noch das Andere« markiert, »sondern etwas weiteres neben ihnen«. Hybridität besetze also etwas Drittes, was »die Begriffe und Territorien von beiden in Frage stellt.« (Bhabha 2000: 42; Hervorh. i. Orig.) Dieser Ort, den Bhabha bekanntlich als ›dritten Raum‹ (third space) bezeichnet, eröffnet ein »semiotisches Feld« (ebd.: 64), auf dem kulturelle Bedeutungen in wechselseitigen Prozessen der Interaktion immer wieder neu verhandelt werden. Als »Ort der Hybridität« ist der ›dritte Raum‹19 daher ebenso ein »Raum der Übersetzung« (ebd.: 38), der die Möglichkeit interkultureller Austauschprozesse und Grenzüberschreitungen eröffnet. 20 Hybridität als Palimpsest zu denken, rückt die
19 Das Konzept vom ›dritten Raum‹ entfaltet Bhabha im Vorwort von Die Verortung der Kultur (2000: 1–28). Populär geworden ist die Verwendung der Metapher vom »Treppenhaus« (ebd.: 5), um diese Idee zu veranschaulichen. Im Zentrum steht die räumliche Vorstellung eines Ortes des »Darüberhinausgehens« (ebd.: 5; Hervorh. i. Orig.), d.h. jenseits starrer, binär bzw. dichotom angeordneter Positionierungen von Identität, die das Ergebnis kultureller Differenzbildung darstellen: »Das Treppenhaus als Schwellenraum zwischen Identitätsbestimmungen wird zum Prozeß symbolischer Interaktion, zum Verbindungsgefüge, das den Unterschied zwischen Oben und Unten, Schwarz und Weiß konstruiert. Das Hin und Her des Treppenhauses, die Bewegung der Übergänge in der Zeit, die es gestattet, zu verhindern, daß sich Identitäten an seinem oberen und unteren Ende zu ursprünglichen Polaritäten festsetzen. Dieser zwischenräumliche Übergang zwischen festen Identifikationen eröffnet die Möglichkeit einer kulturellen Hybridität, in der es einen Platz für Differenz ohne eine übernommene oder verordnete Hierarchie gibt.« (Ebd.: 5) 20 Darüber hinaus betont Bhabha in einem 2012 erschienenen Interview, dass Prozesse der Hybridisierung immer auch im Kontext von Macht gelesen werden müssen: »Der Begriff der Hybridisierung nimmt zwar Bezug auf die Verfasstheit des Subjekts, es geht dabei
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Überlagerungen und Verflechtungen von Kultur ins Bild, die sich traditionellen Modellen, die sich der Kohärenz, Eindeutigkeit und Abgrenzbarkeit verschreiben, entziehen und stattdessen das Moment heterogener Mehrschichtigkeit betonen, die sich nicht homogenisieren lässt. Ohne auf das Palimpsest explizit zu rekurrieren, rufen auch die Ausführungen Bachmann-Medicks zu Bhabhas Hybridität und third space dessen Metaphorik doch implizit auf. Ihr zufolge verweise der third space auf die Idee eines Zwischen- und Überlappungsraums von Grenzzonen und Grenzsituationen. Gemeint ist ein Ort der Auseinandersetzung in und zwischen Kulturen, in dem Grenzziehungen (z.B. zwischen Eigenem und Fremdem) destabilisiert werden können. Denn ein solcher dritter Raum entsteht nicht etwa zwischen zwei reinen, unvermischten Zonen. Vielmehr kennzeichnet er eine kulturelle Verfassung, die überhaupt keine reinen, unvermischten Zonen enthält, sondern aus Überlagerungen in sich widersprüchlicher und differenter Schichten einer Kultur besteht. (Bachmann-Medick 2009: 205)
Neben der Palimpsest-Metapher und dem ›dritten Raum‹ ist in Bhabhas Theorie im Zusammenhang von Überlagerung und Überschreibung ein weiterer Aspekt bedeutsam: das Denken der différance.21 Dieses geht auf Jacques Derridas Arbeiten zur Dekonstruktion zurück. Unter différance, das ›Unterschied‹ und ›Aufschub‹ zugleich bedeutet (franz. différer: ›unterscheiden‹ und ›aufschieben‹), wird hier »eine Differenz« verstanden, »die sich nur in einer Bewegung des Aufschubs ihrer (also unmöglichen) endgültigen Bestimmung konstituieren kann.« (Bunia/Dembeck 2009: 72)22 Im Prozess der Identitätsbildung wird demzufolge Bedeutung ständig dynamisch verändert, findet Sinnverschiebung und Übersetzung statt, werden Sinnbezüge neu- und rekonfiguriert als Folge permanenter, wechselseitiger Interaktio-
aber nicht um die Konstitution von Subjektivität als solcher, sondern um die Konstitution von Subjektivität im Spannungsfeld von Macht und Autorität, wobei ich zwischen diesen Begriffen klar unterscheide.« (Bhabha 2012: 62) 21 Ein Denken der/in différance beabsichtigt, so schreiben Jochen Bonz und Karen Struve in Bezug auf Bhabha, »die Überwindung der hegelianischen Dialektik«. Es bildet einen »Rekurs auf Differenzen im Sinne poststrukturalistischer Semiotik und Psychoanalyse« und fokussiert in diesem Kontext »die konzeptionelle Berücksichtigung von Macht- und Hierarchieverhältnissen in Situationen des postkolonialen Kulturkontakts.« (Bonz/Struve 2011: 133) 22 An dieser Stelle soll nicht ausführlich auf Derridas Konzept eingegangen werden, vgl. Derrida (1999).
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nen.23 Différance bedeutet eine »Unabschließbarkeit des Sinns und damit ein niemals abgeschlossener Identifikationsprozess«. (Struve 2013: 24) Kultur als Palimpsest zu denken, heißt demnach, ihre Schichtungen und deren Interferieren als unendlichen Prozess zu begreifen. Kulturen sind also niemals stabil, sie werden fortwährend transformiert in einem Vorgang endloser Signifikation, und sie lassen sich niemals unter Kontrolle bringen und vereindeutigen. […] Kulturen sind als ›Texte‹ aufzufassen, deren ›Schrift‹ eine fortwährende ›différance‹ erzeugt. (Lubrich 2009: 25f.; vgl. 2010: 369)
›Kultur als Palimpsest‹ lässt sich demzufolge als eine mehrfach geschichtete Struktur verstehen, deren Bedeutungsebenen dynamisch-dialogisch in Beziehung treten. Neben dieser strukturellen Vorstellung betont der Akt des Palimpsestierens, ganz im Sinne der différance, eine dekonstruktivistische Bewegung, bei der Sinnebenen immer wieder neu überschrieben werden. Identität lässt sich folglich nicht eindeutig, essentialistisch festlegen; das Palimpsest produziert unaufhörlich Sinn. Wiederholung und différance bilden den Ort einer Vielschichtigkeit, der nicht als kulturalistisches Nebeneinander im Sinne von Diversität aufzufassen ist, sondern als Raum, der von Spaltungen, Rissen und Deplatzierungen, von Widersprüchen und Ambivalenzen betroffen ist.24 Mit dem Bild des Palimpsests lässt sich Identität im Sinne einer Mehrfachtextur als hybrides Modell begreifen. Bhabhas Konzept vom dritten Raum, »der durch vielfältige Überlagerungsprozesse entsteht« (Birk/Neumann 2002: 127), evoziert
23 Bhabha versteht unter »Hybridisierung« dabei keine prozessuale Vorstellung der Identitätsbildung, bei der sich Identität synkretistisch aus unterschiedlichen Elementen verschiedenster Kulturen zusammensetzt und dabei identifizierbar bliebe: »[D]as ist für mich nicht Hybridisierung. Mir geht es vielmehr darum, wie Teile miteinander und mit äußeren Kräften der Gemeinschaftsbildung in Verhandlung treten, wie diese Interaktionen stattfinden. Hybridisierung ist folglich für mich ein Prozess, eine Bewegung und dreht sich nicht um multiple Identitäten – ein Begriff übrigens, für den ich nicht viel übrig habe.« (Bhabha 2012: 66) 24 Zu Bedeutung der différance bei Bhabha schreibt Alexander Honold: »Indem Derrida einen Leitbegriff ersinnt, der die beiden widerstreitenden Aspekte des Aufschiebens und Unterscheidens zusammenführt, ohne dass zwischen ihnen eine klare Hierarchie hergestellt würde, unterzieht er die strukturalistische Basis-Tätigkeit der Erzeugung logischer Gegensatzpaare einer weitreichenden Modifikation. […] Durch die différance im Sinne des Aufschubs, der Veränderung eines Zeichens durch seinen Transport, entsteht wiederum ein Unterschied, der auch im Sinne logischer Gegensatzbildung relevant wird.« (Honold 2014: 81) Vgl. zur différance auch Bhabha (2000: 159).
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die Vorstellung von »›Zwischen‹-Räume[n]« (Bhabha 2000: 2), worin »kulturelle Werte, Interessen, Wissen sowie Strategien der Bedeutungsstiftung ausgehandelt« werden (Birk/Neumann 2002: 127). Das Subjekt kann demzufolge gerade nicht auf eine ethnische Position festgelegt werden, sondern [muss] als Überschreitung jener verschiedenen Teilaspekte der divergierenden ethnischen, klassen- oder geschlechtsspezifischen Zugehörigkeiten begriffen werden, die nur als Verknotung die kulturelle Identität des Individuums ausmachen. (Bronfen 2000: IX)
Aus einem poststrukturalistischen Verständnis heraus suspendiert die PalimpsestMetaphorik Vorstellungen von kultureller Einheit und kulturellem Ursprung. Es gibt im Derrida’schen Sinne folglich »keinen Ursprung, keine originäre Wahrheit, sondern nur ein unendliches Spiel von Differenzen und Widersprüchen.« (Bachmann-Medick 2009: 190) Wenngleich Bhabha nicht explizit auf dieses Theoriepotential des Palimpsests eingeht, belegen seine Überlegungen zu Palimpsest, Kultur und Identität im Allgemeinen sowie zum ›dritten Raum‹ und zur ›Hybridität‹ im Besonderen doch implizit sowohl die Anschlussfähigkeit an als auch die Produktivität der Metapher für einen dekonstruktivistisch orientierten Postkolonialismus. 3.2.2 Kultur als Verflechtung. Der Palimpsest-Gedanke bei Anil Bhatti Eine noch exponiertere Stellung weist der Literatur- und Kulturwissenschaftler Anil Bhatti dem Palimpsest in seinen kulturtheoretischen Überlegungen zu. Wie ein roter Faden durchzieht es als ein Grundgedanke eine Vielzahl seiner Veröffentlichungen, die im Zeitraum zwischen 1998 bis 2015 erschienen sind. Bhatti nutzt die Palimpsest-Metapher, um Kultur in ihrer historischen Bedingtheit, Heterogenität und Komplexität als »Verflechtungszusammenhang« zu beschreiben (Bhatti 2012: 185; 2015: 128).25 In dieser Verflechtung sieht Bhatti »einen wesentlichen Aspekt des kulturtheoretisch wichtigen Palimpsest-Gedankens, welcher Kulturen als historisches Resultat von vielen Schichtungen begreift.« (Ebd.) Es geht Bhatti um ein offenes Verständnis von Kultur, das nicht nur »Kolonisierung als Teil der widerspruchsvollen Gesamtentwicklung eines Weltsystems in einem Prozess der zunehmenden Vernetzung und Verdichtung« betrachtet (Bhatti 2015: 121). Demnach lasse sich auch die globalisierte Gegenwart nur in ihren gegenseitigen kulturellen, ökonomischen sowie politischen Verstrickungen, Durchdringungen und Durchkreuzungen als Verflechtungsgeschichte verstehen. Bhatti zufolge werde die »ökonomische, politische und kulturelle Neuordnung des koloni-
25 Vgl. in chronlogischer Reihenfolge: Bhatti o.J., 1998, 2003, 2005, 2012, 2014 und 2015.
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alen und postkolonialen Zeitalters […] als ein ineinander verwobener Prozess begriffen«, der kulturelle Grenzziehungen »porös« (ebd.) werden lasse. Bhattis Überlegungen rekurrieren u.a. auf Blochs Diktum von der »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen« (Bloch 1985).26 Diesen Aspekt des Palimpsests verwendet er, um gegen geschlossene Modelle von Kultur zu argumentieren,27 die er namentlich mit Johann Gottfried Herder verbindet (vgl. Bhatti 2012: 185; 2015: 129).28 Bhatti stellt das Palimpsest als Gegenfigur »monokausale[n], nach Wurzeln strebende[n] Authentizitätsdiskurse[n]« (2015: 128) und ihren Kulturvorstellungen von Reinheit und Ursprung entgegen. Bemerkenswert erscheinen an Bhattis theoretischer Setzung drei Aspekte: Zum einen rückt das Palimpsest in die semantische Nähe des »Rhizoms« (vgl. ebd), einer dekonstruktivistischen Gedankenfigur, die auf die gleichnamige Arbeit von Gilles Deleuze und Félix Guattari zurückgeht (1977). Ihr Theorieentwurf steht für eine radikale Kritik an binären, hierarchischen und logozentrischen Denkmodellen. An deren Stelle setzt das Rhizom Prinzipien der Verknüpfung, der Heterogenität und der Vielheit (vgl. Deleuze/Guattari 1977: 11–14), also Aspekte, die auch Bhatti im Bild des Palimpsests aufruft: »Postkoloniales Denken und seine Metaphorik steht [sic] […] der Idee des Rhizomes [sic] von Deleuze und Guattari sehr nah.« (Bhatti 1998: 349; vgl. 2015: 128f.)29 Zum anderen entwickelt Bhatti das Palimpsest als Kulturmetapher vor dem politischen Hintergrund der indischen Geschichte, in der das Palimpsest selbst eine diskursive Spur hinterlassen hat. So beschreibt er »Indien als eine Gesamtheit von historischen Überlagerungen« (2005: 40)30 und diskutiert in einem frühen Beitrag aus dem Jahr 1998 das Palimpsest im Zusammenhang mit den Überlegungen des indischen Widerstandskämpfers und ersten Ministerpräsidenten Jawaharlal Nehru
26 Vgl. hierzu Bhatti (o.J.: 11; 1998: 342–344; 2005: 40; 2014: 36–38; 2015: 129). 27 Zum Spannungsverhältnis eines »offenen« und »geschlossenen Kulturbegriffs« im Horizont aktueller Debatten zum Interkulturalitätsbegriff vgl. den Beitrag »Kultur als interkulturelle Herausforderung« (Bloch u.a. 2016). 28 Die Kritik an Herders Kulturbegriff, die u.a. zuletzt durch Wolfgang Welschs Konzept der ›Transkulturalität‹ an Auftrieb gewann (vgl. Dembeck 2010: 104), ist in jüngster Forschung als zu einseitig zurückgewiesen worden (vgl. ebd.: 105; Gaier 2007). 29 Erstaunlich ist, dass, meiner Beobachtung nach, Deleuzes/Guattaris Figur des ›Rhizoms‹ bislang innerhalb von postkolonialen Studien kaum thematisiert wurde. Eine Ausnahme bildet der Beitrag von Eva Wiegmann, die am Beispiel von Christian Krachts Roman Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten (2008) aus postkolonialer Perspektive rhizomatische Strukturen und Schreibweisen untersucht (Wiegmann 2016). 30 Vgl. auch »India’s Cultural Palimpsest« (Bhatti 2014: 36–38).
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(1889–1964). Nehru bediente sich selbst 1959 in seiner Schrift The Discovery of India (1959) des Palimpsests als Denkfigur, um, Bhatti zufolge, die sprachliche und kulturelle Komplexität Indiens, dessen Diversität und Einheit in der Diversität mit dem Bild des Palimpsests zu erfassen. Allerdings ein Palimpsest, dessen Gültigkeit in seiner Ganzheit liegt und nicht in irgendeiner Schicht, zu der man durch einen Akt der Reinigung oder ›Wegradierung‹ stößt. (Bhatti 1998: 346)
Indien war für Nehru, so schreibt Bhatti weiter, wie ein altes Palimpsest: [an] ancient palimpsest on which layer upon layer of thought and reverie had been inscribed, and yet no succeeding layer had completely hidden or erased what had been written previously. All of these exist together in our conscious or subconscious selves, though we may not be aware of them, and they had gone to build up the complex and mysterious personality of India. (Bhatti 1998: 346; Nehru zit. n. ebd.)31
Drittens verweist Bhatti auf den Roman The Moor’s Last Sigh (1996) von Salman Rushdie, in dem er eine »Poetik des Palimpsest[s]« erkennt (Bhatti 1998: 348; o.J.: 17). Bei Rushdie wird das Palimpsest als räumliche Metapher aktualisiert, um die Widersprüche zu umschreiben, die in der Gesellschaft Bombays unter der Oberfläche hervorscheinen und in den Bildern der Malerin Aurora Zogoiby, der Mutter des Protagonisten Moor, ihren Ausdruck finden: »The City itself, perhaps the whole country, was a palimpsest«, heißt es in Rushdies Roman, »[u]nder World beneath Overworld, black market beneath white; when the whole of life was like this, when an invisible reality moved phantomwise beneath a visible fiction, subverting all its meanings« (Rushdie 1996: 184; vgl. Bhatti 1998: 347; o.J.: 16). In Rushdies Palimpsest-Poetik, die im Roman also über die Künstlerfigur der Mutter explizit wird und damit gewissermaßen auch autopoetologisch die Position Rushdies verhandelt, sieht Bhatti schließlich ein subversives Potential: »Wenn die säkulare Utopie durch die gesellschaftliche Realität sabotiert wird, dann kann das plurikulturelle Bild des Palimpsests nur in der Kunst weiterleben.« (Bhatti o.J.: 17) Im Roman selbst wird das Palimpsest zum utopischen Ort der Grenzüberschreitung, zu
31 In der deutschen Übersetzung heißt es: »Es war wie ein altes Palimpsest, auf dem eine Schrift von Gedanken und Traumbildern nach der anderen eingezeichnet war; doch keine Schicht hatte vollständig verdeckt oder ausgelöscht, was vorher dastand. Sie alle lebten in unserem bewußten oder unbewußten Ich, wenn wir ihrer vielleicht auch nicht gewahr werden; sie alle hatten dazu beigetragen, den komplizierten und geheimnisvollen Charakter Indiens zu gestalten.« (Nehru 1959: 66)
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»Palimpsestine« (Rushdie 1996: 226) bzw. deutsch »Palimpstina« (Bhatti o.J.: 17; vgl. 1998: 348). Bhatti greift die Palimpsest-Metapher also auf, um Kultur als heterogenes, »plurikulturelle[s] Gebilde« (Bhatti 2015: 119) ins Bild zu setzen, und arbeitet es in seinen kulturtheoretischen Aufsätzen seit Ende der 1990er Jahre aus. Sein erst unlängst veröffentlichter Artikel »Heterogenität, Homogenität, Ähnlichkeit« (2015) pointiert die Leistung des Palimpsests als Metapher noch einmal.32 Kultur als Palimpsest zu denken, entfaltet in dieser Vorstellung ein grenzüberschreitendes Potential. Mit ihm sind kulturalistische, homogene und auf Differenz angelegte, geschlossene Modelle kategorisch infrage zu stellen. Ein »postkoloniales Denken« wendet sich demnach »gegen die Ideologie der Reinheit und gegen den Authentizitätsdiskurs«, d.h. gegen jene »ideologische Position, die Authentizität, Kulturwurzeln, Monolingualität sowie Nationalstaatlichkeit essentialisiert und diese nicht als raum-zeitlich bedingt auffaßt.« (Bhatti 1998: 345f.) Bhatti profiliert somit das Palimpsest deutlich stärker im Kontext postkolonialer Theorie als etwa Homi K. Bhabha. Über sein Konzept der ›Ähnlichkeit‹ (›Similarity‹),33 das er an die Stelle von Differenz setzt, trägt er ganz maßgeblich zur aktuel-
32 »Als Gegenmodell zu solchen von Herder stammenden Vorstellungen dient die lose zusammengebundene, mehrsprachige und plurikulturelle Gesellschaft, deren Kulturvorstellung im Bild des Palimpsests zu suchen ist. Kulturen werden hier als Resultat von immer neuen Schichtungen begriffen – eben wie in einem Palimpsest, das immer neu übermalt oder beschriftet wird. Jene Schichtungen sind selbst Ergebnisse des historischen Wandels. Das Bild des Palimpsests negiert sowohl den Authentizitätsdiskurs als auch die Homogenisierungsthese. […] Die kulturelle Bedeutung des Palimpsests liegt jedoch darin, dass nur die Ganzheit von Schichtungsprozessen Gültigkeit besitzt. Keine Einzelschichtung, zu der man etwa durch einen Akt der Reinigung oder Wegradierung vorstoßen würde, kann den Authentizitätsanspruch usurpieren. Bei dem Prozess der Schichtung kommt es nämlich auf das Plurale an, also auf Fülle und Reichtum im historischen Prozess. Wenn die fortschreitende Schichtung als zunehmender Verlust an Authentizität aufgefasst wird, ist das Gegenteil der Fall. Das sogenannte wirkliche Indien, wenn man es denn wirklich will, liegt also nicht in einer Urschicht oder in irgendeiner Wurzel, sondern in der Ganzheit und Gleichzeitigkeit eines mehrschichtigen Prozesses. Dies ist ein Gedanke, der durchaus mit Ernst Blochs Vorstellung von der ›Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen‹ verglichen werden kann. Genau genommen wäre die Urschicht eines Palimpsests ein leeres Blatt. Der Gang zu den Wurzeln und zur Authentizität würde in einer plurikulturellen Gesellschaft daher ins Leere führen.« (Bhatti 2015: 129; Hervorh. i. Orig.; vgl. auch Bhatti 1998: 347; 2012: 186; 2005: 40f.) 33 Vgl. dazu Bhatti (2012; 2014; 2015) und den Sammelband Ähnlichkeit. Ein kulturtheoretisches Paradigma (Bhatti/Kimmich 2015).
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len Diskussion innerhalb der Interkulturalitätsforschung bei, in der seit einiger Zeit Zweifel am Begriff der ›Differenz‹ sowie an etablierten Topoi ›interkulturellen Verstehens‹ laut werden (vgl. Heimböckel 2013a; Heimböckel/Weinberg 2014). Das Palimpsest, so ließe sich in Anlehnung an Bhatti formulieren, bietet neben weiteren Metaphern (Bsp. ›Rhizom‹) eine theoretische Denkfigur, die solch einer Neuorientierung interkulturellen Denkens Rechnung trägt.
3.3 P ALIMPSEST
UND
G EDÄCHTNIS
Historische Gedächtnisse sind Palimpseste: wieder und wieder überschriebene Aufzeichnungen des Erinnerten. In ihnen offenbart sich eine eigensinnige Dynamik – Widersprüche, die lineare Interpretationen unmöglich machen, Lücken, die nach zusätzlichen bzw. anderen Quellen verlangen, Auslassungen, die irritieren und Spiegelungen, die Ambivalenzen sichtbar machen und Labyrinthe öffnen, in denen sich der Historiker leicht verirrt. Palimpseste mischen alte und neue Beschriftungen durcheinander: durch das Neue scheint das Alte hindurch und problematisiert so unsere Annahmen über Linearität und Kontingenz, Ursache und Wirkung, Relation und Plausibilität. (Wunberg 1998: 5)34
Seit dem 19. Jahrhundert hinterlässt das Palimpsest auch in Gedächtnis- und Erinnerungstheorien seine Spuren, wobei sein Weg durch diese verschiedenen Diskurse Auswirkungen auf seinen metaphorischen Gehalt hatte. Ohne einen Exkurs in diese Richtung blieben grundsätzliche Eigenschaften des Palimpsests unbeachtet, die mit dem Verhältnis von Erinnerung und Gedächtnis, von Latentem und Manifestem sowie mit Strategien des Verschweigens und Verdrängens zu tun haben. Diese Aspekte sind jedoch wesentlich in Hinblick auf die Frage nach einem (post-)kolonialen Gedächtnis und einer (post-)kolonialen Geschichtsschreibung. Wenn die überlieferte Geschichte im Benjamin’schen Verständnis häufig eine der »Sieger« (Benjamin 2007: 130) schreibt, so repräsentiert das kulturelle Gedächtnis durch Ein- und Überschreibungen immer auch ein Machtverhältnis zwischen superiorem und inferiorem Wissen. Eine kontrapunktische Perspektive, die hegemonialen Modellen von Geschichte und Gedächtnis zuwiderläuft, vermag es, Bereiche des Nicht-Wissens ins Licht zu rücken und Stimmen ertönen zu lassen, die durch gewaltsame Überschreibung ausgeschlossen und zum Verschweigen gebracht worden sind. Geschichte als Palimpseste lesen: Um die Herausarbeitung und Theoretisierung eines solchen Geschichtsbegriffs, das, wie Gotthart Wunberg in dem obigen
34 Vgl. hierzu auch die Festschrift zu Ehren Gotthart Wunberg unter dem Titel »Historische Gedächtnisse sind Palimpseste«. Hermeneutik – Historismus – New Historicism – Cultural Studies (Kamzelak 2001).
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Zitat ausführt, tradierte Vorstellungen und Konzepte zur Disposition stellt, soll es im Nachfolgenden gehen. 3.3.1 Metaphern der Schrift »Wer über Erinnerung spricht, kommt dabei nicht ohne Metaphern aus.« (Assmann 1991: 13) 35 Mit diesem Satz beginnt Aleida Assmann ihren Beitrag zur Erinnerungs- und Gedächtnistheorie 36 mit dem Titel »Zur Metaphorik der Erinnerung« (1991). Im Zentrum steht das heuristische Potential der Metaphorik, um Erinnerungsprozesse und Vorstellungsmodelle von Gedächtnis zu repräsentieren. »Das Phänomen Erinnerung«, so schreibt Assmann weiter, verschließt sich offensichtlich direkter Beschreibung und drängt in die Metaphorik. Bilder spielen dabei die Rolle von Denkfiguren, die die Begriffsfelder abstecken und die Theorie orientieren. ›Metaphorik‹ ist auf diesem Gebiet nicht umschreibende, sondern den Gegenstand zuallererst erschließende, konstituierende Sprache. Die Frage nach den GedächtnisBildern wird damit zugleich zur Frage nach unterschiedlichen Gedächtnismodellen, ihren Kontexten, Bedürfnissen, Sinnfigurationen. (Ebd.: 13; vgl. 2006: 150)
Metaphern dienen dabei nicht ausschließlich als »poetische Umschreibungen«. Sie bilden »Instrumente einer wissenschaftlichen Heuristik«,37 um Prozesse des Erin-
35 Vgl. in leicht variierter Fassung auch Assmann (2006: 150). Dass Assmanns Prämisse in der Generalisierung nicht uneingeschränkt zu halten ist, vgl. u.a. Pethes (2008: 118f., 123). 36 Die Begriffe ›Erinnerung‹ und ›Gedächtnis‹ werden im Rahmen dieser Arbeit in Anlehnung an Aleida Assmann als »Begriffspaar« aufgefasst und wiedergegeben (vgl. 1991: 14; Hervorh. i. Orig.). Dadurch wird markiert, dass es sich im weiten Sinne, wenn es um den Theoriekomplex von Erinnerungs- und Gedächtnistheorien geht, nicht um eine »Begriffsopposition« handelt, sondern um »komplementäre Aspekte eines Zusammenhangs […], die in jedem Modell gemeinsam auftauchen.« (Assmann 1991: 14) Zum Verhältnis von Schrift und Gedächtnis vgl. Aleida und Jan Assmann (1983: 265–284). Zur Unterscheidung von Gedächtnis und Erinnerung im begrifflich engeren Sinne vgl. A. Assmann (2011: 182f.), A. Assmann./J. Assmann (2007: 35–38) und Erll (2011: 7f.). 37 Assmann (2006: 156); vgl. auch Butzer (2005: 14). Die heuristische Funktion von Metaphern wurde von verschiedenen Seiten her betont: Ähnlich schreibt Harald Weinrich, dass Metaphern »den Wert von (hypothetischen) Denkmodellen« haben, welche dabei helfen – insofern sie »kritisch« gebraucht werden – »Fragen zu stellen.« (Weinrich 1976: 294) Douwe Draaisma, auf den auch Günter Butzer verweist (2005: 14), hat in seiner viel zitierten Arbeit Die Metaphernmaschine die »Metapher als heuristisches Instrument«
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nerns und Vergessens zu konzeptualisieren. Dies gelte ebenso für das Feld theoretischer Gedächtnismodelle. So »geht jede neue Gedächtnis-Theorie meist mit einer neuen Bildlichkeit einher.« (1991: 13) In den Mittelpunkt rückt Assmann die Metapher der Schrift. »Keine andere Metapher des Gedächtnisses hat sich als so vielseitig und dauerhaft erwiesen wie die der Schrift.«38 Die Schriftmetapher habe, so betont auch Nicolas Pethes, als »Universalmetapher in fast allen Gedächtnistheorien des Abendlandes« Eingang gefunden (Pethes 2008: 118). Sie spendet nach wie vor die zentralen Bilder, mit denen Gedächtnismodelle operieren, und hat auch im Computerzeitalter nicht an Bedeutung verloren (vgl. Draaisma 1999: 55f.). Assmanns Überlegungen orientieren sich dabei an Harald Weinrichs Typologie zur Gedächtnismetaphorik, die er in seinem vielzitierten Aufsatz »Typen der Gedächtnismetaphorik« bereits 1964, also lange vor der Konjunktur von Erinnerungsund Gedächtnistheorien Anfang der 1990er Jahre, auf eine prägnante Formel gebracht hat: »Wir können einen Gegenstand wie die Memoria nicht ohne Metaphern denken.« (Weinrich 1964: 26; vgl. auch 1976: 294) Neben Schriftmetaphern wie der »Wachstafel« bei Platon und Sokrates, dem »Buch« oder dem »Siegel« bei Aristoteles, der »Körper-Schrift« bei Nietzsche, dem »Wunderblock« bei Freud oder der »Spur« bei Spamer geht Assmann auch auf die semantische Leistung des Palimpsests als Gedächtnismetapher39 ein. Seine Eigenschaften sie besonders hervor, ermöglichten doch die hinterlassenen Spuren im Palimpsest nicht nur die tatsächliche »Wiederherstellbarkeit des Verlorenen«, sondern gleichsam den Prozess
(1999: 27) in zwei Typen differenziert: »Man spricht von ›theoretischer‹ Heuristik, wenn eine Metapher neue theoretische Ideen einführt, einen Zusammenhang in hypothetischen Prozessen herstellt oder wenn es gelingt, scheinbare Widersprüchlichkeiten zwischen experimentellen Ergebnissen aufzulösen. ›Empirische‹ Heuristik ist das Maß, in dem eine Metapher neue Forschungsfragen liefert.« (Draaisma 1999: 29) 38 Assmann (1991: 20). Vgl. zur Bedeutsamkeit von Schrift als Gedächtnismetapher auch Pethes (2001: 196–199), zur Kulturgeschichte der Gedächtnismetaphorik in der europäischen Kultur von der Antike bis Ende des 20. Jahrhunderts vgl. Weinrich (1991: 569– 582), Birk (2003: 79–101) und Butzer (2005: 11–29). 39 Unter Gedächtnismetapher wird hier mit Nicolas Pethes die »[ü]bertragende Verwendung eines sprachlichen Ausdrucks« begriffen, »die dazu dient, Theorien über die Struktur und die Funktionsweise von Gedächtnis und Erinnerung zu veranschaulichen«. Bemerkenswert erscheint ihr Merkmal, dass Beschreibendes und Bezeichnetes scheinbar zusammenfallen. Dies lasse »den Eindruck einer organischen Verbindung zu ihrem Gegenstand« entstehen (Pethes 2001a: 196), bei dem Medium (Mittel der Beschreibung) und Gegenstand (Bezeichnetes) eine Verbindung eingehen.
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des Überschreibens zu rekonstruieren und dadurch »den Weg des Vergessens in inverser Richtung abzuschreiten.« (Assmann 1991: 19; vgl. 2006: 154) Für Assmann liegt das Potential der Palimpsest-Metaphorik gerade in ihrem Vermögen, Erinnerung als Absenz und Gedächtnis als Präsenz in ein reziprokes Verhältnis zu bringen. Dabei beinhaltet das Bild sowohl ein Moment der Dynamik – Erinnern als diskontinuierlicher Prozess und Unverfügbarkeit – als auch ein Moment des Stillstands – Gedächtnis als Ort der Dauerpräsenz, Bewahrung und Verfügbarkeit. Das Palimpsest stelle somit ein »Medium des Speicherns und der Löschung zugleich« (Günter 2001: 435) dar und vermag einen Widerspruch aufzuheben bzw. diesen in eine Ko-Präsenz zu setzen, der für die Schrift als Metapher konstitutiv ist: So unentbehrlich und suggestiv die Schrift als Metapher des Gedächtnisses ist, so unvollkommen und irreführend ist sie auch. Widerspricht doch die Dauerpräsenz des Niedergeschriebenen eklatant der Struktur der Erinnerung, die stets diskontinuierlich ist und Intervalle der Nichtpräsenz notwendig einschließt. […] Um sich erinnern zu können, muß es vorübergehend entzogen gewesen und an einem Ort deponiert sein, von wo man es wieder-holen kann. Erinnerung setzt weder Dauerpräsenz noch Dauerabsenz voraus, sondern ein Wechselverhältnis von Präsenzen und Absenzen. Die Schriftmetaphorik, die mit der zeichenförmigen Fixierung zugleich auch die permanente Lesbarkeit und Verfügbarkeit des Gedächtnisinhalts impliziert, verfehlt ebendieses Wechselverhältnis von Präsenz und Absenz in der Struktur der Erinnerung. Um der Sache näher zu kommen, müßte man das Bild einer Schrift erfinden, die, einmal niedergeschrieben, nicht sofort, sondern erst unter besonderen Bedingungen wieder lesbar wird. (Assmann 2006: 153f.; Hervorh. i. Orig.)
Auch Douwe Draaisma umschreibt in seiner einschlägigen Studie Die Metaphernmaschine (1999) die allgemeine Bedeutung der Schriftmetapher innerhalb der Geschichte der Gedächtnismetaphorik und greift dabei auf das Palimpsest zurück. Dabei geht er davon aus, dass selbst neue Metaphern, wie z.B. ›der Computer‹, sich auf das Bildfeld der Schrift zurückführen lassen und folglich als »Variante der Schriftmetapher« (Draaisma 1999: 55) zu begreifen sind. Demzufolge habe »die Schriftmetapher die Hartnäckigkeit eines Untertextes auf einem Palimpsest: dem Anschein nach völlig ausgekratzt, bei näherem Hinsehen jedoch noch vage zwischen den Wörtern lesbar, die später geschrieben wurden.« (Ebd.: 56) 3.3.2 Gedächtnis im Ausnahmezustand: Das Palimpsest bei Thomas de Quincey Der britische Schriftsteller Thomas De Quincey hat 1845 mit der Textsammlung Suspiria de Profundis die seiner Zeit populäre Schrift Bekenntnisse eines engli-
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schen Opiumessers fortgeschrieben und dabei wichtige Merkmale moderner Gedächtnistheorien konturiert. Der in dieser Sammlung enthaltene Essay Das Palimpsest (2009: 65–72) beeinflusst noch etliche neuere Forschungsarbeiten, die sich mit der Denkfigur des Palimpsests als Erinnerungs- und Gedächtnismetapher befassen. 40 Darin erklärt er dem Leser zunächst den historisch-pragmatischen Hintergrund des Palimpsests (vgl. ebd.: 65; in dieser Arbeit I.2.1), um davon ausgehend auf den Menschen, genauer gesagt auf das menschlichen Gehirn zu schließen. Letztlich etabliert De Quincey das Palimpsest als Sinnbild für die räumlichphysische Struktur und Funktionsweise der menschlichen Psyche: Was ist das menschliche Gehirn anderes als ein kolossaler Palimpsest? Mein Gehirn ist ein solcher. Und dein Gehirn ist ebenfalls ein kolossaler Palimpsest, lieber Leser. Sanft wie Licht sind Schichten von Gedanken, Bildern und Gefühlen beständig auf dein Gehirn niedergesunken. Es schien, jede neue Schicht verdecke alle tieferen für immer. Und doch ist wahrhaftig keine ausgelöscht worden. Beim Palimpsest aus Pergament, das unter anderen diplomata in den Archiven und Bibliotheken lagert, ist die Zufälligkeit der Schichtung zuweilen lächerlich. Aber bei unserm eigenen Tiefenerinnerungs-Palimpsest himmlischen Ursprungs gibt es keine Zusammenhangslosigkeit, und es kann sie nicht geben. (Ebd.: 70; Hervorh. i. Orig.)
De Quincey rekurriert dabei auf zwei Merkmale der Palimpsest-Metaphorik, die in Abschnitt I.2.2 herausgearbeitet wurden: einerseits auf das Prinzip der Permanenz und auf die nicht zufällige Beziehung zwischen den Schichten. In seinem Verständnis ist das menschliche Gehirn, im Gegensatz zum »Palimpsest aus Pergament« (ebd.), permanenten Vorgängen der Überlagerung von Erinnerungs- und Gedächtnisschichten unterworfen, die »unendlich« (ebd.: 72) erfolgen. Hinter der Beziehung der Schichten stehe ein »organisierende[s] Prinzip« (ebd.: 70), das die »Vorstellung von dauerhaften, aber unverfügbaren Erinnerungsspuren« evoziere (Assmann 2006: 155). Die Verfügbarkeit erschließe sich dem Menschen dabei ausschließlich im Ausnahmezustand, d.h. in Situationen extremer existentieller Bedrohung. De Quincey nennt hier einige Beispiele. Zu diesen zählen etwa Momente der Todesnähe wie das »Fieberdelirium« oder die »Sterbestunde«, aber auch der Opiumrausch mache Erinnerung als Palimpsest-Erfahrung möglich (De Quincey 2009: 70–72). Deutlich wird bei De Quinceys Memoria-Konzept, dass der Zugriff auf Erinnerung weder kontrollierbar noch verfügbar ist und demnach »mit den Kräften des Bewußtseins
40 Vgl. Altenhofer (1993: 260f.), Assmann (1991: 19–21; 2006: 156–158), Birk (2002: 88), Günter (2001: 435), Jacob/Nicklas (2004: 17–20, 26), Nicklas (2004) und Weinrich (2006: 6–8; 2007: 30).
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allein nicht zu erreichen« sei (Nicklas 2004: 134). In den Augen De Quinceys ermögliche diese Nahtoderfahrung einen Einblick, der »dem Bewusstsein unendliche Perspektiven nach rückwärts öffnete: ein Panorama der eigenen Vergangenheit mit der Präsenz jedes einzelnen Augenblicks.« (De Quincey 2009: 71) Charles Baudelaire, der 1860 De Quinceys Essay ins Französische übersetzte, wobei er diesen nicht nur kürzte, sondern gleichsam kommentierte, hat das Palimpsest als Erfahrung im Ausnahmezustand weiter ausgeführt: [I]m Tode vielleicht, und gewöhnlich in den Zuständen hoher Erregtheit, wie das Opium sie hervorruft, entrollt das ganze ungeheure und schwer zu entziffernde Palimpsest des Gedächtnisses sich auf einen Schlag, mit all seinen sich überlagernden Schichten erstorbener Gefühle, die dort geheimnisvoll einbalsamiert liegen in dem, was wir Vergessen nennen. (Baudelaire 1991: 175)
3.3.3 Sigmund Freuds Wunderblock Von De Quinceys Palimpsest zum ›Wunderblock‹ ist es nur ein kleiner Schritt. In aktuellen Forschungsarbeiten wird der Zusammenhang von Palimpsest und Wunderblock im Beziehungsfeld von Gedächtnistheorie und Schriftmetaphorik immer wieder hervorgehoben.41 Joachim Jacob und Pascal Nicklas haben zeigen können, dass das Palimpsest für Freuds Konzept des Wunderblocks Modell gestanden haben muss. Obwohl Freud an keiner Stelle seiner Arbeiten das Palimpsest explizit benennt, um etwa in der Traumdeutung das Verhältnis zwischen manifesten und latenten Inhalten zu beschreiben, zitiert er in seiner frühen Arbeit »Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten« (1940b) doch genau jene Textpassage aus Heinrich Heines Harzreise, in der Heine das Palimpsest ins Bild setzt. Wie erwähnt, geht es Heine dabei um die Beschreibung des Verhältnisses von Präsenz und Absenz, das ihm beim Anblick des Gesichts der alten Dame begegnet (vgl. I.2.2).42 Der Schluss liegt daher nahe, dass Freuds theoretischer Entwurf vom Wunderblock von der Palimpsest-Metaphorik profitiert haben muss (vgl. Jacob/Nicklas 2004: 19f.; Nicklas 2004: 138). Diese Vermutung stützt ein Briefwechsel, den Freud mit dem englischen Psychologen James Sully führte, der in einem Brief die Denkfigur des Palimpsests für die Traumarbeit verwendet. Freud zitiert diesen Auszug in dem Kapitel »Die Traumentstellung« in seiner Traumdeutung (2002).43
41 Vgl. Assmann (1991: 21; 2006: 156f.), Lachmann (1990: 76f.), Jacob/Nicklas (2004: 19– 22) und Weinrich (2006: 7; 2007: 32f.). 42 Vgl. dazu Jacob/Nicklas (2004: 19f.) und zu weiteren Passagen bei Freud, in die das Palimpsest Eingang fand. 43 Vgl. auch Lachmann (1990: 76f.).
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Freud geht es in seiner 1925 veröffentlichten »Notiz über den Wunderblock« (1948) um den Versuch, den menschlichen Wahrnehmungs- bzw. Gedächtnisapparat darzustellen, wobei er sowohl das Moment der »Dauerspuren« als auch das Moment der »[u]nbegrenzten Aufnahmsfähigkeit« (ebd.: 4) in einem Modell zusammenbringt. Die Vorstellung des Wunderblocks bietet Freud zugleich ein Modell der menschlichen Psyche, das er schließlich in seiner Theorie des Unbewussten ausformulieren sollte. Am Anfang von Freuds Überlegungen steht die Beobachtung, dass Metaphern wie ›Papier‹ und ›Schiefertafel‹ an ihre Grenzen stoßen, um die Funktion des menschlichen Gedächtnisses in seiner paradoxen Arbeitsweise aus Bewahren und Löschen adäquat abzubilden. Zwar kann das Papier einerseits die Erinnerung dauerhaft festhalten, doch ist die Schreibfläche in ihrer Aufnahmefähigkeit begrenzt. Demgegenüber bietet die Schiefertafel zwar die Möglichkeit unendlicher Beschriftung, dafür ist ihre Gedächtnisleistung defizitär, gelingt es der Tafel doch nicht, die ihr eingeschriebenen Kreidespuren dauerhaft zu bewahren. Diese traditionellen Schriftmetaphern scheitern daher in den Augen Freuds an der Funktionsweise von Gedächtnis: An diesem Maß gemessen, scheinen die Hilfsvorrichtungen für unser Gedächtnis besonders mangelhaft zu sein, denn unser seelischer Apparat leistet gerade das, was diese nicht können; er ist in unbegrenzter Weise aufnahmsfähig für immer neue Wahrnehmung und schafft doch dauerhafte – wenn auch nicht unveränderliche – Erinnerungsspuren von ihnen. (Ebd.: 4)
Die Frage, wie sich der menschliche Gedächtnisapparat modellieren lässt, führt Freud zum Bild des Wunderblocks, eines Spielzeugs, heute oft auch als Zaubertafel bezeichnet, das Anfang des 20. Jahrhunderts Einzug in die Kinderstuben hielt. 44 Dieser Block besitzt nicht nur eine immer von neuem verwendbare Aufnahmsfläche wie die Schiefertafel, sondern auch Dauerspuren der Aufschreibung wie der gewöhnliche Papierblock; er löst das Problem, die beiden Leistungen zu vereinigen, indem er sie auf zwei gesonderte, mit einander verbundene Bestandteile – Systeme – verteilt. (Ebd.: 7)
Der Wunderblock leiste somit beides: Er biete sowohl »[u]nbegrenzte Aufnahmsfähigkeit [sic]« als auch »›dauerhafte Erinnerungsspur‹« (ebd.: 3f.). Materiell betrachtet, besteht er aus drei vertikal angeordneten Schichten: aus einem Zelluloidblatt, das die Oberfläche bildet, und aus einem feinen Wachspapier (sog. »Reizschutz«), das einer Wachstafel vorgelagert ist, sich also zwischen Zelluloidblatt und
44 Vgl. Weinrich (2007: 32). Zum Wunderblock aus gedächtnis- und medientheoretischer Perspektive vgl. auch Pethes (2001b: 651f.).
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Wachstafel befindet. Wenn nun mittels eines spitzen Stilus die Oberfläche beschrieben (d.h. eingeritzt) wird, so »drückt an den von ihm berührten Stellen die Unterfläche des Wachspapiers an die Wachstafel an, und diese Furchen werden an der sonst glatten weißlichgrauen Oberfläche des Zelluloids als dunkle Schrift sichtbar.« (Ebd.: 5f.) Durch Abheben des Zelluloidblattes wird die Schrift wieder gelöscht und die Schreibfläche wieder von Neuem beschreibbar, nicht jedoch ohne »Dauerspuren« aufzunehmen, die sich in die Struktur des Wachsblockes einschreiben, aber nur »bei geeigneter Belichtung lesbar« sind (ebd.: 7). Der Wunderblock entspricht sowohl hinsichtlich seiner Merkmale als auch seiner Funktionsweisen dem Palimpsest, insbesondere im Zusammenspiel von Manifestem und Latentem und in der Möglichkeit der Neu- bzw. Überschreibung vorausgegangener Schriften. Mit dem Wunderblock sind aber auch grundsätzliche Fragen nach der Medialität von Gedächtnis verknüpft. Warum sonst greift Freud auf eine Denkfigur zurück, die zwar auf eine metaphorische Tradition rekurriert, d.h. hier vor allem auf die Schrift als Zentralmetapher für Gedächtnis, die jedoch gleichzeitig dem Entstehungskontext seiner Zeit verhaftet ist? Aus medienhistorischer Perspektive lässt sich Freuds Wunderblock als Aktualisierung und Transformation der Palimpsest-Metapher lesen, bei der ihre Eigenschaften auf eine technologisch neue Apparatur übertragen und weiterentwickelt werden.45 Bemerkenswert erscheint dabei, wie sich technische Medien als Metaphern mit dem zu beschreibenden Gegenstand (hier Gedächtnis und Erinnerung) nahezu unauflösbar verbinden, sodass die Existenz solcher technischer Medien so gesehen die Gedächtniskonzepte, für die sie als Metapher dienen, überhaupt erst hervorbringen. So legen Gedächtnismetaphern Manfred Weinberg zufolge »Zeugnis der medialen Verfasstheiten ihrer jeweiligen Zeit ab« (Weinberg 2006: 141). Dem Wunderblock um 1900 und seiner Funktion in Freuds Vorstellung entsprechen gegenwärtig ›Computer‹ oder ›Netzwerk‹ als Metaphern für Gedächtnis.46 Die Frage nach der Metaphorik von Gedächtnis ist im Kontext von Schrift folglich immer auch mit der Frage nach
45 Auch Harald Weinrich macht darauf aufmerksam, dass der Mensch dazu neige, das »Bildfeld zu modernisieren«, wobei es im »Wesen das gleiche Bildfeld« darstelle (Weinrich 1976: 293), nämlich wie hier das der Schrift. Auch gebe es Gedächtnismetaphern (Bsp. das ›Tuch‹ bei Schopenhauer), die bei genauer Betrachtung als »Variante[n]« (Ebd.: 294) von Schriftmetaphern auftreten. So folgert auch Draaisma, dass Freuds Wunderblock als eine »Variante der Schriftmetapher« (Draaisma 1999: 55) zu betrachten sei. 46 Vgl. dazu Freud selbst: »Vor einiger Zeit ist nun unter dem Namen Wunderblock ein kleines Gerät in den Handel gekommen, das mehr zu leisten verspricht als das Blatt Papier oder die Schiefertafel.« (Freud 1940c: 5) Vgl. zur mediengeschichtlichen Perspektive auf Gedächtnis und Erinnerung Draaisma (1999), Pethes (2001a: 197f.; 2008: 121) und Birk (2003: 88).
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der Medialität von Gedächtnis insgesamt verknüpft.47 Scheint mit diesem Postulat das Privileg der Schrift als Leitmetapher für Gedächtnis und Erinnerung infrage gestellt, so lassen technische Neuerungen auch eine genealogische Perspektive zu. In diesem Sinne kann eine Metapher (Bsp. Computer) als Transformation einer älteren Metapher im jeweiligen Kontext ihrer Zeit gelesen werden.48 In Bezug auf Freuds Wunderblock resümieren etwa Jacob und Nicklas, dass »der Wunderblock der bessere Palimpsest« zu sein scheint (Jacob/Nicklas 2004: 22). Deutlich kritischer hat hingegen Jacques Derrida 1972 in »Freud und der Schauplatz der Schrift« die Palimpsest-Metapher in den Blick gerückt. Derrida zieht Freuds Gedächtnisapparatur dem Palimpsest vor, das in seinen Augen »archaisch« sei (Derrida 1989: 346).49 Derrida kritisiert das Palimpsest und jenen aporetischen Versuch der Re-Lektüre, der sich der Unmöglichkeit aussetze, »die ursprüngliche Schrift zum Erscheinen zu bringen, statt das Verschwinden anzuerkennen und« (Jacob/Nicklas 2004: 22), so heiß es bei Derrida, »daß es eine ursprüngliche Schrift nicht geben kann«.« (Derrida 2013: 108) Derridas Einwand richtet sich gegen die Idee einer Ursprünglichkeit von Bedeutung, die im Bild des Palimpsests, sofern man dieses auf eine Urschrift zurückführen kann, repräsentiert sei. Demgegenüber biete der Wunderblock ein Modell, das sowohl die Vorstellung von Ursprung suspendiere als auch das Prinzip fortlaufender Bedeutungsproduktion darstelle. Er »vereinigt die beiden empirischen Gewißheiten«, so folgert Derrida, »aus denen wir zusammengesetzt sind: die der unendlichen Tiefe in der unendlichen Implikation des Sinns, […] und gleichzeitig die des häutchenähnlichen Wesens des Seins, der absoluten Abwesenheit des Darunterliegenden.« (Derrida 1989: 340) Das Palimpsest ist hingegen für Derrida in
47 »Die Geschichte der Gedächtnistheorie ist mithin auch insofern eine Mediengeschichte, als Medien uns die Metaphern zur Verfügung stellen, mittels deren wir die Funktionsweise des Gedächtnisses beschreiben können« (Pethes 2008: 121). 48 Über den Aspekt der Metaphern-Transformation und die semantische Ähnlichkeit der Metaphern in ihrer zeithistorischen Genese: »Wenn der Palimpsest zu einem Bild der Traumtexte wird, so sind es tatsächlich identische Inhalte, die in der manifesten und der latenten Traum- bzw. Textgestalt nur unterschiedliche Formen angenommen haben. Der Traumdeuter ist ein Dolmetscher zwischen den Schichten des Palimpsests, der die Regeln der Traumarbeit kennt und in seiner Übersetzungsarbeit gleichsam rückwärts anwendet, indem er die manifesten Inhalte in den latenten Gehalt transformiert. Scriptum superior und inferior sind demnach derselbe Text – nur in anderer Erscheinungsform. Der Palimpsest des Traums ebenso wie der des Witzes oder der Literatur ist bei Freud ähnlich dem, was bei De Quincey die konsistente narratio der unsterblichen Seele war, und ganz unähnlich dem, was in paläographischer Hinsicht ein wiederbeschriebenes Pergament ist.« (Jacob/Nicklas 2004: 20) 49 Vgl. auch Jacob/Nicklas (2004: 22) und Eglinger (2007: 39).
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seiner Materialität und damit auch in seiner metaphorischen Leistungsfähigkeit begrenzt. [Es] setzt einer solchen unendlichen Wiederholung der Neubeschriftung objektive Grenzen. Sie [die Materialität des Palimpsests; J.O.] erinnert daran, daß das ›Darunterliegende‹, die Substanz, keineswegs ›absolut abwesend‹ ist – wie es der Idealist Derrida will, sondern sich ungewollt ins Spiel bringt. Das überspannte Pergament wird reißen. (Jakob/Nicklas 2004: 22)
Derridas Argumentation überzeugt jedoch nur so weit, wie das Palimpsest auf seinen pragmatisch-historischen Kontext reduziert bleibt. Demgegenüber hat die Genese der Palimpsest-Metapher gezeigt, dass sich diese von einer Urschrift, auf die jede Palimpsest-Schicht reduzierbar wäre, von ihrem historisch-pragmatischen Kontext längst gelöst hat. Die Metapher des Palimpsests hat demnach ihre eigenen Grenzen überschritten bzw. erweitert. Nur auf diese Weise konnte sie zum Bild für eine unbegrenzte Neu- bzw. Wiederbeschriftung und zur Beschreibung von unabgeschlossenen, kontingenten Phänomenen herangezogen werden. Das Palimpsest als Gedächtnismetapher stellt, wie hier noch einmal hervorzuheben ist, ein Modell der Diskontinuität dar, das seinen Ursprung im Sinne einer ›Urschrift‹ suspendiert hat. Renate Lachmann hat genau diese »Bodenlosigkeit der Schreibfläche« (Lachmann 1990: 49) im Bild des Palimpsests als zentrales Merkmal betont, worauf noch näher eingegangen wird (vgl. I.3.4.1). Die Modi von ›Einlagerung‹ und ›Rückholung‹ von Erinnerung verhalten sich demnach asymmetrisch: »Zwischen Schreiben und Lesen treten Verzerrungen, Verschiebungen, Verdunkelungen und nicht zuletzt: Vergessen ein, die die Identität der Erinnerungssubstanz in Frage stellen und die Wiederherstellung zu einem eigenen, neuen Problem machen.« (Assmann 1991: 22) 3.3.4 Diskontinuität, Nichtwissen und die Geschichte der Anderen: Das Palimpsest als postkoloniale Gedächtnismetapher Es stellt sich die Frage, wie ein ›Gedächtnis des Kolonialismus‹ zu denken wäre, das jenseits von hegemonialen Geschichtsmodellen verortet ist. Das Palimpsest könnte auch in diesem Zusammenhang eine diskontinuierliche Vorstellung anbieten, die marginalisierte Stimmen und Wissensformen perspektivisch (re)integriert und zugleich hegemoniale Positionen, die eurozentrischen Weltbildern, Meisternarrativen und teleologischen Geschichtsbildern das Wort reden, deplatziert. 50 Ge-
50 Vgl. hierzu Robert Marks: »Die eurozentrische Weltsicht betrachtet Europa als den einzig aktiven Gestalter der Weltgeschichte, gewissermaßen als ihren ›Urquell‹. Europa handelt, während der Rest der Welt gehorcht. Europa hat gestaltende Kraft, der Rest der
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schichte als Palimpsest zu betrachten, zielt auf die Überwindung des Eurozentrismus51 als das »vorherrschende Narrativ der westlichen Dominanz« (Conrad 2015: 17) und dessen Anspruch, »die europäische Geschichte zum Modell einer universalen Entwicklung« (Ebd.: 18) zu erklären. Dabei gilt es zu bedenken, dass das Palimpsest als Gedächtnisfigur durchaus seine Grenzen hat, da es grundsätzlich der Schrift verpflichtet bleibt und sich Aspekte nicht-schriftlicher, oraler Kulturtraditionen in dieser Metapher nicht artikulieren. Allerdings scheinen Methoden, wie etwa die der kontrapunktischen Lektüre, hilfreich, um durch die superiore Schicht hindurch jene Stimmen wahrzunehmen, die im Zuge ihrer Überschreibung, auch aufgrund ihrer medialen Verfasstheit, gewaltsam ausgeschlossen wurden. 52 Sie sind es, die als inferiore Schicht ins Bewusstsein dringen und zu Gegenstimmen im kolonialen Diskurs avancieren, der »nicht phonozentrisch« ist und »sich wesentlich durch Schrift« konstituiert (Lubrich 2009: 30). »Schreiben ist der Modus kolonialer Macht. Und diese ist alles andere als diskursiv geschlossen.« (Ebd.) Aus gedächtniskritischer Perspektive stellt die Gewaltgeschichte des Kolonialismus einen kolossalen und folgenreichen Vorgang dar, der im Gedächtnis der ehemals kolonisierten Kultur bis in die Gegenwart hinein tiefe Spuren hinterlassen hat. Mit der räumlichen Landnahme waren stets auch epistemologische Verfahren der Überschreibung verbunden. Durch die – aus Sicht der kolonisierenden Kultur – eigenkulturelle Einschreibung wurden gleichsam fremdkulturelle Wissensbestände zum Verstummen gebracht. Um ein Beispiel zu nennen: Im Kontext des deutschen Kolonialismus in Afrika stellt die Erstbesteigung des Kilimandscharo am 6. Oktober 1889 durch den Leipziger Verleger und Entdecker Hans Meyer ein symbolisches Ereignis von historischer Tragweite dar – und eines mit nachhaltigen Konsequenzen für die Grenzziehungen in Ostafrika.53 Durch die Taufe des Gipfels auf den Namen »Kaiser-Wilhelm-Spitze« und durch seine kul-
Welt ist passiv. Europa macht Geschichte, der Rest der Welt besitzt keine, bis er mit Europa in Kontakt tritt. Europa ist das Zentrum, der Rest der Welt seine Peripherie. Nur Europäer sind in der Lage, Wandlungen oder Modernisierungen einzuleiten, der Rest der Welt ist es nicht.« (Marks 2006: 20f.) 51 Auf die historisch-semantischen Dimensionen des Eurozentrismus-Begriffs und seine Rolle als Deutungsmuster von Geschichte und Macht ist der Historiker Sebastian Conrad unlängst eingegangen (vgl. 2015). 52 Bzgl. einer explizit medientheoretisch orientierten Perspektive in den Postkolonialen Studien, die den Blick schärft auf die Rolle von Schrift/Oralität und die Medialität von Kultur, sind Arbeiten von Sven Werkmeister hervorzuheben (vgl. 2010; 2014; 2015; 2016). 53 Vgl. hierzu Hamann (2008a: 51, 58; 2008b: 90) und Hamann/Honold (2013: 90).
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turgeographische Verortung als nun »höchsten Punkt afrikanischer und deutscher Erde« (Meyer 1890: 134) zeigt sich ein kolonialer Gedächtnisakt, eine symbolische Inbesitznahme und Einverleibung des Fremden in die Ordnung des Eigenen. Mit diesem Sprechakt wird Christof Hamann zufolge nicht nur die »›unbekannte, namenlose Spitze‹ ins ›bekannte‹ Eigene überführt«, sondern ebenso derjenige, »der benennt, als ›Herr‹ über dasjenige, was benannt wird« (Hamann 2008a: 51), in das Objekt eingeschrieben. Nach der Rückkehr Meyers nach Deutschland, so heißt es am Ende seines Reiseberichts Ostafrikanische Gletscherfahrten (1890), wird die Tat »in natura« bezeugt, denn Meyer führte den Gipfelstein als Trophäe mit, und der Herrscher symbolisch ins Recht gesetzt: Seine Majestät nahm die Widmung der Kaiser-Wilhelms-Spitze, die ich in natura mitgebracht hatte, gnädigst an. Die höchste deutsche Bergesspitze ruht nun auf dem Schreibtisch dessen, der selbst auf Deutschlands höchster Spitze steht. Möge dies ein sinnliches Zeichen und frohe Gewähr sein für die nun auf Afrika angewandte einstige Willensäußerung des großen Cäsar: »te teneo, Africa!« Wie auf dem höchsten Gipfel afrikanischer Erde die deutsche Flagge triumphierend weht, so wehe von ihrem kaiserlichen Schutzherrn aus deutsche Gesinnung und deutsche Gesittung Licht bringend über den dunklen Erdteil, der Kolonie zum Segen, den Kolonisatoren zum Nutzen, dem Vaterland zur Ehre. (Meyer 1890: 255f.)
Bemerkenswert an dieser narrativen Inszenierung, die der Reisebericht ins Bild setzt, ist der gedächtnispolitische Akt der Überschreibung, der mit dem tradierten lateinischen Motto »te teneo, Africa«54 erfolgt. Mit ihr wird ein tausende Jahre altes eurozentrisches Geschichtsbild der Eroberung aufgerufen, in das sich die Inbesitznahme des Kilimandscharos fügt. Auch der häufig auf Hegel zurückgeführte Topos vom »dunklen Erdteil« (ebd.),55 auf den Meyer hier im Wortlaut rekurriert, aktualisiert ein tradiertes Geschichtsbild der Aufklärung, das gerade im Kontext des sog. ›Wettlaufs um Afrika‹ (›Scramble for Africa‹) seit der Afrika-Konferenz (auch ›Kongo-Konferenz‹) 1884/1885 in Berlin instrumentalisiert wurde, um koloniale Eroberung und Ausbeutung unter dem Deckmantel aufklärerischer Missionierung
54 Übersetzt bedeutet der Spruch: »So halte ich dich, Afrika!«. Dieser wird auf den Ausruf Caesars zurückgeführt, der »am 29.12.47 v. Chr. bei Hadrumetum, heute in Tunesien, an Land ging und zu Boden stürzte.« (Kudla 2007: 54) 55 Bei Hegel heißt es in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte: »Jenes eigentliche Afrika ist, soweit die Geschichte zurückgeht, für den Zusammenhang mit der übrigen Welt verschlossen geblieben; es ist das in sich gedrungene Goldland, das Kinderland, das jenseits des Tages der selbstbewußten Geschichte in die schwarze Farbe der Nacht gehüllt ist. Seine Verschlossenheit liegt nicht nur in seiner tropischen Natur, sondern wesentlich in seiner geographischen Beschaffenheit.« (Hegel 2013: 120)
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oder der Abschaffung des Sklavenhandels auf dem afrikanischen Kontinent zu verschleiern (vgl. Eckert 2013: 138; Gründer 2002: 19). Über die Formel »te, teneo Africa!« wird der Akt der Besitzergreifung historisiert und als Teil einer teleologischen europäischen Eroberungsgeschichte aktualisiert. Der Textauszug von Meyer zeigt deutlich, wie hier eine Geschichte der Sieger geschrieben wird.56 Walter Benjamin hat diesem Gedächtnismodell eine prominente Kritik entgegenstellt. Darüber hinaus berührt er die Frage der Medialität von Gedächtnis, mit der sich Bezüge zur Palimpsest-Metapher herstellen lassen: Wer immer bis zu diesem Tage den Sieg davontrug, der marschiert mit in dem Triumphzug, der die heute Herrschenden über die dahinführt, die heute am Boden liegen. Die Beute wird, wie das immer so üblich war, im Triumphzug mitgeführt. Man bezeichnet sie als die Kulturgüter. […] Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein. Und wie es selbst nicht frei ist von Barbarei, so ist es auch der Prozeß der Überlieferung nicht, in der es von dem einen an den anderen gefallen ist. Der historische Materialist rückt daher nach Maßgabe des Möglichen von ihr ab. Er betrachtet es als seine Aufgabe, die Geschichte gegen den Strich zu bürsten. (Benjamin 2007: 132)
Der Sieger vermag den Besiegten unter das Primat der eigenen Geschichte zu zwingen, er besitzt die Deutungshoheit über die Geschichte – und damit auch über das Gedächtnis, in das er sich einschreibt. Dass die Deutungs- und Definitionsmacht von Geschichte in Benjamins Überlegungen auch umgekehrt die Frage nach der Repräsentation eines fremdkulturellen Gedächtnisses (der ›Besiegten‹) aufruft, verweist auf die Möglichkeit, ein lineares Geschichtsmodell zu hinterfragen und mit der Palimpsest-Metapher kontrapunktisch zu unterlaufen. Das Palimpsest ist, wie bereits festgestellt (vgl. I.2.2 u. I.3.2), eine Gegenfigur zu kohärenten, zeitlich linearen Modellen von Geschichte, die etwa darwinistischen bzw. evolutionistischen Grundmustern folgen. Es rückt kontrapunktisch jene Spuren der Schrift in den Blick, die im Akt ihrer gewaltsamen Überschreibung zwar zurückgedrängt, allerdings nicht endgültig getilgt worden sind. Von hier aus lassen sich, und dass scheint eine ganz wesentliche Leistung des Palimpsests zu sein, tradierte Vorstellungen von Ursprung und Anfang grundsätzlich in Zweifel ziehen, von hier aus wird die »Hintergehung des Anfangs« möglich (Assmann 1991: 19). Die Geschichte des Kolonialismus als Palimpsest zu lesen, hieße demnach, Kohärenz- und Kontinuitätskonstruktionen mit einem Gegenmodell von Gedächtnis zu konfrontieren, um »die Geschichte gegen den Strich zu bürsten.« (Benjamin 2007: 132) Das
56 Um Walter Benjamins Gedanken aufzunehmen, den er in seinen geschichtsphilosophischen Thesen »Über den Begriff der Geschichte« im Zeitraum zwischen 1939 und 1940 formuliert hat, vgl. Gagnebin (2006: 285).
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Palimpsest als postkoloniale Gedächtnismetapher setzt ein Verständnis voraus, das Geschichte in ihren Diskontinuitäten begreift, um Bereiche des Nichtwissens bzw. ein ›subalternes Wissens‹ (vgl. Spivak 2008), die Geschichte der Anderen, in den Blick zu rücken und die gewaltsam Ausgeschlossenen und Stimmlosen zu Wort kommen zu lassen. Eine Gewaltgeschichte, wie sie die Geschichte des Kolonialismus darstellt, als Palimpsest zu lesen, hieße, aus dem »Prozeß der Überlieferung« (Benjamin 2007: 132) auszubrechen und im Licht der Gegenwart die Vergangenheit kritisch neu zu perspektivieren (vgl. Gagnebin 2006: 286).57 Noch drastischere Worte findet Benjamin, wenn er davon spricht, »das Kontinuum der Geschichte aufzusprengen« (2007: 137).58 Für Benjamin habe sich in »der Überlieferung […] Herrschaftsgeschichte niedergeschlagen, denn die hegemonialen Instanzen eines Gemeinwesens tradieren nur das, was ihrer Legitimation dient.« (Kramer 2002: 114) Die »kulturelle Überlieferung«, so formuliert es Alexander Honold, sei bei Benjamin demzufolge »Schauplatz fortwährender Kämpfe und gewaltsamer Verdrängungs- und Zerstörungsarbeit.« (Honold 2014: 83) Texte als Palimpseste zu lesen, würde aus diesem Blickwinkel nicht nur bedeuten, die Kontinuität hegemonialer Geschichtsbilder in zeitgenössischen Diskursen aufzuspüren und kritisch-analytisch aufzubrechen. Vor allem rückte eine Revision des literarischen Kanons in den Bereich des Möglichen,59 d.h. eine erneute und andere Betrachtung jener zur Zeit des Kolonialismus verfassten Literatur ebenso wie der Gegenwartsliteratur, in der das lange im gesellschaftlichen Bewusstsein marginalisierte Thema des Kolonialismus seit der Jahrtausendwende Konjunktur hat. Ein methodischer Ansatz, um jene Stimmen und inferiores Wissen sichtbar zu machen, die im Zuge des Kolonialismus gewaltsam überschrieben wurden, bietet das von Edward Said formulierte Lektürekonzept des »kontrapunktische[n] Lesens«
57 Bei Benjamin heißt es: »Die Gefahr droht sowohl dem Bestand der Tradition wie ihren Empfängern. Für beide ist sie ein und dieselbe: sich zum Werkzeug der herrschenden Klasse herzugeben. In jeder Epoche muß versucht werden, die Überlieferung von neuem dem Konformismus abzugewinnen, der im Begriff steht, sie zu überwältigen.« (Benjamin 2007: 131) 58 Vgl. dazu Herbert Uerlings: »Diese Aufsprengung ist nicht Teil eines linear gedachten Geschichtsprozesses, sondern dekonstruiert diesen« (2015: 35). 59 Vgl. dazu auch Alexander Honold: »Wer das Lied des westlichen Kanons anstimmt, verfällt in einen bildungsbürgerlichen Eurozentrismus, wenn er die willkürliche und gewaltsame Entstehung dieses Kanons außer Acht lässt und weder die geschichtlichen noch die geographischen Ausgeschlossenen des hegemonialen Archivs in den Blick nimmt.« (Honold 2014: 88)
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(1994: 112), das Axel Dunker auf die deutschsprachige Literatur übertragen hat (vgl. Dunker 2005b, 2008). Said entwirft die Grundzüge seines Konzepts wie folgt: Deshalb müssen wir die großen kanonischen Texte, ja vielleicht das ganze Archiv der modernen und vormodernen europäischen und amerikanischen Kultur mit dem Vorsatz lesen, alles, was in solchen Werken stumm, nur marginal präsent oder ideologisch verzerrt dargestellt ist, herauszustellen, zu bezeichnen und ihm Nachdruck und Stimme zu verleihen […]. Entscheidend ist, daß eine kontrapunktische Lektüre beides in Rechnung stellen muß, den Imperialismus und den Widerstand gegen ihn, und zwar indem wir die Lektüre der Texte so erweitern, daß sie einschließt, was einst gewaltsam ausgeschlossen worden war […]. (Said 1994: 112)
Das Palimpsest als eine Metapher der Mehrschichtigkeit könnte geeignet sein, um die Mehrstimmigkeit auf die geforderte Weise zu fokussieren. »Die Lektüre eines Textes muß ihn für das öffnen«, so pointiert Said, »was darin Eingang gefunden, und für das, wogegen sein Autor ihn abgedichtet hat.« (Ebd.: 113; Hervorh. i. Orig.) Jenseits seines postkolonialen Anliegens, jedoch anschließbar an Said, betont Renate Lachmann, dass es im Palimpsest keine irreversible Löschung gebe, die nicht durch Lektüre wieder in den Bereich des Sichtbaren geholt werden könne: »Vielleicht, gerade auch den Fall des Palimpsests eingeschlossen, gibt es kein endgültiges Löschen, kein Tilgen von Zeichen, das nicht durch Lektüre, recollectio, Rekonstruktion wieder rückgängig gemacht werden könnte.« (Lachmann 1990: 46; Hervorh. i. Orig.) Das Palimpsest als postkoloniale Gedächtnismetapher setzt also das Moment der Diskontinuität von Geschichte an die Stelle von hegemonialen Singularitätsund Kontinuitätsmodellen, die es somit dezentriert bzw. ›deplatziert‹. Es lanciert einen ›anderen‹ Geschichtsbegriff insgesamt und repräsentiert ein Modell diskontinuierlichen Erinnerns, das durch die Schichten hindurch ans Licht holt, was im Zuge seiner Kolonialisierung ausgeschlossen und verdunkelt wurde.60 Durch die Methode der kontrapunktischen Lektüre können hegemoniale, auf Kohärenz zielende Modelle von Geschichte durch eine kritische, invers angelegte Lesart »als eine
60 Vgl. hierzu auch die Überlegung des Philosophen Bernhard Waldenfels, der gegen ein teleologisches Geschichtsmodell argumentiert: »Es gibt eine spezifische Fremdheit, die daraus resultiert, daß die Uhren verschieden gehen. Der Gedanke, es gäbe eine einheitliche Menschheitsentwicklung nach Art einer Phylogenese, innerhalb deren alle Individualitäten dieselben Stadien durchlaufen, gehört bereits zu den Ordnungsschemata, die dazu beitragen, Fremdes zu reduzieren oder zu eliminieren. Dies geschieht beispielsweise, wenn wir ›Ureinwohner‹ als ›Primitive‹ abstempeln und ›wildes Denken‹ als rohe Vorstufe der Zivilisation betrachten.« (1999: 35)
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mehrstimmige, kontrapunktische Geschichte freigelegt werden.« (Honold 2014: 84)61 An revisionistischen Prozessen des Erinnerns hat gerade auch die Literatur maßgeblich Anteil. Die Frage nach ihrer Rolle im Kontext von Gedächtnis und Erinnerung, nach dem ›Gedächtnis der Literatur‹, leitet über zu poststrukturalistischen Intertextualitätstheorien, wie sie u.a. durch Arbeiten Renate Lachmanns geprägt wurden. Wie wesentlich die Untersuchung von Intertextualität im Kontext postkolonialer Theorie erscheint, verdeutlicht z.B. die Diskussion um Begriffe wie writing back oder rewriting. Im Folgenden sollen nun Ansätze der Intertextualitätstheorie, etwa von Gérard Genette und Renate Lachmann, mit einer postkolonialen Perspektive auf Phänomene von rewriting, von Überlagerung und Überschreibung, und nicht zuletzt mit dem Palimpsest als heuristische Denkfigur konfrontiert werden.
3.4 P ALIMPSEST
UND I NTERTEXTUALITÄT
3.4.1 Gedächtnis und Literatur: Das Palimpsest bei Renate Lachmann »Das Gedächtnis des Textes ist seine Intertextualität«, behauptet Renate Lachmann in ihrer 1990 veröffentlichten Studie Gedächtnis und Literatur und setzt somit Gedächtnis und Intertextualität in eine Gleichung (Lachmann 1990: 35; vgl. dazu Erll 2011: 79). An anderer Stelle buchstabiert die Autorin ihr poststrukturalistisch geprägtes Intertextualitätskonzept62 weiter aus: Intertextualität bilde dabei zum einen
61 Aus der Musiktheorie hat Alexander Honold unlängst ausführlich die Bedeutung der Kontrapunktik für postkoloniale Perspektiven herausgearbeitet, um das Verhältnis von Vielstimmigkeit sowie das von Einzelstimmen zu hegemonialen Stimmen bis hin zu Fragen einer »kontrapunktische[n] Ästhetik« zu beschreiben (Honold 2014: 89; vgl. ebd.: 86–89). 62 In einem ihrer zahlreichen Überblicksartikel zur Intertextualität pointiert Lachmann dieses Verständnis. Dort bestimmt sie Intertextualität gemein als »Zentralbegriff einer Literaturbetrachtung, die den Beziehungen zwischen den Texten und den Modi der Verarbeitung älterer Texte in einem neuen gilt. Es geht dabei um die Bestimmung von Verfahren, die zwischentextliche Beziehungen herstellen, wie die Einlagerung fremder Texte in einen Text, die Kontamination einer Vielzahl heterogener Texte oder die Wieder- und Gegenschrift eines bekannten Textes, und letztlich um die durch die Verarbeitungsstrategien, denen der neue Text die alten unterzieht, erwirkte komplexe Sinnkonstruktion. […] Das Wiederholen, Nachahmen, verdeckte oder offene Anspielen, das Aufnehmen von Fragmenten fremder Texte, das Weiterschreiben, Ab- und Umschreiben, das Übersetzen und
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das Gedächtnis des jeweiligen Textes, »in dem ein anderer, fremder Text erinnert, abgelöst oder weitergeschrieben wird«, zum anderen »erscheint Literatur als Gedächtnis der Kultur« insgesamt (Lachmann/Schahadat 2000: 679). Literatur konstituiert nicht nur das Gedächtnis, sondern vor allem ist sie selbst »Gedächtnishandlung« (Lachmann 1990: 36). Ein literarischer Text schreibt sich folglich in einen Kosmos an Texten einer Kultur ein und tritt mit diesen in Beziehungen, die Lachmann im Rahmen ihres kultursemiotischen Ansatzes als intertextuell begreift: Die Intertextualität der Texte zeigt das Immer-Wieder-Sich-Neu- und Umschreiben einer Kultur, einer Kultur als Buchkultur und als Zeichenkultur, die sich über ihre Zeichen immer wieder neu definiert. Das Schreiben ist Gedächtnishandlung und Neuinterpretation der (Buch-)Kultur ineins. Jeder konkrete Text als entworfener Gedächtnisraum konnotiert den Makro-Gedächtnisraum, der die Kultur repräsentiert oder als der die Kultur in Erscheinung tritt. (Ebd.)63
Lachmanns Überlegungen kreisen zum einen um einen kultursemiotischen Zusammenhang von Kultur bzw. Kultur als Text, für den sie ein poststrukturalistisches, weites Verständnis von Intertextualität reklamiert.64 Zum anderen geht es ihr um die Frage nach konkreten Strategien der Intertextualität, um die sog. »Transpositionsmodi« (ebd.: 11), die das Verhältnis zwischen Prä- und Folgetext bestimmen und somit den »Umgang mit den vorhandenen Texten der Kultur, den ein neuer Text reflektiert« (ebd.: 38): Der Umgang mit dem fremden Text (Bewahren, Verbergen, Zerstören) zeugt von der Einstellung zur antezedenten Kultur und von seiner Selbstbestimmung im Rahmen der Kultur. Das
das Zusammenfügen eines neuen Textes aus Elementen anderer sind Prozeduren, die nicht nur Texte der Moderne, sondern auch ältere und älteste Texte als in einem Beziehungsnetz von Texten stehend ausweisen.« (Lachmann 2002: 794; Hervorh. i. Orig.) 63 Die räumliche Vorstellung von Gedächtnis als »Gedächtnisraum« bildet für Lachmanns Text-Kultur- bzw. Intertextualitätsverständnis eine zentrale Rolle: »Der Text durchquert die Gedächtnisräume, läßt sich in ihnen nieder, aber er bildet auch den Gedächtnisraum selber ab. Zugleich jedoch entwirft jeder Text auch einen Gedächtnisraum, dessen Beschreiten er anderen Texten überläßt.« (Lachmann 1990: 37; vgl. ebd.: 35–38) 64 Einen guten Überblick über das doch vielschichtige Forschungsfeld und die -geschichte der Intertextualität sowie ihre literaturwissenschaftliche Analyse liefern Oliver Scheiding (2004), Andreas Böhn (2007), Uwe Lindemann (2009) und Matías Martínez (2011). Vgl. auch einschlägig der frühe Beitrag von Manfred Pfister (1985a), der nicht nur einen Überblick liefert, sondern selbst als Teil der Diskussion um die Typologisierung von Intertextualität zu betrachten ist.
72 | L ITERATUR ALS P ALIMPSEST bedeutet, daß Intertextualität eng mit einem Gedächtniskonzept verschränkt ist. Partizipation, Transformation und Tropik sind die Strategien, die das intertextuelle Gedächtnis des Textes einsetzt. (Lachmann/Schahadat 2000: 679)
Wesentliche Merkmale des rewriting sind mit »Bewahren, Verbergen, Zerstören« bereits benannt, und Lachmann bedient sich ferner auch der Metapher des Palimpsests, um nicht nur die Möglichkeit unendlicher Text-Text-Beziehungen und ihre fortlaufende Sinnkonstitution aufzuzeigen, 65 sondern zugleich – u.a. mit Verweis auf Walter Benjamin – die Entitäten ›Ursprung‹ und ›Originalität‹ von Textualität aufzuheben: Die Metapher des Palimpsests scheint dies zu beschreiben: die Schreibfläche (der Kultur) wird für immer neue Texte verwendet, nachdem die bereits eingetragenen Zeichen weggekratzt, abgeschabt worden sind. Das Wegkratzen und Abschaben aber ist kein Löschen; ältere Zeichen treten zwischen den neueren und neuesten hervor, als zerstückelte Textteile, Fragmente eines als ganzen Entzogenen. Den Intertext-Entzifferer interessiert sowohl das Zusammenspiel der Fragmente, die Rekonstruktion der jeweiligen Textensembles, denen sie angehört haben mochten, als auch der Parcours durch die Schichten, die Exploration der Grundund Bodenlosigkeit der Schreibfläche. (Lachmann 1990: 49)
Bemerkenswert ist an dieser Ausführung, wie Lachmann die Rolle des Intertextbzw. Palimpsest-Entziffernden charakterisiert, dem es nicht nur im direkten Wortsinn um die Analyse66 der Textschichtung geht. Sie betont gleichsam das Moment der Erfahrung einer Unabschließbarkeit von Bedeutung, von textueller »Sinnkomplexion oder Sinndispersion« (Lachmann 1990: 7) – d.h. im Sinne von ›Zerstreuung‹ –, die jeder Text im Universum seiner Textkultur hervorbringt. Lachmanns Verständnis läuft jeder Lektüre, die den Text zu vereindeutigen sucht, zuwider: Die intertextuelle Lektüre begreift sie als einen immer wiederholbaren Versuch, im in Erscheinung tretenden Text die Spuren, Verstrebungen, Schichtungen, Höhlungen, Einkerbungen, die die Arbeit der Transformation und des verbergenden Verweisens hinterlassen hat, in ihrer Struktur zu erkennen und ihre Funktion zu deuten. (Lachmann 1990: 49)
65 Allgemein zeichnet sich der poststrukturalistische Text- bzw. Intertextualitätsbegriff dadurch aus, wie Oliver Scheiding pointiert formuliert, dass er den »Text als ein Spiel endloser Textbeziehungen« auffasse, »so dass Intertextualität einen offenen Prozess der Sinnvervielfältigung markier[e].« (Scheiding 2004: 54; vgl. allg. ebd.: 59–62) 66 Etym. ›analysieren‹: »zergliedern«, »auflösen«, u.a. methodisch »etwas auf die Bestandteile zurückführen, aus denen es zusammengesetzt ist« (Seebold 2002: 41).
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Dieser Versuch, »zum originären Text-Ort vorzudringen«, ist allerdings einer Aporie ausgesetzt: Die intertextuelle Lektüre »treibt den Referenten aus, indem sie den Text auf einen Abgrund/Ungrund von Prätexten zutreibt.« (Ebd.) Der Lektüre ist somit Grenzen gesetzt, denn »[d]ie reine, wahre, verdeckte Urschrift bleibt freilich immer verborgen, sie ist immer schon mit den darauf ruhenden Schriften verknüpft.« (Ebd.) Das Palimpsest als Text- bzw. Kulturmodell folgt der Vorstellung einer »unabschließbaren Semiose […], die nichts, was in der kulturellen Interaktion zum Zeichen wurde, verlöschen läßt. Der Gedächtnisspeicher der Kultur ist immer verfügbar und wird in Texten verfügbar gehalten.« (Lachmann 2002: 808) Das Palimpsest ist so gesehen, d.h. im poststrukturalistischen Sinne, in beide Richtungen unabgeschlossen und irreduzibel und damit nicht zurückführbar auf einen Urtext. Diese Vorstellung hintergeht jene epistemologischen Grenzen des Anfangs, des Ursprungs und der Idee einer Originalität von Textualität. Diese Aspekte meint Lachmann, wenn sie metaphorisch von der »Grund- und Bodenlosigkeit der Schreibfläche« (Lachmann 1990: 49) spricht, die sie anhand der PalimpsestMetapher umschreibt. Hanna Eglinger betont in ihrer Studie Der Körper als Palimpsest, dass [d]er Begriff ›Palimpsest‹ im Sinne eines endlosen, prozeßhaften oder selbstgenerativen Prinzips […] in diesem Zusammenhang und gerade durch die Eliminierung des Ursprungs eine Dimension [erhält], die vergleichbar ist mit derjenigen Auffassung (post)strukturalistischer Theorien, die das Palimpsest als ein literarisches Motiv für das Schreiben selbst verwenden. (Eglinger 2007: 27)
Lachmann verwendet das Palimpsest jedoch weniger in einem Sinne, der bloß »vergleichbar« wäre mit einem poststrukturalistischen Verständnis, sie ruft es vielmehr explizit als Teil eines solchen auf und aktualisiert die Metapher in einem theoretischen Zusammenhang, der Textualität und Kultur über die Beziehung von Gedächtnis und Intertextualität thematisiert.67 Wenngleich sie es nur an wenigen Stellen ausformuliert,68 so zeigen die Ausführungen dennoch, dass das Palimpsest eine Grundfigur des Lachmann’schen Denkens und ihres Intertextualitätsbegriff darstellt. Nicht nur weisen ihre Ausführungen Merkmale der Palimpsest-Metapher auf, wie sie schon bei Bhatti einen Kulturbegriff versinnbildlichen, der als Ergebnis von interferierenden Schichtungen zu begreifen ist (vgl. I.3.2.2). Die Art und Weise, wie Lachmann in ihren Beschreibungen zur Intertextualität von dem auf Freud zu-
67 Vgl. hierzu auch Scheiding: »Intertextualität konstituiere das kulturelle Gedächtnis der Literatur, indem der Text selbst als Schaltstelle zwischen Texten und erinnerungshistorischen Kontexten fungiere.« (2004: 64) 68 Weitere Textstellen zum Palimpsest bei Lachmann vgl. 1990: 43, 46, 77.
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rückgehenden Begriffspaar »manifest« und »latent» Gebrauch macht, um Sichtbares und Verborgenes in ihrer Simultanität zu veranschaulichen, verhält sich ähnlich zur Vorstellung des Palimpsests, das Präsenz und Absenz zur Deckung bringt; gerade auch um das unendliche Spiel von Bedeutungen ins Bild zu setzen: Der Dialog mit der Kultur, das Einspielen von Texten der Vergangenheit in einen ›neuen‹ textuellen Zusammenhang vollzieht sich mit Hilfe von Verfahren des Verbergens, des Aufbaus von Strukturen, die manifest und latent zugleich sind, durch die Kreuzung zweier Kodes, also durch Doppelkodierung. (Lachmann 1990: 11)
Der Palimpsest-Gedanke ist also ihrem Intertextualitätsbegriff inhärent. Weitere Bezüge zum Palimpsest zeigt etwa ihr Versuch einer Typologisierung von Intertextualität, der im Folgenden noch eine Rolle spielen wird. 3.4.2 Gérard Genettes »Literatur auf zweiter Stufe«: Postkoloniale Perspektiven auf Hypertextualität Einem deutlich engeren Verständnis von Intertextualität folgt Gérard Genette.69 In seiner Studie Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe (1993) macht Genette von der Metaphorik des Palimpsests Gebrauch, um einen spezifischen Typ zwischentextlicher Beziehungen zu beschreiben. Genette führt für seine Überlegungen zunächst den Oberbegriff der »Transtextualität« ein, wobei er fünf Typen transtextueller Beziehungen unterscheidet.70 Ihm geht es dabei allgemein um das Phäno-
69 Gegenüber einem weiten Verständnis von Intertextualität (vgl. Kristeva/Lachmann) vertritt Genette ein enges. Allerdings ist anzumerken, dass Genettes Ansatz an einigen Stellen ein weites Verständnis aufruft, sodass sich sein Intertextualitätsbegriff nicht – wie in vielen Überblickstexten behauptet – in eine unversöhnliche Position zu poststrukturalistischen Theorien setzen lässt. Vgl. etwa Genette selbst: »Und die Hypertextualität? Selbstverständlich ist auch sie ein universeller Aspekt der Literarität: Es gibt kein literarisches Werk, das nicht, in einem bestimmten Maß und je nach Lektüre, an ein anderes erinnert; in diesem Sinn sind alle Werke Hypertexte.« (Genette 1993: 20; vgl. dazu auch die Ausführungen von Schedel [2002: 227]) 70 Neben der (1) »Intertextualität«, die Genette zwar in Anlehnung an Julia Kristeva, aber deutlich »restriktiver als Beziehung der Kopräsenz zweier oder mehrerer Texte« auffasst und in drei Formen (Zitat/Plagiat/Anspielung) einteilt, bezeichnet (2) »Paratextualität« (griech. para f. ›neben‹) jene Elemente auf der pragmatischen Ebene des Gesamttextes (Titel, Untertitel, Vor-/Nachworte, Motti oder Umschlag etc.). (3) »Metatextualität« wiederum beschreibt ein Verhältnis zwischen Texten, bei dem der eine Text als Kommentar des anderen erscheint. (4) Mit »Architextualität« ist eine Eigenschaft des Textes um-
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men, das den Text »in eine manifeste oder geheime Beziehung zu anderen Texten bringt.« (Ebd.: 9) Die Denkfigur des Palimpsests, das, obwohl titelgebend, erst zum Schluss der Arbeit explizit verhandelt wird (vgl. ebd.: 532), hat dabei zum Entwurf einer Kategorie von Text-Text-Beziehungen inspiriert, die Genette als »Hypertextualität« bezeichnet.71 Deren taxonomische Beschreibung steht im eigentlichen Mittelpunkt seines Projekts. Die Schicht-Metaphorik des Palimpsests dient Genette als Vorbild, um Hypertextualität in der Vorstellung einer Abstufung, einer Literatur auf zweiter Stufe – wie es im Untertitel heißt –, zu entwickeln. Hypertextualität kennzeichnet ein besonderes Verhältnis zwischen zwei Texten, bei dem ein Text B (den Genette als »Hypertext« bezeichnet) einen Text A (den »Hypotext«) »auf eine Art und Weise überlagert«, dass er als dessen »Ableitung« (ebd.: 15) zu verstehen ist. Liegt der Akzent der Intertextualität bei Genette auf der »effektive[n] Präsenz eines Textes in einem anderen Text« (ebd.: 10), so betont das Konzept der Hypertextualität ein sowohl qualitatives als auch graduelles Verhältnis zwischen Texten, bei dem der Hypotext (Text A) zur unerlässlichen Vorlage seiner Bearbeitung wird, ohne den der Hypertext (Text B) als Text zweiten Grades »gar nicht existieren könnte« (ebd.: 15).72 Erst zum Ende seiner Studie hin wird das Palimpsest explizit aufgerufen. Genette umkreist im Schlusskapitel (1993: 526–534) zusammenfassend drei allgemei-
schrieben, die den Text aufgrund bestimmter Merkmale einer Gattung, Textsorte oder Schreibweise zuordnet (vgl. Genette 1993: 9–18). Zur (5) »Hypertextualität« siehe oben. 71 Eine deutliche Kritik an Genettes Typologie der ›Transtextualität‹ wie auch an der Leistungsfähigkeit des Palimpsests als Metapher hat Karlheinz Stierle geäußert. Stierle stuft die Vorstellung des Palimpsests »für die motivierte Beziehungen von Text zu Text« als »nicht mehr tragfähig« ein (Stierle 1984: 149f.). Er folgt dabei einem grundlegenden Fehlschluss, indem er das Palimpsest auf seinen pragmatischen Kontext (vgl. II.2.1) reduziert und dabei die Metaphorik des Palimpsests (vgl. II.2.2) in ihrer Polyvalenz übersieht, die entgegen seinem Vorwurf durchaus eine intendierte und motivierte Überschreibung implizieren kann. Dies wäre übertragen auf Begriffe wie rewriting und writing back der Fall. 72 Im Verlauf seiner Überlegungen arbeitet Genette unterschiedliche Spielarten von Hyptertextualität heraus, die er am Beispiel von vier Unterkategorien systematisiert: Dazu zählen die »Parodie« und »Travestie« auf der einen sowie das »Pastiche« und die »Persiflage« auf der anderen Seite. Zwei Grundverfahren erscheinen für Genette zentral, die er in »Transformation« (Parodie/Travestie) und »Nachahmung« (Persiflage/Pastiche) unterscheidet: »Als Hypertext bezeichne ich also jeden Text, der von einem früheren Text durch eine einfache Transformation (wir werden einfach von Transformation sprechen) oder durch eine indirekte Transformation (durch Nachahmung) abgeleitet wurde.« (Genette 1993: 18; Hervorh. i. Orig.; vgl. ebd.: 527)
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ne Merkmale hyptertextueller Beziehungen, darunter etwa das »Basteln« (ebd.: 532f.). Dieses sei einem Reiz geschuldet, der von der Kunst ausgehe und Tradition habe, »›aus Altem Neues zu machen‹« (ebd.). Bevor Genette das Palimpsest ins Spiel bringt, beschreibt er das Verhältnis zwischen Neu und Alt: »[E]ine neue Funktion legt sich über eine alte Struktur und verschränkt sich mit ihr, und die Dissonanz zwischen diesen beiden gleichzeitig vorhandenen Elementen verleiht dem Ganzen seinen Reiz.« (Ebd.) An diese Beschreibung schließt Genette nun das Palimpsest an: Diese Doppelheit des Objekts läßt sich im Bereich der Textbeziehungen durch das alte Bild des Palimpsests abbilden, auf dem man auf dem gleichen Pergament einen Text über einem anderen stehen sieht, den er nicht gänzlich überdeckt, sondern durchscheinen läßt. Pastiche und Parodie, hieß es zu Recht, ›bezeichnen die Literatur als Palimpsest‹: Das muß, genereller, für jeden Hypotext gelten, wie Borges bereits zur Beziehung zwischen dem Text und seinen Vortexten anmerkte. Der Hypertext fordert uns zu einer relationalen Lektüre auf, deren Reiz, der so pervers sein kann, wie man nur will, recht gut in dem einst von Philippe Lejeune erfundenen Adjektiv zum Ausdruck kommt: palimpsestuöse Lektüre. Oder, um von einer Perversion zur anderen überzugehen: Liebt man die Texte wirklich, so muß man von Zeit zu Zeit den Wunsch verspüren, (mindestens) zwei gleichzeitig zu lieben. (Ebd.: 532f.; Hervorh. i. Orig.)
Das Verfahren einer ›relationalen Lektüre‹, d.h »zwei oder mehrere Texte in bezug [sic] aufeinander lesen«, hat Genette in diesem Zusammenhang als »offenen Strukturalismus« bezeichnet (ebd.: 533; Hervorh. i. Orig.).73 Eine relationale Lektüre bedeutet demnach, Literatur als Palimpsest zu lesen. Wenngleich Genette hier die Beziehung von Hypo- und Hypertext als »Dissonanz« näher bestimmt, so hat Harald Weinrich in seinem Essay Schriften über Schriften. Palimpseste in Literatur, Kunst und Wissenschaften (2007) Kritik daran geübt, indem er für das Verhältnis von Hypo- und Hypertext eine zentrale Bedingung einführt. Wären nach Genette »so gut wie alle intertextuellen Überlagerungen der älteren und neueren Literaturgeschichte als Palimpseste aufzufassen« (ebd.: 33), so setzt Weinrich dem entgegen, dass TextText-Bezüge an sich noch kein Palimpsest ausmachten. Das Besondere am Palimpsest sei die Qualität der Beziehung selbst, die der neue mit dem alten Text eingehe: Diese Omnipräsenz von Palimpsesten in der Geschichte der Kultur möchte ich meinerseits so global nicht gelten lassen, sondern auf die gewichtige Einschränkung Wert legen, daß inter-
73 Dem stehe ein ›geschlossener Strukturalismus‹ gegenüber, bei dem es um eine »Schließung des Textes und der Entzifferung seiner internen Strukturen« gehe (Genette 1993: 533; Hervorh. i. Orig.).
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textuelle Bezüge zwischen literarischen Werken nur dann als Palimpseste angesehen werden können, wenn ein Text nicht glatt und harmonisch von einem anderen überlagert wird, sondern deutliche Spuren von psychischen Verwerfungen aufweist, an denen abzulesen ist, daß hier eine alte Geschichte mit einer neuen Botschaft im Streit liegt. (Ebd.: 34)
Diese von Weinrich eingeführte Prämisse ermöglicht es, an die hier angestellten Überlegungen zur Hypertextualität eine postkoloniale Perspektive anzuschließen. So erlaubt es das Konzept des »Streits«, Genettes strukturalistische Kategorie mit poststrukturalistischen Grundannahmen zu koppeln: Die Beziehung der Textschichten wird so als Interferenz diskursiver Flächen lesbar. Durch sie wird eine Differenz zwischen kolonialen und postkolonialen Diskursschichten verhandelt, die politischideologische Implikationen ins Feld führt. Mit dieser Vorstellung ist gleichsam etwas aufgerufen, was im Kontext postkolonialer Literaturwissenschaft als rewriting bezeichnet wird. 74 Aus diesem Blickwinkel ist rewriting als Hypertextualität begreifbar, bei dem ein Prätext (Hypotext) zum Ausgangspunkt seiner literarischen Bearbeitung wird. Der ›postkoloniale Hypertext‹ erscheint damit als Ergebnis von Überschreibungen, deren kritisches Potential erst durch seine Beziehung zum ›kolonialen Hypo-‹ bzw. ›Prätext‹ entsteht. Das Um-, Neu- und Überschreiben rekurriert im Bild des Palimpsests auf einen postkolonialen Akt der Revision, der innerhalb der Literatur ein »differentielles Spiel« (Uerlings 2012: 53) zwischen den Schichten in Gang setzt. Intertextualität bildet, wie Herbert Uerlings betont, ein Verfahren, das zur Irritation kolonialer Ordnungsmuster, Dichotomien und Hierarchien beitragen kann. Sie vermag u.a., die hegemoniale Einstimmigkeit des kolonialen Diskurses durch eine »künstlerische[ ] Organisation der Redevielfalt« (Uerlings 2005: 32) aufzubrechen. In der Formulierung vom »differentiellen Spiel«, die an späterer Stelle als Aspekt einer ›Ästhetik der Verschiebung‹ noch näher thematisiert wird (vgl. II.1.2), zeige sich Uerlings zufolge ein postkoloniales als poetisches Potential, aus dem eine »kritische Leistung literarischer Kunst hervorgehen« könne (Uerlings 2012: 53). Ähnlich hat Axel Dunker in Hinblick auf den Aspekt der Dialogizität bzw. Interferenz hingewiesen, dass die Metapher des Palimpsests […] im Falle der Relektüre wesentlich präziser in der Beschreibung des Phänomens zu sein [scheint]: ein Prätext wird überschrieben, aber unter dem Hypertext bleibt der Prä- oder Hypotext sichtbar und beide Schriften treten in ein komplexes dialogisches (Bedeutungs-)Spiel ein. (Dunker 2012a: 167)
74 Vgl. ausführlich unter II.4.1 in dieser Arbeit.
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Das Konzept des »Streits«, das Weinrich im Allgemeinen für die PalimpsestMetaphorik konstatiert, wird bei Dunker auf eine spezifisch ›postkoloniale Ästhetik‹ (vgl. Uerlings 2012; Dunker 2012b) übertragen, die insbesondere für die Gegenwartsliteratur, die sich ganz maßgeblich an kolonialen Prätexten abarbeitet, an Bedeutung gewinnt. Als »komplexes dialogisches (Bedeutungs-)Spiel« (Dunker 2012a: 167) ermöglicht das Palimpsest eine Perspektive, um den literarischen Text als komplexe Struktur einer Mehrfachcodierung zu lesen, bei der »zwei oder mehrere Diskursflächen« (Hamann/Honold 2009: 15) in Verhandlung treten. Diese Literatur als Palimpsest zu lesen, hieße folglich, die Interferenz zwischen kolonialen und postkolonialen Diskursflächen als eine Auseinandersetzung zwischen kolonialer Vergangenheit einerseits und postkolonialer bzw. auch neokolonialer Gegenwart andererseits zu untersuchen. Mit Weinrich und Dunker ist auch die Ambivalenz dieser hypertextuellen Literatur zu beschreiben. Wenn die Literatur im Bild des Palimpsests als dialogisches Verhältnis begriffen wird, so konstituiert sich das ästhetische Potential aus einer doppelten Bewegung: Wiederholung und Differenz bzw. Affirmation und Subversion. Wenn ein Hypertext nun als Prätexte koloniale Stoffe heranzieht, um sie kritisch zu übers- oder umzuschreiben, so droht immer auch die »Gefahr eines Wiederholens« (Bay 2012: 130), die allein schon von der Gattungsnorm ausgehen kann (Bsp. Reisebericht). Die kritische Auseinandersetzung, die demzufolge das Palimpsest in der Vorstellung der Überschreibung als Neu-, Weiter- oder Umschreibung evoziert, kommt um die partielle Affirmation, d.h. die Wiederholung kolonialer Diskursmuster, nicht umhin, zu deren Überwindung der Hypertext aber gerade antritt. Revision bedeutet somit immer auch partielle Affirmation – oder: Die Subversion existiert nur auf der Folie des Subvertierten, die durch das Subvertierende palimpsestartig hindurchschimmert.75 Eine ›palimpsestuöse Lektüre‹, die dieser Ambivalenz Rechnung trägt, sieht darin weniger ein Manko denn vielmehr ein selbstreflexives Potential von Literatur, das zu einem kritischen Umgang anhält. Wie das Präfix ›post‹ in Postkolonialismus stets auch die Frage nach dem Fortwirken kolonialer Diskursmuster aufwirft, so sensibilisiert die Palimpsest-Lektüre ebenfalls immer für eine Problematisierung von Hypertextualität bzw. von Spielarten des rewriting. Sie ist eine Voraussetzung, um koloniale Kontinuitäten in den Blick zu rücken, die sich in literarische Formen der Überschreibung einzuschleichen drohen, und macht schließlich eine kritische Auseinandersetzung mit kolonialen Diskursmustern zu einer Angelegenheit, die niemals stillsteht, sondern offen und unabgeschlossen stets neu zu verhandeln ist.
75 Diese Formulierung ist eine Anlehnung an Lachmanns Formulierung zur Parodie: »Und dennoch, gerade die Parodie existiert nur auf der Folie des Parodierten, das durch das Parodierende hindurchschimmert […].« (Lachmann 1990: 66)
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3.4.3 Partizipation, Transformation, Tropik: Lachmanns Intertextualitätsmodell im Kontext von rewriting und Palimpsest Innerhalb der postcolonial studies ist die Frage nach der Intertextualität von Literatur mit Konzepten verknüpft, die das Verhältnis zwischen Texten als revisionistisch-kritisch begreifen und dabei insbesondere das schreibende Subjekt in den Mittelpunkt stellen. Dazu zählen solche, die im anglo-amerikanischen Postkolonialismusdiskurs als rewriting oder writing back umschrieben sind (vgl. Ashcroft/Griffiths/Tiffin 2002). Bei ihrer Übertragung auf deutschsprachige Diskurse der postkolonialen Studien drängen sich allerdings eine Reihe von Fragen auf, die mit der spezifischen Verfasstheit deutschsprachiger Literatur zu tun hat (vgl. II.4.1.2).76 Zugleich ist darauf hinzuweisen, dass in den deutschsprachigen postkolonialen Studien bisher die Ansätze der Intertextualitätstheorie selten einbezogen wurden, wenn es um die Frage ging, wie Texte kritisch auf Prätexte reagieren.77 Bezeichnet rewriting allgemein ein spezifisches Verhältnis, das Texte zu anderen Texten unterhalten, so sind damit immer auch Bilder der Überschreibung und Überlagerung und letztlich die Palimpsest-Metapher aufgerufen. Während das Verhältnis von Palimpsest und rewriting im Bereich der Textanalyse noch genauer ausgelotet werden wird (vgl. II.4.1), so gilt es nachfolgend zunächst, abseits des Genett’schen Ansatzes zur ›Hypertextualität‹, eine weitere Typologie der Intertextualität vorzustellen, wie sie Renate Lachmann in Gedächtnis und Literatur (1990) vorgeschlagen hat.78 Für Lachmann oszilliert das Verhältnis, das Texte zu anderen Texten eingehen, zwischen den Polen der »Annäherung oder Entfernung«, zwischen »Abstoßung oder Verschmelzung« (Lachmann 1990: 38; 2001: 287; 2002: 805). Zur näheren Klassifizierung von Text-Text-Relationen führt die Autorin zunächst drei Begriffe
76 Vgl. zum Begriff rewriting und seine kritische Diskussion im Kontext deutschsprachiger Literatur Osthues (2017). 77 Ausnahmen bilden hier die Arbeiten von Birk/Neumann (2002), Jochen Dubiel (2007: 193–198) und Axel Dunker (2012a). 78 Vgl. erstmals Lachmann (1990), ausführlicher zur Darstellung gebracht in Lachmann/ Schahadat (2000: 678–685) und Lachmann (2002: 805). Lachmanns Ansatz ist insofern interessant, als er sowohl innerhalb der theoretischen Diskussion um postcolonial rewriting allgemein als auch im Kontext kulturwissenschaftlicher Arbeiten zum Palimpsest bisher unberücksichtigt geblieben ist. Dies scheint dabei für die postkoloniale Forschung insgesamt zu gelten, in der Ansätze der Intertexutalitätstheorie (z.B. Genette/Lachmann) bislang wenig beachtet wurden. Dieser Beobachtung folgt auch Jochen Dubiel (2007: 195).
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ein: »Partizipation«, »Transformation« und »Tropik«. Darunter versteht Lachmann »Strategien des Weiter-, Um- und Widerschreibens, die der manifeste Text im Umgang mit dem Vorläufertext einsetzt.« (Lachmann/Schahadat 2000: 679) An anderer Stelle konkretisiert sie die drei Begriffe anschaulich als »Bewahren, Usurpieren, Abwehren.« (Ebd.: 684) Insbesondere die dritte Kategorie, die Tropik, kommt jener dialogischen Setzung nahe, wie sie oben durch Harald Weinrich allgemein als ›Streit der Botschaften‹ und durch Axel Dunker als »komplexes, dialogisches (Bedeutungs-)Spiel« (2012a: 167) in Hinblick auf Merkmale einer postkolonialen Ästhetik beschrieben wurde. Hier – und diesen Aspekt gilt es hervorzuheben – fügt Lachmann eine diskurs- bzw. ideologiekritische Implikation in rewriting-Konzeptionen ein, die für postkoloniale Analyseperspektiven grundlegend von Bedeutung ist. Dies bedarf der näheren Erläuterung: Meint (1) ›Partizipation‹ die »das im Schreiben sich vollziehende dialogische Teilhaben an den Texten der Kultur«, die »im Wiederholen und Erinnern der vergangenen Texte ein Konzept ihrer Nachahmung« einschließt (Lachmann 1990: 38f.), so ist unter (2) ›Transformation‹ nicht nur, im Sinne Genettes, die strukturelle Ableitung eines Textes B (Hyper- bzw. Folgetext) aus einem Text A (Hypo- bzw. Prätext) zu verstehen. Diesem Verhältnis wird überdies eine subversive Motivation unterstellt: »Im Gegensatz zur dialogischen Teilhabe« (Partizipation) tendiere der transformierte Text dazu, »den früheren Text zu verbergen, ihn unkenntlich zu machen und den fremden als eigenen Text zu präsentieren.« (Lachmann/Schahadat: 681) Diese strategische Aneignung und Verschleierung des Originären, die Lachmann als »Usurpation des fremden Wortes« beschrieben hat, fordert eine »Unterwerfung des fremden poetologischen Programms unter das eigene.« (Ebd.) Transformation sei demnach als eine über Distanz, Souveränität und zugleich usurpierende Gesten sich vollziehende Aneignung des fremden Textes zu verstehen, die diesen verbirgt, verschleiert, mit ihm spielt und durch komplizierte Verfahren unkenntlich macht, respektlos umpolt, viele Texte mischt, eine Tendenz zu Esoterik, Kryptik, Ludismus und Synkretismus zeigt. (Lachmann 1990: 39; vgl. 2002: 805)
Gegenüber dem Modus der Partizipation, der eine »Geste der Berührung« dar- und »Kontiguität« herstellt, »läßt Transformation sich als ein Überschreiben begreifen, als eine Similaritäts-Intertextualität: Der fremde Text wird dem eigenen gleichgemacht.« (Lachmann/Schahadat 2000: 682) Der Begriff der (2) Transformation ähnelt dabei dem der (3) Tropik, den Lachmann zuletzt in Anlehnung an Harold Bloom entwickelt. Sowohl Transformation als auch Tropik beschreiben einen Modus des Umschreibens. Allerdings zeichnet sich die Tropik gegenüber der Transformation als Strategie aus, die einem »Weg-
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wenden des Vorläufertextes« gleichkommt (Lachmann 1990: 39). Als Gegengeschichte oder Gegendiskurs rückt die Tropik dadurch in die Nähe des rewritingKonzepts. Den Tropik-Begriff formuliert sie konkreter als den »Versuch der Überbietung, der Abwehr und Löschung der Spuren des Vorläufertextes« (ebd.; Lachmann/Schahadat 2002: 683). Wird bei Weinrich die intertextuelle Beziehung über die Figur des ›Streits‹ charakterisiert, so spitzt Lachmann das Verhältnis zwischen dem jüngeren Text und dem älteren Prätext deutlich zu, das sie als »Kampf« bezeichnet (Lachmann 1990: 39; 2002: 805; Lachmann/Schahadat 2000: 683). Intertextualität wird demnach als eine Möglichkeit zum Widerstand gegen die hegemoniale Position von Kanon und Tradition begriffen: »In einander abwechselnden Phasen der Imitation und der Ablehnung des Vorläufers finden ein mis-reading der fremden Texte und deren rewriting als revisionärer Akt statt.« (Lachmann/Schahadat 2000: 683; Hervorh. i. Orig.) In Anbetracht der Tatsache, dass Lachmann also explizit auf den Begriff des rewriting rekurriert, verwundert es, dass ihr Ansatz in postkolonialen Studien bisher kaum beachtet wurde. Insbesondere dessen Differenzierung in Partizipation, Transformation und Tropik erweist sich m.E. als produktiv, indem sie texttheoretisch stärker das ›wie‹ als das ›was‹ des rewriting in den Mittelpunkt der Analyse stellt.79 Dass allgemein Konzepte zur Intertextualität in der Diskussion um rewriting und writing back bislang wenig Beachtung gefunden haben, scheint jedoch einer Perspektive geschuldet, die sich auf eine außerliterarische, produktionsästhetische Ebene zurückzieht und das schreibende Subjekt ins Zentrum rückt. Diese Einschränkung verhindert folglich einen textanalytischen Blick, der auf den am rewriting beteiligten Erzählverfahren läge (vgl. II.4.1). Eine solche Haltung liegt auch z.B. der Argumentation von Monika Reif-Hülser zugrunde, die in ihrer 2006 publizierten Studie Fremde Texte als Spiegel des Eigenen einen wichtigen Beitrag zur Integration der rewriting- und writing-backBegriffe in den deutschsprachigen Forschungsraum geleistet hat. Reif-Hülser geht davon aus, dass »[i]n der engen Verbindung zwischen Schreiben und Leben […] die Differenz zwischen Rewriting und Intertextualität« verortet sei (Reif-Hülser 2006: 72). Obgleich sich beide Konzepte zwar als literarische Strategien durchaus ähnelten, so verharre das Konzept der Intertextualität dennoch im Horizont eines Textbegriffs, der den für postkoloniale Perspektiven zentralen Aspekt der »Intentionalität« (ebd.: 73) vernachlässige. Ihre Hauptkritik entzündet sich an einer potentiellen Begrenztheit von intertextuellen Ansätzen, welche die »gesellschaftliche, politische und kulturelle Durchdringung der eigenen Kultur durch eine fremde Kultur«
79 Vgl. zur Kritik an bisherigen rewriting-Analysen auch Heimböckel (2016b) und Osthues (2017).
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(Reif-Hülser 2006: 72) außer Acht ließen. In den Augen der Autorin führten intertextuelle Analysen zum Ausblenden des soziokulturellen Kontexts des schreibenden Subjekts zugunsten eines dominant gesetzten Textbegriffs. Ihre Kritik pointiert sie wie folgt: Es ist schon problematisch, von ›Bezügen‹ oder ›Beziehungen‹ zwischen Texten zu sprechen, denn eines der Merkmale des intertextuellen Textkonzepts ist gerade, dass es keine Referenz nach außen hat. Versucht man, einen Überblick über die weit verzweigte Intertextualitätsdiskussion zu erlangen, so wird schnell deutlich, dass Intertextualitätstheorie ohne die Universalie ›Text‹, oder man kann auch sagen, einen ›Universaltext‹, nicht auskommt. (Ebd.)
Ihr Vorwurf an die Intertextualitätstheorie bezieht sich also auf das Fehlen einer den Texten äußerlichen Referenz,80 weshalb der soziokulturellen Position der Autorinnen und Autoren nicht angemessen Rechnung getragen werde: Im Falle des postkolonialen rewriting von Texten des literarischen Kanons ist die intertextuelle Referenz eine des Interesses, das die Hinwendung zum kanonischen, oder älteren Text steuert. In der Intertextualitätsdiskussion der 1970er und 1980er Jahre hat die Intentionalität oder das gerichtete Interesse keinen Ort. (Ebd.: 73)
Gegen die Argumentation ist einzuwenden, dass sie auf einen Intertextualitätsbegriff der 1970er/1980er Jahren rekurriert, von dem sich spätere intertextuelle Ansätze selbst distanzieren. 81 Zweitens ist ihr Fokus auf anglophone Literatur be-
80 »Der hauptsächliche Unterschied zwischen Intertextualität und rewriting liegt in der Konzeption der Referenz. Im intertextuellen Modell beziehen sich die Texte aufeinander oder auf einen Supratext oder Universaltext. Im postkolonialen Paradigma sind es die Autorinnen und Autoren, die sich aufgrund ihres kulturpolitischen und kulturhistorischen Interesses der Sammlung von ausgezeichneten Texten im Kanon zuwenden.« (ReifHülser 2006: 73) 81 Reif-Hülser kritisiert jenen intertextuellen Ansatz, von dem sich Lachmann als klassische Texthermeneutik ebenso distanziert und von einem »progressiveren« Begriff unterscheidet, der »theoretische Positionen des Dekonstruktivismus in die Textanalyse einbringt.« Solch ein »traditioneller Ansatz«, so Lachmann, »instrumentalisiert Intertextualität zu einem hermeneutischen Handwerkszeug, ohne Konzepte wie Text oder Sinn zu hinterfragen; die Lektüre zielt ab auf eine eindeutige Interpretation, auf die Erhaltung eines letztlich einen Sinns.« (Lachmann/Schahadat 2000: 678; Hervorh. i. Orig.) Bzgl. der Unterscheidung zwischen einem weiten und engen Intertextualitätsbegriff, d.h. einem poststrukturalistischen Textbegriff einerseits (Bachtin/Kristeva/Barthes/Lachmann) und einer
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grenzt, die sie im Sinne eines writing back als postkoloniale versteht; d.h. sie begrenzt postkoloniale Literatur auf Autorinnen und Autoren, die als Angehörige der ehemals Kolonisierten ihre Stimme einfordern und dabei Schlüsseltexte des westlich-europäischen Literaturkanons umschreiben. Selbst wenn die Argumentation Reif-Hülsers in der Trennung von ›Intentionalität‹ und ›Intertextualität‹ in ihrer Konsequenz plausibel wäre, so wäre sie auf deutschsprachige Literatur in dieser Art nicht übertragbar (vgl. II.4.1.2). Darüber hinaus ist die strikte Trennung zwischen »Rewriting und Intertextualität«, wie ein Abschnitt ihres Kapitels überschrieben ist, nicht überzeugend, da z.B. Renate Lachmann der Rolle der Autorin, des Autors durchaus Rechnung trägt, wenn sie vorschlägt, die Analyse von Intertextualität etwa in (a) »textanalytische Perspektive«, in (b) »Produktions-« und (c) »Rezeptionsintertextualität« zu differenzieren (Lachmann 2002: 804; 1996 134).82 So begreift Lachmann in Anlehnung an die Theorie der Einflussangst von Harold Bloom (1995) die »Literaturgeschichte als einen ständigen Kampf des späteren Dichters gegen den früheren« (Lachmann/Schahadat 2000: 683) und bezieht folglich den Schreibenden durchaus mit ein. Autorin und Autor sind als »Intertextualisten« (Lachmann 1990: 57), wenngleich nicht im Mittelpunkt der Analyse, so doch ihren theoretischen Überlegungen implizit. Am Beispiel der Lachmann’schen Argumentation wird deutlich, dass es in der Diskussion um postkoloniales rewriting in der deutschsprachigen Literatur an einer textanalytischen Perspektiven mangelt. 83 Zusammengefasst bietet der Ansatz Lachmanns die Möglichkeit, einem oftmals stark autor-zentrierten rewritingBegriff, der darüber hinaus für den Kontext deutschsprachiger Literatur fragwürdig erscheint, differenzierte intertextuelle Strategien (Partizipation/Transformation/
hermeneutisch-deskriptiven Perspektive andererseits, wie sie u.a. durch Broich/Pfister (1985) vertreten wird, vgl. den Überblick von Scheiding (2004: 54). 82 Vgl. zur Differenzierung von rezeptionsästhetischen und textgenerativen Ansätzen der Intertextualität auch Scheiding (2004: 62–64). 83 Ein Beispiel dafür ist der Beitrag »Postkoloniales Erzählen: Revisionistische Intertextualität und transnationale Narrative« von Roy Sommer, der 2011 im Handbuch Erzählliteratur erschienen ist. Der durchaus spannende Begriff einer »[r]evisionistische[n] Intertextualität« (2011: 280), den der Autor anführt, wird dabei terminologisch nicht näher bestimmt. Auch beziehen sich Sommers Überlegungen ausschließlich auf anglophone Literatur, sodass die Frage nach rewriting im Kontext der spezifischen Kondition deutschsprachiger Literatur unberührt bleibt. Auch der Grundlagenbeitrag zur postkolonialen Erzähltheorie von Hanne Birk und Birgit Neumann (2002) greift Intertextualität als Analysekategorie auf; allerdings bleibt ihr Beitrag auf den Aspekt der »literarischen Inszenierung von kreativen Gegengeschichten« (ebd.: 142) begrenzt, ohne Ansätze der Intertextualitätstheorie explizit heranzuziehen.
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Tropik) zur Seite zu stellen, die sich zur Beschreibung von Text-Text-Beziehungen anbieten und den Schreibenden als Instanz miteinschließen. Die zentrale Leistung ihres Intertextualitätsbegriffs liegt in seiner Differenziertheit. Er verbindet sowohl Aspekte von Autorschaft, von Gedächtnis und von Literatur als auch eine Auffassung von Intertextualität, die sich an poststrukturalistische Grundgedanken anschließen lässt, wie etwa an diskurskritische oder dekonstruktivistische Ansätze. Damit wird gewissermaßen auch der charakteristischen Ambivalenz postkolonialer Literatur, die im zweiten Teil dieser Arbeit in den Blick rückt, methodisch Rechnung getragen, ohne sie perspektivisch zu vereindeutigen. Hervorzuheben ist noch einmal, dass der Palimpsest-Gedanke dabei Lachmanns Ansatz durchzieht und für ihr Denken konstitutiv ist, obgleich der Begriff nur an wenigen Stellen fällt. So offenbart sich die metaphorische Qualität des Palimpsests nicht nur in Lachmanns kultursemiotischen Überlegungen zu Gedächtnis und Literatur, wie bereits ausgeführt wurde (I.3.4.1), auch in ihrem dreigliedrigen Modell aus Partizipation, Transformation und Tropik aktualisiert sie das Palimpsest als Überschreibungsfigur. Vor allem konturieren ihre Ausführungen zur Intertextualität wichtige Merkmale, die für eine Palimpsest-Ästhetik bzw. eine ›Literatur als Palimpsest‹ zentral sind, wie der folgende Auszug verdeutlicht: Die Intertexte bewahren auf, verbergen, drängen in die Latenz; sie heben die Zeit auf, indem sie die manifeste Zeit des Textes und die Zeiten der Prätexte verschränken, sie suspendieren die ›Originalbedeutung‹, indem sie neue Prozesse der Sinngebung in Bewegung setzen oder eine Semantik des Verschwindens (von Sinn) entwickeln. Ihre im Vergleich mit Traum- und Mnemobild komplexere Struktur resultiert aus ihrer Polyfunktionalität: Verbergen, Verstellen, Verschieben und Bewahren von Sinn (oder dessen Tilgung). (Lachmann 1990: 37; Hervorh. i. Orig.)
Abgesehen von typischen semantischen Merkmalen der Palimpsest-Metapher, wie z.B. die Doppelfigur manifest/latent oder die Infragestellung von Original und Ursprung, benennt sie konkrete Strategien der Intertextualität, die sie unter dem Begriff der »Polyfunktionalität« subsummiert. Diese sind für die vorliegende Studie insofern von zentraler Bedeutung, als sie auch für eine postkoloniale Ästhetik in Betracht kommen, die ihr dekonstruktives Potential im Umgang mit dem kolonialen Imaginären ganz wesentlich aus Verfahren der Inversion – d.h. des Verschiebens, Umkehrens, Entstellens, Verrückens, Deplatzierens – bezieht (vgl. I.4.3 u. II.1.2).
4. Zwischenbilanz: Vom theoretischen Modell zum textanalytischen Konzept. Vorschläge einer postkolonialen Lektüre
An diesem Punkt der theoretischen Überlegungen ist bereits festzustellen: Das Palimpsest ist eine dezidiert postkoloniale Metapher, und somit ist sein vielfaches Auftreten u.a. im postkolonialen Diskurs keinesfalls einem Zufall geschuldet. Der Reiz der Palimpsest-Metaphorik liegt gerade darin begründet, dass sie dem postkolonialen Denken affin ist, was sich in den ganz unterschiedlichen Versuchen ihrer Theoretisierung widerspiegelt. Hervorzuheben ist dabei sowohl ihre Anschlussfähigkeit an postkoloniale Theoreme als auch vice versa die Art und Weise ihrer Inanspruchnahme, und zwar entlang der Frage, wie Ansätze sich der deskriptivveranschaulichenden, epistemologisch-heuristischen oder figural-konzeptionellen Potentiale der Metapher bedienen, um eine postkoloniale Perspektive zu entwickeln. Am deutlichsten findet sich die Verschränkung der Palimpsest-Metapher mit postkolonialen Perspektiven u.a. in Ansätzen wie dem Anil Bhattis, der dem »Palimpsest-Gedanken[ ]« (2015: 128) innerhalb seiner Kulturtheorie eine exponierte Stellung zuweist, oder etwa bei Susan Arndt, die in Bezug auf sprachliche Aneignungsprozesse sogar titelgebend von einem »postkoloniale[n] Palimpsest« (2007) spricht. Jenseits ihrer expliziten Nennung erscheint die Palimpsest-Metapher gerade dort interessant, wo sie implizit innerhalb von Literatur- und Kulturtheorien auftaucht und wo es mit ihrer Hilfe möglich ist, postkoloniale Perspektiven abzuleiten; etwa in Hinblick auf die Frage nach einem postkolonialen Gedächtnis oder bezüglich des Zusammenhangs von rewriting und Palimpsest. Die heuristische Leistung des Palimpsests als Schriftmetapher liegt in ihrer Fähigkeit, kulturelle, historische, anthropologische wie ästhetische Phänomene in ihrer Komplexität, Ambivalenz und Widersprüchlichkeit im Bild der Überlagerung und Überschreibung einzufangen. Hieraus resultiert die Anschlussfähigkeit an Kultur- und Literaturtheorien, die innerhalb dieses Kapitels zur Darstellung gebracht und an postkoloniale Perspektiven angeschlossen wurden.
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Zum Schluss dieser theoretischen Ausführungen stellt sich nun die Frage nach der Leistung des Palimpsests als textanalytisches Konzept in einer postkolonialen Literaturwissenschaft. Wie lassen sich vor besagtem theoretischem Hintergrund textanalytische Fragestellungen und Kategorien entwickeln? Was leistet das Palimpsest als Lektüremodell zur Analyse insbesondere postkolonialer Literatur(en)? Oder noch konkreter: Wie lassen sich literarische Texte aus postkolonialer Perspektive als Palimpseste lesen? Bei der Suche nach Antworten auf diese Fragen gilt es, im Blick zu behalten, dass jedem Versuch, aus theoretischer Überlegung eine analytische Praxis abzuleiten, durchaus Grenzen gesetzt sind, insbesondere dann, wenn einer solchen theoretischen Komplexität und Vielschichtigkeit Rechnung zu tragen ist. Eine Forcierung des Transfers theoretischer Prämissen auf analytische Zusammenhänge wäre stellenweise nur um den Preis ihrer Vereinfachung zu haben. Die folgenden Vorschläge bieten daher nur Lektürevorschläge an, die schlaglichtartig formuliert sind und die Notwendigkeit der Abstraktion respektieren. Sie konturieren wichtige Merkmale einer postkolonialen Ästhetik, die es über eine palimpsestuöse Lektüre am Text stets neu herauszuarbeiten gilt. Damit ist auch der Versuch unternommen, den analytischen Zugriff auf Literatur, wie sie im zweiten Teil der Analyse erfolgt, nicht anhand des hier gewonnene Theoriemodells zu überformen, sondern perspektivisch offen und mehrdeutig zu halten. Die »Elemente einer postkolonialen Ästhetik […] an einzelnen Texten zu gewinnen«, sie also nicht von vornherein »normativ zu deduzieren« (Dunker 2012b: 325), ist dabei ein zentrales Interesse.
4.1 P ALIMPSEST
UND POETISCHE
A LTERITÄT
Der Anspruch, eine postkoloniale Ästhetik am einzelnen Text zu erarbeiten, wird nicht zuletzt auch dem »spezifischen Eigen-Sinn« 1 der Literatur gerecht, der sie »gegenüber den übrigen kulturellen und gesellschaftlichen Sphären« auszeichnet (Mecklenburg 1990: 89f.). Dieser Eigen-Sinn, so schließt Herbert Uerlings an, produziere eine »intrakulturelle Differenz« zwischen der Kultur und Gesellschaft und der Kunst als einem Teilbereich, in dem »diejenigen Repräsentationsformen, Semantiken, Differenzen, die den übrigen Teil der Kultur charakterisieren, spielerisch-verfremdend inszeniert werden können.« (Uerlings 2006: 16) Norbert Mecklenburg hat diesen Status der Literatur in seinen Überlegungen zur »poetischen
1
»Ästhetische Alterität, als poetische Autonomie und mimetischer Weltbezug, als Absonderung und als Verfallenheit gegenüber der Gesellschaft, erhält dadurch einen dialektischen Doppelcharakter, der auch das einzelne Werk bis in seine immanenten Spannungen hinein bestimmt.« (Mecklenburg 1990: 93)
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Alterität« als »autonome Sinnsphäre« betont (Mecklenburg 1990: 89; Hervorh. i. Orig.), die dabei dialektisch auf kulturelle und gesellschaftliche Teilbereiche bezogen bleibt (vgl. ebd.: 93).2 Aufgabe einer Palimpsest-Lektüre darf es daher nicht sein, die Literatur um ihre ›poetische Alterität‹ zu bringen.3 Im Gegenteil gilt es, jeden Text an seinen Ambivalenzen und Widersprüchen lesbar zu machen, ohne ihn gegen Mehrdeutigkeit abzudichten. Denn literarische Texte sperren sich gewissermaßen gegenüber Versuchen, ihnen (von außen) literarische Eindeutigkeit abzuringen: Wenn der koloniale Diskurs hybrid ist, prinzipiell ambivalent, dekonstruierbar, dann muß eine Methodik der Textanalyse zu gewinnen sein, die weder in diskursanalytische Reduktionen noch in binäre Schematisierungen verfällt und die auch keine dialektischen Widersprüche und Aufhebungen produziert, sondern die Mehrdeutigkeiten dort aufsucht, als solche intakt läßt und zu beschreiben sich vornimmt, wo sie auftauchen: im Text. (Lubrich 2009: 34)
Eine Lektüre, die auf Kohärenz aus ist, muss schließlich an der Ambivalenz der Literatur scheitern. Der Kohärenz entzieht sich die Palimpsest-Metapher ohnehin, wie festgestellt wurde, aufgrund ihrer Mehrdeutigkeit, Offen- und Unabgeschlossenheit, die nur um den Preis ihrer Vereindeutigung und Reduktion zu haben wäre.
4.2 P ALIMPSEST
UND REWRITING
Der Zusammenhang von Palimpsest und rewriting ist bereits in der Etymologie der Begriffe angelegt. Das Präfix lat. re bzw. griech. palin/palim bedeutet so viel wie
2
Diese Idee einer autonomen Sinnsphäre der Literatur wird innerhalb der Literaturtheorie auch häufig mit Jurij Lotmans strukturalistischem Ansatz verbunden, der in seiner Studie Die Struktur literarischer Texte die Kunst/Literatur als »sekundäres modellbildendes System« bestimmt hat (1989: 22; Hervorh. i. Orig.). An anderer Stelle führt Lotman aus: »Die Literatur spricht in einer besonderen Sprache, die als sekundäres System auf und über der natürlichen Sprache errichtet wird. Deshalb definiert man die Literatur als sekundäres modellbildendes System. […] Die Behauptung, die Literatur habe ihre eigene Sprache, die nicht mit der natürlichen Sprache zusammenfalle, besagt, daß die Literatur ein nur ihr eigenes System von Zeichen und Verknüpfungsregeln besitzt, das zur Übermittlung besonderer, auf andere Weise nicht zu übermittelnder Mitteilungen dient.« (Ebd.: 39; vgl. dazu Krah/Titzmann 2013: 29; Mahler 2010: 248)
3
Die Überlegungen Norbert Mecklenburgs haben dabei ganz wesentlich Eingang in Herbert Uerlings Entwurf der Grundlagen einer postkolonialen Ästhetik gefunden (vgl. Uerlings 2005: 15f; 2006: 32f.; 2012: 53; vgl. dazu auch Dunker 2012b: 315).
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›wieder‹, ›gegen‹, ›zurück‹. Literarische Texte als Palimpsest zu lesen, heißt den Fokus auf die intertextuelle Verfasstheit jener Literatur zu richten, die eine literarische Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus erkennen lässt. Mit Blick auf die Literatur gewinnt die Frage nach hypertextuellen Verweisstrukturen an Relevanz, da der deutschsprachige Roman der Gegenwart, der sich mit kolonialen Themen auseinandersetzt, auf besondere Weise sowohl von literarischen als auch nichtliterarischen Vorläufertexten stark affiziert ist; so arbeiten sich die Texte geradezu buchstäblich an dem Material kolonialer Quellen- bzw. Prätexte ab. Die Metapher des Palimpsests liefert hier das Bild, um Phänomene der Überlagerung und Überschreibung von Texten zu fokussieren. Droht zwar einerseits immer auch die Gefahr der Wiederholung kolonialer Diskurslinien, so eröffnen Text-Text-Bezüge andererseits die Chance einer kritischen Reflexion und Revision, die durch Formen der Neu-, Weiter- oder Umschreibung – im Sinne einer ›Überschreibung‹ – erfolgen können: Hypertextualität evoziert in dieser Relation ein kritisches Verhältnis, das ein neuerer Text mit älteren eingeht; ganz im Sinne von Weinrichs Figur des ›Streits‹, der zwischen Folgetext (Hypertext) und seinen kolonialen Prä- bzw. Quellentexten (Hypotext) aufkommt. In diesem Licht ist ›rewriting als Palimpsest‹ eine Form kritischen Erinnerns, die nicht nur das lange Zeit verschüttete, gar verdrängte Kapitel deutscher Kolonialgeschichte aus postkolonialer Perspektive aufarbeitet. Insofern den Texten ein subversives Potential unterstellt werden kann, lassen sich rewritings auch als rerememberings lesen, indem die Texte gegen koloniale Denk-, Handlungs- und Wahrnehmungsmuster anschreiben, die bis heute nahezu bruchlos oder zumindest in Transformationen fortbestehen und sich hartnäckig ihrer kritischen Aufarbeitung entziehen. Über rewritings gerät somit jene Literatur auf den Prüfstand, die im kulturellen Kanon zum Teil kritiklos einen privilegierten Platz genießt und bis in die Gegenwart hinein dem imaginären Kolonialismus (Faszinationen, Stereotype, Topoi) in kulturellen Denk- und Wissensformationen Vorschub leistet. Kurz: Ein rewriting als Palimpsest erfordert, den kulturellen Bestand des Kolonialismus erneut und kritisch zu betrachten, was hier am Beispiel von Literatur geschieht. Auf dem Spiel steht damit nicht nur der Platz des Prä- bzw. Hypotexts im kulturellen Gedächtnis, sondern gleichsam das kulturelle Gedächtnis selbst. Die Literatur stellt demnach ein postkolonialer Erinnerungsort dar; der Vorgang des Überschreibens, das Palimpsestieren, ist folglich als politischer Eingriff in das kulturelle Gedächtnis zu verstehen, der allerdings ohne die Wiederholung kolonialer Muster nicht möglich scheint. Die Denkfigur des Palimpsests erlaubt es, den Akt des rewriting im Sinne einer kritischen Um-, Neu- und Überschreibung als ambivalenten Prozess zu begreifen, der in seiner kritischen Revision immer auch die Gefahr birgt, koloniale Muster und Machtgesten ungewollt zu wiederholen. Eine Palimpsest-Lektüre, die den Text als widersprüchlichen Ort der Über- bzw. Fortschreibung kolonialer Dis-
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kurslinien betrachtet – gewissermaßen durch die Schichten hindurch –, hält ihren Blick gleichsam (selbst-)kritisch auf Distanz, um nicht punktuell »dem kolonialen Sog ihres Stoffs zu erliegen.« (Bay 2012: 130) Vielmehr geht es darum, »diesen Sog erfahrbar zu machen«, um ihn dadurch einem kritischen Blick auszusetzen. Für diese reflexive Erfahrung »bedarf es einer Balance zwischen Nähe und Distanz, die immer prekär bleiben muss.« (Ebd.)4 Wenn den Texten also zugestanden wird, zwischen Wiederholung und Differenz, zwischen Affirmation und Subversion kolonialer Muster zu oszillieren, so ist es an ihnen, diese mit den literarischen Möglichkeiten einer postkolonialen Ästhetik erfahrbar zu machen und kritisch auszustellen. In diesem Fall tritt ein selbstreflexives Potential der Texte als postkoloniales Potential in Verhandlung. Auch in Hinblick auf die Kontinuitätserfahrung von Kolonialismus in der Gegenwart, die von der Literatur ganz unterschiedlich thematisiert wird, ist diese Selbstreflexivität von enormer Bedeutung.5 Es macht die kritische Auseinandersetzung mit kolonialen Diskursmustern bis in die Gegenwart hinein – und über diese hinaus – zu einem unabgeschlossenen, fortdauernden Prozess, der stets aufs Neue geführt werden muss.
4.3 P ALIMPSEST
UND
V ERSCHIEBUNG
Literarische Texte als Palimpsest zu lesen, heißt folglich keineswegs den Blick ausschließlich auf inter- bzw. hypertextuelle Aspekte zu verengen. Wie bereits festgestellt, geraten insbesondere die ästhetischen Effekte ins Blickfeld, also jene Ambivalenzen und Widersprüche, die als Ergebnis der Interferenz das Palimpsest in der Vorstellung eines diskursiven ›Streits‹ (Weinrich) oder als ›komplexes dialogisches (Bedeutungs-)Spiel‹ (Dunker) zwischen kolonialen und postkolonialen Diskursschichten aktualisieren. Die aus der Überlagerung und Überschreibung hervorgehende Dissonanz ist es, die textanalytische Perspektiven auf Brüche und Verwerfungen, auf Diskontinuitäten sowie auf ästhetische Verfahren der Inversion ermög-
4
Aspekte der Fortschreibung sieht Bay z.B. in der Gattungslogik des Reiseberichts, in deren Spurrillen sich Texte der Gegenwartsliteratur bewegen und Gefahr laufen können, ihre kolonialen Muster ungewollt zu wiederholen. Auch das Verhältnis zwischen Leser und Protagonisten sieht er einer Ambivalenz ausgesetzt, das zwischen partieller Identifikation und Distanzierung oszillieren kann. Gerade für die kritische Reflexion erscheint das Prinzip von Erfahrbarkeit allerdings von Bedeutung, ein Moment der »partiellen Identifikation, die vielleicht nur um den Preis des Zugangs zu den Faszinationspotentialen des ›Entdeckens‹ vermieden werden kann.« (Bay 2012: 130)
5
Zur Bedeutung der Selbstreflexivität im Kontext eines »postkolonialen Blicks« (1997: 16f.; 1998: 14) vgl. die Ausführungen von Dunker (2016: 75f., 92).
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lichen, die als palimpsestartige Strategien bezeichnet werden können. Die ästhetischen Effekte schlagen sich bspw. auch in der Figurenkonfiguration (vgl. II.2) oder der Raumsemantik (vgl. II.3) nieder. Der zentrale Effekt, der von Prozessen der Überlagerung und Überschreibung ausgeht, wird im Rahmen dieser Arbeit als eine ›Ästhetik der Verschiebung‹ bezeichnet. Darunter sind ästhetische Strategien zu verstehen, die zur Irritation und Destabilisierung, wenn nicht sogar zur Umkehrung und Deplatzierung, Entstellung und ›Verrückung‹ (d.h. im Sinne komischer Überzeichnung) kolonialer Dichotomien führen.6 Neben den Analysekategorien ›Raum‹ und ›Figur‹, an denen unterschiedliche Verfahren der Verschiebung, Überlagerung, Umkehrung und Ad-AbsurdumFührung verhandelt werden, gehören zu den subversiven Textstrategien insbesondere auch narrative Verfahren, die ambivalente Mehrfach- und Überlagerungsstruktur bilden. So stellen etwa Spielarten des ›unzuverlässigen Erzählens‹ die Geschichte kontrafaktisch auf den Kopf. Mit ihm verknüpft sind häufig Merkmale der »historiographischen Metafiktion«7. Durch sie wird die Grenzziehung zwischen historischer Wirklichkeit und Fiktion im Prozess des Erzählens permanent verwischt und kategorisch infrage gestellt. Damit tragen die Strategien zur Dekonstruktion von vermeintlich universellen Kategorien wie Geschichte und Wahrheit bei, die sie unterlaufen und perspektivisch pluralisieren. Vor allem stellen sie den Konstruktionscharakter solcher Einheitspostulate, ihr Gemachtsein, als das bloß, was sie sind: als Fiktion (lat. fingere: ›gestalten‹, ›verfertigen‹, ›erdichten‹). Zusammengenommen entfalten die Strategien der Inversion ihre dekonstruktive Leistung in dem, was Herbert Uerlings auf eine Formel gebracht hat, um das Ver-
6
Worauf in II.1 mit Bezug auf die deutschsprachige Gegenwartsliteratur noch näher eingegangen wird (vgl. auch Heimböckel 2016b).
7
Unter »historiographischen Metafiktionen« (vgl. Hutcheon 1988; Nünning 1995; 2002) werden literarische Texte verstanden, die ihre Verfasstheit als Literatur selbst zum Thema haben, insbesondere in Hinblick auf ihr Spannungsverhältnis zwischen Fiktionalität und Faktualität. Als »ästhetische[ ] Selbstreflexion« (Heimböckel 2016b) stellt sie diese Grenzziehung gleichsam infrage und verwischt sie. Historiographische Metafiktion »meint damit literarische Texte, die weniger auf die fiktionale Darstellung der Historie abzielen, als sie vielmehr die Fiktion der Historie bereits entlarven.« (Catani 2011: 24) Es handelt sich um Texte, so Catani in Anlehnung an Linda Hutcheon, denen »eine autoreferentielle Reflexion über die Fiktionalisierungsmöglichkeiten ›historischer‹ Begebenheiten als zentrales Strukturelement konstitutiv zu eigen ist. In den Vordergrund der Untersuchung rücken damit solche narrativen Strategien, die in ihrer Konsequenz die Souveränität des Erzählers sowie des Erzählens systematisch zu unterlaufen und dabei die ›Erzählbarkcit‹ historischer Fakten zu hinterfragen scheinen.« (Catani 2009: 146)
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hältnis von Postkolonialismus und Ästhetik hinsichtlich seiner Literarizität zu beschreiben: Literarischer Wert lässt sich jenen Texten zuerkennen, deren postkoloniales Potential sich als poetisches Potential entfaltet, d.h. als differentielles Spiel mit dem kolonialen Imaginären und seinen Dichotomien, und die vice versa ihr postkoloniales Potential zur Erweiterung der poetischen Möglichkeiten nutzen. (Uerlings 2012: 53; Hervorh. i. Orig.)
Das ›differentielle Spiel‹ zielt dabei auf ein zentrales Kriterium postkolonialer Ästhetik, nämlich auf eine Reihe von Strategien, die zur »Dekonstruktion des kolonialen Imaginären« (ebd.) beitragen: Mit diesem Kriterium sind Strategien gemeint, die im Gegenzug zu den Verfahren der Dichotomisierung, Polarisierung und Hierarchisierung die Multidifferentialität und die Überlagerung und Verschiebung von Alteritäten, insbesondere zwischen Kulturen, Ethnien/›Rassen‹, Klassen und Geschlechtern sowie zwischen intra- und interkulturellem Feld, vorführen und die die Zeitstruktur der Repräsentation dahingehend ergänzen, dass neben die immer schon stattgefundene koloniale Differenzierung ihr performativer Charakter tritt, also ihre immer erneute Wiederherstellung und ihre simultane Wirkung auf alle Beteiligten. (Uerlings 2012: 54)8
Mit Uerlings begrifflichen Erläuterungen sind gleichsam Merkmale aufgerufen, die im vorliegenden Kapitel zur Theoretisierung unter der Überschrift »Kultur als Palimpsest« (I.3.2) mit Homi K. Bhabha und Anil Bhatti diskutiert wurden. Bhabha hat anhand seines Diktums von der »Ambivalenz des kolonialen Diskurses« (Bhabha 2000: 130) etwas formuliert, was er an anderer Stelle im Bild des Palimpsests veranschaulicht und womit er dichotomische, absolute und undurchlässige Konstruktionen von kultureller Identität als immer schon instabile und von Brüchen und Spaltungen betroffene Entitäten infrage stellt. Identität als Palimpsest spaltet bei
8
Vgl. dazu ein früher Beitrag des Autors: »Literatur kann koloniale Binäroppositionen, die durch Abstraktion und Reduktion, Generalisierung und Bewertung, Hierarchisierung etc. entstanden sind, in ein multidifferentielles Spiel überführen. Sie kann z.B. durch Individualisierung eine Rücknahme der kolonialen Abstraktion vollziehen, die den einzelnen fürs Ganze einer Ethnie nimmt und so die Vielfalt der Differenzen und Zugehörigkeiten auslöscht oder doch durch Gewichtung subsumiert unter die eine Differenz der ethnischen Inferiorität. Literatur kann, über Verfahren der Intertextualität, Interlingualität, Intermedialität, durch Dialogizität, Stimmenvielfalt u.a.m. die Rede ›über‹ andere mit anderen Stimmen konfrontieren und so ein postkoloniales Potential realisieren.« (Uerlings 2005: 32; 2006: 15f.; Hervorh. i. Orig.)
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Bhabha die Vorstellung von Differenz und setzt an diese Stelle die Idee einer Schichtung, die keine vertikal-hierarchische Trennlinie zwischen Eigenem und Anderem kennt. Vielmehr ist die Identität der Ort, an dem jene bereits zitierte angstbesetzte »Andersheit des Selbst« dialektisch aufeinander bezogen zutage tritt, »die in das perverse Palimpsest der kolonialen Identität eingeschrieben ist.« (2000: 65) Diese Grundidee Bhabhas wird in Literatur wirksam, wenn typisch koloniale Repräsentationsstrategien ausgestellt und damit auch typische Konstruktionen von Identität, die im kolonialen Diskurs das Verhältnis zwischen Eigenem und Fremden strukturieren, ad absurdum geführt werden.
4.4 P ALIMPSEST
UND
K ONTRAPUNKTIK
Literarische Texte als Palimpsest zu lesen, heißt daran anschließend das inferiore Wissen und die Stimmen lesbar zu machen, die im kolonialen Diskurs gewaltsam überschrieben, verschüttet und verdrängt worden sind. Wie mit Spivak (I.3.1) und Benjamin zuvor argumentiert wurde (I.3.3.4), verweist das Palimpsest auf einen Bereich des Nicht-Wissens jenseits hegemonialer Geschichts- und Wissensmodelle, den Spivak als »Subtext des palimpsestischen Narrativs des Imperialismus« bezeichnet hat (Spivak 2008: 42). Im Bild des Palimpsests wird es dadurch möglich, ungeachtet der im Kolonialismus sich vollziehenden machtvollen Überschreibung des Inferioren durch das Superiore, ein Modell der historischen Diskontinuität zu entwerfen, das linear-hegemoniale Geschichtsmodelle dekonstruiert. 9 Geschichte kann »durch kontrapunktisches Lesen als eine mehrstimmige, kontrapunktische Geschichte freigelegt werden.« (Honold 2014: 84) Das Palimpsest ermöglicht es, das im Prozess gewaltvoll Überschriebene, das scriptum inferior, im Bild der Überlagerung zu aktualisieren und bietet ein Vorstellungsmodell an, um in der Metaphorik der Mehrschichtigkeit eine Mehrstimmigkeit (Polyphonie) und Dialogizität zu fokussieren, die es über die Lektüre freizulegen gilt. Mit diesem ArchäologieGedanken legt eine Palimpsest-Lektüre die Stimmen im Text kontrapunktisch frei, die im Akt der Überschreibung ausgeschlossen wurden. Eine solche PalimpsestLektüre verläuft also invers, d.h. gegen den Strich, der durch die Schicht des manifesten Textes (scriptrum superior) angelegt ist. Die Palimpsest-Lektüre entspricht folglich genau dem, was Edward Said unter dem Modell einer kontrapunktischen Lektüre vorgeschlagen hat; nämlich »zu lesen, was da steht und was nicht da steht« (Said 1994: 148; vgl. Dunker 2008: 135; 2011: 78f.), eine »Lektüre gegen den äußeren Schein, die den Schleier aufhebt« (Dunker 2005a: 9).
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Eine Intention des Postkolonialismus sieht Dirk Göttsche in der Hinterfragung bis hin zur »Dekonstruktion europäischer Geschichtsmodelle.« (2004: 561)
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Mit Kontrapunktik ist zugleich ein grundlegendes Merkmal einer postkolonialen Ästhetik aufgerufen, das zugleich die zuvor erläuterten Aspekte von ›Palimpsest und rewriting‹ und ›Palimpsest und Verschiebung‹ zusammenführt. Alexander Honold hat unlängst in einem Beitrag die Bedeutung der Kontrapunktik aus der Musiktheorie hergeleitet und veranschaulicht,10 wie Stimmen in Beziehung treten können und ihr Wechselspiel bei der Analyse von Literatur hilfreich sein kann, um Mehrstimmigkeit als Verhältnis zu begreifen, das von Prinzipien der Wiederholung und Differenz geprägt ist: Von der bloßen Wiederholung bis zum vollständigen Gegensatz reichen dabei die Möglichkeiten der antwortenden oder abwandelnden Bezugnahme zwischen zwei (und dann noch weiteren) Stimmen. Bewegungsteile einer Melodie können versetzt, verkürzt, erweitert, gedehnt, getaucht und gespiegelt werden, letzteres wiederum sowohl in der vertikalen wie der horizontalen Dimension. Und speziell diese Form des duplizierenden und replizierenden Erweiterns und Gegeneinandersetzens von Melodieteilen scheint als musikalisches Paradigma besonders tauglich und instruktiv zu sein, wenn es darum geht, nach den Einsatzmöglichkeiten des KontrapunktModells für die Analyse von Literatur in (post-)kolonialen oder auch anderen Diskursfeldern zu fragen.« (Honold 2014: 87; vgl. 86–89)
Wenn innerhalb der nachfolgenden Analysen die ›Parodie‹ (griech. parôdía: Gegengesang) in den Fokus rückt, so ist auch hier ein Merkmal einer »kontrapunktische[n] Ästhetik« (Honold 2014: 89) berührt, das als Ergebnis von ›Verschiebung‹ zu betrachten ist. Genette sieht ebenfalls gerade in der Parodie einen Modus der Verschiebung am Werk – er selbst spricht von »verdreh[en]« und »umstülp[en]« (Genette 1993: 26) –, der eine »Gegenstimme im Kontrapunkt« (ebd.: 22) in die historische Vorlage einspielt und »in jedem Fall, meist auf Kosten des ›parodierten‹ Textes […] komisch wirken« kann (ebd.: 40). Die Analyse von Kontrapunktik bildet somit ein vielseitiger Aspekt von Palimpsest-Lektüren.
10 »Der musikalische Kontrapunkt ist im wörtlichen Sinne dann gegeben, wenn Punctus contra punctum steht, mithin also Note gegen Note. Um Punctus contra punctum auftreten zu lassen, bedarf es des Zusammenspiels von horizontaler und vertikaler Richtungsachse. […] Dieselben Faktoren, die den Wirkungsraum einer Stimme konstituieren (Harmonik, Rhythmik, Melodik), kommen auch in der geordneten Mehrstimmigkeit zum Zuge, freilich in potenzierter und darum sich selbst zum Gegenstand werdender Form. Tonhöhenverlauf, Rhythmus und harmonisches Gefüge einer Melodie oder vielmehr ihrer Einzelbestandteile können, nachdem sie von einer Stimme vorgetragen wurden, von einer zweiten in derselben oder einer anderen Stimmlage aufgenommen und transformiert werden.« (Honold 2014: 86f.; Hervorh. i. Orig.)
Teil II Lektüren: Postkoloniale Ästhetik und Palimpsest
1. Grundlagen: Ästhetik und Palimpsest
1.1 Z WISCHEN R EPRODUKTION UND R EVISION ODER DIE F RAGE NACH EINEM NEUEN K OLONIALROMAN Zweifellos ist die Attraktivität deutscher Kolonialgeschichte als literarischer Stoff bis heute ungebrochen. Wie eingangs festgestellt, vollzieht sich innerhalb der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur seit der Jahrtausendwende eine schrittweise literarische (Neu-)Vermessung der Topographien deutscher Kolonialgeschichte, wobei eine literarische Repräsentation der ehemaligen deutschen Kolonie Kamerun bisher noch aussteht. Die Provokation, hier von ›(Neu)Vermessung‹ zu sprechen und damit ein typisch koloniales Muster zu bedienen, trägt dem Umstand Rechnung, dass sich diese Texte stets auf einem schmalen Grat bewegen. Setzen sie sich einerseits deutlich kritisch mit kolonialen Vorfahr(t)en und Prätexten auseinander und ermöglichen so eine postkoloniale Perspektive, so laufen sie andererseits immer auch Gefahr, »dem kolonialen Sog ihres Stoffs zu erliegen« (Bay 2012: 130) und dadurch in die Fallstricke der Wiederholung zu geraten. Besonders jene Texte, die sich auf Spuren von Entdeckungs- oder Forschungsreisenden begeben, drohen immer auch ungewollt typische Erzählformen zu reproduzieren, denen aus postkolonialer Sicht problematische Diskursmuster unterlegt sind, und sich damit in die Tradition der Kolonialliteratur zu stellen (vgl. Bay 2012). Dieser Befund ist dahingehend zu ergänzen, dass nahezu ausschließlich deutschsprachige Autoren zu Wort kommen, sodass ihr Blick auf die Reichweite der eigenkulturellen Perspektive begrenzt und in ihr befangen bleibt. 1 Zum anderen entwerfen die Texte beinahe ausnahmslos koloniale Welten. Auch damit drohen sie,
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Göttsche umschreibt die Befangenheit der Perspektive wie folgt: »Die Formulierung einer angemessenen Perspektive auf die afrikanische Zeitgeschichte bereitet nach wie vor also offensichtlich größere Schwierigkeiten als die postkoloniale Neuvermessung der Kolonialgeschichte.« (Göttsche 2003b: 279) Vgl. zur Ambivalenz dieser Literatur auch Göttsche (2012a: 177).
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was die Konfiguration ihrer Figuren, die Wahl ihrer Schauplätze und Topoi sowie ihre Erzähl- und Figurenperspektive (Fokalisierung) angeht, traditionelle Erzählmuster des Kolonialromans zu wiederholen und damit koloniale Diskurslinien neubzw. fortzuschreiben. Der Umgang mit dem kulturell Fremden bleibt von dem kolonialen Setting der Texte ebenfalls nicht unberührt: Die räumliche Fremde gerät meist erneut zur Kulisse kolonialer Siedlungs- und Bemächtigungsphantasien, ihre ursprünglichen Bewohner erscheinen oftmals als passive Statisten, teils werden sie gar als exotistische Staffage ›naturalisiert‹. 2 Dabei lassen die Texte keine oder nur vereinzelt fremde Stimmen direkt zu Wort kommen. Die Figurenperspektive zeigt sich dadurch auf den ›kolonialen Blick‹ beschränkt. Aus narratologischer Sicht sind damit typische Merkmale des Kolonialromans aufgerufen: Eine Vielzahl von kolonialen Romanen zeichnet sich entsprechend dadurch aus, daß der koloniale Andere nicht als Fokalisierungsinstanz fungieren darf bzw. der colonizer das Redeund Wahrnehmungsmonopol innehat und dadurch die Überlegenheit der imperialen Weltsicht narrativ inszeniert wird. Auf diese Weise wird der Andere zum sprachlosen, sogar wahrnehmungsberaubten Objekt degradiert bzw. typifiziert.« (Birk/Neumann 2002: 131f.)
Auch ist seitens der Forschung in dieser »explizit exponierte[n] Unter-Repräsentation der Kolonisierten« (Hermes/Gutjahr 2011: 7) nicht nur eine narrative Strategie des Ausschlusses und der ›Verschattung‹ des kolonialen Anderen gesehen worden, die zugleich zur Affirmation der hegemonialen Position des Kolonisierers
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An dieser Stelle seien einige typische Merkmale des kolonialen Diskurses kurz erwähnt, die für die literarische Repräsentation des Fremden konstitutiv erscheinen. Zum einen wird der afrikanische Kontinent häufig als ›leerer‹, d.h. unbewohnter und damit herrenloser Raum (terra nullius) imaginiert, wodurch er vermessen, besiedelt und schließlich seine Inbesitznahme bzw. das koloniale Projekt im Allgemeinen legitimiert werden kann. Ganz wesentlich ist zum anderen die Repräsentation des Fremden, die als diskursive »Kontrastfolie« (Hofmann 2012: 11) gegenüber dem zivilisierten Europäer entworfen wird, der eine höhere Kulturstufe besetzt. Das Gegenbild von der »›Naturhaftigkeit‹ des Afrikaners« ist dabei für diese Konstruktion insofern von zentraler Bedeutung, als »den Afrikanern eine genuin eigene ›Kultur‹ nicht zugesprochen wird, sondern diese vielmehr als mit der Natur verbundene und selbst Natur gebliebene Menschen vorgestellt werden.« (Ebd.: 9) Erscheint der Afrikaner somit ›naturalisiert‹, wird er gleichsam als Teil der Natur wahrgenommen, der nun »vermessen und klassifiziert« (Bay 2012: 112) und damit letztlich in Besitz genommen werden kann; siehe zu dem Thema auch die einschlägige Studie von Peter Martin Schwarze Teufel, edle Mohren. Afrikaner in Geschichte und Bewußtsein der Deutschen (2012).
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beiträgt. Vor allem verweise dieser Umstand auf ein typisches Strukturmerkmal kolonialer Literatur (vgl. ebd.: 8; Bay 2012). Ähnlich reklamiert Russel A. Berman, dass die Usurpation und die damit verbundene Unterdrückung fremder Stimmen in der Tradition von Kolonialliteratur stehe. In der Passivität bzw. dem Ausschluss der Kolonisierten bestehe »der eigentliche Rassismus: weniger in feindlich-pejorativen Portraits als einfach in Marginalisierung und Verschweigen.« (Berman 2002: 24) Es mag demnach verwundern, dass die Gegenwartsliteratur eine dominant eurozentrische Fokalisierung für ihre Texte wählt und nahezu konsequent den Blick des Kolonisierers einnimmt. Wenn dieses Merkmal also aus gattungstypologischer Sicht eine ganz wesentliche Eigenschaft einer »Vielzahl von kolonialen Romanen« (Birk/Neumann 2002: 131) darstellt, so drängt sich an dieser Stelle die provokative Frage auf, ob wir es hier nicht mit einer Art ›neuen Kolonialroman‹ zu tun haben? Nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, dass hier Nachfahren ehemaliger Kolonisierer das Wort ergreifen, scheinen die Texte eine Reihe von zentralen Kriterien postkolonialer Literatur zuwiderzulaufen, die mit dem Konzept eines writing back verknüpft sind (vgl. II.4.1.2). Sie konterkarieren wichtige postkoloniale Grundsätze wie das Recht auf »Wiederaneignung der eigenen Geschichte und [die] Revision kolonialistischer Geschichtsdarstellungen.« (Birk/Neumann: 2002: 140; vgl. Gymnich 2006: 72) Wenn also »[d]ie Entwicklung kolonialer, indigener und postkolonialer Literaturen«, so schreibt Marion Gymnich, »ein Instrument« darstellt, »um aus der ›Sprachlosigkeit‹ auszubrechen und das Recht auf Repräsentation der eigenen Situation einzufordern« (Gymnich 2006: 72), 3 so scheint die im Rahmen dieser Studie fokussierte deutschsprachige Gegenwartsliteratur diesen Anforderungen gerade nicht gerecht zu werden. Dennoch weist sie einen spezifischen Zugriff auf die koloniale Weltanschauung auf, die über die Fokalisierung erfolgt. Diese interessiert sich weniger für das Fremde als vielmehr für das Eigene: Es ist der koloniale Blick selbst und damit der Kolonisierer, den diese Texte ostentativ ausstellen. Der Gegenwartsliteratur geht es demnach meist nicht um Erkenntnisse über den Fremden und die Fragen seiner adäquaten literarischen Repräsentation, sondern um die Praktiken, die den Fremden zum Gegenstand haben.4 Kurz: Die Texte stellen vielmehr den ausschließenden und
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An anderer Stelle sprechen Birk und Neumann von der »Voraussetzung« des Erzählens, »daß dem zumeist sprachlosen, subalternen Subjekt des Kolonialromans überhaupt eine eigene Stimme und damit die Möglichkeit zur Selbstdefinition zugebilligt wird.« (Birk/Neumann 2002: 142)
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Die gewählte Formulierung ist eine Anlehnung an ein Zitat von Stephen Greenblatt, das er seiner Studie Wunderbare Besitztümer. Die Erfindung des Fremden: Reisen und Entdecker (1998) voranstellt. In dieser schreibt Greenblatt über die Rolle des Fremden in Reiseberichten (u.a. bei Kolumbus): »Es geht ihnen nicht um die Erkenntnis des Ande-
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projektiv vereinnahmenden Umgang mit dem Fremden zur Schau und legen dabei typische Mechanismen der Fremdwahrnehmung (othering) bloß,5 die auf dem Resonanzboden des kolonialen Imaginären entstehen. In den Romanen geht es demzufolge zwar durchaus um ›Poetiken der Interkulturalität‹, aber nicht im Sinne der bereits zu Klischees geronnenen Verständigungs-Topik einer kanonisierten Interkulturalität, sondern gerade um das produktive Scheitern daran. Statt mit einer artifiziellen Polyphonie arbeiten die Texte mit narrativen Figurationen der Inversion, mit hyperbolischen, parodistischen, grotesken Verfahren – statt eines letztlich einsinnigen erzählerischen Transvesitismus [sic] also mit wirklicher Mehrfachcodierung. (Holdenried 2012: 88)
Die Texte ziehen folglich die Gelingensbedingungen interkultureller Verständigung in Zweifel und machen deutlich, dass Kulturkontakten im kolonialen Kontext oftmals eine radikale Form kultureller Differenz 6 zugrunde liegt. Im produktiven Scheitern von (kolonialer) Interkulturalität entwickelt diese Literatur ein postkoloniales Potential, das koloniale Denk-, Wahrnehmungs- und Verstehensroutinen irritiert und zur Schau stellt, wie sehr das Fremde unter kolonialen Vorzeichen nur
ren, sondern um eine Praxis, die den Anderen zum Gegenstand hat; und das wichtigste intellektuelle Vermögen, das an der Herstellung dieser Repräsentationen teilhat, ist, wie ich zu zeigen versuchen werde, nicht die Vernunft, sondern die Einbildungskraft.« (Greenblatt 1998: 26) 5
Der Begriff wird innerhalb der Forschung meist auf die postkoloniale Theoretikerin Gayatri Chakravorty Spivak zurückgeführt (vgl. Spivak 1985). In Anlehnung an Spivak wird hier ›Fremdheit‹/›Andersheit‹ nicht als eine naturgegebene, quasi absolute und stabile Eigenschaft verstanden, sondern als Ergebnis einer kulturellen Setzung bzw. Strategie, an deren Herausbildung und Stabilisierung ganz maßgeblich diskursive Prozesse beteiligt sind (z.B. Literatur). Das Verfahren des othering stellt demnach ein Prinzip der Fremdzuschreibung dar, bei der das Fremde/Andere als Produkt von Machteffekten zu betrachten ist (vgl. Fabian 1993: 337). Es ist dabei »das hegemoniale Subjekt, das die Macht hat, Alterität zu definieren« (Uerlings 2006: 2).
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Das asymmetrische Machtverhältnis zwischen Kolonisierern und Kolonisierten hat Herbert Uelings als »Kern ›des‹ kolonialen Diskurses« (Uerlings 2005: 18; 2006: 5) bezeichnet und anhand des Begriffs »ethnisierendes Inferioritätsaxiom« konkretisiert: »Zwei als ethnisch different definierte Einheiten werden zueinander in eine für unbezweifelbar gehaltene Ungleichheitsbeziehung gebracht. Daraus ergibt sich die charakteristische binäre Opposition zwischen ›Kolonisatoren‹ und ›Kolonisierten‹. Alles weitere ist historisch, regional und situativ so variabel, daß man besser differenzierend und pluralisierend von ›kolonialen Diskursen‹ spricht.« (Uerlings 2005: 18; 2006: 5f.)
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vom Eigenen her gedacht wird: »Der koloniale Blick oktroyiert der Fremde einen Sinn, welcher ihrem Eigenen fremd ist.« (Dubiel 2005: 50) Zusammengefasst wird einerseits deutlich, dass nicht alle Prämissen postkolonialer Literatur, wie sie seitens der anglo-amerikanischen postcolonial studies formuliert wurden, in der deutschsprachigen Literatur realisiert sind. Vor allem Konzepte, die z.B. mit Begriffen wie rewriting oder writing back umschrieben sind, lassen sich diesbezüglich nicht immer friktionslos auf die Spezifik deutschsprachiger Literatur übertragen, worauf noch näher eingegangen wird (II.4.1.2). Aber es hat sich gezeigt, dass die deutschsprachige Literatur, insofern ihr ein postkoloniales Potential unterstellt werden kann, sich anderer literarischer Strategien bedient, um koloniale Diskursmuster zu unterlaufen. Genau solche Verfahren sind gemeint, wenn im Rahmen der vorliegenden Arbeit von einer ›postkolonialen Ästhetik der Verschiebung‹ die Rede ist. Über das Motiv der Wiederholung, und hier tritt das Palimpsest auf den Plan, werden koloniale Diskursmuster irritiert, indem das repetitive Moment der Texte weniger die koloniale Diskursfolie affirmiert als diese vielmehr in ihrer Überlagerung und Überschreibung invertiert. Der Wiederholung ist kontrapunktisch ihre Differenz bzw. différance eingeschrieben.
1.2 U MKEHREN , ENTSTELLEN , VERRÜCKEN , DEPLATZIEREN : V ERFAHREN EINER POSTKOLONIALEN Ä STHETIK DER V ERSCHIEBUNG Angesichts der Beobachtung, dass die deutsche Gegenwartsliteratur auf eine spezifische Weise wiederholt, stellt sich die prekäre Frage, wie ihr ein postkoloniales Potential eigen sein kann, das ebenjene kolonialen Diskursmuster kritisch zur Disposition stellt, was eine Reihe an Forschungsbeiträge der vergangenen Jahre diesen Texte durchaus zugesprochen hat. Was ist, wenn gerade diese Ambivalenz ein zentrales Merkmal darstellt, deren subversives Potential also nur um den Preis der Wiederholung zu haben ist? Bietet doch die Wiederholung immer auch die Chance, sich am kolonialen Diskursmaterial abzuarbeiten, es zu konfrontieren, zu verschieben, umzukehren, zu entstellen und zu verrücken – kurz: um einen kritischsubversiven Umgang mit dem kolonialen Imaginären zu etablieren, der Herbert Uerlings zufolge »das ›koloniale‹ Denken in dichotomen Differenzen nicht einfach unter umgekehrten Vorzeichen wiederholt, sondern ›différance‹ (i.S. Derridas) markiert.« (2012: 39) In diesem Sinne ist auch das folgende Zitat Homi K. Bhabhas zu lesen, das auf eine typisch »dekonstruktivistische Denkfigur« (Lubrich 2009: 26) rekurriert: »Wenn die Dinge zurückkommen, tun sie das nie in der gleichen Form, sie führen einen immer auf einen neuen Weg. Das ist bei allen Erfindungen so, gleichgültig ob in der Technik oder in der Kunst.« (Vgl. Bhabha/Wieselberg 2012)
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Bhabha macht deutlich, dass es keine Wiederholung ohne Differenz bzw. différance geben kann, »dass die Wiederholung eines Zeichens dessen Bedeutung variiert« (Lubrich 2010: 369). Wenn der Wiederholung kolonialer Diskursmuster also nicht nur die Gefahr ihrer Affirmation, sondern stets auch die Möglichkeit ihrer Subversion eingeschrieben ist, so wäre nach einer spezifisch postkolonialen Ästhetik zu fragen,7 die ihr postkoloniales Potential ganz wesentlich in der »Dekonstruktion des kolonialen Imaginären« (Uerlings 2012: 53, 54–57) entfaltet und eine postkoloniale Lektüre ermöglicht. Mit diesem Paradigma ist ein Hauptanliegen der postkolonialen Studien und eine Möglichkeit bezeichnet, die Imagination des Kolonialismus bloßzulegen und zu unterlaufen, also jenen Treibsatz an Bildern, Faszinationen und Wünschen, der Entdecker und Kolonialisten in die Ferne zieht, um sich der unbekannten Fremde zu bemächtigen. Insbesondere jene Mechanismen des kolonialen Begehrens (z.B. Exotismen/Kolonialphantasien), die das Verhältnis zwischen Eigenem und Fremdem im kolonialen Diskurs strukturieren und hierarchisieren, werden durch ästhetische Verfahren neu verhandelt und irritiert. Sie können »die Multidifferentialität und die Überlagerung und Verschiebung von Alteritäten, insbesondere zwischen Kulturen, Ethnien/›Rassen‹, Klassen und Geschlechtern sowie zwischen intra- und interkulturellem Feld« (Uerlings 2012: 54) vor Augen führen. Literarische Texte können folglich »koloniale Urszenen umschreiben, ihre Themen und Akteure in ein verfremdendes Licht rücken« und dadurch mitunter »das Verdrängte sowie das – ggf. für beide Seiten – Traumatische der Kolonisierung zum Vorschein bringen.« (Ebd.) Texte wie Christof Hamanns Usambara (2007a), Thomas von Steinaeckers Schutzgebiet (2009) oder Christian Krachts Imperium (2012), denen sich diese Arbeit eingehender widmen wird, bedienen sich in unterschiedlicher Weise Strategien des Erzählens, um »Faszinationen, Aporien und Paradoxien des kolonialen Begehrens« (Uerlings 2012: 56) zu desavouieren und dadurch eine postkoloniale Lektüre zu ermöglichen. Im Kontext der vorliegenden Arbeit werden diese Strategien als eine ›postkoloniale Ästhetik der Verschiebung‹ aufgefasst, worunter literarische Verfahren zu verstehen sind, die zur Ver-/Umkehrung, Entstellung oder Verrückung kolonialer Ordnungen und ihrer Dichotomien führen, was ganz im Sinne von Bhabhas Denkfigur der ›Deplatzierung‹ (displacement) sowohl eine Irritation und Destabilisierung kolonialer Diskursmuster hervorruft als auch Neu-Positionierungen durchspielt. 8
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Vgl. zur Diskussion des Begriffs Uerlings (2012) und Dunker (2012b).
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Vgl. Heimböckel zum Begriff der Deplatzierung: »In der postkolonialen Theoriebildung wurde das Konzept des ›displacement‹ nachfolgend prominent von Homi K. Bhabha aufgegriffen, verstanden als ein Modus, der ›die binäre Logik, mit der auf Differenz beruhende Identitäten – Schwarz/Weiß, Selbst/Anderer – oft konstruiert werden‹, auflöst und
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Zugleich sind diese Verfahren der Inversion als ästhetische Gegenstrategien zur »Dichotomisierung, Polarisierung und Hierarchisierung« zu betrachten (ebd.: 54). Auch Axel Dunker hat in seinen Überlegungen zur postkolonialen Ästhetik darauf hingewiesen, dass »[e]ine reine postkoloniale Umkehrung des kolonialen Diskurses […] kein Entkommen aus dessen Koordinatensystem« bedeute, »es bedarf im Anschluss an die Dekonstruktion der Dissemination, der Auflösung des Koordinatensystems.« (Dunker 2012b: 324)9 Wenngleich mit dem Ziel der Auflösung ein hoher Anspruch formuliert wird, den es jeweils am Text zu prüfen gilt, tragen Verfahren der Verschiebung graduell zur Dissemination bei, indem sie ein ›differentielles Spiel‹ (Uerlings) in Gang setzen können, wodurch feste Bedeutungszuweisungen, insbesondere für den kolonialen Diskurs typische Dichotomien,10 die dort als absolute, unüberwindbare und natürliche Determinanten entworfen werden, destabilisiert oder sogar ad absurdum geführt werden können.11 Das Prinzip der ›Entstellung‹ als Verschiebeffekt deutet auf ein reflexives Potential hin. Wenn der Versuch der Auflösung des kolonialen Koordinatensystems ein aporetisches Projekt dar-
Grenzen ›zwischen Heim und Welt‹ (Bhabha 2007: 5, 14) verschwimmen lässt.« (Heimböckel 2016b: 366f.; zitiert Bhabha 2000: 5, 14) 9
Dieser Gedanke wird anhand folgender Beschreibung Derridas nachvollziehbar: Dekonstruktion müsse Derrida zufolge »durch eine doppelte Geste, eine doppelte Wissenschaft, eine doppelte Schreibweise eine Umkehrung des klassischen Gegensatzes und eine generelle Deplazierung des Systems praktizieren. Nur unter dieser Bedingung kann die Dekonstruktion die Mittel erlangen, in das Feld der Gegensätze, die sie kritisiert, das zugleich ein Feld nicht-diskursiver Kräfte ist, einzugreifen«. (Derrida zit. nach Culler 1999: 95; Hervorh. i. Orig.)
10 In seiner Studie Dialektik der postkolonialen Hybridität hat Jochen Dubiel die »Dichotomie« neben der »Furcht« und der »Usurpation« als zentrale Kategorie des kolonialen Diskurses beschrieben (vgl. Dubiel 2007: 82–87). Ähnlich hat Uerlings in seiner Definition des ›kolonialen Diskurses‹ den Begriff des ›ethnisierenden Inferioritätsaxioms‹ vorgeschlagen, das die asymmetrische Konstellation der kolonialen Beziehung strukturiert (vgl. Uerlings 2005: 18; 2006: 5f.). Vgl. auch II.1 , Anm. 6 in dieser Arbeit. 11 Axel Dunker hat in seinem Beitrag zur postkolonialen Ästhetik eine Reihe von Kriterien beschrieben, die ihm zufolge zur »Dekonstruktion« und »Dissemination von Mustern des kolonialen Diskurses und der davon nicht zu trennenden kolonialen Ästhetik« beitragen. Zu diesen zählen (1) »Ad-Absurdum-Führung dichotomischer Konstrukte«, (2) »Ein Ausstellen des Konstruktcharakters der eigenen Position«, (3) »Selbstreflexion und metafiktionale Repräsentation der Entstehungsbedingungen«, (4) »ein nicht-erwartbarer Umgang mit zentralen Kategorien auch des Postkolonialismus« sowie (5) eine besondere Form der Sprachverwendung, die ihr selbstreflexives, kritisches Potential ausspielt (Dunker 2012b: 325).
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stellt, dem seine Unmöglichkeit eingeschrieben ist und an dessen Stelle stattdessen die Permanenz einer reflexiven Auseinandersetzung tritt, so ließe sich ein solches Konzept der Subversion mit Roland Barthes weiter zuspitzen: »Ist die beste Subversion nicht die Codes zu entstellen statt sie zu zerstören?« (1986: 141) Das ästhetische Konzept der ›Verschiebung‹ ist von postkolonialen Studien in der Germanistik bereits in unterschiedlicher Weise aufgegriffen und profiliert worden. Ute Gerhard hat in ihrem Beitrag zu Christof Hamanns Usambara erstmals Verfahren der »[g]roteske[n] Entstellung« und »groteske[n] Verkehrung« erkannt, die in ihren Augen zu einer »ironische[n] Verdrehung der kulturellen Dichotomien« führen, durch die »eindeutige Zuordnungen aufgehoben« werden (Gerhard 2009: 326–329). Ähnlich spricht Axel Dunker in Bezug auf Thomas Stangls Roman Der einzige Ort (2004) von dem Prinzip einer »postkolonialen Umkehrung« (2012: 322). Sie bewirke, dass koloniale Dichotomien »umgekehrt und dabei eigentlich ad absurdum geführt « werden (ebd.: 320). In die Nähe von »ironischen und grotesken Erzählverfahren« (2012: 88) rückt auch Michaela Holdenried ein ästhetisches Merkmal der Gegenwartsliteratur, das sie anhand des Inversionsbegriffs12 näher beschreibt. Sie nimmt Bezug auf Texte, die mit »narrativen Figurationen der Inversion, mit hyperbolischen, parodistischen, grotesken Verfahren« arbeiten (ebd.).13 Deutlich wird bereits, dass die Texte zur Verschiebung kolonialer Diskursmuster besonders von Verfahren komischen Erzählens Gebrauch machen. Diesen kommt hier als Modi der ›Verstellung‹, insbesondere der ›Ironie‹ (griech. eirōneía: Verstellung), eine zentrale Funktion zu, wenn etwa Versatzstücke des kolonialen Diskurses ironisch zitiert und dadurch, der Ernsthaftigkeit entkleidet, in ihrer zur Schau gestellten Übertreibung ›überzeichnet‹ werden.14 Im Rahmen der vorliegen-
12 Unter Inversion versteht die Autorin »das Entstehen neuer literarischer Formen, in denen mit Verfahren ›dezentrierender Perspektivik‹ eine grundsätzliche Distanz zum Erzählgeschehen hergestellt wird, das vom Leser nicht in den vertrauten Rezeptionsrahmen der traditionellen Gattungsvorgaben aufgehoben werden kann: Hier wären das die postkoloniale Groteske bei Widmer, der parodistische Reisebericht bei Stadler, der ›neue historische Roman‹ bei Capus.« (Holdenried 2012: 86) 13 In dem Beitrag »Inverser Primitivismus. Die ethnographische Situation als dialektisches Bild von Kafka bis Hubert Fichte« verweist Herbert Uerlings auf Kafka, der »das ästhetische Potential der Literatur postkolonial für eine Inversion des Primitivismus« nutze. (Uerlings 2015: 34) Allgemeiner hat auch Dirk Götsche von dem Begriff der ›Verschiebung‹ Gebrauch gemacht, um die Irritation bzw. Überschreitung von Grenzziehungen in literarischen Gegenwartstexten im Afrika-Diskurs zu beschreiben (Göttsche 2015: 126f., 138). 14 Innerhalb der Analyse in dieser Arbeit wird der Begriff der ›Ironie‹ häufig verwendet, um Aspekte von Verschiebung zu beschreiben. Unter Ironie wird nachfolgend mit Jürgen
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den Studie wird der Frage nach einem postkolonial komischen Erzählen bzw. einer ›postkolonialen Komik‹ als Phänomen von Verschiebung im Kontext von PALIMPSEST UND FIGUR noch weiter nachgegangen (vgl. II.2). Als inverse Strategie der Verschiebung bzw. Umkehrung ließe sich auch das Konzept der ›umgekehrten Mimikry‹ einordnen, das Hansjörg Bay in Anlehnung an Bhabhas Mimikry-Begriff vorgeschlagen und im Zusammenhang von Stangls Der einzige Ort (2004) und Ilija Trojanows Der Weltensammler (2006a) beschrieben hat (vgl. Bay 2009: 125). Zuletzt hat Dieter Heimböckel in Texten der Gegenwartsliteratur auf das »ästhetische Prinzip der Verschiebung« (Heimböckel 2016b: 365) aufmerksam gemacht, das im Text Ambivalenzen und Brüche hervorbringt. Wenn es an späterer Stelle heißt, sie »hinterlassen Lücken, Leeren, Räume des Dazwischens« (ebd.: 367), so werden die theoretischen Anleihen zu Bhabhas Konzept der ›Deplatzierung‹ (›displacement‹) deutlich, die neben ethnologischen Ansätzen Eingang in seine Überlegungen gefunden haben.15 In Bezug auf die von ihm untersuchten Romane beschreibt Heimböckel wichtige Merkmale und Effekte von Verschiebung: Ich sehe in ihnen [in den Romanen; J.O.] unter anderem ein der experimentellen Ethnologie analoges Verfahren der Verschiebung am Werk, das auf Um-Schreibungen, Umkehrungen, Inversionen, Übersetzungen gründet. Nicht von ungefähr interessiert sich der historiographische Roman insbesondere für die ethnographische Dimension der Reiseberichte (vgl. Hamann/Honold 2009: 13), auf die er sich vorzugsweise bezieht. Dabei kommt er, was man übergeordnet selbst schon als eine Form der Verschiebung auffassen kann, der ethnologischen Deplatzierung von der Faktizität zur Fiktion auf halbem Wege entgegen, indem er ihn umgekehrt vollzieht. Allerdings nicht im Sinne eines Konzepts der Entfiktionalisierung, sondern nach Maßgabe einer Verschiebungspraxis, unter der einerseits geläufige Aneignungen, Wahrnehmungen und Begriffe – wie ein bewegliches Heer von Metaphern – in der Schwebe gehalten werden; mit der es andererseits aber auch und vor allem darum geht, eine Gegenerzählung zur deutschen und europäischen Kolonialgeschichte zu begründen. Das Prinzip der
Link eine literarisch komplexe Verfremdung verstanden (1997: 125f.). Die Bedeutung des Gesagten wird dabei durch eine implizite, nicht ausgesprochene Bedeutung negiert. Für Letztere gilt ein »Denotations-Verbot« (ebd.; Hervorh. i. Orig.), sie erschließt sich dem Leser lediglich aus dem sozialen Kontext. Im Text ist ironisches Erzählen u.a. durch sog. ›Ironiesignale‹ markiert (z.B. in der Übertreibung; ›Hyperbel‹). 15 Heimböckel bezieht sich dabei auf die Romane Der einzige Ort (2004) von Thomas Stangl, Alex Capus’ Eine Frage der Zeit (2007), Christof Hamanns Usambara (2007a) und Hans Christoph Buchs ›Romanessay‹ mit dem Titel Apokalypse Afrika oder Schiffbruch mit Zuschauern (2011).
106 | L ITERATUR ALS P ALIMPSEST Verschiebung ist daher primär ein Prinzip, das auf die Erzeugung von Gegenläufigkeiten ausgerichtet ist. (Ebd.; vgl. auch Heimböckel 2016a: 287)16
Auf der Grundlage der hier beschriebenen postkolonialen Ästhetik der Verschiebung, die zu dem beiträgt, was Herbert Uerlings paradigmatisch als ›Dekonstruktion des kolonialen Imaginären‹ bezeichnet hat, wird in der vorliegenden Arbeit eine ›Ästhetik des Palimpsests‹ untersucht. Dies findet auf drei Ebenen der Textanalyse statt: auf der Ebene PALIMPSEST UND FIGUR (II.2), auf der Ebene PALIMPSEST UND RAUM (II.3) sowie auf der Ebene PALIMPSEST UND ERZÄHLEN (II.4).
1.3 Z WISCHENBILANZ UND Ü BERLEITUNG : Z U DEN DREI A NALYSEEBENEN 1.3.1 Palimpsest und Figur Wenn im Kontext postkolonialer Studien von ästhetischen Verschiebepraktiken die Rede ist, betreffen diese häufig die Darstellung literarischer Figuren, also eine spezifische Konfiguration der Figuren sowie ihre Funktion innerhalb der Konfliktstruktur des Romans. Den Texten scheint dabei häufig das Merkmal gemeinsam, dass sie vom Scheitern kolonialer Projekte erzählen. Im Mittelpunkt der Erzählungen stehen nahezu ausschließlich koloniale Akteure, gewissermaßen ›negative Helden‹, darunter Aussteiger, Desillusionierte und Utopisten, Verbrecher und Versager, wie die gleichnamige Erzählsammlung von Felicitas Hoppe (2004) titelt, die von Kolonialphantasien getrieben in der Fremde ihr Glück suchen und schließlich doch an der kolonialen Wirklichkeit scheitern. Es sind koloniale Heldenmythen, welche die Literatur verschiebt und in dieser Verschiebung kritisch ausstellt. Sie entwirft demzufolge ein Bild ihrer kolonialen Akteure, das auf komisch-ironische Weise koloniale ›Vorbilder‹ konterkariert; der Topos zivilisatorischer Überlegenheit wirkt ironisch verschoben, satirisch überzeichnet, grotesk entstellt und dadurch ins Lächerlich-Komische ›verrückt‹. Deutlich wird damit, dass Verfahren der Inversion auf der Figurenebene häufig mit Spielarten komischen Erzählens einhergehen, um einen kolonialen Habitus bloßzulegen, d.h. palimpsestartig zu ›überzeichnen‹ bzw. zu ›verrücken‹ und damit schließlich die Absurdität kolonialer Projekte vorzuführen. Über die komische Inszenierung exzentrischer bzw. ›verrückter‹ Figuren werden besonders ästhetische Merkmale des Grotesken aufgerufen, welche den
16 Vgl. zur Denkfigur der ›Verschiebung‹ auch drei weitere Beiträge des Autors zur Poetik Yoko Tawadas (2013b: 243; 2015; 2016a), wobei der Aspekt der ›Übersetzung‹ als Verschiebepraxis stärker ins Zentrum rückt.
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psychopathologischen Kern des kolonialen Bewusstseins in seiner Exzentrik bloßstellen und damit jene Risse im Zerrbild kolonialer Identität hervorkehren, die auf die Instabilität und Gespaltenheit hindeuten, also jene Vorstellung aktualisieren, die Bhabha als »perverse[s] Palimpsest der kolonialen Identität« (Bhabha 2000: 65) umschrieben hat. 1.3.2 Palimpsest und Raum Von Verschiebungen ist auch die literarische Organisation des Raumes betroffen. Über sie entwerfen die Texte räumliche Vorstellungen von Überlagerung und Überschreibung, wodurch koloniale Koordinaten irritiert werden. Folgen die Texte einerseits einem mimetischen Prinzip, indem sie koloniale Welten modellieren, denen immer auch räumliche Machtverhältnisse eingeschrieben sind, so unterlaufen sie diese andererseits zugleich kontrapunktisch. Sie entwerfen »imaginäre Geographie[n]« (Said 2012: 70) 17 , die in der Wiederholung kolonialer Raumordnungen ihre Brüche und Deplatzierungen bereits in sich tragen. Imaginäre Geographien als Palimpseste in den Blick zu rücken, bedeutet folglich literarische Texte und die ihnen zugrunde liegenden Raumordnungen in ihren Ambivalenzen und Mehrfachcodierungen, Verwerfungen und Widersprüchen zu beschreiben. Insbesondere entfaltet die Literatur ein postkoloniales Potential darin, vermeintlich stabile Ordnungen kolonialer Raumsemantik zu irritieren, die den Resonanzboden des kolonialen Begehrens bildet und sich in räumlichen Siedlungs- und Bemächtigungsphantasien (Bsp. vom ›deutschen Heim in der Fremde‹) und Kollektivsymbolen Bahn bricht. 18 Zu diesen Topographien gehören besonders auch jene symbolträchtigen Orte kolonialer Eroberung und Entdeckung, an denen typische Faszinationen und Sehnsüchte des kolonialen Diskurses eingelagert sind. Ihre Position im kolonialen Imaginären stellt der Text kritisch aus, indem er sie u.a. gegen die koloniale Wirklichkeit aus-
17 Das kritische Potential dieses Konzepts, das auf Edwards Orientalismus-Studie zurückgeführt wird, hat Doris Bachmann-Medick für eine literaturwissenschaftliche Perspektive erneut formuliert, die dabei insbesondere auch der ›poetischen Alterität‹ der Literatur Rechnung trägt (vgl. I.4.1). Die Autorin verweist auf »das Vermögen der literarischen Texte, selbst als erfahrungsbezogene Medien einer ›imaginären Geographie‹ wirken zu können. Deren kritisches, bedeutungsbezogenes Kartennetz verläuft quer zu den etablierten kulturellen und politischen Machtblöcken.« (Bachmann-Medick 1996: 63; vgl. auch Neumann 2009: 118–120) 18 Susanne Zantop betont in ihrer Studie Kolonialphantasien im vorkolonialen Deutschland (1770–1870) den Stellenwert räumlicher Relationen für koloniale Imaginationen: »Die Beziehungen zwischen ›hier‹ und ›dort‹, ›Heimat‹ und ›Übersee‹, Eigenem und Fremdem bilden den Kern aller Kolonialphantasien.« (Zantop 1999: 26)
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gespielt wird. Nicht selten nutzt der Text Verfahren der grotesken Verschiebung, um symbolische Schauplätze der kolonialen Inbesitznahme zu Topographien des Scheiterns werden zu lassen. Um solche Raumverschiebungen als Palimpsest lesbar zu machen, untersucht die vorliegende Arbeit, wie Texte der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur eine eurozentrische Kartierung und die damit verbundenen hierarchischen, dichotomen und ideologischen Wertsetzungen in gleich mehrfache Richtungen deplatzieren und dadurch zu einer Dekonstruktion des kolonialen Imaginären beitragen. 1.3.3 Palimpsest und Erzählen Verschiebungen können insbesondere eintreten, wenn Texte mit anderen Texten eine Beziehung eingehen, die keine bloße Nachahmung darstellt, sondern Differenz bzw. différance markiert. Dies scheint insbesondere für den deutschsprachigen Roman der Gegenwart der Fall zu sein, der sich stark von Vorläufertexten affiziert zeigt. Indem sich Texte also auf literarische Prätexte beziehen, sie literarisch verarbeiten, machen sie ihre Vorgängertexte durchaus strategisch zum stofflichen Ausgangs- und Orientierungspunkt ihrer Erzählungen, was »alternative, häufig subversive oder revisionistische Perspektiven auf Bekanntes und Vertrautes« ermöglichen kann (Sommer 2011: 280). Mit rewriting ist in diesem Zusammenhang ein spezifischer Typ von ›Hypertextualität‹ bezeichnet, der sich am Material seiner Referenztexte abarbeitet, indem er sie neu-, weiter-, um- und damit nicht zuletzt ihre Geschichte überschreibt. Ganze Handlungsstränge, Figurenkonfigurationen und Konflikturstrukturen sowie topographische Settings werden so zum Gegenstand der Bearbeitung. Der literarische Text erscheint als das Ergebnis von Überschreibungen, als ein Palimpsest fiktionaler oder faktualer Prätexte, deren ideologische Wegmarken er durchkreuzt, durchstreicht, korrigiert, parodiert, ad absurdum führt. Phänomene der Überschreibung bleiben allerdings nicht nur auf die Verweisstruktur einer ›Einzeltextreferenz‹ begrenzt. Sie verhandeln gleichsam die bisherige Stellung des Prätexts im kulturellen Gesamtsystem.19 Was auf dem Spiel steht, ist folglich nicht nur der Platz des Prätexts im kulturellen Kanon, sondern gleichsam der Kanon selbst, der durch diese Verfahren in ein kritisches Licht rückt. Neben Perspektiven auf rewriting nimmt das Kapitel PALIMPSEST UND ERZÄHLEN ein weiteres Phänomen in den Fokus, das einen Aspekt der zeitlichen Überlagerung thematisiert. So spielen in einer Reihe von Romanen Hinweise auf Figuren, Ereignisse und Themen eine Rolle, die mit dem Nationalsozialismus zu tun haben
19 Zur in der Intertextualitätstheorie wichtigen Unterscheidung zwischen den Begriffen ›Einzeltext-‹ und ›Systemreferenz‹ vgl. Ulrich Broich (1985a) und Manfred Pfister (1985b).
G RUNDLAGEN : Ä STHETIK UND P ALIMPSEST
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und damit im Kontext des deutschen Kolonialismus einen zentralen Erinnerungskomplex des kollektiven Gedächtnisses aktualisieren. Damit verhandelt diese Literatur eine mentalitätsgeschichtliche Spur, die koloniales und nationalsozialistisches Denken in ein Verhältnis setzt. Das Kapitel geht demzufolge der Frage nach, wie die Romane diese historische ›Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen‹ literarisch in Szene setzen, welche Rückschlüsse diese Verbindung auf eine potentielle Kontinuität kolonialer Diskursmuster zulässt und inwiefern über diese Verquickung mentalitätsgeschichtlicher Dispositionen ein kritisches Potential zum Tragen kommt.
2. Palimpsest und Figur: Verfahren der komischen Überzeichnung
2.1 H ELDEN DER E NTDECKUNG ? V ERRÜCKTE F IGUREN C HRISTOF H AMANNS U SAMBARA
IN
Was den Anteil von Entdeckern und Forschungsreisenden am weltweiten Kolonialismus betrifft, ist die Forschung sich einig: Expedition, Exploration und Expansion gingen stets nicht nur Hand in Hand, sie waren vielmehr unauflösbar miteinander verquickt. »Denn ob ihre Protagonisten dies wollten oder nicht: ›Entdeckungsreisen‹ sind zugleich Vorbereitung und Beginn der kolonialen Durchdringung und insofern immer schon koloniale Projekte.« (Bay 2012: 108) Ähnlich resümiert die Historikerin Marina Münkler über das Problem der Distinktion zwischen Entdecker und Eroberer, dass »der Begriff der Entdeckung nicht von dem der Inbesitznahme zu trennen ist, Entdeckung und Besitznahme vielmehr identisch waren« (Münkler 2002: 159).1 Auch Matthias Fiedler hat in seiner für diesen Zusammenhang wichtigen Studie Zwischen Abenteuer, Wissenschaft und Kolonialismus darauf hingewiesen, dass Entdecker und Forschungsreisende »von Beginn an als Teil des Prozesses der Kolonisierung des afrikanischen Kontinents angesehen werden müssen« (Fiedler 2005: 112), da sie nicht nur zur »Erschließung des afrikanischen Kontinentes«, sondern »damit auch zur Legitimation deutscher Ansprüche in Afrika beigetragen« haben (ebd.: 91).2 Aus den Entdeckungsreisen wurden »nicht selten territoriale An1
Die Autorin verweist darauf, dass sich seit den 1980er Jahren in der Diskussion um »Kolonialgeschichtsschreibung die Erkenntnis durchgesetzt [habe], daß Entdecker und Eroberer zusammengehören wie die beiden Seiten einer Medaille« (Münkler 2002: 156), wenngleich die Sozialfigur des Entdeckers deutlich positiver konnotiert sei. Häufig fielen demzufolge Entdecker und Eroberer in einer Person zusammen (vgl. ebd.: 156f.).
2
An anderer Stelle formuliert Fiedler seine These, dass Afrikareisende »in einer direkten Kontinuitätslinie zum deutschen Kolonialismus und dem kolonialen Diskurs im 18. und frühen 19. Jahrhundert gesehen werden müssen, da sie sowohl in persona als auch durch ihre Texte aktiv teilgenommen haben an der Inbesitznahme des afrikanischen Konti-
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sprüche der jeweiligen Nationen abgeleitet« (Eckert 2013: 140; vgl. Fiedler 2005: 203), wie etwa die Inbesitznahme des Kilimandscharos durch Hans Meyers symbolischen Taufakt, der den afrikanischen Berg in »Kaiser-Wilhelm-Spitze« umbenannte, exemplarisch vor Augen führt.3 Christof Hamanns Roman Usambara re-inszeniert eine Reihe historisch verbürgter Akteure des deutschen Kolonialismus, wobei er deren Figurenkonfiguration verschiebt. Der Text bedient sich dabei Verfahren des komischen Erzählens, um typische Vorstellungen vom heldenhaften Entdecker ironisch auszustellen, sprich zu ›verrücken‹, und dadurch ihr koloniales Begehren in seinen psychopathologischen Ausprägungen bloßzulegen. Auf der prätextuellen Folie des Reiseberichts Hans Meyers (1890) aktualisiert der Text somit typische Muster des kolonialen Imaginären, die er nicht nur ironisch zitiert. Über Verfahren des Überschreibens (rewriting) trägt der Text zugleich dazu bei, jene Helden der Kolonisierung ad absurdum zu führen, die im kolonialen Imaginären eine konstitutive Rolle einnehmen. Durch diese Form der Verschiebung, die im ambivalenten Wortsinn als komische ›Überzeichnung‹ zu betrachten ist, entwickelt der Text sein postkoloniales Potential: er schreibt um, verfremdet und rückt seine kolonialen Akteure in ein »verfremdendes Licht« (Uerlings 2012: 54). Diese ästhetischen Verschiebepraktiken bei der komischen Figureninszenierung gilt es im Folgenden eingehender zu untersuchen. Im Mittelpunkt stehen dabei zwei Figuren, die auf unterschiedliche Art und Weise den Habitus des Kolonisierers ironisch brechen und eine kritische Lektüre zulassen: Die eine ist die historisch verbürgte Figur Hans Meyer, der im Kontext des deutschen Kolonialismus in Afrika eine Schlüsselrolle einnimmt, nicht zuletzt deshalb, weil er einen Archetyp des Entdeckers und Eroberers verkörpert und durch die symbolische Besitzergreifung des Kilimandscharos mit nachhaltigem »Realitätseffekt« (Hamann 2008a: 51; Hamann/Honold 2013: 90) zur Kolonialisierung Ost-Afrikas beigetragen hat. Die andere ist die Figur Leonhard Hagebucher; eine intertextuell komplex komponierte Figur, die als Gegenfigur zu Meyer angelegt ist
nents.« (Fiedler 2005: 87) Hans Meyer, selbst ein prototypischer Eroberer und Entdecker (s.u.), trianguliert in einem seiner Vorträge den Zusammenhang zwischen Entdeckung, Diskurs und Kolonialisierung: »Die physisch-geographische Erforschung des Landes bildet die einzige sichere Grundlage für die praktische Kolonisation […]. Es wäre mir eine große Genugthuung, wenn in dieser Hinsicht mein Buch der deutschen Kolonie einigen Nutzen brächte.« (Meyer 1900: VII) 3
Vgl. Meyer 1890: 134 und II.3.2.1 in dieser Arbeit. Der Kulturgeschichte der Kilimandscharo-Erstbesteigung und deren Anteil am kolonialen Imaginären haben Alexander Honold und Christof Hamann in den vergangenen Jahren eine Reihe an Forschungsarbeiten gewidmet. Die einschlägigen sollen hier genannt werden: Honold (1999; 2000; 2004a), Hamann (2006; 2008a; 2008b) und Hamann/Honold (2011; 2013).
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und vom Autor in das historisch verbürgte Setting der Erstbesteigung des Kilimandscharos eingefügt worden ist. Über ihre Interpolation in die historische Folie entfaltet der Roman nicht nur die Chance zur kritischen Gegenlektüre kolonialer Heldenmythen, sondern insbesondere auch ein metafiktionales Potential, das Gattungskonventionen des Reiseberichts und ihren Anspruch auf historische Verbürgtheit infrage stellt und kontrafaktisch unterläuft. In der Kulturgeschichte des deutschen Kolonialismus nimmt die Erstbesteigung des Kilimandscharos am 6. Oktober 1889 durch den Geographen und Verleger Hans Meyer (1858–1929) eine exponierte Stellung ein (vgl. Conrad 2012: 81; Brigiato 2007: 113; Hamann/Honold 2013: 84). In den vergangenen Jahren sind dazu eine ganze Reihe an kulturwissenschaftlichen Forschungsarbeiten erschienen, die sich dem Anteil dieser Unternehmung am kolonialen Imaginären widmen. 4 »Keine bergsteigerische Herausforderung außerhalb Europas«, so schreiben etwa Christof Hamann und Alexander Honold in ihrer Monographie Kilimandscharo. Die deutsche Geschichte eines afrikanischen Berges, zog im letzten Jahrhundertdrittel größere Aufmerksamkeit auf sich. Bei der Geschichte der (aus europäischer Sicht) Entdeckung und Eroberung des höchsten und mächtigsten afrikanischen Bergmassivs handelt es sich zweifelsohne auch um die Geschichte einer starken Faszination, einer fast magischen Anziehungskraft, die jener Berg auf Gemüt und Vorstellungsvermögen der europäischen Reisenden, Wissenschaftler und Autoren auszuüben vermochte. (Hamann/Honold 2011: 78)5
Meyer stammte aus einer wohlhabenden Verlegerfamilie und war anders als viele seiner Zeitgenossen, die den afrikanischen Kontinent bereisten, finanziell unabhängig. Er konnte daher nicht nur auf eigene Kosten reisen, sondern auch nach seiner Rückkehr seine Entdeckungen in Form von Reiseberichten einem breiten Fachpublikum zugänglich machen. Das »populärwissenschaftliche[ ] Interesse[ ] für geographische Fragen« war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts deutlich gestiegen, was die Forschung auf die Konjunktur an »außereuropäischen Forschungsreisen und ihrer Vermittlung durch illustrierte Berichte und lexikographische Darstellungen« zurückführt (Honold 2004a: 136). In den Jahren 1887 bis 1889 unternahm Meyer gleich drei Versuche, die Spitze des Kilimandscharo-Massivs, den Kibo, zu erklimmen. Am 6. Oktober 1889 schließlich glückte ihm die Erstbesteigung zusammen mit dem österreichischen Bergsteiger Ludwig Purtscheller (1849–1900).
4
In chronologischer Reihenfolge: Honold 1999; Honold 2000; Zeller 2002; Honold 2004a; Hamann 2006; Brogiato 2007; Hamann 2008a; Hamann 2008b; Hamann/Honold 2011; Conrad 2012; Hamann/Honold 2013.
5
Vgl. auch Hamann/Honold (2013: 84) und Honold (2004a: 136f).
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Im Kontext des deutschen Kolonialismus ist die Erstbesteigung des Kilimandscharos insofern hervorzuheben, als sie mit der Taufe des Gipfels auf ›Kaiser-WilhelmSpitze‹, also mit ihrer symbolischen Einverleibung in die Ordnung des Eigenen, erst »das geographische Faktum geschaffen [hatte], das sie zu rapportieren vorgab.« (Honold 2004a: 137) Und das sollte nachhaltige Konsequenzen für die Grenzziehungen in Ostafrika haben, für die sich Meyer 1890 stark machte (Honold 2004a: 137; vgl. Hamann 2008a: 58).6 2.1.1 Hans Meyer: Der Entdecker als Karikatur Der Roman Usambara greift nicht nur diese Schlüsselszene des symbolischen Taufakts auf, die ironisch verschoben wird.7 Insbesondere setzt er sich am Beispiel Hans Meyers mit typischen Helden- und Entdeckermythen auseinander, die er über die komische Figureninszenierung durchkreuzt und ›verrückt‹.8 So wird die Figur Meyer grotesk überzeichnet, ironisch-satirisch vorgeführt und dadurch insgesamt als komische bzw. verrückte Figur in einer Art und Weise eingeführt, die das historische Bild Meyers im kolonialen Diskurs konterkariert. Wie das folgende Beispiel zeigt, werden zwar einerseits typische Tugenden von Entdeckern wie Zielstrebigkeit und Disziplin, Ehrgeiz, Wagemut und Rationalität aufgerufen (vgl. Münkler 2002: 156), 9 andererseits jedoch über die Figurenrede Camillas gebrochen und ins Ironisch-Spöttische verrückt:
6
Über die deutsch-britischen Vertragsverhandlung zu Sansibar und zu Helgoland bilanziert Fritz Jäger, der Meyers Lehrstuhl in Leipzig übernahm: Meyers »Reisen verdanken wir es, daß der Kilimandscharo bei der Abgrenzung gegen Britisch-Ostafrika der deutschen Kolonie zugeschlagen wurde und daß im küstennahen Waldgebirge von Usambara alsbald mit der Anlage deutscher Kaffeepflanzungen begonnen wurde.« (Jaeger 1929: 266) Vgl. so auch H. Schmitthenner (1930: 135).
7
Vgl. dazu ausführlich II.3.2.2.
8
Die Rolle von Hans Meyer für den deutschen Kolonialismus, insbesondere in Ostafrika, heben Hamann/Honold in ihren Arbeiten hervor (vgl. Hamann/Honold 2011: 77, 86f.). Vor allem Meyers gesellschaftliche Position sowie seine ökonomische Situation mögen zu dieser Bedeutung beigetragen haben. Er war nicht nur erstens Verlagsleiter und Herausgeber bedeutender Kolonialschriften (darunter Das deutsche Kolonialreich [1909]), sondern auch zweitens Kolonialpolitiker, drittens Professor und Inhaber des Lehrstuhls für Kolonialgeographie und -politik sowie viertens Forschungsreisender und Autor von Reiseberichten, die er nach der Rückkehr seiner Reisen innerhalb von ein bis zwei Jahren veröffentlichte (vgl. Hamann 2008a: 40f.).
9
Zum Ende des Romans wird Meyers Jugend in einer Analepse beschrieben. In dieser Rückblende werden archetypische Merkmale aufgerufen (vgl. U 179). An früher Stelle
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Hans Meyers Arbeiten, liest Camilla, war ein solides, konsequentes, unbeirrbares Vorwärtsschreiten nach gesetztem Ziel. Er dachte zunächst daran, ein Pionier der Erdentdeckung zu werden. Es entsprach aber der Solidität seines Wesens, der dem Fantastischen abgeneigten Nüchternheit seines Tatsachensinns, dass sich sehr rasch jugendlicher Entdeckerehrgeiz in wissenschaftlichen Forschertrieb entwickelte. Jedenfalls hat seine ganze Liebe in erster Linie der Wissenschaft gegolten. Sein Stolz und sein Ehrgeiz, die ihm dabei zugute kamen, waren aber überdeckt durch ein hohes Maß an Selbstzucht (der stand wahrscheinlich morgens im Bad und hat sich mit einer Wurzelbürste abgeschrubbt) und eine keusche männliche Verschlossenheit, die der Außenwelt nicht gern die Tiefe und Weisheit des eigenen Gefühls enthüllt. Hört sich tatsächlich an wie ein richtiges Arschloch. Woher hast Du das? (U 83)
An dieser Stelle erzählt der homodiegetische Erzähler Fritz Binder davon, wie Camilla seine historischen »Quellen« (ebd.), die er selbst nicht mehr überschaut,10 vorliest und kommentiert. Wie unzuverlässig die Erzählinstanz tatsächlich ist, zeigt sich daran, dass keine seiner Quellenangabe an dieser Stelle stimmt. Der Auszug stammt nahezu wörtlich aus einem Nachruf von Johannes Hohlfeld, der 1932 zu Ehren des 1929 verstorbenen Hans Meyer erschienen war (1932: 212). In Klammern erscheinen Camillas Gedanken wie in die historische Quelle interpoliert: »(der stand wahrscheinlich morgens im Bad und hat sich mit einer Wurzelbürste abgeschrubbt)«. Sie zeugen von Camillas kritischer Distanz gegenüber der historischen Meyer-Figur, die ins Sarkastische abgleitet und in der denunziatorischen Lesart mündet: »Hört sich tatsächlich an wie ein richtiges Arschloch.« (Ebd.) Wird die Kritik an der historischen Meyer-Figur in Usambara einerseits in der Erzählgegenwart über die Figurenstimme Camillas laut,11 so gewinnt die Figurenzeichnung Meyers auf der Vergangenheitsebene des Romans weiter an Kontur. Hier wird das Bild vom ›heldenhaften Entdecker‹ auf ganz verschiedene Weise konterkariert. Deutlich wird dabei, dass Meyer typische Entdeckertugenden gewissermaßen ›über-affirmiert‹, sodass die Figur an verschiedenen Stellen ins ›Exzentrische‹ kippt und sich jene Entdecker-Tugenden in Arroganz, Selbstüberschätzung, cholerisches Verhalten wie auch habituelle Machtgesten kultureller Überlegenheit steigern (vgl. U 66, 73f.).
heißt es: »Er sprach von Mut. Zuverlässigkeit. Auch Heldentum. Davon, die Hoffnung nie aufzugeben.« (U 87) 10 Zu Fritz’ Unsicherheit bezüglich der Quellen vgl.: »Aus Petermanns Mitteilungen vielleicht oder aus der Zeitschrift für allgemeine Erdkunde.« (U 83) 11 Über die kritische Funktion der Figur Camilla als sog. »Korrektivfigur« im Kontext unzuverlässigen Erzählens vgl. Catani (2009: 163). Dazu innerhalb der vorliegenden Studie II.3.2.3.
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Mit Meyers Exzentrik wird zugleich der Umgang mit dem Fremden verhandelt, der ihn wiederum ironisch-satirisch vorführt. Der Rassismus Meyers entfaltet eine grotesk-komische Wirkung, indem er eine Vielzahl typischer Register der Denkund Wahrnehmungsroutinen im kolonialen Diskurs auf die Spitze treibt, diese ostentativ zur Schau stellt und in ihrer Übertreibung ad absurdum führt. Nicht nur in seinen eigenen Vermengungen von Rassismus und Misogynie,12 auch in geradezu formelhaften Aussagen Meyers kommen rassistische Topoi 13 des kolonialen Diskurses zum Ausdruck, so etwa Hegels Diktum vom ›kindlichen Afrikaner‹ (»Gewiss ist der Neger ein Kind« [U 84]) oder die Vorstellung von Afrika als ›geschichtslosem Kontinent‹.14 Meyers Dozieren über den erzieherischen Auftrag des Kolonisierers ist in Usambara als ein ironisches Zitat des kolonialen Diskurses verschoben, das über die Erzählinstanz Fritz aus einer historisch verbürgten Rede Meyers15 kolportiert und von Camilla als unzuverlässig denunziert wird: Unsere Vorstellung von Menschenwürde dürfen wir beim Neger nicht voraussetzen; er sieht in seinem Sklavenverhältnis durchaus nichts Schimpfliches. Du kennst das Zeug auswendig? Mehr oder weniger. Was wir in tausendjähriger …
12 »Meyer dagegen bezeichnete sie an diesem und den folgenden Abenden […] immer nur als alte Negerin und beharrte auf dem nicht nur seiner extremen Kurzsichtigkeit geschuldeten Fehlurteil trotz Baumanns und Hagebuchers Protest.« (U 68) 13 Vgl. dazu Fiedlers Ausführungen zur Repräsentation des Fremden in kolonialen Reiseberichten des 18./19. Jahrhunderts: »Die politische Aktualisierung dieser Topoi bei den Afrikareisenden besteht in erster Linie darin, dass sie im Kontext der Kolonisierung des afrikanischen Kontinents sich als Erzieher in ein Verhältnis zu den Topoi der Kindlichkeit und Natürlichkeit und vor allem der Unterentwicklung der afrikanischen Menschen stellen und damit den Versuch unternehmen, die koloniale Inbesitznahme als ›Erziehungsauftrag‹ oder ›Kulturmission‹ zu rechtfertigen.« (Fiedler 2005: 287; Hervorh. i. Orig.) 14 Siehe auch typische koloniale Diskursmuster der Fremdkonstruktion wie ›diebisch‹, ›faul‹, ›untreu‹: »Denn noch weniger als den Einheimischen traute er den Arabern zu, ihm in schneebesetzte Höhen zu folgen. Dafür hielt er sie für zu schlecht ausgerüstet, vor allem aber für zu faul. Umso größer wurden seine Ängste um die ohne Aufsicht zurückbleibenden Schwarzen.« (U 120) Vgl. auch die Zustimmung Meyers zu Wissmanns Äußerungen über die Rechtfertigung des Aufstandes aus dem Recht der zivilisatorischen Überlegenheit heraus (U 110). 15 Es handelt sich um die publizierte Rede Aus dem Vortrag des Herrn Dr. Hans Meyer: Über seine letzte Expedition in Deutsch-Ostafrika (Meyer 1889: 92).
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Bei Meyer heißt es langjähriger. Ist doch fast dasselbe. Was wir in tausendjähriger Kulturarbeit errungen haben, bis es ganz unser geistiges und ethisches Eigentum geworden ist, das können wir dem Neger nicht von heute auf morgen anziehen wollen wie ein neues Kleid, das sofort passen soll. Dieser Vergleich steht hier nicht. Hier steht: das können wir dem Neger nicht von heute auf morgen aufdrücken. Aber meine Version hört sich besser an. Jetzt unterbrich mich doch nicht immer. Gewiss ist der Neger ein Kind, und zwar ein Kind von sanguinischem Temperament und ganz unfertigem Charakter. Aber erstens werden Kinder nicht allein durch gutes Beispiel und schöne Reden erzogen, sondern sie müssen arbeiten lernen und zur Arbeit angehalten werden; und zweitens handelt es sich in unserem Fall nicht um die Erziehung der einzelnen Individuen, unter welchen sich wohl besonders begabte Naturen in einem kurzen Menschenleben europäische Gesittung und Gesinnung aneignen können, sondern um die Erziehung der ganzen Negerrasse, die nur in generationsweiser geistiger und ethischer Verelendung … Nein, Veredelung. Sorry, blöder Scherz, natürlich in Veredelung einem höheren Ziel zugeführt werden kann. Wir müssen arbeiten, soll es der Neger nicht auch? Nicht in den verborgenen Mineralschätzen des Erdbodens, nicht in den freien Erzeugnissen des Pflanzen- und Tierreiches, sondern in der latenten Arbeitskraft des Negers liegen die ungeheuren Reichtümer … (U 84)
Camilla legt in ihrer Kritik rassistisches Denken bloß und führt es polemisch vor; vor allem verweist sie aber auf den unkritischen Umgang mit historischem Quellenmaterial durch die Erzählerfigur Fritz Binder, dessen Versprecher (»Verelendung … Nein, Veredelung. Sorry, blöder Scherz«) das humanistische Gebaren der kolonialen ›Zivilsierungsmission‹ ironisch zur Schau stellt. Ein Abgleich dieser Passage mit der Rede Meyers (1889: 92) macht allerdings deutlich, dass Camillas Korrekturen, bis auf ihren letzten Einwand, unberechtigter Weise erfolgen; dass Fritz also die Quelle durchaus korrekt zitiert hat. Diese Irritation scheint exemplarisch für die Poetik Hamanns, für seinen Umgang mit »[h]istorische[n] Stofffetzen« (Hamann 2007a) während des Schreibprozesses sowie für seine Verfahren des »Ruinieren[s], Verketten[s], Verformen[s]« (Hamann 2009). Für die Konfiguration der Meyer-Figur ist insbesondere eine Szene von zentraler Bedeutung, in der das Ende seiner Gefangenschaft bei Buschiri geschildert wird. Erzählt wird, wie Meyer die Forderungen Buschiris unterschreibt, die zur Freilassung des Expeditionsteams führt. Dabei wird Meyer nicht nur aufgrund seiner äußerlichen Darstellung ironisch abgewertet, wodurch gleichsam blinde Flecken von Reiseberichten, also die Unterschlagung jener Wirklichkeit, die das ehrenhafte Bild vom heldenhaften Entdeckers konterkarieren würde, satirisch ausgefüllt werden: »Seine Kleidung wirkte, abgesehen von den braunen Stellen am Hinterteil und den nassen im Schritt, beinahe salonfähig.« (U 65) Die Passage präsentiert vor allem
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Meyers Charakter als cholerisch. Er wirkt in seiner plötzlichen Wut komisch, die sich in wilde Raserei steigert, ins Groteske kippt und ihn als Antisemiten ausstellt: Der Vertrag schien in Ordnung. Meyer rief nach Abd-el-Kerim, unterzeichnete unter auf Deutsch ausgestoßenen Flüchen und Verwünschungen: Saubande, Hurensöhne, hängen wird man Euch, das ganze Pack, das ganze Lumpengesindel, und Dich, Du Krämerseele, Du Halsabschneider, Dich zuvorderst, als abschreckendes Beispiel, Du bist ja schlimmer als die Juden bei uns. (U 74)
Zentral für diese ›komische Verrückung‹, die Meyer ins Exzentrische abdriften lässt, ist die Zurschaustellung des kolonialen Begehrens. Die Triebfeder seines geradezu obsessiven Entdecker-Ehrgeizes führt der Text dabei auf eine narzisstische Kränkung zurück, die Meyer in jungen Jahren während seines Militärdienstes erfahren hatte. An einer Stelle gleich zu Beginn des Romans kolportiert die Figur Oscar Baumann, der Meyer während der ersten Expedition begleitete, die Begegnung Meyers mit dem Deutschen Kaiser Friedrich III., wodurch der Text nicht nur Meyers pathologisches Motiv desavouiert. Überdies wird ein archetypisch preußischer Habitus zur Karikatur und in ein ironisches Licht getaucht: Ihm [dem dt. Kaiser; J.O.] fiel der stramme einjährige Unteroffizier auf, und er fragte ihn vor versammelter Front nach seinem Namen. Selbstverständlich lautete die Antwort: Meyer, Kaiserliche Hoheit. Da sah ihn der Kronprinz groß an, wandte sich ab und sagte laut und vernehmlich zum Oberst: Unmöglich! Dem jungen Soldaten blieb dieser an Beleidigung grenzende Ausruf unverständlich, bis ihm der Regimentskommandeur eröffnete, dass Kaiserliche Hoheit daran dachte, ihn aufzufordern, ins aktive Offizierskorps einzutreten. Aber bei dem Namen sei das ja unmöglich. (U 23)
Die krankhafte Ruhm- und Geltungssucht wird somit auf einen traumatischen Moment der Ehrverletzung zurückgeführt, der im Motiv des ›Stachels‹ im Text insgesamt an vier Stellen auftaucht. Wieder ist es Oscar Baumann, 16 der ein Psychogramm des Expeditionsleiters zeichnet: »Meyer war ein gerechter Anführer der Expedition, vielleicht der tüchtigste, den es jemals gegeben hatte, dank eines Stachels, der ihm im Fleisch steckte, seit ihm der vor kurzem verstorbene Kaiser Friedrich
16 Auch Baumann kennzeichnet ein unzuverlässiges Erzählen, so befindet sich die Figur, welche ebenfalls als komische Figur in die Erzählung eingeführt wird, doch dauerhaft im Drogenrausch: »Ein lustiger Zeitgenosse. Vollgepumpt mit Laudanum, Arsenik und Chinin rauschte er durch den Tag, fieberte zum nächsten Häuptling. Ziehen Sie die Spieluhr auf, Hagebucher, lallte er, laden Sie das Magazingewehr. Jetzt müssen wir Theater spielen und dann das Christkind, sonst gibt’s nichts zu futtern.« (U 24)
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III. begegnet war.« (U 23) In der Beleidigung, die Meyer durch die Zurückweisung seines durch den Kaiser als unwürdig eingeschätzten Namens erfährt, liegt der Grund für sein Begehren nach Entdeckung und danach, diese Würde durch Erfolg und Ehrerbietung wiederherzustellen: Da erst habe er, Meyer, begriffen, dass sein Name den Herren vom Regiment nicht gut genug sei, um ihn ganz zu sich zu ziehen, und er habe sich in diesem Moment vorgenommen, allen zu beweisen, dass man auch mit diesem Namen etwas Tüchtiges leisten könne. Und diesem Vorsatz sei er sein ganzes Leben hindurch treu geblieben. (U 23f.)17
Dieses Symbol des ›Stachels‹ steht einerseits für Meyers Minderwertigkeitskomplex und andererseits für den schmalen Grat zwischen Ehrgeiz und Größenwahn. Hieran wird deutlich, wie die ›Verrückung‹ die Figur Meyer nicht nur als komisch-ironisch ausstellt, sondern diese in den Wahnsinn führt bzw. ins Wahnwitzige umschlagen lässt. Der Effekt komischen Erzählens ermöglicht demnach eine dekonstruktive Lektüre der Meyer-Figur – und damit des kolonialen Begehrens, das hier in symbolischen Machtgesten der Usurpation, qua Benennung, zum Tragen kommt: Eine Landschaft mit Deinem Namen zu überschreiben und ihn dann auf offiziellen Karten wiederzufinden, das war praktisch genau so, als hättest Du den See, den Fluss oder den Berg gekauft. Außerdem saß Meyer der Stachel im Fleisch, den ihm Friedrich III. hineingesteckt hat. Der muss einem Preußen verdammt wehgetan haben. (U 136)
Mit Mitteln der komischen Überzeichnung wird die Figur Meyer weiter an den Abgrund des Wahnsinns gerückt. Dieses Verfahren, eine Figur im Verlauf der Handlung ins Exzentrische kippen zu lassen, gilt es im folgenden Abschnitt (II.2.2) am Beispiel von Christian Krachts Imperium (2012) noch näher zu beleuchten. Während Meyers Angst,18 erneut überfallen zu werden, sich immer mehr steigert und eine obsessive Beziehung zu seiner »Mauser-Repetierbüchse« (U 108; vgl. 114) zur Folge hat, treibt die Schlusspassage des Romans mit der Gipfelbesteigung seine pathologische Kränkung buchstäblich auf die Spitze (vgl. II.3.2.2). Durch den »Einspruch gegen die willkürliche Entscheidung des Forschers«, den Gipfel auf den
17 Weitere Textstellen, in denen das ›Stachel‹-Motiv vorkommt, vgl. U 136, 208, 249. 18 An einer stelle heißt es: »So wurde Meyer in den vier Wochen seines Sansibarer Aufenthalts gleichsam auf Schritt und Tritt an die Ereignisse vor neun Monaten erinnert, und es gab Nächte in dieser Zeit, in denen er aufschreckte aus Träumen, durch die der renitente Araberfürst mit ausgestreckter, fordernder Hand geisterte.« (U 107f.) Vgl. zur Paranoia Meyers auch die Ausführungen Laura Becks (2011: 33).
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Namen Meyer zu taufen, hat der Reisegefährte Ludwig Purtscheller – so heißt es im Text – »am Stachel in Meyers Fleisch gezupft.« (U 249) In dieser Passage werden die Figuren im Vergleich zu ihren historischen Vorbildern komisch ver- bzw. überzeichnet; der Text lässt sie somit zu Karikaturen kolonialer Entdeckungsreisender werden. 2.1.2 Leonhard Hagebucher: Schelm und Underdog 19 Die Figur Leonhard Hagebucher spielt innerhalb der Konfliktstruktur des Romans die Rolle einer Gegenfigur zu Hans Meyer. Zum einen wird mit ihr eine kritische Perspektive auf Meyer in die historische Folie des Prätexts interpoliert. In diesem »Einschmuggeln der literarischen Figur in die historische Handlung« sieht Hansjörg Bay ein durchaus kritisches Potential, das der »Infragestellung historischer Wahrheit auf der Gegenwartsebene« entspricht, »wo angesichts einer Kollision zwischen Familiengedächtnis und offizieller Geschichtsschreibung lange Zeit ungeklärt bleibt, ob Hagebucher wirklich den Gipfel erreichte oder bei der Expedition gar nicht dabei war.« (Bay 2012: 119) Zum anderen ist die Art und Weise ihrer komischen bzw. ›verrückten‹ Inszenierung ebenso als Teil der Dekonstruktion kolonialer Heldenmythen zu betrachten. Die komische Inszenierung der Hagebucher-Figur führt, ähnlich wie bei Meyer, zur Irritation typisch kolonialer Denk- und Wahrnehmungsroutinen, über die eine dekonstruktive Lektüre des kolonialen Begehrens möglich wird. Die Einführung der Hagebucher-Figur zu Beginn des Romans begleitet ein mythischer Grundton, der bereits auf die potentielle Unzuverlässigkeit des Erzählers verweist.20 Wird durch die komische Inszenierung der Figur Meyer die Ernsthaftigkeit und Glaubwürdigkeit der offiziellen Geschichtsschreibung mit ironischsatirischen Mitteln hintergangen und in ein kritisches Licht gerückt, so kennzeichnet die Einführung Hagebuchers ein mythischer Erzählstil, der seine Glaubwürdigkeit zunächst aus einer oral history des Familiengedächtnisses (»Wir sind Glieder einer unvergänglichen Kette« [U 10]) zu schöpfen versucht:
19 Bei der Verwendung dieser Begriffe beziehe ich mich auf die Beiträge von Gerhard (2009) und Göttsche (2013). 20 Vgl. zum Verfahren des ›unzuverlässigen Erzählens‹ in Hamanns Roman Catani (2009) und Dunker (2012a: 166–168). Siehe auch der Autor selbst in Bezug auf Wilhelm Raabes Erzählerkonstruktion, bei der er von einer »›hinterhältige[n]‹ Unzuverlässigkeit« spricht (Hamann 2007c: 88). In einem anderen Beitrag thematisiert Hamann das ambivalente Motiv des ›Schwindels‹, auch spricht er von einem »Narrenkleid« (2007a: 55), das aus der intertextuellen Komposition der Hagebucher-Figur in seinem Roman entstehe.
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Für Leonhard Hagebucher begann Afrika mit einem Veilchen. Aus dem morastigen Untergrund heraus nahm er sich das, was er sah, mit größter Sorgfalt vor. Später sagte er: ein Wunder, und alle, die zuhörten, glaubten ihm. Sie wussten, wie sehr er auf der Suche gewesen war. Hagebucher gehörte zu den im Volksmund Sitzzwerg genannten Menschen. […] An Leonhard Hagebucher zeigte sich am eindringlichsten, was die Familie insgesamt auszeichnete und bei ihren Mitgliedern von Generation zu Generation mal stärker, mal weniger stark hervortrat, aber stets vorhanden war. (U 9f.)
Ab Kapitel 1 (U 14–56) erfährt die Inszenierung der Hagebucher-Figur durch die extradiegetisch-homodiegetische Erzählinstanz, den Urenkel Fritz Binder, allerdings eine Wendung. Auf der intradiegetischen Vergangenheitsebene wird Hagebucher ambivalent entworfen. Einerseits werden Merkmale aufgerufen, welche die Figur zum Sonderling und Außenseiter und damit als subversive Gegenfigur zu den Expeditionsteilnehmern Meyer und Purtscheller stilisieren. Innerhalb der Forschungsliteratur wurde diese Ausgestaltung der Konfliktstruktur unter dem Aspekt des »Schelmenromans«21 fokussiert (Gerhard 2009: 328); Dirk Göttsche sieht in der Hagebucher-Figur einen typischen »Underdog[ ]« (2013: 398), mit dem der Roman eine postkoloniale Kritik entwickele. Hagebucher steht »in deutlichem Kontrast zu dem zackigen Preußen Meyer« (Bay 2012: 118). Andererseits ist die Figur ebenso mit Eigenschaften gezeichnet, die sie in Meyers Nähe rücken, insbesondere was das koloniale Begehren betrifft. Differenz und Ähnlichkeit in der Darstellung Hagebuchers verschieben koloniale Koordinaten auf besondere Weise, was im Folgenden betrachtet werden soll. Was genau macht die fiktiv in die historische Folie interpolierte Figur Hagebucher demnach zur ›verrückten‹, ja geradezu parasitären Figur, über die im Text eine dekonstruktive Lektüre der kolonialen Diskursschicht möglich wird? Die Motivation Hagebuchers besteht wie auch bei Meyer aus typischen Denkmustern eines kolonialen Begehrens, in dessen Mittelpunkt hier jedoch die Entdeckung einer Pflanze steht: das Usambara-Veilchen. Dabei treibt ihn keine Kränkung an, wie sie etwa bei Meyer den Kern seines Entdeckerehrgeizes ausmacht und im Leitmotiv des Stachels symbolisiert ist. Hagebucher motiviert vielmehr ein VaterSohn-Konflikt, der ihn – im Lotman’schen Sinne – zur »bewegliche[n] Figur« werden lässt (Lotmann 1989: 346). Sein Ziel ist es, der heimischen Enge zu entfliehen, »[w]eg aus den Gemüsebeeten des Vaters« (U 182), um in der Ferne die daheim
21 Auch Hansjörg Bay verweist in Anlehnung an Ute Gerhard auf Merkmale des Grotesken und Aspekte des Schelmenromans, wodurch ein »distanziertes und immer wieder ins Satirische kippendes Bild der Kilimandscharoexpedition« entstehe, »das deren rücksichtslos imperialistischen Charakter deutlich zu Tage treten lässt.« (Bay 2012: 118)
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versagte Anerkennung zu erlangen und als Held der (botanischen) Entdeckung zurückzukehren: Er stellte sich vor, wie er in der Montur eines Forschungsreisenden vor den Vater tritt und ihn darum bittet, den Kohl Kohl sein zu lassen, die Kresse aus den Beeten zu entfernen und auf Zierpflanzen umzustellen, die sein Sohn in den abgelegensten Ländern entdeckt hatte. Blumen mit Blütenkelchen und Blättern, wie sie in Erfurt noch von keinem Auge gesehen worden waren. Sämtliche Kunden stünden regungslos, mit offenem Mund, vor diesen unglaublichen Farben und Formen. Sie würden die Ware, die sie in der Gärtnerei Hagebucher erstanden, nicht weichkochen, hinabschlingen und verdauen, sondern sie bestaunen, wochenlang. (U 182)
Die Reisemotivation bildet allerdings der Reiz am noch unentdeckten Fremden, ein tradiertes Motiv des Fernwehs, das den Entdecker in die Fremde zieht. Dieses geht auf die Lektüre faktualer und fiktionaler Reisebeschreibungen zurück, die als historisch verbürgte Quellen im Text benannt werden. Neben der Sammlung merkwürdiger Reisebeschreibungen von Joachim Heinrich Campe, dessen Held François Le Vaillant zum literarischen Vorbild bzw. buchstäblich zum Vorläufer Hagebuchers avanciert (vgl. U 56, 82, 167, 178), sind es vor allem die Reise- und Entdeckerberichte aus der Zeitschrift Petermanns Mitteilungen,22 welche den jungen Hagebucher »fesselten« (U 182). Für Hagebucher lassen sie die ferne Fremde zur »imaginäre[n] Geographie« (Said 2012: 70) werden, die ihre Entdeckung verlangt, wo »neue Pflanzen« (U 182) auf ihn warten, die »noch von keines Menschen Hand berührt worden waren.« (U 183) Vor allem Artikel von Reisenden, die in Asien, Südamerika und Afrika neue Pflanzen entdeckten, nahmen ihn gefangen. Jene Gegenden, schrieb einer dieser Wagemutigen, sind so wenig bekannt, dass wir nicht wissen können, ob und was für Schätze noch der verschlossene Schoß der Erde in sich birgt. Ob Flora oder Fauna, so manches Rätsel ist hier noch zu enthüllen, und ich hoffe zuversichtlich, dass auch späterhin deutscher Fleiß und deutsche Tatkraft zur Erforschung dieser Länder beitragen mögen. Ja, er, Leonhard Hagebucher, würde die Nachfolge Chamissos, Junghuhns und Georg Schweinfurths antreten. Er wollte gehen, immer weiter gehen, an sämtliche Enden der Welt, um Blumen zu finden. (U 182)
Wird diese Passage aus der Kindheit Hagebuchers erst im letzten Drittel des Romans als Analepse präsentiert, so steht zu Beginn die Entdeckungsszene, in der sein Pflanzenfund mit erzählerischen Mitteln geradezu mythisch aufgeladen wird.
22 Vgl. hierzu die Stellen in Usambara: U 83, 99, 136, 179, 183, 194.
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Um das Zufällige, Singuläre und Schicksalshafte des Ereignisses hervorzuheben, wird das Erzählen, also das Verhältnis von Erzählzeit und erzählter Zeit, mit Mitteln der ›Dehnung‹ wie in Zeitlupe verlangsamt. Verstärkt wird dieser Eindruck zudem durch die Figur Hagebucher selbst, für die es keinen Stillstand gibt und zu deren Figurenmerkmalen Bewegung und Rastlosigkeit zählen (vgl. U 10, 22, 25, 62, 166f.).23 Entgegen der physischen Labilität der übrigen Entdeckungsteilnehmer, die der Text ausstellt und damit artikuliert, was in Reiseberichten häufig unterschlagen wird (vgl. Fabian 2001), fällt Hagebucher besonders durch seine körperliche Unerschütterlichkeit auf. »Ich bin eben ein Abenteurer, wie er im Buche steht« (U 25), heißt es an einer Stelle. In einem semantischen Gegensatz zum Stillstand der Entdeckungsszene stehen ferner die »restless legs« (U 16, 99, 162, 188) als Körpersymbol der Bewegung und der »Unruhe« (U 169), die für die Zeichnung der Figur Hagebucher zentral sind und in der Binäropposition ›Stillstand‹ vs. ›Bewegung‹ umso stärker hervortreten. Das mythische Setting der Szene arrangiert die Erzählinstanz dabei wie folgt: Nie konnte er später einen triftigen Grund dafür angeben, weshalb er gerade jene Richtung einschlug, die ihn zu einem schattigen und feuchten Plätzchen am Waldrand führte. Er wusste nicht, woher die vom ersten Moment an unerschütterliche Überzeugung kam, dass die Pflanze, die dort wuchs, noch unentdeckt war, dass sie noch kein europäisches Auge gesehen, dass sie auf ihn, Leonhard Hagebucher, gewartet hatte. Er konnte auch keine plausible Erklärung dafür finden, wieso er sich so sicher war, sicher darüber, das Seine gefunden zu haben. Fest steht, die Pflanze holte ihn augenblicklich von den Beinen, es war um ihn geschehen. (U 26)
Über die Redewendung ›von den Beinen holen‹ wird das Entdeckungsnarrativ mythisch aufgeladen und das nicht rationalisierbare Moment, das Unbegreifliche der Entdeckung ausgedrückt.24 Über das typische narrative Muster des ›Staunens‹ bzw. ›des Wunders‹ in Reiseberichten hat Stephen Greenblatt in Anlehnung an den
23 Leitmotivisch wird die Eingangspassage über Hagebucher zu Beginn des letzten Drittels des Romans wortgenau wiederholt: »Von jeher galt, dass Hagebucher seine Beine bewegen musste. Standen sie doch einmal aus zwingendem Grund still, bei Mahlzeiten oder während der Messe, dann spielte er mit seinen Füßen. […] Nur wenn es gar nicht anders ging, ließ er auch das sein. Dann wackelte er zumindest mit den Zehen.« (U 10, 166f.) Auch wird Hagebuchers körperliche Kondition als »unermüdlich[ ]« (U 22) und »unverwüstlich« (U 62) beschrieben. 24 Das Fremde wird über das Prinzip der Ähnlichkeit zunächst dem Eigenen angenähert, um es mental wie sprachlich überhaupt fassbar zu machen: »Da waren nur er und diese Pflanze, die mal einzeln, mal in kleinen Gruppen blühte und die von Ferne an die ihm vertrauten Veilchen erinnerte.« (U 27)
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Philosophen René Descartes geschrieben, dass es »die fundamentale Reaktion des Menschen auf eine ›erste Begegnung‹« darstelle (Greenblatt 1998: 35), die für einen kurzen Moment vermag, sich der Rationalisierung durch den Verstand zu entziehen.25 Allerdings ist das Moment des Verwunderns »kein dauerhafter Zustand, sondern an sich instabil, ein Schwanken, weniger ein Anzeichen als vielmehr der Motor der Bewegung.« (Ebd.: 128) Dem Verwundern folgt nämlich das Bedürfnis nach Besitzergreifung auf dem Fuße. Sie rückt jene fremden Objekte in den Mittelpunkt des Begehrens, die nun, »nachdem die ersten Augenblicke der Verblüffung verstrichen sind, angefaßt, katalogisiert, inventarisiert und beschlagnahmt werden können.« (Ebd.: 39) In Usambara ist es eine Pflanze, die den begehrenden Blick des Botanikers Hagebucher auf sich zieht: »Das Namenlose«, wie es im Text heißt, »[a]n dem noch nie Staubfäden und Stempel gezählt wurden.« (U 195) Die Entdeckungsszene des Usambara-Veilchens aktualisiert dabei einen typischen Topos von Entdeckungsreisen, in dem sich das koloniale Begehren im Drang nach Einverleibung über ein tradiertes Motiv der Fremdwahrnehmung Bahn bricht: Da sah er vor sich, was er zuvor nie erblickt hatte: den bis zu diesem Moment stets sorgfältig in Stiefeletten gepackten, den wunderbar geformten, einzigartig zierlichen, von einer samtenen, blassen, glatten Haut umspannten, den nackten Fuß seiner Freundin. Die Ferse war die Bühne, auf der die Zehen tanzten, und zwar so, dass ihm schwindlig wurde, er griff danach ins Leere, er streichelte, küsste die Luft, und auch der Name, Maria Theresia, Theresia, ja Theresiaveilchen, tanzte aus seinem Mund heraus zu der Pflanze, in deren Blüten er sich niederließ, als sei er schon immer dort zu Hause. (U 27f.)
Was der Erzähler hier beschreibt, sind die Gedanken des Großvaters Hagebucher, die sich keineswegs direkt um eine Frau drehen, wie die ersten Zeilen vermuten lassen, sondern um die Entdeckung einer Pflanze, die zum libidinösen Objekt der Begierde wird, mit weiblichen Attributen versehen und erotisch aufgeladen. Die Lust nach Entdeckung, das koloniale Begehren am Fremden, wird somit auf dem Resonanzboden des Eigenen, dem Körper der zukünftigen Braut imaginiert. Dieser Körper ist der Perspektivfigur Hagebucher bis dato allerdings ebenso unvertraut. Wie der Leser bereits weiß, wird Leonhard Hagebucher nämlich erst nach seiner Rückkehr nach Erfurt Maria Theresia Eisenstein, Tochter »einer gut situierten Erfurter Kaufmannsfamilie […] [,] vor den Traualtar der Lorenz-Kirche führen« (U 9). Wie
25 Bei Greenblatt heißt es weiter: »Das Objekt, durch das die Verwunderung ausgelöst wird, ist so neu, daß es zumindest für Augenblicke zu einem alleinigen, unsystematisierbaren und vollkommen losgelösten Gegenstand unserer verwunderten Aufmerksamkeit wird.« (Greenblatt 1998: 35)
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bei Meyer rückt auch hier der Wille, dem Fremden seinen Namen einzuschreiben, ins Zentrum, der dem Finder einen »Ehrenplatz in der Geschichte der Botanik« verspricht: »Hagebucheria, Hagebucheria, Hagebucheria, er sah das Wort in großen Lettern vor sich« (U 28). Denn nur so sei ein Ehrenplatz der Wissenschaft zu besetzen, weniger erotisch-anziehend als vielmehr rational-kühl und männlich-lateinisch, wie der Text deutlich macht. Die Entdeckungsszene aktualisiert somit einen tradierten Topos des kolonialen Diskurses: Die Inbesitznahme der Fremde avanciert zur Eroberung des Weiblichen, die Pflanze wird zum »Wunschterritorium Frau« (Theweleit 2002: 303–310), um mit Klaus Theweleit zu sprechen, das es im Forscherdrang zu entdecken bzw. der Etymologie26 nach ›aufzudecken‹, sprich zu ›entschleiern‹ gilt.27 Die Inbesitznahme des Fremden als Eroberung des Weiblichen wird somit als genuin männlicher Gewaltakt lesbar, der auf dem Körper der imaginierten Frau ausgetragen wird. Diese »Verbindung von kultureller und sexueller Alterität« (Uerlings 2006: 10), die sich in der »Überlagerung von kolonialer und sexueller Eroberung und andere Formen der geschlechtlichen Semantisierung kolonialer Phantasien« zeige (Uerlings 2012: 55), als ein typisches Merkmal kolonialer Diskurse ist seitens postkolonialer Studien bereits thematisiert worden.28 Der Roman Usambara inszeniert den tradierten Topos kolonialer Männlichkeit, die »Fremde als Frau« (Schülting 1997: 15),29 indem er ihn mithilfe von Überaffirmation und Übertreibung kritisch bloßstellt. Die erotische Zweisamkeit zwischen Subjekt (Hagebucher) und Objekt (Veilchen) wird
26 »[M]hd. endecken, ahd. intdecken. Bedeutet eigentlich ›aufdecken‹ und wird zunächst in diesem konkreten Sinn verwendet. Dann ›jmd. etwas entdecken‹ für ›mitteilen‹ und schließlich (vielleicht unter dem Einfluss von frz. découvrir) ›auffinden‹. Abstraktum: Entdeckung; Nomen agentis: Entdecker.« (Seebold 2002: 246) 27 Zur Etymologie des Verbs ›entdecken‹ und seine Bedeutung im Kontext von Kolonialismus vgl. Bendix/Danielzik (2011). 28 Vgl. dazu die Arbeiten von Schülting (1997), Weigel (2000) und Uerlings (2006) sowie exemplarisch die Diskussion um den Motivkomplex ›Pocahontas‹ bei Arno Schmidt (vgl. Kyora/Schwagmeier 2005; Theweleit 1999). Siehe dazu auch Dunker (2005c: 199f., 202). 29 Vgl. auch dazu Schülting: »Kolonisierung und die Ordnung der Geschlechter scheinen zusammenzugehören. […] Der Fremdheitserfahrung wäre damit eine spezifische Begehrensordnung eingeschrieben: Ein europäisches männliches Subjekt steht den ›fremden Welten‹ und den ›wilden Frauen‹ gegenüber, die als seine (Lust-)Objekte fungieren.« (Schülting 1997: 13) Axel Dunker hebt hervor, im kolonialen Diskurs werde »das Fremde immer wieder als die Fremde, als fremde Frau personifiziert. Die angebliche Jungfräulichkeit des fremden Territoriums, das es in Besitz zu nehmen und zu kolonisieren gilt, manifestiert sich innerhalb der Koordinaten eines Gender-Diskurses.« (Dunker 2016: 84)
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in der Szene geradezu ostentativ überzeichnet, woran die erzählerischen Mittel der zeitlichen Dehnung Anteil haben. In der Übertreibung wird das Denkmuster der Eroberung entschleiert und ironisch zur Schau gestellt. Der Roman entlarvt das Begehren am Fremden als typisch männlich-sexuelle Eroberungsphantasie und legt damit den Resonanzboden des kolonialen Imaginären bloß, also jenes Movens, das Entdecker und Kolonisten in die Fremde treibt. Das zeigt auch der folgende Gedanke, der dem Erzähler Fritz, längst dem Höhenschwindel erlegen, zum Schluss des Romans ins Bewusstseins dringt: »Es ist die Gier auf das Neue, die uns reizt. Eine Peepshow, bei der die weißen Flecken unsere Gemüter erhitzen.« (U 224f.) Anders als im Falle der als exzentrisch inszenierten Meyer-Figur, die mit ihrem historischen Vorfahren in Konflikt gerät, hat für Hamanns Hagebucher-Figur kein historisch verbürgter Akteur Modell gestanden, der ›verschoben‹ worden wäre. Dennoch werden in dieser Figur koloniale Denk-, Handlungs- und Wissensformen aufgerufen und vorgeführt, und sie ist darüber hinaus noch in ganz anderer Hinsicht als palimpsestierte Figur zu lesen. Ute Gerhard hat in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam gemacht, dass die Figurenzeichnung Hagebuchers auf Merkmale rekurriere, die sich aus literarischen Vorbildern des 19. Jahrhunderts speisen (vgl. Gerhard 2009). Die Hagebucher-Figur avanciert so zum Kreuzpunkt literarischer Prätexte, zur ›Palimpsestfigur‹, in der sich Versatzstücke ganz unterschiedlicher Protagonisten komplex überlagern. Seitens der Forschung ist dabei auf den direktesten literarischen Verwandten, der im Namen der Figur denotiert ist, eingegangen worden; gemeint ist Leonhard Hagebucher, der gleichnamige Held aus Wilhelm Raabes 1867 erschienenen Roman Abu Telfan oder Die Heimkehr vom Mondgebirge (1951). 30 In der Reiseausrüstung des Botanikers Hagebucher, der Botanisiertrommel, sieht Gerhard in Usambara zudem einen intertextuellen Verweis auf Adelbert von Chamissos Protagonisten aus Peter Schlemihls wundersame Geschichte (erst. 1814/1993), worauf auch das bereits thematisierte Motiv der restless legs hindeutet:31 Eine Botanisiertrommel hing über Hagebuchers Schulter; auf ihr grün lackiertes Blech klopfte er manchmal einen Takt. Damit trommelte er sich aufkeimende Ungeduld von der Seele und mischte sich ein in die Lieder oder das Jammern der Träger, Küstenbewohner vor allem und eine kleine Gruppe vom Stamm der Wasambara. Schon morgens zum Aufbruch ging es los und nach jeder Rast weiter. Von ihren Gesängen schnappte der unermüdliche Hagebucher
30 Vgl. dazu die Ausführungen von Beck (2011: 49–54, 77), Dunker (2012a: 160–167) und Göttsche (2013: 400). 31 Eine weitere Anleihe hat Gerhard in dem Zitat »Mir ist, als sei ich auf dem Kopf gegangen und der spielt nicht mehr mit« (U 213) erkannt, das einen intertextuellen Verweis auf Georg Büchners Lenz (erst. 1839/2002) darstelle (vgl. Gerhard 2009: 324f.).
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das eine oder andere ihn besonders ansprechende Wort auf, Magila, Usambara, um eine Reise in Gedanken anzutreten. (U 22)
Die Botanisiertrommel, im Kontext kolonialer Unternehmung eigentlich ein Ding der Vermessung, wird hier in ihrer Bedeutung infrage gestellt. Denn in Usambara wird die Botanisiertrommel ja gerade nicht als »Werkzeug des Botanisierens«, sondern »in ihrer buchstäblichen Funktion genutzt, mit ihr wird getrommelt.« (Gerhard 2009: 325f.) »Als Musikinstrument steht sie«, so Gerhard weiter, in deutlicher Opposition zu den Vermessungsinstrumenten, die von den anderen Entdeckungsreisenden benutzt werden. Insofern geht die Botanisiertrommel tatsächlich fremd, denn über das Trommeln wird zugleich eine gewisse Nähe zu den schwarzen Trägern hergestellt, in deren Gesänge sich Hagebucher einmischt. (Ebd.: 326)
Als »(post-)koloniales Ding« (Osthues 2016a) führt die Botanisiertrommel zur Irritation kolonialer Diskursmuster und ermöglicht dadurch kritische Perspektiven auf koloniale Denk-, Handlungs- und Wissensordnungen. Über das ›Fremdgehen‹ der Trommel als »Musikdose«, die von der Figur Leonhard Hagebucher »in Gang gesetzt« wird (U 24), steht die koloniale Bedeutung des Dings innerhalb der kolonialen Machtordnung zur Disposition. Es verliert bzw. wechselt temporär seine Funktion, denn die Trommel wird als Medium ästhetischer Erfahrung verwendet; und das in einer Weise, die ihr aufgrund der Materialität und Form eigen ist. Die Leistung des postkolonialen Dings ist es gerade, nicht nur koloniale Ordnungen zu irritieren und infrage zu stellen. Die Zweckentfremdung der Botanisiertrommel als Musikdose überführt auch ihre vormals koloniale Zweckmäßigkeit in einen Bereich des Ästhetischen, in eine ›ästhetische Alterität‹, die das Ding seiner Zwecklosigkeit bzw. -freiheit überlässt. Mit dieser Verfremdung wird eine ästhetische Dimension des Dings aufgerufen, die es ermöglicht, imaginäre Vorstellungsräume jenseits kolonialer Wirklichkeit zu entwerfen, in denen sich interkulturelle Begegnungen so zumindest in Gedanken und Träumen durchspielen lassen. Die kulturelle Grenze zwischen Kolonisierern und Kolonisierten, welche im kolonialen Diskurs als absolut und unüberwindbar entworfen wird, kann somit auf ästhetischer Ebene zumindest kurzzeitig überschritten werden, bevor die koloniale Wirklichkeit die Figur Hagebucher wieder einholt: »Richtig, er wurde nicht für das Trommeln bezahlt, nicht dafür, dass er Namen in seinem Mund rollen ließ. Seine Aufgabe war das Botanisieren. So stand es in dem Vertrag« (U 23). Das abweichende Verhalten Hagebuchers, sein Spielen mit/auf der Botanisiertrommel, das vom Expeditionsleiter sanktioniert wird (»Hagebucher, dafür bezahl ich Sie nicht!« [U 23]), sein Hang zur Tagträumerei und Selbstvergessenheit stehen zusammengenommen für eine soziale Devianz, die Hagebucher von Meyer und
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Purtscheller unterscheidet. Sie gibt Anlass, typisch koloniale Ordnungen gegen den Strich zu lesen. Die Devianz führt subversive Potentiale der Hagebucher-Figur zusammen: Sie ist Schelm und Underdog zugleich.32 2.1.3 Zwischenbilanz: Merkmale der komischen Überzeichnung Wie die Analyse von Christof Hamanns Roman Usambara gezeigt hat, wird das Bild vom ›kolonialen Helden‹ in der komischen Inszenierung instabil, indem es verschoben bzw. geradezu ›verrückt‹ wird und dadurch eine dekonstruktive Lektüre des kolonialen Imaginären ermöglicht. An dieser Stelle sind bereits wichtige Aspekte ästhetischer Verschiebeverfahren konturiert, die in der folgenden Figurenanalyse weiter profiliert werden. Dazu zählen insbesondere auch die Merkmale von Wahnsinn, Wahnwitz und die Rolle des Exzentrischen, wie am Beispiel der MeyerFigur bereits angedeutet. Zwischen Entdeckerehrgeiz und Größenwahn, so eine Zwischenbilanz, verläuft ein schmaler Grat, den die Figuren immer wieder überschreiten und dadurch das koloniale Begehren der historischen Akteure bloßstellen, allerdings nicht ohne diese gleichsam in ihrer Überzeichnung komisch-satirisch vorzuführen. Diese Spielart, Entdeckungsreiseberichte zu literarisieren, parodiert demzufolge koloniale Narrative der Inbesitznahme, wobei sie ihre Helden karikiert. In dieser Verrückung wird deren historische Glaubwürdigkeit gleichsam zur Disposition gestellt. Innerhalb der Forschung zu Usambara sind Aspekte des Komischen bereits in Ansätzen thematisiert worden. In Bezug auf Hamanns Roman hat etwa Hansjörg Bay geschrieben, dass der Roman Fiktives und Faktuales nicht auf zwei Zeitebenen getrennt organisiere, »sondern einen ironisch-satirischen Blick auf die koloniale Großtat der Kilimandscharobesteigung dadurch gewinnt, dass er sie durch Einführung einer fiktiven Figur von innen her in Frage stellt.« (Bay 2012: 119) Dabei werden »koloniale Muster aber auch zum Gegenstand von befreiendem Spott, Ironie und Gelächter.« (Ebd.: 130) Abschließend gilt es, in Usambara zwei Passagen in den Blick zu nehmen, die nicht über die Figurenzeichnung den historischen Prätext irritieren, d.h. auf der Eben der histoire anzusiedeln sind, sondern auf der discours-Ebene verhandelt werden und so schließlich ebenfalls zur komischen Verzeichnung der historischen Vorbilder der Kilimandscharo-Expedition beitragen. So bedient sich der Text der rhetorischen Figur des semantischen Zeugmas (zeugma: griech. f. ›Zusammengefügtes‹, ›Joch‹). Beim Zeugma handelt es sich allgemein um eine »Sonderform der Ellipse, bei der ein Satzglied auf mehrere an-
32 Auf den Aspekt des Schelmischen als ein Merkmal postkolonialer Komik wird in II.2.3 noch näher eingegangen.
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dere Satzglieder oder Wörter beziehbar ist.« (Schlösser/Schweikle 2007: 842) Mit dem semantischen Zeugma ist darüber hinaus eine »Verbindung syntaktisch gleichartiger, aber semantisch unverträglicher Glieder bezeichnet« (Krah 2006: 108), 33 die in ihrer unmittelbar inkongruenten Verknüpfung einen oftmals überraschenden und komischen Effekt erzeugen und Jörg Meibauer zufolge u.a. als »Mittel der Sprachkomik eingesetzt werden« kann (Meibauer 1997: 894; vgl. Wilpert 1989: 1049f.; Schlösser/Schweikle 2007: 842). In Usambara verschiebt der Text mit einer Variante des semantischen Zeugmas die koloniale Unternehmung plötzlich ins Komische; so etwa kurz vor der Gefangennahme der Expeditionsteilnehmer durch die Truppen Buschiris: Um sie herum verstreut lagerte die letzte Habe, ein paar Messinstrumente, ein Elefantengewehr, ein Revolver und die Botanisiertrommel, vor allem aber eine Menge gut bewaffneter Eingeborener, deren Zahl seit einer Woche stetig angewachsen war. Aller Wahrscheinlichkeit nach handelte es sich um Räuber, vielleicht sogar um Mörder. (U 32)
Der komische Effekt resultiert aus der doppelten Referenz des Verbs »lagerte«, das einerseits das Hab und Gut der Entdecker lokalisiert und dabei den Schein der Ordnung und Sicherheit suggeriert. Andererseits bezieht es sich auf die Truppen Buschiris, die den nichtsahnenden Expeditionsteilnehmern bedrohlich gegenüberstehen. Durch die Verbindung zweier semantisch inkongruenter Elemente, [Sicherheit] vs. [Bedrohung], die der Text über das Verb ›lagerte‹ aktualisiert, entsteht hier ein überraschend komischer Effekt, der den Ernst der Situation ins Lächerliche kippen lässt. Ein zweites Beispiel für dieses ästhetische Verfahren, über sprachliche Ambivalenz einen komischen Effekt zu erzielen, ist der folgende Abschnitt, in dem die Figur Oscar Baumann eingeführt wird: Ein lustiger Zeitgenosse. Vollgepumpt mit Laudanum, Arsenik und Chinin rauschte er durch den Tag, fieberte zum nächsten Häuptling. Ziehen Sie die Spieluhr auf, Hagebucher, lallte er, laden Sie das Magazingewehr. Jetzt müssen wir Theater spielen und dann das Christkind, sonst gibt’s nichts zu futtern. (U 24)
33 An dieser Stelle soll darauf verzichtet werden, das Zeugma eingehend zu erklären. Zentral erscheint, dass zwei unterschiedliche, teils gegensätzliche semantische Felder, die durch ein Verb aktualisiert werden, auf einer syntaktischen Reihe kombiniert werden. Indem es zur Aussparung eines der Verben kommt, geraten die semantischen Bereiche in einen unmittelbaren Verweisungszusammenhang, der zu Irritation mit durchaus komischen Effekten führt.
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Wird mit dem Verb »rauschte« und der Darstellung des Drogenkonsums bereits die historisch verbürgte Figur Baumann, dessen Reisebericht ebenfalls ein Prätext des Romans darstellt (Baumann 1890; vgl. Beck 2011), ironisch-komisch bloßgestellt und ihrer Zurechnungsfähigkeit enthoben, so desavouiert besonders das Verb »fieberte« ein koloniales Begehren als obsessiven Drang nach Exotik, Entdeckung und Einverleibung des Fremden. Die zwei Beispiele zeigen deutlich, dass komische Verrückungen nicht nur auf der Ebene der Figurenkonfiguration und der Konfliktstruktur stattfinden. Auch auf anderen Ebenen, wie z.B. der des discours, kommen ästhetische Verfahren zu Anwendung, welche zur Komisierung der Figuren führen und jene Helden der Kolonisierung in ein »verfremdendes Licht« (Uerlings 2012: 54) verschieben. In dieser ironisch-satirischen Überzeichnung der Figuren wird ein kolonialer Habitus der zivilisatorischen Überlegenheit buchstäblich ›verrückt‹, was eine dekonstruktive Lektüre des Textes ermöglicht.
2.2 D ER A USSTEIGER ALS EXZENTRISCHE F IGUR : C HRISTIAN K RACHTS I MPERIUM Innerhalb der Gegenwartsliteratur bilden Figurationen des Ausstiegs einen wichtigen Motivkomplex. Eine Reihe von Romanen, wozu auch Christof Hamanns Usambara, Thomas von Steinaeckers Schutzgebiet und Christian Krachts Imperium zählen,34 inszeniert ihre Protagonisten als Aussteiger, die es in die fremde Ferne zieht, weil das Leben daheim für sie keine Zukunft bereitstellt. Die Motivation bzw. der Auslöser, der Heimat den Rücken zu kehren, sind indes verschieden. Die Figur des ›kolonialen Aussteigers‹, so lautet eine These des folgenden Abschnittes, ist innerhalb der Texte eine wichtige Kategorie, über die eine dekonstruktive Lesart des kolonialen Imaginären möglich wird. Neben dem Motiv des Scheiterns, auf das koloniale Ausstiegsprojekte meist hinauslaufen, sind es insbesondere Merkmale eines komischen Erzählens, mit denen die Texte typisch koloniale Diskursmuster irritieren. Nachfolgend soll es zunächst um theoretische Überlegungen zur literarischen Figur des Aussteigers gehen, die, wie noch zu zeigen sein wird, in der Literaturwissenschaft eine Kategorie darstellt, die bislang wenig Beachtung gefunden hat. Bemerkenswert erscheint dieser Befund umso mehr angesichts der derzeitigen Kon-
34 Ein weiterer Text im Kontext kolonialer Thematik, in dem Aussteigerfiguren vorkommen, ist Felicitas Hoppes Porträtsammlung Verbrecher und Versager (2004). Nicht unerwähnt soll in diesem Zusammenhang auch Uwe Timms früher Roman Morenga (1978) bleiben, in dem Formen des Ausstiegs sowie ihr Scheitern durchgespielt werden.
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junktur von Aussteigerfiguren innerhalb der Gegenwartsliteratur. 35 Am Beispiel von Krachts Roman Imperium, der einen Aussteiger ins Zentrum rückt, gilt es im Anschluss Figurenmerkmale des ›Exzentrischen‹ zu fokussieren, die typische Muster des kolonialen Begehrens in ein kritisch-ironisches Licht rücken. 2.2.1 Zwischen Eskapismus, Exotismus und (Post-)Kolonialismus: Zur literarischen Kategorie des kolonialen Aussteigers Der Aussteiger wird hier deshalb als eine wichtige literarische (Denk-)Figur betrachtet, weil ihm grundsätzlich das Potential inhärent zu sein scheint, starre Ordnungen infrage zu stellen und normative Grenzziehungen zu irritieren, zu verschieben und zu überschreiten. Diese Figur bleibt innerhalb der Texte allerdings ambivalent: Stellt der ›Traum vom Ausstieg‹ als radikaler Bruch mit der eigenen Kultur einerseits die Frage, welch kulturkritisches Potential dieser Grenzüberschreitung zukommt, so zeigt sich andererseits, dass seine Motivationen den Aussteigenden umso empfänglicher machen für ein typisch koloniales Begehren, ein Fernweh, das den fremden Raum zur exotistischen Utopie verklärt und als Projektionsfläche kolonialer Siedlungs- und Bemächtigungsphantasien vereinnahmt. Ein typisches Konzept bildet das vom ›leeren Raum‹,36 das dem der ›heimatlichen Enge‹ antithetisch gegenübersteht. Insbesondere Letzteres avanciert nicht selten zur Triebfeder, einer Lust, der Heimat den Rücken zu kehren in Richtung eines unbestimmten Außen, das bis zu diesem Zeitpunkt lediglich imaginär bereist worden ist. Es mag dabei nicht verwundern, dass gerade Positionen der europäischen Kultur- und Modernekritik, wie etwa der Topos ›Selbstentfremdung‹ zeigt, paradoxerweise den Aussteiger für koloniale Projekte zu affizieren scheinen. Exotismus und Eskapismus, Anziehungskraft (der fernen Fremde) und Flucht (aus der heimischen Enge) sind die treibenden Kräfte hinter dieser Reiselust, die um 1900 an Bedeutung gewann: Die Kolonien erschienen als Gegenwelt zur Metropole, als Alternative und Zufluchtsraum für zivilisationsmüde Europäer. Solche Vorstellungen von Afrika als einer von den Zwängen der
35 Romane wie Walter Kappachers Selina oder Das andere Leben (2005), Felicitas Hoppes Der beste Platz der Welt (2009), Christian Krachts Imperium (2012), Uwe Timms Vogelweide (2013), Daniel Kehlmanns F (2013) oder der mit dem deutschen Buchpreis prämierte Debüt-Roman Kruso (2014) von Lutz Seiler setzen sich in ganz unterschiedlicher Art und Weise mit Figurationen des Ausstiegs auseinander. 36 Vgl. zur Bedeutung des Konzepts vom ›leeren Raum‹ für das koloniale Begehren nach Entdeckung und Inbesitznahme sowie zur Legitimation von Kolonialisierung Honold (1999: 150f., 154) und Bay (2012: 111f.).
132 | L ITERATUR ALS P ALIMPSEST westlichen Zivilisation befreiten Zone einer von den Verwertungszwängen des Kapitalismus unberührten Wildnis resultieren aus eskapistischen Stimmungen, jenem um 1900 weit verbreiteten Unbehagen an der Moderne. (Zeller 2010a: 36)
Carlos Rincón schreibt über den Imperialismus/Kolonialismus, dass dieser allgemein ein »kompensatorisches Exotismusprojekt« abgelöst habe, das in der Romantik eine starke Faszination ausübte, allerdings meist dem Horizont des Imaginären verhaftet blieb. »Die eskapistische Sehnsucht des Ichs, der einengenden Wirklichkeit der Moderne an geheimnisvoll-fremde Orte und in ferne Zeiten zu entfliehen« (Rincón 2010: 338), erfährt im Kolonialismus die Chance, in die Tat umgsetzt zu werden. Dem ›Exotismus‹37 liege Rincón zufolge ein »eurozentristische[r] Blick« zugrunde, der für die »Konstruktion der räumlichen Achse des Exotischen zwischen dem Hier und dem Dort« (ebd.: 343) verantwortlich sei. In Anlehnung an Rincón verweist Dirk Göttsche auf die kulturelle Tradition eines »kritischen Exotismus«, welche die »Funktion kontrastiver Kultur- und Gesellschaftskritik« habe, »indem der Herkunftswelt in der umgekehrten Perspektive eines inszenierten Blickes von außen kritisch eine imaginäre oder modellhaft-reale fremde Welt entgegengestellt wird.« (2003a: 167) Allerdings bleibt eine solcher Blick in Gesten der Usurpation befangen, da er das Fremde als Spiegel der Selbstkritik projektiv vereinnahmt. Der Zusammenhang von Kolonialismus und Eskapismus hat aus historischer Perspektive auch eine sozioökonomische Dimension, auf die der Historiker HansUlrich Wehler hingewiesen hat. Der »um sich greifende Kolonialenthusiasmus« Ende des 19. Jahrhunderts sei demnach eine logische Konsequenz, insofern die »anhaltende[ ] Misere im Inneren« in ein ökonomisches Außen verlagert worden sei. Die Kolonialbegeisterung lasse sich folglich als »spezifische Krisenideologie
37 Die vorliegende Verwendung des Exotismus-Begriffs orientiert sich an der diskurstheoretischen Definition, wie sie von Rolf Parr in Bezug auf exotistische Fernreisen vorgeschlagen wurde: »Eine Minimaldefinition wird ›Exotismus‹ als einen Diskurs kennzeichnen, für den das ›Exotisch-Fremde‹ als Projektionsfläche eigener Vorstellungen, Wünsche und Phantasien fungiert. Konstitutiv dabei ist eine raum/zeitliche Achse des ›früher/jetzt‹ bzw. ›dort/hier‹, die sich paradigmatisch schnell um solche Binarismen wie ›wild/zivilisiert‹, ›gut/schlecht‹ und ›weiblich/männlich‹ erweitert. Exotistische Diskurse sind dann immer auch Zeitreisen, genauer: synchrone Übergänge zwischen kulturellen Diachronien, die zwar als ungleichzeitig und gegeneinander verschoben, aber dennoch als einem linearen Kontinuum zugehörig imaginiert werden. Im (Rück-)Blick von den als ›fortgeschrittener‹ verstandenen Orten aus findet die exotistische Idee der ›Ursprünge‹ dann ihre vermeintlich reale Entsprechung. Häufig benutzte Analogie ist in diesem Zusammenhang das Bild der aufeinander folgenden Lebensaltersstufen.« (Parr 1995: 22)
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begreifen«, die den kolonialen Bestrebungen der Politik seinerzeit in die Hände spielte. Demzufolge »wirkte der ›Kolonialrausch‹ sozialpsychologisch als eine Form des Eskapismus vor den sozialökonomischen und politischen Problemen der Depressionszeit und der einschneidenden Transformation zur Industriegesellschaft.« (Wehler 1979: 275f.; vgl. Holdenried 2011: 132) Aussteigen im Zeitalter des Kolonialismus entpuppt sich Ende des 19. Jahrhunderts demnach weniger als kulturkritisches denn vielmehr als koloniales Unterfangen. Das widerständig-subversive Potential, das dem Aussteiger eigen scheint, wendet sich – so gelesen – nicht gegen die eigene kulturelle Ordnung, sondern stellt sich vielmehr in den Dienst des kolonialen Projekts: Der ›koloniale Aussteiger‹ steigt folglich nicht wirklich ›aus‹, sondern in gewisser Weise ›ein‹, denn ob er will oder nicht, auf Seiten der Kolonisierer droht er stets zum Wegbereiter und Erfüllungsgehilfen kolonialer Projekte zu avancieren.38 In diesem Licht wird der ›Traum vom Ausstieg aus der eigenen Kultur‹ zur Illusion, die dem Kolonialismus Vorschub leistet. Als literarische Figur verfügt der Aussteiger über jene Fähigkeit, die Jurij Lotman für narrative – er nennt es »sujethaltige« – Texte als konstitutiv erachtet. Gemeint ist das Vermögen des Helden, räumliche Grenzen zu überschreiten und damit auch normative zu überwinden, die mit den semantischen Raumordnungen verbunden sind: »[D]ie bewegliche Figur unterscheidet sich von den unbeweglichen dadurch, daß ihr bestimmte Handlungen erlaubt werden, die für die anderen verboten sind.« (1989: 346) Der Aussteiger als Figur der Grenzüberschreitung provoziert folglich ein »Ereignis«, 39 über das Lotman weiter schreibt, es stelle die »Überwindung jener Verbotsgrenze« (ebd.: 338) dar, die anderen Figuren mit »Raumbindung« (Krah 2006: 299) dagegen untersagt bleibt. Die Abkehr von der alten Ordnung macht den Aussteiger zur ›beweglichen Figur‹.40 An anderer Stelle verbindet Lotman das Ereignis räumlicher Grenzverletzung explizit mit der »Abweichung von der Norm« (Lotman 1989: 333), indem er das Ereignis nicht nur als »revolutionäres Element« einstuft, »das sich der geltenden Klassifizierung widersetzt.« (Ebd.: 334) Ein Ereignis verweise auch auf eine deviante Handlung, die auf einen Bruch mit dem »sozialen Milieu« (ebd.: 338) hindeutet: »Ein Ereignis ist
38 Auf dieses Paradox hat in anderer Weise Hansjörg Bay strukturanalog für die Figur des Entdeckungsreisenden aufmerksam gemacht: »Denn ob ihre Protagonisten dies wollten oder nicht: ›Entdeckungsreisen‹ sind zugleich Vorbereitung und Beginn der kolonialen Durchdringung und insofern immer schon koloniale Projekte.« (Bay 2012: 108) 39 Ein Ereignis bestimmt Lotman wie folgt: »Ein Ereignis im Text ist die Versetzung einer Figur über die Grenze eines semantischen Feldes.« (Lotman 1989: 332) 40 »Eine bewegliche Figur ist eine, die das Recht hat, die Grenze zu überschreiten.« (Lotman 1989: 338)
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somit immer die Verletzung irgendeines Verbotes, ein Faktum, das stattgefunden hat, obwohl es nicht hätte stattfinden sollen.« (Ebd.: 336) Wenn der Ausstieg in seiner Konsequenz beim Wort genommen wird, so ist die Bewegungsrichtung eskapistischen Reisens allerdings irreversibel, ist diese als Grenzüberschreitung doch nicht umkehrbar. Anders als bei Lotman hat der Aussteiger also nicht die Option, etwa in den Ausgangsraum zurückzukehren.41 Der Ausstieg in seiner ›radikalen‹ Form, der etym. die Herkunft, die kulturellen Wurzeln (lat. radix: ›Wurzel‹, ›Ursprung‹) zur Disposition stellt, gleicht foglich einer Reise ohne Rückfahrschein. Sie besitzt nur eine Richtung, die nur ein »Aufgehen im Gegenraum« (Krah 2006: 314; vgl. Renner 2004: 373) oder aber ihr Scheitern daran bedeuten kann. In einschlägigen Fachlexika der Literatur- und Kulturwissenschaft sucht man dabei das Lemma ›Aussteiger‹ oder ›Ausstieg‹ vergebens.42 Wenn der Aussteiger in allgemeinen Lexika thematisiert wird, greifen Versuche seiner Definition oftmals historisch zu kurz, indem etwa der Fokus auf den Horizont des 20. Jahrhunderts begrenzt bleibt.43 Eines der wenigen Beispiele jedoch, dessen Definition sich auf den
41 Für Lotman sind grundsätzlich zwei Bewegungen möglich: Wenn es der Held schafft, »zum Stillstand [zu] kommen, so muß er in diesem Gegenfeld aufgehen und sich aus einer beweglichen Figur in eine unbewegliche Figur verwandeln. Anderenfalls ist das Sujet nicht abgeschlossen, und die Bewegung geht weiter.« (Lotman 1989: 342) Dem Aufgehen im Gegenraum steht dabei ausschließlich die Möglichkeit der Rückkehr in den Ausgangsraum gegenüber (vgl. ebd.: 343; Hamann 2010c: 230). 42 Eine Ausnahme bildet die von Andreas Fischer publizierte Masterarbeit Wider das System. Der gesellschaftliche Aussteiger in Genazinos Ein Regenschirm für diesen Tag und literarische Verwandte bei Kleist und Kafka (2012). Ungeachtet dessen fehlt die Figur nicht nur in einschlägigen kultursoziologischen Veröffentlichungen der vergangenen Jahre, welche deviante Sozialfiguren als Grenzverletzer oder subversive Gestalten, wie etwa Hacker, Schmuggler oder Spione, in den Blick nehmen (Moebius/Schroer 2010; Horn/Kaufmann/Bröckling 2012). Außerdem weist die umfassende, fünfbändige Reihe Kulturfiguren und Sozialcharaktere des 19. und 20. Jahrhunderts von Gerd Stein aus den 1980er Jahren keinen Beitrag aus (Stein 1982; 1985). 43 So etwa im Lexikon Brockhaus, wo es zum ›Aussteiger‹ heißt: »[S]eit den 1970er-Jahren gebräuchl. Schlagwort für Personen oder Gruppen, die sich zu einer von den allg. Normen und Verhaltenserwartungen grundsätzlich abweichenden Lebensweise entschlossen haben. […] Bestimmend ist in vielen Fällen die Ablehnung der Gesellschaft, ihrer Anforderungen und Grundanschauungen, speziell von Gewinnstreben und Karrieredenken, Leistungsdruck, Konformitäts- und Konsumzwang, Natur- und Menschenfeindlichkeit. – Als erste A. nach dem Zweiten Weltkrieg können die Vertreter der Beatgeneration in den
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Zusammenhang von Exotismus, Eskapismus und Fernreisen übertragen lässt, liefert ein Eintrag im Lexikon zur Tourismussoziologie (Bachleitner/Kiefl 2005: 34), das darüber hinaus auch Lemmata zu ›Eskapismus‹ (ebd.: 55) und ›Zivilisationsflucht‹ (ebd.:194) führt. Der Aussteiger wird dabei im Kontext soziokultureller Praktiken des Reisens betrachtet: Aussteiger. Urspr. alltagssprachliche Bezeichnung, mittlerweile innerhalb von Tourismustypologien verwendete Bezeichnung für eine Personengruppe, die ihre angestammte Kultur (freiwillig) für einen längeren, häufig unbestimmten/nicht festgelegten Zeitraum verlässt. Die insgesamt gesetzten Handlungen von Aussteigern können nur in Abgrenzung zu einer vorhandenen Norm als ›Ausstieg‹ bezeichnet werden. (Ebd.: 34)
Der Definition zufolge scheint für den Aussteiger die intrinsische Motivation zur freiwilligen Abwendung von der Norm ein Charakteristikum zu sein. Sie führt auch dazu, dass die räumliche Abkehr als Devianz, d.h. als Verletzung und Überschreitung soziokultureller, normativer Grenzziehungen, aufgefasst wird. Sind damit einerseits wichtige Aspekte von Aussteigertum benannt, so verdeckt dieser Versuch einer soziologischen Bestimmung jedoch ganz entscheidend das Imaginäre bei diesen eskapistischen Flucht- und Reisebewegungen. Der Topos vom Traum, aus der eigenen Kultur auszusteigen, gibt folglich Anlass zur Überlegung, aus welchen Phantasmen, Bildern und Projektionen sich dieses Verlangen speist. Gerade die räumliche Perspektive, die Heimat und Fremde in ein Verhältnis setzt, gewinnt hier an Brisanz. Dabei zeigt sich, dass diese Suche nach alternativen Lebensentwürfen ihr konstitutives Moment in einer ›intra-kulturellen Differenz‹ hat, über die sich ein Unbehagen an der eigenen Kultur artikuliert. Tradierte Topoi wie ›Selbstentfremdung‹, ›Europa-‹ oder ›Zivilisationsmüdigkeit‹ bilden häufig den Treibsatz einer Bewegung, um sich von einer als entfremdet empfundenen Wirklichkeit zurückzuziehen bzw. abzuwenden in ein unbestimmtes, äußeres Anderes. Im Begriff der ›Weltflucht‹ wird diese räumlich-semantische Dimension augenscheinlich. Allerdings ist diesem utopischen Projekt, wie die Literatur vorführt, bereits sein Scheitern eingeschrieben. Ist der Aussteiger einerseits als eine krisenhafte Figur, eine Figur der Kultur- bzw. Zivilisationskrise zu betrachten, der ein grenzüberschreitendes Potential eigen scheint, so muss der Aussteiger doch meist an der Illusion, der eigenen Zivilisation zu entkommen, scheitern. Mit der projektiven Faszination an der räumlichen Fremde ist der Ausstieg im Kontext von Eskapismus und Kolonialismus mit problematischen Strategien der Fremdkonstruktion verknüpft: Avanciert der fremde Raum zum Fluchtpunkt und
USA angesehen werden, in den 1960er Jahren die Hippies und weitere Formen jugendl. Subkultur und Protestbewegung.« (Zwahr 2006: 772)
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Sehnsuchtstopos, der dem Subjekt einen alternativen Lebensentwurf in Aussicht stellt, so läuft diese »imaginäre Geographie« (Said 2012: 70) Gefahr, den fremden Raum als Projektionsfläche tradierter exotistischer Stereotype zu vereinnahmen – und damit den Fremden gleich mit. Hinrich Fink-Eitel hat in seiner Beschreibung einer »projektive[n] Ethnologie« darauf hingewiesen, dass in der abendländischen Philosophie etwa das Bild vom ›edlen Wilde‹ als »eine exterritoriale Chiffre [erscheine] für die kritische Reflexion auf die eigene Kultur und für deren sehnsüchtigen Wunsch nach ihrer Veränderung selbst.« (Fink-Eitel 1994: 151)44 In der Vorstellung vom Fremden komme demnach eine »idealisierende[ ] Tendenz« zum Ausdruck: »Motiviert ist diese Tendenz durch ein Leiden an der eigenen Kultur, die in dem Maße abgewertet wird, in dem die fremde spiegelbildlich eine Aufwertung erfährt.« (Ebd.: 106) Folglich ist es projektiv […] das Ungenügen an der eigenen Gesellschaft, deren beklagenswerter Zustand […], welches die exotische Ferne zum Sehnsuchtsort, zum Paradies und locus amoenus werden ließ, und nicht der Wunsch, dort dem anderen zu begegnen. (Holdenried 1995: 39)
Die Leistung der Aussteiger-Figur als literarische Kategorie liegt aus postkolonialer Perspektive in der Radikalität ihrer Grenzüberschreitung – und in ihrer Ambivalenz, die eine kritische Diskussion projektiver Mechanismen der Kulturkritik zulässt. Ihr fundamentaler Bruch mit der eigenen Kultur lässt zwar einen kulturkritischen Blick auf das Eigene zu, ihr Blick auf das Fremde nimmt allerdings unweigerlich die koloniale Perspektive ein. Der Versuch des kolonialen Aussteigers, der eigenen Kultur verlustig zu gehen, hat somit typische Muster der Fremdkonstruktion zur Folge, die sich in einem exotistischen Begehren nach der räumlichen Fremde Bahn brechen. Postkoloniale Gegenwartsromane, die Aussteigerfiguren inszenieren, legen daher deren koloniale Raumphantasien bloß, die im Foucault’schen Sinne ›Utopien‹ repräsentieren. Diese sind – im Gegenteil zum Konzept der ›Heterotopie‹ – »Platzierungen ohne wirklichen Ort« (Foucault 1990: 38) und können in »umgekehrter Analogie« zu den gesellschaftlichen Verhältnissen stehen: Utopien folgen dem Wunsch der »Perfektionierung der Gesellschaft oder Kehrseite der Gesellschaft: jedenfalls sind die Utopien wesentlich unwirkliche Räume.« (Ebd.) Der Roman Imperium ist für die Analyse von Aussteiger-Figuren besonders interessant, weil er seine Aussteigerfiguren nicht nur radikaler und ambivalenter entwirft als andere Texte, sondern weil ihm das Thema Ausstieg im Spannungsfeld
44 »Der Edle Wilde war idealisiertes Fluchtziel und Ebenbild dessen, was man gerne wäre, aber nicht war oder sein konnte. So hielt er dem, was man tatsächlich war, einen Spiegel vor. Man mußte nur die Richtung der Fluchtbewegung umkehren und von ihm her auf sich selbst zurückschauen.« (Fink-Eitel 1994: 151)
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von Eskapismus, Exotismus und Kolonialismus zentral ist. Auch dabei spielen wieder Verfahren der komischen Inszenierung bzw. Verrückung der Figuren eine wichtige Rolle, die eine dekonstruktive Lektüre ermöglichen. Hier ist die Verschiebung ins Exzentrische sowohl als eine räumliche Bewegung zu begreifen als auch zugleich als Verrückung in eine psychopathologische Disposition, wie sie in Ansätzen bereits bei der Meyer-Figur in Hamanns Usambara festgestellt wurde (II.2.1.1). Jene Verfahren der komischen Verschiebung, die den Weg ins Exzentrische bahnen, sind Gegenstand der folgenden Analyse. 2.2.2 Kolonialismus als Groteske: Das eskapistische Südseeprojekt des August Engelhardt Ein geradezu exemplarischer Aussteigerroman45 ist Imperium von Christian Kracht nicht nur, weil er unterschiedliche Modi des Aussteigens durchspielt, sondern darüber hinaus verschiedene Aussteiger-Diskurse des 19. Jahrhunderts archiviert und in sein »differentielles Spiel mit dem kolonialen Imaginären und seinen Dichotomien« einbindet (Uerlings 2012: 53).46 Der Roman literarisiert die Geschichte der historisch verbürgten Figur August Engelhardt.47 Diesen treibt es Anfang des 20. Jahrhunderts in die ›deutsche Südsee‹, um »die geistige Enge der Heimat [zu] durchbrechen« (Imp 116) und den
45 Mit dieser gattungstypologischen Zuschreibung wird der Roman häufig in der Literaturkritik umschrieben. Allerdings existiert dieser Begriff innerhalb der Literaturwissenschaft in der Weise nicht. Dies mag damit zusammenhängen, wie bereits festgestellt, dass dem Aussteiger als literarische Kategorie bislang wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde. 46 Auf eine historische Darstellung dieser Diskurse soll hier verzichtet werden, zumal die kulturwissenschaftliche Forschung hier, wie bereits angeführt, einen Defizit in der Aufarbeitung des Themas hat. Vgl. in diesem Zusammenhang die Überlegungen zur ›Ästhetik der Moderne‹ um 1900 von Thomas Anz (2012). 47 Die Geschichte der historischen Person August Engelhardts ist bislang noch nicht zufriedenstellend aufgearbeitet worden, zumal sich einige Arbeiten nahezu ausschließlich, insbesondere unkritisch an den historiographischen Beiträgen Dieter Kleins orientieren, der nicht minder wertfrei die Südsee-Eskapade Engelhardts zur Darstellung bringt. Detaillierter liefert Thomas Schwarz über die Aufarbeitung historischer Dokumente um 1900 ein Bild über Engelhardts Südseeprojekt auf Kabakon (Schwarz 2014), das er über Aussagen von Rückkehrern, die in deutschen Zeitschriften publizierten, rekonstruiert. Darüber hinaus hat die englischsprachige Monographie Sven Mönters (2008) innerhalb der Forschungsarbeiten zu Imperium bisher noch keine Beachtung gefunden. Folgende Arbeit sollen für einen Überblick über die historische Forschung genannt werden: Hiery (1995), Klein (1997; 2001), Mönter (2008), Mückler (2012) und Wendt (2013).
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Zwängen des wilhelminischen Kaiserreichs zu entfliehen, das wenig Platz hat für Andersdenkende und Träumer, die alternativen Lebensentwürfen nacheifern. Doch es ist nicht nur die Enttäuschung über die deutsche Kultur, sondern über die gesamte zivilisierte Welt, »die ihm feindlich, dumm und grausam dünkte« (Imp 19). »Er würde Pflanzer werden«, so lässt der heterodiegetische Erzähler den Leser gleich zu Beginn des Romans wissen, »doch nicht aus Profitgier, sondern aus zutiefst empfundenem Glauben, er könne Kraft seiner großen Ideen die Welt […] für immer verändern.« (Ebd.) Erst im vierten Kapitel, das in Form einer internen, partiellen Analepse 48 die Vorgeschichte in Deutschland erzählt, gibt die Erzählinstanz die Beweggründe preis, die Engelhardt in die Ferne ziehen lassen, um – in typischer Kolonialgeste – »am anderen Ende der Welt ein neues Deutschland zu erschaffen.« (Imp 82)49 Eine Reihe von persönlichen Enttäuschungen, Erfahrungen gesellschaftlicher Ächtung sowie körperliche Repressalien, die er durch die preußischen Justiz erdulden muss, führen ihn mehr und mehr zu dem Punkt, an dem er nur noch einen Ausweg sieht, nämlich »für immer und alle Zeiten in die Deutschen Überseegebiete im Stillen Ozean zu reisen« und »[n]iemals zurückkehren, nimmermehr.« (Imp 84). Am Schluss der Rückblende steht ein Plädoyer, das den Bruch mit der heimischen Ordnung ausdrückt: Und sein Entschluß steht fest: dieser vergifteten, vulgären, grausamen, vergnügungssüchtigen, von innen heraus verfaulenden Gesellschaft, die lediglich damit beschäftigt ist, nutzlose Dinge anzuhäufen, Tiere zu schlachten und des Menschen Seele zu zerstören, adieu zu sagen, für immer, das wird er tun. (Imp 91f.)
Ziel seiner Reise ist Kabakon, ein kleines Eiland im Kolonialgebiet DeutschNeuguinea gelegen. Dort findet Engelhardt den geeigneten Ort, um seine Vision einer alternativen Lebensweise in die Tat umzusetzen. Deutlich wird allerdings, wie sehr doch selbst der Traum vom Ausstieg, der Wunsch also, der eigenen Zivilisation zu entkommen, auf dem Boden eines kolonialen Imaginären entsteht. Wird der fremde Raum einerseits zum Fluchtpunkt und Sehnsuchtsort, der als semantischer Gegenraum zur Heimat dem Aussteiger ex negativo einen alternativen Lebensentwurf in Aussicht stellt, so zeigt diese imaginäre Geographie andererseits, wie sehr der Entwurf doch Gefahr läuft, diesen Raum als Projektionsfläche tradierter exotistischer Stereotype zu vereinnahmen. So rekurriert auch Engelhardts eskapistisches »Experiment in den Südseekolonien« (Imp 116) auf ein typisch exotistisches Be-
48 Über die Funktion von Analepsen in Imperium vgl. auch Birgfeld (2012: 460f.). 49 Vgl. hierzu den Titel der Arbeit des Historikers Horst Gründers »»...da und dort ein junges Deutschland gründen«. Rassismus, Kolonien und kolonialer Gedanke vom 16. bis zum 20. Jahrhundert« (1999).
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gehren, das sich in kolonialen Siedlungs- und Bemächtigungsphantasien Bahn bricht. Engelhardts ›Platz an der Sonne‹ (Bülow) ist somit der Entwurf einer antimodernen Utopie, ein »Neuanfang […], unter Palmen, fernab der siechen Maschinerie einer sich immer schneller beschleunigenden, sinnentleerten Gesellschaft« (Imp 116), die dabei in ihrem Wesen nicht weniger kolonialistisch ist. Mit dem ersten Mitstreiter Heinrich Aueckens diskutiert Engelhardt etwa »über die politische und ethische Widersinnigkeit der Deutschen Regierung, vor ein paar Jahren das ostafrikanische Wituland, dazu die Inseln Sansibar, Lamu und Pemba gegen Helgoland abgetreten zu haben« (Imp 117). Auch Engelhardts »sehnlichster Wunsch, ja seine Bestimmung war es, eine Kolonie der Kokovoren zu erschaffen, als Prophet sah er sich und als Missionar zugleich.« (Imp 20) Auch in diesem Roman verwischt zunehmend die Grenze zwischen Weltflucht und (Größen)Wahnsinn. Umso deutlicher tritt der totalitäre Kern von Engelhardts Überzeugung hervor, wenn z.B. von der »wirksame[n] Verbreitung seiner überwältigenden Idee« (Imp 166) oder der »heiligen Pflicht« die Rede ist, »den Erdenball mit Kokos-Kolonien zu umringen« (Imp 80). Dreh- und Angelpunkt seiner »großen Idee« (Imp 19) bildet die Heils- und Reinheitslehre vom ›Kokovorismus‹, eine von der Lebensreformbewegung des 19. Jahrhunderts inspirierte Doktrin, die sich am Vegetarismus, Fruktivorismus und Nudismus orientiert und dabei die Kokosnuss (cocos nucifera) in den Mittelpunkt des Daseins rückt: Denn »die Kokosnuß war vollkommen. Wer sich ausschließlich von ihr ernährte, würde gottgleich, würde unsterblich werden.« (Imp 20) Engelhardts Motivation ist eine vorgeblich kulturkritische, die tradierte Topoi der ›Selbstentfremdung‹ oder ›Zivilisationsmüdigkeit‹ aufruft.50 Diese spiegeln sich in der binär strukturierten Raumsemantik des Romans wider: Die Heimat (Deutschland) wird hier als ungesund und krank-machend negativ semantisiert und der fernen Fremde (Südsee) gegenübergestellt. Aus Sicht des Aussteigers ist die räumliche Fremde topologisch mit einem Heilsversprechen verknüpft. 51 Engelhardts Utopie folgt dabei eine Reihe von Nacheiferern, wie der Text unter anderem am Beispiel
50 Vgl. außerdem: »Engelhardt ist kein politisch interessierter Mensch, die großen Umwälzungen, die das Deutsche Reich in diesen Monaten durchmißt, lassen ihn völlig kalt. Zu weit entfernt schon hat er sich von der Gesellschaft und ihren kapriziösen Launen und politischen Moden. Nicht er ist der Weltfremde, sondern die Welt ist ihm fremd geworden.« (Imp 78) 51 »[A]ndererseits sei dies eben der Preis, den man hier [gemeint ist die Südsee; J.O.] zu zahlen habe. Im Fränkischen gebe es wenige Krankheiten, deren Verlauf so entsetzliche Auswirkungen zeitigte, dafür müsse man aber dort unter einer Durchseuchung des Geistes leiden, einer inneren, unheilbaren Morschheit, deren zersetzende Kraft wie ein Krebsgeschwür durch die Seele zu fressen vermochte.« (Imp 70)
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des Klaviervirtuosen Max Lützows ironisch vorführt, der »ausgebrannt«, »erledigt« und »zivilisationsmüde« (Imp 148) die Insel Kabakon in dem Glauben erreicht, er werde dort von »jeglicher Zivilisationskrankheit geheilt« (Imp 161). Der Ausstieg in die Fremde, so resümiert Lützow zum Schluss des Romans, habe ihm »einen Weg heraus […] aus der betäubenden Misere der modernen Existenz« (Imp 186) gezeigt, wenngleich er selbst die Rückkehr antritt. Allerdings weicht Engelhardts missionarischer Eifer im Laufe der Erzählung allmählich einer Ernüchterung. Er erkennt, dass die Südsee zwar eine Vielzahl von Aussteiger anlockt, die sich allerdings weniger als Gleichgesinnte denn vielmehr als Betrüger, Hochstapler und gnadenlose Kapitalisten herausstellen, deren »Scharlatanerie« (Imp 142) er stellenweise selbst auf den Leim geht. Bereits während der Überfahrt, also gleich zu Beginn des Romans, wird Engelhardts Illusion zum ersten Mal an der Wirklichkeit gebrochen. Resigniert muss er feststellen, dass seine Reisebegleiter nicht nur jenem Stereotyp vom Deutschen entsprechen, das ihm vertraut ist und von dem er sich abzuwenden versucht, sondern dass die deutschen Kolonialisten diese Vorstellung bei Weitem noch übertreffen. In Engelhardts Wahrnehmung erscheint nicht nur das idealtypische Bild vom Kolonisierer derangiert. Zugleich werden jene Koordinaten auf eigentümliche Weise invertiert, die im kolonialen Diskurs das asymmetrische Verhältnis zwischen Eigenem und Fremdem strukturieren: Und während er die feuchte Tropenluft ein- und wieder ausatmete, […] bemächtigte sich seiner endlich eine tiefe, tiefe Einsamkeit, weit unergründlicher, als er sie jemals im heimischen Frankenland verspürt hatte. Er war hier unter schrecklichen Menschen gelandet, unter lieblosen, rohen Barbaren. (Imp 27)
Andere »Adepten« im »Sonnenorden« (Imp 166), die sich für kurze Zeit seinem Projekt anschließen, fügen sich nicht seiner radikalen Lehre, die weder Reformen noch Kompromisse zulässt. Bildet folglich die menschliche Enttäuschung einen Grund für Engelhardts Vereinzelung, so ist seine soziale Situation zum anderen einer psychischen Veränderung geschuldet, einer »sich langsam anbahnende[n] Seelenstörung« (Imp 136), wie der Erzähler kommentiert, die durch die einseitige, ja ausschließliche Nahrungsaufnahme der Kokosnuss eintritt. Diese Entwicklung lässt die Figur immer mehr ins Exzentrische kippen. Engelhardts Gedanken nehmen zunehmend pathologische Züge an. Am Ende heißt es, er leide nicht nur unter einem »schwerwiegenden Verfolgungswahn« (Imp 191, vgl. 208f.), er glaubt sogar den Grund für »die ganze Misere des Scheiterns seiner begnadeten Utopie« (Imp 225) zu kennen: »ein zionistisches Komplott, das da fabriziert worden sei« (Ebd.). Neben der Entwicklung zum Antisemiten ist es noch eine zweite Veränderung, die ihn als ›verrückte Figur‹ markiert: Als Engelhardt schließlich einsieht, dass er sich »un-
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ter unglücklichen Kannibalen« befinde, »die sich fortentwickelt hätten, weg von ihrem natürlichen, gottgegebenen Instinkt, den ihnen die Missionare mit ihrem Gequatsche ausgeredet hätten« (Imp 221), schlägt sein Vegetarismus in SelbstKannibalismus um. »[D]abei sei alles so denkbar einfach«, folgert Engelhardt, nicht die Kokosnuß sei die eigentliche Nahrung von anderen Menschen, sondern der Mensch selbst sei es. […] Und Engelhardt greift zur Kokosschale, darin er seinen Daumen verwahrt hat, entfernt sorgfältig das Salz von dem abgetrennten Stück und beißt hinein, den Knochen mit den Zähnen zerknackend. (Imp 221)
Werden an dieser Stelle typische Südseephantasien, wie z.B. das Angstbild vom ›Menschenfresser‹,52 auf Engelhardt projektiv invertiert, absurd verrückt und ausgestellt, so irritiert der Roman damit auf groteske Weise kulturelle Grenzziehungen und Subjektpositionierungen des kolonialen Diskurses. In diesem Zusammenhang ist auch eine weitere Stelle zu lesen: Am Schluss der Südsee-Eskapade steht das Scheitern des kolonialen Projekts, das mit einer weiteren Verrückung kolonialer Koordinaten einhergeht: Engelhardt avanciert zum Objekt touristischer Schaulust. Koloniale Wahrnehmungsmuster und -ordnungen (Dichotomien), also typische Strukturmerkmale des kolonialen Diskurses, erscheinen dabei ironisch zitiert und verschoben. Engelhardts Zurschaustellung gerät zur Freak-Show unter Palmen: Er »redet […] wirr, die Menschen fahren wieder ab und lachen über ihn, schließlich wird er zur Attraktion für Südseereisende, man besucht ihn, wie man ein wildes Tier im Zoo besucht.« (Imp 229) Die Entwicklungen der Figur Engelhardt entsprechen, wie nachfolgend gezeigt werden soll, einem Groteske-Konzept, wie es etwa Michail Bachtin formuliert hat (vgl. Bachtin 1990, 1995)53 In der Darstellung Engelhardts ist mit der Überschreitung von Körpergrenzen ein groteskes Merkmal aufgerufen, das auch Bachtin in seinen Überlegungen zur »grotesken Gestalt des Leibes« als Transgression beschreibt (vgl. Bachtin 1990: 15–23), wobei er sich auf die Etymologie des Wortes ›grotesk‹ bezieht.54 Grundlegend für das Groteske sei die Überschreitung natürli-
52 Vgl. dazu die Beiträge von Gabriele Dürbeck (2005) und Michaela Holdenried (2001). 53 In Auseinandersetzung mit Wolfgang Kaysers’ Arbeit Das Groteske. Seine Gestalt in Malerei und Dichtung (Kayser 1957). Vgl. zum Verhältnis von Bachtin und Kayser die Ausführungen von Christof Hamann, der unlängst beschrieben hat, dass das Merkmal der Groteske einerseits den zentralen Nenner beider Ansätze bildet, andererseits die Gemeinsamkeiten der beiden Konzepte sich damit auch erschöpfen (Hamann 2012a: 130f.). 54 Dieses Groteske-Konzept basiert bei Bachtin und Kayser auf der Etymologie des Wortes ›grotesk‹, das aus dem italienischen Wort grotta (dt. ›Grotte‹) stammt und dessen Auf-
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cher Grenzen, sodass Inkongruentes, also von Natur aus unvereinbare Elemente, »die in einem geordneten Weltbild neben- oder gegeneinander existieren« können, miteinander verschmelzen: »häßlich und schön, krumm und gerade, scheußlich und lächerlich, grauenvoll und komisch – nicht aber tragisch und komisch, denn daraus entsteht das Tragikomische […]. Deformation, Destruktion und Dekomposition«, so fasst Jens Malte Fischer zusammen, seien »die Arbeitstechniken des Grotesken.« (Fischer 1994: 186) Zu Engelhardts Wahn vom neuen Menschen, ernährt, errettet und transzendiert durch die Kokosnuss, tritt ein zweiter Aspekt der körperlichen Entwicklung hinzu. Mit Bachtin gelesen wird im finalen Akt der Auto-Anthropophagie, also der »Verschlingung« (Bachtin) bzw. ›Selbst-Verschlingung‹, die Figur endgültig ins Groteske verrückt. Auf das Moment der Einverleibung geht Bachtin an einer Stelle explizit ein: Die wesentlichen Ereignisse im Leben des grotesken Leibes, sozusagen die Akte des KörperDramas, Essen, Trinken, Ausscheidungen (Kot, Urin, Schweiß, Nasenschleim, Mundschleim), Begattung, Schwangerschaft, Niederkunft, Körperwuchs, Altern, Krankheiten, Tod, Zerfetzung, Zerteilung, Verschlingung durch einen anderen Leib – alles das vollzieht sich an den Grenzen von Leib und Welt, an der Grenze des alten und des neuen Leibes. In allen diesen Vorgängen des Körper-Dramas sind Lebensanfang und Lebensende untrennbar ineinander verflochten. (Bachtin 1990: 17)
In Anlehnung an Bachtin spricht András Horn auch von einem »Doppelinhalt« (1988: 225) des Grotesken, das sowohl Lächerliches als auch Schaudern erzeugt: Auf der einen Seite führt die »Verzeichnung natürlicher Proportionen«, z.B. körperlicher Extremitäten, zur Steigerung ins Lächerliche. Auf der anderen Seite steht der Aspekt der »Vermischung« für die Auflösung natürlicher Grenzen, wie etwa zwischen Mensch und Tier: »[J]e mehr es um die Vermischung verschiedener Wesen geht, umso mehr scheint unsere Weltorientierung angesichts ihrer zu versagen, umso unheimlicher, ja grauenvoller wird das Groteske.« (Ebd.) Grotesk wirken folglich auch Engelhardts körperliche Entstellungen. Neben der äußerlichen Erscheinung, also der physischen Annäherung von Natur (Kokosnuss) und Mensch (Kopf), ist es besonders die selbst-kannibalische Praktik, der Verzehr seines rechten Daumens, der für die Groteske typische Affekte auslöst: Schaudern und Lachen gehen
tauchen Ende des 15. Jahrhunderts mit dem Fund römischer Ornamentmalereien bei Ausgrabungen in Verbindung gebracht wird. In den Malereien erscheint die Grenze zwischen Menschlichem, Tierischem, Materiellem und Pflanzlichem aufgehoben, sodass in dem Ineinanderfließen der Elemente die Gesetze der Natur, also ihre normative Ordnung, unterlaufen und infrage gestellt wird (vgl. Bachtin 1995: 82f.; Hamann 2012a: 129f.).
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Hand in Hand, wenngleich sich die Balance jenes »fragile[n] Gleichgewicht[s] zwischen Grauen und Komik« (Fischer 1994: 186) im Verlauf der Erzählung stärker zum Grauen hin neigt. Wenn Engelhardt erst am Schluss erkennt, dass seiner Kokovorismus-Lehre immer schon eine kannibalische Logik innewohnte, die ihn schließlich zum »God-Eater«, zum »Devourer of God« (Imp 221) werden lässt, so kehrt diese groteske Selbsterkenntnis das Wahnwitzige der Figur umso mehr nach außen. Neben der Grenzauflösung zwischen Natur und Mensch kennzeichnet die Figur Engelhardt somit eine weitere groteske Grenzüberschreitung, nämlich die hin zum Göttlichen, da »der Mensch«, so Engelhardts Überzeugung, ja »das tierische Abbild Gottes sei und wiederum die Kokosfrucht, die von allen Pflanzen dem Kopf des Menschen am meisten ähnelte (er verwies auf Form und Haare der Nuß), das pflanzliche Abbild Gottes sei.« (Imp 40) In diesem Licht markiert die AutoAnthropophagie als Form der Selbst-Destruktion den Höhepunkt des Grotesken, an dem Grenzziehungen zwischen Tier, Mensch und Natur sowie zwischen Göttlichem und Profanem überschritten werden. Das Scheitern seiner eskapistischen SüdseeUtopie legt folglich nicht nur ein koloniales Begehren bloß, indem etwa auch Bülows zum Kolonialklischee geronnenes Schlagwort vom »Platz an der Sonne« zum symbolischen Ort des Wahnsinns wird. Dies ist auch der Lichtmetaphorik ablesbar, wenn etwa der Erzähler Engelhardts Situation als Zustand »wütender, paralysierter, entzündeter Umnachtung« (Imp 191) beschreibt. Außerdem ermöglicht Engelhardts groteske Entwicklung, die ihn vom Vegetarismus in die AutoAnthropophagie abgleiten lässt, eine weitere dekonstruktive Lesart jener zeitgenössisch kolportierten Redewendung, die sich nur allzu gern vor den Karren kolonialpolitischer Propaganda spannen ließ: Der imperiale Leitspruch »Am deutschen Wesen mag die Welt genesen« erfährt in Imperium eine groteske Verrückung, wenn schließlich der deutsche Mensch zu Nahrung wird. Krachts Kolonialismus als Groteske ist das Ergebnis literarischer Verschiebepraktiken, die koloniale Diskursmuster (Stereotype, Phantasien) über Verfahren des komischen Erzählens bloßstellen, unterlaufen und ad absurdum führen. Sie vermögen es, »jeden Sinn durch die groteske (und in sich zusammenfallende) Übertreibung« (Holdenried 2012: 88) zu irritieren und ins Unheimliche zu verschieben. Engelhardts Totalitätsphantasien, sein Wahn vom »radikalen neuen Menschen« (Imp 51) desavouiert auf schauderhaft-komische Weise den psychopathologischen Kern des kolonialen Begehrens.
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2.3. V ERRÜCKTE O RDNUNG UND S TRATEGIEN DER T ÄUSCHUNG : V ERDREHTE V ÖLKERSCHAUEN SCHELMISCHE M IMIKRY
UND
Zum Abschluss der Figurenanalyse gilt es einen besonderen Aspekt des Erzählens in den Fokus zu rücken. Es geht um ein konkretes Erzählmotiv, das zur Irritation und Umkehrung kolonialer Ordnungen beiträgt. Dieses Motiv ist von Ute Gerhard, mit Bezug auf Hamanns Roman Usambara, als eine »verdrehte Völkerschau« skizziert worden (Gerhard 2009: 328).55 Darunter versteht sie die Inversion der Positionen von »Entdecker und Entdecktem, von Subjekt und Objekt« innerhalb einer der Völkerschau56 vergleichbaren Situation, wodurch »eindeutige Zuordnungen aufgehoben« werden und es zur »Verkehrung gängiger Dichotomien« (ebd.) des kolonialen Diskurses kommt. Die literarische Inszenierung von ›verdrehten Völkerschauen‹57 führt nicht nur zur Invertierung des kolonialen Blickregimes, das durch eine
55 In ähnlicher Weise, allerdings stärker analytisch-deskriptiv, verfährt die Untersuchung von Constant Kpao Sarè drei Jahre später, der am Bsp. unterschiedlicher Gegenwartsromane zum deutschen Kolonialismus in Afrika auf die Inszenierung von Völkerschauen eingegangen ist. In einer Passage von Hamanns Roman sieht er ein »fiktives komisches Völkerschau-Experiment«, das zur »Umkehrung des vertrauten Bildes der Völkerschau« führt, ohne jedoch auf die an der Umkehrung beteiligten ästhetischen Verfahren näher einzugehen (vgl. Kpao Sarè 2012: 82). Weitere Kurzanalysen von Literarisierungen von Völkerschauen in der deutschsprachigen Literatur liefert Kpao Sarè in einem jüngst erschienenen Beitrag (vgl. 2015). 56 Unter ›Völkerschauen‹ wird nachfolgend »die kommerzielle Zurschaustellung von Menschen nicht-europäischer Herkunft in ihrer kulturellen Fremdheit und – je nach Blickwinkel – vermeintlichen Primitivität und Ursprünglichkeit« verstanden (Göttsche 2005: 161). Sie sind ferner »ein integraler Bestandteil der Kulturgeschichte des Kolonialismus, insbesondere in der Gründungsphase des deutschen Kolonialimperialismus am Ende des 19. Jahrhunderts. Oft in bezeichnender institutioneller und räumlicher Verbindung mit den expandierenden zoologischen Gärten befriedigte die entwürdigende lebendige Ausstellung von Angehörigen nordamerikanischer, pazifischer, afrikanischer Völker und die zirkusähnliche Vorführung ihrer als typisch wahrgenommenen Sitten und Gebräuche unter dem Deckmantel ethnographischer Bildungsangebote sowohl xenophobische Sensationslust als auch exotistische Wunschvorstellungen und koloniale Phantasien, die am Ende des deutschen Kolonialreiches dann in das Medium des Films überwechselten.« (Ebd.) 57 Innerhalb der Kulturgeschichte des kolonialen Imaginären nehmen Völkerschauen einen nicht unbedeutenden Platz ein, weil sie den Kern des kolonial-exotischen Begehrens und seine projektiven Mechanismen der imaginären Usurpation des Fremden/Anderen auf bemerkenswerte Weise bloßstellen. Seit der Jahrtausendwende sind eine Reihe von For-
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»Perspektive von unten« (ebd.) unterlaufen wird; zugleich wird der Kolonisierer einer inversen Schaulust ausgestellt. Bei diesem Verschiebeverfahren spielen insbesondere auch Merkmale des komischen Erzählens eine konstitutive Rolle. Sie finden ihren Ausdruck etwa in einer schelmenhaften Figurenzeichnung oder in karnevalesken Motiven der Inszenierung. Der Aspekt des Närrisch-Schelmenhaften 58 führt dabei geradewegs zur Frage, wie etwa Bachtins Konzept von einer »Karnevalisierung der Literatur« (1990: 47) Anschluss finden könnte. Wenn, wie seitens der Forschung zur Groteske betont wird, dem Karneval das Potential innewohne, die Verhältnisse buchstäblich auf den Kopf zu stellen, 59 d.h. zur »Verkehrung der Machtverhältnisse« (Günter 2004: 12) und zur »Subversion der herrschenden Ordnung« beizutragen (Hamann 2012a: 131), drängt sich die Frage nach einem postkolonialen Erzählen auf, das mittels karnevalesker Strategien ein – im Bachtin’schen Sinne – ›Gelächter von unten‹ in Szene setzt und mittels des Verlachens zur Demontage kolonialer Mythen und Heldenfiguren führt. Das Motiv der verdrehten Völkerschau taucht keineswegs nur in Hamanns Roman Usambara auf, wie bereits die kurze Passage aus Krachts Imperium deutlich macht (vgl. II.2.2.2). Neben Hamanns Roman soll dieses Motiv nachfolgend in Hinblick auf Verfahren komischen Erzählens an Steinaeckers Schutzgebiet weiter diskutiert werden. Bereits in einer frühen Passage von Hamanns Usambara (2007a) kommt eine solche verdrehte Völkerschau vor. Auf der Vergangenheitsebene wird die Gefangennahme Leonhard Hagebuchers, Hans Meyers und Oscar Baumanns geschildert, die während der zweiten Kilimandscharo-Expedition in die Hände des gefürchteten »Araberfürsten« (U 86) Buschiri geraten. In dieser Szene (U 57–62, 64–68, 69–74, 75–79), die auf der discours-Ebene des Textes in vier Teilen und alternierend, d.h. im Wechsel mit der Gegenwartsebene, präsentiert wird, kommt es zum first
schungsarbeiten zu diesem Thema entstanden, von denen die einschlägigen hier genannt werden sollen: vgl. die Monographien von Dreesbach (2005), Mergenthalter (2005) und Wolter (2005) sowie Einzelbeiträge von Badenberg (2004), Dürbeck (2006), Gründer (2003), Honold (2004b; 2004c) und Thode-Arora (2013). Über die exemplarisch für dieses Phänomen geltenden ›Hagenbeck’schen Völkerschauen‹ vgl. die Monographien von Dittrich/Rieke-Müller (1998), Thode-Arora (1989) und Gretzschel/Pelc (1998) sowie der Beitrag von Ames (1999). 58 Über den Zusammenhang von ›Schelm‹/›Narr‹ und Karnevalisierung vgl. Bauer (1994: 16–19). 59 In Worten Bachtins: »Der Karneval ist die umgestülpte Welt. Die Gesetze, Verbote und Beschränkungen, die die gewöhnliche Lebensordnung bestimmen, werden für die Dauer des Karnevals außer Kraft gesetzt.« (Bachtin 1990: 48)
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contact 60 mit den Bewohnern des Dorfes, in das die Expeditionsmitglieder verschleppt werden. Diese interkulturelle und asymmetrische Kontaktsituation zwischen Subjekt und Objekt, Betrachtenden und Betrachtetem, rekurriert auf Merkmale, wie sie für Völkerschauen charakteristisch sind. Die Situation, in der gerade die Entdecker der Schaulust preisgegeben werden, affirmiert dabei zwar typische Muster der anthropologisch-zoologischen Zurschaustellung, wobei sie allerdings europäische Völkerschauen ironisiert: Junge und Alte, Männer und Frauen, die, der Anzahl nach, nur zum geringsten Teil aus den umliegenden Hütten stammen konnten, suchten die Gefangenen auf und starrten sie an. […] Stets betraten, ohne zu drängeln, so viele Menschen die Hütte, dass sie sich innen bequem bewegen konnten, den Gefangenen jedoch nicht zu nahe treten mussten, so als würde draußen der Besucherstrom geregelt.« (U 66)
Die koloniale Ordnung, in der Subjekt (Kolonisierer) und Objekt (Kolonisierte) unverrückbare Positionen besetzen, wird in ihrer Vertauschung nicht nur irritiert, sondern geradezu ins Komische verrückt und satirisch ausgestellt. Die Gedanken Hagebuchers verstärken eine komische Brechung der doch bedrohlichen Situation, wenn er darüber sinniert, »ob die Dorfbewohner den Heranreisenden ein Eintrittsgeld abverlangten« (U 66f.). Auf seine arrogante und exzentrische Weise ignoriert Meyer indes den Ernst der Lage, was bei den Dorfbewohnern auf Verachtung stößt: Sie waren ohnehin nicht gut auf ihn zu sprechen, der trotz Ermahnungen, selbst der Androhung, nach einer möglichen Freilassung saftige Prügel zu kassieren, unaufhörlich mit den Beinen zappelte und dadurch an den Ketten zerrte. Manche, vor allem Frauen, preschten ganz nahe an die schmerzhaft Zusammengeschweißten heran, hielten aber plötzlich inne, als befände sich zwischen Betrachtern und Betrachteten ein unsichtbares Gitter. Dann spien sie aus, höhnten, nun sei ihre Zeit des Putzens, des Wassertragens und Holzhackens endlich vorbei, da die Weißen diese Arbeiten übernehmen müssten. (U 67)
Das »unsichtbare[ ] Gitter« steht symbolisch nicht nur für die Asymmetrie der kolonialen Beziehung, es erinnert zugleich an ein Gefängnis oder an einen Zaun. Die Entdecker werden in dieser Szene zum Anschauungsobjekt einer fingierten Völkerschau, bei der die Vorzeichen vertauscht sind und die trotz der bedrohlichen Lage durchaus komisch ist. Die Komik entsteht gerade durch die Nachahmung des kolonialen Verhaltens durch die Dorfbewohner.
60 Zum Topos des first contact im Kontext fremdkultureller Begegnung vgl. Scherpe (1998).
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Ute Gerhard ist in ihren Ausführungen ansatzweise auf den Aspekt komischen Erzählens eingegangen. So spricht die Autorin etwa von einer »groteske[n] Verkehrung« oder von der »ironische[n] Verdrehung der kulturellen Dichotomien« (Gerhard 2009: 328f.), die durch das Auftreten der Figur des indischen Unterhändlers Abd-el-Kerim hervorgerufen werden, über den der Erzähler den Leser wissen lässt, dass ihm allein schon aus geschäftlichen Gründen ihr Wohl am Herzen liege, denn zu Hause leite er eine Reiseagentur für professionelle Entdecker […] Dabei wäre er auch gern Entdecker geworden, ehrlich, er beneide die drei um ihre außergewöhnliche Arbeit und immer an der frischen Luft. Aber wenn so viele Mäuler danach verlangten, gestopft zu werden, müsse man bei der Berufswahl seine Sehnsüchte zurückstellen und allein auf die Stimme der Vernunft hören. Daher sei er im Reisegeschäft gelandet, das derzeit floriere (sie wüssten ja, wie viele Europäer in Afrika forschen und auf den Weg gebracht werden wollten), er werde aber auch sonst, gerade bei kniffligen Vertragsabschlüssen, um Hilfe gebeten, und er helfe, wo er könne. (U 72f.)
Die Figur des Unterhändlers vollzieht durch seine Selbstinszenierung eine ›schelmische Mimikry‹61 , womit sie typische Denk- und Handlungsmuster von Entdeckungsreisenden auf ironische Weise überzeichnet und gegen den Strich bürstet; dies ist etwa der Fall, wenn Abd-el-Kerim betont, statt auf die »Sehnsüchte« auf die »Stimme der Vernunft« zu hören, da er in der Rolle des verantwortungsbewussten Familienvaters pragmatisch denken müsse. Mit dieser »Perspektive von unten« sowie »der verkehrten Welt« (Gerhard 2009: 328), welche die Vektoren der koloni-
61 Der Begriff bezieht sich in diesem Zusammenhang auf Homi K. Bhabhas Konzept der ›kolonialen Mimikry‹, das er in seinem Essay »Von Mimikry und Menschen. Zur Ambivalenz des kolonialen Diskurses« beschrieben hat (2000: 125–136). Im Mittelpunkt des Konzepts steht die Idee einer partiellen Nachahmung der Kolonisierer durch die Kolonisierten. Dieser ist allerdings eine Differenz eingeschrieben, die eine paradoxe Ambivalenz zur Folge hat. Ist sie einerseits ausdrücklich verlangt und als »herrschaftsstabilisierendes Moment« (Castro Varela/Dhawan 2015: 232) der kolonialen Ordnung zu betrachten, so hintergeht die Forderung auf Assimilation das Reinheitspostulat der Identität der Kolonisierer, die in nuce keine Angleichung zulässt, da sie die Asymmetrie der kolonialen Beziehung gefährden würde. Für Bhabha ist »koloniale Mimikry das Begehren nach einem reformierten, erkennbaren Anderen als dem Subjekt einer Differenz, das fast, aber doch nicht ganz dasselbe ist.« (Bhabha 2000: 126; Hervorh. i. Orig.). Die »verunsichernde Wirkung« (ebd.: 127) verweist auf ein subversives Potential der Mimikry, das es vermag, »die kategoriale Grenzziehung zwischen Kolonisierten und Kolonisatoren zumindest potentiell in Frage« zu stellen (Bay 2009: 120).
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alen Ordnung invertiert, sieht Gerhard in Usambara ein Gattungsmerkmal des (modernen) »Schelmenromans« (ebd.) realisiert,62 das koloniale Entdeckermythen desavouiere.63 Die spiegelhaft-komische Nachahmung führe dazu, dass »das Abenteuerdasein des Entdeckers desillusioniert [werde], indem es zu einer – zwar außergewöhnlichen, aber eben doch – Arbeit oder Berufstätigkeit wird.« (Ebd.: 329) Mimikry ist als Verschiebung, darauf hat auch Bhabha hingewiesen, stets ironisch (vgl. Bhabha 2000: 126) und vermag es, sich über »jene Macht, die sie angeblich imitierbar macht, ganz einfach lustig« zu machen (ebd.: 129; vgl. dazu auch Struve 2013: 143). Auch seitens der Forschung ist auf das »Komische der Mimikry«, u.a. als »einen spaßigen (comic) Zugang zur Subversion« hingewiesen worden (Castro Varela/Dhawan 2015: 230f.; Hervorh. i. Orig.). Oliver Lubrich spricht sogar davon, dass »die Nachahmung als aufmüpfige Parodie verstanden werden« kann (Lubrich 2010: 371). Die Inszenierung einer verdrehten Völkerschau und die subversiven Effekte kolonialer Mimikry in Usambara zeigen exemplarisch weitere ästhetische Verfahren der Literatur, die insofern zur Dekonstruktion des kolonialen Imaginären beitragen, als sie einen kolonialen Habitus und tradierte Heldenmythen der Entdeckung auf komische Weise unterlaufen und dadurch in ein kritisches Licht rücken. Kurzum: Durch die verdrehte Völkerschau werden die Vorzeichen nicht nur einfach verkehrt, sondern ihre Prinzipien der Zurschaustellung selbst im Modus der Ironie entlarvt und der Lächerlichkeit preisgegeben. Dies scheint, so eine Zwischenbilanz, eine wesentliche Leistung postkolonial komischen Erzählens zu sein. In Thomas von Steinaeckers Roman Schutzgebiet ist es die Figur des »Forschungsreisenden« Dr. Rüdiger Lautenschlager, der zusammen mit dem Protagonisten Henry Peters in das Hinterland der Kolonie »Deutsch Tola« (St 47) aufbricht, um im Dienst der »Nachwelt« und »Wissenschaft« (St 145) jene »Stämme im tola-
62 Zur Differenzierung zwischen Schelmenroman im engen bzw. im weiten Sinne vgl. Kurscheidt (1991: 351). Die Figur des Abd-el-Kerim trägt typische Charakterzüge des Schelms, wie etwa die »Verschlagenheit und Unverfrorenheit« oder »die Cleverness des Unterprivilegierten« (ebd.: 350). 63 Auf den Aspekt des Schelmenromans in Verbindung mit Merkmalen des Satirischen und Grotesken hat in Anlehnung an Gerhard auch Hansjörg Bay hingewiesen (2012: 118). Darüber hinaus hat der Autor selbst auf das Schelmische der Figur Hagebucher aufmerksam gemacht (vgl. Hamann 2010a: 208). Von einer »postkoloniale[n] Pikareske« spricht Jens Elze, wobei seine Perspektive auf englischsprachige Literatur begrenzt bleibt. Vor dem Hintergrund des Stellenwerts des ›pikarischen Romans‹ bzw. Schelmenromans bei Gerhard (2009) und Bay (2012) überrascht das Urteil Elzes, wenn er an einer Stelle allgemein bilanziert, es gäbe »eine fast vollständige Abwesenheit literaturwissenschaftlicher Forschung zur Pikareske in postkolonialen Literaturen.« (Elze 2014: 131)
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lesischen Hinterland fotografisch zu katalogisieren« (St 203), die durch ihre »überaus faszinierenden Ohren« (St 195) das Interesse Lautenschlagers auf sich ziehen. Beim »Stamm der Tresa« werden ihre Ohren, so schwärmt Lautenschlager für sein ethnologisches Forschungsobjekt, nämlich »künstlich durch das Tragen von Schmuck vom Kindesalter an bis zu den Schultern verlängert« (Ebd.). Als das Expeditionsteam auf die Tresa trifft, gibt die heterodiegetische Erzählinstanz Einblick in die Gedanken Henrys: »Das also ist es: ›The first contact‹ zwischen Kultur und Wildnis, ein Moment der Geschichte; wenn auch vielleicht später nur eine Fußnote in den Büchern der Historiker – aber immerhin.« (St 197f.) Nicht diese Gedanken, sondern insbesondere die darauffolgenden Ereignisse scheinen auf den ersten Blick geradezu archetypische Verlaufsmuster von first-contact-Situationen bzw. Genremuster zu reproduzieren, wie sie für den kolonialen Reisebericht konstitutiv sind (vgl. Scherpe 1998; Fabian 2001: 321–358): Lautenschlager lässt »Geschenke, den Schmuck, die Waffen, aus den Kisten holen und überreicht sie dem Chief, der sie sofort und ohne eine Miene zu verziehen an seine Vertrauten weitergibt.« (St 198) Dieser Akt des Schenkens ist keinesfalls frei von Eigennutz, vielmehr folgt er dem Kalkül des Forschungsreisenden. Denn »es gehe um die Dokumentationen der Ohren des Stammes«, so lässt Lautenschlager den Übersetzer Dédu den Grund seines Besuchs übermitteln. »[A]ls Gegenleistung biete er weitere Waren in der Art des eben Dargebrachten, übersetzt Dédu neben ihm in zischende Laute.« (Ebd.) Lautenschlagers Plan scheint zunächst aufzugehen. Der Chief ruft seinen Stamm zusammen, [e]in Dutzend Wilde, Männer und Frauen, allesamt langohrig, bilden gehorsam eine Reihe vor ihrem Eingang. Lautenschlager eilt an ihnen vorbei ins Innere, die beiden Koffer mit der Fotoausrüstung unter den Armen, Schweißperlen auf der Stirn […]. Anders als Henry es erwartet hat, erschrecken die Wilden nicht, als der Apparat, der doch ein Monster für sie sein muss, zu leben beginnt, blitzt und raucht. Stattdessen lassen sie alle durch Dédu an sie gerichteten Kommandos Lautenschlagers – jetzt drehen, bitte, und den Kopf heben, senken, und danke – umstandslos über sich ergehen. (St 198f.)
Dass die Tresa zu Henrys Überraschung keine Scheu vor dem Fotografieren haben, wird an dieser Stelle noch nicht hinterfragt. Als er »am Handgelenk des Chiefs ein goldenes Band« (St 201) entdeckt, das ihm bekannt vorkommt, rührt sich jedoch der Verdacht, das dieser first contact nur fingiert sein könnte. Dieses Armband, eines der »geschmacklosen Cling-a-ding«, wie es sonst nur die »europäischen Frauen aus der gehobenen Unterschicht« tragen, weil »die gern Damen wären, aber in Wirklichkeit über keinerlei Vermögen verfügen« (St 201), bestätigt das längst Vermutete:
150 | L ITERATUR ALS P ALIMPSEST Es gibt eigentlich nur eine logische Erklärung dafür, Henry mag es drehen und wenden, wie er will: Es müssen vor Lautenschlager und ihm schon andere Reisende den Stamm aufgesucht haben. Kein »first contact« jedenfalls, soviel ist gewiss. Und noch ein Gedanke: Haben die Tresa das vielleicht alles nur inszeniert, ein Geschäft aus dem Interesse der Forschungsreisenden gemacht, die hier ab und an auftauchen? (St 201f.)
In ähnlicher Weise wie in Hamanns Usambara erlaubt diese Passage in Steinaeckers Schutzgebiet eine ironische Lesart typischer Narrative von Entdeckungsszenen. Diese wird besonders durch die schelmische Umkehrung der Situation und ihrer Machtverhältnisse realisiert. Das Handeln der Tresa, ihre gewitzte Inszenierung, rekurriert auf typische Merkmale der Völkerschau, wobei die Tresa allerdings als kluge Selbstvermarkter auftreten und den Tausch (Geschenke gegen Ware) nur vortäuschen. Wie die koloniale Ordnung solcher first-contact-Szenen strukturiert ist, wird in Schutzgebiet auf karnevaleske Weise gebrochen und grundlegend irritiert. Wie in Usambara sind auch hier die Positionen von Subjekt und (Forschungs)Objekt invertiert. Den Höhepunkt findet diese Verschiebung in der Vorführung des sog. »Geschichten-Mann[s]« (St 200), bei dem Henry erst auf den zweiten Blick erkennt, dass seine Haut nicht mit »Schwielen und Auswüchsen überzogen« ist, sondern »winzige tätowierte Szenen« vor Augen führt. Er sei so etwas »wie ein lebendes Buch«, übersetzt Dédu, »ein Buch, bei dem die Seiten aus Fleisch und Blut gemacht sind.« (Ebd.) Denn die »Tresa kennen ja keine Schrift«, fährt er fort: Deshalb haben sie alles, was sie wissen, was ihnen wichtig ist, auf die Haut des Mannes gebrannt. Noach, der Chief, berichtet, nach dem Tod des Mannes werde ein Junge als sein Nachfolger bestimmt. Meistens der Sohn des Mannes. Sofern der Mann einen Sohn hat. Nach dem Tod des Vaters werden die Zeichnungen auf die Haut des Sohnes übertragen. Der Mann wird Geschichten-Mann genannt. Der Geschichten-Mann besitzt den Status eines Heiligen. Dem Geschichten-Mann darf nichts zustoßen. Er hat im Dorf zu bleiben. Ist der GeschichtenMann fort, ist auch die Geschichte des Dorfes und all seiner Bewohner fort. (Ebd.)
Auf der Haut des Geschichten-Mannes bestätigen sich Henrys Vermutungen ein zweites Mal: »Der Stamm muss vor ihnen schon zahlreiche andere Besucher empfangen haben.« (St 203) Das Ziel des Entdeckers, »um alles in der Welt der Erste zu sein« (Bay 2012: 120), das Hansjörg Bay als typisches Motiv von Entdeckungsreisenden beschrieben hat, wird durch das Täuschungsspiel der Tresa konterkariert. »Die Enttäuschung steht Lautenschlager ins Gesicht geschrieben« (St 203), wie der Erzähler in Anspielung auf die Tätowierung der Tresa ironisch kommentiert. Was der Text an dieser Stelle nicht nur vorführt, ist die Täuschung der Reisenden, die dem Stamm der Tresa auf den Leim gehen, sondern wie Inversion und komisches Erzählen eine dekonstruktive Lektüre kolonialer Entdeckungsmythen und -narrative
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zulässt. Hinzu kommt die innere Verunsicherung des Kolonisierers, nicht Herr der Situation zu sein. So verspürt […] Henry ein tiefes Unbehagen, das in der glatten schwarzen Haut des Geschichten-Mannes seinen Ursprung hat. Er könnte nicht sagen weshalb, aber er sträubt sich gegen den Gedanken, dass er, so wie er jetzt hier steht, auf diesem Menschen verewigt werden soll. Er würde Teil des Mythos der Tresa werden, von Geschichten-Mann zu Geschichten-Mann weitergegeben, ein Bild, er.« (St 203f.)
Nicht nur unterläuft der Geschichten-Mann auf grotesk-komische Weise das koloniale Stereotyp vom ›geschichtslosen Kontinent‹, dessen Geschichte im eurozentrisch-imperialistischen Weltbild erst mit der Entdeckung durch die Europäer einsetzt. Denn Lautenschlager und Henry entdecken, dass die Körperinschriften der Tresa bereits »seit über 20 Generationen« (ebd.) existieren. Es ist insbesondere die Angst vor Einverleibung, die Henry verspürt, seine Ohnmacht, die aus der Irritation der kolonialen Beziehung resultiert, da es die Kolonisierer sind, die nun auf der Haut zum stimmlosen Objekt werden, das der Deutungshoheit der Tresa unterliegt. Auf schelmische Weise stellt der Geschichten-Mann, der als Körper-Palimpsest den kolonialen Blick verunsichert, ein eurozentrisches Geschichtsbild infrage, das als Deutungs- und Ordnungsmuster seine Wirkmacht verliert. Dieser Aspekt verhandelt folglich eine weitere Strategie der Verrückung und Irritation kolonialer Koordinaten, die in der ironisch-schelmischen Umkehrung des kolonialen Macht- und Herrschaftsverhältnisses zur Darstellung kommt. In der Schlusssequenz des Kapitels wird Henrys Furcht64 vor Einverleibung noch weiter gesteigert: Als er sich während der Rückreise »in einer Schrecksekunde bewusst wird«, dass die »langen Ohren, der Chief, die Eingeborenen […], einmal ins chemische Bad getaucht, auf den Negativen weiß erscheinen werden – er selbst dann aber schwarz« (St 205), wird die koloniale Ordnung buchstäblich auf den Kopf gestellt. Nach ihrer Entwicklung zeigen die Fotos schließlich nicht die vormals aufgenommenen »Tätowierungen«, »Menschen, Tiere oder Landschaften«. Stattdessen sind lediglich unentzifferbare »Linien, Kreise und Spiralen […], nur abstrakte Formen« (St 327) zu erkennen. Die Macht, sich das Fremde qua Repräsentation anzueignen, entgleitet an dieser Stelle des Romans der Verfügungsgewalt des Entdeckers. Henrys Angst vor dem Schwarzwerden steht für jene »Andersheit des Selbst,« wie Bhabha schreibt, »die in das perverse Palimpsest der kolonialen Identität eingeschrieben ist.« (Bhabha 2000: 65) In Steinaeckers Schutzgebiet wird zusammengenommen die Instabilität kolonialer Identitäten durch Verfahren der schelmischen
64 Vgl. zur ›Furcht‹ als einer der drei zentralen Kategorien des kolonialen Diskurses Dubiel (2007: 76–79) und II.1, Anm. 10 in dieser Arbeit.
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Mimikry ins bedrohlich Unheimliche verschoben, die – im Sinne Bhabhas – »Ähnlichkeit und Bedrohung in einem ist.« (Bhabha 2000: 127)65 Bhabhas Diktum von der Ambivalenz des kolonialen Diskurses – »›not quite/not white‹« (ebd.: 136) – scheint sich in dieser Passage von Schutzgebiet in der Furcht Henrys Bahn zu brechen.
2.4 W IE ÜBER DEN K OLONIALISMUS LACHEN ? Ü BERLEGUNGEN ZU DEN G RUNDZÜGEN POSTKOLONIALER K OMIK Der Zusammenhang von Postkolonialismus und Komik ist in den postcolonial studies bereits vor einiger Zeit auf Interesse gestoßen: »[L]aughter is a central element, humour a key feature, disrespect a vital textual strategy of postcolonial cultural practice.« (Reichl/Stein 2005: 1) Mit diesem Statement beginnen Susanne Reichl und Mark Stein die Einleitung ihres 2005 herausgegebenen Sammelbandes Cheeky Fictions. Laughter and the Postcolonial. Neben der wichtigen Frage »›Who laughs at whom?‹« (ebd.: 12) heben die Autoren die grundsätzliche Ambivalenz eines »postcolonial laughter« hervor, das zwischen Affirmation und Subversion oszillieren könne. Darüber hinaus verweisen sie auf das vielfältige Spektrum ästhetischer Manifestationen des Komischen und betonen ein subversives, befreiendes Potential des Lachens: The concrete manifestations of laughter arising from such a constellation range from subversive laughter, carnivalesque exhilarations, wry smiles, self-deprecation, gallows humour, or black humour, to more conciliatory and healing humour, or to the wild and eerie laughter of the otherwise silenced ›madwomen in the attic.‹ All these reflect a struggle for agency, an imbalance of power, and a need, a desire, for release. (Ebd.: 9)
Dagegen ist das Thema innerhalb postkolonialer Studien in der Germanistik erst ansatzweise aufgegriffen worden. Zwar haben eine Reihe von Forschungsbeiträgen der vergangenen Jahre auf Aspekte komischen Erzählens hingewiesen; so etwa auf Merkmale der Parodie, der Groteske, des Pastiche, der Persiflage, der Groteske, der Ironie oder der Tragikomödie. Im Diskurs herrscht allerdings genau dort ein Defizit, wo Konzepte des Komischen zum Teil unscharf und uneinheitlich Verwendung
65 Das subversive Potential des Mimikry-Konzepts als Strategie des Widerstands pointiert Bhabha in »Von Mimikry und Menschen«: »Das Bedrohliche an der Mimikry besteht in ihrer doppelten Sicht, die durch Enthüllung der Ambivalenz des kolonialen Diskurses gleichzeitig dessen Autorität aufbricht.« (Bhabha 2000: 130; Hervorh. i. Orig.)
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finden oder gar theoretische Anschlüsse und Belege allgemein fehlen. Wenn z.B. von »ironischen und grotesken Erzählverfahren« oder »hyperbolischen Parodien« (Holdenried 2012: 87f.), von einem »ironisch-satirischen Blick« (Bay 2012: 119), einer »groteske[n] Verkehrung« (Gerhard 2009: 328), einer »grotesque nature of colonialism« und »highly ironic pastiche of the German colonial imagination and culture« (Göttsche 2013: 168) oder von »grotesk-phantastischer Verschiebung« (Göttsche 2015: 127) die Rede ist,66 dann werden diese Zuschreibungen zu Recht als Hinweise auf ein subversives Potential des komischen Erzählens verstanden; allerdings geschieht dies meist, ohne explizit auf Theorien zur literarischen Komik zurückzugreifen.67 Das vorliegende Kapitel zu PALIMPSEST UND FIGUR hat den Versuch unternommen, zu einer Theoretisierung des literarisch Komischen aus postkolonialer Perspektive beizutragen, indem Anschlüsse an Konzepte zur Groteske und der Parodie gesucht wurden. Nachfolgend gilt es, die Ergebnisse zu systematisieren und wichtige Merkmale einer postkolonialen Komik in ihren Grundzügen zu beschreiben, die als Effekt der Überlagerung und Überschreibung zwischen kolonialem und postkolonialem Diskurs zu betrachten sind. Für den Palimpsest-Gedanken ist hier der ambivalente Aspekt der ›Überzeichnung‹ zentral, der als Ergebnis hypertextueller Überschreibung zu betrachten ist, anhand derer der postkoloniale Text die koloniale Diskursfolie karikiert und konterkariert. Auf der Grundlage der Analyse lassen sich drei Verfahren komischen Erzählens feststellen. Ihre Einteilung in die Kategorien (1) ›hyperbolisches‹, (2) ›groteskes‹ und (3) ›parodistisches Erzählen‹ bedeutet nicht, dass ihre Wirkmacht getrennt voneinander zu betrachten ist. Im Gegenteil hängt ihr Potential vielmehr eng zusammen. Dies zeigt nicht zuletzt die Bedeutung der Ironie, die ein Verschiebemodus (griech. eirōneía: ›Verstellung‹) aller drei Erzählweisen darstellt. Die Unterscheidung folgt der Absicht, das unterschiedliche Potential komischen Erzählens theoretisch-konzeptuell zu rahmen, ohne dabei die Zusammenhänge und Synergien aufzuheben.
66 Im Kontext von Krachts Roman Imperium sind Merkmale literarischer Komik in unterschiedlicher Weise thematisiert worden. Vgl. Aspekte des ›Tragikomischen‹ bei Schwarz (2014: 129), des ›Pastiche‹ und der ›Parodie‹ bei Birgfeld (2012: 477) und Schumacher (2013: 137f, 141f.) sowie der ›Ironie‹ bei Pordzik (2013). Vgl. in diesem Zusammenhang auch den Ansatz des »debunking« (engl.: ›entlarven‹) in Bezug auf Hamanns Roman Usambara bei Beck (2011: 28), wenngleich anzumerken ist, dass ein ›Entlarven‹ der Figuren nicht unbedingt Merkmale komischen Erzählens aufweisen muss. 67 Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Überlegungen des Anglisten Ralf Hertels zu einem ›postkolonialen Gelächter‹, dem er am Beispiel von Zadie Smiths Roman White Teeth (2000) unter Berücksichtigung von Ansätzen der Inkongruenztheorie komischer Phänomene nachgeht (vgl. Hertel 2014: 262).
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Hyperbolisches Erzählen Die Romane zitieren häufig historisch verbürgte ›Helden des Kolonialismus‹, nicht ohne sie in ihrer Wiederholung komisch zu verschieben bzw. zu verrücken. In der komischen Überzeichnung historischer Vorbilder unterlaufen die Texte typisch koloniale Heldenmythen, insbesondere legen sie das koloniale Begehren nach Entdeckung und Eroberung ironisch-kritisch bloß. Über die gesteigerte Verrückung ins Exzentrische stellen die Romane den Größenwahn kolonialer Unternehmungen ostentativ aus, indem sie den ›Wahnwitz‹ ihrer Akteure hervorkehren und die psychische Disposition auf komisch-absurde Weise vorführen. Zur Komischen Übertreibung der Figuren tragen weitere Erzählformen bei, wie am Bsp. des ›semantischen Zeugmas‹ festgestellt (vgl. II.2.1.3), das als Mittel der Sprachkomik eingesetzt wird. Zu diesen Spezialformen zählen etwa auch Spielarten des literarischen Slapsticks, der er u.a. in Krachts Imperium auftaucht (vgl. Schwarz 2014: 140; Imp 214f.). Groteskes Erzählen Mit Bachtins Überlegungen zur ›Karnevalisierung der Literatur‹68 ließ sich zeigen, wie eine groteske Entwicklung der Figuren eine kritische Lesart kolonialer Denkmuster ermöglicht. In der Überschreitung von Körpergrenzen, u.a. zwischen Tierischem und Menschlichem, wie der Roman Imperium exemplarisch vorführt, wird der Wahnwitz der Figur Engelhardt auf schauderhaft-komische Weise auf die Spitze getrieben, wodurch seine koloniale Utopie ad absurdum geführt wird und jenes koloniale Imaginäre in ein kritisches Licht rückt, auf dem die räumliche Fremde zum utopischen Ort der Selbstverwicklung und Zivilisationsflucht avanciert. Am Beispiel von ›verdrehten Völkerschauen‹ und ›schelmischer Mimikry‹ konnte mit Bachtins Konzept des Karnevals des Weiteren ein Irritationspotential der Texte aufgezeigt werden, das zur Inversion kolonialer Ordnungen und Machtverhältnissen beiträgt. Denn im Karneval ist Bachtin zufolge »das ganze offizielle System mit allen seinen Verboten und hierarchischen Schranken zeitweilig außer Kraft [gesetzt]. Für kurze Zeit trat das Leben aus seiner üblichen, gesetzlich festgelegten und geheiligten Bahn und betrat den Bereich der utopischen Freiheit.« (Bachtin 1990: 33) Die Umkehrung der Ordnung erzeugt dabei ein ›Gelächter von unten‹, das koloniale Heldenfiguren der Lächerlichkeit preisgibt. Dirk Göttsche hat über das »Groteske als ein Verfahren« geschrieben, das es ermöglicht, »den Fallstricken des Exo-
68 Darunter versteht Bachtin im Allgemeinen die »Übertragung des Karnevals in die Sprache der Literatur« (Bachtin 1990: 47).
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tismus und der Eigenlogik der kolonialen Welt zu entkommen, sie aufzubrechen und ästhetisch auszustellen.« (Göttsche 2014: 388) Das »utopische Moment« (Bachtin 1990: 27) des Karnevals, das Bachtin am Beispiel des »Feiertag[s]« (ebd.: 57) erklärt, ermöglicht zugleich eine kontrapunktische Lektüre, sodass zwischen den Zeilen jene Stimmen erkennbar werden, die im koloniale Diskurs nicht zu Wort kommen bzw. die zum Schweigen verurteilt wurden. »[A]us dieser Komik der Transgression« kann im Karneval »der Entwurf einer Gegenwelt entstehen, der über den legalisierten Ausnahmezustand hinaus, die Augen für gesellschaftliche Veränderungen öffnen soll.« (Zipfel 2010: 322) Parodistisches Erzählen Da eine Vielzahl der Romane auf Stoffe kolonialer Prätexte (Reiseberichte/Kolonialromane) zurückgreift, um diese sowohl um-, neu-, weiter- als auch dadurch kritisch zu überschreiben, so ist festzustellen, dass diese Spielart der ReFiktionalisierung als eine Art komisches rewriting historischer wie literarischer Quellen eine ganz spezifische Strategie im Umgang mit dem kolonialen Imaginären darstellt.69 In der komischen Figurenzeichnung, die als Abweichung von bzw. Verschiebung der historischen Folie des Prätexts erkennbar ist, werden historische Vorbilder karikiert. Mit Genettes Ausführungen zur ›Parodie‹, die im Grundansatz auf die Palimpsest-Metapher rekurrieren, lassen sich die figurenspezifischen Transformationen zwischen dem Hypertext (Text B) und dem zu parodierenden Hypotext (Text A) als ein spezifisches Register eines postkolonialen rewritings betrachten, das sich dabei besonderer Verfahren der komischen Darstellung bedient.70 Wie bereits gesagt (vgl. I.4.4), sieht Genette in der Parodie einen Modus der Verschiebung am Werk – er selbst spricht von »verdreh[en]« und »umstülp[en]« (Genette 1993: 26) –, der eine »Gegenstimme im Kontrapunkt« (ebd.: 22) in die historische Vorla-
69 In einem frühen Beitrag der postkolonialen Studien hat Herbert Uerlings bzgl. der Poetik in Hans Christoph Buchs Roman Die Hochzeit von Port-au-Prince (1984) auf eine »ironisch gemischte Intertextualität« hingewiesen, die neben der »Unterhaltungsfunktion« die »kritische Funktion der Parodie« besitze (Uerlings 1993: 836). In Hamanns Usambara sieht Laura Beck ein postkoloniales rewriting, das als »satirisch-parodistische[r] Kommentar« (Beck 2011: 34) historischer Reiseberichte gelesen werden könne. 70 Vgl. auch die von Genette diskutierten Kategorien der »Travestie«, »Pastiche« und »Persiflage« (Genette 1993: 40f.). In einem komischen Effekt sieht Genette eine Funktion, die allen drei Kategorien gemeinsam ist (vgl. ebd.: 40).
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ge einspielt und »in jedem Fall, meist auf Kosten des ›parodierten‹ Textes […] komisch wirken« kann (ebd.: 40). 71 Bemerkenswert an solch einer ›komischen Intertextualität‹ erscheinen zwei Modi: Einerseits können etwa historisch verbürgte Helden der Kolonisierung ironisch zitiert, andererseits aber auch fiktive, schelmenhafte Figuren in die historische Folie ›interpoliert‹72 werden. Dies ist eine Art subversives Einfügen in die prätextuelle Vorlage, wodurch die objektive Wahrheit von Geschichte auf parasitäre Weise in Zweifel gezogen und ihre Konstruiertheit selbstreflexiv-kritisch ausgestellt wird. Literarische Verfahren der Komisierung, wie Hamanns Usambara als Parodie des Reiseberichts Meyers exemplarisch vorführt, bedingen demzufolge ein »metafiktionales Erzählen«,73 über das Linda Hutcheon geschrieben hat, es sei »a kind of seriously ironic parody« (Hutcheon 1988: 124) und trage zur Erkenntnis bei, dass »history is not the transparent record of any sure ›truth‹.« (Ebd.: 129) Kurz: Durch ein historiographisches Erzählen im Modus der Parodie wird die erzählerische Glaubwürdigkeit der Gattung aufs Spiel gesetzt. Zur Leistung parodistischen Erzählens gehört folglich nicht nur, dass es kritisch-ironische Lesarten auf koloniale Mythen und Heldenfiguren hervorbringt. Darüber hinaus führt es dazu, dass die Grenzen zwischen Fakt und Fiktion verwischen und der Reisebericht mit all seinen Ansprüchen auf Wahrheit und Authentizität als das ausgestellt wird, was er ist: als etwas Gemachtes, als Fiktion. Mit den drei Verfahren komischen Erzählens sind wichtige Grundzüge einer postkolonialen Komik beschrieben, die zu einer Umkehrung, Entstellung bzw. Verrückung kolonialer Ordnungen beitragen. Über die komische Inszenierung kolonia-
71 In der »Anwendung auf einen unernsten Gegenstand« entsteht für Genette der »Kontrast, der die Einbildungskraft überrascht, und darin besteht das Komische an der Parodie.« (Genette 1993: 28) Eine enge Definition der Parodie, die sich folglich nicht streng auf die hier diskutierten Beispiele übertragen lässt, formuliert Genette als »eine mehr oder weniger wörtliche Wiederholung des epischen Textes, der in Richtung auf eine komische Bedeutung hin umgelenkt (verdreht) wird.« (Ebd.: 26) Vgl. auch Formen der Parodie, die keine komische Funktion haben (ebd.: 27). 72 Zum Begriff der Interpolation als strategisches Verfahren von rewriting vgl. II.4.1.3. 73 Über den Zusammenhang von historiographischer Metafiktion, Intertextualität und Parodie vgl. Linda Hutcheons Kapitel »Intertexutality, Parody, and the Discourse of History« (1988: 124–140). An anderer Stelle in ihrer Studie A Poetics of Postmodernism schreibt sie über »postmodern intertextuality«: »It uses and abuses those intertextual echoes, inscribing their powerful allusions and then subverting that power through irony.« (Hutcheon 1988: 118)
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ler Heldenfiguren wird schließlich der koloniale Habitus einem ›Verlachen‹74 ausgesetzt, das die Mechanismen des kolonialen Diskurses ad absurdum führt. Das subversive Potential eines solchen komischen Erzählens erlaubt dem Leser, eine »exzentrische Position«, d.h. eine nicht-identifikatorische, kritische Distanz zum Erzählten einzunehmen (vgl. Plessner 1982). Diese Haltung ermöglicht nicht nur eine Lektüre gegen den Strich, sie vermag darüber hinaus auf eine ganz spezifische Weise zur Dekonstruktion des kolonialen Imaginären beizutragen.
74 Zur Rolle des ›Verlachens‹ innerhalb von Theorien des Komischen hat Frank Zipfel das Komische als etwas beschrieben, »das verlacht wird, d.h. als etwas, worüber der Beobachter aus dem Gefühl der Überlegenheit heraus lacht und das er damit kritisiert bzw. herabsetzt.« (Zipfel 2010: 322) Vgl. auch das »Lachen der Literatur« bei Gaier (2004: 88).
3. Palimpsest und Raum: Symbolische Topographien der Überlagerung und Überschreibung
3.1 »D EUTSCHER W ALD IN A FRIKA «. Z UR D EKONSTRUKTION EINES TYPISCH DEUTSCHEN K OLLEKTIVSYMBOLS IN T HOMAS VON S TEINAECKERS S CHUTZGEBIET 1 3.1.1 Tacitus postkolonial? Aber auch abgesehen von den Gefahren eines wilden unbekannten Meeres, wen konnte es gelüsten, einem Asien, Afrika, Italien den Rücken zu wenden, um gen Germanien zu wandern, in diese wüsten Landschaften, unter rauhem Himmel, culturlos, düster, unheimlich einem jeden, dem sie nicht eben das Vaterland sind! […] Das Land bietet im einzelnen verschiedene Gestaltungen, aber der allgemeine Charakter ist schauriger Urwald und düsterer Moorgrund. Gegen Gallien hin ist das Klima mehr feucht, gegen Noricum und Pannonien vorherrschend windig. (Tacitus 1868: 4–5, 9)
Wie das Land, so die Menschen? So rau und lebensfeindlich, wie der römische Geschichtsschreiber Tacitus (ca. 55–120 n. Chr.) hier zu Beginn unserer Zeitrechnung Land und Klima jenes – aus römischer Sicht – ›dunklen Kontinents‹ des nördlichen Germaniens beschreibt, so tableauhaft zeichnet er auch das Bild seiner Bewohner. Tacitus entwirft in seinem geographisch-ethnographischen Bericht Germania (ca. 100 n. Chr.) ein primitives Bild vom kriegerischen, wilden Germanen, dessen Kampfverhalten in den Augen des Chronisten einen Eindruck »schauerlicher Wildheit« (Tacitus 1868: 7) erzeugt, wenngleich, so vermutet die Forschung, der 1
Das folgende Kapitel ist in weiten Teilen bereits 2015 publiziert worden (vgl. Osthues 2015).
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Autor nie selbst nur einen Fuß in die nördlichen Provinzen, in die Peripherie des römischen Reiches gesetzt hat. Quasi Ethnologie aus zweiter Hand? Nebst mündlicher Berichte römischer Kaufleute und Beamte lieferten besonders schriftliche Quellen, auf die Tacitus zurückgriff, den Stoff für seine Germania (vgl. Froesch 2012: 8; Fuhrmann 1972: 100). Im Mittelpunkt germanischer Lebenswelt sieht Tacitus dabei vor allem eines: den Wald. Er ist dem Germanen heilig, doch nicht nur ausschließlich zur Huldigung der Götter, auch für profane Angelegenheiten suchen die Germanen den Wald auf, um dort das politische, soziale und militärische Zusammenleben zu organisieren (vgl. Zechner 2009a: 36). Was hat der Wald der Germanen, ›Tacitus’ Wald‹, nun mit dem deutschen Kolonialismus zu tun? Auf den ersten Blick scheint sich der Zusammenhang von Wald und Kolonialherrschaft nicht unbedingt aufzudrängen. 2 Aus einer postkolonialen Perspektive wird dieser knappe ethnographische Exkurs allerdings in mehrfacher Hinsicht interessant: Nicht nur verweist Tacitus’ Darstellung mit der Vorstellung vom ›wilden Germanen‹ als Konterpart zum ›zivilisierten Römer‹ auf typische Verfahren der Fremdkonstruktion bzw. auf Diskursmuster, wie sie seit der Aufklärung (vgl. Bay/Merten 2006), besonders aber im kolonialen Diskurs des 19./20. Jahrhunderts das Bild vom kulturell Fremden konstituieren.3 Dabei hat die Forschung darauf hingewiesen, dass Tacitus’ Bild vom wilden Barbaren als das exotische Andere auf die antike Tradition des ›edlen Wilden‹ rekurriere (vgl. Bitterli 1985: 273; Kohl 2012: 19).4 Bemerkenswert an diesem othering erscheint vor allem die Inversion
2
Vgl. in diesem Zusammenhang auch den im Jahr 2000 erschienenen Sammelband Der deutsche Tropenwald (Flitner 2000a), der sich aus kulturwissenschaftlicher Perspektive sowohl mit kolonialen Repräsentationen als auch mit imaginären Transformationen des ›deutschen Walds‹ in Literatur und Film beschäftigt.
3
So schreibt Matthias Fiedler etwa über Rousseaus Konzept des ›edlen Wilden‹, dass es ein »äußerst folgenreiches Konzept im Diskurs über Afrika« darstelle, »indem es den Afrikaner als Naturmenschen am Ende des 18. Jahrhunderts erneut innerhalb der Dichotomie von Natur und Kultur verortet.« (Fiedler 2005: 286)
4
Das Konzept vom ›edlen Wilden‹ steht in einer römischen Schreibtradition, die darauf zielte, die damalige Gesellschaft selbstkritisch in den Blick zu rücken. Deutlich wird die Folie des Germanen als Gegenbild projektiv vereinnahmt, um invers eine moralischkritische Perspektive auf das Eigene zu wenden. Die kulturelle Selbstkritik ist folglich mit einem Heilsversprechen verknüpft: Gegenüber der »zivilisatorische[n] Ermüdung der Römer« (Schneider 1997: 10) bildet die Spiegelfigur des germanischen Barbaren aufgrund seiner Ursprünglichkeit und Natürlichkeit einen imaginären Fluchtpunkt, dem der Wunsch nach kultureller Erneuerung unterlegt ist (vgl. ebd.: 106f.).
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der Positionen von Kolonisierern (Römern) und Kolonisierten (Germanen). 5 Die »evolutionistische Leitdichotomie Natur/Kultur« (Bachmann-Medick 1996: 72), die im kolonialen Diskurs das asymmetrische Machtverhältnis zwischen Eigenem und Fremdem strukturiert und hierarchisiert, eröffnet hier eine ambivalente, gar paradoxe Perspektive auf den deutschen Kolonialismus des 19. und 20. Jahrhunderts. Referiert der Topos vom Germanen als »Waldvolk« (Lehmann 2001b: 6) doch auf ein ganz zentrales Identitätssymbol und Nationalstereotyp, das vor allem im Auftrieb des europäischen Nationalismus im 19. Jahrhundert »exklusiv zu etwas Deutschem werden« sollte (Lehmann 2001a: 188). Dabei ist die Herausbildung dieses »Ursprungsmythos« (Lehmann 2001b: 4) ganz wesentlich auf eine verstärkt einsetzende Rezeption von Tacitus’ Germania zurückzuführen, dessen ethnographischer Bericht »von Jacob Grimm und anderen Romantikern zum ersten Geschichtsbuch über die Deutschen deklariert« wurde (Lehmann 1999: 25; vgl. Küster 2008: 181). Grimm schrieb 1835 im Vorwort seiner Schrift Deutsche Mythologie: »durch eines Römers unsterbliche schrift war ein morgenroth in die geschichte Deutschlands gestellt worden, um das uns andere völker zu beneiden haben.« (Grimm 1981: V) Das Kollektivsymbol6 vom ›deutschen Wald‹ wird in Thomas von Steinaeckers Roman Schutzgebiet im kolonialen Kontext inszeniert. In der Verschiebung des Symbols in diesen Zusammenhang verhandelt der Text so auch postkoloniale Fragestellungen. Der Roman erzählt die Geschichte Benēsis, einer weit abgeschotteten, von den Franzosen verlassenen Festung im Hinterland der Kolonie »Deutsch-Tola« (St 47). »Auf der Landkarte wirkte Tola am westlichen Rand des riesigen Kontinents winzig klein«, wie es im Text heißt: »ein afrikanisches Liechtenstein.« (St 15)
5
Ein wichtiger Referenztext innerhalb der postcolonial studies, der auf eine vergleichbare Positionsverschiebung rekurriert, ist der Roman Heart of Darkness (1899/1902) von Joseph Conrad. Zu Beginn des Romans invertiert der Erzähler Marlow die koloniale Raumordnung (›Zivilisation‹ vs. ›Wildnis‹) in der Projektion auf die Eroberung Britanniens durch die Römer, wo diese nichts vorfanden als »Finsternis […] Sandbänke, Sümpfe, Wälder, Wilde« (Conrad 1991: 9f.). Allerdings dient die Projektion dazu, eine Differenz zwischen römischem und englischem Kolonialismus herzustellen. Für Marlow steht der englische Kolonialismus, anders als bei den römischen Eroberern, allerdings im Dienst einer zivilisatorischen »Idee« (ebd.: 11). Vgl. dazu auch die Ausführungen Edward Saids (1994: 115).
6
Unter ›Kollektivsymbolen‹ werden hier in Anlehnung an die Interdiskurstheorie »SinnBilder (komplexe, ikonisch motivierte Zeichen)« verstanden (Link 1988: 286), d.h. »kollektiv verankerte Bilder«, die als »Träger symbolischer Bedeutungen« fungieren (Link 1993: 383) und für einen großen Teil einer sozialen Gruppe gelten, also ›kollektiv‹ verstanden werden (vgl. Link/Link-Heer 1994: 46).
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An diesen Schauplatz treibt es zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Gruppe deutscher Auswanderer, zwielichtige Figuren, die bereits in der Heimat scheiterten, um nun in der Fremde ihr Glück ein zweites Mal zu suchen. Sie folgen dem Plan der Bremer Kolonialverwaltung, das Projekt Benēsi in die Tat umzusetzen: »Man plant dort nichts Geringeres als die Aufforstung eines nicht gerade kleinen Teils Steppe mit deutschen Laub- und Nadelhölzern, die dort, soviel man hört, um einiges schneller und besser wachsen als in der Heimat.« (St 48) Im Mittelpunkt des Projekts steht demnach ein ökonomisches Begehren an der fremden Topographie, denn nicht mit »einheimischen [d.h. afrikanischen; J.O.] Hölzern, für die in Deutschland kein Markt vorhanden ist. Nein: Ausschließlich mit Tanne, Fichte, Birke, Buche, Eiche, Esche« (St 106), also mit »deutsche[n] Baumarten« (St 61) soll der fremde Boden ›kultiviert‹ werden. »Ein deutscher Wald auf afrikanischem Boden!« (St 106), so lautet das Motto der Unternehmung: »Ein Schlaraffenland indes für Gerber; das Gold wächst hier sozusagen an den Bäumen, zum Greifen nah.« (St 142f.) Dies ist jedoch in den Augen des Verwalters Ludwig Gerber, vertriebener Sohn eines mächtigen deutschen Holzhändlers, nicht genug. Über den Wald hinaus, »dem deutschen Wunder« (St 63), plant er den Bau einer ganzen Stadt, der eine ganze Schar Siedler anlocken soll mit der Verheißung vom »deutsche[n] Wald in Afrika« (St 358). Am Schluss des Romans steht das Scheitern dieser kolonialen Utopie. Nachdem der deutsche Wald in Brand gerät, die Siedler geflohen sind und der Erste Weltkrieg in Benēsi einzieht, ist auch das Ende jener kleinen Schicksalsgemeinschaft besiegelt, die zusammen mit ihrer wahnwitzigen Unternehmung untergeht. Die Auszüge aus Schutzgebiet machen bereits deutlich, wie sehr die fremde Topographie zum Projektionsraum eines typisch kolonialen Begehrens wird. Ist der fremde Boden einerseits zu kultivieren, um ihn ökonomisch auszubeuten, so avanciert er andererseits zu einer »imaginäre[n] Geographie« (Said 2012: 70), in der sich die Kolonialphantasie vom ›deutschen Heim in der Fremde‹ Bahn bricht. Diese Vorstellung von der Fremde als Heimat, mit der sich Rolf Parr in seiner gleichnamigen Studie beschäftigt (vgl. Parr 2014), ist dabei Ausdruck eines imaginären Akts der Usurpation, der Heimat und Fremde in ein besonderes Verhältnis der symbolischen Überlagerung setzt. Aus diesem Blickwinkel steht das koloniale Forst- und Siedlungsprojekt vom »deutsche[n] Wald in Afrika« (St 358) für eine »koloniale Inbesitznahme der Fremde als Heimat«, die einen Prozess der »›Verheimatung‹ der Fremde« (Parr 2014: 15) in Gang setzt. Nachfolgend gilt es zum einen, zu zeigen, wie die projektive Verschiebung vom ›deutschen Wald in Afrika‹ auf typisch koloniale Muster, d.h. sowohl Praktiken als auch Semantiken, rekurriert, die im Kulturbegriff selbst verwurzelt sind. Zum anderen liegt nicht nur im Scheitern des kolonialen Forst- und Siedlungsprojekts, so die hier vertretene These, ein postkoloniales Potential, das eine dekonstruktive Lektüre des National- bzw. Identitätssymbols vom deutschen Wald zulässt. Demnach gilt
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es, weitere ästhetische Strategien des Textes lesbar zu machen, welche zur Inversion, d.h. zur Irritation und Destabilisierung, ja gar zur Umkehrung, Entstellung und Verrückung kolonialer Ordnungen führen und jenes koloniale Begehren kritisch ausstellen, das der Projektion vom ›deutschen Wald in Afrika‹ ein- bzw. überlagert ist. Dass im Kontext postkolonialer Literatur typische Nationalstereotype dekonstruiert werden, eröffnet ferner einen kritischen Blick auf den Zusammenhang von Kolonialismus und Kultur insgesamt. Dabei kommt dem Kollektivsymbol vom deutschen Wald eine Schlüsselrolle zu. 3.1.2 Die Kolonie als Pflanzstätte: Kolonialismus als Kultur Steinaeckers Roman Schutzgebiet wurde bisher im Kontext postkolonialer Studien kaum wahrgenommenen. Die Gründe dafür, so eine Vermutung, könnten darin liegen, dass starke Verschiebungen historischer Fakten ins Fiktionale eine kolonialgeschichtliche Kontextualisierung der Erzählung erschweren. Dennoch stützt eine Reihe von Verweisen die Lesart, es könne sich bei der fiktionalen »afrikanische[n] Kolonie Deutsch-Tola« (St 47) um die ehemals deutsche Kolonie Togo handeln. Das betrifft vor allem Personen- und Ortsangaben, historische Ereignisse wie auch das Kolonialstereotyp von der ›Musterkolonie Togo‹.7 Dirk Göttsche betont dabei, dass es bei Steinaeckers Roman im Vergleich zu anderen Texten, die seit 2000 erschienen sind, keinesfalls darum gehe, deutsche Kolonialgeschichte zu rekonstruieren: »It is obvious from the outset that the story-world of Schutzgebiet operates on a symbolic rather than a realistic level.« (Göttsche 2013: 170) Vielmehr kennzeichnen Aspekte der Ironisierung, Groteske und des Pastiches den Umgang mit dem kolonialen Imaginären:
7
Zentral sind hier Strategien der Verfremdung: Da wäre zum einen das im Text auftauchende Stereotyp von der ›Musterkolonie‹ (vgl. St 170), womit ein relativer wirtschaftlicher Erfolg der Kolonie im Vergleich zu deutschen Schwesterkolonien in Afrika (vgl. St 48) beschrieben ist, die mit »Deutsch-Südwest« und »Deutsch-Ostafrika« (St 105) auch konkret benannt werden. Das Schutzgebiet »Tola« grenzt ferner an die Nachbarkolonien England und Frankreich (vgl. St 208). Es liegt zudem am »westlichen Rand des riesigen Kontinents« und ist »winzig klein« (St 15). Es gibt den Ort »Loué« (St 26), der sich als Verfremdung der heutigen Hauptstadt Togos, Lomé, liest. Auch heißt der Gouverneur der Kolonie »Herzog Adolf von Maysenbug« (St 107), dessen Name dem letzten Gouverneur Togos, Herzog Adolf Friedrich zu Mecklenburg, ähnelt, der das Amt von 1912 bis 1914 innehatte. Darüber hinaus hat es den Ort »Bismarckburg« (St 80) als Stützpunkt der deutschen Verwaltung gegeben (vgl. dazu Schnee 1920: 217). Vgl. zur Quellenanalyse auch Göttsche (2013: 167f.).
164 | L ITERATUR ALS P ALIMPSEST Schutzgebiet is clearly not meant to critically reconstruct German colonial history in West Africa. Rather than drawing on historical research, fact, and documents, as do most of the other historical novels about German colonialism, it presents a highly ironic pastiche of the German colonial imagination and culture, an entertaining potpourri of familiar colonial motifs which exposes the grotesque nature of colonialism, as seen from the defamiliarizing distance of a hundred years. (Göttsche 2013: 168)
Der Roman Schutzgebiet verschiebt das Kollektivsymbol vom ›deutschen Wald‹ in den historischen Kontext des deutschen Kolonialismus in West-Afrika. Das Phantasma vom »deutschen Forst auf afrikanischem Boden« (St 61) verweist über das Motiv der Aufforstung, also der Pflanzung deutscher Baumarten auf tolalesischem Boden, auf einen charakteristischen Zusammenhang von Kolonialismus und Kultur, den Alexander Honold und Oliver Simons (2002) fokussiert haben. Den Autoren geht es dabei um die »kulturelle Dimension des Kolonialismus«, d.h., wie »koloniale[ ] Praktiken und Deutungsmuster« (ebd.: 9) auf einen kulturellen Resonanzboden zurückgeführt und dadurch als integraler Bestandteil von Kultur gelesen werden können. Erscheint die unterstellte Gleichsetzung von Kolonialismus und Kultur auf den ersten Blick auch widersprüchlich (vgl. ebd.: 7), so verweisen die Autoren auf die etymologische Wurzel des lat. Verbs colere, der Hartmut Böhme in seinem Aufsatz über die historische Semantik des Kulturbegriffs nachgegangen ist. Das Verb colere bedeute unter anderem so viel wie »anbauen, bearbeiten, Ackerbau betreiben« (Böhme 1996: 50). Im Zentrum der Vorstellung von Kultur stehe das Verhältnis des Menschen gegenüber der Natur. Kultur beruhe demnach auf Prozessen der »Verräumlichung und Verstetigung«, die als »Akt der Entwilderung« zu begreifen sind, wodurch soziale Gemeinschaften »ihr Überleben und ihre Entwicklung in einer übermächtigen Natur sichern.« (ebd.: 52) Neben dem engen Bedeutungskreis von cultus (Substantivierung von colere), der die »Praktiken des Landbaus« (ebd.: 50) meint, wird im Rahmen der hier geführten Überlegungen eine weitere Bedeutung interessant, die Böhme als »metaphorisch« bezeichnet und dabei zwei »Agritechniken« (ebd.) unterscheidet: Auf der einen Seite entstehen die coloniae (Plural von colonia) als ›Pflanzstädte‹, ›Niederlassungen‹ und ›Kolonien‹, »die den Versuch einer Übertragung bestimmter Siedlungs-, Gesellungs- und Arbeitsweisen auf eine neue Region, einen anderen Lebensraum darstellen« (Honold/Simons 2002: 8; vgl. Honold 2014: 75). Auf der anderen Seite dienen Agritechniken als »Modell des Begreifens von mentalen, sozialen, religiösen, erzieherischen Meliorationen, mithin der ›Kultivierung‹ einer Gesellschaft oder eines Individuums« (Böhme 1996: 50). Zusammengenommen referiert ein solches Kulturverständnis auf eine expansive Dimension von Kultur. Der Kulturbegriff hat damit eine Bedeutungsebene, auf der Prozesse der Kultivierung als Kolonialisierung lesbar werden, die eine Usurpation der räumlichen Fremde,
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aber auch des Fremden bereits in der Bedeutung von ›Kultur‹ mit einschließt. Mit Walter Benjamins Diktum »[e]s ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein« (Benjamin 2007: 132) ließe sich solch ein expansives Kulturverständnis weiter zuspitzen, das insbesondere auf die Gewaltgeschichte des Kolonialismus zuzutreffen scheint. Das koloniale Forstprojekt Benēsi realisiert im Kolonialsymbol vom ›deutschen Wald in Afrika‹ diese etymologische Wurzel von Kultur: Im Motiv des Aufforstens wird die Kulturpraxis des Pflanzens (Benēsi als ›Pflanzstätte‹) als koloniale Praktik lesbar, die den fremden Raum dabei nicht nur räumlich, sondern auch symbolisch in Besitz nimmt: »Der deutsche Geist hat hier ein würdiges Zuhause gefunden« (St 56), verkündet der Verwalter Gerber, »ihre Pflicht sei die Pflege, das Wachsen zu lenken« (St 92), bevor er auf die »erzieherische Aufgabe gegenüber den Wilden« (St 57) zu sprechen kommt. Das koloniale Ethos von der Zivilisierungsmission wird an dieser Stelle bereits das erste Mal grotesk gebrochen. So stellt der Roman kolonial-rassistisches Denken offen aus, das in Gerbers Ausführungen über die Disziplinierungspraktiken der »Schwarze[n]« zum Ausdruck kommt: Der Schwarze ist grausam und erwartet auch von uns, dass wir ihn angemessen, aber mit all der nötigen Härte bestrafen, sobald er gegen das Gesetz verstößt. […] So gibt es wichtige juristische Feinheiten. Auch das muss klar durchdacht sein. Ob man beispielsweise die Flusspferdpeitsche oder ein Tauendchen anwendet. Benutze ich die Flusspferdpeitsche, ist der Schwarze kaputt. Er fällt für Tage aus und fehlt mir im Wald. Der Dumme bin also am Ende ich. Benutze ich hingegen das Tauendchen, wird das von den Schwarzen möglicherweise als erträgliches Übel betrachtet. Übermütig begehen sie die Tat erneut. Sie sehen, die Sache ist so einfach nicht. (St 56f.)
Damit fallen im Forstprojekt Benēsi beide Bedeutungsdimensionen von Kultur zusammen: Zum einen wird der deutsche Wald in direktem Wortsinne zur ›Pflanzstätte‹. Koloniale Herrschaftspraxis als agri cultura repräsentiert damit sowohl den aktiven Prozess der Landnahme als auch den Akt der ökonomischen Nutzbarmachung (›Bepflanzung‹). Zum anderen, und diesen Aspekt gilt es besonders hervorzuheben, wird über die räumliche Inbesitznahme und ›Kultivierung‹ ein typisch koloniales Diskursmuster aktualisiert: Um den fremden Raum als ›leer‹ erklären zu können, werden seine Bewohner gleichsam mit ›naturalisiert‹. Als der Natur zugehörig und damit kulturlos bzw. unterentwickelt kann der ›wilde Afrikaner‹ (wie das leere Land für die Siedler) nun kultiviert, d.h. zivilisiert werden. Kultivierung kann auf diese Weise in zweifachem Sinne, d.h. als räumlich-ökonomische Nutzbarmachung
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(Besiedelung) einerseits wie auch als notwendige Maßnahme der Zivilisierung andererseits, legitimiert werden.8 Diese Vorstellung vom Afrikaner als integralem Teil der Natur spiegelt sich in der Fremdwahrnehmung des Verwalters Ludwig Gerber wider, die über eine Gleichsetzung von Mensch und Tier erfolgt. In der Unverständlichkeit der fremden Sprache klingt dabei noch jenes Konzept des Barbarischen (›barbarophon‹) an (vgl. Kristeva 1990: 60f.; Hamann 2012b: 54f.), das die Grenzziehung zwischen Eigenem und Fremdem, zwischen »Kultur und Nichtkultur« markiert (Schneider 1997: 21): Aus den dichten Kronen zu ihren Köpfen ertönt ein durchdringender Schrei, einmal, zweimal […] Trupp Sieben hängt oben in den Bäumen zum Ausasten der Tannen, wozu es bereits höchste Zeit ist, so wie sich die Kronen neigen. Nur dass die Arbeiter dabei Tiere nachahmen… das könnten sie getrost unterlassen. Oder aber die unterhalten sich. Weiß man ja nie bei den Schwarzen. (St 140f.)
Die Pflanzstätte ist zudem permanent bedroht von der sie umgebenden Natur, die als parasitär und damit als Gefahr für die ›Artenreinheit‹ des deutschen Waldes wahrgenommen wird, auf dem ja »[a]usschließlich deutsche Baumarten« (St 61) wachsen sollen: Aber diese verdammten fremden Samen; diese Parasiten, die sich an den mühsam gezüchteten Bäumen hoch schmarotzen und sie eines nahen Tages durch Lichtentzug verkümmern lassen werden. Wie Zimmerpflanzen in Blumentöpfen sitzen diese Bromeliazeen gemütlich da oben in den Astgabeln und lassen dreist ihre Stängel herunterfallen. Sobald Schirach wieder Kapazitäten frei hat, wird Gerber ihn bitten, ein Sonderkommando »Zur Beseitigung unerwünschter Sprösslinge von außen« bereitzustellen. Dann wird diese fremde Brut mit Stumpf und Stiel ausgerottet! (St 138f.)
8
Vgl. dazu auch Fiedler (2005: 14, 29, 287) und Bay (2012: 111f.). Matthias Fiedler hat darauf hingewiesen, dass insbesondere die »Topoi der Kindlichkeit und Natürlichkeit und vor allem der Unterentwicklung der afrikanischen Menschen« im kolonialen Diskurs das ideologische Fundament setzten, um »koloniale Inbesitznahme als ›Erziehungsauftrag‹« und dadurch nicht zuletzt koloniale Herrschaft als »Kulturmission« zu rechtfertigen (Fiedler 2005: 287; Hervorh. i. Orig.). Diese Topoi strukturieren über die Dichotomie ›Natur/Kultur‹ die Asymmetrie der kolonialen Beziehung. Zum Begriff der ›Kultur-‹ bzw. ›Zivilisierungsmission‹ als ideologisches Konzept zur Legitimierung europäischkolonialer Expansion vgl. den Beitrag »Vom Umgang mit dem ›Anderen‹. Zivilisierungsmissionen – in Europa und darüber hinaus« des Historikers Jürgen Osterhammel (2007).
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Die Vorstellung vom deutschen Wald als ›Rein-‹ bzw. ›Monokultur‹ wird damit zur Metapher rassenbiologischer Politik, die eine Vermischung der Kulturen verbietet und die Gerber zur Abwehr von Hybridität symbolisch in Stellung bringt. Dem deutschen Wald, so wird an dieser Stelle deutlich, ist demnach ein essentialistisches, homogenes und totalitäres Verständnis kultureller Identität unterlegt, das darüber hinaus beansprucht wird, um kulturelle Differenz herzustellen, die eine primitive von einer zivilisatorisch überlegenen Kultur unterscheidet.9 Heterogene bzw. hybride Konzepte von Identität werden folglich als Bedrohung empfunden und buchstäblich »mit Stumpf und Stiel ausgerottet!« (St 139). Die Erhaltung der ›Artenreinheit‹ wird somit in typisch kolonialer Logik zum ›Kulturkampf‹ gegen die Natur erklärt, denn einen »Austausch mit einheimischen Baumsorten galt es zu verhindern« (St 124), so erklärt Gerber. Das subversive Potential des Textes liegt jedoch genau in der Infragestellung dieses kolonialen Identitätskonzepts. Stolz präsentiert Gerber dem Offizier Schirach seine Züchtung, die sog. »Abies Gerber« (St 139) (lat. für ›Gerber-Tanne‹): Auf gut Glück hatte Gerber einen besonders kräftigen einheimischen Nadelbaum mit der deutschen Tanne gekreuzt, »ein gezielter Akt der Annektion sozusagen«, hatte er Schirach erklärt, als der nachfragte, ob es nicht gerade darum gehe, Deutsch und nur Deutsch zu bleiben. Ja und nein. Solange eine Vermischung erfolgversprechend ist, gebe es grundsätzlich nichts gegen sie einzuwenden. Da verhält es sich wie mit den Kolonien. Man wird es Gerber jedenfalls danken, denn das Holz der neuen Tanne ist stabil wie Mahagoni und besitzt eine ähnliche elegante Rotfärbung. (St 139)
Der ›Hybride‹ wird als Produkt gezielter, kolonialer Biopolitik entworfen und ist in den Augen Gerbers, wenn auch ausschließlich unter ökonomischen Gesichtspunkten, deutlich positiv konnotiert. Anders hingegen markiert Hybridität im kolonialen Diskurs meist einen negativen Subjektstatus, auf den hier die Frage des Offiziers Schirach referiert. Entlehnt aus der Biologie, in der Hybridität »sich auf die Züchtung und Kreuzung verschiedener Arten bezieht«, hat der Begriff im kolonialen Diskurs die Funktion, die »Kluft zwischen Kolonisatoren und Kolonisierten« zu legitimieren (Goetsch 1997: 135).10 Der Hybride als ›Arten-Mischling‹ gefährdet aus dieser Perspektive jenes für den kolonialen Diskurs so konstitutive Grundprinzip kultureller Differenzbildung, das Herbert Uerlings mit dem Begriff des »ethnisie-
9
Zur Konstitution eines »geschlossenen Kulturbegriffs« vgl. die Ausführungen bei Bloch u.a. (2016).
10 Einen aktuellen Überblick zu diesem Grundbegriff des postkolonialen Diskurses leistet der Beitrag »Hybridität. Ein begrifsgeschichtlicher Aufriss« von Thomas Schwarz (2015: 163–180).
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rende[n] Inferioritätsaxiom[s]« beschrieben hat (Uerlings 2005: 18; vgl. II.1, Anm. 6). Bleibt die Denkweise Gerbers zwar in einer rassenbiologischen Logik gefangen, so lassen es die Textstellen dennoch zu, koloniale Identitätskonstruktionen gegen den Strich zu lesen. Gerbers Hybride unterläuft dabei ein zentrales Merkmal kolonialer Identitäten. Die im kolonialen Diskurs als quasi natürlich, absolut und unüberwindbar entworfene kulturelle Differenz wird in Schutzgebiet nicht nur in ihrer Konstruiertheit desavouiert, sondern gleichsam in ihrer Widersprüchlichkeit ad absurdum geführt. Der Waldhybrid eröffnet so gesehen einen symbolischen Zwischenraum für Widerspruch bzw. Widersprüchliches. Ferner wird das koloniale Denkmuster, jene emphatische Kulturmission, die sich in der Frage des Offiziers Schirarch zeigt, zum zweiten Mal hintergangen. Gerbers Haltung entlarvt deutlich eine ökonomische Perspektive, die Nutzen und Profit kolonialer Projekte in den Vordergrund bzw. über das Credo der Kulturmission stellt. 3.1.3 Postkoloniale Lektüre: Canettis Wald Elias Canetti hat in seiner 1960 erschienenen Studie Masse und Macht dem Verhältnis der Deutschen zum Wald eine prominente Prägung eingeschrieben. »In keinem modernen Lande der Welt«, so schreibt Canetti, sei das Waldgefühl so lebendig geblieben wie in Deutschland. Das Rigide und Parallele der aufrechtstehenden Bäume, ihre Dichte und ihre Zahl erfüllt das Herz des Deutschen mit tiefer und geheimnisvoller Freude. Er sucht den Wald, in dem seine Vorfahren gelebt haben, noch heute gern auf und fühlt sich eins mit den Bäumen. […] Der Engländer sah sich gern auf dem Meer, der Deutsche sah sich gern im Wald; knapper ist, was sie in ihrem nationalen Gefühl trennte, schwerlich auszudrücken. (Canetti 2003: 202f.; Hervorh. i. Orig.)
Im Wald als Massensymbol 11 der Deutschen sieht Canetti ein anthropologisches Deutungsmuster für den deutschen Militarismus des 19. und 20. Jahrhunderts und bietet damit nicht zuletzt eine kulturkritische Perspektive auf ein typisch deutsches Kollektivsymbol an, dessen Traditionslinien bis weit in die deutsche Romantik zurückreichen. Für Canettis Konzept ist dabei die Gleichsetzung von Wald und Heer entscheidend: »Wald und Heer hängen für den Deutschen auf das innigste zusammen, und es läßt sich das eine so gut wie das andere als das Massensymbol der Nation bezeichnen; sie sind in dieser Hinsicht geradezu ein und dasselbe.« (Ebd.: 210; Hervorh. i. Orig.) So werden bei Canetti die semantischen Merkmale des Waldes
11 Unter »Massensymbolen« versteht Canetti »[k]ollektive Einheiten, die nicht aus Menschen bestehen und dennoch als Massen empfunden werden« (2003: 86). Massensymbole treten demnach symbolisch an die Stelle von Menschenmassen.
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auf den Symbolträger, den Deutschen, übertragen und als ›soldatische Tugenden‹ identifiziert: Seine [der Baum; J.O.] Standhaftigkeit hat viel von derselben Tugend des Kriegers. Die Rinden, die einem erst wie Panzer erscheinen möchten, gleichen im Walde, wo so viele Bäume derselben Art beisammen sind, mehr den Uniformen der Heeresabteilung. Heer und Wald waren für den Deutschen, ohne daß er sich darüber im klaren war, auf jede Weise zusammengeflossen. Was anderen am Heere kahl und öde erscheinen mochte, hatte für den Deutschen das Leben und Leuchten des Waldes. Er fürchtete sich da nicht; er fühlte sich beschützt, einer von diesen allen. Das Schroffe und Gerade der Bäume nahm er sich selber zur Regel. (Ebd.: 202)
Für die Analyse von Steinaeckers Schutzgebiet liefert Canetti eine weitere Möglichkeit, das Nationalstereotyp bzw. Kolonialsymbol vom ›deutschen Wald‹ gegen den Strich zu lesen. Die Gleichung ›Heer = Wald‹ findet sich in Steinaeckers Roman nicht nur in den Beschreibungen der Waldordnung durch den Erzähler, der Einblick in die Gedanken Gerbers gewährt: »In der Ferne, brav aufgereiht, in Reih und Glied, als wollten sie ihn, ihren Herren, grüßen, wiegten sich die ersten Bäume im Nieselregen.« (St 124) Auch in der Angst Gerbers vor der »afrikanische[n] Flora« (ebd.), von der Verwilderung und Unordnung ausgeht, wird die Stabilität der deutschen Ordnung bedroht, wie folgende Passage in Schutzgebiet verdeutlicht: Aber würde man den Angriffen der Millionen fremder Samen und Sporen im Frühling, die die Reinheit der Arten gefährdete, überhaupt standhalten? Wie sollte man diese Schlacht mit einer Schutztruppe und einem Offizier gewinnen, die geübt sein mochten im Kampf gegen Mensch und Tier – nicht aber gegen einen viel unberechenbareren Gegner, die afrikanische Flora? (ebd.)
Eine spätere Stelle führt am Beispiel der Waldwahrnehmung Gerbers exemplarisch vor, wie der Text den Reinheitstopos vom deutschen Wald irritiert und das koloniale Bewusstsein kultureller Überlegenheit unterläuft. In der Angst vor Überfremdung weist das Gefühl der Sicherheit bereits Brüche auf. Das koloniale Identitätssymbol eines ›deutschen Waldes in Afrika‹ verschiebt der Text insofern, als die Pflanzstätte permanent das Bedrohlich-Unheimliche im Eigenen hervorkehrt, was Gerber – wie der folgende Auszug demonstriert – zunehmend ins Bewusstsein dringt und pathologische Züge einer inneren Verunsicherung annimmt: Mitten im Wald fühlt Gerber sich am wohlsten. Hier macht ihm keiner was vor. Sieht man von den Schmarotzern ab, hat alles hier seine Ordnung. […] In Momenten wie diesen kann es geschehen, dass Gerber selbst zu einem solchen wird, einem Baum, vorzugsweise Nuss, im
170 | L ITERATUR ALS P ALIMPSEST Geist. In seinen Fingerspitzen fühlt er, wie seine Geschwister und Untertanen zugleich, ja, wie er selbst wächst, wie ihm Sonne und Regen – er atmet die Luft tiefer ein, zieht den Stiefel beschwingter aus dem Schlamm – neue Kraft verleihen, wie sich jedes Blatt, jedes Haar auf seinem Kopf bittend nach ihnen ausstreckt. Und die Angst, mein Gott, die Angst. Vor Würmern. Käfern. Schädlingsbefall. Gerber kann es spüren, in seinem Innersten, wie es sich irgendwo in einer Kuhle weiß windet; wie die Larven heimtückisch, von innen heraus, Stamm um Stamm aushöhlen, Blätter verzehrend mit grässlichen Mundwerkzeugen, schlimmer als die jedes Wolfes, das zarte und hilfsbedürftige Grün in sich hineinstopfen, bis man unversehens vor einer hölzernen Phalanx steht, kahl und tot. (St 140)
Die Repräsentation des deutschen Waldes rekurriert damit auch auf ein typisch koloniales Diskursmuster, das in der Dichotomie ›Ordnung‹ vs. ›Chaos‹ zum Ausdruck kommt. Auf diese semantische Binäropposition referiert auch Canetti, der die Ordnung des deutschen Waldes dem Tropenwald gegenüberstellt: Auf der einen Seite sieht er die Standhaftigkeit der Bäume, ihre »Sauberkeit und Abgegrenztheit gegeneinander, die Betonung der Vertikalen«, auf der anderen Seite steht der tropische Wald, »wo Schlinggewächse in jeder Richtung durcheinanderwachsen. Im tropischen Wald verliert sich das Auge in der Nähe, es ist eine chaotische, ungegliederte Masse, auf eine bunteste Weise belebt, die jedes Gefühl von Regel und gleichmäßiger Wiederholung ausschließt.« (Canetti 2003: 202) Der Tropenwald besetzt demnach einen semantischen Gegenraum zum deutschen Wald: »Chaos statt Strammstehen, buntes Durcheinander statt Uniformgrün, Biodiversität statt Monokultur« (Flitner 2000b: 10). Er steht folglich antithetisch für das bedrohlich Fremde: Er ist der »›andere Wald‹ zum aufgeräumten deutschen Forst.« (Ebd.) Zusammengefasst wird in Schutzgebiet das Kollektivsymbol vom deutschen Wald als Teil des kolonialen Imaginären inszeniert. In der Verschiebung dieses Symbols in den kolonialen Kontext bekommt dieser überlagernde Bild-Komplex allerdings Risse. Canettis Wald bietet dabei die Möglichkeit einer Gegenlektüre, durch die koloniale Dichotomien virulent werden, wie die Binäroppositionen ›Chaos‹ vs. ›Ordnung‹ oder ›bedrohliche Fremde‹ vs. ›sichere/vertraute Heimat‹ zeigen. An die Stelle dieser Dichotomien rückt die »Ambivalenz des kolonialen Diskurses« (Bhabha 2000: 130), die Homi K. Bhabha zufolge die widersprüchliche, gespaltene wie instabile Verfassung kolonialer Identitäten hervortreten lässt, jene angstbesetzte »Andersheit des Selbst, die in das perverse Palimpsest der kolonialen Identität eingeschrieben ist.« (Ebd.: 65) In der Vorstellung vom »wahrhaftigen Schwarzwald Afrikas« (St 233) findet Bhabhas Diktum eine symbolische Zuspitzung, die den Wald als Identitätssymbol des Deutschen aus seiner nationalistisch-kolonialen Monosemierung ins bedrohlich Ambivalente verschiebt. Die angstbesetzte Projektion, die das Andere als das immer schon Verdrängte im Eigenen zutage fördert, lässt folglich eine dekonstruktive Lektüre des Topos vom ›deutschen Wald‹ als na-
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tionales wie koloniales Identitätssymbol zu. Nicht nur der Baumhybride unterläuft die Mechanismen kultureller Differenzbildung im kolonialen Diskurs und stellt ihren Konstruktcharakter bloß. Auf ähnliche Weise ermöglicht die eingangs gezogene Parallele zum othering des Germanen eine invertierte Perspektive auf koloniale Repräsentationen, die u.a. über die Naturalisierung des Anderen versuchen, eine unüberwindbare Grenze zwischen Eigenem und Fremdem zu ziehen. Indem hier nicht nur der koloniale Andere, sondern ebenso der Kolonisierer über das Waldsymbol identifiziert bzw. ›naturalisiert‹ wird, wird die Koordinatenachse ›Natur‹ vs. ›Kultur‹ gleichsam eingeebnet und ihr Absolutheitsanspruch dekonstruiert. Über das Motiv des Scheiterns wird auf der Handlungsebene des Textes die Dekonstruktion des kolonialen Imaginären weiter vorangetrieben. Indem zum Schluss des Romans der Wald in Brand gerät und die Siedler abermals die Flucht ergreifen, geht die Kolonialphantasie vom ›deutschen Wald in Afrika‹ buchstäblich in Rauch auf. Das Chaosmotiv, das in verschiedenen Passagen des Romans immer wieder an die Stelle ›deutscher Ordnung‹ drängt, unterläuft insbesondere in dieser Schlüsselszene den Kolonialmythos von der ›Musterkolonie Togo‹12. Nachfolgend soll auf ein weiteres ästhetisches Merkmal eingegangen werden, das bereits im Abschnitt PALIMPSEST UND FIGUR ausführlich thematisiert wurde. Der Roman Schutzgebiet arbeitet, ähnlich wie Hamanns Usambara oder Krachts Imperium, mit ästhetischen Strategien komischen Erzählens, die sowohl zur Destabilisierung kolonialer Dichotomien beitragen als auch ihr dekonstruktives Potential in der Demontage kolonialer Heldenfiguren entfalten. Nicht nur die Figur des Verwalters Geber, sein ›Wahn am Wald‹, weist ein exzentrisches Verhalten auf, das den Irrwitz seines kolonialen Projekts bloßstellt. Wie bereits festgestellt, zieht es zudem eine Gruppe von Aussteigern nach Benēsi, die der Heimat entflohen sind, um in der Kolonie ihr Glück zu suchen. Dass auch die Fremde ihr utopisches Versprechen nicht einlöst, sondern zur Topographie des Scheiterns avanciert, ermöglicht eine dekonstruktive Lektüre, die den projektiven Kern kolonialen Begehrens auf groteske Weise desavouiert. Zum einen trägt der deutsche Wald selbst Merkmale des Grotesken, wenn etwa vom »wahrhaftigen Schwarzwald Afrikas« (St 233) die Rede ist. Zum anderen deutet der Schluss des Romans auf eine deutliche Verrückung kolonialer Koordinaten hin. In dieser Passage wird die koloniale Ordnung geradezu auf den Kopf gestellt. Inmitten einer karnevalesken Szenerie proben die Siedler zum Fest des ersten Jahrestages der Siedlung, also kurz vor der Zerstörung des Forstes, nebst dem deutschen Weihnachtslied »›O Tannenbaum‹« als »inoffizi-
12 Das koloniale Stereotyp von der ›Musterkolonie‹ wird in Schutzgebiet an einer weiteren Stelle aufgerufen und zugleich grotesk gebrochen. Über die Siedlung Benēsi heißt es: »Es wird ein Musterwerk entstehen. Ein Musterwerk mit Vorbildfunktion für das Restreich. Man wird einen Leuchtturm darstellen – einen Leuchtturm in der Wüste.« (St 170)
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elle Hymne Benēsis« (St 347) zwei preußisch-nationale Volkslieder: »›Was ist des Deutschen Tochterland?‹« und »›Heil dir im Siegerkranz!‹« (ebd.). »[Z]wei Siedler mit übergroßen Masken des Kaisers und Bismarcks, der Väter der deutschen Kolonialbewegung« (St 346f.), bilden die Spitze eines Karnevalszugs zu Ehren von Kolonie und Vaterland. Denn es galt »[e]in Bewusstsein […] dafür zu entwickeln, dass man nun eine Gemeinschaft und das eigene Schicksal mit dem der anderen verbunden ist.« (St 347) Die Schilderung der Feier, die in einem Alkoholexzess gipfelt, unterbricht der Text dabei erzählerisch durch Versauszüge des Volksliedes Heil dir im Siegerkranz. Dieses Verfahren setzt auf der einen Seite den Alkoholrausch ästhetisch in Szene, indem der Text selbst ins Schwindeln gerät, taumelt, torkelt und dadurch den Rausch von der histoire- auf die discours-Ebene überträgt. Auf der anderen Seite entwickelt dieses Alternieren von Lied-Text und Handlung eine komisch-groteske Wirkung, die das Waldsymbol als National- und Kolonialsymbol ins Absurde kippen lässt und die Zerstörung der Kolonie bereits auf einer ästhetischen Ebene vorwegnimmt. Im Text des Volksliedes heißt es: »Heilige Flamme, glüh / Glüh und erlösche nie / Fürs Vaterland […] Wie so stolz und hehr / Wirft über Land und Meer / Weithin der deutsche Aar / Flammenden Blick.« (St 347f.) Die Dekonstruktion des kolonialen Imaginären wird somit nicht nur mittels komisch-grotesker Verfahren unterstützt, sondern unmittelbar in der narrativen Logik des Textes, der Zerstörung von Wald und Siedlung, realisiert. Nicht zuletzt schreibt das Motiv des Scheiterns dem Text ein subversives Potential ein. Zentral ist allerdings die projektive Überlagerung von Heimat und Fremde. Der Text stellt somit die Brüche und Verwerfungen aus, die Kolonialphantasien in ihrem Wunsch nach räumlicher ›Verdopplung‹13 (bspw. der Traum vom ›Heim in der Fremde‹) von vornherein eingeschrieben sind. Alexander Honold hat dieses Prinzip anhand von Derridas Konzept der différance näher umschrieben: Bereits das klassische Modell der Kolonie indes enthält potentiell diese Sollbruchstelle der ›differierenden‹ Differenz eines Zeichentransfers, bei dem die Bedeutung konstitutiver logischer Unterschiede sich ›unterwegs‹, im Vorgang der kolonialen Verschiebung, auf eine system-destabilisierende Weise verändert. Das koloniale setting kreist von Anbeginn um den semiotischen Traum der (unmöglichen) Identität in der verdoppelnden, eine neue Dépendence gründenden Wiederholung. Ebenso wenig, wie die neue ›Pflanzstadt‹ eine identische
13 Auf solche spielt der Text unmittelbar an, wenn etwa die Gedanken Gerbers um die Flucht aus der Heimat kreisen und um die Erkenntnis, dass diese sie in der Fremde einholt: »Gerber schaute in den tiefblauen Himmel über ihnen. Für einen Augenblick war keine Zeit vergangen. Das hier war der Wald bei Zwiesel, das alte Reich der Geschwister. Obwohl sie Tausende von Kilometern und Jahrzehnte vom einstigen väterlichen Gut trennten, waren sie am Ende doch glücklich heimgekehrt.« (St 125)
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Kopie der Mutterstadt ergeben wird, kann die Zeichengebung und Verständigungspraxis auf dem Wege einer (vermeintlich) identischen Wiederholung von gesprochener Sprache über raum-zeitliche Grenzen hinweg ein intaktes, d.h. von Abweichungen unberührtes Sinnsystem erhalten. (Honold 2014: 82)
Dem ›deutschen Wald in Afrika‹ ist dieser Wunsch nach Verdopplung unterlegt, der bei Steinaecker auf drastische Weise ad absurdum geführt wird.14 In den Kontext des deutschen Kolonialismus ›verrückt‹, indem historische Bezugspunkte zitiert und zugleich verfremdet werden, verschiebt der Roman Schutzgebiet ein typisch deutsches Kollektivsymbol in ein ironisch-kritisches Licht, nicht ohne zugleich die Kolonialphantasie vom ›deutschen Wald in Afrika‹ der Lächerlichkeit preiszugeben.
3.2 D EUTSCHER B ERG IN A FRIKA : Z UR D EKONSTRUKTION DEUTSCHER G RÖSSE IN C HRISTOF H AMANNS U SAMBARA 3.2.1 Der Kilimandscharo als Kollektivsymbol und seine Verortung im Horizont des kolonialen Imaginären Um ½ 11 betrat ich als erster die Mittelspitze. Ich pflanzte auf dem verwitterten Lavagipfel mit dreimaligem, von Herrn Purtscheller kräftig sekundiertem »Hurra« eine kleine, im Rucksack mitgetragene deutsche Fahne auf und rief frohlockend: Mit dem Recht des ersten Ersteigers taufe ich diese bisher unbekannte, namenlose Spitze des Kibo, den höchsten Punkt afrikanischer und deutscher Erde: Kaiser-Wilhelm-Spitze. (Meyer 1890: 134)
Die Szene des Gipfelsturms bildet im Kontext des deutschen Kolonialismus in Afrika eine »Schlüsselszene kolonialer Geographie« (Hamann/Honold 2011: 13), bei der Expedition, Exploration und Expansion auf beispielhafte Weise Hand in Hand gingen (vgl. II.2.1).15 Am 6. Oktober 1989 glückte endlich Hans Meyers Ver-
14 Auf das literarische Prinzip der ›Verdopplung‹ im Kontext ästhetischer Verfahren der Verschiebung ist unlängst Simone Brühl näher eingegangen (vgl. Brühl 2016). 15 Christof Hamann hat in einem seiner zahlreichen Beiträge zur Kulturgeschichte des Kilimandscharos die These formuliert, dass die Art und Weise, ›wie‹ erzählt wird, d.h. mit welchen ästhetischen Verfahren Meyer seine Unternehmung schildert, zwei Ziele verfolgt, die auch im Rahmen der hier unternommenen Betrachtung des Kilimandscharos und seine Stellung im kolonialen Imaginären von Bedeutung sind: »Das Individuelle wird ins Kollektive bzw. Nationale, das Fremde ins Eigene überführt. Die Reiseberichte
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such, nachdem er zuvor zweimal gescheitert war. »Der afrikanische Riese war bezwungen, wie schwer er uns auch den Kampf gemacht hatte, und damit eine mehr als vierzigjährige Belagerung und Bestürmung des Kilimandscharo zum Abschluss gebracht« (Meyer 1890: 135), schreibt Meyer im Anschluss an die geschilderte Szene und setzt damit den Schlussstein unter die Chronik der Gipfelstürmer im 19. Jahrhundert. Interessant erscheinen an dieser Passage besonders die Art und Weise der ReInszenierung des Erlebten und die ästhetisch-diskursiven Praktiken der Aneignung – kurz: das Erzählen selbst –, d.h. ›wie‹ der Berg ins Reich geholt und aus ihm ein Deutscher wird. Sie geben Aufschluss darüber, welchen Ort der Kilimandscharo als ›deutscher Berg‹ im Horizont des kolonialen Imaginären besetzt und wie er zu einem »Populärsymbol deutscher Größe im spät zu Kolonien gelangten Deutschen Reich« aufsteigen konnte (Hamann/Honold 2013: 90; vgl. 2011: 102). Im Mittelpunkt der Szene steht ein performativer Sprechakt, eine quasi symbolisch-rituelle Zeremonie, die Meyer vollzieht, um seiner Tat die erforderliche Glaubhaftigkeit und Gültigkeit, also Autorität und Legitimität zu verleihen. Dieser Vorgang ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert: Nicht nur erinnert der Taufakt an einen Ritus der Initiation, »mit der herkömmlicherweise die symbolische Aufnahme in eine Religionsgemeinschaft vollzogen wird.« (Hamann/Honold 2011: 92) Auch scheint Meyers Darstellung auf typische Muster von Entdeckungs- bzw. Eroberungsszenen zu rekurrieren, wie sie Stephen Greenblatt in seiner Studie Wunderbare Besitztümer. Die Erfindung des Fremden: Reisen und Entdecker im Bild der Landungsszene Christopher Kolumbus’, jene Urszene kolonialer Inbesitznahme, beschrieben hat: Der Augenblick hat sich tief in die allgemeine Vorstellungswelt eingegraben: Der große Abenteurer steht am Strand, entrollt das königliche Banner und nimmt von der Neuen Welt Besitz. […] Der veranschlagte ›große Sieg‹ und das Entrollen des königlichen Banners lassen die Schilderung einer Schlacht erwarten, aber statt dessen berichtet Kolumbus von einer Reihe von Sprechakten: einer Proklamation (pregón), kraft derer er von den Inseln Besitz ergreift, gefolgt von mehreren Namensgebungen.« (Greenblatt 1998: 87–89)
Vor diesem Hintergrund liest sich Meyers Gipfelszene als Blaupause dieses historisch bedeutsamen Entdeckungs-Narrativs. 16 Greenblatt betont dabei, wie sehr es
von der Besteigung des Kilimanjaro sind Projekte nationaler Inbesitznahme, mit durchaus nachhaltigen Wirklichkeitseffekten.« (Hamann 2008a: 41) 16 Es gibt allerdings auch deutliche Unterschiede, die nicht nur die Topographie betreffen. Auch kommt Meyers Eroberungsszene ohne Fremdkontakt aus, zumal der Fremde in der Vorstellung vom unentdeckten Gipfel keinen Platz hat.
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sich bei Kolumbus’ Schilderung um einen »diskursiven Akt« (ebd.: 89) handelt, die ihren Gegenstand, also das, was sie zu bezeugen versucht, mithilfe des Wortes überhaupt erst hervorbringt. Dieser Traditionslinie schreibt Meyer sein Projekt ein, davon zeugen eine ganze Kette an Beglaubigungsstrategien, mit der er die Besitzergreifung realitätsmächtig ins Bild setzt: (1) Das Aufpflanzen und Hissen der Flagge, (2) der Sprech- bzw. Taufakt der Namensgebung, (3) das Dokumentieren zwecks Beglaubigung, auch wirklich dagewesen zu sein, (4) die Selbstreferenz auf den Entdecker sowie – ganz zentral – (5) die Adressierung der Eroberung, die den Souverän in das Recht setzt, nun Besitzer eines neu eroberten Stück Landes zu sein.17 Meyers Sprechhandlung folgt einem »idealtypischen Katalog von Legitimationsgesten« (ebd.: 92), der sein Projekt der Erstbesteigung nicht nur unter koloniale Vorzeichen stellte. Insbesondere trug der symbolisch-diskursive Akt dazu bei, den kolonialen Machtanspruch der Deutschen auf dem afrikanischen Kontinent nachhaltig zu verbriefen: Da Meyer von dem eroberten Gipfel zugleich als von Afrikas höchstem Berge spricht, klingt die vollzogene Umbenennung, als würde hier ein Epitheton wie zur Probe angelegt. Bemerkenswert, wie in diesem Fall zwei Größen durch wechselweise Auszeichnung aneinander wachsen; der höchste Berg Afrikas erhält das Prädikat ›deutsch‹, und Deutschland bekommt im Gegenzug einen Sechstausender zugesprochen. Mit nachhaltigen Konsequenzen: Die deutsche Flagge auf dem Kilimandscharo wird im folgenden Jahr, bei den deutsch-britischen Verhandlungen um den Tausch der Besitzrechte an den Inseln Helgoland und Sansibar, dafür sorgen, daß die Zugehörigkeit des Kilimandscharo-Gebietes zum deutschen Kolonialterritorium nicht mehr in Zweifel gezogen wird. Hans Meyers symbolische Inbesitznahme des Berges hatte selbst das geographische Faktum geschaffen, das sie zu rapportieren vorgab. (Honold 2004a: 137)
In der Gipfelszene wird der Leser zum Zuschauer bzw. Augenzeuge eines beispiellosen Schauspiels der symbolischen Besitzergreifung, durch das Meyer den Kilimandscharo beschlagnahmt und in den eigenen Bestand überführt, ja gewissermaßen ›inventarisiert‹. Hierfür steht symbolisch »das Hissen der Reichsflagge und der Sprechakt, mit dem Afrikas – angeblich bis dato namenlose – höchste Erhebung nun als Kaiser-Wilhelm-Spitze der deutschen Sprach- und Symbolordnung einver-
17 Die Historikerin Marina Münkler weist darauf hin, dass es bei der »Inbesitznahme qua Entdeckung […] zunächst um einen rein symbolischen Akt« gehe, der den Entdecker unter die Voraussetzung stellt, im Auftrag eines Souveräns, also keinesfalls »auf eigene Faust« zu handeln, da »Inbesitznahmeakte ohne einen Souverän im Hintergrund rechtlich ohne Folgen geblieben wären.« (Münkler 2002: 160.; vgl. Greenblatt 1998: 93f.; Marenco 1997: 136).
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leibt wird.« (Honold 2004a: 137) Ähnlich hat Hamann diesen Vorgang beschrieben: »Zum einen wird durch die Identifizierung die ›unbekannte, namenlose Spitze‹ ins ›bekannte‹ Eigene überführt; zum anderen erweist sich derjenige, der benennt, als ›Herr‹ über dasjenige, was benannt wird.« Auf diese Weise »wird das Gebiet insgesamt in den Besitz des ›Siegers‹ überschrieben, der in diesem Fall ein ganzes Land repräsentiert.« (Ebd.: 51; Hamann/Honold 2011: 93f.; 2013: 90) Der Taufakt ist dabei »Aneignung und Geschenk zugleich« (Greenblatt 1998: 130) und besiegelt den Machtanspruch des Souveräns in einem geradezu religiösen Zeremoniell. Als nun höchster Berg im deutschen Kaiserreichs konnte der Kilimandscharo so »zum pars pro toto für die koloniale Bedeutung Deutschlands und damit zu einem Kollektivsymbol« aufsteigen, »mit dem Schulkinder ebenso wie Erwachsene im Kaiserreich die Macht und die Größe Deutschlands assoziieren.« (Hamann/Honold 2011: 85f.)18 Zusammengenommen bildet der Kilimandscharo einen semantisch komplexen Ort der Überschreibung und Überlagerung. Nicht nur das Verhältnis von Eigenem und Fremdem, sondern gleichfalls das zwischen »Fiktion und Faktizität« (Hamann/ Honold 2013: 82) wird im Kontext der Entdeckungsgeschichte des Kilimandscharos verhandelt. Seine Geschichte ist einerseits die einer wissenschaftlichen Erschließung, Vermessung und Verdatung, andererseits bildet sie auch die »Geschichte einer starken Faszination« (Hamann/Honold 2011: 78), deren Ursprünge sich vom Mythos des ›Mondgebirges‹ bis in die griechische Antike zurückverfolgen lassen (vgl. ebd.: 107, 112). Dass ein Berg als Machtobjekt in den Blick kolonialer Begierde rückt, ist dabei kulturgeschichtlich kein Zufall. Im Mittelalter war die vertikale Raumordnung noch »religiös determiniert als eine Aufschau zu Gott« (Honold 2004a: 143) und fußte auf einer »Demutshaltung« (Böhme 2007: 48) des Menschen. Denn eine »Grundhaltung des Religiösen«, so schreibt Hartmut Böhme, »ist die Gestik ›von unten nach oben‹« (ebd.). Demnach galt der »Blick von oben herab« immer schon als »das Privileg Gottes«, das erst »durch das neuzeitliche Subjekt streitig gemacht wird, welches die Bergesgipfel erobert und damit ein Blickverhältnis, das auf Überschau und Beherrschung zielt und sich die Erde untertan macht.« (Honold 2004a: 143; Hamann/Honold 2011: 19) In dieser Bedeutung korrespondiert die göttliche Perspektive mit den hierarchischen Eigenschaften eines ›kolonialen Blicks‹, dem eine vertikale Machtachse, ein Blick von oben herab, eingeschrieben ist. Aus dem Bewusstsein kultureller Überlegenheit strukturiert dieses Blickregime das asym-
18 In einem frühen Beitrag hat Hamann das Kollektivsymbol ›Kilimandjaro‹ in elementarliterarischen Reden veranschaulicht, dessen Kontinuität sich von Hans Meyers Reiseberichten bis in die Gegenwart (bspw. in Werbung/Journalismus) aufspüren lässt (vgl. Hamann 2006).
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metrische Verhältnis zwischen Eigenem und Fremdem, zwischen Kolonisierern und Kolonisierten. Der Blick vom Gipfel ist demzufolge mit dem Besitz von Macht und Herrschaft über die optische Totale, die Land und Bewohner einschließt, assoziiert. Kurzum: »Der Gipfel des Berges markiert eine Position der Macht«. (Honold 2004a: 143)19 In der Genealogie politischer Herrschaft gehört es seit jeher zur »Performativität der Macht« (Böhme 2007: 51), wie Hartmut am Beispiel Kaiser Augustus ausführt, mit der Herrscher den Versuch unternehmen, sich dieser Machtposition und den damit verbundenen Konnotaten des Heiligen, Erhabenen und Ehrfürchtigen anzuverwandeln. Die symbolische Topographie des Kilimandscharos ist ein zentrales Thema des Romans Usambara. Nicht nur am historischen Topos seiner kolonialen Inbesitznahme, sondern zugleich an seiner erneuten Besitzergreifung im Zeitalter einer globalisierten Gegenwart, die mit neuen Reise- bzw. Entdeckungsformen (wie z.B. durch Tourismus begünstigt) einhergeht, arbeitet sich der Text ab. Am »höchsten Berg des Deutschen Kaiserreichs« (U 164), im Spannungsfeld zwischen deutscher Kolonialvergangenheit und globaler Gegenwart, verhandelt der Roman demzufolge koloniale, postkoloniale wie neokoloniale Fragen. Die imaginäre Konstruktion des Berges wird dadurch als komplexer symbolischer Ort der Überlagerung und Überschreibung lesbar, an dem Heimat und Fremde, Fakt und Fiktion, post- bzw. neokoloniale Gegenwart und koloniale Vergangenheit in eine differentielle, palimpsestartige Beziehung treten. Grundlegend für die nachfolgende Analyse ist die Annahme, dass der Text »das deutsche Kollektivsymbol des Kilimandscharo« (Hamann/ Honold 2013: 92) mittels ästhetischer Verfahren der Verschiebung bzw. der ›Deplatzierung‹ (Bhabha) in ein kritisches Licht rückt. Die Stellung des ›deutschen Berges in Afrika‹ innerhalb eines kolonialen Imaginären stellt der Text damit zur Disposition. Dabei werden nicht nur die symbolischen Praktiken seiner Aneignung sowie historische Kontinuitäten ausgestellt. Vor allem legt Hamanns Roman den Kern eines kolonialen Begehrens bloß.20 Das Symbol ›deutscher Größe‹, der Kilimandscharo, wird daher in Usambara auf ganz verschiedene Weise überschrieben und in ein »differentielles Spiel« (Uerlings 2012: 53) überführt, das sein subversives Potential in der Dekonstruktion des kolonialen Imaginären entfaltet.
19 Das zeigt neben der religiösen auch seine Bedeutung in militärischen Diskursen. Vgl. dazu die Merkmale des ›Feldherrenblicks‹ als ein Blick von oben (Hamann/Honold 2011: 24f., 27). 20 Unter Dekonstruktion des kolonialen Imaginären versteht Herbert Uerlings auch die kritische Auseinandersetzung mit »Formen des kolonialen Gedächtnisses« (2012: 54). Dazu gehören explizit auch »Raumvorstellungen (wie sie sich in Kosmologien, Landschaftsbeschreibungen, Karten, Darstellungen von Kontaktzonen und Utopien oder eben Heterotopien sowie dritten Räumen etc. niederschlagen)« (ebd.: 55).
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3.2.2 Am Gipfel der Parodie. Die komische Überschreibung einer Schlüsselszene deutscher Kolonialgeschichte in Afrika In Christof Hamanns Roman Usambara wird das Kolonialsymbol des Kilimandscharos sowohl auf der Vergangenheits- als auch auf der Gegenwartsebene verhandelt. Die Stellung des Kilimandscharos im kolonialen Imaginären, insbesondere seine Bedeutung als deutsches Kollektivsymbol wird bereits zu Beginn des Romans, genauer gesagt, noch vor Eintritt der eigentlichen Erzählung (U 9) aktualisiert. An exponierter Stelle, im Paratext zwischen Titelei und Erzählanfang, wird dem Leser ein Auszug aus Fritz Jaegers Vorwort im Jahrbuch für die deutschen Kolonien (1914) präsentiert. Jaeger selbst war es, für den Meyer 1910 »an der Berliner Universität mit eigenen Mitteln eine Stiftungsprofessur für Kolonialgeographie einrichten ließ« (Brogiato 2007: 115). Das Pathos, mit dem Jaeger seinem Unterstützer gleich in den ersten Zeilen seines Vorworts einen Ehrenplatz in der deutschen Kolonialgeographie zuwies, mag dabei nicht wenig überraschen. Doch auf bemerkenswerte Weise werden Fremde und Heimat hier in ein Verhältnis gesetzt. Ins Zentrum stellt Jaeger jenen Aspekt der »Eindeutschung« (Hamann/Honold 2011: 94), mit dem der fremde Berg – nun als ›Kaiser-Wilhelm-Spitze‹ – ins Deutsche Reich geholt wird: Wem in deutschen Landen ist nicht der Name des höchsten Berges von Afrika geläufig? Jedes Schulkind kennt den Kilimandscharo so gut wie den Brocken oder die Schneekoppe oder den Montblanc. Und mit dem Namen des Berges eng verknüpft ist der Name des kühnen Mannes, der zuerst seinen männlichen Fuß auf ihn setzte, dem wir es wesentlich verdanken, daß dieser Berg ein deutscher geworden ist, Hans Meyer. Wenn der moderne Weltreisende mit der Eisenbahn den Berg erreichen und mit derselben Bequemlichkeit von Gasthof und Schutzhütte ihn besteigen kann, wie einen Gipfel der Alpen, so wird er sich kaum bewußt werden, was für ein schwieriges Unternehmen die erste Besteigung gewesen ist. Erst dem dreimal erneuten Ansturm ergab sich der Riese.21 (U 7; Hervorh. i. Orig.)
Axel Dunker hat über dieses Zitat geschrieben, dass bereits an dieser Stelle des Romans dem »Thema der Erstbesteigung des Kilimandscharo sofort die Unschuld genommen [werde]: sie [sei] nicht zu trennen vom deutschen Kolonialismus.« (Dunker 2012a: 157) Seitens der Forschung zu Usambara ist dabei bislang übersehen worden, dass zwischen Original und Bearbeitung bei Hamann – bzw. zwischen 21 Der Publikationsort wird von Hamann in seinem Roman nicht explizit ausgewiesen. In drei späteren Texten, einem wissenschaftlichen Aufsatz (2008a: 40) und zwei poetologischen Beiträgen des Autors (2009: 315f.; 2007b: 50), liefert Hamann die Quelle (vgl. Jaeger 1914: 1).
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Hypo- und Hypertext, um in der Terminologie Genettes zu sprechen – eine Differenz besteht. Heißt es bei Jaeger noch »der ihn zuerst bezwang und ihn zuerst eingehend erforschte« (Jaeger 1914: 1), so ist in Usambara daraus ein »der zuerst seinen männlichen Fuß auf ihn setzte« (U 7) geworden. Durch diese Substitution ruft der Text ein typisches Diskursmerkmal auf, das die Inbesitznahme als typisch männlich-erotischen Akt der Eroberung betont.22 Zudem ist die zeitliche Kontextualisierung »vor 25 Jahren« (Jaeger 1914: 1) herausgefallen, und somit Jaegers Anlass für die Laudatio, zum Jahrestag der Erstbesteigung (1914) Meyers geographisch-wissenschaftliche Leistung im »Dienst der koloniale Sache« (ebd.: 5) zu unterstreichen. Die pathetischen Worte Jaegers aktualisieren nicht nur den Kilimandscharo als nun ›deutschen Berg‹ und Kollektivsymbol. Dieser sprachlichsymbolische Akt der Anerkennung trägt insbesondere dazu bei, den koloniale Heldenmythos Hans Meyers zu stiften, wie die Formulierungen »kühner Mann«, »bezwang« oder »erst dem dreimal erneuten Ansturm ergab sich der Riese« veranschaulichen. An dieser exponierten Stelle zeigt sich bereits ein für Hamanns Poetik zentrales ästhetisches Verfahren, das auf einem spezifischen Umgang des Autors mit historischem Quellenmaterial beruht. In zwei poetologischen Beiträgen hat Hamann selbst diesen Umgang als »Ruinieren, Verketten, Verformen« explizit gemacht. In diesen hat auch Jaegers Text Eingang gefunden, der im folgenden Zitat zur Verdeutlichung kursiv hervorgehoben ist: Schreiben, also sammeln. Aufsammeln. Auflesen. Sich lesend an vergangene, sogenannte Tatsachen hängen. Fremdgehen. In der Fremde stromern. Mit der Nase den Boden entlangfahren. Schnüffeln. An Tatsachen herumschnüffeln. Ein süchtiger, stets hungriger Hund. Wenn ein Geruch in die Nase steigt, zuschnappen. Stofffetzen herausbeißen. Nähte platzen lassen. Lesen als Beißarbeit. Zerstörungsarbeit. Mit dem aus der Welt Herausgebissenen weitergehen. Namen. Hans Meyer. Leonhard Hagebucher. Baron Adalbert Emil Walter Redcliffe Le Tanneux von Saint Paul. Einem Satz. Jedes Schulkind kennt den Kilimandscharo so gut wie den Brocken oder die Schneekoppe oder den Montblanc. Einem zweiten. Die Saintpaulia ist wohl eine der reizendsten Warmhauspflanzen, welche in den letzten Jahren eingeführt worden sind. Die Namen, die Sätze verbindet nichts. Ich würge an ihnen. Und nun? (Hamann 2009: 313; so auch 2007b: 48)
Indem der Autor in Usambara eine Zeile des Jaeger’schen Originaltextes palimpsestiert, stellt er ein Merkmal des Kollektivsymbols vom Kilimandscharo aus, das die Eroberung des Berges zur typisch männlichen Angelegenheit macht und den
22 Vgl. ausführlich zu diesem Diskurskomplex die Analyse der Figur Hagebucher II.2.1.2.
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Berg implizit ins Weiblich-Exotische verschiebt, das auf seine Inbesitznahme wartet. Zusammengefasst veranschaulicht das Zitat, das der Handlung wie ein Motto vorangestellt ist, ein poetisches Palimpsestprogramm, das für postkoloniale Texte der Gegenwartsliteratur konstitutiv ist. Es verweist zum einen auf den grundsätzlichen Stellenwert, den koloniale Quellentexte innehaben, indem sie zum Ausgangspunkt und zur Grundlage des Schreibens werden. Zum anderen sind hier bereits wichtige literarische Verfahren im Umgang mit Prätexten aufgerufen, wie z.B. das der Streichung, der Verfremdung und der Interpolation. In Abschnitt II.4.1 gilt es, auf diesen Aspekt des postkolonialen rewritings noch genauer einzugehen und zu prüfen, inwiefern diese Art und Weise der Bearbeitung als kritische Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus gelesen werden kann, die gegen ihre historischen Vorläufertexte und ›Vorbilder‹ anschreibt. Aus einem anderen Blickwinkel wird dieser Romananfang, der eigentlich keiner ist, aber auch zur ›falschen Fährte‹. 23 Arbeitet der Einstieg somit einerseits am Mythos Meyer, so hat die Analyse (II.2.1.1) zeigen können, wie dieses Bild andererseits im weiteren Verlauf des Textes mittels parodistischer Verfahren des komischen Erzählens überzeichnet, ins Lächerliche-Exzentrische gerückt wird und damit eine dekonstruktive Lektüre dieser ›kolonialen Heldenfigur‹ ermöglicht. Auf der Vergangenheitsebene rückt die Besteigung des Kilimandscharos innerhalb des letzten Kapitels (U 219–259) in den Mittelpunkt der Erzählung. An dieser Stelle des Romans überschreibt Usambara die Schlüsselszene des deutschen Kolonialismus in Afrika, indem er den historischen Prätext mit literarischen Praktiken der Verschiebung parodiert.24 Ein direkter Vergleich von Prätext (Hypotext) und Folgetext (Hypertext), von dem Meyer’schen Reisebericht mit Hamanns Palimpsest Usambara zeigt die Differenzen. Bei Meyer heißt es, wie eingangs zu Kapitel II.3.2 bereits zitiert: Um ½ 11 betrat ich als erster die Mittelspitze. Ich pflanzte auf dem verwitterten Lavagipfel mit dreimaligem, von Herrn Purtscheller kräftig sekundiertem »Hurra« eine kleine, im Rucksack mitgetragene deutsche Fahne auf und rief frohlockend: Mit dem Recht des ersten Erstei-
23 Hierfür spricht übrigens auch, dass Hamann in seinem poetologischen Beitrag den Auszug von Fritz Jaeger ›falsch‹ zitiert bzw. verfremdet, wodurch er das Originalzitat dem Roman annähert (vgl. 2007b: 49). 24 Dunker hat Hamanns Verfahren als eine »die Quelle grotesk um-schreibende Relektüre« bezeichnet. Sie »hebt die Absurdität, die darin liegt, dass zwei Europäer den höchsten Berg Afrikas auf den Namen eines deutschen Kaisers taufen und damit mehr als nur symbolisch für Europa in Besitz nehmen, hervor.« (Dunker 2012: 159)
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gers taufe ich diese bisher unbekannte, namenlose Spitze des Kibo, den höchsten Punkt afrikanischer und deutscher Erde: Kaiser-Wilhelm-Spitze. (Hans Meyer 1890: 134)
Aus der pathetischen Selbstinszenierung Meyers ist bei Hamann eine ganz andere, deutlich nüchternere, realistischere Situation geworden, die nicht nur den Ernst der Lage ungeschminkt vor Augen führt.25 Vor allem taucht der Text die Glaubwürdigkeit der Schilderung Meyers insgesamt in ein komisch-ironisches Licht: […] ihren Gesichtern angesehen, wie fertig sie alle sind, auf der Spitze, sie bringen zunächst keine Silbe mehr heraus, sie heulen und ringen nach Luft. Irgendwann greift Meyer in seinen Rucksack, entrollt die deutsche Fahne, deren Holzstock er mit einigen Steinen zwischen ihnen befestigt. Sie wedelt hin und her, berührt Schleier und Gletscherbrillen. Mit dem Recht des ersten Besteigers, sagt Meyer, während er aufsteht und die beiden anderen mit ihm, taufe ich diese bisher unbekannte, namenlose Spitze des Kibo, den höchsten Punkt afrikanischer und deutscher Erde, Meyerspitze. (U 248)
Meyers heroische wie egozentrische Selbstdarstellung als Expeditionsleiter und Autor des historischen Reiseberichts wird in Usambara aus einer anderen Erzählperspektive fokalisiert. Bei der Erzählinstanz Fritz Binder handelt es sich nicht um einen autodiegetischen Erzähler wie bei Meyer, sondern um einen heterodiegetischen, einen Erzähler also, der nicht Teil der erzählen Welt ist, der selbst Distanz zum Geschehen hält und aus einer Perspektive der ›Übersicht‹ (Genette nennt diesen Fall ›Nullfokalisierung‹) das Vermögen haben kann, den Wahrnehmungshorizont, das Innenleben und die Gedanken der an der Handlung beteiligten Figuren auszuleuchten. Durch diesen Wechsel verliert Meyer die allmächtige Position, er ist nicht mehr Herr seiner eigenen Geschichte. Wird durch diesen metafiktionalen Eingriff bereits der Anspruch des Reiseberichts auf historische Wahrheit infrage gestellt und der Konstruktcharakter von Geschichte, ihr Gemacht-Sein, insgesamt desavouiert, so hat diese veränderte Stellung des Erzählers zum Geschehen (vgl. Martínez/Scheffel 2007: 80–84) eine Erzählinstanz zur Folge, die aufgrund ihrer Unzuverlässigkeit den Anspruch auf Authentizität gleich doppelt hintergeht. Ihre alternative Sichtweise erscheint ebenso wenig glaubwürdig wie Meyers und führt somit die Unmöglichkeit einer authentischen Geschichtsdarstellung vor. Zugleich wird die von Meyer emphatisch aufgeladene Szene in ihrer exponierten Stellung und Geschlossenheit erzählerisch aufgebrochen. Dieser Eingriff korrespondiert mit der ästhetischen Erzählstruktur des Schlusskapitels in Usambara. Der Erzähler Fritz Binder befindet sich zum Zeitpunkt des Erzählens bereits selbst
25 Zu dieser Passage vgl. auch die Ausführungen von Beck (2011: 37f.) und Dunker (2012: 158f.).
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auf dem Weg zur Bergspitze. Die Höhenkrankheit steigt ihm zunehmend zu Kopf, was sich im Erzählen selbst ausdrückt: So laufen in dem Kapitel die zwei Erzählebenen des Romans alternierend ineinander, wodurch das ambivalente Motiv des ›Schwindels‹ ästhetisch in Szene gesetzt ist. Die Gipfelpassage ist daher um ihren szenischen Einstieg verkürzt, der im Reisebericht wichtige Funktionen der sprachlich-symbolischen Aneignung, der Dokumentation und der Beglaubigung, »auch tatsächlich dagewesen zu sein« (Greenblatt 1998: 94), besetzt: die Nennung von Zeit und Ort (»Um ½ 11 betrat ich als erster die Mittelspitze«). Die annähernde Deckung von Erzählzeit und Erzählter Zeit (›szenisches Erzählen‹), die bei der Lektüre von Meyers Reisebericht ein unmittelbares Erleben und Nachvollziehen erlaubt, dehnt Hamanns Roman deutlich aus.26 Dieses erzählerische Ausdehnen der Zeit desavouiert das Pathos in Meyers Schilderung, das im Reisebericht die Wirklichkeit verschleiert. Die erzählerische Dehnung setzt stattdessen die klimatischen Bedingungen vor Ort sowie die körperlichen Strapazen realitätsmächtig ins Bild. Dieser ›Realitätseffekt‹ ist jedoch nur vorläufig, wird er anhand von Überzeichnung doch selbst wieder aufgehoben und das Bild vom heldenhaften Bergsteiger zur Karikatur verzerrt. Der pathetischen Darstellung Meyers wird durch die parodistische Umschreibung bei Hamann der Glanz des Heroischen genommen. Der Text unterläuft den kolonialen Mythos der ›Eindeutschung‹ des Kilimandscharos, wodurch das koloniale Kollektivsymbol gewissermaßen ›entzaubert‹ wird. Statt »sekundiertem ›Hurra‹« bei Meyer steht den Expeditionsteilnehmern sprachlos die Erschöpfung ins Gesicht geschrieben: Niemand scheint zu »frohlocken[ ]« (Meyer 1890: 134), wie es bei Meyer heißt, denn »sie bringen zunächst keine Silbe mehr heraus, sie heulen und ringen nach Luft.« (U 248) Wenn bei Meyer die Szene geradezu nach Entdeckervorschrift abläuft, so wird in Usambara das Ereignis zum Schauplatz des Zufälligen, das »[i]rgendwann« dazu führt, dass Meyer Wort und Tat ergreift. Das Hissen der Flagge wird dabei ins Banale verschoben und entmythisiert: Die Flagge wird behelfsmäßig befestigt, »[s]ie wedelt hin und her«, vor allem aber den Entdeckern ins Gesicht. Auch eine weitere Einfügung in den Prätext scheint nicht ganz in Meyers Bild zu passen. Auf das Flaggehissen und den Sprechakt folgt in Usambara ein Ritual, bei dem die Namenstaufe buchstäblich mit »eine[r] kleine[n] Flasche Enzianschnaps« (ebd.) begossen wird, die Meyer nebst »drei Zigarren« aus seinem Rucksack hervorholt. Höhepunkt der Szene bildet die Benennung der Spitze, und zwar nicht nach dem Kaiser, sondern nach dem »Expeditionsleiter« (U 249), also Meyer selbst. Auf den narzisstischen Akt der Namenstaufe, den Mey-
26 Hervorzuheben ist bei Meyers Bericht der Wechsel vom Modus des Erzählerberichts in die direkte Rede, der die Handlung der Gipfelszene unmittelbarer erscheinen lässt und die Bedeutung der Szene, insbesondere für das koloniale Bestreben der Deutschen in OstAfrika, hervorhebt (vgl. Hamann 2008a: 51).
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er ohne Rat seiner Kollegen vollzieht, folgt allerdings ein Affront: Es kommt zum hitzigen Streit mit dem Bergsteiger Ludwig Purtscheller, der ebenfalls Anspruch auf den Berg erhebt. »Immerhin habe ich Sie hinaufgeführt« (U 249), lässt er Meyer wissen, und [ü]berhaupt: Meyerspitze klingt sehr gewöhnlich. Das müssen Sie zugeben. Stellen Sie sich Ihren Namen in den Alpen vor. Lächerlich! Purtschellerspitze dagegen, das hat was. Originalität! Esprit! Ich muss schon sehr bitten. Meyer ist vom Klang her ein repräsentativer deutscher Name. Wenn dieser Name fällt, weiß jeder, aha, vor mir steht ein Deutscher. Darüber hinaus gibt das ey in der Schreibweise dem Ganzen eine besondere Note. Purtscheller jedoch klingt wie aus dem hintersten Dickicht in Österreich […]. (U 249f.)
Der rhetorische Schlagabtausch eskaliert und führt zu dem Punkt, an dem schließlich beide »begreifen, dass Worte keine Lösung sind.« (U 254) Das Wortgefecht wird nun mit Fäusten ausgetragen, der absurde Streit um die Definitionsmacht gipfelt in einem Boxkampf, der allerdings keinen Sieger hat. Es kommt zum Remis, zum »[d]oppelte[n] Knockout« (U 256) und der Einigung, mit der Spitze den deutschen Kaiser zu ehren. Dass Meyer in Hamanns Parodie der Gipfelszene seinen Namen in Anschlag bringt, unterläuft nicht nur die zuvor erläuterte Voraussetzung von Entdeckungen, die nur durch einen Souverän ins Recht gesetzt werden kann. Mit der Streitszene um das Privileg, dem Fremden seinen Namen einzuschreiben, desavouiert der Roman gegenüber der historischen Folie zugleich den exzentrischen Kern kolonialen Begehrens, der sich in Größenwahn und Geltungssucht Bahn bricht (vgl. u.a. zum Motiv des Stachels II.2.1.1). Am Gipfel der Parodie, so ließe sich pointieren, wird diese Schlüsselszene des deutschen Kolonialismus zur Farce. Schafft es der Roman dadurch, das Symbol ›deutscher Größe‹ zu dekonstruieren, so besteht eine weitere Leistung des Textes darin, die symbolisch-diskursiven Praktiken der Aneignung, wie sie in der Benennung zum Tragen kommen, ironisch-komisch auszustellen. Hamanns parodistisches rewriting ist demzufolge als kritischer Kommentar zu lesen, der den projektiven Charakter von Kolonialphantasien vorführt und über die Irritation zwischen Prätext und Roman jene Mythen vom ›heldenhaften Entdecker‹ als koloniale Fiktion entlarvt. Damit stellt der Roman die Glaubwürdigkeit von Reiseberichten insgesamt infrage und warnt, dass historischen Quellen also nicht ohne Weiteres zu trauen sei, weil sie selbst Fiktion seien. Denn Hamanns Text scheint sich gerade nicht an ›die‹ Fakten zu halten. Vielmehr zieht er ihren ontologischen Status, den Wahrheitsanspruch von Geschichte und jene Praktiken, die zu ihrer Manifestation beitragen, grundsätzlich in Zweifel.
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Ein weiteres Verfahren tritt in einem sprachlichen Detail zu Tage, das in die historische Quelle interpoliert worden ist. Es legt nicht nur allgemein das koloniale Begehren am Berg bloß, sondern verweist auf ein zentrales semantisches Merkmal räumlicher Aneignungsprozesse, das vor allem für den Umgang mit dem Fremden insgesamt konstitutiv erscheint: Aus dem »Ersteiger« Meyer ist bei Hamann ein »Besteiger« geworden. Die Änderung des Präfixes aktualisiert ein Merkmal kolonialer Diskurse der Entdeckung, das auch der Eroberung des Kilimandscharo eingeschrieben ist. Der Berg wird durch die Betonung des »Besteigers« als das fremde, unbekannt Weibliche identifiziert und als das Objekt des Begehrens erotisch konnotiert. Die Eroberung des Fremden wird, wie bereits zuvor angeführt (vgl. II.2.1.2), dadurch zur Inbesitznahme des Weiblichen, das es im Forscherdrang zu ent- bzw. – der Etymologie nach – aufzudecken, sprich zu ›entschleiern‹ gilt: »Diese Symbolik begreift Forschung nicht allein als Geschlechterbeziehung«, so schreibt der Autor Hamann selbst in einem wissenschaftlichem Beitrag, sondern auch als Verhältnis zwischen eigener und fremder Kultur und veranschaulicht, dass zwischen (männlichem) Subjekt und (weiblichem, fremdem) Objekt ein hierarchisches Verhältnis besteht, das genutzt wird, um sich des Anderen zu bemächtigen. (Hamann 2008a: 48f.; 2008b: 88; vgl. dazu auch Dunker 2012a: 158f.)
Auch Herbert Uerlings hat darauf hingewiesen, dass »die Verbindung von kultureller und sexueller Alterität« ein typisches Merkmal kolonialer Diskurse darstelle, wonach »kulturelle Differenz« oftmals »geschlechtlich semantisiert« werde (Uerlings 2006: 10). Über Hamanns Einfügung des Präfixes wird diese typische Sexualisierung des Fremden offen ausgestellt, was im Reisebericht hingegen nur implizit vermittelt ist. Der Roman entlarvt mit seiner Überschreibung folglich das koloniale Begehren am Fremden als typisch männlich-sexuelle Eroberungsphantasie und legt damit das koloniale Imaginäre, also jenen Antrieb der Entdecker und Kolonisierer, auf komisch-absurde Weise bloß. 3.2.3 »Fritz-Binder-Berg« oder der Berg als Projekt. Der Kilimandscharo als komplexer Ort der Überlagerung deutscher Geschichte Auf der Gegenwartsebene des Romans steht die Faszination am Kilimandscharo und an seiner Besteigung im unmittelbaren Zusammenhang mit der Familiengeschichte des Urgroßvaters Leonhard Hagebucher, auf dessen Spurensuche sich der Urenkel Fritz Binder begibt. Im Vergleich zur Gipfelszene Meyers, die der Roman auf der Ebene der Vergangenheit parodiert, besteht die symbolische Bedeutung des Berges hier weniger in der Eroberung der Spitze, sondern vielmehr in der Metapher
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der Bergbesteigung, die für die Erzählerfigur Fritz eine identitätskonstitutive Rolle einnimmt. Für den autodiegetischen Erzähler avanciert der Kilimandscharo zum mythischen Ort zwischen Fakt und Fiktion, an dem die Geschichten des Urgroßvaters raum-zeitlich koinzidieren.27 Über die Mutter kolportiert,28 ziehen sie auch den Enkel in Bann und setzen seine Bewegung in Gang, die zur Sinn- und Selbstsuche, zum Identitätsprojekt und »therapeutischen Akt« wird, »der die Gegenwart des Erzähler-Ichs von den Schatten der Vergangenheit befreien soll.« (Catani 2009: 161; vgl. Beck 2011: 54; Göttsche 2013: 401) Am Berg wird die Familiengeschichte aufgearbeitet, in deren Mittelpunkt der Urgroßvater steht, dem Fritz »so viel Platz einräum[t] in [s]einem Leben« (U 86): »Das Beste an meiner Mutter«, so gesteht sich Fritz ein, »waren die Geschichten über Hagebucher.« (Ebd.) Der Berglauf wird in Usambara somit zur ›inneren Entdeckungsreise‹, die allerdings die Glaubwürdigkeit des Familiennarrativs zum Gegenstand hat, die von Beginn an mit Zweifeln behaftet ist. Fritz’ Begehren am Berg rekurriert dabei auf typische Diskursmuster von Entdeckungsreisen, wie sie zuvor am Beispiel von Meyers Reisebericht besprochen wurden. Über deren Aktualisierung fragt der Roman auch allgemein nach der Kontinuität kolonialer Denk- und Handlungsmuster im Kontext einer globalisierten Gegenwart, die im Denkmantel von Tourismus und Entwicklungshilfe fortwirken und den afrikanischen Kontinent erneut als Projektionsfläche, als »Freiraum europäischer Selbstverwirklichung« vereinnahmen (Diallo 2012: 213). Der Kilimandscharo bildet einen semantisch komplexen Ort, an dem typisch koloniale Diskursmuster aufgerufen, verknüpft, verschoben und überlagert werden, wie etwa militärische, mythologische und erotische Merkmale aus dem Bereich des Kollektivsymbols. Mit der Art und Weise, wie Fritz Binder in der Gegenwart in die Falle einer Wiederholung des Kolonialismus stolpert, legt der Text, kontrapunktisch gelesen, neokoloniale Spuren frei. Für die Erzählinstanz Fritz avanciert der Kilimandscharo mithin zur imaginären Geographie, an der sich sein Begehren entzündet und die den Berg zu etwas ganz individuell Bedeutsamem macht: Er wird für Fritz zu ›seinem‹ Berg, zum »FritzBinder-Berg« (U 135), der darauf wartet, erobert zu werden. Als Fritz den Berg sieht, rücken z.B. Aspekte des ›Wunderbaren‹ in den Blick, wie sie Hamann/Honold in Anlehnung an Stephen Greenblatt als typische Verfahrensweisen der imaginären Besitzergreifung beschrieben haben und in deren Kontinuitätslinien
27 Laura Beck spricht in ihrer Arbeit zu Usambara von »einer Flucht in eine bestimmte Epoche der Vergangenheit […], die mit einer räumlichen Flucht aus der deutschen Provinz nach Afrika einhergeht.« (Beck 2011: 22) 28 Vgl. die Reflexion Binders: »Die Erinnerungen sind von der Urgroßvaterstimme in die Mutterstimme und von da in meinen Kopf hinein gewandert.« (U 198)
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sich Fritz’ Bergbesteigung einschreibt: »Nach einigen hundert Metern sehe ich ihn«, so schildert Fritz seine Verwunderung, »zum ersten Mal, den Kilimandscharo, den Kibo, meinen Mondberg. Er steht tatsächlich für sich, ein riesiger Hügel, ein gestrandeter Wal.« (U 174) Für Fritz Binder ist die Teilnahme am »Kilimandscharo Benefit Run«, ein im »Februar 2006« stattfindender »mehrtägiger Berglauf auf den höchsten Berg Afrikas« (U 52), die Reaktion auf eine innere Krise, die durch den Tod der Mutter ausgelöst wird (vgl. U 41). Dieses Initialereignis bildet den Anlass zur Auseinandersetzung mit der eigenen Identität, weniger eine Flucht- denn vielmehr eine Suchbewegung, die zurück zur Familiengeschichte führt, zum »Stammbaum[ ], in dessen Ästen ich [Fritz Binder; J.O.] jetzt herumklettere« (U 131), wie es an späterer Stelle heißt. Für die Handlung und die Konfliktstruktur des Romans kommt jedoch besonders der Figur Michael eine wichtige Rolle zu.29 Sein »bester Freund« (U 12) ist zum einen die entscheidende Triebfeder für Fritz, sich der Herausforderung der Reise zu stellen, denn Fritz überkommen immer wieder Zweifel am Sinn der Unternehmung. 30 Zum anderen bildet Michael zugleich eine Gegenfigur zu Fritz’ Freundin Camilla.31 Sie stellt die Glaubhaftigkeit der Familiengeschichte grundsätzlich – und damit auch den Kilimandscharo-Lauf – infrage und nährt Fritz’ Zweifel: »Ich renne an gegen Camillas Verdacht, der Urgroßvater gilt, unausgesprochen aber auch mir.« (U 135) Die Protagonisten Michael und Fritz, die sich seit Kindertagen kennen, verbindet dabei ein ›imaginäres Wissen‹, das dazu beiträgt, den Kilimandscharo auf der Gegenwartsebene als exotischen Flucht- und Kreuzpunkt von Familienerzählung und ›objektiver‹ Geschichtsschreibung zu entwerfen. Dieses Wissen bildet den
29 So reflektiert der Erzähler über die Rolle Michael: »[E]s kann mit dem unverdrossen zuhörwilligen Michael zu tun haben, damit, dass ich zwischen Mutter und mir, zwischen Wuppertal und Ohligs über Jahre hinweg einen Graben schaufelte, den ich erst, kurz bevor sie ins Liebfrauenstift eingeliefert worden war, widerwillig zuschüttete« (U 131). 30 In den Augen der homodiegetischen Erzählinstanz Fritz Binder ist Michael die weitaus stärkere Figur, die sich z.T. in Kontrast zu Fritz durch Merkmale wie Ehrgeiz und Zielstrebigkeit auszeichnet (vgl. U 93): »Ich habe rastlose Träume, er hat den Willen. Damit ist mein Freund leitender Angestellter bei Siemens geworden und wird es mit Sicherheit noch zu mehr bringen.« (U 18) 31 Auf die Rolle von Camilla als »Korrektivfigur« (Catani 2009: 163) hat Stephanie Catani hingewiesen. Die Modellierung der Redehaltung Camillas entlarvt den homodiegetischen Erzähler seiner erzählerischen Unzuverlässigkeit. Ihre Funktion innerhalb der Konfliktstruktur des Romans liege darin, »die Aussagen der erzählenden Figur in ihrer Unzuverlässigkeit sichtbar zu machen und sukzessive zu demontieren.« (Ebd.) Vgl. dazu auch Beck (2011: 105), Dunker (2012a: 169f.) und Göttsche (2013: 394).
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phantasmatischen Kern der Kilimandscharo-Begeisterung beider Figuren und rekurriert auf typische Topoi von Entdeckungsreisen. Auf diese Weise stehen Kindheit und Kolonialismus über die Geschichte des Urgroßvaters motivisch in Verbindung.32 Innerhalb des Romans wird die Kindheit mittels Analepsen über die Erzählinstanz aktualisiert und in den Referenzrahmen der erzählten Gegenwart übertragen: Eine Rückblende schildert z.B. die Faszination an einem Rollenspiel, die Fritz und sein »Sandkastenfreund« teilten: Ich lasse ihn reden, meinen Sandkastenfreund, mit dem ich rannte, seit wir das Laufen gelernt hatten, weg vom Sandkasten, hinab ins Lochbachtal, in eine andere Welt, in der mal er, mal ich Buschiri hieß und wir abwechselnd einen Stock schwangen, der sich in unseren Händen zum mächtigen Säbel verwandelte. (U 16)
In diesem Spiel nimmt die historisch verbürgte Figur des »Araberfürsten Buschiri bin Salim« (U 224), der Meyers zweiter Expedition ein jähes Ende setzte (vgl. II.2.1.1), eine Schlüsselrolle ein, und sie stellt auch ein narratives Bindeglied zu der vom Großvater über die Mutter kolportieren Familienerzählung dar, zumal schon die Mutter, wie Fritz in einer Fotografie des Nachlasses zu erkennen glaubt, mit einem Nachbarjungen am selben Rollenspiel Freude hatte.33 Seine erinnerten Kindheitserlebnisse handeln von einem ›Comboy-und-Indianer‹-Spiel, das jedoch in das koloniale Szenario der Kilimandscharo-Expedition Hans Meyers verschoben wird: »Die Cowboys waren Forscher, die Indianer Schwarze und Araber. Michael warf einen Groschen in die Höhe. Ich sagte: Zahl. Jeder von uns wollte Cowboy sein.«
32 Der Zusammenhang von Kolonialismus und Kindheit verweist auf einen nicht nur innerhalb der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur zu diesem Thema häufigen Motivkomplex. Eine Passage aus Joseph Conrads Herz der Finsternis liefert ein archetypisches Beispiel dafür, wie ein koloniales Begehren, das in der Kindheit des jungen Marlow seinen Ausgang findet, sich an den ›leeren Flecken‹ auf der Karte entzündet und einen Bewegungsdrang, eine nicht zu stillende Neugier und Lust nach Entdeckung zur Folge hat (vgl. Conrad 1991: 12f.). 33 Dort heißt es: »Das Holzgewehr in den Händen des Jungen, ein kurzer Speer in denen des Mädchens und die Ungeduld in beiden Gesichtern lassen mich darauf schließen, dass sie es kaum erwarten können, loszurennen als Hermann und Buschiri«. (U 44) Die HermannFigur verweist auf den deutschen Reichskommissar Hermann von Wissmann, der von Bismarck nach Deutsch-Ostafrika entsandt worden war, um den sog. ›Araber-Aufstand‹ (1888/1889) unter Führung Buschiri bin Salims niederzuschlagen (vgl. Gründer 2012: 96).
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(U 17)34 Der topographische Raum des Sandkastens wie auch seine Umgebung des »Lochbachtals« (vgl. U 16f., 34, 207f.) in Solingen-Ohligs fungiert demnach für den Erzähler Fritz Binder als Erinnerungsraum. Kurz: Im Sandkasten findet das Begehren am Berg seinen Ausgangspunkt. Aus kritischer Perspektive bildet er ein Schauplatz, an dem exotistische Projektionen und koloniale Herrschaftsverhältnisse nicht nur buchstäblich ›durchgespielt‹ werden konnten (»Jeder von uns wollte Cowboy sein«),35 sondern vor allem Gelegenheiten fanden, sich in das Bewusstsein der Figuren unreflektiert einzusenken: Der Sandkasten lag direkt hinter dem Mietshaus, in einer kleinen, umzäunten Wiese. Drei mal zwei Meter groß. Hier entstanden Berge, zuerst immer derjenige, der so leicht zu bauen war. Wenn unser Berg seine unverwechselbare Form gefunden hatte, reichte der Sand noch für einen zweiten. Dazu hoben wir den Krater des ersten so gründlich aus, dass wir um seine Wände fürchten mussten. Um die beiden Berge herum entstand ein Graben, der war so tief, dass nur noch unsere Köpfe aus dem Holzkasten hervorschauten und natürlich die beiden Gipfel. Wegen des Schnees kam es zum Streit. Michael hielt ihn für unnötig. Ich aber klingelte bei Nachbarn und bat um Mehl. Einen Teil der Ebene schmückten wir mit Sandkastenförmchen. Die hohlen Sterne, Monde und Sonnen bildeten das Buschiri-Dorf, im Eimer wohnten die Gefangenen. Da wir wussten, dass die Gegend um das Dorf eine fruchtbare war, zupften wir Gras von der Wiese und legten es zwischen den Hütten aus, Kieselsteine vom Weg, der rechter Hand am Haus vorbei zu den Garagen führte, dienten uns als Lagerfeuer. Das Wasser, verbotenerweise aus einem Gartenschlauch abgezapft, versickerte immer wieder aufs Neue. Zwischen dem Dorf und den beiden Bergen musste eine Fläche liegen, die eigentlich aus einem Gebirge, bei uns aber nur aus Sand bestand. Meist saßen wir auf diesem Fleck, den mehlgekrönten Vulkan und seinen Nachbarn im Rücken, vor uns das Dorf, in dem das Geschehen spielte, dem wir als Kinder am meisten abgewinnen konnten. Weil es Mord und Totschlag gab. Wir packten die Plastikfiguren aus einer Tupperware. Cowboys und Indianer. (U 16f.)
Ein späterer Versuch, die gemeinsame Erinnerung in die Gegenwart zu holen, führt Michael und Fritz zurück in das ehemalige Viertel nach Solingen-Ohligs. Der Erinnerungsraum der Kindheit hat sich jedoch längst verändert:
34 Das Motiv des ›Indianer-Spiels‹ als Bsp. für den Umgang mit Exotismus in der kindlichen Lebenswelt spielt auch in Stephan Wackwitz’ Roman Ein unsichtbares Land (2003) eine Rolle, worauf M. Moustapha Diallo hingewiesen hat (vgl. Diallo 2012: 204). 35 Vgl. zur Rollenpositionierung im Kinderspiel auch die Ausführungen Dirk Göttsches (2013: 398f.).
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Keinen einzigen Namen auf den Klingelschildern können wir mit Leben füllen, und der Kiesweg, der früher schnurstracks in den Sandkasten führte, endet an einem mannshohen gusseisernen Gartentor, an das wir unsere Köpfe drückten: weit und breit kein Sand, aus dem der Kilimandscharo emporwachsen kann, sondern Zierrasen und neu angelegte Blumenbeete. (U 140)
Dieser Wandel, der als Differenz zwischen Kindheit und Gegenwart erfahren wird, macht eine reale Erfahrung umso dringlicher, da die Imagination der Kindheit an Strahlkraft eingebüßt hat.36 Scheint im Kinderspiel die Grenze zwischen Fakt und Fiktion auf bemerkenswerte Weise aufgehoben bzw. verwischt, so ist es Michael, der die Bilder der Kindheit, auch im Wissen um die Familiengeschichte Leonhard Hagebuchers, schließlich dazu benutzt, um Fritz zur Teilnahme am Kilimandscharo-Lauf zu bewegen: »Notfalls leihe ich Dir das Geld. Nun komm schon. Das ist doch Dein Berg! Mein Berg? Na ja, ich weiß nicht.« (U 53) Im weiteren Verlauf des Romans zeigt sich, wie sehr die Bedeutung der Bergbesteigung Hagebuchers, in dessen Fußstapfen Fritz tritt, mit dem Topos der Suche verbunden ist. Er bringt die Figur Fritz auf Reisen und macht sie damit aus narratologischer Sicht erst – im Sinne Jurij Lotmans – zur ›beweglichen Figur‹ (vgl. ausführlich 2.2.1). Während Fritz in »Gegenwart Camillas die Autorität über das Erzählte« oftmals zu entgleiten droht, die seine »Glaubwürdigkeit vehement attackiert« (Catani 2009: 164; vgl. Göttsche 2013: 402), ist es Michael, der nicht nur Hagebuchers Geschichte, über jeden Zweifel erhaben, gegen ihre Angriffe verteidigt (vgl. U 97, 99, 101, 216).37 Er versucht zugleich deren Glaubhaftigkeit gegen die aufkommende Skepsis Fritz’ abzudichten: »Davon will Michael nichts wissen. Für ihn ist alles klar. Das war Hagebuchers Leben […]. Ich will ihm so gerne glauben. Aber ich höre verschiedene Stimmen, mindestens zwei.« (U 126) Der Glaube Fritz’ an die Familiengenealogie ist es schließlich, der die Bergbesteigung zur »Verpflichtung« (U 161) werden lässt, wie es später heißt, zur »family
36 Der Zusammenhang von Kindheit und Exotismus wird in Usambara darüber hinaus über den intermedialen Verweis auf Bernhard Grzimeks Fernsehsendung »ein Platz für wilde Tiere« verhandelt (U 36, 208f., 211, 222f., 224): »Ach, Herr Dr. Grzimek! Was wäre ich ohne Sie und Urgroßvater geworden? Sie haben mich auf Trab gebracht. Urgroßvater vor allem, aber Sie auch, Sie guter Onkel.« (U 211) Diese Verweise entwerfen einen kritischen Blick auf Kontinuitäten tradierter Exotismen und Afrikabilder im kollektiven Gedächtnis der Deutschen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Vgl. zu den GrzimekVerweisen auch Diallo (2012: 213) und Göttsche (2013: 399). 37 So heißt es an einer Stelle: »Sie sagt nicht: Urgroßvater war ein Mitläufer, aber wenn ich ihr Gesicht sehe, ahne ich, dass sie seinem Leben eine andere Deutung gibt als Michael.« (U 135)
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duty, something like that, oder nein, eher noch, letztendlich sei sie mir gleichsam vererbt worden, we all have restless legs.« (U 162) Diese familiäre »Pflicht« (U 237) ist es, die Camilla gerade nicht anerkennt und attackiert, wenn sie z.B. ihr Unverständnis in der rhetorischen Frage gipfeln lässt: »Wie kann man nur freiwillig einen Berg hochrennen?« (U 202) Die Bindung an das Familiennarrativ entwickelt der Text insbesondere durch das Motiv der »restless legs« (U 16), das Fritz zusammen mit dem »Märchen vom Mondberg« (U 201) gewissermaßen bereits in die Wiege gelegt wurde (vgl. U 40): »Nichts für ungut, Herr Binder, Sie können ja nichts dafür, Sie sind da hineingeboren worden.« (U 40) Zum Schluss des Romans stellt Fritz selbstreflexiv fest: »Ich bin von diesen Stimmen eingefangen und verschleppt worden, da konnte ich noch gar nicht gehen.« (U 200)38 Auffällig an dem Schicksalsmotiv der restless legs, das an verschiedenen Stellen des Romans über die Binäropposition ›Stillstand‹ vs. ›Bewegung‹ verhandelt wird,39 ist seine mythische Aufladung während der Bergbesteigung. Fritz sieht sich nicht nur als Nachfolger Hagebuchers, »der in [dessen] Fußstapfen treten wird, um das, was er erlebt hatte, selbst in den Beinen zu spüren« (U 80); die Familiengenealogie wird an späterer Stelle auch als »Urgroßvaterleben«, als »Abenteuer über Generationen hinweg« (U 234) mythisch verklärt. Fritz verschleiert zugleich die Zweifel, die ihm im Laufe der Besteigung kommen, indem er sein Schicksalsprojekt – und seinen Urgroßvater obendrein – mit mythologischer Bedeutung auflädt. Diese wird zum einen durch eine Aktualisierung des ›Mondbergmärchens‹ erreicht, zum anderen heißt es: »Mein Urgroßvater, der Abenteurer, kein Pantoffelheld. Wir zwei, die Nachkommen von Daedalus und Ikarus.« (U 224) Diese mythologischen
38 In dem Motiv sieht Dirk Göttsche eine machtvolle, imaginäre Bindung der Figuren an das Familiennarrativ Hagebuchers: »Physical inheritance acts as an ironic metaphor of the power of oral history and hereditary imagination.« (Göttsche 2013: 400) 39 Für den ›Stillstand‹ stehen Ding-Motive wie der »Lehnstuhl« (U 10, 37, 41, 46, 55, 79, 126, 147, 154, 242) bzw. der »Sessel« (U 80, 85, 100, 126, 200, 213, 221) Hagebuchers, welche die erzählerische Unsicherheit und die Zweifel an der Glaubhaftigkeit des Familiennarrativs andeuten: »es war einmal ein Urgroßvater, der erinnerte sich von seinem Sessel aus.« (U 200, vgl. 125f.) und »[e]s war einmal ein Veilchenzüchter, der setzte sich zur Ruhe. Die Ruhe war der Sessel in der Wohnstube.« (U 213) Auch das Motiv »Pantoffelheld« (U 213, 224) steht für potentielle Zweifel an der Geschichte des Urgroßvaters. Das Motiv konterkariert die Weltläufigkeit der restless legs und setzt den begrenzten Horizont des Heimisch-Häuslichen ins Bild. Der Lehnstuhl ist damit das Gegensymbol zu den restless legs, das die Bewegung des Reisens und des Erzählens, also das Fortdauern der tradierten Familienerzählung darstell: »Wer Abenteuer erleben will, muss sich bewegen« (U 200) ist dem »Sitzstreik« des Urgroßvaters gegenübergestellt, der ihn in den Augen Michaels »von der Gärtnerei in den Lehnstuhl« führte (U 126).
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Anleihen, die sich in Fritz’ Gedanken Bahn brechen, stellen somit einen Versuch dar, die Familiengeschichte gegen jene Zweifel abzuschirmen, die von außen, etwa über die Figur Camilla, aber auch von innen drohen. Letzteres erscheint durch die Strapazen des Berglaufs verstärkt. Aus diesem Blickwinkel wird die Bergbesteigung zur ›Selbsterfahrungsreise‹. 40 Der Rauschzustand des ›Schwindels‹, der mit der »Höhenkrankheit« (U 206) eintritt, setzt zudem die Skepsis an der Familienbiografie ins Bild. Die Grenze zwischen Fakt und Fiktion, zwischen der Selbsterfahrung am Berg und (fingierter) Familiengeschichte drohen dabei immer mehr zu verwischen, indem beide Erzählebenen, die der Vergangenheit und Gegenwart, palimpsestartig ineinanderlaufen und in der Überlagerung die Parallelen bzw. die kolonialen Kontinuitäten von Erst- und Wiederbesteigung desavouieren. Das Phantasma vom ›Mondberg‹ ist kulturgeschichtlich ambivalent, worauf Hamann/Honold hingewiesen haben, welche die Geschichte des Kilimandscharos zwischen Fakt und Fiktion verorten. 41 Für den Erzähler in Usambara ist die Fabel vom Mondgebirge der Kern und damit Auslöser seines kolonialen Begehrens, das in der Kindheit seinen Anfang nahm. Das Spannungsverhältnis von Fakt und Fiktion umgibt somit die Familienbiografie Binders. Der Berg wird in Usambara zum symbolischen Ort, an dem der unsichere Erzähler seine ›Selbsterfindung‹ als Identitätssuche, als Laufbewegung oder »Marsch zu mir selbst« (U 248) ausführt, wie der Erzähler der Meyer-Figur an späterer Stelle in den Mund legen wird. In dieser Lesart aktualisiert die Metapher des Aufstiegs auch typische religiöse Merkmale tradierter Bergsymbolik (vgl. Hamann/Honold 2011: 20–25; Böhme 2007), die Binders Identitätsprojekt zur Prüfung, den Berg zum ›Purgatorium‹ werden lassen. Der mühselige Aufstieg, der vielmehr den Reiseweg denn das Ziel zum symbolischen Ort der Selbstprüfung macht, wird dadurch als Prozess der Reinigung und Läuterung lesbar, an dessen Ende allerdings nicht die erhoffte »Katharsis« (Dunker 2012a: 169) eintritt, die Fritz Binder näher ans Ziel führt.
40 Wie Göttsche schreibt: »[a] self-discovery for Hamann’s protagonist, as he works through the past as conceived in the family narrative.« (Göttsche 2013: 401) 41 Das ›Mondgebirge‹, dessen Geschichte bis in die Antike zurückreicht, wurde noch im 19. Jahrhundert »als etwas Phantastisches und zugleich als eine Tatsache aufgefasst.« (Hamann/Honold 2013: 82) Vgl. vor allem die Ausführungen zur Frühgeschichte des Berges bei Hamann/Honold (2011: 41–50). Erst Mitte des 19. Jahrhunderts löste sich in der Geographie allmählich der Mythos vom Mondgebirge von der tatsächlichen Verortung des Kilimandscharos: »Bereits Ende der 1860er Jahre hatte sich in der Geographie langsam die Überzeugung durchzusetzen begonnen, dass die Erkundung des Nil-Oberlaufs wohl nichts mit dem legendären Mondgebirge und dem heftig diskutierten Kilimandscharo zu tun haben konnte.« (Vgl. ebd.: 66; so auch Hamann 2008b: 81f.)
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Aus Angst davor, die Geschichte Hagebuchers könnte sich als erfunden erweisen, vernichtet Fritz in einem »Akt des Wahnsinns« (U 253) die Briefe des Urgroßvaters, deren Inhalt Fritz erst durch den Mitstreiter Werner 42 erschließt, der die Schrift für ihn entziffert. Durch den Verlust der Briefe kommt Fritz jedoch gleichsam die Möglichkeit abhanden, die bisher nur mündlich tradierte Familiengeschichte nachhaltig zu beglaubigen und zur Tatsache zu erheben. Jede Chance, die Geschichte zu verbriefen, ist mit der Vernichtung dahin. Die Angst vor der Gewissheit hält das Spannungsverhältnis zwischen Fakt und Fiktion aufrecht, worin Dirk Göttsche eine metakritische Ebene des Textes erkannt hat, »that the question of contemporary Germany remembering its colonial history is more complex and textured than a simple distinction between ›myth‹ and ›truth‹ would suggest.« (Göttsche 2013: 394) Fritz’ Kurzschlusshandlung ist auch Ausdruck innerer Zerrissenheit. Ihm gelingt es nicht, sich von der Familienbande, der »Reise mit Toten« (U 10, 147, 154, 191f.), souverän zu lösen, wenngleich diese Option in der Gedankenrede des Erzählers permanent präsent ist: »Wäre es nicht an der Zeit, endlich mit Euch Schluss zu machen?« (U 154). Die Wiederholung des Motivs ›Reise mit den Toten‹ untermauert die Bedeutung des Reisens als Topos der Selbst- und Sinnsuche, die Fritz über die Familienfiktion Hagebuchers in die Wirklichkeit übersetzt. Seine Kurzschlusshandlung verweist zugleich auf die existentielle Bedeutung des Erzählens für Fritz, die nicht zuletzt in der rhetorischen und provokativen Frage Camillas ihren Ausdruck findet: »Was wärst Du ohne Deine Geschichten?« (U 46) Mit dieser Bedeutung ist zugleich ein Intertext aufgerufen, nämlich Albert Camus’ Der Mythos des Sisyphos (erst. 1942/2014), den Hamann selbst benannt hat (vgl. 2010a: 208). 43 Der Camus-Verweis stiftet einen Zusammenhang zwischen Bergsymbolik und Erzählmotiv. Demnach muss Fritz unaufhörlich weitererzählen, das Erzählen selbst erweist sich als existentiell und darf keinen Abschluss finden. Damit verkehrt sich das ursprüngliche Ziel, die Loslösung und Läuterung von der Familiengeschichte und von seinen Ahnen, in sein Gegenteil, in eine lebenslange Suche. Dies vermittelt der Text auch über die kurze, jedoch mythisch bis unglaubwürdig erscheinende Geschichte Werners, der über vormals gescheiterte Bergsteiger fabuliert: Aber ich verspreche Dir, wenn Du auch, ohne verrückt zu sein, hundert Meter in diesen Wald aufs Geratewohl hineingehst, dann bleibst Du für Dein restliches Leben drin. Stell dir das mal vor. Hundert Meter weiter befindet sich der Weg, ins Tal, nach Hause, ins Leben, aber Du bist ein für alle Mal hier gefangen. (U 254)
42 Zur Funktion der Figur Werner vgl. auch Göttsche (2013: 403) und Beck (2011: 43). 43 Auf Camus’ Roman und seine intertextuelle Beziehung zu Usambara ist Laura Beck ausführlich eingegangen (2011: 85–132).
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Die Reaktion Fritz’ im Ausspruch »It’s Kili Time« (ebd.), den er unter den körperlichen Strapazen nur mühselig hervorbringt, scheint Werner nicht oder gar misszuverstehen (»Wie bitte?« [ebd.]). Der Werbeslogan der tansanischen Brauerei, die als einziger Sponsor des Berglaufs auftritt und den Kilimandscharo im Logo trägt (vgl. U 162), verweist an dieser Stelle nicht nur auf ein grundsätzliches ökonomisches Interesse an der Wiederholung der Bergbesteigung. Angesichts Fritz’ körperlicher Verfassung wirkt der Slogan ›It’s Kili Time‹ auf merkwürdige Weise verschoben, die den Spruch in eine klangliche Nähe zu einem anderen Motto bringt: Um zwei Konsonanten ergänzt, wird aus ›Kili‹ ein ›Killing‹: ›It’s Killing Time‹ steht hier für das potentielle Versprechen auf Befreiung und Läuterung von der Familienbande, das jedoch uneingelöst bleibt. Avanciert der Berglauf einerseits zur Selbstprüfung, weil die Zuverlässigkeit der Familienbiografie zur Disposition steht, so werden während des Aufstiegs auch weitere innere Kämpfe ausgetragen und die Zweifel immer dominanter. Der körperliche Schwindel führt zur Reflexion über einen potentiellen ›erzählerischen Schwindel‹, sodass der Verdacht zu obsiegen droht, die Familiengeschichte könnte erfunden sein: Und wenn wir nun nicht vom Schicksal geschlagen wären, sondern es herbeigeredet, beschworen hätten? Wenn sich die unentzifferbaren Hagebucher-Briefe, seine Geschichten vom Usambaraveilchen und vom Kilimandscharo als große Lüge entlarven, wenn seine Reisen von ihm erst im Nachhinein, von seinem Sessel aus, oder noch später, von Mutter, zu meinem Schicksal gemacht worden wären? (U 125f.)
Für den Zweifel Binders am Familiennarrativ steht u.a. die Metapher der »Lücke«.44 Ihr gegenübergestellt sind die Schicksalsmetaphern der »Kette«45 und des »Fadens«, die das Verhältnis zwischen Fakt und Fiktion verhandeln:
44 Vgl. »Dennoch blieben die Lücken zwischen den wenigen Fakten groß« (U 165) und »Das, was Du Dir dazwischen denkst, sind Hirngespinste.« (U 234) Aber auch dieses Motiv ist ambivalent entworfen. Beck sieht darin einen »Interpretationsspielraum« für den Erzähler, die Geschichte und »die Gestalt des Urgroßvaters und somit seinen Helden nach eigenen Vorstellungen zu formen.« (Beck 2011: 29) 45 So heißt es zu Anfang an einer Stelle: »An Leonhard Hagebucher zeigte sich am eindringlichsten, was die Familie insgesamt auszeichnete und bei ihren Mitgliedern von Generation zu Generation mal stärker, mal weniger stark hervortrat, aber stets vorhanden war. Wir sind Glieder einer unvergänglichen Kette. Von den Hagebuchers sagte man von Anfang an, dass sie es vor allem mit den Beinen hatten. Sie konnten, so hieß es, träumen mit ihren Beinen. Sich wegträumen an Orte, die noch kein Mensch gesehen hatte. Vom Lehnstuhl zum Krater ist es nur ein kleiner Schritt. Also los.« (U 10) Vgl. auch U 216:
194 | L ITERATUR ALS P ALIMPSEST Welcher Faden führt da hindurch? Abenteuer, Geschäftsmann, mutmaßlicher Mörder, Pantoffelheld. Sie [die Mutter; J.O.] hat es so gewollt. Ich fülle die Lücken auf. Reime mir das alles zusammen. Mein Kilimandscharo. Mein Kampf. Na und? Mondberg ist auch ein falsches Wort. (U 213)
In der Formel »Mein Kilimandscharo. Mein Kampf« mit ihrem intertextuellen Verweis auf Adolf Hitlers Manifest laufen einerseits die historischen Linien der kolonialen Vergangenheit, des Nationalsozialismus und der Gegenwart zusammen (vgl. ausführlich II.4.2.4). Andererseits aktualisiert sie eine andere Kampfmetapher, die zu Beginn des Romans mit der Figur Camilla zusammenhängt. Über das Motiv des ›Boxkampfes‹ wird nicht nur die erotische Beziehung zwischen Camilla und Fritz beschrieben (vgl. U 75, 96, 143). Außerdem werden Beziehungskonflikte, die sich an zwei Stellen um die Deutungshoheit von Geschichte drehen, als Boxkämpfe ausgetragen: »Sie hatte es, warum auch immer, geschafft. Ich wurde angezählt, gab mich aber noch nicht auf. Als ich so tat, als wolle ich das Handtuch werfen«. (U 101, vgl. 123) Bemerkenswert an diesem Motiv ist, dass es im Verlauf des Romans von der Erzählerstimme dazu eingesetzt wird, die körperlichen Strapazen der Bergbesteigung zu beschreiben. Auf diese Weise wird der Berglauf zum ›Ringkampf‹: »Jetzt bin ich an der Reihe. Go! Ring frei zur letzten Runde.« (U 177) Auch Fritz zunehmende Erschöpfung und seine Besorgnis über einen vorzeitigen Abbruch des Laufs wird über das Motiv realisiert: »Ich werde angezählt. Ausgezählt. Schluss. Aus. Nun mal langsam.« (U 206)46 Dieser Motivkomplex, der Boxkampf und Berglauf verbindet, verweist auf Fritz’ Bemühungen, den Verlust der Beziehung zu Camilla zu kompensieren,47 von dem der Leser erst bei Ankunft des Ich-Erzählers in Tansania über eine Analepse erfährt (U 163f.). Zum anderen aktualisiert der Roman über das Motiv des Boxkampfes ein typisches Diskursmuster, das auf das Kollektivsym-
»mit Worten waren wir aneinander gekettet, wir bildeten eine unzertrennliche Wortfamilie«. Vgl. zu diesem Motiv auch Beck (2011: 21, 79–81). 46 Weitere Stellen in Usambara vgl. U 101, 210, 255. 47 Diese kompensatorische Funktion des Boxens macht der Roman schon zu Beginn deutlich, als Camilla das Rätsel um ihr Interesse am Boxen auflöst. Ein »Sandsack« und »Boxhandschuhe« sind das »Vermächtnis ihres Exfreundes« (U 64), die Camilla fortan dazu nutzt, um ihre Wut zu kompensieren. Für den Erzähler Fritz Binder wird der Boxkampf ebenfalls zum Motiv, um mit der Verlusterfahrung umzugehen. Der Text stellt diese Parallele an einer Stelle offen aus: »Camilla sagt: Du bist ein Idiot. Wie kann man nur freiwillig einen Berg hochrennen? Na und? Du rammst in Deiner Freizeit die Fäuste in einen bemalten Sandsack.« (U 202)
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bol des Kilimandscharos zurückführt: »[D]ie Eroberung der jungfräulichen afrikanischen Gletscherberge« zeigt sich in Hans Meyers Darstellung als »eine dringende männliche Pflicht«, in deren Mittelpunkt »männlich-koloniale Phantasien stehen: Das ›Entwundern‹ entpuppt sich als männliche Eroberung des weiblichen Anderen.« (Hamann/Honold 2011: 90f.) Die weiblich-erotische Konnotation des Berges wird in Usambara auf der Gegenwartsebene nicht in der Eroberung der Spitze aufgerufen. Für die Erzählerfigur besteht diese vielmehr im Lauf selbst, der motivisch mit dem Boxkampf verschaltet ist. Der Berglauf wird somit zur Leistungsprüfung, der metaphorisch so auch die Rück-Eroberung des Verlorenen bedeutet. Dass für Binder der Kilimandscharo insgesamt zum Austragungsort individueller Konflikte avanciert, der Berg folglich projektiv-imaginär in Besitz genommen wird, rückt den Erzähler aus postkolonialer Perspektive in ein kritisches Licht, zumal nicht nur das Fremde in seiner Eigenheit konsequent ausgeblendet wird, sondern auch neokoloniale Muster, die Binder durch seine Teilnahme am »Kilimandscharo Benefit Run« bedient, von der Erzählinstanz unreflektiert bleiben.48 Die kolonialen Koordinaten haben sich somit verschoben, das Subjekt selbst rückt ins Zentrum: »Mein Kilimandscharo. Mein Kampf« (U 213) beschreibt Fritz’ Identitätsprojekt, das typische Diskurslinien der Geschichte des Kilimandscharos aufruft, verbindet und auf komplexe Weise verschiebt. Der Berg avanciert demzufolge zum komplexen symbolischen Ort der Überlagerung, an dem historische Abschnitte deutscher Geschichte, vom Kolonialismus über den Nationalismus bis in die Gegenwart palimpsestartig in Beziehung treten. Dennoch haben postkoloniale Studien gerade in der Modellierung der Erzählinstanz ein kritisches Potential erkannt, obgleich die autodiegetische Erzählinstanz koloniale Denk- und Handlungsmuster wiederholt, die sie in die Nähe zur egozentrischen Meyer-Figur rücken (vgl. Beck 2011: 43). Die Feststellung, dass Fritz Binder »nicht unbedingt sensibel auf neokoloniale Praktiken reagiert« (Dunker 2012a: 169), desavouiert einen Erzähler, dem die kritisch-reflexive Selbstwahrnehmung dafür abgeht, dass er selbst Akteur einer Unternehmung unter deutlich neokolonialen Vorzeichen ist. Fritz’ egozentrische Projektion auf den Berg als Schicksalsort der eigenen Geschichte ist dabei Ausdruck einer Vereinnahmung, die ökonomische und soziokulturelle Gegebenheiten vor Ort ausblendet. Eine solche, kritische Perspektive auf Binders Projekt leistet der Text zum einen über die Einfügung kritischer Nebenfiguren, wie am Beispiel Camillas festgestellt. Zum anderen verweist der Roman darauf, dass eine spezifische Lektürehaltung, die kritisch in den Blick rückt, was der Erzähler ausblendet oder nicht hinterfragt, erst perspektivisch entwi-
48 Dunker ist auf die Konstitution der Erzählerfigur eingegangen. Er betont dabei, dass sich im Kilimandscharo Benefit Run ein »latenter Rassismus« zeige (Dunker 2012a: 166), der von der Figur Fritz Binder nicht reflektiert wird.
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ckelt bzw. durch den Leser zu leisten ist. In der Modellierung der Erzählerstimme hat Dunker ein reflexives Potential des Textes erkannt, das in Anlehnung an die Poetik Uwe Timms eine »andere Praxis des verweisenden Sprechens« darstellt, »auf die die Literatur hindeuten kann. Ein aktiver Bewusstseinsprozess des Lesers, der selbst den Komplex Kolonialismus – Nationalsozialismus – Gegenwart zu überdenken hat, kann von der Literatur nicht stellvertretend ersetzt, sondern nur reflexiv angestoßen werden.« (Dunker 2012a: 171)49 Demzufolge entfaltet sich ein postkoloniales Potential gerade in der narrativen Anlage des Textes. Um die komplexe Verkopplung und Interferenz von kolonialer Vergangenheit und post- oder neokolonialer Gegenwart freizulegen, ist »eine Lektüre gegen den Strich der Erzähler-Stimme Binders erforderlich.« (Ebd.) Ein solches »gegen-den-Strich-Lesen«, so betont Dunker in einem Beitrag zu Uwe Timms Morenga (1978), […] fordert genau jene Reflexionsleistung des Lesers heraus, die die Literatur – auch im Sinne von Selbstreflexivität – im postkolonialen Kontext anstoßen sollte […]. So gesehen, ist die Herausforderung zu einer kontrapunktischen Lektüre – jedenfalls in diesem Falle – die Voraussetzung für Postkolonialität. Sie realisiert sich aber nur auf der Text-, nicht auf der Autorebene, letztlich nur in der ›schwebenden‹ Lektüre des Lesers. (Dunker/Hamann 2016: 358f.)
Da das ›post‹ in ›postkolonial‹ die Kontinuitätserfahrung von Kolonialismus im Spiegel einer globalisieren Gegenwart verhandelt, die folglich hinter ihre koloniale Vergangenheit nicht zurückkann, so stellt Usambara die Fortschreibung und Transformation kolonialer Denk- und Wahrnehmungsmuster kritisch aus und liefert Anreize für eine kontrapunktische Lektüre. Dem Roman geht es dabei keinesfalls um eine mutmaßliche »›Poltitical correctness‹« (Dunker 2012a: 169; Göttsche 2013: 405) in der Repräsentation des Fremden, sondern vielmehr um das kritische Ausstellen jener symbolischen Praktiken der Aneignung und Ausschließung, die das Fremde zum Gegenstand haben. Der Kilimandscharo bildet in diesem Zusammenhang einen semantisch komplexen Ort, an dem Diskurslinien des kolonialen Imaginären zusammenlaufen, ja sich palimpsestartig überlagern, und koloniale Denkund Handlungsmuster neokolonial fortschreiben. Die Art und Weise, wie der Roman den Kilimandscharo erneut als Schauplatz seiner Inbesitznahme inszeniert, legt die oftmals subtileren Transformationen kolonialer Muster bloß. So wirft er einen kritischen Blick auf neokoloniale Tendenzen der Gegenwart, die sich das Deckmäntelchen ökologischer Nachhaltigkeits- und Entwicklungsideologie umwer-
49 Göttsche sieht in der Repräsentation des Fremden in Usambara Bezüge zu Uwe Timms poetologisches Programm der Ablehnung einer sog. ›Einfühlungsästhetik‹ (vgl. Göttsche 2013: 398). Dies bestätigen auch Ausführungen des Autors (vgl. Hamann 2010a: 206).
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fen: »Laufen für eine bessere Welt, Laufen als Selbstzweck.« (U 190)50 In der tourismuskritischen Perspektive, die der Roman entwickelt, zeigt sich, in welchen Spurrillen sich gegenwärtiges Reisen bewegt. In diesem Fall ist es der Kilimandscharo, der ein weiteres Mal vereinnahmt wird – als Austragungsort eines individuellen wie kollektiven, neo- bzw. »postkoloniale[n] Begehrens« (Bay/Struck 2014).51
50 Über den Kilimandscharo Benefit Run heißt es an einer Stelle: »Der Kilimandscharo Benefit Run soll ein sportliches Fest werden, das zur Unterstützung der ökologischen und letztlich auch sozialen Belange dieser gefährdeten Region beiträgt.« (U 53) Vgl. dazu auch Hansjörg Bay: »Wenn der ökologisch korrekte ›Kilimandscharo Benefit Run‹ […] als Wiederholung und Fortschreibung der Erstbesteigung erscheint, enthält die Verdopplung der Zeitebenen aber auch eine deutliche Spitze gegen neokoloniale Tendenzen der Gegenwart.« (Bay 2012: 119) 51 Die Autoren Hansjörg Bay und Wolfgang Struck haben in ihrem breit angelegten wie umfangreichen Beitrag »Postkoloniales Begehren« die Ambivalenzen eines aktuellen Interesses an der deutschen Kolonialgeschichte in kulturellen Bereichen der Gegenwart (Film/Literatur/Medien, etc.) herausgearbeitet. Der Begriff »›Postkoloniales Begehren‹ meint dabei ein Verlangen, das unter nachkolonialen Bedingungen bestimmte Momente kolonialen Begehrens fortschreibt, ohne dass dabei eine historische Kontinuität unterstellt würde. […] Dementsprechend handelt es sich hier auch nicht einfach um ein Wiederaufleben kolonialer Begehrensmuster, sondern um die partielle Wiederaufnahme, Verschiebung und Transformation einzelner Momente. Wichtiger als eine konkrete Anknüpfung an die Kolonialgeschichte ist, wie sich zeigen wird, diejenige an tradierte Topoi, in die koloniale Strukturen eingeschrieben sind.« (Bay/Struck 2014: 458)
4. Palimpsest und Erzählen: Die Ambivalenz von Geschichte
4.1 E RZÄHLEN
ALS
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Die deutschsprachige Gegenwartsliteratur entwickelt in ihrer Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus besonders dadurch ein postkoloniales Potential, dass sie auf eine spezifische Weise mit dem kulturellen Archiv des kolonialen Imaginären umgeht. Dieses Archiv besteht selbst vor allem aus Texten – literarischen wie nichtliterarischen –, die zur Zeit des Kolonialismus entstanden sind und in der Regel deutlich koloniale Implikationen aufweisen. Laufen nun postkoloniale Auseinandersetzungen mit einem solchen Textbestand, was wir als rewriting bezeichnen, einerseits immer auch Gefahr, in die Fallstricke der Wiederholung zu geraten, so gelingt ihnen andererseits – das haben postkoloniale Studien zeigen können – durchaus ein kritischer Umgang mit kolonialen Vorläufertexten und Vorbildern, die sie durch Bearbeitung neu interpretieren. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit wurde die Palimpsest-Metapher herangezogen, um die Poetik solcher Gegenwartsromane und ihr spezifisches Verhältnis zu Geschichte und Geschichten zu beschreiben. Dieses intertextuelle Verhältnis zeichnet sich durch Neu-, Weiter- und Umschreibung aus, durch Überlagerung, Überschreibung und Überzeichnung. Nachfolgend gilt es, das ›Erzählen als Palimpsest‹ aus intertextueller Perspektive zunächst theoretisch in den Blick zu nehmen und anschließend an einem Fallbeispiel zu veranschaulichen, welche ästhetischen Konsequenzen aus dieser besonderen Text-Text-Beziehung resultieren. Der Abschnitt II.4.1.1 fragt danach, wie von der Diskursfigur des Palimpsests im Kontext postkolonialer Studien Gebrauch gemacht wird, um eine spezifische Text-Text-Relation von Literatur zu beschreiben. Hier rücken Christof Hamanns Usambara und Christian Krachts Imperium in den Fokus. Im Anschluss daran gilt es (II. 4.1.2), den rewriting-Begriff aus seinem theoriegeschichtlichen Hintergrund herzuleiten, herauszulösen und am Gegenstandsfeld der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur zu konkretisieren. Darauf aufbauend geht es abschließend darum (II. 4.1.3), anhand einer exemplarischen
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Analyse von drei Passagen aus Hamanns Usambara einige zentrale Merkmale und Verfahren von rewriting zu bestimmen. 4.1.1 Von Campe bis Kracht: Das Palimpsest in der aktuellen Forschung In ihrer Einleitung zum Sammelband Ins Fremde Schreiben. Gegenwartsliteratur auf den Spuren historischer und fantastischer Entdeckungsreisen (2009) haben die Herausgeber Alexander Honold und Christof Hamann die intertextuellen Dimensionen des Gegenwartsromans konturiert. Dabei rekurrieren sie auch auf das Palimpsest, um einen literaturhistorischen Wandel im poetischen Umgang mit Intertextualität zu beschreiben, den sie erstmals bei Joachim Heinrich Campe beobachten: Zwar haben sich seit dem 18. Jahrhundert eine Reihe von Autoren, wie z.B. Friedrich Schiller, Johann Gottfried Herder oder Johann Georg Forster, nachweislich für Reiseberichte interessiert, die als Inspirationsquellen und Schreibanlässe durchaus auch Niederschlag in ihren Texten fanden. Bei Campe zeigt sich allerdings eine Besonderheit. Demnach habe Campe zur damaligen Zeit populäre Reiseberichte für pädagogische Zwecke sowohl um- als auch fortgeschrieben und dadurch »Palimpseste« (Hamann/Honold 2009: 13) angefertigt, wie die Autoren am Beispiel seiner Sammlung merkwürdiger Reisebeschreibungen für die Jugend (1786) erläutern. 1 Hierdurch sei Campes Umgang mit historischen Reise- und Entdeckerberichten jenem in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur ähnlich, wie er bereits vor, insbesondere aber seit der Jahrtausendwende vermehrt zu beobachten ist. »Campes Projekt, Palimpseste von Entdeckerberichten anzufertigen«, so pointieren Hamann und Honold, unterscheidet sich insofern von den Bezugnahmen Raabes, Kellers u.a., als sie sich in ungleich stärkerem Maße auf ihre Vorgänger-Texte einlassen. Diese werden zu ›Prätexten‹ im doppelten Sinne des Wortes, zu einem ›Vorwand‹ und Auslösereiz des eigenen Schreibens, aber auch zu dessen Gegenstand und Materialfundus. Neben dem zum Teil ausführlichen Zitieren aus Exkursionsberichten (bei Ransmayr etwa nehmen Zitate ungefähr ein Viertel des Arktis-Romans ein) gehören das ›Überschreiben‹ von topographischen oder politischen Markierungen und die Vervielfältigung von Figurenkonstellation und Perspektive zu den zentra-
1
In einem späteren Beitrag hat Hamann erneut auf den Palimpsest-Begriff zurückgegriffen, um Genettes Typologie aufzurufen und an den Begriff Relektüre anzuschließen (vgl. Hamann 2013: 147, 167f.). Vgl. auch ähnliche Überlegungen in einem weiteren Beitrag Hamanns, allerdings ohne explizite Bezugnahme auf die Metapher des Palimpsests (Hamann 2012c).
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len Strategien neuerer, fiktionaler Nachgestaltungen vorgängiger Reise- und Entdeckerliteratur. (Hamann/Honold 2009: 13f.)
Wenn es an späterer Stelle explizit heißt: »In den Relektüren und Wiedererzählungen der Reise- und Entdeckungsliteratur überlagern einander distinkte historischgeographische Referenzebenen, und dementsprechend auch zwei oder mehrere Diskursflächen« (ebd.: 15), so berühren die Autoren einen wichtigen Aspekt des Palimpsestgedankens, der jene hypertextuelle Beziehung umschreibt, die Harald Weinrich in Anlehnung an Gérard Genette mit der Figur des ›Streits‹ konkretisiert hat (vgl. I.3.4.2). In den Mittelpunkt rückt Weinrich einen (Beziehungs-)Konflikt, der durch den Text-Text-Kontakt entstehe, »wenn ein Text nicht glatt und harmonisch von einem anderen überlagert wird, sondern deutliche Spuren von psychischen Verwerfungen aufweist, an denen abzulesen ist, daß hier eine alte Geschichte mit einer neuen Botschaft im Streit liegt.« (Weinrich 2007: 34) Genette selbst spricht von einer »Dissonanz«, die zwischen Texten eintritt: »eine neue Funktion legt sich über eine alte Struktur und verschränkt sich mit ihr, und die Dissonanz zwischen diesen beiden gleichzeitig vorhandenen Elementen verleiht dem Ganzen seinen Reiz.« (Genette 1993: 532) Deutlich konkreter hat Axel Dunker die Leistung der Palimpsest-Metapher als Beschreibungsfigur für inter- bzw. hypertextuelle Verweisstrukturen betont und am Beispiel von Christof Hamanns Roman Usambara näher ausgeführt. Mit Meinhard Winkens und Renate Lachmann argumentiert er, dass die Bedeutung, die ein »Subtext« in den manifesten Haupttext einspielt, aufgrund der »Vieldeutigkeit des Prätextes sehr komplex« sein kann und »sich nicht still stellen lässt.« (Dunker 2012a: 167)2 Auch entgegen der Absicht des Autors könne demzufolge »[d]ie Anlage eines Subtextes […] entweder als bewusstes Verfahren durch den Autor erfolgen oder auch sich hinter seinem Rücken gewissermaßen in den Text einschleichen oder einschreiben.« (Ebd.: 166f.)3 Es scheint daher plausibel, mit Winkens die Freud’sche
2
Den Aspekt der »Vieldeutigkeit« erörtert auch Genette und stellt diesen neben die Merkmale »Basteln« und »Spiel«, die er im Bild des Palimpsests zusammenführt (vgl. Genette 1993: 531–534).
3
Christof Hamann hat in einem poetologischen Beitrag zu Usambara selbst festgestellt, dass es in seinem Roman zu einem »unbewusste[n] ›Rewriting‹« gekommen sei. So habe, wie Hamann in Bezug auf Laura Becks Studie feststellt, »eine kolonialistische Grundeinstellung« Eingang finden können, die »quer zu [s]einer Intention« stehe, »mit Hilfe der Verwendung von Prätexten den gleichgültigen und auch fragwürdigen Umgang des IchErzählers bzw. den auch kolonialen Umgang Hagebuchers mit der Fremde zu subvertieren.« (Hamann 2010a: 209; vgl. Beck 2011) Auch Ulrich Broich, der mit »Formen der Markierung von Intertextualität« einen wichtigen Beitrag zur Intertextualitätstheorie ge-
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Vorstellung von ›manifesten‹ und ›latenten‹ Bedeutungen zu übernehmen,4 um das Potential der Sinnproduktion zu beschreiben, das durch intertextuelle Beziehungen freigesetzt werden kann, seien die Bedeutungen vom Autor beabsichtigt oder auch nicht. In Bezug auf Hamanns Roman kommt Dunker zu dem Schluss, dass die Metapher des Palimpsests […] im Falle der Relektüre wesentlich präziser in der Beschreibung des Phänomens zu sein [scheint]: ein Prätext wird überschrieben, aber unter dem Hypertext bleibt der Prä- oder Hypotext sichtbar und beide Schriften treten in ein komplexes dialogisches (Bedeutungs-)Spiel ein. (Ebd.: 167)
Einen weiteren Beitrag, der das Palimpsest als Beschreibungsfigur profiliert, hat der Literaturwissenschaftler Eckhard Schumacher vorgelegt. In seinem Aufsatz »Differenz und Wiederholung. Christian Krachts Imperium« beschreibt Schumacher ein poetisches Prinzip Krachts, das sich in Verfahren der Wiederholung, Irritation und Verschiebung ausdrückt: Für den Roman wie auch darüber hinaus für Krachts Schreiben ist es dabei durchaus kennzeichnend, dass dieses Strukturprinzip der minimalen, jedoch signifikanten Verschiebung im Text selbst auf bemerkenswerte Weise vorgegeben und reflektiert wird, in Form einer minimal verschobenen Darstellung einer historisch belegten Verschiebung. (Schumacher 2013: 134f.; Hervorh. i. Orig.)
In Krachts »mehrfach übereinander geschichteten Verschiebeverfahren« sieht Schumacher ein metafiktionales »Strukturprinzip des Romans«, das »auf der Ebene der Narration als Verwirrspiel zwischen Fakt und Fiktion entfaltet wird« (Ebd.: 136). Schumacher verwendet eine Beschreibungskategorie, die im Rahmen der vorliegenden Arbeit unter dem Paradigma einer ›Ästhetik der Verschiebung‹ (vgl. I.4.3) fokussiert wird. Außerdem bleibt Krachts Schreibverfahren »nicht nur auf Verschiebungen und Überlagerungen der Grenzen zwischen Fakt und Fiktion beschränkt« (Schumacher 2013: 136). Vor allem vollziehe sich hier ein »Schreiben durch eine Kopplung von Aufnehmen und Verschieben«, also »etwas, das man als
leistet hat, geht davon aus, dass »ein Text durch andere beeinflußt sein [kann], ohne daß der Autor sich dieses Einflusses bewußt ist oder ohne daß er die Erkenntnis dieses Einflusses durch den Leser als Voraussetzung für das adäquate Verständnis seines Textes ansieht.« (Broich 1985b: 31f.) 4
Auch Genette bedient sich des Begriffspaars ›manifest‹ und ›latent‹, wenn er an prominenter Stelle gleich zu Beginn von Palimpseste. Literatur auf zweiter Stufe den Terminus der ›Transtextualität‹ privilegiert, den er »grob als alles das definiert habe, ›was ihn in eine manifeste oder geheime Beziehung zu anderen Texten bringt‹.« (1993: 9)
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Wiederholung mit Differenz beschreiben könnte. In diesem Sinn heißt Schreiben bei Kracht immer auch Überschreiben.« (Ebd.) Im Anschluss bedient sich Schumacher explizit der Palimpsest-Metapher, um Krachts Verfahren ein Bild zu geben. Dass nicht nur Dunker in Bezug auf Hamanns Usambara, sondern auch Schumacher am Beispiel von Krachts Imperium auf das Palimpsest rekurriert, vermag den Ansatz der vorliegenden Arbeit zu stützen, nämlich dass das Palimpsest eine produktive Denkfigur zur Beschreibung einer Literatur bereitstellt, die sich an kolonialen Prätexten abarbeitet: Kracht bezieht sich im Schreiben fast durchgehend auf bereits vorliegende Konstellationen, auf Vorgefundenes. Er schreibt auf der Grundlage von Vorlagen, die überschrieben, dabei aber nicht vollständig überdeckt, nicht ganz ausgelöscht werden, sondern im Verschwinden noch durchscheinen, oder zumindest noch durchzuscheinen scheinen. Dabei geht es eher nicht um Verfahren der Reproduktion, des Kopierens oder Plagiierens, Krachts Texte erinnern vielmehr an Palimpseste, jene antiken oder mittelalterlichen Schriftrollen, deren Beschriftung abgeschabt, aber nicht vollständig entfernt wurde und die in diesem nicht vollständig gereinigten Zustand wieder neu beschrieben wurden. Auf durchaus vergleichbare Weise arbeitet auch Kracht auf der Grundlage von bereits beschriebenen Vorlagen, mit schon vorliegenden Texten, die er nochmals aufzurufen scheint, indem er sich von ihnen entfernt, sie schwinden lässt. Palimpsestartig scheinen sie durch seine Texte durch, werden stellenweise, bruchstückhaft, sichtbar. Zugleich werden sie aber auch durch andere Texte zum Verschwinden gebracht, durch andere Vorlagen überdeckt, überlagert, überbordet. Dies betrifft die unzähligen Kolonialismusklischees, den korrespondierenden Südseeromantikkitsch, die Exotismen und Rassismen des Wilhelminischen Reichs, die der Erzähler zumeist wohlgelaunt aufreiht, und es betrifft zugleich die Erzählmuster, die den Roman prägen – historische Formen der Robinsonade und des Abenteuerromans, aber auch auf die Südseefixierung der Klassischen Moderne. (Schumacher 2013: 136f.)
Ähnlich wie Dunker nehmen auch Schumachers Überlegungen auf Genettes Palimpsest-Begriff Bezug – und damit konkret auf sein Konzept der Hypertextualität (vgl. ebd.: 138). Seine Betrachtungen sind dabei insofern hervorzuheben, als sie am Beispiel von Imperium eine weitere Dimension der Hypertextualität aufrufen, die Genette als zweiten Typ der »Nachahmung«5 klassifiziert hat. Ist unter dem ersten Typ die stoffliche Transformation zu verstehen, die Genette anhand der Katego-
5
Vgl. dazu I.3, Anm. 72. Beschreibt die direkte oder »einfache Transformation« eine Spielart, die sich durch stoffliche Umformung vollzieht, so stellt die »Nachahmung« (»indirekte Transformation«) keine stoffliche, sondern eine stilistische Aneignung der Sprache dar, der sich ein Hypertext beim Prä- bzw. Hypotext bedient (vgl. Genette 1993: 18).
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rien »Parodie« und »Travestie« theoretisiert, so steht beim zweiten Typ die stilistische Ebene im Fokus der Transformation. Letzteren hat Genette u.a. als »Pastiche« bezeichnet. Dabei handele es sich um »eine Form der Nachahmung«, wie Schumacher paraphrasiert, »die auf der Ebene des Stils ansetzt und sich dabei – ohne dies zu verbergen – aus verschiedenen Quellen speist, verschiedene bereits vorliegende Texte und Kontexte aufruft und in einen letztlich doch neuen Text überführt.« (Ebd.: 137f.) Innerhalb der postcolonial studies sind Phänomene des Um-, Neu- und Weiterschreibens von Texten unter den Bezeichnungen rewriting und writing back aufgerufen. Der folgende Abschnitt unternimmt den Versuch, einerseits an diese Konzepte anzuschließen, andererseits gilt es, wichtige Unterschiede aufzeigen, die u.a. der Übersetzung und Übertragung auf den deutschsprachigen Forschungszusammenhang geschuldet sind und Anlass geben, die Begriffe hinsichtlich ihrer Reichweite zu diskutieren sowie ihre heuristische Leistung als textanalytische Konzepte für deutschsprachige Literatur näher auszuloten. 6 Zugleich rückt die Frage in den Fokus, welche Rolle dem Palimpsest dabei zukommt. 4.1.2 Neu-, Um-, Überschreiben: rewriting als Palimpsest Der Begriff eines postcolonial rewriting hat sich ursprünglich im Kontext angloamerikanischer Theoriedebatten herausgebildet. Dort ist er untrennbar mit dem Konzept des writing back7 verknüpft, das Marion Gymnich als ein »Kernkonzept der postkolonialen Literaturwissenschaft« bezeichnet hat (Gymnich 2006: 71). Unter writing back ist ein gegendiskursives Schreibkonzept zu verstehen, das eine explizit postkoloniale Autorposition mit einer programmatischen Prämisse verklammert, welche die Re-Artikulation marginalisierten Wissens betont und die RePräsentation der Sichtweise ehemals Kolonisierter in der westlich-eurozentrischen Kanonliteratur einfordert (vgl. Gymnich 2006; Kreutzer 1995). Nachfahren von ehemals Kolonisierten bedienen sich demzufolge der Strategie, um aus der ›Sprachlosigkeit‹ auszubrechen und das Recht auf Repräsentation der eigenen Situation einzufordern. […] Postkoloniales ›writing back‹ fungiert somit als Akt des Wider-
6
Vgl. dazu auch der von mir verfasste Artikel »Rewriting« (Osthues 2017), der eine Kurzfassung der folgenden Ausführungen (II.4.1.2 u. II.4.1.3) darstellt und im Handbuch Postkolonialismus und Literatur (Dürbeck/Dunker/Göttsche 2017) erschienen ist.
7
Der Begriff geht auf Salman Rushdies Schlagwort writing back to the centre zurück, das zur leitenden Denkfigur der Studie The Empire Writes Back (2002) von Bill Ashcroft, Gareth Griffiths und Helen Tifffin wurde. Vgl. auch Tiffin (2005).
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standes gegen eine Vereinnahmung kolonialer und postkolonialer Gesellschaften durch die westliche Kultur. (Gymnich 2006: 72; vgl. Kreutzer 1995: 208; Göttsche 2010a: 212) 8
Seitens der postkolonialen Studien in der Germanistik kam zu Recht der Einwand, dass ein solches writing back »für die deutschsprachige Literatur kaum möglich« scheint, »da die deutsche Sprache für die von Deutschen Kolonisierten heute kein benutztes Ausdrucksmittel mehr ist.« (Dunker 2005a: 13; vgl. Dürbeck 2014a: 32) Hinzu kommt, dass es im deutschsprachigen Raum im Vergleich zum angloamerikanischen keine Autorinnen und Autoren mit postkolonialem Migrationshintergrund gibt. Es existiert folglich »kein Phänomen, das sich als ›the Empire writes back‹ bezeichnen ließe. Nicht die Präsenz, sondern die Absenz der ›Anderen‹ und ihrer Stimmen kennzeichnet die Situation in Deutschland.« (Uerlings 2006: 22; vgl. Uerlings/Patrut 2012: 32) Damit passen deutschsprachige Autorinnen und Autoren nicht in das Theoriedesign, das innerhalb der postcolonial studies mit dem Begriff writing back umschrieben ist, denn von einem ›Zurückschreiben‹ im wörtlichen Sinne zu sprechen, erscheint in Bezug auf deutschsprachige Literatur wenig plausibel, kommen doch ausschließlich Autorinnen und Autoren zu Wort kommen, die dem soziokulturellen Kontext der ehemaligen Kolonialmacht angehören.9 Die Probleme eines fingierten writing back, d.h. die potentielle Möglichkeit, sich die Stimme der Kolonisierten in der Literatur anzueignen, wurde dabei in den postkolonialen Studien an Uwe Timms viel zitierter Kritik an einer sog. »Einfühlungsästhetik« diskutiert (vgl. dazu ausführlich II.4.2.1). Eine solche Ermächtigungsgeste und Hal-
8
Im Fazit ihrer für die postcolonial studies einschlägigen Arbeit The Empire Writes Back pointieren die Autorinnen und Autoren die Bedeutung von rewriting und rereading im Kontext eines writing back: »Thus the rereading and the rewriting of the European historical and fictional record is a vital and inescapable task at the heart of the post-colonial enterprise. These subversive manoeuvres, rather than the construction of essentially national or regional alternatives, are the characteristic features of the post-colonial text. Postcolonial literatures/cultures are constituted in counter-discursive rather than homologous practices.« (Ashcroft/Griffith/Tiffin 2002: 221)
9
Die terminologische Schärfe soll hier auch entgegen der Positionen vertreten werden, die behaupten, dass writing back »seine anfängliche Konnotation verloren« habe und »heute den westlichen Blick« mitberücksichtige (Kpao Sarè 2012: 137). Um das Problem der Autorposition im literarischen Diskurs deutlich zu machen, die nicht zuletzt zu produktiven Debatten um die Repräsentationsfrage geführt hat (vgl. ausführlich II.4.2.1), erscheint es wenig sinnvoll, das Paradigma writing back zu generalisieren. Gerade dieser Unterschied scheint eine spezifische Kondition der deutschsprachigen Literatur vor Augen zu führen, die besonders bei der Analyse interkultureller sowie narrativer Muster (Bsp. Fokalisierung) stets mitreflektiert werden sollte.
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tung der Fürsprache stellt in Timms Augen »selbst ein[en] koloniale[n] Akt« dar (Hamann/Timm 2003: 452). »Einfach die Perspektive umzukehren«, so schließt Axel Dunker an, und »aus deutscher Sicht ein [sic] Mimikry der Kolonialisierten zu betreiben, würde in eine koloniale Sackgasse führen« (Dunker 2005a: 13). Ein writing back macht insbesondere vom »Neu- und Umschreiben spezifischer literarischer Texte« Gebrauch (Gymnich 2006: 73). Im Forschungsdiskurs der postcolonial studies ist dieses Schreibverfahren mit dem stärker auf die ästhetische Praxis bezogenen Begriff des postcolonial rewriting verbunden. Erst seit einigen Jahren hat der Begriff auch Einzug in postkoloniale Studien zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur erhalten (vgl. Beck 2011; Dunker 2012a; Lorenz 2014). Diese zögerliche Aufnahme hat allerdings gute Gründe, die nicht zuletzt den bereits dargestellten Problemen der Übersetzung geschuldet sind.10 Hinzu kommt, dass innerhalb der Forschungsliteratur stellenweise keine Distinktion zwischen rewriting und writing back stattfindet.11 Häufig findet der eine Begriff im Sinne des anderen Verwendung. Zu diesem Umstand haben nicht zuletzt einige Beiträge in Handbüchern und Überblickswerken geführt, die rewriting und writing back zwar für die germanistische Forschung übersetzen und eingehend thematisieren, es dabei allerdings versäumen, die Konzepte in Hinblick auf deutschsprachige Literatur zu aktualisieren und gegebenenfalls kritisch zu überprüfen.12 Wenn also die Autorposition, wie bereits ausgeführt, für den deutschsprachigen Zusammenhang kein notwendiges Kriterium für rewriting darstellt, stellt sich vielmehr die Frage nach einer spezifischen rewriting-Ästhetik, die weniger das ›was‹, sondern vielmehr die Frage nach dem ›wie‹, nach den literarischen Verfahren ins
10 Die Übersetzung in den deutschsprachigen Forschungskontext ist hierzulande maßgeblich seitens der Anglistik/Amerikanistik geleistet worden. Nachdem das Konzept ab Mitte der 1990er Jahre in den deutschsprachigen Forschungskontext übersetzt wird (vgl. Kreutzer 1995; Döring 1996), gewinnt es ab der Jahrtausendwende erneut an Aufmerksamkeit (vgl. Gymnich 2006; Reif-Hülser 2006; Sandten 2006). 11 So schreibt Cecile Sandten: »Das Konzept des writing back kann auch analog zum Konzept ›rewriting‹, d.h. der Neu-Interpretation, betrachtet werden, da letzteres auch einen methodologischen Kampfbegriff darstellt.« (Sandten 2006: 25; Hervorh. i. Orig.) Ebenso verwendet Doris Bachmann-Medick die Begriffe synonym (vgl. 2009: 195). Bei Jana Domdey, die sich mit Ilija Trojanows Der Weltensammler (2006a) beschäftigt, werden die Begriffe rewriting und writing back weder differenziert, noch wird ihr Verhältnis für den deutschsprachigen Zusammenhang problematisiert (vgl. Domdey 2009). 12 Zu diesen Beiträgen gehören etwa das Kapitel zu writing back in der Einführung zur Intertextualität von Frauke Bernd und Lily Tonger-Erk (2013: 79–81, 90–98) oder der Beitrag von Roy Sommer im Handbuch Erzählliteratur (2011: 280–282). Vgl. auch die Verwendung bei Kpao Sarè (2012: 137–147).
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Zentrum rückt (vgl. Heimböckel 2016b; Osthues 2017). Außerdem sind bisher wenige Versuche unternommen worden, Konzepte der Intertextualitätstheorie einzubeziehen, um rewriting als spezifisches Text-Text-Verhältnis näher zu bestimmen. Diese Annahme scheint für die postkoloniale Forschung insgesamt zu gelten (vgl. Dubiel 2007: 195). Dabei können intertextuelle Ansätze, wie bereits ausgeführt (vgl. I.3.4.), so z.B. Gérard Genettes Vorschlag zur Hypertextualität oder das dreigliedrige Konzept Renate Lachmanns, die sogar explizit vom »mis-reading der fremden Texte und deren re-writing als revisionäre[n] Akt« (Lachmann/Schahadat 2000: 683; Hervorh. i. Orig.) spricht, produktive Anschlüsse für die theoretische Diskussion bereitstellen, die bis auf wenige Ausnahmen bislang kaum Beachtung gefunden haben (vgl. Dunker 2012a; Osthues 2017). Im Sinne einer »literarisch-politischen Strategie« (Döring 1996: 190) bleibt die Praxis des rewriting allerdings nicht exklusiv auf den postkolonialen Kontext begrenzt. Rewritings können auch dort vorkommen, wo Autoren sich älterer Texte zu ihrer Bearbeitung bedienen, um marginalisierte Sichtweisen zu artikulieren und so zur kritischen Relektüre vor allem kanonischer Texte anzuregen wie etwa im Falle eines ›feministischen rewriting‹ (vgl. Döring 1996: 195; Gymnich 2006: 83f.; Sandten 2006: 25). Aus einer textanalytisch-deskriptiven Perspektive sind rewritings im Allgemeinen als Spezialfall der Intertextualität zu betrachten, bei dem ein jüngerer Text mit älteren Prätexten ein kritisch-revisionistisches Verhältnis eingeht.13 Ein wichtiges Distinktionsmerkmal bildet dabei die Intensität der intertextuellen Beziehung. Anders als bei »rein punktuellen Verweisen auf einen literarischen Prätext« (Gymnich 2006: 74) ist für rewritings charakteristisch, dass sie »sich in ungleich stärkerem Maße auf ihre Vorgänger-Texte einlassen.« (Hamann/Honold 2009: 13) Demnach […] lehnt sich ein ›rewriting‹ vor allem in Bezug auf Plot und Figurenkonstellation in der Regel recht deutlich an den Prätext an. Oft findet sich zusätzlich eine Markierung des intertextuellen Bezugs – durch eine explizite Erwähnung des Prätextes im Folgetext oder auch durch die Verwendung von Zitaten aus dem Prätext. (Gymnich 2006: 74; vgl. Reif-Hülser 2006: 71)
13 Roy Sommer spricht in seinem Beitrag zu »postkoloniale[m] Erzählen« von einer »revisionistische[n] Intertextualität«, wenngleich er nicht auf den Begriff rewriting explizit Bezug nimmt, sondern den Begriff writing back anführt (vgl. Sommer 2011: 281). Deutlich wird abermals, dass die spezifische Bedingung deutschsprachiger Literatur dabei aus dem Blick gerät, wenn, wie in diesem Fall, von writing back die Rede ist, obwohl sich das Handbuch, in dem sein Beitrag erschienen ist, überwiegend auf deutschsprachige Erzählliteratur bezieht.
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In ihrer Studie zur englischsprachigen Literatur hat Monika Reif-Hülser den Versuch einer näheren Begriffsbestimmung vorgenommen, indem sie auf die Bedeutung des lateinischen Präfix re (dt. f. ›zurück‹, ›wieder‹, ›entgegen‹) eingeht. Obgleich die Autorin erst an anderer Stelle auf das Palimpsest explizit rekurriert, kommt es bereits in der folgenden Definition von rewriting über das griechische Äquivalent palin/palim zum Tragen: Im diskursiven Gebrauch werden bei ›Re-writing‹ eine ganze Reihe Konnotationen des lateinischen ›re-‹ mobilsiert (oder auch des entsprechenden griechischen ›palin/palim-‹): es kann adversariell benutzt werden im Sinne von ›writing back‹, ›stricking back‹; es kann einen ›Gegen‹-Diskurs beschreiben, wie beispielsweise ›counter-narrative‹, ›counter-canon‹ oder ›counter-history‹. Re-writing kann repetitiven Sinn haben, wie in der ›Re-konstruktion‹ der Geschichte, Rekonstruktion durch Erinnerung, etc. Immer beschreibt es ein enges Verhältnis zwischen dem jüngeren Text, der sich in entscheidender Weise auf den älteren Text bezieht. (Reif-Hülser 2006: 71)14
Zusammengefasst basiert das strategische Potential von rewriting auf einem Akt des Wieder- bzw. Neuerzählens im Sinne einer Re-Inszenierung von Geschichte als Gegengeschichte oder Alternativversion. Rewritings beschreiben zugleich eine besondere Verwendung intertextueller Verfahren, die ihr subversives Potential sowohl aus der kritisch-revisionistischen Beziehung zwischen Prä- und Folgetext als auch aus ihrer Spannung zum literarischen Kanon beziehen. Das Besondere liegt gerade in der Art und Weise der Bearbeitung ihrer Quellen- bzw. Prätexte, die sie einer kritischen Relektüre und Revision unterziehen.15 Rewritings setzen dabei immer auch Relektüren voraus (vgl. Döring 1996: 196); sie sind so gesehen Ergebnis einer kritischen Neulektüre, mittels der sich rewritings in ambivalenter Bewegung aus ›Wie-
14 Vgl. zur etym. Bestimmung der Vorsilbe re auch Tobias Döring: Rewriting könne »in seinem Wiederholungscharakter auch eine antagonistische Komponente zum Ausdruck bringen, die das ›Zurück‹ als ein ›Entgegen‹, eine Form des Widerstehens, des ›ZurWehr-Setzens‹ charakterisiert.« (Döring 1996: 187) Eine weitere Dimension der etym. Wurzel von rewriting bleibt dabei unbetont, wenngleich implizit: Über die lateinische Wurzel re, die für die Bedeutung ›in den früheren, richtigen Zustand‹ steht, kommt eine strategische Dimension des Begriffs zum Tragen, die auf Revision und Korrektur von Geschichte abzielt zugunsten derjenigen, die im kolonialen Diskurs keine Stimme besitzen bzw. die gewaltsam ausgeschlossen wurden. 15 Zur Dimensionierung des Revisionsbegriffs im Horizont der Literatur- und Kulturtheorie, besonders im postkolonialen Diskurs, vgl. Nünning (2004: 570f.) und Reif-Hülser (2006: 71f.). Vgl. auch konkret im Zusammenhang eines postkolonialen Erzählens Sommer (2011).
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derholung und Differenz‹16 von ihren Prätexten absetzen und auf diese Weise versuchen, sowohl gegen ihre Vorläufer- bzw. Vorbildertexte anzuschreiben als auch jene Sichtweisen und Stimmen wieder in die Literatur zu holen, die im kolonialen Diskurs gewaltsam ausgeschlossen und zum Verstummen gebracht wurden. »Was in der Literatur der Vergangenheit nicht als Thema aufschien«, so betont Monika Reif-Hülser, müsse »aus heutiger Perspektive nachgeholt, reformuliert werden. Es findet gewissermaßen eine rückwärtsgerichtete Umperspektivierung mit Hilfe der Texte statt, die Geschichte schreiben.« (Reif-Hülser 2006: 63) An zwei Stellen taucht in den Überlegungen Reif-Hülsers das Palimpsest explizit auf: In ihrem Definitionsversuch ist es der Verweis auf das griech. Präfix palin/palim, das sich äquivalent zum lat. ›re‹ verhalte. Damit bringt die Autorin das Palimpsest in den Kontext von rewriting. Allerdings geht Sie weder auf die Potentialität dieser Denkfigur näher ein, noch macht sie intertextuelle Perspektiven für ihren Ansatz produktiv. Der Autorin geht es gerade nicht um eine textanalytischdeskriptive Perspektive, die etwa, wie in dieser Arbeit, rewriting zugleich als einen spezifischen Typ der Inter- bzw. Hypotextualität (Genette) begreift, bei dem ein Text A (der sog. Prä- bzw. Hypotext) in ein Verhältnis zu einem Text B (Hypertext) tritt, der folglich als Transformation des ersten Texts (A) zu betrachten ist (vgl. Genette 1993: 14f.). Anders verfährt Reif-Hülser an einer zweiten Stelle, bei der es um writing back geht. Am Beispiel der postkolonialen Autorin Jean Rhys, die mit Wide Sargasso Sea (1966) ein postkoloniales rewriting von Charlotte Brontës Klassiker Jane Eyre (1847) vorlegte, erläutert sie ein typisches postkoloniales Merkmal. So mache Rhys »gerade das zum Thema ihrer Neuformulierung […], was der ältere Text ausblende[ ], bzw. überhaupt nicht in seinen fiktionalen Kosmos einbezieh[e].« (ReifHülser 2006: 65) Rhys Umschreiben des kolonialen Prätexts gleiche damit der Vorstellung eines Palimpsests, indem sie »die Geschichte vor der Geschichte« artikuliere, deren Wirkungen aber in die fiktionale Gegenwart der Vorlage hereinreichen; in archäologischen Termini wäre der neue Roman die ältere Schicht. Wenn man im Bild des Schichten-
16 Das Doppelmoment aus Wiederholung und Differenz ist dabei insofern hervorzuheben, als es die Voraussetzung für eine alternative Gegengeschichte darstellt, die den ontologischen Status von Geschichte, seinen oftmals postulierten Singular unterläuft und zu einer Pluralisierung der Anschauung beiträgt und damit gleichsam eine machtkritische Perspektive auf historische Entitäten eröffnet, dass Geschichte folglich etwas Gemachtes ist und häufig Gefahr läuft, – wie an anderer Stelle bereits thematisiert (vgl. I.3.3.4) – im Benjamin’schen Sinne eine »Gesichte der Sieger« zu sein.
210 | L ITERATUR ALS P ALIMPSEST modells bleiben will, bietet sich zunächst die Metapher des Palimpsests an, das durch Überlagerungen und Überschreibungen entsteht. (Reif-Hülser 2006: 65)17
Die Verwendung der Palimpsest-Metapher bei Reif-Hülser ist für die vorliegende Arbeit insofern interessant, als sie allgemein zeigt, wie produktiv das semantische Potential des Palimpsests für postkoloniale Perspektiven ist. Wie die zuletzt genannten Überlegungen zeigen, dient das Palimpsest ihr als Beschreibungsfigur, um Rhys’ rewriting von Charlotte Brontës’ Jane Eyre (1847) als die eigentlich »ältere Schicht« (Reif-Hülser 2006: 65) zu begreifen, die verschüttete Stimmen zutage fördert, die Jane Eyre vorausgegangen sind, dort selbst aber nicht vorkommen. Bei Reif-Hülser steht das Palimpsest somit für eine dem Prätext vorausgegangene Geschichte und ein Gedächtnis, die das rewriting aktualisiert. Diese Verwendung des Palimpsests weicht allerdings davon ab, wie es im Rahmen der vorliegenden Studie zur Beschreibung einer postkolonialen Ästhetik deutschsprachiger Gegenwartsliteratur herangezogen wird, um rewriting als einen besonderen Typ der Trans-/Intertextualität zu betrachten. Hier wird mit der Metapher kein verschütteter Vorgängertext, sondern eine spezifische Text-Text-Relation im Bild der Überlagerung und Überschreibung aufgerufen, wobei eine ›Ästhetik der Verschiebung‹ ein postkoloniales Potential freisetzt, welches koloniale Diskursschichten mit literarischen Verfahren irritiert, umkehrt und deplatziert und dadurch sowohl zur Dekonstruktion des kolonialen Imaginären beiträgt als auch verschiedene Möglichkeiten zur kontrapunktischen Lektüre anbietet (vgl. u.a. II.1.2). Die Literaturwissenschaftlerin Chantal Zabus hat das Potential solch einer Verschiebeästhetik in ihrem Verständnis von rewriting treffend formuliert. Rewriting versteht sie [a]s a genuine category of textual transformation that is different from but that possesses the ability to encompass sources, imitation, parody, pastiche, satire, duplication, repetition (both as debasement and challenging recurrence), allusion, revision, and inversion, ›rewriting‹ is the appropriation of a text that it simultaneously authorizes and critiques for its own ideological uses. (Zabus 2002: 3)
Wenngleich das Palimpsest darin nicht explizit auftritt, so greift die Autorin an zwei Stellen unmittelbar in der Nähe dieser Definition auf die Metapher zurück
17 Eine solche Vorstellung von rewriting als Palimpsest führen auch die Herausgeberinnen und Herausgeber des The Post-Colonial Studies Reader: »One of the more interesting aspects of this palimpsest is the rewriting, through Aboriginal textuality, of a place which would seem to have been overwritten by the coloniser.« (Ashcroft/Griffiths/Tiffin 2002: 392)
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(vgl. ebd.: 2, 3), um sie für postkoloniale Perspektiven auf Phänomene der TextText-Beziehung zu nutzen. Die Palimpsest-Metapher ist Zabus’ Überlegungen zu rewriting somit implizit unterlegt. Wenn also im Folgenden konkrete Merkmale von ›Rewriting als Palimpsest‹ am Beispiel von Christof Hamanns Usambara in den Fokus rücken, so ist damit stets eine Ästhetik aufgerufen, für die Strategien der Verschiebung konstitutiv sind, welche die koloniale Ordnung in ganz unterschiedlicher Weise auf den Kopf stellen. 4.1.3 Rewriting als Palimpsest am Beispiel von Christof Hamanns Usambara Wenn die deutschsprachige Gegenwartsliteratur eine Affinität zu kolonialen Stoffen aufweist und sich maßgeblich in Beziehung zu kolonialen Prätexten konstituiert, so gilt es nachfolgend nach der Spezifik ihres rewriting zu fragen. Dabei scheint weniger die Frage von Bedeutung, ›was‹ zum Schreibanlass und Gegenstand der Bearbeitung geworden ist, sondern vor allem ›wie‹ um- bzw. überschrieben wird, welche inter- bzw. hypertextuellen Verfahren zur Anwendung kommen, welche kritischen Perspektiven auf typische Formationen des kolonialen Imaginären dabei entwickelt werden. Was die Affinität gegenüber historischen Stoffen angeht, so macht der Roman Usambara aus seinen Prätexten kein Geheimnis. Im Bereich des Paratexts sind die zentralen Quellen explizit ›markiert‹18, die der Autor Hamann zur Umschreibung herangezogen hat. Diese Markierung ist typisch für rewritings, was sich an einer Reihe von Texten der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur nachweisen lässt. 19 Besonders ist dies bei dem Genre sog. ›Literarisierungen von Reise- und Entdeckerberichte‹ der Fall, zu dem auch Hamanns Roman zählt.20 Ihre Quellen nennen
18 Die Differenzierung zwischen ›markierter‹ und ›nicht-markierter Intertextualität‹ schließt an die Ausführungen von Ulrich Broich an, der im Rahmen eines ›engen‹ Intertextualitätsbegriffs davon ausgeht, dass »ein Autor bei der Abfassung seines Textes sich nicht nur der Verwendung anderer Texte bewußt ist, sondern auch vom Rezipienten erwartet, daß er diese Beziehung zwischen seinem Text und anderen Texten als vom Autor intendiert und als wichtig für das Verständnis seines Textes erkennt. Intertextualität in diesem engeren Sinn setzt also das Gelingen eines ganz bestimmten Kommunikationsprozesses voraus« (Broich 1985b: 31). 19 Vgl. dazu auch die Ausführungen Axel Dunkers zu Stangls Roman Der einzige Ort. In dem Verweis auf Quellen sieht Dunker ein »metafiktionale[s] Verfahren« des Textes, das den »Konstruktcharakter« (Dunker 2012: 318) vor Augen führt. 20 Vgl. dazu die Literaturübersichten von Honold/Hamann (2009: 9, 13f.), Bay (2012: 107) und Bay/Struck (2012: 9).
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diese Romane vorwiegend im Anschluss an die Erzählung im peritextuellen Bereich.21 Fehlt eine nähere Bezeichnung nicht gänzlich, wie im Falle Usambaras, ist dieser Peritext häufig mit »Nachbemerkungen« (Buch 2001: 219–222; Buhl 2005: 205f.), »Nachwort« (Capus 2008: 211–215; Buch 2008: 224–241), »Literaturanmerkung« (Stangl 2006: o.A.) oder »Hinweis« (Ransmayr 1997: 277) überschrieben. Die Nennung der Quellen bildet somit eine Voraussetzung für jene rewritings, die als solche erkannt sein wollen. Die explizite Ausweisung der Quellen trianguliert zwischen Leser, Text und Autor ein Verhältnis, das den Peritext zum strategischen Ort des Übergangs werden lässt, der »zwischen Text- und Nicht-Text« verortet ist und Genette zufolge den »geeigneten Schauplatz für eine Pragmatik und eine Strategie« darstellt, um das Textverständnis zur »besseren Rezeption des Textes und einer relevanteren Lektüre« im Sinne »des Autors und seiner Verbündeten« zu lenken (Genette 2001: 10). Hypertextualität erfolgt »mehr oder weniger offiziell« (Genette 1993: 20), wie Genette an anderer Stelle schreibt. Dass die Nennung im Peritext eine hinreichende, aber nicht notwendige Bedingung von rewritings darstellt, zeigt z.B. die Analyse von Laura Beck, die in Hamanns Usambara ein rewriting von Albert Camus Der Fremde erkannt hat (2011: 85–132), einem Text, den der Autor selbst für seinen Roman als zentral einstuft (vgl. Hamann 2010a: 208), wenngleich er im Peritext keine Erwähnung findet.22 Aus einem anderen Blickwinkel ist die Markierung im Peritext bereits als eine metafiktionale Strategie des Romans zu lesen, die selbstreferentiell sein GemachtSein als Literatur, also den »erkennbare[n] Konstruktcharakter des literarischen Textes« ausstellt (Dunker 2012b: 318). Prätext-Markierungen können dabei nicht nur, wie das Beispiel Usambara exemplarisch zeigt, im Peritext erfolgen. Auch im Bereich des sog. Epitexts23 oder auf der Ebene der Diegese, also im Text selbst, kann eine Nennung der Quellen stattfinden.
21 Diesen peritextuellen Bereich hat Gérard Genette in Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches mit der Kategorie »Anmerkungen« näher bestimmt (vgl. Genette 2001: 304– 327). 22 Allerdings drängt sich die Frage auf, ob nicht zwischen einem ›engen‹/›starken‹ und einem ›weiten/schwachen‹ Verständnis von rewriting unterschieden werden muss. Meint ein enges/starkes Verständnis das konkrete Umarbeiten, d.h. zitieren, verfremden und verfälschen des Prätexts, der deutlich als Textfolie erkennbar bleibt, so gibt es in einem weiten/weichen Verständnis auch Prätexte, die als Versatzstücke spielerisch und einer strategischen Intention folgend eingebunden werden, aber nicht unmittelbar Gegenstand, sondern als Element von Diskursen pars pro toto bzw. Ziel der kritisch-revisionistischen Neu- und Umdeutung sind. 23 So etwa in Interviews. Vgl. hierzu die Aussage des Autors in einem seiner poetologischen Beiträgen zu Usambara: »Traditionell historische Romane bemühen sich darum,
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Im Anschluss an den Roman Usambara werden neben einer ungenau markierten Intertextualität (»Der Roman bezieht Entdeckerberichte des 19. Jahrhunderts«) der Reisebericht »Oscar Baumanns In Deutsch-Ostafrika während des Aufstandes (1890) und Hans Meyers Ostafrikanische Gletscherfahrten (ebenfalls 1890)« aufgeführt (vgl. U 261). Letzterer nimmt eine exponierte Rolle ein, wie Hamann selbst schreibt (vgl. 2010a: 205). Darüber hinaus legt der Autor hier eine intertextuelle Spur, die von Hamanns Figur Leonhard Hagebucher zu Wilhelm Raabes gleichnamigem Protagonisten aus dem Roman Abu Telfan oder Die Heimkehr vom Mondgebirge (1867) führt. Nachfolgend sollen drei Passagen aus Usambara näher betrachtet werden, die den Umgang mit literarischen wie nicht-literarischen Quellen in diesem Roman veranschaulichen. Anders als bisherige Forschungen 24 will die folgende Analyse stärker das ›wie‹, also die Frage nach den ästhetischen Verfahren fokussieren, die exemplarisch sind für rewritings innerhalb deutschsprachiger Gegenwartsliteratur. Außerdem gilt es, an Ergebnisse der bisherigen Analyse anzuschließen. So spielen besonders Merkmale des komischen Erzählens, wie sie im Bereich der Figurenkomik (vgl. II.2) oder Raumsemantik (vgl. II.3) thematisiert wurden, für die Bearbeitung prätextueller Stoffe in Usambara eine zentrale Rolle. Den einen Prätext bildet der Reisebericht Hans Meyers. Am Beispiel der Gipfelszene, die bereits im Bereich der Raumanalyse Thema war (vgl. II.3.2.2), hat die Analyse zum Ziel, die erzählerischen Merkmale auf der discours-Ebene herauszuarbeiten, die zur Irritation des kolonialen Prätexts beitragen. Zwei weitere Passagen beziehen sich auf koloniale Texte, die jedoch nicht im engen Sinne der oben aufgeführten rewriting-Definition (II. 4.1.2) zu beachten ist. Da der Roman eine Vielzahl literarischer Versatzstücke spielerisch verarbeitet, die der fiktionalen wie nicht- bzw. semifiktionalen Literatur des 19. Jahrhunderts entstammen, drängt sich die Frage auf, inwiefern diese anderen Elemente nicht eine ebenso bedeutsame subtextuelle Folie darstellen wie – im engen Verständnis von rewriting – der Prätext Meyers. In diesem Sinne setzt sich der koloniale Subtext des Romans aus einer ganzen Reihe von Intertexten mit deut-
dieses Gemachte zu verbergen, etwa durch direkte Rede oder mit Hilfe einer autoritären, allmächtigen Erzählerstimme. Mir ging es in Usambara eher darum, dieses Gemachtsein von Authentizität herauszustellen. Ich wollte zeigen, dass das Echte erfunden werden kann, deswegen aber nicht machtlos ist. Im Gegenteil: Gerade dass in meinem Roman von der Vergangenheit in einer bestimmten Weise erzählt wird, schafft eine Wirklichkeit, der sich die Figuren nicht entziehen können und die sie erst zu Subjekten macht.« (Hamann 2009: 321f.) 24 Vor allem auf die Bedeutung der Intertexte Wilhelm Raabes für den Roman ist bereits ausführlich eingegangen worden, weshalb hier darauf verzichtet werden kann. Vgl. dazu die Arbeiten von Beck (2011), Dunker (2012a) und Göttsche (2013).
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lich kolonialen Implikationen zusammen, selbst wenn er aus diesen nicht immer direkt zitiert oder sie im Peritext explizit macht. Auch diese Art und Weise des ästhetischen Umgangs mit kolonialen Versatzstücken stellt eine Spielart von rewriting dar, wobei der Begriff hier weiter gefasst werden muss (vgl. II.4, Anm. 22). Einer dieser Texte ist ein Klassiker unter den kolonialen Reisehandbüchern: Francis Galtons The Art of Travel; or: Shifts and Contrivances available in wild Countries (1855), der bei Hamann mit einem deutschen Titel Kunst des Reisens (U 71, 145) aufgerufen wird. Hamanns Roman legt eine Spur zu diesem Text über eine Passage in Usambara, die auch Auskunft über Meyers Reisevorbereitung gibt (»Meyers Checkliste« [U 145f.]). Diese Vorbereitung parallelisiert der Roman zugleich mit dem Reisevorhaben Fritz’ und Michaels (»Michaels Checkliste« [ebd.]) und stellt damit neokoloniale Formen des Reisens in ein kritisches Licht. Die Erzählinstanz Fritz kolportiert an dieser Stelle eine detaillierte Inventarliste der Reiseausrüstung Meyers. Den Schluss der Auflistung, wo auch in Meyers Ostafrikanischen Gletscherfahrten von »Geschenke[n] für die Häuptlinge in Dschagga« (U 146; Meyer 1890: 36f.) die Rede ist, parodiert der Hamann’sche Text in einem komischen rewriting der Passage: Zur Ausstattung zählen bei Hamann »25 kaputte Uhren, 18 kleine Spielzeugtelefone, 43 Taschenmesser mit abgebrochenen Klingen, Uniformknöpfe, 13 bunte Regenschirme, 300 Pfund verschiedene Glasperlen, 19 Steinschlossflinten, 150 Pfund Salz plus eine Nähmaschine für Mareale.« (U 146) Bei Meyer heißt es zuvor, er habe nebst »›gängigen‹ Tauschwaren auch noch allerlei hübsche Geschenkartikel gern als Zugabe [mit]genommen«, ohne dabei ihre, aus Meyers Sicht, Zwecklosigkeit zu verschleiern. »[K]aufen kann man jedoch nichts«, behauptet Meyer und verweist auf seine Auswahl an Geschenken: So hatte ich diesmal besonders für die Häuptlinge in Dschagga eine ganze Auslese von Uhren, Spieldosen, kleinen Telefonen, Maschinenmodellchen, Masken, vielklingigen Taschenmessern, Uniformstücken usw. mitgenommen, die als Geschenke ihre erhoffte Wirkung selten verfehlten. (Meyer 1890: 36f.)
Die komische Übertreibung in Usambara entlarvt mit den Dingen die offensichtliche Täuschungsabsicht.25 Wenn Hamanns Roman an dieser Stelle auch auf Francis Galtons »Longseller Kunst des Reisens« (U 145)26 verweist, der der Meyer-Figur in Usambara zum Vorbild der Reisevorbereitung wird, so erscheint die Parodie darüber hinaus als ironisches Zitat des kolonialen Diskurses insgesamt, sie legt die
25 Vgl. dazu auch den Beitrag »Nilpferdpeitsche und Botanisiertrommel. (Post-)koloniale Dinge in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur« (Osthues 2016a). 26 Dabei ist zu erwähnen, dass eine deutschsprachige Ausgabe, wie bei Hamann zitiert, nicht existiert.
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Asymmetrie der kolonialen Beziehungen kritisch bloß. Der britische Autor, Geograph und Forschungsreisende Francis Galton hatte 1855 in seinem Reiseratgeber The Art of Travel im Kapitel »presents, and articles for payment and exchange« (Galton 1855: 173f.) auch über die Möglichkeit betrügerischen Handelns geschrieben. Seine Ausführungen lassen deutlich werden, dass dem Tauschmoment eine kulturelle Differenz eingeschrieben ist, die hierarchisch zwischen der Höherwertigkeit der kolonisierenden Kultur auf der einen und der Primitivität der Kolonisierten auf der anderen Seite unterscheidet und eine Grenze zieht. Hamann nutzt in Usambara insbesondere die Mittel der komischen Überzeichnung, um den Rassismus im Umgang mit dem Fremden stärker herauszustellen als der Prätext. In der Überspitzung der Figuren sieht auch Beck eine »Dramatisierung der historischen Ereignisse« (2011: 39), die Usambara gegenüber dem Prätext auszeichnet, indem der Hamanns Roman »den Rassismus des Originals auf die Spitze treibt« (ebd.: 36). In der Übertreibung zeigt sich also ein Aspekt von Verschiebung: Die normalistische Weltanschauung des Kolonialismus im Prätext, jene »selbstverständliche Menschenverachtung innerhalb kolonialer Strukturen, die sich bereits in den historischen Dokumenten manifestiert« (ebd.: 32), wird in Usambara in ihrer Überzeichnung komisch verrückt zur Schau gestellt. Ein zweiter nicht-fiktionaler Text, den Hamann in Usambara zu seiner Um- und Überschreibung heranzieht, ist die Sammlung ethnologischer Aufzeichnungen des evangelischen Pfarrers Bruno Gutmann, erstmals 1909 unter dem Titel Dichten und Denken der Dschagga-Neger veröffentlicht. Gegen Ende des Romans wird der Autor Bruno Gutmann explizit genannt und mit der Familiengeschichte in Zusammenhang gebracht: Der Kilimandscharo ist ein stimmenreiches Gebirge, schrieb Bruno Gutmann, der Sagenjäger, der Sageneintreiber, der Sageneinverleiber. Für Urgroßvater war Gutmann ein nie versiegender Schatz, ein Fortunati Glückssäckel. Stimmenreich, sagte Hagebucher, sagte Mutter, sagte ich. (U 199)
An dieser Stelle befindet sich der Urenkel Fritz Binder bereits auf dem Weg zum Gipfel. Die Höhenkrankheit, die ihm zunehmend zu Kopf steigt, realisiert der Text ästhetisch in seiner Struktur: Dem Leser ist dabei Einsicht gewährt in die innerlichpsychischen Vorgänge des Erzählers, die als mäandernder ›Strom‹ von Gedankenfragmenten zur Darstellung kommen. Die so entstehende ›Ästhetik des Schwindels‹ reflektiert metafiktional das Erzählen selbst: Demnach steht die »Fragmentierung der Form« (Beck 2011: 42) in Verbindung mit den Problemen des Erzählens, das schwindelt. Fritz’ Projekt der Bergbesteigung wird dadurch als Sinnsuche erkennbar, die also weniger dem Füllen von Wissenslücken dient, als sie vielmehr im Akt des Erzählens und Fabulierens selbst permanent Leerstellen produziert.
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Der Ausdruck »Der Kilimandscharo ist ein stimmenreiches Gebirge« stammt dabei tatsächlich von Gutmann, der in Das Volksbuch der Wadschagga die »Sagen, Märchen, Fabeln und Schwänke«, wie es im Untertitel heißt, des KilimandscharoGebiets gesammelt, beschrieben und durch den Filter seines kolonialen Blicks kommentiert hat (Gutmann 1914: 5). Über das Motiv der ›Vielstimmigkeit‹ wird der koloniale Bodensatz der Familiengeschichte deutlich, hat diese GutmannQuelle doch unreflektiert Eingang in den Tradierungsprozess der Binders gefunden. Ist Gutmanns Text im Roman an dieser Stelle noch nicht markiert, so greift der Roman wenige Seiten später explizit einen Auszug aus Gutmanns erstem Kapitel »Der Kibo in Sage und Spruch der Wadschagga« auf (1909: 1–9). Diese mündlichen Erzählungen der Wadschagga hielt Gutmann nicht nur schriftlich fest, sondern integrierte sie gleichsam in seine koloniale Weltanschauung. Seine völkerkundlichen Beschreibungen tragen deutliche Signaturen des kolonialen Diskurses, die sich besonders in seinen Kommentaren niederschlagen. Diese spiegeln typisch koloniale Stereotype, Dichotomien und Denkmuster der kulturellen Herabsetzung, die den Fremden auf einer niedrigeren Zivilisationsstufe platzieren. Gutmanns Aufzeichnungen rekurrieren demzufolge auf grundlegende Ungleichheitsprinzipien der kolonialen Beziehung.27 Unter der Vielzahl an Folklore, Mythen und sprichwörtlichen Redensarten, die den Kilimandscharo umranken, erzählt Gutmann gleich zu Beginn eine »lustige Geschichte« der sog. »Madschameleute«, die »sie erfunden« hätten, so Gutmann, »um zu erklären, wie der Mawensi zu seiner zerklüfteten und zerhauenen Gestalt gekommen ist.« (Ebd.: 2)28 Dieser Schöpfungsmythos wird in Usambara weniger durch Einfügungen oder Eingriffe umgeschrieben denn vielmehr stilistisch verschoben. Die nachfolgende Passage Gutmanns ist eine leicht veränderte Fassung aus Dichten und Denken der Dschagga-Neger (1909: 2f.), die er fünf Jahre später in Volksbuch der Wadschagga. Sagen, Märchen, Fabeln und Schwänke (1914) unter dem Titel »Was den Mawensi so schartig machte« (ebd: 136) nacherzählt. Sie ist der Version, die Hamann anfertigt, deutlich näher, wie die folgende Gegenüberstellung zeigt:
27 Nicht nur wird der Fremde bei Gutmann unter der allg. Chiffre »Neger« (Gutmann 1909: 1f.) subsummiert. Auch rekurrieren die Beschreibungen der Wadschagga auf das typische Stereotype, das den Afrikaner die Fähigkeit zur Vernunft abspricht sowie in den Bereich der Natur und des Aberglaubens verschiebt: »Dies gilt besonders von dem Neger, der vielleicht mehr noch als andere Völker unter dem Zwange überlieferter Vorstellungen handelt und sein Leben auch in den Dingen des Alltages nach einem altererbten Zeremoniell regelt.« (Ebd.: 1) 28 Der ›Mawensi‹ bezeichnet gegenüber dem ›Kibo‹ das kleinere, tiefer gelegene Gebirgsmassiv des Kilimandscharos.
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Bruno Gutmann:
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Christof Hamann:
Volksbuch der Wadschagga. Sagen, Mär- Usambara (2007a) chen, Fabeln und Schwänke (1914) Der Mawensi ging zum Kibo und holte bei Es war einmal der Mawenzi, der ging zum ihm Feuer. Er traf den Kibo beim Einstamp- Kibo und holte sich Feuer. Er traf den Kibo fen trockener Bananen. Der Kibo gab ihm beim Einstampfen trockener Bananen. Der ein weniges davon ab. Das aß der Mawensi Kibo gab ihm eine Portion davon ab. Der auf und ging dann mit seinem Feuer davon. Mawenzi aß sie und ging mit seinem Feuer Aber er fand, daß die Trockenbananen doch davon. Sie schmeckten ihm aber so gut, da gar zu gut schmeckten. Halbwegs löschte er löschte er sein Feuer und ging zurück zum das Feuer, ging zum Kibo zurück und Kibo. Abermals gab ihm der Kibo Feuer und sprach: »Kafo-se Mnjate: nochmals guten eine Portion eingestampfter Bananen. Doch Tag, Mnjate.« »Guten Tag« sagte der Kibo. auch danach war die Naschlust des Mawenzi Und er gab ihm Feuer und wieder ein paar nicht gestillt. Zum dritten Mal löschte er sein Bananen. Aber der Mawensi löschte sein Feuer und kehrte zum Kibo zurück. Da hob Feuer noch einmal, trat wieder ein zum Kibo dieser seinen Stößel auf, mit dem er die Baund sprach: »Kafo-se Mnjate.« Aber der nanen gestampft hatte[,] und schlug auf den dankte ihm diesmal nicht, hob seinen Stößel Mawenzi ein. Daher hat er seine Scharten. auf, mit dem er die Bananen stampfte, und Abenteurer weinen. (U 203) schlug auf den Mawensi ein. Von da her hat er seine Scharten. (1914: 136)
Die Volksmythen werden von Gutmann im Modus der Mündlichkeit kolportiert. Dass die Erzählerstimme in Usambara diese Verschriftlichung oraler Tradition wiederum transformiert, die Mündlichkeit im Medium der Schrift also wiederum fingiert, eröffnet dabei eine metareflexive, kritische Lektüre des Gutmann-Texts. Diese komplexe Verschiebung bietet Anlass zur Kritik an der Quelle und damit ebenso an der Rolle der Schrift im Spannungsgeflecht von kolonialem Diskurs und Macht. Wenn Schrift ein »Modus kolonialer Macht« darstellt, wie Oliver Lubrich betont (2009: 30), so wird ihr Geltungsanspruch durch den ästhetischen Schwindel im Modus ›fingierter Mündlichkeit‹29 der Gutman-Kolportage metareflexiv unterlaufen. Ein Vergleich der Passagen zeigt, dass die Nacherzählung bei Hamann nur geringe Unterschiede gegenüber dem Prätext aufweist. Diese zeigen sich zum einen in
29 Der Begriff wird innerhalb der Forschung auf einen Beitrag von Paul Goetsch (1985) zurückgeführt. Zur Rolle ›fingierter Mündlichkeit‹ in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur unter Berücksichtigung einer postkolonialen Perspektive vgl. die Beiträge Laura Becks (2016), insbesondere ihre Dissertation zu dem Thema (2017).
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der Reduktion der Geschichte, zum anderen kommt es auf der discours-Ebene zur Transformation der direkten Redeanteile in ein Erzählen, das sich auf die Präsentation von Ereignissen beschränkt. Eine auffallende Veränderung ist in der Eingangsformel zu erkennen, die Hamanns Version in eine europäische Märchentradition, also in eine ursprünglich orale Erzählform, stellt. Außerdem fügt Hamanns Umschreibung die Formel »Abenteurer weinen« hinzu. Beide Elemente tauchen dabei als Erzählmotiv in dem Kapitel immer wieder auf und stiften Zusammenhänge zwischen den Gedankenfragmenten, die der Erzählinstanz im Höhenschwindel ins Bewusstsein dringen. Wie ist dieses ›repetitive Verfahren‹ von rewriting zu deuten? Neben der metafiktionalen Funktion, wie bereits festgestellt, erfüllt diese Kolportage besonders eine strukturelle Funktion in diesem sechsten Kapitel (U 198–218), das sich aus einer Reihe gedanklich loser Versatzstücke zusammenfügt, die motivisch allerdings punktuell Verbindungen aufweisen. Sie geben vor allem dem Bewusstseinszustand der Erzählinstanz Fritz eine ästhetische Form. Im Erklingen ganz unterschiedlicher Stimmen wird die Glaubwürdigkeit des Familiennarrativs weiter in Zweifel gezogen. Das mäandernde Erzählen fördert im Taumel Stimmen zutage, die zuvor nicht über die homodiegetische Perspektive zu Wort kamen und im Höhentaumel die gesicherte und unkritische Sicht auf die Familiengeschichte im Chor widersprüchlicher, teils konkurrierender Stimmen zusätzlich irritieren.30 Dabei bezieht das Kapitel allgemein eine Vielzahl mythisch-religiöser Erzählelemente ein, die sich »aus einem rhizomatischen Geflecht aus Informationen zusammen[setzen], die aus sowohl mündlicher als auch schriftlicher Überlieferung stammen und durch die Weitergabe kontinuierlich verändert werden.« (Beck 2011: 46) Die Gutmann-Passage, die in Usambara transponiert wird, rückt zugleich deutlich in die Nähe einer Textstelle, die eine ähnlich mythische Struktur besitzt: Es war einmal die Erde, glatt und überall gleich. Da beschloss sie, mit dem Himmel zu reden und machte sich auf den Weg zu ihm. Als sie sich von ihm trennte, kam sie nicht überall nach Hause. Was von ihr müde wurde, vollendete den Abstieg nicht. So entstanden die Hügel und Berge. Müde bin ich, geh hinab. So müde bin ich, dass ich meine, nie mehr schlafen zu können. Müde ausharren. Mutter, erzähl mir was, ich kann nicht schlafen, nie mehr. Wir sind nur Gast auf Erden und wandern ohne Ruh, mit mancherlei Beschwerden. (U 199)
30 Es heißt da: »Die Erinnerungen sind von der Urgroßvaterstimme in die Mutterstimme und von da in meinen Kopf hinein gewandert. Gespeichert, jederzeit abrufbar. In diesen Stimmen stecken noch ganz andere, von weit her aufgelesene, dann einverleibte.« (U 198)
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Zum einen werden im zweiten Absatz einige Intertexte aktualisiert, die allerdings nicht markiert sind; so etwa die Verfremdung des Verses »Müde bin ich geh’ zur Ruh’« aus dem traditionellen Kindergebet von Luise Hensel (1817), der hier zu »Müde bin ich, geh hinab« in die Semantik des Berges übersetzt wurde. Ebenso rekurriert der Absatz auf das katholische Sterbe- und Begräbnislied »Wir sind nur Gast auf Erden« von Georg Thurmair (vgl. Fischer/Schmidt 2005: 247f.), das allerdings in der Vorlage die Strophe schließt mit dem Ausdruck »der ewigen Heimat zu«, der in Usambara ausgespart bleibt. Dieser Verweis ruft christlich-religiöse Bedeutungen auf, die in Beziehung zu Fritz’ Sinnsuche am Kilimandscharo treten und das Sisyphos-Motiv innerhalb einer christlichen Diesseits-Vorstellung aktualisieren (»Wir sind nur Gast auf Erden und wandern ohne Ruh« [U 199]). Eine kontrapunktische Lektüre dieser Passage ermöglicht hingegen der intra-/ intertextuelle Bezug auf den Berg-Schöpfungsmythos in den Aufzeichnungen Gutmanns. Über die märchen-typische Einstiegsformel »Es war einmal« legt der Text zum einen auf motivischer Ebene die Beziehung zur zuvor geschilderten GutmannPassage. Zum anderen steht die Formel für die potentielle Unzuverlässigkeit des Erzählens, dessen Konstruktcharakter der Text ausstellt (vgl. Beck 2011: 79). Auf der Ebene der Geschichte (histoire) unterläuft der hier präsentierte BergSchöpfungsmythos den kolonialen Blick Gutmanns, der die Erzählungen der »Madschameleute« in den Bereich naiven Aberglaubens verschiebt, und dass insofern, als Hamann das mythische Erzählen ins Eigene wendet und im Horizont europäischer Kulturtradition aktualisiert. Auch wenn keine Markierung einen Prätext konkretisiert, 31 erinnert die mythologische Darstellung an eine Reihe von deutschen Volkssagen, welche die Entstehung von Bergen mythisch erklären. 32 Auch weist
31 Dieser wird erst durch eine Lektüre der Gutmann-Quelle deutlich. Dort heißt es in der Sage »Wie die Berge wurden« (1914: 136): »Vor Alters war die Erde allenthalben glatt und gleich. Da richtete sie sich auf und wollte mit dem Himmel reden. Als sie sich wieder von ihm trennte, kam sie nicht überall bis nach Hause. Was mittwegs müde wurde, vollendete den Abstieg nicht und verhielt sich, wo es war. Das wurden die Berge und Hügel auf der Erde.« (Ebd.) 32 Vgl. etwa die Sage über die »Entstehung des Siebengebirges«, das sich nicht unweit von Bonn befindet: »In alten Zeiten war der Drachenfels mit dem Rolandsbogen durch einen Höhenzug verbunden. Dahinter stand ein gewaltiger See. Das ärgerte die Bewohner, und um diesen See nach dem Meere hin abzuleiten, verdingten sie aus dem Reich der Riesen sieben besonders große Kerle, die einen Damm durch das Gebirge graben sollten. Drei Monde lang wühlten sich die Riesen in den Berg hinein, und endlich bahnten die Fluten des Rheins sich einen Weg durch den Berg. Die Wasser flossen ab und eine fruchtbare Ebene wuchs zu beiden Seiten des Rheins empor. Mit reichem Lohn beladen zogen die Riesen ab. Vorher aber klopften sie von ihren Spaten den Dreck ab, und da, wo dieser zu
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der Roman Usambara einige Intertextualitätssignale auf, die auf weitere regionale Erzählungen rekurrieren, wie z.B. »Die Entstehung des Siebengebirges« (Fischer 2012: 44) oder »Die Sage von König Watzmann« (vgl. Bechstein 1930: 642–644). Auf Letztere verweisen u.a. einige topographische Koordinaten des Romans.33 Obgleich die intertextuelle Spur zu deutschen Legenden schwach markiert bleibt, erlaubt dieser Bezug eine kritische Perspektive auf ein Versatzstück des kolonialen Diskurses, das der Text über Gutmanns Dichten und Denken der Dschagga-Neger (1909) aufruft. Nicht ein gezielt subversives Umschreiben des Prätexts kommt dabei zum Tragen. Der Roman nutzt vielmehr ein repetitives rewriting, um Gutmanns kolonialen Blick auf den Fremden anhand einer Konstellation zu irritieren. Dies gelingt dem Text über das Herstellen einer kulturellen Ähnlichkeitsbeziehung (kulturelle Analogie von Bergmythen), die typische Mechanismen der Differenzbildung hintergeht, die im kolonialen Diskurs das asymmetrische Verhältnis zwischen Eigenem und Fremdem, zwischen Kolonisierern und Kolonisierten organisieren und hierarchisieren. Sind am Beispiel der zwei Passagen aus Usambara bereits einige rewritingVerfahren aufgezeigt, so gilt es abschließend erneut einen Blick auf die Szene der Gipfelbesteigung zu werfen, die bereits in II.3.2.2 als Spielart eines parodistischen rewritings näher bestimmt wurde. Der Reisebericht Meyers wird für Hamanns Roman zur Vorlage (Hypotext) für seine literarische Bearbeitung, seine Um- und Überschreibung, bei der Merkmale komischen Erzählens eine tragende Rolle einnehmen. Neben der Funktion postkolonialer Figurenkomik erlaubt eine Gegenüberstellung von Hypo- und Hypertext aus erzähltheoretischer Perspektive, einige Verfahren und ihre Effekte aufzuzeigen, die für den Umgang mit historischen Quellen in Usambara im Besonderen, aber auch im Allgemeinen für weitere Texte der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur typisch sind. Mit der Frage ›wie‹ in Usambara überschrieben wird, drängen sich ebenso Fragen nach einer Typologie von rewriting-Verfahren auf. Wie bereits angedeutet, gehen in rewritings Momente der Wiederholung mit solchen der Differenz Hand in Hand. Zentral erscheinen daher sowohl repetitive als auch differentielle Verfahren, die Hypo- und Hypertext in ein
Boden fiel, wuchsen sieben Berge empor. Selbst dort, wo die Riesen bei ihrer Arbeit ihre Notdurft verrichtet hatten, wuchs noch ein hoher Berg empor: der Himmerich, der heute noch im Volksmund der ›Riesenschiß‹ heißt.« (O.A. 1960: 3) 33 Berchtesgaden bildet in Hamanns Roman den Ort, an dem Fritz’ Freund Michael eine Ferienwohnung besitzt (vgl. U 53) und an dem beide zusammen für den KilimandscharoLauf trainieren (vgl. U 88–127). Der »Watzmann« wird in Usambara an zwei Stellen genannt (U 100, 126).
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Verhältnis setzen.34 Aus narratologischer Sicht ist zugleich eine wichtige Voraussetzung von rewriting aufgerufen, nämlich das Wiedererkennen einer Geschichte, die »auf unzählige verschiedene Weisen präsentiert werden« kann (Martínez/ Scheffel 2002: 21). Die nachfolgenden Ausrührungen zur Gipfelszene bauen auf II.3.2.2 auf, verlagern allerdings den Blick von der Geschichte (histoire) auf die Darstellung (discours) und damit auf Verfahren einer Verschiebe-Ästhetik, derer sich Hamanns Roman bedient, um sich am Prätext Meyer abzuarbeiten. Hans Meyer:
Christof Hamann:
Ostafrikanische Gletscherfahrten (1890)
Usambara (2007a)
Um ½ 11 betrat ich als erster die Mittelspit- ihren Gesichtern angesehen, wie fertig sie ze. Ich pflanzte auf dem verwitterten Lava- alle sind, auf der Spitze, sie bringen zugipfel mit dreimaligem, von Herrn Purt- nächst keine Silbe mehr heraus, sie heulen scheller kräftig sekundiertem »Hurra« eine und ringen nach Luft. Irgendwann greift kleine, im Rucksack mitgetragene deutsche Meyer in seinen Rucksack, entrollt die deutFahne auf und rief frohlockend: Mit dem sche Fahne, deren Holzstock er mit einigen Recht des ersten Ersteigers taufe ich diese Steinen zwischen ihnen befestigt. Sie wedelt bisher unbekannte, namenlose Spitze des hin und her, berührt Schleier und GletscherKibo, den höchsten Punkt afrikanischer und brillen. Mit dem Recht des ersten Besteideutscher
Erde:
(134)
Kaiser-Wilhelm-Spitze. gers, sagt Meyer, während er aufsteht und die beiden anderen mit ihm, taufe ich diese bisher unbekannte, namenlose Spitze des Kibo, den höchsten Punkt afrikanischer und deutscher Erde, Meyerspitze. (U 248)35
Welche ästhetischen Konsequenzen ergeben sich nun aus der Überschreibung des Meyer’schen Prätexts in Usambara? Auf der discours-Ebene wird zum einen die geschlossene Form der Gipfelszene durch den abrupten Einstieg in Usambara aufgebrochen. Außerdem ist die Passage um die Nennung von Ort und Uhrzeit, also wichtige Marker der Dokumentation und Beglaubigung, verkürzt worden. Mit dieser Formirritation wird Meyers Höhepunkt deutscher Kolonialgeschichte in Hamanns Umschreibung degradiert. Deren offene Form korrespondiert zudem mit jener ambivalenten ›Ästhetik des Schwindelns‹, von der bereits die Rede war. Sie kommt
34 Auf repetitive Verfahren im Zusammenhang mit rewriting allgemein hat auch Monika Reif-Hülser hingewiesen (vgl. 2006: 71). In Bezug auf Usambara vgl. Beck (2011: 26). 35 Um die Umschreibung Hamanns zu verdeutlichen, habe ich eine Stelle durch Fettschrift hervorgehoben.
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innerhalb der letzten zwei Kapitel zum Tragen und bildet ein metafiktionales Verfahren, das die Unzuverlässigkeit – und damit den Konstruktcharakter – historischer Quellen ausstellt. In der ästhetischen Veränderung der Form werden in Usambara Aspekte historiographischer Metafiktion von der histoire- auf die discours-Ebene übertragen. Zu dieser Verschiebung der Prätext-Szene treten auf der discours-Ebene zwei weitere Erzählmerkmale: ein Wechsel der Erzählposition und eine Verschiebung des Verhältnisses von ›erzählter Zeit‹ und ›Erzählzeit‹. So ist aus dem homo- bzw. autodiegetischen Erzähler bei Meyer, der die Unmittelbarkeit des Erlebten über ein erlebendes Ich in Szene setzt, in Hamanns Roman ein heterodiegetischer Erzähler geworden, der auf Distanz zum Erzählten geht. Diese Loslösung von Meyers Darstellung ist die Voraussetzung für jene Strategien des komischen Erzählens (›parodistisches rewriting‹), die in dieser Passage wirksam werden und maßgeblich zur Dekonstruktion des kolonialen Imaginären führen. Am Gipfel wird der Mythos vom heldenhaften Entdecker mit komischen Mitteln parodiert. Auf der histoireEbene tragen Beschreibungen der physischen Erschöpfung dazu bei, das Pathos der Szene zu hintergehen und das Bild zurechtzurücken, was den Blick kontrapunktisch für jene Details öffnet, die in Meyers Darstellung keinen Eingang gefunden haben bzw. mutwillig – denn das Heldenbild erlaubt keinen Makel – verschwiegen wurden (vgl. Fabian 2001). Dieser Effekt wird auf der discours-Ebene durch den Eingriff in das Verhältnis von ›Erzählzeit‹ und ›erzählter Zeit‹ erzeugt. Die Verbindung von ›raffendem‹ und ›szenischem Erzählen‹ bei Meyer wird in Usambara zu einem ›zeitdehnenden Erzählen‹, das die Strapazen der Gipfelbesteigung realitätsmächtig ins Bild setzt. Dieser Realitätseffekt wird auf der Ebene der histoire über zwei Verfahren ausgetragen, die für den Umgang mit der historischen Folie des Reiseberichts kennzeichnend sind: Zum einen zielt das ›modifizierende Verfahren‹, das die körperliche Erfahrung der Bergbesteigung ins Bild setzt, auf die Korrektur bzw. auf ein realistisches Zurechtrücken der pathetischen Darstellung Meyers, deren Konstruktcharakter und Unzuverlässigkeit Hamanns rewriting bloßstellt. Zum anderen sind es Interpolationen, die an den historischen Fakten vorbei in die Geschichtsschreibung einfließen und diese so konterkarieren. Wenn Meyer bei Hamann im Anschluss an die zitierte Passage eine »kleine Flasche Enzianschnaps« nebst »drei Zigarren« (U 248) aus seinem Rucksack hervorholt, um die Gipfeltaufe nicht nur in Wort, sondern buchstäblich auch in der Tat zu vollziehen, so ist dieses Ereignis von Hamann in die historische Folie eingefügt worden. Zu solch ›interpolierenden Verfahren‹36 gehört ferner die Einfügung des Boxkampfes, der um die
36 Zum Begriff der Interpolation im Bezug auf ›Relektüre‹ und rewriting vgl. Dunker (2012: 158). Der aus der Editionswissenschaft entlehnte Begriff (lat. interpolare: ›einschieben‹, ›verfälschen‹) bezeichnet eine »nicht vom Autor, sondern von einem späteren
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Namensgebung ausgetragen wird, sowie weitere konkrete Eingriffe in die Vorlage Meyers: Wie in II.3.2.2 festgestellt, ist nicht nur aus dem »Ersteiger« bei Meyer in Hamanns Usambara ein »Besteiger« geworden. Dieser egozentrische Akt steht quer zur ›historischen Faktenlage‹ des Reiseberichts und führt im Verlauf der Gipfelszene zum Streit um das Recht, dem Fremden seinen Namen einzuschreiben: In Hamanns Gipfelszene wird die Selbst- und Geltungssucht des Entdeckers überzeichnet und ironisch verrückt, nicht ohne die toponymischen37 Praktiken der symbolischen Besitzergreifung selbst auszustellen. Beide Verfahren der Verschiebung, ›Modifikation‹ und ›Interpolation‹, bedienen sich zugleich Merkmale des komischen Erzählens, die Hamanns Überschreibung des Prätexts Meyers zum parodistischen rewriting werden lassen. Anhand von Usambara lassen sich zusammenfassend drei Verfahren deduzieren, die für eine postkoloniale Perspektive auf ästhetische Verfahren des Um-, Neuund Weiterschreibens historischer Prätexte konstitutiv erscheinen. Die gängigsten Verfahren von rewriting sind demnach: (1.) Der Prätext wird nahezu wörtlich wiedergegeben. Im Arrangement des Zitats mit anderen Textelementen kann sich dabei ein postkoloniales Potential entfalten; (2.) Das historische Material wird verfremdend zitiert, wodurch subversive Effekte entstehen und in Strategien zur Darstellung gelangen können, die z.B. in der komischen bis grotesken Verschiebung des historischen Quellenmaterials koloniale Ordnungen irritieren, ironisch ausstellen oder gar ad absurdum führen können; (3.) Der Text spielt etwas Neues in die historische Folie des Prätexts (verfälschend) ein. Als subversive Einfügungen konterkarieren Interpolationen meist den Prätext, indem sie den ontologischen Status historischer Quellen, ihren Anspruch auf Faktizität und Wahrheit, über ein metafiktionales-differentielles Spiel hintergehen, das die Grenzen zwischen Fakt und Fiktion auflöst. Dass die Art und Weise eines solch kritischen, auf Revision des Prätexts zielenden Nacherzählens nicht ohne die Wiederholung kolonialer Stoffe auskommt, zeigt den schmalen Grat zwischen Affirmation und Subversion, auf dem sich rewritings bewegen (vgl. II.1.1). Nicht zuletzt aufgrund ihrer Gattungskonvention (z.B. Reisebericht) können rewriting-Projekte Gefahr laufen, koloniale Diskursmuster ungewollt zu wiederholen und somit zur Fortschreibung statt zu ihrer Überwindung beizutragen. Ein zentrales Kriterium für postkoloniales rewriting scheint es daher zu
Bearbeiter oder Editor stammende Veränderung eines Originaltextes durch einen nicht als solchen kenntlich gemachten Einschub von zusätzlichen Wörtern, Sätzen oder Abschnitten.« (Fasbender/Grimm 2007: 356) 37 Vgl. zur näheren Klassifizierung sprachlich-räumlicher Praktiken der Benennung und Inbesitznahme aus linguistischer Perspektive u.a. den Beitrag zur Koloniallinguistik von Stolz/Warnke (2015).
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sein, dass es die potentielle Möglichkeit seiner kolonialen Befangenheit, die von den Prätexten ausgeht und im Akt der Wiederholung zum Tragen kommt, stets mitreflektiert, um dadurch sowohl die Voraussetzungen als auch die Aporien des literarischen Umgangs mit kolonialen Stoffen im Text selbst- bzw. metareflexiv zu problematisieren.
4.2 G LEICHZEITIGKEIT DES U NGLEICHZEITIGEN : Z UR P RÄSENZ DES N ATIONALSOZIALISMUS 4.2.1 Poetik des Fremden? Uwe Timms Ablehnung einer »Einfühlungsästhetik« im Spannungsfeld zwischen Kolonialismus und Nationalsozialismus In einem Gespräch zwischen Uwe Timm und Christof Hamann, das unter dem programmatischen Titel »›Einfühlungsästhetik wäre ein kolonialer Akt‹« (Hamann/ Timm 2003) publiziert wurde, formuliert Timm für seinen 1978 veröffentlichten Roman Morenga, der für die postkolonialen Studien in der Germanistik bis heute als Schlüsselroman der deutschsprachigen Literatur gilt (vgl. so auch Dunker 2011: 72; Dürbeck 2014a: 25f.; Göttsche 2010a: 214), eine Prämisse für einen literarischen Umgang mit dem kulturell Fremden. Diese hat eine lebhafte und vor allem kontrovers geführte Debatte über die Möglichkeiten und Grenzen postkolonialen Schreibens entfacht, die bis heute anhält.38 Über den Kolonialismus zu schreiben, scheint für Autorinnen und Autoren aus Deutschland unweigerlich in eine Aporie zu führen: Wie also über den Kolonialismus schreiben, ohne ihn zu wiederholen? Und wie vor allem dem Fremden eine Stimme gegeben, ohne ihn dadurch erneut zu vereinnahmen und zum Schweigen zu bringen.39 Dem Autor erschien es anmaßend und autoritär, sich in das Bewusstsein der Afrikaner zu begeben, sie gewissermaßen im Nachhinein nochmals zu kolonisieren. Deren Welt, deren Men-
38 Vgl. hierzu in chronologischer Reihenfolge u.a. Dunker (2005a: 13), Domdey (2009: 50), Hermes (2009: 18), Göttsche (2010a: 215), Hamann (2010a: 206), Dunker (2012b: 322) und Albrecht (2012: 90f.). 39 Vgl. den Kommentar Jochen Dubiels: »Besonders ernüchternd für den postkolonialen Forscher ist die Vereinnahmung dort, wo sich ein europäischer Autor in bester Absicht, gegen den kolonialen Diskurs anzuschreiben, berufen fühlt, die Eroberung und deren inhumane Folgen aus der Perspektive der Unterdrückten zu schildern, da er auf diese Weise die widerrechtliche Inbesitznahme, die er kritisiert, faktisch fortsetzt und zusätzlich verschleiert.« (Dubiel 2007: 82)
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talität waren ihm so staunenswert fremd, dass sie bei allem Versuch, sie zu verstehen, auch fremd bleiben sollten (Timm 2009: 111),
wie Timm in der Verschriftlichung seiner Frankfurter Poetikvorlesung erneut bekräftigte (vgl. auch Riordan/Timm 1999: 34). Die Problematik der ›Fürsprache‹ 40 ist beim versuchten Transfer der Ansätze von Gayatri Chakravorty Spivak (Can the subaltern speak? [1994/2005]) auf literaturwissenschaftliche Perspektiven erst kürzlich wieder stärker in den Blick textanalytischer, besonders auch narratologischer Fragestellungen gerückt. Ins Zentrum rückt die Frage, […] wer für wen sprechen darf, wer sich anmaßen darf oder das Recht besitzt, für die stumme Andere oder den stummen Anderen zu sprechen oder (zu schreiben). Dass dies zurecht ein eminent literaturwissenschaftliches Problem ist, liegt auf der Hand. (Wagner 2006: 145; Hervorh. i. Orig.; vgl. dazu auch Dunker/Hamann 2016; Wiegmann 2016)
Für Timm stellt der Anspruch auf Fremd-Repräsentation einen »koloniale[n] Akt« dar (Hamann/Timm 2003: 452), den er mit seiner Ablehnung einer ›Einfühlungsästhetik‹ 41 entschieden zurückweist. Haben sich seitdem einerseits Autoren dieser Poetik verpflichtet, wie etwa Hamann in Bezug auf Usambara bekennt (2010a:
40 Christof Hamann kommentiert Spivaks Grundthese wie folgt: »Die These mag radikal, ja vielleicht auch zu radikal sein, weil damit jede Fürsprache über Subalterne vergeblich ist und somit letztendlich jeder politisch-protestfähige Einspruch. Doch deutlich wird auch das Problem, dass jede Fürsprache immer auch eine Vereinnahmung, eine Kolonisierung der Subalternen bedeutet.« (Dunker/Hamann 2016: 347) 41 Die vollständige Passage bei Timm lautet: »Wer sich einem historischen Gegenstand annähert, muß eben immer auch diese Annäherung thematisieren und damit die Distanz zum Geschehenen festhalten. Von vornherein war mir daher klar, daß ich nicht mit einer auktorialen Erzählerfigur arbeiten wollte, die in alle Herzen hineingucken und alle Bewußtseinslagen ausforschen kann. Zumal die Nama, über die ich schrieb, mir doch sehr fremd waren. Und dann noch Nama, die vor gut siebzig Jahren gelebt hatten. Eine solche Einfühlungsästhetik wäre selbst ein kolonialer Akt. Schwierig genug war es bereits, sich in die Deutschen einzufühlen. Die zeitliche und räumliche Ferne zu meinem Stoff führte also dazu, daß Morenga diese polyperspektivische Form besitzt, mit der ich mich dem Gegenstand langsam, aus verschiedenen Blickwinkeln, annäherte, und diese Annäherung dadurch gleichzeitig reflektierte. Genau aus diesem Grund wird das Treffen zwischen Gottschalk und Morenga nicht aus der Sicht des letzteren wiedergegeben, sondern durch einen Bericht des Deutschen, der wiederum durch die Kommentare eines bornierten Soldaten gebrochen wird.« (Hamann/Timm 2003: 452)
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206), so sind andererseits Autoren wie etwa Ilija Trojanow mit dem Roman Der Weltensammler (2006a) oder Hans Christoph Buch mit Apokalypse Afrika oder Schiffbruch mit Zuschauern (2011) dahingehend kritisiert worden, die Stimme des Fremden zu leichtfertig eingenommen zu haben.42 Mit der Ablehnung einer Einfühlungsästhetik hat Timm somit eine wichtige Grundsatzdiskussion um die normative Dimension postkolonialen Schreibens angestoßen. Die Kernfrage kreist um das Problem, wie es denn möglich wäre, aus dem »Repräsentationsdilemma« (Domdey 2009: 50; vgl. Bay 2009: 134; Kpao Sarè 2012: 60) heraus dennoch »afrikanische Perspektiven auf die Kolonialzeit zum Gegenstand literarischer Darstellung zu machen« (Göttsche 2010: 216), ohne dass die Literatur einem »›Fokalisierungsverbot‹« (Göttsche 2010: 215) unterliegen und Schreiben über die/das/den Fremde/n zu einer »postkoloniale[n] Regelpoetik« (Albrecht 2012: 86) erstarren würde. Dabei ist einem Aspekt dieser Poetik bislang wenig Beachtung geschenkt worden: Auf die Frage Hamanns, ob es für Timm dabei »auch darum [gehe], durch die Darstellung des Fremden das deutsche Eigene zu kritisieren« (Hamann/Timm 2003: 459), schlägt Uwe Timm einen mentalitätsgeschichtlich bemerkenswerten Bogen, der nicht nur zwei Erinnerungskomplexe deutscher Geschichte in ein Verhältnis setzt, sondern darüber hinaus jene Kontinuitäten zur Disposition stellt, die bis heute in Sprache und Denken ihre Spuren hinterlassen haben: Die vier Jahre Arbeit an Morenga waren für mich auch insofern wichtig, als sie nicht allein eine Reise in die Ferne waren, sondern auch eine ins Nächste, in mich, in mein Bewußtsein hinein. […] Meine Ideen waren sehr deutsch geprägt, ich bin da keine Ausnahme gewesen, gehörte eher zum Durchschnitt. Nicht, daß ich rassistisch gedacht hätte, dazu war mir die faschistische Vergangenheit schon als Jugendlichem viel zu widerlich. Aber diese tiefgehenden Implikationen, zum Beispiel was Zeit ist und wie man sich zur Zeit verhält, meine Vorstellungen von Pünktlichkeit, von Effektivität, das wurde auf eine sehr grundlegende Art und Weise in Frage gestellt. Auch fiel mir auf, wie sehr gerade in Deutschland Sprache zu bürokratischen Zwecken ge- oder mißbraucht wird. In allen Kolonien wurde geprügelt, und es wurden zum Teil fürchterliche Verbrechen verübt. Aber diese Form der Kodifizierung, der schriftlich geführten Debatten darüber, ob man mit der Nilpferdpeitsche oder mit dem Tauende prügeln sollte, diese bürokratische Systematisierung erscheint mir sehr deutsch und er43
innert mich bereits an Auschwitz. (Hamann/Timm 2003: 459)
42 In Bezug auf Trojanows Roman vgl. die Problematisierung der Fokalisierungstypen bei Bay (2009: 135, 139; 2012: 123f.) und Dunker (2015: 78). Eine Kritik an der Fokalisierung in Hans Christoph Buchs Romanessay Apokalypse Afrika oder Schiffbruch mit Zuschauern (2011) hat Dieter Heimböckel unlängst vorgelegt (2016b). 43 Vgl. auch Timm in einem früheren Interview: »Es ist einmal der Versuch, das Ungeheuerliche, nämlich den Vorweggriff auf Auschwitz zu dokumentieren. Das Phänomen
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An diesem Punkt des Gesprächs nimmt Hamann die Aussage Timms zum Anlass, seine Frage zu pointieren, wodurch er die Bedeutung dieser historischen Verbindung erst explizit macht: »Sie sehen also eine klare Verbindung zwischen deutscher Kolonialherrschaft und Shoah?« (ebd.) Timms Antwort fällt umso deutlicher aus: Ja. Für mich enthält diese zweckrationale Argumentation, die auf Pflichterfüllung, Pünktlichkeit und ähnliches ausgerichtet ist, eine Ahnung von der deutschen Mordindustrie vierzig Jahre später. Wenn ich dies sage, verschließe ich nicht die Augen davor, daß etwa die Belgier im Kongo Millionen von Menschen umgebracht haben. Alle europäischen Länder haben in Afrika auf fürchterliche Weise gehaust. Dennoch beharre ich auf der Linie, die vom deutschen Kolonialismus zur Shoah führt. Sehr viele Offiziere und Unteroffiziere, die in den Schutztruppen gedient haben, sind später bei den Nazis aufgetaucht. Etwa Franz Xaver Ritter von Epp, um nur ein Beispiel zu nennen. Diese Linie läßt sich bis in Äußerlichkeiten hinein verfolgen. So stammt die braune Uniform von der Truppenuniform ab, das war ursprünglich das sogenannte Lettow-Vorbeck-Hemd. (ebd.)
Die Frage nach dem Verhältnis von Kolonialismus und Nationalsozialismus, die Timm hier aufwirft, ist bisher nicht nur seitens Schriftstellern und Philosophen diskutiert worden, etwa von Hannah Arendt in ihrer 1951 veröffentlichten Arbeit Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft (2009), und vor allem von antikolonialen Kritikern wie etwa Aimé Césaire, Frantz Fanon, W.E.B. Du Bois oder Albert Memmi, die aus ehemaligen Kolonien stammen.44 Besonders im deutschsprachigen Forschungsraum hat seit der Jahrtausendwende die Frage nach der Dis- bzw. Kontinuität von Kolonialismus und Nationalsozialismus/Holocaust in der Geschichtswissenschaft eine hitzige Debatte entfacht, die seitdem in einer Reihe von Publikationen ihren Niederschlag gefunden hat.45
Auschwitz ist sicherlich einmal aus der spezifisch deutschen Geschichte zu erklären, aber es ist auch gleichzeitig europäische Geschichte. Der Eurozentrismus hat überall in der dritten Welt dazu geführt, daß die Leute kurzerhand erschossen, niedergeknüppelt oder auch ausgepeitscht und geprügelt wurden.« (Riordan/Timm 1999: 33) 44 Vgl. eine Übersicht über Autoren, die sich Zimmerer zufolge »Gedanken über den Zusammenhang von Faschismus und Kolonialismus machten, die im Ersteren keine Ausrutscher der Geschichte sahen, sondern vielmehr die logische Vollendung einer europäischen Kultur der Vernichtung und Ausbeutung, wie sie der Kolonialismus hervorgebracht hatte.« (Zimmerer 2011: 16; vgl. Müller-Funk/Wagner 2005: 10f.; Später 2008: 92) Vgl. ausführlich dazu Castro Varela/Dhawan (2015: 74–78). 45 Siehe dazu den einschlägigen Sammelband hg. von Jürgen Zimmerer und Joachim Zeller mit dem Titel Völkermord in Deutsch-Südwestafrika. Der Kolonialkrieg (1904–1908) in Namibia und seine Folgen (2003) und Jürgen Zimmerers Aufsatzsammlung Von Wind-
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Dass dieses Thema insgesamt und im Besonderen für postkoloniale Fragestellungen an Bedeutung gewonnen hat, zeigt ein Blick in die zweite Auflage der Einführung in die Postkoloniale Theorie von María do Mar Castro Varela und Nikita Dhawan, die jüngst erschienen und gegenüber ihrer zehn Jahre zuvor publizierten Erstauflage um das Kapitel »Verwobene Vermächtnisse: Kolonialismus und der Holocaust« (2015: 74–78) erweitert worden ist. In der »sehr späte[n] Rezeption postkolonialer Theorie[n] in Deutschland« sehen die Autorinnen einen Grund dafür, dass frühe Forschungsansätze zum Zusammenhang von Kolonialismus und Holocaust (Arendt/Césaire/Du Bois), die bereits ein halbes Jahrhundert zurückliegen, bislang unberücksichtigt geblieben sind. Mehr noch: Für die verschleppte Auseinandersetzung mit der deutschen Kolonialvergangenheit wird hierzulande allgemein die im kollektiven Gedächtnis der Deutschen dominante Erinnerung an Nationalsozialismus und Holocaust verantwortlich gemacht, was »möglicherweise als ein weiteres Symptom für dasselbe Dilemma gelesen werden« kann (ebd.: 74). Im Rahmen der Debatte haben vor allem die Beiträge des Historikers Jürgen Zimmerer »einen wunden Punk getroffen« (Zimmerer 2011: 9), wie er selbst bilanziert. Beispielhaft für den Forschungsstreit ist seine Auseinandersetzung mit der Historikerin Birthe Kundrus.46 Sie hatte der Kontinuitätsthese energisch widersprochen, ohne jedoch strukturelle Ähnlichkeiten und Parallelen zwischen der Gewalt an den Hereros/Namas und nationalsozialistischen Praktiken der Vernichtungspolitik grundsätzlich zu bestreiten.47 Den Genozid-Begriff lehnt sie im Gegensatz zu
huk nach Auschwitz? Beiträge zum Verhältnis von Kolonialismus und Holocaust (2011); ebenso die Arbeiten von Kundrus (2003), Dabag/Gründer (2004), Kößler/Melber (2004), Melber (2005), Kundrus (2006), Gerwarth/Malinowski (2007), Kundrus (2010), Kößler/Melber (2012) sowie den Überblick »Kolonialismus und Holocaust« bei Conrad (2012: 100–103). 46 Eine gute Übersicht der kontrovers geführten Debatte liefert die Zeitschrift informationszentrum 3. Welt (iz3w), die in einer Sonderausgabe 2012 eine Reihe von Beiträgen versammelt, die seit der Jahrtausendwende zu diesem Thema erschienen waren: Geck/Rühling (2012: 91–93), Kößler/Melber (2012: 62–66), Kundrus (2012a: 68–71; 2012b: 96f.), Kundrus/Zimmerer (2012: 98–101), Später (2012: 91–93) und Zimmerer (2012: 94f.). Eine distanzierte Betrachtung der Kontinuitäts- bzw. Diskontinuitätsthese liefern außerdem Conrad (2012: 100–103) und Castro Varela/Dhawan (2015: 74–78). 47 Dazu Kundrus: »Daß es sich hier um strukturelle Parallelen, nicht jedoch um Kontinuitäten handelt, verdeutlicht ein Blick auf die gravierenden Unterschiede in den Abläufen, den Opfergruppen, den situativen Dispositionen und den Logiken dieser Rassenkriege. […] Darüber hinaus gibt es keinerlei Indizien dafür, daß die Nationalsozialisten bewußt an den Herero-Genozid anknüpften und sich im Sinne des von Zimmerer apostrophierten Ideengebers hätten inspirieren lassen.« (Kundrus 2005: 87f.; vgl. auch 2008: 96f.)
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Zimmerer aber ab. Innerhalb der Debatte bemängelt Kundrus besonders eine Überstrapazierung der Kontinuitätsthese, die zum Teil den Versuch unternehme, »eine gerade Linie zur nationalsozialistischen Vernichtungspolitik gegenüber den europäischen Juden« zu ziehen (Kundrus 2012a: 69; vgl. 2005: 82).48 Dies stelle in ihren Augen eine unzulässige Gleichsetzung und Reduktion dar, die drohe, »beiden historischen Ereignissen nicht gerecht zu werden und Erkenntnismöglichkeiten zu vernebeln.« (Kundrus 2012a: 69). »Damit wird versucht«, so Kundrus in einem Interview mit Zimmerer, »zwei Ereignisse in einen Zusammenhang zu stellen, die vielleicht bei näherer Betrachtung gar nicht viel miteinander zu tun haben, außer dass es bestimmte Analogien gibt.« (Kundrus/Zimmerer 2012: 98) Versucht Kundrus in der Debatte stärker die Unterschiede aufzuzeigen, die der Autorin zufolge nur »dünne Verbindungslinien« (Kundrus 2012b: 97) zwischen Kolonialismus und Nationalsozialismus zu erkennen geben, so vertritt Zimmerer die Position, dass so etwas wie eine »Genealogie des genozidalen Gedankens« existiere, »die man über den Siedlerkolonialismus bis zum Nationalsozialismus verfolgen könne.« (Zimmerer 2012: 95; vgl. 2011: 140–171) Neben dem »Siedlerkolonialismus« sieht Zimmerer im »Kolonialkrieg«, wie er in der Kolonie DeutschSüdwestafrika stattfand, Parallelen und Kontinuitäten zum Eroberungs- und Besiedelungsplan der Nationalsozialisten im Osten. »Genozid ist kolonial« (Zimmerer 2012: 95; 2011: 20), so seine provokative These. Dabei gehe es ihm allerdings nicht um die Formulierung einer Teleologie, die Kausalität mit Kontinuität verwechsle und den Holocaust als ein Ereignis festschreibe, das in dieser Logik unausweichlich erscheint. Seine Argumentation untersuche vielmehr […] eine historische Entwicklung, ein Verweis auf Ursprünge und Vorläufer, eine Genealogie eben, nicht aber die Begründung einer Kausalität oder einer monolinearen Kontinuität mit dem Charakter der historischen Unvermeidlichkeit. Innerhalb dieser Genealogie kommt dem Krieg gegen die Herero und Nama eine herausgehobene Bedeutung zu, da wir es mit einem kolonialen Pazifizierungskrieg zu tun haben, einer vierjährigen koordinierten Aktion, einem veritablen Krieg. Zudem kombinierte dieser Krieg das genozidale Massaker, die ›ethnische Säuberung‹ und die Vernichtung durch Vernachlässigung in Lagern – ebenfalls Phänomene, auf die wir während des Zweiten Weltkriegs wieder treffen. (Zimmerer 2012: 95)
Was Zimmerers Position für Literaturanalysen interessant macht, ist seine Annahme, dass die Frage nach dem Verhältnis von Kolonialismus und Nationalsozialismus weniger in den direkten Phänomenen zu erkennen sei – dies wäre erst ein zweiter Schritt –, denn vielmehr in der Analyse einer »koloniale[n] Mentalitäts-
48 Vgl. auch die Argumente gegen eine »Überdehnung« der Kontinuitätsthese Kundrus (2010: 189f.).
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struktur« (Kundrus/Zimmerer 2012: 101), die er auch als »koloniale Vorstellungswelt« (ebd.) oder »imperiale[ ] Fantasien« umschreibt (Zimmerer 2011: 26) und die sich maßgeblich aus »rein fiktionalen Erzählungen« speisen (Kundrus/Zimmerer 2012: 101).49 Erst sie bilden einen »Legitimationsrahmen« (Zimmerer 2011: 31), der massenhafte Vertreibungen und Gewaltexzesse und eine radikale Weltanschauung begünstigte, die in Herrenmensch und niedere Rassen unterteile und schließlich ein Gewaltpotential entwickelte, das zu Genoziden führte. Diese imaginäre Dimension, die sich in einem expansiven Kampf um Lebensraum sowohl im Siedlungskolonialismus als auch in der nationalsozialistischen Ideologie Bahn bricht, basiert auf einem kolonialen Begehren. Denken und Handeln, das Imaginäre und das Wirkliche, treten hier in ein Verhältnis, bei dem Ersteres die imaginäre Voraussetzung des Letzteren bilden mag, also dessen, was auf die Idee folgt und andere wörtlich in die Tat umsetzten. In Bezug auf zwei Romane, die 2003 in zeitlicher Nähe zum hundertjährigen Gedenken der Völkermorde an den Herero und Nama erschienen sind, 50 hat Hansjörg Bay auf einen wichtigen Zusammenhang hingewiesen. So schreibt Bay hinsichtlich des Verhältnisses von Kolonialismus und Faschismus, dass eine Passage in Stephan Wackwitz’ Familienroman Ein unsichtbares Land (2003) zeige, […] wie in die kolonialistische Imagination der grenzenlosen Weite eines fremden Landes die imaginäre Auslöschung seiner Bewohner bereits eingeschrieben ist. Sie erst ermöglicht es, sich den zu kolonisierenden Raum als mehr oder minder unbewohnt und der Eroberung und Kultivierung harrend vorzustellen […] (Bay 2003: 216).
Bay stellt in Bezug auf Wackwitz’ Roman fest, dass dieser das »Paradox der deutschen Erinnerungskultur« allerdings wiederhole, »die Kolonialgeschichte hinter dem Faschismus verschwinden zu lassen« (ebd.: 217),51 anders als jene Texte, die im Rahmen dieser Arbeit diskutiert werden und die das Verhältnis beider Erinnerungskomplexe neu ausloten und in ein differenzierteres Licht rücken. Während
49 Der Historiker Zimmerer hebt den Autor Karl May hevor, dessen Romane nicht nur die Vorstellungswelt der Deutschen, sondern auch jene Adolf Hitlers geprägt haben (vgl. Zimmerer 2011: 331; Kundrus/Zimmerer 2012: 101). 50 Es handelt sich hierbei um Stephan Wackwitz’ Familienroman Ein unsichtbares Land (2003) und Christof Hamanns Fester (2003), die Bay in einem späteren Beitrag, der auf dem vorigen aufbaut, in einen erinnerungsgeschichtlichen Zusammenhang mit früheren Romanen wie Uwe Timms Morenga (1978), Hans Christoph Buchs Die Hochzeit von Port-au-Prince (1984) und W.G. Sebalds Die Ringe des Saturns (1995) stellt (vgl. Bay 2011: 289ff.). 51 Dieser Position hat Dirk Göttsche unlängst widersprochen (vgl. 2014: 371).
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diese Kontinuität verhandelt wird, geht es vor allem darum, mit erzählerischen Mitteln eine dekonstruktive Optik auf das Arsenal kolonialer Denk- und Handlungsmuster zu etablieren, auf jene imaginären Praktiken also, die den Fremden und seine radikale Ausschließung zum Gegenstand haben und die einem Rassismus das Wort reden, der sich vom Kolonialismus bis in die Gegenwart bahnt und den es mit ästhetischen Mitteln zu hinterfragen gilt.52 Romane wie Christof Hamanns Usambara, Thomas von Steinaeckers Schutzgebiet oder zuletzt Christian Krachts Imperium scheinen diese historische Kontinuitätslinie auf verschiedene Weise zum Gegenstand ihrer literarischen Auseinandersetzung zu machen. Sie reflektieren das ungleiche Verhältnis beider Erinnerungskomplexe deutscher Geschichte mit differenzierten Mitteln, teils über direktes Anzitieren nationalsozialistischer Akteure, teils weniger explizit über Denk- und Handlungsmuster der Figuren, die als dunkle Vorboten bzw. Vorläufer eines nationalsozialistischen Vernichtungswahns zu lesen sind, die hier im Kontext des deutschen Kolonialismus Ende des 19. Jahrhunderts auftreten. Das Palimpsest als Denkfigur wird in diesem Zusammenhang zur postkolonialen Gedächtnismetapher, um die Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen zu perspektivieren. Sie ist produktiver als die in diesem Kontext viel bemühte Vorstellung von Kontinuität als ›Verbindungslinie‹. Im Bild der Überlagerung, im vielschichtigen Palimpsest, koinzidieren sowohl die Kolonialgeschichte als auch die Zeit des Nationalsozialismus bis in die Gegenwart hinein. Wie wird der Zusammenhang zwischen Kolonialismus und Nationalsozialismus im allgemeinen, das Verhältnis von Kolonialkrieg und Shoah im Besonderen in den hier fokussierten Texten entworfen? Auf welche Weise also korreliert und interferiert (›überlagert‹) hier deutsche Kolonialgeschichte mit der Geschichte des Nationalsozialismus? Und wofür steht schließlich die Beobachtung, dass eine Gegenwartsliteratur, die mit dem Kolonialismus ein bislang marginalisiertes Thema deutscher Geschichte zum Gegenstand macht, nicht hinter die Zeit des Nationalsozialismus zurückkann? Die letzte Frage drängt sich umso mehr auf, als das Argumentationsmuster, der Nationalsozialismus und der Holocaust als Erinnerungsthemen hätten im kollektiven Gedächtnis der Deutschen lange Zeit eine Aufarbeitung der deutschen Kolonialvergangenheit verhindert, als Erklärung dafür herangezogen wird, warum sich auch die Literatur erst so spät mit diesem blinden Fleck befasste. Ist diese Frage im Rahmen dieser Arbeit auch nicht abschließend zu beantworten, so unternehmen die hier behandelten Romane doch zweifelsohne den Versuch, jene Topoi des kolonialen Imaginären, d.h. Wünsche, Projektionen und Phan-
52 Vgl. zu diesem Themenkomplex auch Göttsche (2010b), der auf das Gedächtniskonzept einer »multidirectional memory« aus der gleichnamigen Studie von Michael Rothberg zurückgreift (2009; vgl. Göttsche 2010b: 219).
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tasmen auszuleuchten, die im kolonialen Begehren angelegt stets Gefahr laufen können, ins Totalitäre, in Größenwahn und Allmachtsphantasien abzudriften und zur massenhaften Vertreibung und Ermordung von Menschen zu führen. 4.2.2 Reinheits-, Rassenwahn und Lagerphantasien in Thomas von Steinaeckers Schutzgebiet Das Verhältnis von Kolonialismus und Nationalsozialismus wird in Steinaeckers Roman Schutzgebiet auf unterschiedlichen Ebenen thematisiert. Die eine bildet eine symbolische Ebene, die über den Symbolkomplex ›deutscher Wald in Afrika‹ aufgerufen und bereits diskutiert wurde (vgl. II.3.1). Eingedenk der Canetti’schen Äußerungen zu diesem Kollektivsymbol ist es möglich, in der Identifikation der Figuren mit dem deutschen Wald eine Analogie zur Blut-und-Boden-Ideologie des Nationalsozialismus zu sehen.53 Wenn der Verwalter Ludwig Gerber die Artenreinheit der Pflanzstätte Benēsi beschwört, in der »[a]usschließlich deutsche Baumarten« (St 61) kultiviert werden sollen, so steht sein Unternehmen, den ›deutschen Wald‹ vor der bedrohlichen »afrikanische[n] Flora« (St 124) zu schützen, unter ideologischen Vorzeichen, von denen es nur ein kleiner Schritt ist zur Rassenideologie der Nationalsozialisten. Die Vorboten nationalsozialistischer Vernichtungsphantasien werden umso mehr in Gerbers Angst vor der fremden Natur spürbar, wenn die Erhaltung der Reinheit des deutschen Waldes zum ›Kulturkampf‹ gegen die fremde Natur erklärt wird. In dieser Logik ist etwa Gerbers Absicht zu lesen, ein »Sonderkommando« unter der Führung des Offiziers Schirach aufzustellen, »[z]ur Beseitigung unerwünschter Sprösslinge von außen« (St 139). Die Alliteration in »Dann wird diese fremde Brut mit Stumpf und Stiel ausgerottet!« (ebd.) veranschaulicht nicht nur, wie der Roman den deutschen Wald als Projektionsraum radikaler kultureller Differenz inszeniert. Er zeigt zugleich, wie sehr diese Vorstellung auch sprachlich codiert ist. Über die semantische Binäropposition ›Ordnung‹ (deutscher Wald) vs. ›Unordnung/Chaos‹ (Tropenwald) wird gleichsam das Verhältnis zwischen Eigenem und Fremdem verhandelt, das den Kolonialrassismus ostentativ ausstellt. Die imaginäre Geographie vom »deutschen Forst auf afrikanischem Boden« (U 61), dem biopolitische Vorstellungen von Reinheit bzw. Monokultur unterlegt sind, bildet eine ideologische Konstruktion, die über ihre Verknüpfung von Rasse und Raum eine Lesart anbietet und eine mentalitätsgeschichtliche Spur zwischen Kolonialismus und Fa-
53 Über die Bedeutung des deutschen Walds bei Canetti im Kontext nationaler Massensymbole des Deutschen vgl. die Ausführungen Klaus Theweleits (1995: 11–13) und zur Ideologisierung des deutschen Waldes im Nationalsozialismus vgl. die Monographie von Johannes Zechner (2006) sowie weitere Beiträge des Autors (2009a, 2009b, 2011a, 2011b).
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schismus bahnt. Daneben rekurriert die Waldwahrnehmung der Figuren in Schutzgebiet auf jene soldatischen Tugenden des Kriegers, die Canetti über die Gleichsetzung von Heer und Wald als typisch deutsche beschrieben hat. Wie in Abschnitt II.3.1 festgestellt, schafft es der Text, den Wald als typisch deutsches Kollektivbzw. Kolonialsymbol gleichsam zu irritieren. Nicht nur eine Canetti-Lektüre erlaubt es, eine kritische Perspektive auf Steinaeckers Figuren zu entwickeln, sind es doch besonders die Merkmale komischen Erzählens, die zu einer Dekonstruktion des kolonialen Imaginären beitragen, indem sie koloniale Ordnungen und Dichotomien umkehren und verrücken, de-platzieren und ad absurdum führen. Eine weitere Analogie zwischen Kolonialismus und Nationalsozialismus stellt der Text über die Handlungsebene her. Das siebte Kapitel »Der Tag wird kommen« (St 163–185) gibt Einblick in ein typisches Erzählprinzip des Romans. Kennzeichnend für das Erzählen (discours) in Schutzgebiet ist eine multiple interne Fokalisierung, worunter ein Erzählmodus der ›Mitsicht‹ (aktorial) gemeint ist, wie ihn Genette in Die Erzählung (2010) bestimmt hat. Diese »Perspektivierung des Erzählten« (Martínez/Scheffel 2007: 47) trägt in Steinaeckers Roman sowohl Merkmale der ›variablen‹ als auch der ›multiplen internen Fokalisierung‹54: Die Perspektive der Figuren wechselt nicht nur, dieselbe Geschichte (histoire) wird auch aus dem Wahrnehmungshorizont verschiedener Figuren präsentiert (›repetitives Erzählen‹). In diesem siebten Kapitel kommen mithin mehrere Sichtweisen zur Darstellung, die Einblick in die Selbst- und Fremdwahrnehmung, insbesondere in die unterschiedlichen Gefühlslagen der Figuren ermöglichen. Die Kapitelüberschrift »Der Tag wird kommen« weist dabei auf Sehnsüchte und Ängste, Phantasien und Wünsche der Figuren hin, die in den Einzelpassagen über die Fokalisierung ausgeleuchtet werden. Über das Psychogramm der Figuren hinaus, das der Text über dieses Verfahren schreibt, ist die Überschrift unter dem hier gewählten Blickwinkel aber auch als dunkle Vorausdeutung auf ein Ereignis zu lesen, das der Titel zwar im Unklaren lässt und nicht weiter ausbuchstabiert, an dessen Eintreten der fatalistische Grundton jedoch keinen Zweifel lässt. In Bezug auf das Verhältnis von Kolonialismus und Nationalsozialismus gewinnt besonders eine Passage an Bedeutung, die Einsicht in die Gedanken des jungen Architektenlehrling Henry Peters gewährt, der als Einziger das Schiffsunglück zu Beginn des Romans überlebt und die Kolonie Deutsch-Tola erreicht. Dort wird er jedoch nicht als Henry Peters, der »Assistent und Lehrling« (St 47), sondern als der Potsdamer Architekt Gustav Selwin empfangen. Ohne die Verwechslung aufzuklären, nutzt Henry die Maskerade, um aus dem Schatten seines Vorgesetzten herauszutreten und »die einmalige Möglichkeit« zu ergreifen, »sich architektonisch auszuprobieren« (St 48), was ihm Selwin selbst nahegelegt hatte. Da sich sein kolo-
54 Vgl. zur Terminologie Martínez/Scheffel (2007: 47).
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niales Begehren als ›architektonisches Begehren‹55 artikuliert, steht im Mittelpunkt der kurzen Passage konsequenterweise der Entwurf einer Planstadt. In die Skizze der Stadt, die Bauten wie eine ›Post‹ oder ›Bank‹ umfasst, mischen sich »einer plötzlichen Eingebung folgend« die Vorstellungen eines »Camps« (St 176), das in seiner Funktion und räumlichen Anordnung evoziert, es könnte sich dabei um eine Art Konzentrationslager handeln: Einer plötzlichen Eingebung folgend, zeichnet er eine halbe Meile entfernt von der eigentlichen Stadt ein Quadrat, in das Quadrat acht kleine Rechtecke, Baracken, verziert das Quadrat mit Wellenlinien, Stacheldrahtzaun, die Kaserne Benēsis, die nicht nur als Unterkunft für die Soldaten dienen könnte, sondern auch zur Internierung straffälliger Schwarzer, wie vielleicht überhaupt aller Schwarzer in Benēsi, ein Camp. Der in die Mitte des Quadrats gesetzte Kreis, der Richtplatz, damit den Bewohnern der Stadt und insbesondere, anders als jetzt, den Tennisspielern der unschöne Anblick der Gehängten und Ausgepeitschten erspart bleibt. Nur die Schwarzen schauen der Vollstreckung des Urteils zu. Sie soll es abschrecken, nicht die Weißen. Zwischen dem Quadrat und der Stadt zeichnet Henry Schienen – eine Anbindung an die Bahn wäre vorausschauend –, neben den Grundriss eine Lok, der Lok einen Schornstein, über den Schornstein Rauch, Wölkchen um Wölkchen, in das Fenster der Lok ein Gesicht, lächelnd, Henry zerreißt das Blatt, knüllt die Fetzen zusammen und wirft sie in den Abfalleimer zu den anderen Entwürfen. (St 176f.)
Auf das Misslingen der Skizze hin beginnt Henry, die Vorstellung einer Planstadt gedanklich weiterzuspinnen. Über einen analeptischen Einschub, der extern und partiell erzählt wird, findet eine Erinnerung an ein zwei Jahre zurückliegendes Erlebnis Anschluss an das obige Gedankenspiel. Über eine Länge von zwei Seiten beschreibt Henry die Besichtigung einer im amerikanischen »Oregon« gelegenen Stadt namens »Stahlstadt. Erbaut von einem Deutschen. Die größte Produktionsstätte von Kanonen und Projektilen.« (St 177) Die erzählerische Darstellung dieser Analepse entwickelt über die Jahreszeitenmetaphorik eine Spannung, die über se-
55 Motivisch taucht dieses an verschiedenen Stellen des Romans auf. Die Überzeugung der notwendigen technischen Beherrschung der Natur (vgl. St 77, 356) ist dabei gekoppelt an die Idee der Kolonialisierung der räumlichen Fremde: »Ehrenwerter ist der, der in vollkommener Beherrschung modernster Technik und bei gleichzeitiger Überwindung aller Schwer- und sonstiger Erdenkräfte in raketenartigen Vehikeln den Weg zu den Sternen erschließt und eben jener, der anschließend die nötigen Siedlungen auf dem fremden Gestirn errichtet. Ein Pionier wie Henry. Mag man sich hier in Afrika befinden, seine Arbeit ist es, die einmal, in naher Zukunft, die Kolonisation nicht nur anderer Länder, nein, ebenso anderer Planeten ermöglichen könnte.« (St 161)
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mantische Binäroppositionen (›warm‹ vs. ›kalt‹; ›Leben‹ vs. ›Tod‹, ›innen‹ vs. ›außen‹) erzeugt wird und den bedrohlichen Charakter noch stärker hervortreten lässt: In Oregon herrschte tiefster Winter, es schneite. Aber vor den Toren von Stahlstadt blühten durch die Hitze der Öfen und Fabriken Blumen. Auf die Mauern folgte ein Graben, auf den Graben eine Ringstraße, auf der Soldaten patrouillierten, hinter der Straße befanden sich Gebäudekomplexe, dahinter die städtische Ringbahn, dahinter erneut Fabrikanlagen und Wohnsiedlungen. (St 177)
Die Schilderung der Stadt ist der Entwurf einer Dystopie, die deutliche Züge von Totalitarismus, Militarismus und Überwachung trägt, wofür symbolisch der topographische Grundriss der Stadt steht. Dieser erinnert an die Form eines Panoptikums, das Michel Foucault in Überwachen und Strafen (1994: 251–292) als idealtypisches Macht- und Überwachungsmodell von Disziplinargesellschaften beschrieben hat und totale Kontrolle über das Subjekt garantiert (vgl. ebd.: 255ff.).56 In Schutzgebiet heißt es über »Stahlstadt«: »Sie war in der Form eines Kreises konzipiert, dessen Sektoren strahlenförmig durch Brandmauern voneinander getrennt waren. In der Mitte ragte ein Turm in die Höhe, der Sitz von Schultze, des Erbauers der Stadt.« (St 177) Symbolischer Mittelpunkt der Stadt, das panoptische Zentrum, ist also der Sitz des Gründers und Architekten »Schultze«, der machtvoll das dystopische Szenario überragt. Andere Merkmale verweisen direkt auf eine Analogie zur nationalsozialistischen Symbolik: So tragen die Uniformen der »eilenden Arbeitertrupps« am Kragenspiegel ein »Doppel-S«, ein Akronym für »Schultzes Stahlstadt« (St 177). Dadurch ist die Verbindungslinie zur sog. nationalsozialistischen ›Schutzstaffel‹ deutlich gezogen und jene soziale Gruppierung konnotiert, die im NS-Staat für Terror, Überwachung und Unterdrückung steht und in ihrer Funktion nicht nur paramilitärisch aktiv war, sondern auch die Leitung von Konzentrationslagern inne-
56 Über den Aspekt der ›Macht‹ im Denken Foucaults schreibt Hannelore Bublitz am Bsp. des Panoptikums: »Die innere Funktionsweise der Disziplinarmacht lässt sich am besten durch das panoptische Machtmodell […] veranschaulichen, dessen effizienter Funktionsmodus die permanente Möglichkeit der Überwachung des Individuums durch externe Beobachter vorsieht, ohne dass diese sichtbar wären. Da die beobachteten Individuen sich zwar immer im Feld der Sichtbarkeit befinden und dadurch prinzipiell immer gesehen werden, selbst aber nicht sehen können, und sich daher immer unter Beobachtung fühlen, führt dies zur Antizipation und Imagination der Beobachter und damit zur Selbstdisziplinierung der Individuen. Das panoptische Machtmodell ist ein Modell sozialer Kontrolle, das letztlich ohne Kontrolleure auskommt. Es garantiert Regel- und Normenkonformität auf der Grundlage einer entindividualisierten, abstrakten Beobachtungsapparatur.« (Bublitz 2008: 275f.)
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hatte und damit unmittelbar zum Holocaust beitrug. Auch darüber hinaus ist die Schultze-Figur in Analogie zu Adolf Hitler entworfen. Über Schultze berichtet Henry, er sei »Anhänger der Lehre von der Überlegenheit der germanischen Rasse« (ebd.), dessen imperialen Größenwahn der Text vorführt: »Nach und nach werde jene ihre Bestimmung erfüllen, die Eroberung der Welt.« (St 177f.) Ist der Titel des Kapitels »Der Tag wird kommen« (St 163–185) somit einerseits als dunkle Vorausdeutung zu lesen, so ist die Passage andererseits als Bindeglied zu verstehen, das eine Kontinuität zwischen faschistischem und kolonialistischem Denken herstellt und deren Zusammenhang Steinaeckers Roman geradezu ostentativ ausstellt. Dieser dystopische Entwurf Stahlstadts steht Pate für Henrys eigene architektonischen Phantasien, seine Pläne, ein koloniales Siedlungsprojekt zu entwerfen, die der unerfahrene Architekten-Lehrling in Gedanken durchspielt: »Henry könnte sich in diesem Augenblick ein ähnliches Modell für Benēsi vorstellen. Nicht Stahlstadt, Holzstadt. Kein Rüstungsimperium, sondern ein weltweit geachtetes Handelszentrum, das freilich letzten Endes stets die Interessen des Reiches wahrt.« (St 178) Der rassenideologische Grundton, der diesem imaginären Entwurf unterlegt ist, wird dabei von der Figur Henry nicht kritisch hinterfragt. Dass das Begehren des jungen Architekten stets im Schatten eines Identitätskonflikts verhandelt wird, den der Roman leitmotivisch über das gesamte Figurenensemble thematisiert, verweist auf ein reflexives Anliegen des Textes, die Biografien seiner kolonialen Akteure in ein kritisches Licht zu rücken. Ähnlich wie bei der Figur Hans Meyer in Usambara zeigt sich auch hier, dass die Motivation der Reisebewegung oftmals einer Flucht gleichkommt, die meist auf eine narzisstische Kränkung und/oder eine Sehnsucht nach Erfolg, Ruhm und Anerkennung folgt. Darin liegt der psychopathologische und projektive Kern des kolonialen Begehrens, das die Akteure in die Kolonie treibt, um dort das zu finden, was ihnen zu Hause verwehrt geblieben ist. Über die multiple Fokalisierung in Schutzgebiet ist es dem Leser möglich, die Psyche der Figuren zu besichtigen, die der Text nicht selten mittels grotesker Überzeichnung ironisch-komisch zur Schau stellt, wie am Beispiel Henrys deutlich wird: Seitdem er Selwins Identität angenommen hat, stockt er immer seltener beim Sprechen und muss er nicht mehr nach dem richtigen Wort suchen. Bei den Mahlzeiten gibt er seine Erlebnisse mit Burnham in abgewandelter Form als Anekdoten aus seinem angeblichen Leben in Berlin zum Besten. Ohnehin fühlt er sich mehr und mehr als Deutscher. Auch in seinen Adern fließt germanisches Blut und zwar, betrachtet man es recht, ausschließlich. Er beginnt von neuem zu zeichnen, hastig, damit ihm der Einfall nicht wieder entwischt. Ein paar Minuten später fliegt das Blatt zerknüllt durchs Zimmer. (St 178)
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Zusammengefasst reflektiert der Roman Schutzgebiet Facetten des kolonialen Begehrens, das sich nicht nur im kolonialen Forst- und Siedlungsprojekt Benēsi Bahn bricht, und differenziert eine Vielzahl an Figurenperspektiven, in deren Denken und Gefühlen der Leser Einblick erlangt. Vor allem stellen sowohl die Reinheitsvorstellungen vom deutschen Wald, die als Identitätskonzept eine Blut-und-BodenIdeologie aktualisieren, als auch jene Lager- und Siedlungsphantasien der Figur Henrys, die den Zusammenhang von Macht und Architektur im Kontext eines kolonialen Begehrens verhandeln, eine Analogie zwischen Kolonialismus und Nationalsozialismus her. Der Text zieht hiermit historische Linien, die aufzeigen, wie sehr koloniales Denken und Handeln späteres Rassendenken und Raumphantasien des Faschismus vorwegnimmt, wie weitgehend koloniales Denken mit dem nationalsozialistischen zur Deckung kommt – und umgekehrt. Einen allgemeineren Zusammenhang zwischen Kolonialismus und Moderne sieht Dirk Göttsche in Schutzgebiet realisiert, der insbesondere über »[m]otivs of a grotesque modernity« (Göttsche 2013: 172) thematisiert wird. Der Roman, so folgert Göttsche »thus contextualizes the colonial theme in a range of other crucial fields of German history and culture around 1900, and it does so in hyperbolic ways that highlight the interconnectedness of colonial imperialism with the dynamics of modernity.« (Ebd.) Wenn Göttsche annimmt, dass Steinaeckers Text den Kolonialismus als Teil einer »unbridled modern imagination« inszeniere, die dabei Zukunftsentwürfe von »science fiction« (ebd.: 172) durchspiele, so ist anzufügen, dass der Text gleichsam die historische Linie zwischen Kolonialismus und Nationalsozialismus absteckt, dass sich im kolonialen Imaginären bereits zentrale Grundmuster faschistischer Ideologie abzeichnen. Deutlich wird außerdem, dass Steinaeckers Schutzgebiet in der Psychologisierung seiner Figuren alles andere als eine idenfikatorische Lektüre der Figuren anbietet, sondern vielmehr den Bruch forciert und eine kritische Auseinandersetzung einfordert. Der Roman arbeitet sich daran ab, den Kolonialrassismus seiner Figuren sowie die koloniale Selbstherrlichkeit, die deutliche Züge eines ›Herrenmenschentums‹ aufweist, sowohl anhand Verfahren der grotesken Übertreibung als auch solchen des phantastischen Erzählens nicht nur in ihrem Größenwahn(sinn) zu desavouieren, sondern zugleich ad absurdum zu führen, sprich zu dekonstruieren. 4.2.3 Deutschtümelei und Hitler-Parodie in Christian Krachts Imperium ›Am deutschen Wesen mag die Welt genesen‹? – Der Roman Imperium (2012) von Christian Kracht beginnt mit einem skurrilen Porträt vom ›Deutschen Pflanzer‹:
238 | L ITERATUR ALS P ALIMPSEST Die Knöpfe ihrer am Latz offenen Hosen hingen an Fäden lose herab, Soßenflecken safrangelber Curries überzogen ihre Westen. Es war ganz und gar nicht auszuhalten. Bläßliche, borstige, vulgäre, ihrer Erscheinung nach an Erdferkel erinnernde Deutsche lagen dort und erwachten langsam aus ihrem Verdauungsschlaf, Deutsche auf dem Weltzenit ihres Einflusses. (Imp 12)
Aus der Perspektive Engelhardts präsentiert der Roman ein schiefes, verzerrtes Bild klischeehafter Kolonialherrlichkeit, die der – an dieser Stelle des Romans – nullfokalisierte Erzähler nur allzu gern ironisch aufs Korn nimmt: Das Wort Pflanzer traf es nicht richtig, denn dieser Begriff setzte Würde voraus […], nein, man mußte im eigentlichen Sinne von Verwaltern sprechen, denn exakt das waren sie, Verwalter des vermeintlichen Fortschritts, diese Philister mit ihren gestutzten, in der Berliner oder Münchener Mode von vor drei Jahren gehaltenen Schnurrbärten. (Imp 13)
Wieder sind es äußerliche Merkmale, an denen der spöttische Blick des Erzählers kein gutes Haar lässt, wenn etwa vom »dickleibigen Pflanzer« und dessen »Syphilis« die Rede ist, von »rotgeäderten Nasenflügeln« und »flatternden, schwammigen Lippen, an denen Speichelbläschen hingen« (Ebd.). Das Bild vom ›hässlichen Deutschen‹, das der Erzähler hier in Szene setzt und an späterer Stelle abermals im Tonfall der Ironie wieder auftauchen lässt (daran erinnern etwa die »borstig geschnittenen Haare« [Imp 92]), schlägt einen mentalitätsgeschichtlichen Bogen zum ›deutschen Untertanen‹. Diese Impression, die der Erzähler aus Sicht der Perspektivfigur Engelhardt entwirft, verbildlicht einerseits dessen innere Emigration und Selbstentfremdung, die ihn schließlich zum Ausstieg bewegen (vgl. II.2.2). Im Gegenbild des ›hässlichen Deutschen‹ führt die Erzählinstanz andererseits ein wichtiges Motiv vor Augen, mit dem der Roman einen Zusammenhang zwischen Kolonialismus und Faschismus herstellt. Am Schluss des vierten Kapitels heißt es: Ein paar Haltestellen weiter, am Alexanderplatz, lehnt ein durchnäßter Berliner an einer Hauswand und ißt, mesmerisiert kauend, eine jener labberigen Bratwürste. Das gesamte Elend seines Volkes steht ihm ins Gesicht geschrieben. Die überfettete, gleichgültige Trostlosigkeit, das graue Lamentat seiner borstig geschnittenen Haare, die öligen Wurstsprenkel zwischen seinen groben Fingern – eines Tages wird man ihn so malen, den Deutschen. Engelhardt, ebenso hypnotisiert, fixiert ihn, während der Omnibus durch die Wasserwand vorbeirattert. Für eine Sekunde ist es, als ob ein glühend heller Strahl die beiden verbindet, Erleuchteter und Untertan. (Imp 92)
Die zivilisationskritische Perspektive Engelhardts rückt nicht nur die deutsche Gesellschaft im Kaiserreich in ein satirisches Licht, deren Wesen spöttisch ausgestellt
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wird; zugleich erscheint Engelhardt »unverkennbar überhöht« und »als unheilvoll deutsche Sonderfigur inszeniert.« (Hauenstein 2014: 148; Hervorh. i. Orig.) Der Kontrast tritt durch das Bild des »deutsche[n] Untertanen« hervor, dem der Erzähler einigen Seiten zuvor den Wesenszug unterstellt, er besitze eine »animalische Lust an der Unterdrückung« (Imp 86). Insbesondere die zuletzt zitierte Passage schließt an ein kulturell tradiertes Bildarchiv an, das eine negativ konnotierte Selbst- bzw. Fremdzuschreibung aufruft, wie z.B. das der zeitgenössischen Kunst Anfang des 20. Jahrhunderts bei Otto Dix’ Die Skatspieler (1920) oder Georg Grosz’ Die Stützen der Gesellschaft (1926) und Deutschland, ein Wintermärchen (1917/19). Auch diese nahmen auf gewisse Weise wie düstere Vorausahnung den heranbrechenden Faschismus vorweg, in dessen Mittelpunkt eine pejorative Imago vom Deutschen steht.57 Der Roman bedient sich zweier Verfahren, um Kolonialismus und Nationalsozialismus in ein Verhältnis zu setzen. Zum einen greift der Erzähler mehrfach auf dieses Stereotyp vom ›hässlichen Deutschen‹58 zurück, das er verhöhnend vorführt. Zum anderen zieht die Erzählinstanz an ganz verschiedenen Stellen des Romans Parallelen zwischen Engelhardt und Adolf Hitler, wodurch Ersterem bereits zu einem frühen Zeitpunkt des Romans eine Geschichte des Wahnsinns eingeschrieben ist: Im Verlauf der Erzählung werden die Figuren sukzessive angenähert und der Wahnsinn und Totalitätsgedanke vorgeführt, der Engelhardts Südseeutopie, seiner »großen Idee« (Imp 19) und Vorstellung vom »radikalen neuen Menschen« (Imp 51), unterlegt ist. Das Kontinuitätsverhältnis von Kolonialismus und Nationalsozialismus verhandelt der Roman vor allem über die Autorität der Erzählerstimme, die über Einschübe, d.h. durch Erzählerrede sowie ironische Bemerkungen und Ver-
57 Im Jahr 1921 hatte Kurt Tucholsky in »Fratzen von Grosz« beim Anblick der Grosz’schen Porträtsammlung ›Das Gesicht der herrschenden Klassen‹ geschrieben: »Die deutschen Gesichter haben sich verhärtet. Schärfer sind die Kinne geworden, verbissener die Lippen, brutaler die Unterkiefer. (›Haifische‹ nennt der Italiener seine Blutgewinner.) Und ich weiß keinen, der das moderne Gesicht des Machthabenden so bis zum letzten Rotweinäderchen erfaßt hat wie dieser eine. Das Geheimnis: er lacht nicht nur – er haßt. Das andre Geheimnis: er zeichnet nicht nur, sondern zeigt die Figuren – welche patriotischen Hammelbeine! welche Bäuche! – mit ihrem Lebensdunst, ihrer gesamten Lebenssphäre in ihrer Welt. So, wie diese Offiziere, diese Unternehmer, diese uniformierten Nachtwächter der öffentlichen Ordnung in jeder einzelnen Situation bei Grosz aussehen: so sind sie immer, ihr ganzes Leben lang.« (Tucholsky 1960: 816) 58 Vgl. zu diesem Fremdbild allgemein die Studie Der »hässliche Deutsche« von Anna Stiepel (2011) und der Sammelband »Die hässlichen Deutschen?« hg. von Günter Trautmann (1991).
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gleiche, das Erzählen der Geschichte unterbricht und kommentiert.59 Dabei stellt der Erzähler über die Imago vom ›deutschen Untertan‹ eine teleologische Verbindung zwischen Kolonialismus und Nationalsozialismus her. Darin liegt das provokative Potential des Romans, dass er die Biografien Engelhardts und Adolf Hitlers engführt und den Nationalsozialismus als historische Unausweichlichkeit präsentiert, ohne zugleich mentalitätsgeschichtliche Dispositionen, die der Roman im Bild des Kolonisierers aufgehen lässt – wie z.B. Großmachtstreben, Deutschtümelei und Kleinbürgertum – gänzlich und eindeutig der Lächerlichkeit preiszugeben. Gerade dies macht, wie an anderer Stelle bereits diskutiert, das Groteske bei Kracht aus (vgl. II.2.2.2), dass der Roman dadurch ambivalent und mehrdimensional bleibt, sich also einer auf Eindeutigkeit zielenden Interpretation entzieht.60 Hervorzuheben ist die erzählerische Inszenierung der Analogie: Auf den ersten acht Seiten des Romans rückt der Erzähler zunächst die Figur Engelhardt ins Zentrum der perspektivischen Darstellung. Dabei wird zum einen deutlich, dass der Leser es nur mit einem vermeintlich nullfokalisierten, heterodiegetischen Erzähler61 zu tun hat, dessen Grenzen der Wahrnehmung und Darstellbarkeit der Text aufzeigt und dadurch die Erzählinstanz ihrer erzählerischen Unzuverlässigkeit entlarvt: »So oder so ähnlich dachte der junge August Engelhardt« (Imp 12). Zum anderen nutzt die Erzählinstanz ihre Position dazu, um Engelhardts Innensicht mit der Außensicht der deutschen Pflanzer zu kontrastieren, um nicht nur den Pflanzer, sondern auch Engelhardt – gewissermaßen von außen – zu ironisieren: Die Pflanzer wiederum lugten unter den Augenlidern hervor und sahen dort, etwas abseits, ein zitterndes, kaum fünfundzwanzig Jahre altes Nervenbündel mit den melancholischen Augen eines Salamanders sitzen, dünn, schmächtig, langhaarig, ein eierschalenfarbenes, formloses Gewand tragend, mit langem Bart, dessen Ende unruhig über den kragenlosen Kittel strich, und man fragte sich wohl kurz, was es mit diesem Manne auf sich hatte, der bei jedem zweiten Frühstück, ja selbst bei jedem Lunch in einer Ecke des Salons der zweiten Klasse
59 Vgl. zur Funktion von Erzählerkommentaren Zeller (2010b: 505). 60 Matthias N. Lorenz spricht etwa in Hinblick auf die ideologisch und intertextuell komplexe Anlage des Romans davon, dass »jedes Element – Erzählmodus, Handlungsgang, Verweissystem – umcodiert oder zumindest in seiner Eindeutigkeit durchkreuzt wird.« (Lorenz 2014: 70) Ähnlich schreibt Eckhard Schumacher, dass durch Krachts Schreibverfahren der Überlagerung und Überschreibung »ganz unterschiedliche Perspektiven nebeneinander gerückt werden, ohne sie vorab festgelegten Lesarten zuzuordnen, ohne sie auch ideologisch greifbar zu machen.« (Schuhmacher 2013: 146) 61 Im weiteren Verlauf des Romans zeigt sich, dass die Wahrnehmung des Erzählers ihre Grenzen hat und instabil ist, sodass er teils auf die Stufe eines intern oder gar extern fokalisierten Erzählers zurückfällt.
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saß, alleine an einem Tisch vor einem Glas Saft, eine halbe Tropenfrucht sorgsam zerteilend, dann zum Dessert eine kartonierte Verpackung öffnete und daraus in ein Wasserglas etwas braunen, pudrigen Staub löffelt, der allem Anschein nach aus pulverisierter Erde bestand. Und diesen Erdpudding auch noch aß! Wie exaltiert! Ein Prediger höchstwahrscheinlich, anämisch offensichtlich, lebensuntauglich. Aber doch im Grunde uninteressant. Und vor allem müßig, weiter darüber nachzudenken. Man gab ihm im Geiste ein Jahr im Pazifik, schüttelte den Kopf, schloß die spaltbreit geöffneten Augenlider und schlief, Unverständliches murmelnd, wieder ein. (Imp 13f.)
Vom Schiff aus richtet sich der Erzählerblick anschließend auf das Ziel der Reise, »die neue, in der Blanchebucht gelegene Hauptstadt Herbertshöhe«, über die er weiter spöttelt, dass »deren gut befahrbares Becken aus einer optimistischen Laune heraus als Hafen bezeichnet wurde.« (Imp 16) Auch hier ist jede Beschreibung des Erzählers ambivalent, jedes Bild unernst und ironisch verrückt, wie folgendes Beispiel zeigt: »Aber es war eine aufstrebende, deutsche, ordentliche Stadt, und sagte man Nest, so nur im Spott, oder wenn es derart Bindfäden regnete, daß dreißig Fuß vor der Nase schon nichts mehr zu erkennen war.« (Imp 17) Selbst die rassistische Kolonialsprache, die der Erzähler bedient, wenn etwa von »Kanakenkinder[n]« die Rede ist, die sich »barfuß« und »nackend, manch eines in kurzen, zerrissenen Hosen« auf den Straßen von Herbertshöhe »tummelten« (ebd.), ist als »ironische[s] Zitat des kolonialen Diskurses« zu lesen (Schwarz 2014: 136; vgl. ebd.: 139). Denn im selben Satz werden koloniale Diskursmuster wieder verrückt und kritisch ausgestellt, etwa wenn es von den Kindern weiter heißt, sie trügen »auf den Häuptern wolliges, aus einer lustigen Laune der Natur heraus blondes Haar« (Imp 17) – eine deutlich satirische Anspielung auf verbotene Beziehungen zwischen Kolonisierern und Kolonisierten. Von Herbertshöhe aus schwenkt der Erzähler auf bemerkenswerte Weise zurück in die Hauptstadt des deutschen Kaiserreichs, nach Berlin, und schließt seine ironische Modellierung der kolonialen Welt mit einer zur damaligen Zeit typischen kolonialkritischen Position. Auch hier versäumt der Erzähler keine Gelegenheit, die kolonialen Unternehmungen in der Südsee zu entzaubern.62 Er bringt dabei historisches Wissen in Stellung, um Kolonialenthusiasmus als Exotismus zu entlarven und klischeehafte Südseephantasien – deutlich am exotistischen Symbol der ›Perlenkette‹ erkennbar – zu konterkarieren sowie das räumliche Großmachtstreben der Deut-
62 Über den Erzähler schreibt Schumacher, dass die »Effekte des Komischen« besonders hervortreten »durch den merkwürdig über den Dingen schwebenden Erzähler, dessen heitere Souveränität letztlich kaum weniger komisch erscheint als die Figuren, über die er berichtet und über die er sich ironisch abhebt.« (Schumacher 2013: 142) Vgl. zur ironischen Modellierung des Erzählers auch Tischel (2012: 147, 176).
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schen in der Südsee über die Perlenketten-Metapher ironisch-verklärend zur Schau zu stellen: Die Deutschen Schutzgebiete im Stillen Ozean, hierin stimmten die Experten überein, waren, im Gegensatz zu den afrikanischen Besitzungen seiner Majestät Kaiser Wilhelms des Zweiten, allesamt vollkommen überflüssig. […] Im fernen Berlin aber sprach man von den Inseln wie von kostbaren, leuchtenden Perlen, zu einer Kette aufgereiht. (Imp 17f.)
Im ersten Kapitel des Romans wird, so wäre zusammenzufassen, ein enormer erzählerischer Aufwand betrieben, um das Bild des Kolonisierers ins Lächerliche zu ziehen und das koloniale Imaginäre ad absurdum zu führen. An diesem ersten Höhepunkt der Demontage kolonialer Diskursmuster setzt der Erzähler auf der discours-Ebene allerdings einen Schnitt. Es folgt ein kurzer Einschub des Erzählers, der nicht unmittelbar Teil der erzählten Basisgeschichte ist, sondern einen metareflexiven Kommentar in den kolonial-historischen Kontext einfügt. Aufwändig wird so eine Teleologie63 entworfen, die der Erzähler selbst als »Chronik« (Imp 18) bezeichnet und in der Gegenwart und Zukunft koinzidieren. Die Biografie Engelhardts erscheint in der Parallelisierung mit der Hitler-Figur als unheilvolle Prolepse, sie steht pars pro toto für eine Geschichte ›der‹ Deutschen: Nun, in diese Zeit fällt diese Chronik, und will man sie erzählen, so muß auch die Zukunft im Auge behalten werden, denn dieser Bericht spielt ganz am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts, welches ja bis zur knappen Hälfte seiner Laufzeit so aussah, als würde es das Jahrhundert der Deutschen werden, das Jahrhundert, in dem Deutschland seinen rechtmäßigen Ehrenund Vorsitzplatz an der Weltentischrunde einnehmen würde, und es wiederum aus der Warte des nur wenige Menschenjahre alten, neuen Jahrhunderts durchaus auch so erschien. So wird nun stellvertretend die Geschichte nur eines Deutschen erzählt werden, eines Romantikers, der wie so viele dieser Spezies verhinderter Künstler war, und wenn dabei manchmal Paralle-
63 Auch Lorenz kommt zu dem Schluss, dass Kracht hier einer »Faschismusinterpretation« folge (2014: 69), die Kolonialismus und Nationalsozialismus in ein kausales Verhältnis setzt. In seinem Beitrag setzt sich Lorenz explizit mit Merkmalen eines rewriting von Joseph Conrads Herz der Finsternis (1991) in Krachts Roman auseinander und argumentiert, dass die Kontinuitätsthese vor dieser intertextuellen Folie plausibel werde und verweist auf das Buch Durch das Herz der Finsternis. Ein Afrika-Reisender auf den Spuren des europäischen Völkermords (1999) von Sven Lindquist. Dieser sieht in Conrads Text deutliche Anspielungen, die auf die grausame Massenvernichtung von Menschen im 20. Jahrhundert hindeuten. In den Worten Lindquists: »Conrad, so schien es mir, war ein Prophet. Er hatte den Horror vorausgesehen, der wenig später über die Welt gekommen war.« (Lindquist 1999: 14)
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len zu einem späteren deutschen Romantiker und Vegetarier ins Bewußtsein dringen, der vielleicht lieber bei seiner Staffelei geblieben wäre, so ist dies durchaus beabsichtigt und sinnigerweise, Verzeihung, in nuce auch kohärent. Nur ist letzterer im Augenblick noch ein pickliger, verschrobener Bub, der sich zahllose väterliche Watschen einfängt. Aber wartet nur: er wächst, er wächst. An Bord der Prinz Waldermar befand sich also der junge August Engelhardt aus Nürnberg, Bartträger, Vegetarier, Nudist. Er hatte vor einiger Zeit in Deutschland ein Buch mit dem schwärmerischen Titel Eine sorgenfreie Zukunft veröffentlicht, nun reiste er nach Neupommern, um Land zu kaufen für eine Kokosplantage, wieviel genau, und wo, das wußte er noch nicht. Er würde Pflanzer werden, doch nicht aus Profitgier, sondern aus zutiefst empfundenen Glauben, er könne Kraft seiner großen Idee die Welt, die ihm feindlich, dumm und grausam dünkte, für immer verändern. (Imp 18f.)
Mit dem Einschub stellt der Erzählerkommentar die Figur Adolf Hitler erstmals direkt in eine Ähnlichkeitsbeziehung zu Engelhardt, wobei die mentalitätsgeschichtliche Verbindung zwischen Lebensform und NS-Ideologie, die er bahnt und im Kontext eines Romantik-Diskurses aktualisiert, auffällig ist. Die Parallelisierung der Biografien, welche über das Narrativ einer exemplarischen Erzählung (»So wird nun stellvertretend«) erfolgt, entwickelt der Erzähler in den darauffolgenden Beschreibungen Engelhardts implizit weiter.64 So ist Engelhardt wie auch Hitler Verfasser einer programmatischen Schrift, wobei Engelhardts den »schwärmerischen Titel Eine sorgenfreie Zukunft« trägt und ein politisch-ideologisches Projekt umreißt, das seinem Wesen nach ebenso totalitäre Züge aufweist, die sich in seinem prophetisch-missionarischen Eifer Bahn brechen. Demzufolge folgt Engelhardt seinem »zutiefst empfundenem Glauben, er könne Kraft seiner großen Ideen die Welt, die ihm feindlich, dumm und grausam dünkte, für immer verändern.« (Imp 19) Nicht nur von der »heiligen Pflicht« (Imp 80), von »Mission« (Imp 166) und »Bestimmung« (Imp 20) ist später die Rede, sondern darüber hinaus von der »wirksame[n] Verbreitung seiner überwältigenden Idee« (Imp 166), die sich nicht damit zufriedengibt, »eine Kolonie der Kokovoren zu erschaffen« (Imp 20). Sein Ziel ist es, »den Erdenball mit Kokos-Kolonien zu umringen« (Imp 80); »als Prophet sah er sich und als Missionar zugleich. Aus diesem Grunde fuhr er in die Südsee, die schon unendlich viele Träumer gelockt hatte mit dem Sirenenruf des Paradieses.« (Imp 20) Über die erzählerische Figurennähe, die der Hitler-Vergleich herstellt, desavouiert der Text den totalitären Kern seiner Südsee-Utopie. Der Leser
64 Über die Parallelführung der Figur Engelhardt und Hitler, so schreibt Robin Hauenstein werde »das Geschehen um den deutschen Aussteiger symbolisch zur Vor-Geschichte der späteren Katastrophe […], zu der sich also Verbindungslinien ziehen lassen sollen.« (2014: 146.)
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wird gleich zu Beginn des Romans aufgefordert, die anschließende Erläuterung der Kokovorismuslehre, in deren Mittelpunkt der Wille zum »radikalen neuen Menschen« (Imp 51) steht, mit der Ideologie des Faschismus in Beziehung zu setzen. Wie bereits festgestellt (vgl. II.2.2), ist es insbesondere die Figurenentwicklung, welche die Erzählinstanz zum Anlass nimmt, um die Analogie zu Hitler zu verdichten. Dazu zählt Engelhardts Wahn am »neuen Menschen, eine[m] vegetarischen, gesunden, kräftigen Menschen« (Imp 107) sowie seine Entwicklungen zum einen vom Vegetarier zum Kannibalen, zum anderen vom Liberalen zum Antisemiten. Dadurch werden Aussteigerphantasien und NS-Ideologie verschaltet und im »ironische[n] Duktus« bloßgestellt (Lorenz 2014: 68). Der Erzähleinschub, der die Analogie zur Hitler-Figur stiftet, verweist zugleich auf Merkmale der Groteske, die Komik und Grauen auf ambivalente Weise zur Deckung bringt (vgl. zum grotesken Erzählen II.2.2.2). Auf ähnliche Weise arbeitet eine zweite Passage: Im IV. Kapitel (Imp 77–92) zieht es Engelhardt nach München, um den Lebensreformer Gustav Nagel zu besuchen (vgl. Imp 78–83). Wie zuvor ist es ein Erzählerkommentar, der jedoch an dieser Stelle eine Analogie über die Topographie Münchens65 herstellt, die dunkel sowohl die nationalsozialistische Machtergreifung, die NS-Herrschaft als auch den Holocaust vorausahnen lässt: Die Feldherrnhalle, jene florentinische Parodie dort drüben, kaum eines Blickes gewürdigt, steht mahnend, ja beinahe lauernd im spektralen Münchner Sommerlicht. Nur ein paar kurze Jährchen noch, dann wird endlich auch ihre Zeit gekommen sein, eine tragende Rolle im großen Finsternistheater zu spielen. Mit dem indischen Sonnenkreuze eindrücklich beflaggt, wird alsdann ein kleiner Vegetarier, eine absurde schwarze Zahnbürste unter der Nase, die drei, vier Stufen zur Bühne … ach, warten wir doch einfach ab, bis sie in äolischem Moll düster anhebt, die Todessymphonie der Deutschen. Komödiantisch wäre es wohl anzusehen, wenn da nicht unvorstellbare Grausamkeit folgen würde: Gebeine, Excreta, Rauch. (Imp 79)
65 Die Passage ist eine Anspielung auf gleich mehrere historische Ereignisse, die dem Ort der ›Feldherrnhalle‹ symbolisch eingeschrieben sind. Am 9. November 1923 fand in München der sog. ›Marsch auf die Feldherrnhalle‹ statt, ein Putschversuch Adolf Hitlers und seiner Anhänger, der in der Niederschlagung des Aufstands endete (vgl. Mommsen 1995). Der ›Novemberputsch‹ wurde innerhalb der NS-Propaganda zum Symbol der Machtergreifung verklärt und in einem jährlichen Gedenkereignis zum symbolischen Gedächtnisort des Nationalsozialismus. Am gleichen Tag, dem 9. November 1938, unternahm der Schweizer Maurice Bavaud am jährlichen Gedenkmarsch einen Anschlagversuch auf Adolf Hitler, am Vorabend des 9. Novembers 1939 scheiterte im Rahmen der Gedenkveranstaltung der Bombenanschlag Georg Elsers im Münchener Bürgerbräukeller. Zur Bedeutung des 9. Novembers 1938 vgl. auch Mommsen (2014: 87–106).
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Im prophetischen Erzählton (»Nur ein paar kurze Jährchen noch«, »warten wir doch einfach ab«) wird die »größte[ ] Katastrophe dieses Jahrhunderts« heraufbeschworen (Assmann 2006: 14). Zieht der Erzähler die Hitler-Figur zunächst erneut ins Spöttische (»kleine Vegetarier«, »absurde schwarze Zahnbürste«), so läuft dieses komische Moment auf eine Zäsur zu, die den grotesken Erzähleffekt ausmacht. Mit dem Ausdruck »Kömodiantisch wäre es wohl anzusehen« versiegt das Verlachen und gleitet ins Grauen, in die »unvorstellbare Grausamkeit« ab, die den Holocaust in der wirkungsmächtigen triadischen Formel »Gebeine, Excreta, Rauch« ins Bild setzt. In für die Groteske typischer Weise verschlägt es dem sonst zur ausschweifenden Fabulierlust neigenden Erzähler die Sprache. »In diesem Konditionalsatz«, schreibt Thomas Schwarz, »klammert der Erzähler den Holocaust von einer ironischen Darstellung explizit aus, an diesem Punkt endet sie.« (Schwarz 2014: 138) Der Holocaust ist im vorletzten Kapitel (XIV.: 230–238) ein weiteres Mal Thema und wird an dieser Stelle des Romans explizit in eine teleologische Perspektive gebracht. Erneut tritt der Erzähler in die Rolle eines Chronisten, der im stark gerafften Erzähltempo die Stationen vom Ausbruch des Ersten Weltkriegs, ausgelöst durch die Ermordung des Österreichischen Thronfolgers Prinz Ferdinand und dessen Ehefrau Sophie in Sarajevo, über die Giftgasangriffe in den »flandrische[n] Schützengräben« (Imp 230) an der Westfront bis zur Deportation der Juden und dem Holocaust schildert. Das teleologische Motiv der Unausweichlichkeit von Geschichte verhandelt der Text abermals über die Figur Adolf Hitlers, der nicht explizit beim Namen genannt wird, jedoch implizit über den namenlosen Soldaten in den Exkurs des Erzählers gerät. Wenn Fatalismus die eine Seite seines Geschichtsentwurfs darstellt, so ist seine Kehrseite der Zufall, dessen Wirkung der Erzähler in der folgenden Passage ausbuchstabiert, um der Figurenzeichnung des Romans abermals eine ambivalente, groteske Spannung zu unterlegen, die in den folgenden Zeilen noch deutlicher in eine Richtung ausschlägt und das Grauen antizipiert: […] einer der Millionen an der Westfront explodierenden, glühenden Granatsplitter bohrt sich wie ein weißer Wurm in die Wade des jungen Gefreiten der 6. Königlich Bayerischen Reserve-Division, lediglich ein paar Zoll höher, zur Hauptschlagader hin, und es wäre wohl gar nicht dazu gekommen, daß nur wenige Jahrzehnte später meine Großeltern auf der Hamburger Moorweide schnellen Schrittes weitergehen, so, als hätten sie überhaupt nicht gesehen, wie dort mit Koffern beladene Männer, Frauen und Kinder am Dammtorbahnhof in Züge verfrachtet und ostwärts verschickt werden, hinaus an die Ränder des Imperiums, als seien sie jetzt schon Schatten, jetzt schon aschener Rauch. (Imp 230f.)
Die Passage ist für das Erzählen in Imperium insofern bemerkenswert, als sie einen Wechsel der Erzählposition (›Modus‹) vollzieht. Aus der Position des »auktoriale[n] Chronist[en]« (Schwarz 2014: 137), machtvoll-erhaben und in sicherer Dis-
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tanz zum Geschehen, wechselt sie von der Erzählposition eines »merkwürdig über den Dingen schwebenden Erzähler[s]« (Schumacher 2013: 142) unmittelbar in die Nähe der Diegese. Durch diese Grenzüberschreitung verändert sich – mit Genette gesprochen – die Stellung des Erzählers zum Geschehen. Aus dem heterodiegetischen ist so ein homodiegetischer Erzähler geworden, der nun Teil der erzählten Welt ist, wenngleich er nicht selbst aktiv in die Erzählung eintritt, sondern nur über das Possessivpronomen »meine« (Imp 231) markiert ist. 66 Die Reduzierung der Distanz zum Erzählten identifiziert den Erzähler als deutschen und holt ihn über die Formulierung »meine Großeltern« (ebd.) in die Geschichte, wodurch der Schuldkomplex einer fingierten Großelterngeneration im Schweigen und Nicht-SehenWollen reflektiert wird. Dieser Deutung folgt z.T. die Literaturkritik, welche in diesem erzähltechnischen Eingriff ein kritisches Potential des Romans erkannte. Er thematisiere das »Mitläufertum« zur Zeit des Nationalsozialismus, »in einer Passage […], die von konkreter historischer Schuld handelt, ganz ohne ironischen Schlenker und ohne im Ironieduktus des Gesamttextes befangen zu sein.« (Winkels 2013: 9; vgl. Sobocynski 2013: 22; Malchow 2013: 60f.) Ähnlich folgert Schwarz: »Wenn es um Antisemitismus und den Holocaust geht, endet in Krachts Imperium die Ironie.« (2014: 140; vgl. Tischel 2012: 175) Einen letzten Auftritt bekommt Adolf Hitler im Anschluss an die bereits zitierte Passage. Der Erzähler hat hier wieder die Rolle des Chronisten eingenommen. Aus sicherer Distanz wendet er nun seinen Blick auf die ›deutsche Südsee‹, in die »rasch und erbarmungslos und nicht ohne eine gewisse Komik […] der Erste Weltkrieg« einzieht (Imp 231). Auf den folgenden Seiten wird das Schicksal einzelner Figuren geschildert, darunter auch das des ehemaligen Gouverneurs Albert Hahl, dessen Rückkehr nach Deutschland und sein Versuch, im »Privatgelehrtentum« (Imp 236) einen Platz in der Gesellschaft zu finden, jedoch scheitern. Zunächst erscheinen auch diese Ereignisse in ironisches Licht getaucht, doch der Schein trügt. Als letzte Station der Biografie Hahls wird von einer historisch verbürgten »Widerstandsgruppe« erzählt, dem sog. ›Solf-Kreis‹. Gegründet von »der Ehefrau Wilhelm Solfs, des einstigen Gouverneurs von Deutsch Samoa«, schließt sich auch Hahl dieser Gruppe an, »als der Sonnenkreuzler des Deutschen Volkes«, so der Erzähler, »zur viehischen Unerträglichkeit wird« (Imp 237). Von Bedeutung ist dabei die historische Fußnote, die über Hahls Tod hinaus Eingang in den Roman findet. So schildert der Erzähler das Schicksal des Solf-Kreises, dessen »bestialisches Ende am mit Klavierdraht versehenen Galgen des Imperiums Hahl nicht mehr erleben wird.« (Imp 237)
66 An einer Stelle des Romans tritt der Erzähler deutlich als Ich-Erzähler auf: »Ich glaube nicht, daß er jemals einen Menschen wirklich geliebt hat.« (Imp 90) Vgl. dazu auch Birgfeld (2012: 473).
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An dieser Stelle fällt der Titel des Romans zum zweiten Mal. Abermals aktualisiert der Text den Begriff ›Imperium‹ im Kontext von Nationalsozialismus und Holocaust. Zuvor taucht er auf, als der Erzähler die Deportation der »mit Koffern beladene[n] Männer, Frauen und Kinder« schildert, die in »Züge verfrachtet und ostwärts verschickt werden, hinaus an die Ränder des Imperiums« (Imp 230f.). Hier wird die Bezeichnung ›Imperium‹ zur Metonymie für die NS-Herrschaft. Der Roman aktualisiert über den Titel somit weniger eine enge Perspektive auf den historischen Kolonialismus Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts, sondern den deutschen Kolonialismus in der Südsee als Teil einer globalen Geschichte entgrenzter Massengewalt, die im Faschismus und im Zweiten Weltkrieg ihren Höhepunkt erreichen sollte. Stellt der Text einerseits über das Motiv des Scheiterns der Imperien den Kern totalitärer Ideologien aus (vgl. auch Birgfeld 2012: 474), so ist andererseits der Untergang jener Imperien an das Aufkommen neuer gekoppelt, eine Geschichte ohne Ende, die fortan immer neue Imperien hervorbringt. Die »Wiederkehr des Immergleichen« (Wiegmann 2016: 46) verweist auf ein Motiv bei Kracht, das Eva Wiegmann auch in Krachts Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten (2008),67 einem Alternativzeitroman mit deutlich kolonialen Implikationen, erkannt und mit Deleuze/Guattari gelesen hat: Unter den Sedimenten der Geschichtsschreibung entpuppt sich auch die globalisierte Gegenwart […] als »Kopie«, die im Sinne von Deleuze und Guattari »immer nur ›auf das Gleiche‹ hinausläuft« (Deleuze/Guattari 2005: 24). Kracht entlarvt hier die abendländische Geschichte als eine permanente Reproduktion einer bestimmten genealogischen Denkart. […] Usurpation und Ausbeutung des jeweils Anderen werden so als eine durchgängige, von konkreten zeitlichen und ideologischen Bedingungen unabhängige Konstante der westlichen Geschichte entlarvt. (2016: 53.)
Das »kinematographische Verfahren« (Hauenstein: 132; Hervorh. i. Orig.) 68 des Romans, das Anfang und Ende transmedial verbindet, überträgt diese Vorstellung vom Lauf der Geschichte auf die Ebene des Erzählens (discours) und stellt den Roman metafiktional aus. 69 Der Roman Imperium entwirft ein zyklisches Ge-
67 Der Roman spielt ebenfalls mit Symbolen und Verweisstrukturen, die den Faschismus und den Holocaust andeuten (vgl. Wiegmann 2016) 68 Vgl. dazu u.a. Hauenstein (2014: 132f.), Schumacher (2013: 143–146) und Tischel (2012: 175). 69 Darüber schreibt Schumacher: Es »eröffnet sich im Rückblick, vom Ende des Romans her, auch die Möglichkeit, die Erzählung als eine rekursiv angelegte, medial vervielfältigte narrative Schleife zu begreifen, die nicht vorwegnimmt, sondern vielmehr reprodu-
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schichtsbild, das sich in rekursiven Schleifen permanent wiederholt, in die der Erzähler zeitgeschichtlich den Kolonialismus, den Nationalsozialismus und den ›USImperialismus‹ einbindet. Allerdings tragen stets Irrealitätseffekte dazu bei, dass einer Lektüre im Sinne einer eindeutigen Interpretation des Historischen bei diesem Roman nicht zu trauen ist. Am Schluss z.B. wird Engelhardt, und das kontrafaktisch zur historisch verbürgten Geschichte, den Zweiten Weltkrieg überleben. Entdeckt von amerikanischen GIs zum Ende des Zweiten Weltkrieges erfährt er von den neuen Zeichen der Zeit: »dies ist nun das Imperium« (Imp 240), denkt Engelhardt, beeindruckt von Hotdogs, Coca-Cola und den Kampfflugzeugen des USamerikanischen Militärs. 4.2.4 »Mein Kilimandscharo. Mein Kampf.« Spuren von Nazis im Familiengedächtnis in Christof Hamanns Usambara Die Familiengeschichte Hagebuchers ist für die Erzählerfigur Fritz Binder identitätsstiftend, ja geradezu existentiell und wird, wie bereits ausgeführt (vgl. II.3.2.3), am Berg verhandelt. Ihre Glaubwürdigkeit zieht nicht nur der Erzähler selbst im Romanverlauf mehr und mehr in Zweifel. Vor allem mit der Freundin Camilla Becker bringt der Autor eine kritische Gegenstimme in den Text, die das Familiennarrativ radikal infrage stellt. Sie hat innerhalb der Konfliktstruktur eine wichtige Funktion inne, die in den Blick rückt, was der Erzähler nicht hinterfragt, teils sogar beschönigt oder mutwillig verschleiert. Zugleich erkennt Camilla zwischen Kolonialismus und Nationalsozialismus eine Verbindungslinie, die Fritz’ Familienbiografie durchzieht. Über die Genealogie thematisiert Hamanns Roman somit Aspekte kollektiven Erinnerns und damit Fragen nach dem Zusammenhang zwischen kolonialem und faschistischem Denken. Dieses Verhältnis gilt es nachfolgend über die Modellierung der Camilla-Figur näher zu erläutern, die im dritten Kapitel besonders deutlich zum Tragen kommt: Das dritte Kapitel (U 88–100, 121–127) schildert auf der Gegenwartsebene des Romans Fritz’ und Michaels Aufenthalt in Berchtesgaden, wo sie sich in einer Berghütte einquartieren, um für den bevorstehenden »Kilimandscharo Benefit Run« zu trainieren. Die Bergläufe bilden jedoch nur den thematischen Rahmen des Kapitels (vgl. U 88–92, 126f.). Im Mittelpunkt der Handlung steht vielmehr das Erzählen selbst: Die Abendgesellschaft im »Purtschellerhaus« (U 90), zu der nebst Wirtin Marlies und einigen Gästen auch Camilla zählt, die übers Wochenende zugereist
ziert, was sich bei genauerem Hinsehen von Beginn an als Projektion erweist« (2013: 144).
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ist, drängt Fritz dazu, von der Familiengeschichte zu erzählen.70 Doch Fritz, der sich nur allzu gut in der Rolle gefällt (vgl. U 97), hat die Rechnung ohne Camilla gemacht und die Situation falsch eingeschätzt, wie er zu spät erkennt; er hätte ihr Augenrollen (vgl. U 98) und ihre »skeptische[n] Blicke ganz am Anfang als Zeichen dafür nehmen müssen, dass am heutigen Abend nicht mit ihr zu spaßen ist« (U 99). Camillas polemische Attacken bringen den Erzähler am Abend gleich mehrfach aus dem Tritt. Ihr Einspruch ist als Ausdruck von Widerstand gegen die Geschichts- und Deutungshoheit der Erzählinstanz Fritz zu lesen, der seinen Stil, wie er selbst zugibt, dem Publikumsgeschmack anpasst und die Geschichte nach Belieben »variiert«, um »zu imponieren« (U 135): »Ich beginne so, wie es meine Zuhörer lieben« (U 98) heißt es an einer, »[a]ber meine Version hört sich besser an« (U 84) an einer anderen Stelle. Camilla entlarvt die Erzählinstanz als ›unzuverlässigen Erzähler‹, dem sie radikal die Glaubwürdigkeit abspricht. Binder vermag dies zu erkennen, wenn er konstatiert: »mir traue sie derart mutwillige Korrekturen zu« (U 100). Seine Freundin Camilla wirft ihm vor, er mache »einen auf Hollywood«, seine Darstellung sei nicht nur »Effekthascherei«, sondern gar »lachhaft« und »völliger Unsinn« (U 99f.). Vor allem betreibe er in ihren Augen »krasse Schönfärberei«, denn »die Weißen hätten die Schwarzen abgeschlachtet, das müsse doch wenigstens mal erwähnt werden.« (U 100) Damit eröffnet die Camilla-Figur eine kritische Perspektive auf koloniale Verstrickungen von Entdeckungsreisen, indem sie die Überlieferung des Urenkels – ganz im Sinne Edwards Saids ›kontrapunktischer Lektüre‹ – gegen den Strich liest und die Kolonialverbrechen anprangert, die in Fritz’ Abenteuergeschichte keinen Platz haben. Seine Darstellung sei Geschichtsklitterung, kontrafaktisch und nicht mehr als »Stille Post« (ebd.), wo doch Fritz bezeichnenderweise von Beruf ausgerechnet Briefträger ist. Mit diesem Vorwurf der stillen Veränderung einer Nachricht oder Information, wie im Falle des Kinderspiels, problematisiert der Text ein Prinzip der »intergenerationalen Kommunikation«, das Harald Welzer, Sabine Moller und Karoline Tschuggnall in ihrer Studie »Opa war kein Nazi«. Nationalsozialismus und Holocaust im Famili-
70 An diesem Kapitel wird zum einen nachvollziehbar, dass die Erzählstruktur in Usambara über die Konstellation von Gegenwarts- und Vergangenheitsebene mehr als nur alternierend zusammenhängt. Über das Erzählmoment (»Ich soll erzählen« [U 97]) verweist die Textstelle insbesondere auf das Verhältnis hin, das beide Ebenen zueinander haben und damit auf den konkreten Ort, von dem aus die Ebenen der Geschichte präsentiert werden. Wird auf der Gegenwartsebene der Basisgeschichte die Beziehung zwischen der Erzählerrolle Fritz’ und seinem »Publikum« (U 98) deutlich markiert, so ist diese Ebene extradiegetisch-homodiegetisch zur Vergangenheitsebene (d.h. zur Erzählung Hagebuchers) angeordnet, welche demzufolge intradiegetisch-heterodiegetisch entworfen ist (vgl. zur narratologischen Terminologie Martínez/Scheffel [2007: 81]).
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engedächtnis untersucht haben (2012: 14). 71 Am Beispiel des Stille-Post-Motivs, das zugleich semantisch an die Figurenkonfiguration Binders geknüpft ist, legt der Text den Konstruktcharakter des Erzählens und Erinnerns bloß, der die Grenzen zwischen Fakt und Fiktion verschwimmen lässt und die Zuverlässigkeit der Familienerzählung hintergeht. Der konkrete Bezug zur Ausgangsfrage, die das Verhältnis von Kolonialismus und Nationalsozialismus thematisiert, findet dabei über ein von Camilla ausgelöstes Ereignis Eingang in den Text: Als sie nun dem Erzähler den Rücken kehrt, um sich unter fadenscheiniger Begründung zurückzuziehen (»ich kann nicht mehr. Ich muss ins Bett.« [U 121]), bleibt ihre Aufmerksamkeit an einer Gedenktafel zu Ehren des Bergsteigers Ludwig Purtscheller – eines Reisegefährten Hans Meyers – hängen, an der sich ihre angestaute Wut entlädt. Anlass ist eine Inschrift, die dem Namenspatron der Alpenhütte gewidmet ist: Am 6. Oktober 1939 waren es genau 40 Jahre, seit der höchste Gipfel des Deutschen Reiches zum ersten Mal von eines Menschen Fuß betreten wurde. Dieser höchste Berg war damals nicht in unseren Alpen zu finden, sondern er lag in Deutsch-Ostafrika. Aber wer bei dieser Besteigung maßgebend beteiligt war, ist uns heute noch nahe: Ludwig Purtscheller. Blablabla, ein Nazischwachsinnssatz jagt den nächsten. Es gibt hier im deutschen Berchtesgadener Land keinen Gebirgsstock von Bedeutung, in dem nicht die große, schlanke Gestalt Ludwig Purtschellers aufgetreten wäre, in dem er nicht seinen Fuß als Erster aufgesetzt hätte. Wie kann man diesen Mist nur an der Wand hängen lassen? (U 122)
Die Inschrift ähnelt auf frappierende Weise der Laudatio Fritz Jagers an Meyer (vgl. II.3.2.2), nur das hier Ludwig Purtscheller im Mittelpunkt der Darstellung steht. Weder an der Präsenz Purtschellers noch an der Datierung der Gipfelbesteigung, die fälschlich von 1889 ins Jahr 1899 verschoben wurde, nimmt Camilla hier Anstoß. Ihr Zorn richtet sich gegen den Urheber des Textes, dessen ideologischen Grundton sie zu erkennen glaubt: »Ich rede nicht von Purtscheller. Den Artikel meine ich. Den hat ein beknackter Nazi geschrieben.« (U 122) Zwar bleibt dem Leser unklar, welche Gründe Camilla veranlassen, den Autor ideologisch zu verhaf-
71 Das Prinzip der ›stillen Post‹, so schreiben die Autoren, beziehe sich auf »jene[s] Kindergeburtstagsspiel also, in dem eine ursprünglich erzählte Geschichte durch geflüsterte Weitergabe an zweite, dritte, vierte, fünfte Personen sich immer weiter verändert, bis sie schließlich einen neuen Plot bekommt oder nur völlig verstümmelt beim Empfänger ankommt. Dieses Spiel gewinnt seinen Reiz genau dadurch, dass jeder der Teilnehmer die Geschichte mit einem eigenen Sinn versieht – so, wie er sie am besten versteht – und sie in dieser Form weitergibt.« (Welzer/Moller/Tschuggnall 2012: 14) Nicht selten »lebt die Geschichte von Leerstellen, die beliebig ausgefüllt werden können« (ebd.: 41).
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ten. Fritz äußert an späterer Stelle eine Vermutung, die eine Verbindung zwischen kolonialem und nationalsozialistischem Denken herstellt: »Sie hat es auf Purtscheller abgesehen. Sie sieht in ihm einen Wegbereiter für den Faschismus. Und von Meyer denkt sie nicht viel besser.« (U 132) Dass die eigentlichen Gründe nicht zur Ansprache kommen, folgt der Textlogik, die in der Fokalisierung des Romans, d.h. der Modellierung der homodiegetischen Erzählinstanz, nicht nur Merkmale unzuverlässigen Erzählens verhandelt, sondern zugleich die Figurenperspektive in ihrer Reichweite und ihrem Anspruch auf Wissen begrenzt. Deutlich wird damit auch, dass der Text über die Figur Camilla Bereiche des Nicht-Wissens konturiert, in die der Erzähler – und damit auch der Leser – nicht vordringt. Dass die Gründe hier nicht vollends aufgedeckt werden, verschafft der unter den Hüttengästen einzigen kritischen Figur Camilla zugleich eine Souveränität und eine Unverfügbarkeit. Sie entzieht sich so der Perspektive der Erzählerstimme, in deren Sichtfeld die Freundin Camilla nicht selten zum Objekt männlicher Imagination wird, auf deren Körper typisch männlich-erotische (Eroberungs-)Phantasien ausgetragen werden (vgl. U 68, 164). Fritz’ erotisches Begehren und das der kolonialen Bergsteiger haben ähnliche Züge (vgl. II.3.2.2). Wie bereits konstatiert, fordert der Text auch an dieser Stelle dazu auf, die Erzählerstimme Binders gegen den Strich zu lesen, eine kritische Haltung einzunehmen, sich der Identifikation zu widersetzen und die (Wissens-)Grenzen und Unzuverlässigkeit der Erzählinstanz zu erkennen. Zu dieser kontrapunktischen Lektüre gehört außerdem die Frage nach der Kontinuität zwischen kolonialen und nationalsozialistischen Denk- und Handlungsmustern, die der Text hier implizit über einen narrativ konstruierten ›blinden Fleck‹ der Fokalisierung zur Diskussion stellt. Zusammengefasst artikuliert der Text über die Camilla-Figur eine Gegenstimme, die sich nicht nur am Kolonialismus abarbeitet, sondern darüber hinaus mentalitätsgeschichtliche Zusammenhänge aufdeckt, die sich vom Kolonialismus über den Nationalsozialismus bis in die Gegenwart bahnen. Über ihre Stimme wird Kritik laut an einem unreflektierten Umgang mit Gedächtnis und Geschichte, wie z.B. von den Bewohnern und Gästen der Purtschellerhütte angesichts der Gedenktafel. Die Hüttenwirtin Marlies weicht etwa der Frage nach deren Herkunft aus. Sie wisse nur vage, dass die Tafel »[i]rgendwos über d’Purtscheller« preisgebe, nicht sie, sondern ihr »Vuagänga« habe sie hinterlassen (»Glesen hab i des ned« [U 121]). Schließlich eskaliert die Szene in einem Wutausbruch Camillas, die »das Passepartout von der Wand« entfernt und »es mit solcher Wucht auf den Boden« wirft, »dass es in tausend Stücke zerbrach.« (U 122) Auf diese Aktion folgt ein hitziger Streit mit einem der Gäste, der Fritz’ Vermutung nach »wegen seines Idols verärgert war« und sich auf ein Wortgefecht mit Camilla einlässt, das ihrerseits jedoch weniger mit Worten ausgetragen wird, sondern in einem Schlagabtausch gipfelt, der
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sowohl den »Mesner« als auch einen seiner Mitstreiter, der »einen Schlag gegen sein Kinn« erhält, »zusammensacken ließ.« (U 122f.) Eine Kritik am unreflektierten Gedenken ist darüber hinaus in der Raumsemantik des Textes realisiert. Allerdings gibt der Roman nur wenig preis über die geographische Lage des tatsächlichen, auf 1692 Meter gelegenen Purtschellerhauses, das auf der Staatsgrenze, sich also sowohl in Österreich als auch in Deutschland befindet.72 Wenn die Topographie dieser Passage analog als Gedächtnisstruktur gelesen wird, so thematisiert der Roman topologisch über die Raumordnung auch Fragen nach den deutsch-österreichische Verstrickungen nicht nur im Kolonialismus, sondern zugleich im Nationalsozialismus sowie ihre Spuren, die bis ins kollektive Gedächtnis der Gegenwart reichen. Auf einer topographisch vertikalen Raumachse steht die Abgeschiedenheit der Hütte in diesem Sinne zugleich für die Marginalität dieser Thematik im kollektiven Gedächtnis. Das Verhältnis von Kolonialismus und Nationalsozialismus verhandelt der Roman besonders am Beispiel der Binder’schen Familiengeschichte. Die egozentrische Perspektive des Erzählers ist in einer Weise fokussiert auf die Geschichte Hagebuchers, dass in der Biografie der Familie blinde Flecken entstehen und folglich Fragen nach Verwicklungen einzelner Familienmitglieder während der Zeit des Nationalsozialismus’ einem Verschweigen oder ›Nicht-reflektieren-Wollen‹ anheimfallen. Der Text verhandelt diese Leerstelle insbesondere über die Figur des Großvaters August Ködling, den »Nazischwiegersohn« (U 126), den die Erzählinstanz durchweg negativ beschreibt. Mehrfach ist vom »fette[n] Schwiegersohn« (U 100) die Rede, darüber, wie »[f]eist« (U 148), »[w]ie jung er war, wie klein und dick.« (U 212) Die Beschreibung der Äußerlichkeit, die deutlich im Kontrast zur hageren Gestalt Hagebuchers steht (vgl. U 9, 112), lässt Ködling zum Fremdkörper in der Familiengenealogie werden. Wenn Fritz an späterer Stelle feststellt, Ködling habe seine Großmutter wohl geliebt, so tut er dies nur, um diese positive Zuschreibung zugleich spöttisch-ironisch zu unterlaufen und Ködling als Faschisten und Antisemiten bloßzustellen: Er küsste sie, er grabschte mit seinen Händen nach ihren Brüsten und sagte: Ich liebe Dich, aber mehr noch liebte er seine Uniform. In ihr schlenderte er Tag und Nacht durch Erfurt, in ihr verwünschte er die Judensäue, in ihr nahm er sich die Tochter zur Frau, in ihr wanderte er mit dem Veilchenzüchter allein durch den Thüringer Wald. Was dann geschah, konnte unmöglich vorausgeahnt werden, das war höhere Gewalt. (U 213)
72 Vgl. dazu die Selbstauskunft des Purtschellerhauses: http://www.purtschellerhaus.eu/ wordpress/?page_id=24; so auch http://www.purtschellerhaus.de [Stand 15.11.2016].
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Der Blick des Erzählers gilt demzufolge weniger den Verstrickungen der Familie in die NS-Geschichte nach außen, sondern der Kritik an der Familienbiografie nach innen, die mit Ködling eine »Negativ-Figur« (Dunker 2012a: 164) erhält. Allerdings reflektiert diese Seite der Biografie auch der Enkel Fritz nicht. Vielmehr wird ein enormer erzählerischer Aufwand betrieben, um die Ködling-Figur innerhalb der Familiengeschichte zu marginalisieren, deren körperliche Erscheinung, wie oben beschrieben, bereits eine Devianz darstellt. In diesem Zusammenhang ist auch die Beschreibung einer Fotografie zu sehen, die Fritz aus dem Nachlass der Mutter erhalten hatte. Auf merkwürdige Weise sind hier Täter- und Opferrolle invertiert: Mein Großvater, August Ködling. Feist blickt er in seiner Naziuniform in die Kamera, gänzlich unberührt davon, dass er nur noch kurze Zeit zu leben hat. Täter und Opfer ganz nah beieinander, hatte Michael einmal gesagt, aber noch stören die Zeugen, später dann: ein perfekter Mord. Andere sprechen von einem tragischen Unfall. Ködling, das Unfallopfer, Hagebucher, der trauernde Schwiegervater. Wenige Jahre nach dem Absturz des Geschäftsnachfolgers ist die Gärtnerei verpachtet worden. (U 148)
In der Familiengeschichte ist in Fritz’ Augen kein Platz für Nazis, für »Vatermörder« (U 149), wie es heißt, dessen »Vornamen« er sich »noch nie habe merken können.« (U 148) Um Großvater Ködling rankt vor allem das Rätsel seines Ablebens, da er während eines Ausflugs in die Berge auf ungeklärte Weise tödlich verunglückte. Wieder ist es der Freund Michael (vgl. II.3.2.3), der keinen Zweifel am Bild Hagebuchers lässt. Michael ist davon überzeugt, der Urgroßvater habe dem »Nazischwiegersohn«, ungeachtet der ergebnislosen »Nachforschungen der Polizei«, schließlich »einen Tritt versetzt. Einen kleinen, aber wirksamen Tritt gegen den Lauf der Welt.« (U 126) Die Darstellung der Ködling-Figur dient also im Roman weniger dazu, eine kritische Perspektive auf die Familienbiografie und auf familiäre Mittäterschaft zu werfen, denn vielmehr dazu, ihn, den »eingeheiratete[n] Nazi« (U 216), als Außenseiter und Fremdkörper zu isolieren und dadurch Bereiche im Familiengedächtnisses zu verdunkeln und Fragen nach der Verantwortung der eigenen Familie für Verbrechen im Nationalsozialismus abzuwehren. Auch wenn Hagebucher im Kontext der Kolonialgeschichte als »Mitläufer« (U 135) bezeichnet wird, so blendet die Erzählinstanz konsequent die mögliche Mitverantwortung des Urgroßvaters in der NS-Zeit aus (vgl. Dunker 2012a: 169). Über das Bildmotiv des ›Mitläufers‹, das im Verlauf des Romans mehrfach auftaucht (U 135, 144, 155, 157), wird der Umgang mit dem Familiengedächtnis dennoch thematisiert, was über den Urgroßvater eine Spur von der deutschen Kolonialgeschichte, über die Generationen der NS-Zeit bis in die Gegenwart legt und das Erzählte sowie den Erzähler selbst der Kritik aussetzt: »Ich renne an gegen Camillas Verdacht, der Urgroßvater gilt, unausgesprochen aber auch mir. Sie sagt nicht: Urgroßvater war ein
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Mitläufer, aber wenn ich ihr Gesicht sehe, ahne ich, dass sie seinem Leben eine andere Deutung gibt als Michael.« (U 135) Wie an anderer Stelle bereits diskutiert (vgl. II.3.2.3), will Fritz Binder »dieser Sache gerade nicht auf den Grund gehen«, wie Dunker erkannt hat, »er will nicht wissen« (Dunker 2012a: 169). Von diesem Willen zum Schweigen ist auch die Wiederholung des Berglaufs geprägt. Seine Haltung, sein egozentrischer Blick auf die Familiengeschichte verhindern eine kritische Sicht auf neokoloniale Strukturen und Machtbeziehungen, die im »Kilimandscharo Benefit Run« unter dem Deckmantel von Tourismus und Entwicklungshilfe fortbestehen. Vor diesem Hintergrund ist auch das Statement »Mein Kilimandscharo. Mein Kampf« (U 213)73 zu lesen, das im Zustand des mit der Höhenkrankheit eintretenden ›Schwindels‹ dem Erzähler ins Bewusstsein dringt: Welcher Faden führt da hindurch? Abenteurer, Geschäftsmann, mutmaßlicher Mörder, Pantoffelheld! Sie [die Mutter, J.O.] hat es so gewollt. Ich fülle die Lücken auf. Reime mir das alles zusammen. Mein Kilimandscharo. Mein Kampf. Na und? Mondberg ist auch ein falsches Wort. (U 213)
Der ›rote Faden‹ verbindet dabei Kolonialismus, Nationalsozialismus und Gegenwart. Diese ›Ästhetik des Schwindels‹ setzt die Zweifel am Familiennarrativ in Szene, die Fritz während des Bergaufstiegs kommen. Paradox erscheint demzufolge, dass gerade der Schwindel ans Licht bringt, was der Erzähler zuvor unkritisch übersehen hat, wenngleich dieses schwindelnde Erzählen dadurch keinesfalls zuverlässiger ist. Es erlaubt allerdings eine kritische Lektüre der Familiengeschichte. Im Taumel der von der Höhenkrankheit ausgelösten Gedanken reiht der Text Versatzstücke aneinander, die einen deutlichen Zusammenhang stiften: Ausdrücke wie »Es war einmal ein Nazi« oder Fragen wie »Zu welcher Bande gehörte Dein Papa denn? Was für eine Uniform trug er?« und »Hat das denn nie ein Ende?« (U 198) umkreisen den »blinden Fleck[ ]« (Beck 2011: 63) im Familiengedächtnis, der am Berg in Verhandlung tritt.74 Zum Schluss dieser Passage über das kommunikative Gedächtnis der Familie heißt es:
73 Für Dunker stellt dieses Motiv »eine deutliche Verbindung her[ ] zwischen dem Treiben der Europäer an diesem Berg, dem Kolonialismus und dem Nationalsozialismus.« (Dunker 2012a: 165) 74 Beck sieht im offenen Rassismus der kolonialen Figuren in Usambara eine mentalitätsgeschichtliche Disposition und Verbindungslinie zum Nationalsozialismus: »Einerseits kann durch diese Parallelisierung der Eindruck entstehen, dass der Nationalsozialismus innerhalb eines linearen Geschichtsverständnisses als logische Konsequenz des bereits im
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Die Erinnerungen sind von der Urgroßvaterstimme in die Mutterstimme und von da in meinen Kopf hinein gewandert. Gespeichert, jederzeit abrufbar. In diesen Stimmen stecken noch ganz andere, von weit her aufgelesene, dann einverleibte. Mordserien. Wortketten. Lebensmärchen. Nun mal langsam (U 198f.),
Mit den ›anderen aufgelesenen Stimmen‹ ist dabei nicht nur jenes Wissen gemeint, das sich über die Literatur (Reiseberichte, Romane) in das Familiennarrativ eingesenkt haben.75 Die Passage evoziert zugleich kontrapunktisch das Motiv des Verschweigens und Verschleierns, des Nicht-Sehen-Wollens. In dem Gedanken »mit Worten waren wir aneinander gekettet, wir bildeten eine unzertrennliche Wortfamilie« und dem Gelübde »Familiengeheimnisse bleiben unter uns« (U 216) kommt eine Bedeutungsschicht des Gedächtnisses ans Tageslicht, die Laura Beck zufolge […] einerseits die über das Erzählen erreichte Bindung zwischen den Familienmitgliedern, die Wichtigkeit der Überlieferung aus[drückt], andererseits jedoch wird auf die erdrückende gemeinsame Gefangenschaft im Schweigen über eine schuldhafte Vergangenheit angespielt, in der nicht nur die Figuren mit Wortketten verbunden sind, sondern auch die Wörter, die Sprache als solche in Ketten liegen. (Beck 2011: 80)
Der Schwindel kehrt gewissermaßen verdrängte Seiten des Unbewussten hervor, jene Gedächtnisschichten des Palimpsests, die sowohl bewusst als auch unbewusst im kommunikativen Gedächtnis der Familie entweder verschwiegen oder aber verharmlost und beschönigend überblendet werden. Der Topos vom »Gutleben« (U 212f.), der dem Enkel Binder beim Bergaufstieg ins Bewusstsein tritt, steht symbolisch für die Verschattung der negativen Kapitel des Familiengedächtnisses. Am symbolischen Ort des Berges laufen somit die Linien des Gedächtnisses zusammen. Im Motiv des ›Schwindels‹ thematisiert der Roman nicht nur den Wahrheitsstatus des Familiennarrativs, sondern insbesondere auch die Frage nach dem Stellenwert des Nationalsozialismus im kommunikativen Gedächtnis der Familie. Die Ködling-Figur erlaubt noch eine weitere Lesart, die sowohl Kolonialismus und Nationalsozialismus als auch Fragen nach deren Kontinuität in der Gegenwart verschaltet. Axel Dunker, der in seinem Beitrag zur intertextuellen Verweisstruktur
Kolonialismus präsenten Rassismus gedeutet werden kann. […] Möglicherweise nimmt der Nationalsozialismus daher in Usambara eine ähnliche Rolle ein wie der Kolonialismus bei Raabe – die eines blinden Fleckes.« (Beck 2011: 63, vgl. 76f.) 75 Vgl. zu dieser Passage auch die Ausführungen Dunkers (2012a: 169f.).
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in Usambara auf das Potential der Denkfigur des Palimpsests eingegangen ist, erkennt in der Figur des Großvaters August Ködling einen intertextuellen Bezugspunkt zu Wilhelm Raabes Erzählung Zum wilden Mann (erst. 1885/2006). Nicht nur verweist die intertextuelle Spur zu Raabe auf »die koloniale Thematik als gemeinsames Drittes« beider Texte (Dunker 2012a: 164).76. Innerhalb des Figurenensembles von Usambara ist Ködling ein Bindeglied zwischen Kolonialismus und Nationalsozialismus. Aus diesem Blickwinkel erscheint Usambara als Palimpsest, in dessen Handlungs- und Konfliktstruktur der Hypotext Raabes interpoliert worden ist, um die Erinnerungskomplexe Kolonialismus und Nationalsozialismus zu verkoppeln. »Dieser intertextuelle Hintergrund der Ködling-Figur ist […] als impliziter Kommentar zur vieldiskutierten Frage zu lesen, die Hamann in einem Interview Uwe Timm gestellt hat, nämlich ob es eine Verbindung gibt ›zwischen deutscher Kolonialherrschaft und Shoah‹.« (Ebd.: 164f.) Dunker kommt zu dem Schluss: Es ist der Raabe-Subtext, der – intertextuell – ein latentes Unbehagen gegenüber der Beeinflussung der Gegenwart durch die Vergangenheit in den Roman einführt. So wie ›Le Vaillant‹ bei Raabe eine Chiffre darstellt für den moralischen Schuldzusammenhang, so werden bei Hamann die Raabe-Bezüge zu einer Chiffre für ein bestimmtes Verhältnis von Gegenwart und nicht aufgearbeiteter Vergangenheit. In Hamanns Roman ist das der nach wie vor unaufgearbeitete und damit unaufgelöste Komplex von Kolonialismus – Nationalsozialismus – Gegenwart. Die Gegenwart ist Produkt der Vergangenheit, nicht aufgearbeitete Denk- und Wahrnehmungsstrukturen der Vergangenheit strukturieren noch das Verhalten in der Gegenwart. (Ebd.: 170)
Zusammengefasst ist der Berg in Usambara ein komplexer symbolischer Erinnerungsort, an dem historische Linien zusammenlaufen und sich überlagern, Ungleichzeitigkeiten gleichzeitig bzw. wie in einem Palimpsest erscheinen, um in der Beziehung historischer Kontexte sowohl mentalitätsgeschichtliche Kontinuitäten als auch den Umgang mit Geschichte und Gedächtnis zu problematisieren. In dieser Kontinuität liegt gleichsam die Gefahr der Wiederholung von Geschichte, die, einer Travestie vergleichbar, lediglich ihre Gestalt, nicht aber ihre Vorzeichen geändert hat: »Damit geht alles so weiter wie immer«, argumentiert Dunker mit dem Roman, »was nach Walter Benjamin bekanntlich die Katastrophe ist: auch den Kilimandscharo Benefit Run wird es wieder geben« (Dunker 2012: 169), wie der Text selbst zum Schluss preisgibt: »Schmolke & Co. wollen die Regeln noch verfeinern, damit
76 Siehe auch weitere Verweise zu Wilhelm Raabes Romanen Abu Telfan oder Die Heimkehr vom Mondgebirge (erst. 1867/1951) und Stopfkuchen. Eine See- und Mordgeschichte (erst. 1891/2004) bei Dunker (2012a: 160–164).
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noch mehr ins Ziel gelangen als dieses Mal. Und noch mehr Schwarze anheuern.« (U 257)
Schluss
Das Palimpsest ist eine Schrift über Schriften. Die Besonderheit seiner Metaphorik zeigt sich nicht nur in einem Textverständnis, das die Bedeutung eines Textes erst in seiner Beziehung zu anderen, älteren erkennt. In einem weiteren Sinne verbildlicht das Palimpsest eine dynamische Vorstellung von Text, die auf Entgrenzung hinausläuft: auf ein komplexes, unendliches Wechsel- und Widerspiel von Bedeutung, das in einem dialogischen Verhältnis von Absenz und Präsenz auf »die Offenheit bzw. prinzipielle Unabgeschlossenheit des latenten Sinns hindeute[t]« (Winkgens 1994: 40).1 Dem Text als Palimpsest sind unter seiner Oberfläche kontrapunktisch »die Spuren einer gegenläufigen Wertung eingeschrieben« (ebd.). Literatur als Palimpsest zu lesen, heißt Spuren zu verfolgen, ohne Kohärenz und Eindeutigkeit zu suchen. Die Palimpsest-Lektüre ergründet den Text gerade in seinen Spalten, Rissen und Verwerfungen, sie rückt das Widersprüchliche und Mehrstimmige in den Blick. Mit dieser Metaphorik hat das Palimpsest bis heute für ganz unterschiedliche Literatur- und Kulturtheorien Modell gestanden, um Vorstellungen wie Gedächtnis, Geschichte und Kultur als Text zu begreifen. Im Bild der Überlagerung und Überschreibung trägt die Schichtmetaphorik des Palimpsests der Komplexität kultureller Phänomene und Prozesse Rechnung. Die vorliegende Studie hat die kulturgeschichtliche Genese der PalimpsestMetapher und ihr semantisches Potential nachgezeichnet, um einerseits konkrete Anschlüsse an postkoloniale Perspektiven herauszuarbeiten. Andererseits konnte gezeigt werden, dass das Palimpsest im Kontext postkolonialer Studien keine Un-
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An dieser Stelle sei wiederholt das Zitat Lachmanns angeführt, in dem sie die Rolle des »Intertext-Entzifferer[s]« beschreibt: »Den Intertext-Entzifferer interessiert sowohl das Zusammenspiel der Fragmente, die Rekonstruktion der jeweiligen Textensembles, denen sie angehört haben mochten, als auch der Parcours durch die Schichten, die Exploration der Grund- und Bodenlosigkeit der Schreibfläche.« (Lachmann 1990: 49)
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bekannte darstellt, da es seit den 1990er Jahren in einer Reihe von Arbeiten Einzug gehalten hat. Dass dies kein Zufall ist, sondern auf seinem semantischen Potential beruht, belegt eine grundsätzliche Affinität des Palimpsests zu postkolonialem Denken, die mit dieser Arbeit erstmals in der Breite theoretisch aufgearbeitet wurde. Auch im Zusammenhang mit Modellen kultureller Identität wird die Palimpsest-Metapher für postkoloniale und interkulturelle Perspektiven interessant. Ihre kritische Leistung liegt darin, vermeintlich feste, absolute Kategorien und Ordnungen zu irritieren, so zu ihrer Hinterfragung beizutragen bzw. sie – im Idealfall – zu dekonstruieren. Kulturen als Palimpsest zu denken, provoziert folglich traditionelle Denkmodelle, die auf Homogenität, Kohärenz und Abgrenzung basieren. Hierin liegt ein explizit grenzüberschreitendes Potential: Im »Palimpsest-Gedanken« (Bhatti 2012: 185) wird ein »Denken-wie-üblich« zur Disposition gestellt (Schütz: 2002: 79; vgl. Heimböckel 2013a: 20),2 ein Denken also, das gewohnt ist, von »geschlossenen Kulturmonaden« (Bhatti 2012: 186) auszugehen und das Kultur nur im Singular versteht. An dessen Stelle rückt das Palimpsest ›Kultur als Verflechtung‹, ›Überlagerung‹ und ›Überlappung‹ und damit eine Vorstellung, die Kulturen als »plurikulturelle[s] Gebilde« (Bhatti 2015: 119; 2005: 31) und »als historisches Resultat von vielen Schichtungen begreift.« (Bhatti 2012: 185) Dieser Gedanke rekurriert dabei auf ein spezifisch diachrones Verständnis von Interkulturalität, das nicht zeitlich-linear in prozessualen Entwicklungsstufen zu fassen ist, sondern von Gleichzeitigkeiten des Ungleichzeitigen ausgeht und dabei grenzüberschreitend wie
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Die Überlegungen des Soziologen Alfred Schütz (2002) sind kürzlich von Dieter Heimböckel aufgegriffen worden. Demnach bedeute Interkulturalität »der (kultur-) anthropologische Ausbruch aus dem Denken-wie-üblich.« (2013a: 20) Diese Auffassung von Interkulturalität hat der Autor zusammen mit Manfred Weinberg in einem späteren Beitrag wie folgt ausgeführt: »Dem liegt ein Verständnis von Interkulturalität zugrunde, das sich als Methode zur Umgestaltung bestehender Denk- und Handlungsformen versteht und das sich darauf einlässt, landläufige Selbstverständlichkeiten und Sehgewohnheiten zu hinterfragen. […] Im Denken-wie-üblich ist das Fremde das aufgefasste Andere. Es ist wie das Eigene eine Setzung, dessen das Denken-wie-üblich bedarf, damit es sein Üblichsein bewahrt. Interkulturalität hinterfragt daher Repräsentationen des Eigenen und Fremden nicht – sie hätte ansonsten einen Begriff davon –, sondern setzt deren Dekonstruktion voraus. Dazu gehört auch, dass sie das mit dem Eigenen und Fremden vermittelte Wissen in Frage stellt. Das, was gilt und was nicht gilt (denn dies ist das durch die Geltung Ausgeschlossene), übersetzt sie in eine Sprache, die dem Denken-wie-üblich unvertraut ist. Interkulturalität ist Übersetzung in eine unvertraute Sprache – und das heißt in eine Sprache, die davon absieht weiterzuwissen.« (Heimböckel/Weinberg 2014: 123f.; vgl. Heimböckel 2013a: 20–22)
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pluralisierend die Komplexität von Kulturen – und damit auch von Interkulturalität – vor Augen führt. In der Vorstellung von ›Kultur als Palimpsest‹ liegt daher ein erkenntnistheoretisches Potential, das Anschluss findet an aktuelle Debatten im Forschungsfeld der Interkulturalität, in denen Begriffe wie ›Differenz‹ und Topoi ›interkulturellen Verstehens‹ zunehmend in die Kritik geraten und Zweifel laut werden an ihren Basiskategorien (z.B. ›Eigenes‹/›Fremdes‹), die häufig Gefahr laufen, ihrem binären Grundprinzip zu erliegen, statt zu ihrer Infragestellung beizutragen. Die kulturtheoretischen Überlegungen dieser Arbeit leisten einen Beitrag auf der Ebene der Entwicklung theoretischer Modelle und Denkfiguren im Kontext gegenwärtiger Ansätze zur Intertkulturalitätsforschung, die Konzepte wie »Ähnlichkeit« (Bhatti/Kimmich 2015; Bhatti 2015 u.a.), »Nichtwissen« (Heimböckel 2012) und/oder den »Projektgedanken« von Interkulturalität ins Zentrum stellen (Heimböckel 2013; Heimböckel/Weinberg 2014). Das dekonstruktive Potential des Palimpsests entfaltet sich sowohl in theoretischen als auch in textanalytischen Überlegungen innerhalb eines »poststrukturalistische[n] Diskurs[es] der Subversion«, den Thomas Ernst in seiner kürzlich publizierten Studie Literatur und Subversion (2013) für die Gegenwartsliteratur beschrieben hat: Der poststrukturalistische Diskurs der Subversion versteht Subversion als die Dekonstruktion überlieferter Kategorien wie Geschichte, Identität oder Wahrheit. Im wissenschaftlichen Spezialdiskurs plädiert er für die Unabschließbarkeit von Lektüreprozessen, die Abwesenheit von Sinnzentren, die es aufzuspüren gelte, er macht sich auf die Suche nach dem Ausgeschlossenen, Widersprüchlichen und Unentscheidbaren. In Anwendungsbereichen wie den Gender, Queer und Postcolonial Studies werden zentrale Kategorien der abendländischen Geistesgeschichte dekonstruiert. Literarische Texte können sich in den dekonstruktivistischen Diskurs der Subversion einschreiben, wenn sie die Größen ›Mann‹/›Frau‹, ›Eigene‹/›Fremde‹ sowie die Figur des/r Autors/in in Frage stellen, in Widersprüche verstricken, parodieren und somit als bedeutungstragende Einheiten dekonstruieren. (Ernst 2013: 156)
Erlaubt das Palimpsest, wie im Bereich seiner Theoretisierung (I.) gezeigt, vielfältige Anschlüsse an Theorien zu Kultur, Text, Gedächtnis und Geschichte, so stand im Mittelpunkt einer postkolonialen Lektüre (II.) der Versuch, den analytischen Zugriff mithilfe der Palimpsest-Metapher anhand der Kategorien FIGUR, RAUM und ERZÄHLEN zu verdeutlichen. Für die Analyse eines ›palimpsestartigen Erzählens‹ erwiesen sich die theoretischen Überlegungen als fruchtbar: Zum einen nutzen die gewählten Beispiele aus der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur Strategien komischen Erzählens, um koloniale ›Vorbilder‹ und typische Mythen der Koloniali-
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sierung zu überzeichnen und sie in ihrer Verrückung ironisch vorzuführen. Über die komische Figureninszenierung legen die Texte jene Bereiche des kolonialen Begehrens auf absurd-komische Weise bloß, die im kolonialen Diskurs entweder verschwiegen oder aber mythisch verklärt und überblendet wurden. Von solchen Verschiebungen sind zum anderen auch räumliche Ordnungen betroffen. Die Überlagerung von Heimat und Fremde führt zur Irritation und Deplatzierung typischer Kolonialphantasien, deren Konstruktcharakter die Texte als »imaginäre Geographie[n]« (Said 2012: 70) ausstellen. Darüber hinaus diente das Palimpsest dazu, eine besondere Spielart der Text-Text-Relation (›Hypertextualität‹) darzustellen. Unter ›rewriting als Palimpsest‹ ließen sich verschiedene Modi der Überschreibung unterscheiden, wodurch zugleich ein Beitrag zur Diskussion, Differenzierung und Reformulierung des rewriting-Begriffs zur Analyse deutschsprachiger Gegenwartsliteratur geleistet werden konnte. Eine weitere Ambivalenz von Geschichte galt es in einem besonderen Phänomen der zeitlichen Überlagerung zu untersuchen. Sowohl in Christof Hamanns Usambara (2007a) als auch Thomas von Steinaeckers Schutzgebiet (2009) und in Christian Krachts Imperium (2012) wird über das koloniale Sujet das Thema Nationalsozialismus verhandelt. Die Romane reflektieren auf unterschiedliche Weise die Kontinuitäten kolonialen Denkens, dessen Spuren sie über die NS-Zeit hinaus bis in die globalisierte Gegenwart hinein nachgehen und in ein kritisches Licht rücken. Die Analyse vermeidet es dabei, Literatur auf Kosten heuristischer Deduktion zu reduzieren. Dass Texte ihre je eigene Palimpsest-Lektüre einfordern, die es an weiteren Gegenständen exemplarisch zu beschreiben gilt, mag zu weiterer Forschung anregen. Eine Ausweitung der Perspektive auf weitere Texte und deren Analyse wäre vor diesem theoretischen Hintergrund sicher lohnend. Ein Beispiel wäre Thomas Stangls Roman Der einzige Ort (2006), der im Horizont der Gegenwartsliteratur zu den ästhetisch anspruchsvollsten Texten gezählt werden kann. Stangls Roman böte eine Reihe von Perspektiven auf Literatur als Palimpsest, auf die im Rahmen dieser Schlussüberlegungen leidglich im Sinne eines Ausblicks hingewiesen werden kann. Eine Passage zu Beginn des Romans ruft einige semantische Merkmale des Palimpsests auf; im Bild der wiederholenden Überschreibung wird etwa metafiktional das Erzählen an sich infrage gestellt. Stangl geht es an dieser Stelle um die Grenze von Repräsentation. Er führt vor Augen, wie das Fremde im Prozess der Annäherung bereits im Schwinden begriffen ist, weil diese immer nur vom Eigenen her erfolgt und so jeder Versuch unweigerlich in der eigenkulturellen Perspektive befangen bleiben muss. Im Entdecken als Vorgang von Verstehen, im Schreiben und Erzählen, wird das Fremde als Fremdes gleichsam aufs Spiel gesetzt. Bei Stangl heißt es:
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Die erzählerischen Gesetzmäßigkeiten, denen Reisen ans Ende der Welt folgen müssen, sind vielleicht Rückstände halb vergessener magischer Rituale, und jede der Reisen stellt die Wiederholung und Variation früherer Reisen dar; das Wirkliche folgt nur (bis zur Ermüdung) durch die Geschichte hindurch diesen Gesetzen. Der Reisende hat Mühen, Verzögerungen und Todesgefahren zu überwinden, eine Abfolge von öden Wegstrecken wie Schichten von Leere; er hat Verletzungen, eine Art von Zerstückelung zu überstehen, einen äußersten Verlust, dem ein zweifelhafter Gewinn gegenübersteht; er muß, um etwas zu entdecken, zerstören, was er entdecken will, oder seinen eigenen Wunsch zerstören, etwas zu entdecken: ein Feld von Möglichkeiten zwischen dem Realen und dem Imaginären, zwischen dem Mord, der Entzauberung und Enttäuschung und der Selbstauslöschung. Das Fremde und der eigene Traum von der Fremdheit (das Gleichgewicht zwischen dem Eigenen und dem Fremden) stehen auf dem Spiel, die Namen drohen sich von geheimnisvollen Chiffren in bloße Bezeichnungen zu verwandeln. (Stangl 2006: 13f.)
Ein weiteres Beispiel wäre Thomas Meineckes 2011 veröffentlichter Roman Lookalikes. In diesem beschreibt Meinecke seine ›Nachfahrt‹ auf den Spuren des Autors Hubert Fichte und der Fotografin Leonore Mau, die 1971 in Bahia beinahe ein Jahr verbrachten, um ethnologische Aufzeichnungen über den Candomblé anzufertigen. Diese fanden u.a. Eingang in Fichtes Texte Xango (1976) und Explosion (1993) (vgl. Gerstner 2016; Bierwirth 2012). Wenn sich in Lookalikes ein Erzähler in der dritten Person als Meinecke selbst zu erkennen gibt, so spielt der Text über die Autofiktion zugleich poetologische Reflexionen durch, die den Umgang mit literarischen Versatzstücken, also den Akt des ›Palimpsestierens‹, thematisieren: »Fichte überschrieb Amado, ich überschreibe Fichte, denkt Thomas Meinecke. Das Leben als Palimpsest.« (Meinecke 2011: 23; Hervorh. i. Orig.) Auf die literarischen Verfahren von Meineckes »Fichte-Palimpsest« (Bierwirth 2012) ist seitens der Forschung bereits eingegangen worden (vgl. ebd.; Gerstner 2016). Das kurze Zitat Meineckes verweist auf eine interessante Perspektive von Literatur als Palimpsest. Gemeint ist das Moment poetologischer Selbstreflexion über das Schreiben. Eine mögliche Anschlussforschung wäre demnach auf die Frage nach einer expliziten ›Palimpsest-Poetik‹ auszuweiten, die poetologische Aussagen über das Schreiben, also ›wie‹ aus Sicht der Autorin bzw. des Autors überschrieben wird, in den Blick rückt. 3 Diese Frage gewinnt angesichts einer Vielzahl poetologischer Textsorten an Relevanz. Zu diesen zählen u.a. Interviews,4 Essays5 sowie Poetik-
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Zu der Unterscheidung zwischen ›expliziter‹ und ›impliziter Poetik‹ vgl. Titzmann (1993: 216). Einige Aspekte dieser Forschungsperspektive wurden bereits in Ansätzen unter dem Aspekt rewriting diskutiert (vgl. II.4.1).
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Hervorzuheben sind die Interviews von Uwe Timm, die sich auf seinen Roman Morenga (1978) beziehen (vgl. Ricordan/Timm 1999; Hamann/Timm 2003; Hamann/Mein/Timm
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vorlesungen.6 So haben Autorinnen und Autoren wie Hans Christoph Buch, Christof Hamann, Felicitas Hoppe, Daniel Kehlmann, Thomas Stangl und Ilija Trojanow zum einen Romane verfasst, die sich mit Kolonialismus auseinandersetzen. Zum anderen haben sie unterschiedliche Texte publiziert, in denen sie ihren Umgang mit historischen Stoffen und Prätexten reflektieren und dabei auch explizit postkoloniale Fragestellungen thematisieren. Die hier genannten Beispiele eröffnen interessante Perspektiven, um etwa nach dem Zusammenhang zwischen literarischer Produktion, poetologischer Selbstreflexion und postkolonialer Theorie zu fragen. Das Palimpsest könnte auch hier eine theoretische Denkfigur bereitstellen, um Schreibbzw. Überschreibstrategien oder interkulturelle Perspektiven auf Schreibprozesse zu veranschaulichen. Vor allem aber als Metapher für solch eine Poetik steht das Palimpsest für Grenzüberschreitung: Sie zeigt das Schreiben über das Fremde als ein reflexives Nachdenken über Kultur, das sich seiner niemals sicher ist, sondern die eigenen Grenzen im Schreiben bewusst aufs Spiel setzt. In diesem Verständnis vermag die Literatur, ein spezifisch interkulturelles Potential zu entfalten, indem sie etwa Vertautes fremd werden lässt und »sich darauf einlässt, landläufige Selbstversändlichkeiten und Sehgewohnheiten zu hinterfragen.« (Heimböckel/Weinberg 2014: 123). Uwe Timm hat nicht nur mit seinem Roman Morenga einen Schlüsselroman der deutschsprachigen postkolonialen Literatur verfasst. In seinen poetologischen Überlegungen zur ›Ästhetik des Alltags‹ hat er zudem auf die Möglichkeit einer »Destruktion des Selbstverständlichen« in der bzw. durch die Literatur hingewiesen, die Raum für Widerstand und Widerspruch eröffnen kann. Aus dieser Destruktion […] kann sich ein Blick entwickeln, der auf einer kritischen Distanz zum Zeitgeist bleibt und das Gewöhnliche ungewöhnliche zeigt. Ein ästhetischer Blick – eine Form des Erzählens –, durch die sich die Wahrnehmung für das schult, was sonst unbemerkt bleibt – oder was sich als ideologisch Selbstverständliches in die Wahrnehmung einschleicht. Diese Haltung ist jenem kritischen, subversiven Erzählen im Alltag vergleichbar, das sich mit dem Lauf der Din-
2009). Sein poetologisches Konzept der ›Einfühlungsästhetik‹ hat maßgeblich zur postkoloniale Poetik der Gegenwartsliteratur beigetragen. Vgl. auch die Interviews mit Hans Christoph Buch, Alex Capus und Felicitas Hoppe in Hamann/Honold (2009). 5
Eine Auswahl wichtiger Texte sollen nachfolgend genannt werden: Buch (1987), Hamann (2007b, 2009, 2010a, 2010b), Stangl (2009) und Trojanow (2006b, 2009).
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Vgl. u.a. Buch (1991), Hoppe (2010), Ransmeyer (2013) und Trojanow/Zaimoglu (2008). Vgl. allg. den Beitrag »Zur Konjunktur der Gattung Poetikvorlesung als ›Form für Nichts‹« von Johanna Bohley (2011).
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ge nicht einverstanden erklärt, und daraus mag dann auch so etwas wie Widerstand erwachsen.« (Timm 1993: 106)7
Dabei weiß eine solche Poetik um ihre Grenzen und Aporien, die sie selbst- bzw. metareflexiv in der Literatur problematisiert. Das Palimpsest verdeutlicht, dass solch ein Schreiben stets Gefahr laufen kann, durch die Hintertür jenen problematischen Denkmustern ungewollt Einlass zu gewähren. Denn wer ältere Texte überschreibt, setzt sich dem Risiko aus, in die Fallstricke der Wiederholung zu geraten, d.h. koloniale Muster ungewollt zu reproduzieren und somit zur Fortschreibung statt zu ihrer Überwindung beizutragen. Zum anderen steht das Palimpsest dafür, dass ein Anschreiben gegen koloniale Kontinuitäten keinen Horizont hat. Es zeigt das Schreiben in genau dieser Ambivalenz und Spannung, und damit nicht zuletzt als ein nicht abschließbares Unterfangen, kurz: als ›Projekt‹8, dessen Ausgang nicht nur offen und ungewiss ist, sondern als Herausforderung und Wagnis stets aufs Neue geführt werden muss.
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Über das subversive Potential der Literatur schreibt Timm an späterer Stelle: »Wer liest, nimmt für sich eine grundsätzliche Freiheit in Anspruch. Das eben ist Literatur gegenüber der Wirklichkeit: Aussetzen der normativen Zeit, Überfluß und Zufluß an neuen Möglichkeiten und damit an anderen Wirklichkeiten, an Alternativen zum Bestehenden. Das weckt – einmal abgesehen von jedem kritischen, möglicherweise sie in Frage stellenden Inhalt – das Mißtrauen der Herrschenden.« (Timm 1993: 113)
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Vgl. hierzu die Überlegungen zum Projektgedanken bzw. »Interkulturalität als Projekt« von Heimböckel/Weinberg (2014: 121–124) und den Gruppenbeitrag »Kultur als interkulturelle Herausforderung« von Bloch u.a. (2016).
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