Im Hier und Jetzt: Konstellationen der Gegenwart in der deutschsprachigen Literatur seit 2000 [1 ed.] 9783412514709, 9783412505769


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German Pages [365] Year 2019

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Im Hier und Jetzt: Konstellationen der Gegenwart in der deutschsprachigen Literatur seit 2000 [1 ed.]
 9783412514709, 9783412505769

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Valentina Di Rosa · Jan Röhnert (Hg.)

IM HIER UND JETZT Konstellationen der Gegenwart in der deutschsprachigen Literatur seit 2000

BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN WEIMAR

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek    : Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie    ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2019 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Lindenstraße 14, D-50674 Köln Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung  : Lorenzo Scotto di Luzio, „Noi“ [„Wir“]. Installation (1997). Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Künstlers. Korrektorat  : Jessica Paesch, Jena Einbandgestaltung    : Satz + Layout Werkstatt Kluth, Erftstadt Satz  : Michael Rauscher, Wien

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-412-51470-9

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Inhalt Einleitung/en Jan Röhnert

„Gleichzeitig unkonzentriert, aber auch bereit, sich irgendwo zu fixieren.“ · Gegenwartsdiskurse in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur  ................................................................................   13 Valentina Di Rosa

.Zur Lage der Gegenwartsliteratur · Versuch einer Annäherung in Echtzeit    23 Valentina Di Rosa · Jan Röhnert

Zur Struktur dieses Bandes  ...........................................................   35 I. Ästhetik Kritik Vermittlung Jan Urbich

Von der Unmöglichkeit, in der Gegenwart seiner selbst zu leben – und von der Kunst, es doch (nicht) zu tun · Bemerkungen zu einem Problemfeld in der Philosophie und Ästhetik seit dem Deutschen Idealismus  ....................................................................................   43 Carsten Rohde

Ästhetische Debatten im literaturpolitischen Feld der Gegenwart · Ein Überblick in acht Schlag­lichtern  .............   71 Steffen Richter

Literatur und/oder Betrieb · Zur Ökonomie einer alten Debatte mit Neuigkeiten aus Bologna  . . .............................................................   85 Thomas Geiger

Die Kanonisierung des Augenblicks · Oder: Wie neue Literatur ins Gespräch kommt  ...........................................................................   97

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Inhalt

II. Texte Kontexte Lektüren Stephan Turowski

„Am Mauspfad; Autobahnbau“ · Bemerkungen zum Gebrauch des Semikolons in den Gedichten Jürgen Beckers  .............................   105 Romina Nikolić

Der Tod – von allen Seiten · Zur Multiperspektivität in Paulus ­Böhmers Kaddish  ........................................................................   109 Jan Röhnert

Vogelkunde der Poesie? · Empirie und ­Naturwissenschaft bei Hans Magnus Enzensberger, Wulf Kirsten und Michael Krüger  .............   121 Enza Dammiano

„Fortgesetzter Widerstand“ · Volker Brauns ­ästhetische ­Positionierung nach 2000  ............................................................   135 Elisabetta Villano

„Der Unverbundene, der Unbegreifliches spricht“ · Botho Strauß oder das Amt des Dichters im digitalen Zeitalter  .........................   147 Lorenzo Licciardi

Gegen die „Totalmedialisierung“ der Gegenwart · Zu Ulrich Peltzers Poetik des Realismus  .....................................................   159 Valentina Di Rosa

„in jeder Gegenwart auf der Suche nach einer ­Vergangenheit“ · Zeiträumliche Palimpseste in der Lyrik Lutz Seilers  .....................   171 Robert Hain

„da sich alles / an schwarzem Material überlagert“ · Intertextuelle Beziehungen zwischen Marcel Beyers An die Vermummten und Georg Trakls An die Verstummten  .. ..............................................   201 Daniela Allocca

One Day – werden die Meistersinger ­wiederkommen · Poetry Slam oder die Wirkung des Performativen  . . ..........................................   223

Inhalt

Christian Stein

.Literatur im | als Code · Code-Poetry und die ­Ausführbarkeit von Literatur    237 III. Lesungen Gespräche Akzente Literaturkolloquium I Jan Röhnert

„Eine Passage für / die unterschiedlichsten Arten der Gegenwart“ · Jürgen Becker und der poetische Standort im Hier und Jetzt  ......   255 Jürgen Becker

Programmgedicht – Wiederholung – vorläufige Topographie  .......   263 Jürgen Becker

Die Gegenwärtigkeit des Geschriebenen · Jürgen Becker im Dialog mit Valentina Di Rosa und Jan Röhnert  . . ......................................   281 Jürgen Becker

Auszüge aus einem Journalgedicht · (Arbeitsfassung, März 2016)  .  289 Literaturkolloquium II Julia Schoch

Ich, Arrière-Gardistin  . . .................................................................   299 Tom Schulz

FOREVER YOUNG · Das Gedicht im 39. Jahrhundert  ......................   305 Jan Wagner

klatschmohn  ...............................................................................   311 an jona  ........................................................................................   312 muff  ............................................................................................   313 säge  ............................................................................................   314

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Inhalt

„Es ist eben die Art, wie man den Stoff, wie man das Material organisiert.“ · Form, Gattung und Freiheit finden in der Gegenwart · Ein Gespräch mit Julia Schoch, Tom Schulz, Jan Wagner und Kristina Maidt-Zinke   ...............................................................................   315 Literaturkolloquium III Marcel Beyer

An die Vermummten  ....................................................................   327 Liedpostkarte  ..............................................................................   329 Wespe, komm  . . ............................................................................   331 Ich muß  . . .....................................................................................   332 Kathrin Röggla

Tangente  .....................................................................................   333 Ulf Stolterfoth

aggregate  . . ..................................................................................   339 es ist mile end  .............................................................................   340 Zeitgenossenschaft als Zeit- und Sprachkritik · Ein Gespräch mit Marcel Beyer, Kathrin Röggla, Ulf Stolterfoth und Thomas Geiger  .  345 Angaben zu den Autoren  .............................................................   357

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Der vorliegende Band ist Resultat einer Forschungskooperation zwischen der Technischen Universität Braunschweig und der Universität „L’Orientale“ Neapel, die 2015 im Rahmen des Programms „Hochschuldialog mit Südeuropa“ vom Deutschen Akademischen Austauschdienst gefördert wurde. Dafür gebührt dem DAAD unser ausgesprochener Dank. Herzlich gedankt sei ferner all den deutschen und italienischen KollegInnen, NachwuchswissenschaftlerInnen, DoktorandInnen und StudentInnen, die sich am Projekt beteiligt haben. Für die logistische und technische Organisation der Arbeitstreffen in Braunschweig und Neapel danken wir Robert Hain, Monika Urbich, Franziska Reichert, Adele Sorice, Luigia Tessitore. Last but not least danken wir im Besonderen Jürgen Becker, Marcel Beyer, Kathrin Röggla, Julia Schoch, Tom Schulz, Ulf Stolterfoth, Jan Wagner sowie Thomas Geiger und Kristina Maidt-Zinke für ihre Präsenz und engagierte Teilnahme am hier dokumentierten Symposion, das im September 2015 unter dem Titel Im Hier und Jetzt. Ästhetische Positionen und Debatten in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur in Braunschweig stattfand. Die hier versammelten Beiträge verfolgen das Ziel, Konstellationen der Gegenwart in der deutschsprachigen Literatur des 21. Jahrhunderts in einem dialogischen Miteinander von Theorie und ästhetischer Praxis nachzugehen: Auf die literaturwissenschaftlichen Aufsätze, die Teil I und II des Bandes ausmachen, folgt im Teil III das Wort der genannten Autorinnen und Autoren. Im Sinne derselben Gegenüberstellung verschiedener, sich einander ergänzender Blickwinkel und methodischer Herangehensweisen haben wir uns dafür entschieden, anstelle eines gemeinsamen Vorworts zwei parallele Einleitungen voranzuschalten. Valentina Di Rosa/Jan Röhnert Berlin, Mai 2018

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Einleitung/en

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Jan Röhnert

„Gleichzeitig unkonzentriert, aber auch bereit, sich irgendwo zu fixieren.“1 · Gegenwartsdiskurse in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur

Über die Gegenwartsliteratur zu schreiben, ist ein in jeder Hinsicht tückisches Unterfangen, denn epochentypologisch ist nichts so wenig fixierbar wie das, was man, dem dauernden Wechsel ihrer räumlichen und zeitlichen Bezugspunkte unterworfen, jeweils unter Gegenwartsliteratur versteht bzw. verstanden hat. Die Rede von der Gegenwart ist zunächst, rein sprachlich betrachtet, ein schlichtes Produkt deiktischer Verweismomente (‚jetzt‘, ‚hier‘, ‚heute‘, ‚gerade‘, ‚eben‘, ‚noch‘, ,da‘)2, das sich auf den jeweils aktuellen Ausschnitt im Zeitfenster zwischen Vergangenheit und Zukunft bezieht. Wie breit dieser Ausschnitt jeweils ist bzw. sein darf, wie lange er andauert und unter welchen Bedingungen er erkennbar, bestimmbar, ja überhaupt sichtbar ist, hängt von den Prämissen ab, mit denen er eingestandener- oder uneingestandenermaßen von seinen Betrachtern versehen wird. Und zugleich von dem Verhältnis, in dem die jeweiligen Betrachter zur Gegenwart stehen, der sie ja selber unwillkürlich angehören, indem sie sich auf ihren Gegenstand eben als ‚die‘ Gegenwart beziehen. Genau das macht die Angelegenheit so delikat. Die hermeneutischen Schwierigkeiten, sich im Modus der Gegenwart tatsächlich auch über Gegenwart äußern zu können, einmal ganz außer acht gelassen, so liegt doch der fundamentale Unterschied zur Betrachtung von bereits Vergangenem und der Spekulation über Zukünftiges genau darin, dass das, was ich als gegenwärtig diagnostiziere, im selben Moment (noch) im Gange ist, also bereits in Erscheinung getreten, aber eben (auf nicht näher bestimmbare Frist) noch nicht abgeschlossen –, sondern im Gegenteil mindestens nach seinem Ende und Resultat hin offen bleibt. Alles, was aus der so verstandenen Gegenwart heraus 1

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Ann Cotten/Daniel Falb/Hendrik Jackson/Steffen Popp, Monika Rinck: Helm aus Phlox. Zur Theorie des schlechtesten Werkzeugs. Berlin: kookbooks 2012, S. 11. – Siehe dazu den gleichnamigen Kommentar von Ursula März im Deutschlandfunk: https://www.deutschlandfunk.de/ gleichzeitig-unkonzentriert-aber-auch-bereit-sich-irgendwo.700.de.html?dram:article_id=85208 (zuletzt abgerufen 01.08.2018). – Für die unermüdliche redaktionelle Mithilfe an diesem Band möchte ich an dieser Stelle ausdrücklich meiner studentischen Hilfskraft Robert Hain danken. Von diesen gestischen Markern der Sprache geht auch die inzwischen kanonische Einführung zum Zusammenhang von literarästhetischer Gegenwartsfixiertheit und Trends der (deutschsprachigen) ‚Gegenwartsliteratur‘ der letzten Jahrzehnte aus: Eckhard Schuhmacher: Gerade eben jetzt. Schreibweisen der Gegenwart. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2003.

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über Gegenwart gesagt werden kann, ist daher nicht anders als ein vorläufiges Konstrukt zu verstehen. Eingedenk pragmatischer Lösungsvorschläge, das Phänomen unserer „breiten Gegenwart“ (Hans Ulrich Gumbrecht)3 von ‚hier und heute‘ (etwas konkreter: Braunschweig, Berlin und Neapel zwischen Anfang 2014 und Anfang 2018) im Kontext ihrer literarischen Ausformungen und Vergegenwärtigungen und unter jeweils sehr spezifischen Fragestellungen zu verhandeln, teilen die hier versammelten Beiträge das Bewusstsein von der Vorläufigkeit ihrer Analysen und Befunde. Dennoch gibt es gute Gründe, mit einem Begriff der Gegenwartsliteratur zu operieren. Zunächst hat jede Zeit und literarische Epoche immer schon die metadiskursive Verständigung über die literarische Ästhetik ihrer eigenen Zeit und Epoche aus der Sicht der unmittelbaren Beteiligung, also der (vom Standpunkt der Zeitgenossenschaft) „Gegenwart“ enthalten. Gegenwart, die über die ihr eigene Spezifik und Ästhetik nachdenkt, ist kein neuzeitliches, geschweige postmodernes Phänomen, wenngleich das jeweilige Bild von „Gegenwart“ sowohl als Abstraktum wie auch als Zeitspezifikum historisch determiniert ist. „Unsere“ Gegenwart ist nicht die des Rokoko (beispielsweise), weder was ihre allgemeinen Vorstellungen über Gegenwart an sich noch was die bestimmten Vorstellungen jeweils von ihrer, dieser Gegenwart betrifft. Gemeinsam bleibt den historisch bedingten Diskursen über Gegenwart dennoch die Vorstellung jener Lücke des Aktuellen, jenes im Jetzt sich öffnenden, zunächst unbestimmten Spalts zwischen Vergangenem und Zukünftigem, welchen es zu deuten gilt. Dass Gegenwärtigkeit und Verhaftetsein im jeweiligen Punktum der Gegenwart selber schon zu den (Schreib-)Tugenden und ästhetischen Charakteristika einer spezifischen Gegenwart gehören kann, wie dies als „Schreibweise der Gegenwart“ (Eckhard Schuhmacher) für die Moderne und Teile der Postmoderne sowie unserer Gegenwart behauptet worden ist, hat selbstverständlich mit der Sache zu tun und wird auch in den Beiträgen dieses Bandes notwendig zur Sprache kommen, ist aber letztlich schon unterhalb des allgemeinen Diskurses über Gegenwart, der Verständigung, die jede Gegenwart (notwendig unabgeschlossen, vorläufig, paradox …) über, mit und von sich selber führt, angesiedelt. Die „Breite“ der Gegenwart als spezifischer Analysegegenstand im Kontext unseres Bandes meint vor allem den temporär und spatiell überblickbaren Horizont von verschiedensten literarischen Erscheinungen, die allerdings bestimmte, ihnen äußerliche, gleichwohl auf sie und ihre Verfasstheit zurückwirkende Merkmalseigenschaften miteinander teilen: Zumeist in deutscher Sprache auf dem europäischen Kontinent entstanden und erschienen, und zwar weitgehend seit Mitte der 1990er Jahre bis ca. 2015, dem Jahr unserer Kolloquien in Braunschweig und Neapel. Es handelt sich um zwei Jahrzehnte, in denen sich – die politische Wende mit dem Zusammenbruch des Ostblocks, der deutschen Wiedervereinigung und dem Ende des vom Zweiten 3

Hans Ulrich Gumbrecht: Unsere breite Gegenwart. Berlin: Suhrkamp 2010.

„Gleichzeitig unkonzentriert, aber auch bereit, sich irgendwo zu fixieren.“

Weltkrieg geschaffenen europäischen status quo bereits im Rücken – mit der rasanten Popularisierung elektronischer Medien und des Internet die sogenannte digitale Revolution vollzog. Der dramatische Anstieg der Erderwärmung, des Artensterbens und Kollabierens ganzer Ökosysteme samt unabsehbarer Folgen für die globale Nahrungs- und Wasserversorgung, Kriege, Machtverschiebungen und Migrationsprozesse wurde in der Folge einer ungezügelten ökonomischen Wachstumsdoktrin heraufbeschworen – eine Doktrin, welche nach wie vor die globalen wirtschaftlichen Prozesse durchdringt. Der Begriff der ,Globalisierung‘ begann sich als Diskursfigur in allen denkbaren Lebensbereichen und mit allen denkbaren Konnotationen durchzusetzen. Hinzu kommen die insbesondere in Südeuropa virulente Wirtschaftskrise infolge des globalen Börsenkrachs vom Herbst 2008, die von Nahost virtuell (über die Medien) und real (über Terrorakte) spätestens seit dem 11.09.2001 in die laizistischen Kulturen Nordamerikas und Europas hineingetragenen islamistischen Kriege, flankiert von einem Zustrom an Migranten von Nord nach Süd und Ost nach West, denen im Norden und Westen wiederum das Erstarken extremistischer, nationalistischer oder rechtskonservativer Parteien und Gruppierungen antwortet. Der Ausgang all dieser Prozesse ist offen, aber dass eine mit dem Begriff der Globalisierung aufgekommene Vorstellung von ‚Globalisierungsliteratur’ an all dem partizipiert, scheint geradezu unausweichlich; und dass diese Literatur ob der düsteren Diagnosen und Prognosen nicht verstummt, ins Beliebige oder Belanglose abdriftet, sondern die ‚reale’ Gegenwart mit den ihr eigenen Möglichkeiten aus dem Spektrum des Fiktiven und Imaginären auf dem Feld der Schrift (wie auch immer) transformiert, wäre die Hoffnung. Um es neutral zu formulieren: Eine unserer Absichten beim Konzipieren dieses Bandes und der ihr vorausgegangenen Tagung war genau die Frage, wie die gegenwärtig entstehende Literatur mit den in dieser Dimension bis dato unbekannten Herausforderungen, die sowohl ihr eigenes Repräsentationssystem (die Schrift und deren Materialität bzw. Immaterialität) als auch die gesamte Welt, aus der sie sich sprachlich und imaginativ speist, betreffen, umgeht bzw. umgehen kann. Was wir gefunden haben und anbieten können, sind keine Lösungsvorschläge oder fertige Rezepte als vielmehr verschiedenartige Zugänge und Perspektiven auf diese Fragestellung und ihren Problemhorizont. Wenn unser nachstehend gebrauchter Begriff von ‚Gegenwartsliteratur’ mehr als die quantitativ erfassbare Summe der gegenwärtig lebenden und schreibenden Autorinnen und Autoren beinhalten soll, müssen wir qualitativ an ihn herangehen. Meint Gegenwartsliteratur nicht vielmehr das Feld von Autoren, welches für das Schreiben einer bestimmten Gegenwart, für das Was und Wie der geschriebenen Literatur als prägend, früher hätte man gesagt, als stilbildend empfunden wird? Und weiter: Ist dieser Begriff, der das Schreiben in, von und aus der Gegenwart sich konturierenden Autoren nicht genau dadurch charakterisiert, dass er sich erst aus der ästhetischen Debattenkultur der Autorinnen und Autoren in Bezug auf das ihrer jeweiligen

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Gegenwart angemessene Schreiben generiert? Fasse ich Gegenwart als ein permanent sich verschiebendes Koordinatengefüge aus verschiedenen Positionen in einem jeweils punktuellen Hier und Jetzt auf, und gesetzt den Fall, dass das Feld der Autoren über einen absehbaren Zeitraum hinweg bei dauernder Fluktuation soweit konstant bleibt, dass Austausch und Debatte über das Schreiben der Gegenwart nicht nur an einem willkürlichen Jetzt und Hier, sondern in einer Kette von sich aufeinander beziehenden Jetzt und Hier stattfinden können, so ist Gegenwartsliteratur notwendigerweise kein fester Zustand, also auch nicht auf einen fixen Begriff zu bringen, sondern ein offener, nicht festgestellter und weithin unabsehbarer Prozess. Weshalb muten wir uns dann gleichwohl überhaupt diese Fragestellung zu? Je nachdem, an welchem Punkt und mit wem wir in diesen Prozess einsteigen, wo wir sozusagen den Schnitt ansetzen, wird das Ergebnis ein anderes, jedes Mal aber ein notwendig vorläufiges sein. Das liegt in der Natur der Gegenwart, deren nicht festgestellter, offener Charakter – im Moment ihres Ergreifens zieht sie sich bereits in die Vergangenheit zurück – selber schon einen Anspruch an die literarische Ästhetik und die Schreib- und Streitkultur der Gegenwart stellt. Als wir die hier dokumentierte Tagung konzipierten, waren wir uns schnell einig in der Einladung eines Ehrengastes, in dessen Schreiben diese Auseinandersetzung mit dem Begriff der Gegenwart immanenter und stetig problematisierter Teil des poetischen Œuvres ist: Bei kaum einem Autor der Gegenwart bestimmt die Problematik der ‚richtigen’ Gegenwartsdiagnose und der sich daraus ergebenden Schlussfolgerungen für die literarische Form – in welcher Form ist Gegenwart eigentlich adäquat aufgehoben?, die Poetik und Praxis des Schreibens so sehr wie bei Jürgen Becker, wenngleich er seine Gegenwart immerzu aus einem unerschöpflichen Fundus des Erinnerten mit Vergangenheit anfüttert, die jedoch im Kontakt mit dem Gegenwärtigen keineswegs hauptsächlich auf so etwas wie ‚historische Erkenntnis’ abzielt, sondern auch seismographisch Keime von Zukünftigem freizulegen sucht. Jürgen Becker mit seinen wirkmächtigen Impulsen, das Bewusstsein für ,Gegenwart‘ in die Gegenwartsliteratur hinein zu tragen, die individuelle schöpferische Auseinandersetzung mit und ästhetische Aneignung von Gegenwart als unabdingbaren Teil einer Gegenwartsliteratur zu etablieren, wird daher am Beginn von Teil III unseres Bandes zu Wort kommen. Die vierzehn Forschungsbeiträge mit ihrer Fokussierung auf verschiedene Orte, Poetiken und Konstellationen der jüngeren deutschsprachigen Literatur, in denen der Begriff der Gegenwart verhandelt wird, können selbstverständlich keinen vollständigen, aber durchaus repräsentativen Querschnitt durch die Gegenwartsliteratur und ihre ästhetische Debattenkultur beanspruchen. Hinzu kommen Texte und Gesprächsmitschnitte von sieben Autorinnen und Autoren, die wir im September 2015 zusammen mit den literaturwissenschaftlichen Referenten aus Italien und Deutschland in den Neuen Senatssaal der TU Braunschweig eingeladen hatten, um gemeinsam Bild und Begriff der ,Gegenwart‘ in der Literatur und in den literarästhetischen

„Gleichzeitig unkonzentriert, aber auch bereit, sich irgendwo zu fixieren.“

Debatten der Gegenwart zu ergründen – und darüber zu streiten. Denn nichts ist so streitbar wie die Entzifferung der Gegenwart und der Anforderungen, die sich aus einer spezifischen Diagnose des Gegenwärtigen für die Einstellung der Autorin oder des Autoren zur literarischen Ästhetik der Gegenwart allgemein und ihrem/seinem Schreiben im Besonderen ergeben. Poetologische Debatten indes lassen sich oft nicht auf Anhieb als solche ausmachen, da sie entweder immanent den literarischen Werken eingeschrieben sind oder von den Autoren an anderer Stelle (z.B. im Rahmen von Poetikvorlesungen, bisweilen auch in manifestartigen Verlautbarungen, in Internetblogs, häufig Interviews …) zur Schau getragen werden. Ästhetische Auseinandersetzungen, wie sie die Geschichte der literarischen Moderne und Postmoderne kennzeichnen und zur Dynamik der Avantgarden gehören,4 werden heutzutage allemal unter wesentlich anderen Voraussetzungen als noch vor einigen Jahrzehnten geführt. Zu ihren nicht nur äußeren Bedingungen zählen u.a. die digital-mediale Revolution, die Krisensituation Europas, die neuen Identitätsbildungen und -verwerfungen im Zuge globaler Migration. Unter diesen Vorzeichen erscheint eine ästhetische Neupositionierung der Literatur geradezu zwingend, und Ziel des Bandes ist es auch, herauszufinden, mit welchen Mitteln (wenn überhaupt) gegenwärtig ästhetische Debatten innerhalb der Gegenwartsliteratur geführt werden und wie diese ggf. systematisch gebündelt, miteinander verglichen und kontrastiert werden können und welche Schlussfolgerungen sich gegenüber Poetiken und Ästhetikdebatten vergangener Epochen ziehen lassen. Ein besonderes Augenmerk soll dabei der Gattung der Lyrik gelten, weil in ihr als dem „Paradigma der Moderne“ (Wolfgang Iser)5 poetologische Standpunkte immer schon mit artikuliert sind, ästhetisch exponierte literarische Verfahrens- und Darstellungsweisen in dieser Gattung ihren Ursprung haben und zur Illustration ästhetischer Debatten oft das Beispiel der Lyrik herangezogen wird, während Prosa und Dramatik oft erst auf äußeren Anlass hin sich poetologisch explizit positionieren. Doch unabhängig von der zur Disposition stehenden Gattung lohnt es sich zu verfolgen, auf welchen neuen Kanälen gegenwärtig entstehende, ästhetisch innovative Literatur trotz oder wegen ihrer ökonomischen Marginalisierung ihre poetologischen Debatten führt und welche Freiräume und Spielwiesen ihr dadurch entstehen. Heuristisch lassen sich drei Perspektivierungen auf die literarische Debattenkultur, in welcher der Begriff der Gegenwart von den Akteuren der Gegenwartsliteratur ästhetisch in Stellung gebracht und verhandelt wird, vornehmen: Die Frage nach den Orten, an welchen ästhetisch über ,Gegenwart‘ gestritten wird; der Vergleich von 4 5

Vgl. für die Moderne exemplarisch Hans Robert Jauß: Literaturgeschichte als Provokation. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1986. Vgl. Wolfgang Iser (Hg.): Immanente Ästhetik – ästhetische Reflexion. Lyrik als Paradigma der Moderne. München: W. Fink 1966.

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Modellen und Typologien von ,Gegenwart‘ im Spektrum der Gegenwartsliteratur; und schließlich die Kontextualisierung und ‚extrinsische’ Motivation für Bild und Begriff der Gegenwart im Schreiben und den ästhetischen Debatten der Gegenwart. Einige Anmerkungen zu den drei vorgeschlagenen Perspektivierungen.

1 Orte der Debattenkultur Wo spricht die Gegenwartsliteratur eigentlich über die/ihre Gegenwart? Wo wird Gegenwart zum Gegenstand ästhetischer Debatten? Die Frage lässt sich noch einmal nach 1) Medien, 2) Formaten und 3) Textsorten literarischer Debattenkultur spezifizieren. 1. Medien: Zu den Medien, in denen der Begriff der Gegenwart permanent auf seine literarisch adäquate Form hin befragt wird, zählen neben den traditionellen literarischen Medien Buch, (Literatur-)Zeitschrift, Tageszeitungsfeuilleton und Bühne vor allem die auditiven und audiovisuellen Kanäle wie das Radio (dort z.B. konkret Orte der Literaturkritik wie das „Radiofeuilleton“ und der „Büchermarkt“ auf Deutschlandradio bzw. Deutschlandradiokultur oder die Kultursender der Landesrundfunkprogramme wie mdr Kultur mit „Figaro“ usw.), TV (Literatursendungen in den dritten Programmen, auf Arte oder 3Sat, „Aspekte“ auf dem ZDF), insbesondere jedoch und nach wie vor von stetig zunehmender, die übrigen Medien überholender Relevanz das Internet mit seinen offenen, partizipativen Strukturen und v.a. seinen unablässig sich wandelnden dynamischen Oberflächen, in denen das Bild der Gegenwart selber ein völlig neues Format erhält. 2. Formate: Abhängig von den frequentierten Medien sind auch die speziellen Formate der literarischen Debattenkultur. Sie lassen sich als eher offene oder geschlossene, eher feste oder eher fließende, statische oder dynamische, in ihren Gestaltungs- und Partizipationsmöglichkeiten eher eingeschränkt oder eher unbeschränkt begreifen. Tendenziell versprechen mehr und mehr die Formate des Internet mit ihren fließenden, dynamischen Strukturen und den hohen Partizipationsmöglichkeiten den vielleicht interessantesten und wichtigsten Aufschluss über das literarisch verhandelte Format der Gegenwart zu geben. Aber auch die Frage, wie sich die eher starren Formate der übrigen Medien unter dem Einfluss des Internet zu ‚verflüssigen‘ beginnen, dürfte den Gegenwartsdiskurs der Literatur entscheidend konfigurieren. 3. Textsorten: Prinzipiell können literarische Debatten je nach Textsorte auf direkte oder indirekte Weise geführt werden. Textsorten der indirekten ästhetischen Debatte sind zunächst die literarischen Primärtexte aller Genres, die ihre poetologischen Prämissen aufgelöst in literarische Konstrukte des Fiktiven und Imaginären6 mit sich führen. Textsorten der direkten ästhetischen Debatte widmen sich hingegen einer 6

Vgl. Wolfgang Iser: Das Fiktive und das Imaginäre. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1990.

„Gleichzeitig unkonzentriert, aber auch bereit, sich irgendwo zu fixieren.“

Literatur ‚zweiten Grades’ insofern, als sie erst um direkter poetologischer Auseinandersetzungen willen entstehen, wie etwa Polemiken, Programme, Manifeste, Poetikvorlesungen, Stellungnahmen, Interviews, teilweise auch Kritiken und Rezensionen. Aufschlussreich werden in diesem Zusammenhang paratextuelle Gattungen wie Klappentexte, Widmungen, Verlagswerbung, Danksagungen, einleitende Sätze oder grafikgestalterische Text-Bild-Elemente in ihrer Zwitterstellung zwischen direkter und indirekter ästhetischer Stellungnahme. Zu berücksichtigen bleibt ebenso die literaturwissenschaftliche Forschungs- und feuilletonistische Sekundärliteratur zur ästhetischen Theoriebildung in der Gegenwartsliteratur (bspw. im Rahmen der Reihe Text + Kritik und der in ihr exponierten Gegenwartsautoren oder des Kritischen Lexikon zur Gegenwartsliteratur), deren Resultate sich aufgrund des fluktuierenden Status der Gegenwartsliteratur durchaus mit den literarischen Diskursen um Gegenwart vermengen oder auf diese zurückwirken können – die Vielzahl der daran beteiligten Protagonisten, die oft auch noch simultan in verschiedenen Rollen und an verschiedenen Fronten agieren, zeigt jedoch, dass Gegenwartsliteratur und Theoriebildung darüber kein eingleisiger, sondern ein vielfach vermittelter und zwischen den Akteuren vermittelnder Vorgang ist, der sich unter gegenseitiger Wahrnehmung auf dem „literarischen Feld“ (Pierre Bourdieu)7 vollzieht (wie es auch unser Sammelband im Miteinander von Sekundärliteratur und Primärtexten bezeugt), nicht zuletzt deshalb, weil Gegenwart, Gegenwartsliteratur und so etwas wie eine Analyse und Theorie der Gegenwartsliteratur sich auf denselben zeitlichen und räumlichen Achsen ereignen – und sich auf diese Weise wechselseitig beeinflussen.

2 Literarische Modelle und Typologien von Gegenwart Gegenwart als Kategorie des literarischen Diskurses und die Einstellung zu ihr manifestiert sich nicht nur im diskursiven Sprechen über sie, sondern vor allem auch indirekt am ästhetischen Standpunkt, den die Akteure einnehmen – und programmatisch verteidigen. ‚Metaliteratur’, wie ästhetische und poetologische Positionierungen, werden in ihrer Kontur und Qualität jedoch erst greifbar in ihrer meist impliziten Opposition zu anderen, konkurrierenden Modellen. Parameter ästhetischer Theoriebildung,8 die qualitativ entgegengesetzte Modelle und Positionen hervorbringen, sind etwa: die jeweilige Einstellung zu Kategorien der Mimesis und Wirklichkeitsabbildung (z.B. realistische vs. phantastische Darstellung); zur Fiktionalität (z.B. Trennung oder Vermischung von Faktischem und Fiktivem); zu Tradition und Innovation (Berufung auf den Kanon oder Verwerfen des Kanons); zu bevorzugten Gattungen, 7 8

Vgl. Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Darmstadt: WBG 1999. Vgl. dazu Jan Urbich: Literarische Ästhetik. Köln, Weimar, Wien: UTB 2011.

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Genres, Textsorten; zu traditionellen kulturellen Kategorien und Feldern wie Raum, Zeit, Körper, Technik, Natur usw. Konkret wäre es notwendig, entsprechende Oppositionspaare innerhalb der Gegenwartsliteratur an exemplarischen poetologischen Standpunkten zu veranschaulichen, bspw. das in sich wiederum verschieden akzentuierte Konzept eines erzählerischen Realismus bei – um exemplarisch einige von Forschung und Kritik hervorgehobene Namen anzuführen – Ingo Schulze oder Judith Hermann gegen die phantastische Fabulierlust bei Autoren wie Markus Orths, Sibylle Lewitscharoff oder Alban Nikolai Herbst, oder in der Lyrik die stellenweise Rückkehr zu tradierten Genres (z.B. Sonetten, Sonettenkränzen, Liedern, Reimen bei Dirk von Petersdorff oder Michael Lentz) vs. Experiment, formaler Sprengung und Zerstreuung (z.B. die Langgedichte Paulus Böhmers oder Jürgen Beckers) – Oppositionen, die sich bei so verschiedenartigen Lyrikern wie Jan Wagner, Ann Cotten, Monika Rinck, Steffen Popp, Thomas Kunst oder Sabine Scho wiederum eigentümlich kreuzen und überlagern können. Mit einzubeziehen sind weiterhin die bisweilen von Feuilleton, Literaturbetrieb und/oder den Autoren und Autorinnen selbst vorgenommenen Stilisierungen ihrer ästhetischen Positionen (weitgehend in Textsorten der direkten ästhetischer Debatte), die nicht selten in Widerspruch zur immanenten, im literarischen Primärwerk eingelösten Ästhetik stehen.

3 Äußere Kontexte und Motivationen Debatten zur Ästhetik der Gegenwart, dem ‚richtigen’ Schreiben im und vom ,Hier und Jetzt‘ argumentieren häufig nicht (ausschließlich) über primär poetologische, sondern oft auch über außerliterarische Kontexte und Motive, um ihre Positionen zu begründen, zu legitimieren und herauszustellen. Zu diesen ‚extrinsischen’ Kontexten und Motiven einer Ästhetik und Poetologie der Gegenwart, die wiederum entscheidend auf die ‚intrinsischen’ Poetiken zurückwirken, gehören aktuell insbesondere die Bereiche –– der Politik und Ökonomie (Finanz- und Wirtschaftskrise, Globalisierungs- und Kapitalismuskritik, digitale Überwachung, Kampf um politische Transparenz und bürgernahe Partizipation); –– der Oberflächen-, Alltags- und Konsumkultur (Mode, Hochglanzästhetik, ;Bewussteinsindustrie‘, Lifestylemedien); –– der Geoökologie (Stadt-Land- sowie Zentrum-Peripherie-Verhältnis, Metround Megalopolen, Poetiken der Landschaft, der Natur und des Verkehrs in ihrer gegenseitigen Diffusion; Revival des Pilgerns und Wanderns);

„Gleichzeitig unkonzentriert, aber auch bereit, sich irgendwo zu fixieren.“

–– der Naturwissenschaften und Technik (als Themen-, Sprach- und Metaphernspender der Gegenwartsliteratur, vgl. Autoren wie Daniel Kehlmann mit Die Vermessung der Welt, Raoul Schrott mit Tropen, Marcel Beyer mit Kaltenburg), –– der sprachlichen, nationalen, sozialen und kulturellen Identität (Migration, Reisen, Mehrsprachigkeit, Übersetzungen, postkoloniale Diskurse). Die nachfolgend vorgestellten Fallstudien versuchen in ihren Vergleichen und Analysen nicht zu vernachlässigen, wie auch solche exogenen Faktoren sich im Gegenwartsdiskurs der Literatur niederschlagen und an welche poetologischen Prämissen die von den Autorinnen und Autoren jeweils gemachten Diagnosen zum gegenwärtigen Umfeld ihres Schreibens jeweils gekoppelt sind. Ob wir indes mit diesem Buch die Hoffnung Jürgen Beckers einlösen können, mit der er die Einladung nach Braunschweig annahm, dass er dann wenigstens erfahren werde, wo ästhetische Debatten in der Gegenwart überhaupt noch stattfänden, wollen wir zunächst offenlassen. Es würde uns schon genügen, einige Anstöße gegeben zu haben, um darüber nach- und weiterzudenken, in und von welcher Gegenwart eigentlich die gegenwärtige Literatur handelt und welche Fluchtpunkte das Hier und Jetzt bietet, um gegenwärtig zu bleiben.

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Valentina Di Rosa

Zur Lage der Gegenwartsliteratur · Versuch einer Annäherung in Echtzeit

Darüber, dass sich die jüngste deutschsprachige Literatur einer zunehmenden Aufmerksamkeit im wissenschaftlichen Diskurs erfreuen kann, herrscht neuerdings weitgehend Konsens. „Gegenwartsliteratur liegt also offenbar im Trend“, lautet die präludierende Bilanz, mit der Leonard Herrmann und Silke Horstkotte, ihr germanistisches Handbuch Gegenwartsliteratur. Eine Einführung (2016) einleitend, auf die steigende Kurve der online verzeichneten Einträge zum Thema verweisen: Gegenüber den „nur 2600“, die für die Jahre 1985–2000 zu vermerken sind, werden für die Jahre 2000–2015 „fast 17.000“ dokumentiert.1 Dabei erzählt die sachliche Evidenz der Zahlen von einem exponentiell wachsenden Phänomen, angesichts dessen die Figuration eines noch zu betretenden Neulands, die etwa im Titelbild Baustelle Gegenwartsliteratur2 mitschwang, als relativ zeitfern erscheint, aber dennoch die Pionierphase der späten 1990er Jahre treffend markiert, als die ersten Studien auf das Meinungsmonopol der Rezensenten und Feuilletondebatten durch die Implementierung von eigenen Lesestrategien bewusst zu reagieren begannen. In der Tat zeugt die seitdem rapide Intensivierung von Kolloquien und Tagungen neben der dadurch vermehrten Produktion von Beiträgen und Sammelbänden, die sich dem zeitgenössischen Literaturgeschehen widmen, von einer bemerkenswerten Verlagerung der traditionellen Interessen der Forschung und somit von den qualitativen Implikationen des neuen „Trends“. Galt noch bis vor kurzem die akademische Beschäftigung mit Texten und Autoren der unmittelbaren Aktualität als legitimationsbedürftiges Unterfangen, so hat sich die Sekundärliteratur im Lauf der letzten zwei Jahrzehnte indes als zunehmend geneigt erwiesen, den gebotenen Sicherheitsabstand gegenüber ihrem Untersuchungsgegenstand deutlich zu verkürzen, um sich mit Tendenzen, Hintergründen und Entwicklungspotentialen des literarischen Hier und Jetzt gleichsam in vivo auseinanderzusetzen. Daraus ist eine differenzierte Pluralität von kritischen Ansätzen hervorgegangen, die dank dem breiten Spektrum der jeweils mobilisierten – literaturgeschichtlichen, 1 2

Leonhard Hermann/Silke Horstkotte: Gegenwartsliteratur. Eine Einführung. Stuttgart: Metzler 2016, S. 8. Vgl. Andreas Erb (Hg.): Gegenwartsliteratur. Die Neunziger Jahre. Opladen: Westdeutscher Verlag 1998, S. 7 f.

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soziokulturellen, feldanalytischen, sprachästhetischen, themen- bzw. gattungsspezifischen – Interpretationsmodelle zu einer instruktiven Vermessung der zeitgenössischen Literaturlandschaft beigetragen haben. Entsprechend differenziert werden in diesem Horizont Selektions- und Wertungshandlungen methodisch verankert und nicht anders verhält es sich mit den Begründungszusammenhängen, aus denen Kriterien der Periodisierung hergeleitet und zur Diskussion gestellt werden. Denn einerseits zwingt die dynamische Fülle der Neuerscheinungen zu stets neu zu aktualisierenden Lektüre- und Auslegungsverfahren diesseits fest etablierter Kanon-Kodierungen, andererseits entzieht sich Gegenwart als gleitendes Zeitkonstrukt einer selbstevidenten, definitiv geltenden Datierungslogik – ein intrinsisches „Dilemma“, das bekanntlich nicht nur der Literatur-, sondern auch der Zeitgeschichte anhaftet, will man beim Gebrauch des Terminus vom freilich tautologisch anmutenden Verweis auf die Gesamtheit der „Mitlebenden“ absehen.3 Bleibt man aber auf das Problemfeld Literatur konzentriert und setzt man den „langen Abschied von der Nachkriegsliteratur“4 als abgeschlossenen Prozess voraus, so lassen sich resümierend zwei Haupttendenzen in der chronologischen Perspektivierung der literarischen Jetztzeit feststellen. Die erste orientiert sich am Leitfaden der historisch-politischen Ereignisse und identifiziert als gliederungsrelevante Zäsur das Wendejahr 1989/1990, wobei durch die Fokussierung auf den Kollaps des DDR-Staatssystems, die Wiedervereinigung des geteilten Deutschlands und das Ende des Kalten Krieges die ästhetischen Bilanzierungen der deutschen (und europäischen) Vergangenheit/en des 20. Jahrhunderts vordergründig in den Blick rücken.5 Die zweite hingegen fixiert den entscheidenden Bruch bereits im letzten Drittel des 20.  Jahrhunderts und verkoppelt ihn mit dem durch die sukzessiven 3

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Vgl. Martin Sabrow: Zäsuren in der Zeitgeschichte. In: Frank Bösch/Jürgen Danyel (Hg.): Zeitgeschichte – Konzepte und Methoden. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2012, S. 109–130, hier S. 126 und Andreas Rödder: Eine Geschichte der Gegenwart – ist das möglich? In: Ders.: 21.0. Eine kurze Geschichte der Gegenwart. München: Beck 2015, S. 11–17, [mit Rückverweis auf die klassische Studie von Hans Rothfels: Zeitgeschichte als Aufgabe. In: Vierteljahrschrift für Zeitgeschichte 1 (1953), S. 1–8, hier S. 2]. Vgl. Jochen Vogt: Langer Abschied von der Nachkriegsliteratur? Ein Kommentar zum letzten westdeutschen Literaturstreit. In: Ders: „Erinnerung ist unsere Aufgabe“. Über Literatur, Moral und Politik 1945–1990, Opladen: Westdeutscher Verlag 1991. Zu einer Rekapitulation der „Wort- und Begriffsgeschichte von Gegenwartsliteratur“ vgl. Kai Kauffmann: Ohne Ende? Zur Geschichte der deutschen Gegenwartsliteratur. In: Matthias Buschmeier/Walter Erhardt/ Kai Kauffmann (Hg.): Literaturgeschichte: Theorien – Modelle – Praktiken. Berlin, Boston: de Gruyter 2014, S. 357–376, (insbes. S. 357–361). Vgl. u a. Clemens Kammler/Torsten Pflugmacher (Hg.): Deutsche Gegenwartsliteratur seit 1989. Zwischenbilanzen – Analysen – Vermittlungsperspektiven. Heidelberg: Synchron 2011; Carsten Gansel/Elisabeth Herrmann (Hg.): Entwicklungen in der deutschsprachigen Literatur nach 1989. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2013.

Zur Lage der Gegenwartsliteratur

Modernisierungs- und Technisierungsschübe bedingten Strukturwandel der westlichen Gesellschaften, wobei das Hauptaugenmerk auf die damit einhergehenden sozialen und mentalen Transformationen gerichtet wird, welche spätestens seit den 1970er Jahren Entstehungsbedingungen und imaginative Bezugskoordinaten auch der deutschsprachigen Literatur tiefgreifend umgestaltet haben.6 Zu diesen literaturwissenschaftlichen Einrahmungen gesellen sich ferner die diversen Bemühungen der letzten Jahrzehnte, eine Art Phänomenologie des gegenwärtigen Zeitgeistes durch einprägsame Epochensignaturen einzufangen, wobei der auffallenden Proliferation der sogenannten „Post-Ismen“7 nicht selten die gleiche diskursive Unschärfe innewohnt, welche von Anbeginn für die Karriere der kontrovers verhandelten Kategorie der Postmoderne bezeichnend war.8 Post-utopisch, post-ideologisch, post-bürgerlich, post-national, post-demokratisch, post-politisch, post-europäisch, post-faktisch, post-kapitalistisch, post-fordistisch, post-avantgardistisch, post-human, 6

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Vgl. u. a. Klaus-Michael Bogdal: Klimawechsel. Eine kleine Metereologie der Gegenwartsliteratur. In: Erb: Gegenwartsliteratur (wie Anm. 2), S. 9–31; Heribert Tommek: Die für die Entwicklung des Feldes der Gegenwartsliteratur relevanten sozialen Transformationen. In: Ders.: Der lange Weg in die Gegenwartsliteratur. Studien zur Geschichte des literarischen Feldes in Deutschland von 1960 bis 2000. Berlin, Boston: de Gruyter 2015, S. 15–26. Zu den aktuellsten Tendenzen in der Historiographie der Gegenwart vgl. u. a. Anselm Doering-Manteuffel/Lutz Raphael (Hg.): Nach dem Boom. Perspektive auf die Zeitgeschichte seit 1970. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2012; Morten Reitmayer/Thomas Schlemmer (Hg.): Die Anfänge der Gegenwart: Umbrüche in Westeuropa nach dem Boom. München: Oldenburg 2014; Anselm Doering Manteuffel/Lutz Raphael/Thomas Schlemmer (Hg.): Vorgeschichte der Gegenwart. Dimensionen des Strukturbruchs nach dem Boom. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2016. Jacques Derrida: Einige Statements und Binsenwahrheiten über Neologismen, New-Ismen, Post-Ismen, Parasitismen und andere kleine Seismen. Deutsch von Susanne Lüdemann. Berlin: Merve Verlag 1997. [Originaltitel: Some Statements and Truisms about Neologisms, Newisms, Postisms, Parasitisms, and Other Small Seismisms. University of California, Irvine 1986], sowie Ulrich Beck: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1986, S. 12. Eine kritische Perspektivierung der multiplen Valenzen und literaturwissenschaftlichen Anwendungskontexte der Kategorie ‚Postmoderne‘ (sowie der korrelierten Optionen ‚späte Moderne‘ ‚zweite Moderne‘) steht noch an. Inwiefern die ‚Postmoderne‘ als kulturgeschichtliche Periode mittlerweile als abgeschlossen zu betrachten sei, debattieren unter anderem Jeffrey T. Nealon: Post-Postmodernism, or, the Cultural Logic of Just-in-Time Capitalism. Stanford: Stanford University Press 2012 (mit unmittelbarem Bezug auf Fredric Jameson: Postmodernism, or, the Cultural Logic of Late Capitalism. London, New York: Verso 1991) sowie (mit engerem Bezug auf die Entwicklungen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur) Erik Schilling: Literarische Konzepte von Zeit nach dem Ende der Post-Moderne. In: Leonhard Hermann/Silke Horstkotte (Hg.): Poetiken der Gegenwart. Deutschsprachige Romane nach 2000. Berlin, Boston: de Gruyter 2013, S. 173–188 und Birgitta Krumrey/Ingo Vogler/ Katharina Derlin (Hg.): Realitätseffekte in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Schreibweisen nach der Postmoderne? Heidelberg: Winter 2014.

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post-heroisch … die Reihe der Neologismen ließe sich noch weiter fortsetzen, bis hin etwa zum Endzeit-Syndrom der post pop depression, das der Sänger Iggy Pop in seinem 2016 produzierten Album nur halbspielerisch als eigenes Fazit der Perspektiven verkündet: „There’s nothing awesome here, there’s nothing wow.“ Allerdings erweist sich die Reizqualität solcher Nach-Redefiguren als nicht selten direkt proportional zu ihrer semantischen Opazität. Insofern sie weder die Grenzverläufe Gestern/Heute noch deren Verhältnisse von Kontinuität/Diskontinuität eindeutig benennen, vermögen sie erst in Abhängigkeit vom jeweils zu ergänzenden Argumentationsbau kulturhistorische bzw. kulturkritische Deutungskraft zu generieren. Dasselbe gilt für das rekursive Ideologem Krise, dessen zweischneidige Implikationen – Ende/Anfang, Fort-/Rückschritte, Gefahr/Rettung – spätestens seit der Jahrtausendwende im Gewand von zeitdiagnostischen bzw. -prognostischen Denkbewegungen sowohl die Theorien als auch die ästhetische Praxis der Gegenwart im zunehmenden Maß durchdringen. Sah sich bereits Walter Benjamin veranlasst zu konstatieren, dass ein „verzweifelt helles“ Krisenbewusstsein die bürgerliche Modernität seit ihrer ersten Geburtsstunde geradezu „chronisch“ heimsuche9, so wissen Instabilitäten und Turbulenzen der aktuellen Weltkonjunktur freilich ebenso selten zu fröhlichen Zukunftsvisionen zu animieren – ob im unmittelbaren Zusammenhang mit den sozioökonomischen Auswirkungen der Globalisierung, die „man immer noch Kapitalismus nennen muss“10, oder mit dem sozioanthropologischen Impakt der digitalen Revolution, deren „Beschleunigungsspirale“ für ein erneut ausgebreitetes Unbehagen der Kultur sorgt.11 Insbesondere der Adaptionsdruck der sich fortlaufend erneuernden Medien- und Netzwerktechnologien auf die individuellen und kollektiven Lebenspraxen hat zu einer gesteigerten Sensibilisierung für die subjektiven Reflexe eines solch „profunden

Vgl. Walter Benjamin: Das Passagenwerk. In. Ders.: Gesammelte Schriften. Hg. von Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser. Unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1982, Bd. V/I, S. 677. 10 Vgl. Joseph Vogl: Das Gespenst des Kapitals. Zürich: Diaphanes 2010, S. 10 und Heinrich Geiselberger (Hg.): Die große Regression. Eine internationale Debatte über die geistige Situation der Zeit. Berlin: Suhrkamp 2017, S. 12: „War bislang vor allem von Globalisierungsrisiken die Rede, betonen viele der Essays in diesem Band, dass es sich um eine marktradikale Form der Globalisierung handelt, weshalb man mit gleichem Recht von Neoliberalismusrisiken sprechen könnte.“ [Hervorhebungen im Original, V.D.R.]. 11 Vgl. Hartmut Rosa: Im Wirbel der Beschleunigungsspirale. In: Spektrum der Wissenschaft 2 (2008), S. 82–87 und Ders.: Beschleunigung und Entfremdung. Entwurf einer kritischen Theorie spätmoderner Zeitlichkeit. Aus dem Englischen von Robin Celikates. Berlin: Suhrkamp 2013. [Originaltitel: Alienation and Acceleration. Toward a Critical Theory of Late-Modern and Alienation, NSU Press 2010]. 9

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Chronotopenwandel[s]“12 und zu einer entsprechenden Thematisierung der Krise der Gegenwart als Krise der Gegenwärtigkeit geführt: Die Zeit sei „aus den Fugen“13 geraten; die allenthalben gefeierte „accessibility“ des Cyberspace führe lediglich zu einer durch „digitale Zuckungen“ skandierten „Pseudo-Gegenwart“.14 Im Zeichen dieses Umbruchs transportiert die einschlägige Semantik von Stichworten wie slow und fast nicht nur Gradationsstufen der Geschwindigkeit in den Alltagsrhythmen, sondern auch differierende Umgangsformen mit der steigenden Akzeleration und Popularisierung der Kommunikationswelt, in welcher die künstlerische Produktion von Worten und Bildern mit eingebettet ist. Indem sie primär kodierte Präferenzmuster im Konsumverhalten kennzeichnen, verweisen beide Attribute unterschwellig auf die angrenzende Zone der ästhetischen Disposition gegenüber der Multiplikation der Wahrnehmungs- und Sinnangebote, mit der auch das Wirkungsgefüge der Gegenwartsliteratur eng verwoben ist. Hierzu scheint die Analyse der (damals noch) „neuen anthropologischen Situation der Medienzivilisation“, die Umberto Eco 1964 durch die polare Charakterisierung der Apokalyptiker und Integrierten als intellektuelle Provokation lancierte, im Lauf der darauffolgenden Jahrzehnte an epistemischer Schärfe kaum eingebüßt zu haben.15 Retrospektiv betrachtet, bestand die fruchtbarste Stoßrichtung seiner Thesen weniger in der Rehabilitierung der Popkultur – oder gar in der Verwerfung der „manichäischen“ Dichotomie zwischen Elite und Masse – als vielmehr in der Verlagerung dieses Wertekonflikts auf die Ebene der jeweils individuellen Stilentscheidungen, die sich aus den „Verschmelzungen beider Kulturniveaus“ ergeben.16 12 Vgl. Hans Ulbricht Gumbrecht: Vom Wandel der Chronotopen. Ein mögliches Nachwort. In:

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Karsten Binsel/Erik Schilling (Hg.): Literatur und Theorie seit der Postmoderne. Stuttgart: S. Hirzel Verlag 2012, S. 229–236, hier S. 230; Fernando Esposito/Hans Ulrich Gumbrecht: Posthistoire then. Ein Gespräch mit Hans Ulrich Gumbrecht über „Unsere breite Gegenwart“. In: Fernando Esposito (Hg.): Zeitenwandel. Transformationen geschichtlicher Zeitlichkeit nach dem Boom. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2017, S. 255–277. Vgl. Aleida Assmann: Ist die Zeit aus den Fugen? Aufstieg und Fall des Zeitregimes der Moderne. München 2013; Beck: Risikogesellschaft (wie Anm. 7), S. 12. Vgl. Mark Fisher: Touchscreen Capture. Kommunikativer Kapitalismus und Pseudo-Gegenwart. In: Marcus Quent (Hg.): Absolute Gegenwart. Berlin: Merve Verlag 2016, S. 54–73. Umberto Eco: Apokalyptiker und Integrierte. Zur kritischen Kritik der Massenkultur. Aus dem Italienischen von Max Looser, Frankfurt/M.: S. Fischer 1984 [Originalausgabe: 1964], S. 33. Zur Kontiguität der Thesen Ecos mit dem ‚frühen‘ Bourdieu, die sich hier bereits abzeichnet, bevor sich dessen spätere sozialwissenschaftliche Theorien als methodischer Kanon auch in den Literaturstudien etablierten, vgl. Thomas Becker: Ästhetische Erfahrung der Intermedialität künstlerischer Avantgarde und ‚illegitimer‘ Kunst im Zeitalter von Massenkommunikation und Internet. Bielefeld: transcript 2011, S. 10. Ebd., S. 38. Vgl. dazu auch Thomas Wegmann/Norbert Christian Wolf (Hg.): ‚High‘ und ‚Low‘. Zur Interferenz von Hoch- und Popkultur in der Gegenwartsliteratur. Berlin, Boston: de Gruyter 2012.

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Dabei verband sich Ecos programmatische Auflösung der vorgeblichen Alternative „Television“ oder „Goethe“17 mit einem antizipierenden Seitenblick auf die damals noch in nuce Eventisierung und Spektakularisierung der Kunstpraktiken, von denen selbst der sanktionierte Wert der bürgerlichen Hochkultur im Zeitalter des multimedial propagierten ,Kulturtainments‘ nicht gefeit ist. Übertragen auf die zunehmende Komplexität der heutigen Öffentlichkeitsstrukturen, wo bekanntlich diverse Ökonomien der Aufmerksamkeit und der Distinktion walten, verschiebt sich der Schwerpunkt weiterhin auf die ansteigende Verwicklung von Akteuren und Instanzen, die auf das Verhältnis zwischen Autoren und Lesepublikum im literarischen Feld entscheidenden Einfluss nehmen: Jene Reihe von „Gate-Keeper[n]“, wie sie Heinz Ludwig Arnold glücklich typisiert hat, „die nicht Literatur produzieren, sondern sie rezensieren, kommentieren, bewahren, ausdeuten oder, wenn wir den akademischen Betrieb hinzunehmen, auf welche Weise auch immer in einen Betriebsstoff akademischer Karriereenergien verwandeln“.18 Darüber, dass mit solchen Praktiken und Habitusformen sowohl die Kriterien der Urteilsbildungen, als auch die Gesetze der Saisongeschäfte zusammenhängen, lässt sich kaum streiten. Gleichwohl zeugt dieselbe Vielzahl der involvierten Akteure davon, dass die Produktionsmechanismen der Gegenwartsliteratur sowie die ästhetisch-kritischen Reflexionsprozesse darüber keine linearen, unidirektional steuerbaren Vorgänge sind, sondern nachgerade Resultat von gegeneinander konkurrierenden Interferenzdynamiken. Denn ungeachtet der jeweils zur Disposition stehenden Ausdruckskanäle bleibt immer noch entscheidend, durch welche Strategien gegenwärtig entstehende, ästhetisch innovative Literatur ihre Existenz und transformative Energie zu behaupten vermag und welche Freiräume ihr dadurch entstehen, die es bisweilen ermöglichen, den vorherrschenden ‚Unmittelbarkeitskult‘ in Frage zu stellen. So ist es nur konsequent, wenn die meisten Autoren die faktische Wirkmächtigkeit der Marktmechanismen durch ein resolutes Bekenntnis zur literarischen Eigengesetzlichkeit konterkarieren, das sich oft genug als Verweis auf ein anderes „Timing“ der ästhetischen Sensibilität artikuliert: „Wir lesen. Wir haben Zeit“ lautet beispielsweise das kulminierende Motto, mit dem die Dichterin Monika Rinck ihre Anmerkungen zur Gegenwartslage der Poesie mit der Protest- und Korrekturhaltung einer imaginierten „Post-Poetry“ kurzschließt. Gegen die „Allgegenwart von Werbung und Wettbewerb“ hebt sie den entscheidenden Mehrgewinn der „Verzögerung“ als „Rast“ und „Ende der Eile“ hervor; und dies „nicht zuletzt im Sinne der künftigen poetischen Sprache – die den Zeitverlauf und auch die Dauer im Verstehensprozess ins Augenmerk rückt und die damit der steten Beschleunigung, die ja letztlich eine 17 Vgl. Eco: Vorwort zur deutschen Ausgabe. In: Ders. (wie Anm. 15), S. 7–13, hier S. 10. 18 Hermann Korte: Zum Sonderband „Zukunft der Literatur“ im 50. Jahr von T EX T + K R I -

T I K . In: Zukunft der Literatur. Text + Kritik 13 (2013), V, S. 5–17, hier S. 11.

Zur Lage der Gegenwartsliteratur

Aufgabe des Nacheinander zugunsten einer panischen Gleichzeitigkeit ist, einen Widerstand entgegensetzt […]. Denn der Immediatismus ist keine geistesgegenwärtige, taumelnde Augenblickskunde mehr, sondern meint inzwischen immerwährende Verfügbarkeit, ständige Ansprechbarkeit, Auslöschung der Lücke“.19 Anlässlich der Verleihung des Joseph-Breitbach-Preises erläutert der Schriftsteller Thomas Lehr die poetologischen Voraussetzungen seiner Arbeit, indem er im Anschluss an Augustinus’ Auffassung der dreidimensionalen Tiefe des Bewusstseins („gegenwärtig gegenwärtig, gegenwärtig vergangen und gegenwärtig zukünftig“) sein zeitphilosophisches Programm veranschaulicht: „Es besteht darin, aus der Gegenwart mehr Gegenwart zu machen, sie zu verlangsamen, zu facettieren, auszuweiten, zu erhöhen und zu durchdringen, sie mit Lupen oder gar Mikroskopen zu betrachten, sie polychrom und polyphon aufschimmern und ertönen zu lassen, so daß wir das Geheimnis neu sehen lernen, das uns jeden Tag scheinbar so alltäglich wie die Zeitung umgibt.“20 Unter dem plädierenden Titel Langsamer! widmet die Autorin Ilma Rakusa ein ganzes Essaybuch der „Geduld des Lesens“, die sie gegen die Ansteckung des „Tempus-Virus“ der globalisierten Gesellschaften als Übung „in diskreter Widerborstigkeit“ verstanden wissen will: „Es geht um ein Gegenprogramm zu Zeitmanagement, Zapping, Eventrausch und Trendhektik. Um ein Innehalten, hier und jetzt“.21 Bei allen Unterschieden in den stilistischen und intellektuellen Bezugssystemen der drei Stimmen konvergieren ihre Äußerungen in der nachdrücklichen Pointierung der „anti-ökonomischen Ökonomie des Literarischen“22, wodurch der Fokus noch einmal auf die divergierenden Logiken gelegt wird, denen der wirtschaftliche Verkaufserfolg der Bücher und der ästhetische Erkenntniswert der Texte jeweils gehorchen. Besteht diese Asymmetrie freilich bereits seit der analogen Moderne, so wird hier zurecht die Lage der Gegenwartsliteratur in einem im Spannungsverhältnis zu den neuen digitalen Zeitregimen immer enger werdenden Verhandlungsraum verortet. Und dennoch: Gleichzeitig dient die Betonung dieser entzauberten Warte einer umso stärkeren Affirmation der souverän unzeitgemäßen Haltung der Zeitgenossenschaft, wie sie als Gegenentwurf zur Kontingenz und Verabsolutierung des Heute im

19 Monika Rinck: Nach der Poesie. Warten auf die Ablösung. In: Die Zukunft der Literatur (wie

Anm. 18), S. 132–140, hier S. 132 und S. 137.

20 Thomas Lehr: Der Schmetterling der Zeit. Versuch über die literarische Gegenwart. In: Sinn

und Form 68 (2016), 2, S. 264–272, hier S. 267 f.

21 Ilma Rakusa: Langsamer! Gegen Atemlosigkeit, Akzeleration und andere Zumutungen. Graz,

Wien: Droschl 2005, S. 8.

22 Tommek, (wie Anm. 6), S. 568.

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vielzitierten Aufsatz Giorgio Agambens paradigmatisch fixiert wird.23 Im Sinne einer solch intendierten ,Dischronie‘ erweisen sich demnach die Selbsterhaltungschancen der Literatur als unmittelbar bedingt vom Grad der bewussten Selbstreflexivität, mit der sie ihren historischen Existenzbedingungen als Medium unter anderen Medien produktiv zu begegnen weiß: eine Bewährungsprobe im Zeichen der Resilienz, die jede neue sprachästhetische Bedeutungsproduktion zu bestehen hat, die aber zugleich die Komplementarität jedes autonom vertiefenden Lektüreakts eo ipso mit voraussetzt. Auf solche komplexe Synergie, welche nicht nur von den Autoren als Produzenten, sondern auch von den Lesern als Rezipienten die Risikobereitschaft zu stets neu zu kodierenden Spielregeln erfordert, deutete bereits Gert Mattenklott an, als er um die Jahrtausendwende unter der Chiffre Odyssee bzw. Literatur 2001 seine Prognose als Ineinandergreifen von zwei korrelierten Thesen formulierte: Literatur, die vor den Herausforderungen der Modernisierung bestehen will, wird von ihren Lesern an der Geistesgegenwart gemessen, mit der sie Orientierung über die Welt der Texte hinaus bietet. Das ist das eine. Das andere: In der Literatur nicht erst des 20. Jahrhunderts sind das Schreiben und die theoretische Reflexion des Schreibens nicht mehr voneinander ablösbar. Literatur, die dem räsonierenden Nachdenken über die Möglichkeiten und Grenzen ihrer eigenen Geltung nicht standhält, hat schnelle Verfallzeiten.24

Diese Konstellation von Denkansätzen und Fragestellungen gab Impuls zur Konzeption des Symposiums, das unter dem Titel Im Hier und Jetzt. Ästhetische Positionen und Debatten in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur im September 2015 an der Technischen Universität Braunschweig in Kooperation mit der Universität „L’Orientale“ Neapel abgehalten wurde, dessen Ergebnisse hier präsentiert werden.

23 Giorgio Agamben: Was ist Zeitgenossenschaft? In: Ders.: Nacktheiten. Aus dem Italienischen

von Andreas Hiepko. Frankfurt/M,: S. Fischer 2010, S. 21–36, S. 22: „Der Gegenwart zeitgenössisch, ihr wahrhaft zugehörig ist derjenige, der weder vollkommen in ihr aufgeht noch sich ihren Erfordernissen anzupassen versucht. Insofern ist er unzeitgemäß; aber ebendiese Abweichung, dieser Anachronismus erlauben es ihm, seine Zeit wahrzunehmen und zu erfassen.“ Das Zitat findet sich wieder in Sandro Zanetti: Poetische Zeitgenossenschaft. In: Variationes (2011), S. 39–53, hier S. 52 (vgl. auch: Hermann/Horstkotte (Hg.), (wie Anm. 1), S. 11). Nun weitergedacht in: Stefanie Heine/Sandro Zanetti (Hg.): Transaktualität. Ästhetische Dauerhaftigkeit und Flüchtigkeit. Paderborn: Wilhelm Fink 2017: „Transaktualität – so die treffende Synthese des Umschlagtexts – meint die Art und Weise, wie Kunst in jeweils unterschiedlicher Weise über die aktuellen Momente ihrer Konkretion hinauszuweisen in der Lage ist – ohne dass man sie deswegen als zeitlos begreifen müsste.“ 24 Gert Mattenklott: Literatur 2001. In: Reto Sorg/Adrian Mettauer/Wolfgang Pross (Hg.): Literatur der Zukunft – Zukunft der Literatur. Gegenwartsliteratur und Literaturwissenschaft. München: Wilhelm Fink 2003, S. 105–122, hier S. 111.

Zur Lage der Gegenwartsliteratur

Ziel unsres Vorhabens war, verschiedene Zugänge zum kaleidoskopischen Gebilde der Gegenwart zu erkunden, mit entsprechender Berücksichtigung der simultanen Pluralität von Poetiken, Szenarien, Diskursen der literarischen Jetztzeit. Beabsichtigt wurde von vornherein weder eine Theoriebildung noch eine systematische Vorgehensweise, sondern die Extrapolation eines Querschnitts durch die Gegenüberstellung von ko-implizierten Schreib- und Reflexionspraxen: Literatur und Literaturvermittlung, Literaturwissenschaft und Literaturkritik. Die Fokussierung auf die seit der Jahrtausendwende entstandenen Werke, die im Titel dieses Sammelbands figuriert, möchte insoweit keine entscheidende Zäsur um das Jahr 2000 postulieren und erhebt folglich keinen Anspruch auf eine literaturgeschichtliche Periodisierung, die sich aus einem festen terminus a quo herleiten ließe25. Vielmehr steht hier die runde Jahreszahl als fließende Übergangsschwelle im Dienste der leitenden Intention, den Blick in medias res des unmittelbaren Literaturgeschehens zu richten und die daraus resultierende Bestandsaufnahme als erste Zwischenbilanz einer fortzusetzenden Arbeit zu betrachten. Im Hintergrund dieser Rahmung stehen zwei prinzipielle Überlegungen. Zum einen, dass der Zeitraum der letzten fünfzehn (bald zwanzig) Jahre einen durchaus konsistenten Spannungshorizont darstellt, in dem sich zwei differierende, generationsspezifische Erfahrungsmodi diachron sedimentiert haben, die in ihrer synchronen Überlagerung deutlich zu profilieren sind. Gemeint sind damit a) die Autoren älterer Kohorten, die sich bereits in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als repräsentative Dichterstimmen etablierten; b) die jüngere Gruppe von Autoren, deren literarisches Debüt erst um die Wende zum 21. Jahrhundert datiert ist, deren Werkbiographien sich aber erst im Lauf der vergangenen eineinhalb Jahrzehnte poetologisch und rezeptionsästhetisch verfestigt haben. Die andere Überlegung hängt mit den eingangs skizzierten Prämissen zusammen und bezieht sich auf die grundlegenden Koordinatenverschiebungen der letzten beiden Dezennien, die für die literarische Gegenwartsverortung beider Generationen prägend sind: Einerseits die langfristigen Folgen der deutsch-deutschen Wiedervereinigungskrise; andererseits die Ankunft in der „virtuellen Gesellschaft“26, die sich zwar 25 Zu Datierungsversuchen auf der Basis fester Jahreszahlen vgl. u. a.: Sandra Poppe/Thorsten

Schüller/Sascha Seiler (Hg.): 9/11 als kulturelle Zäsur. Repräsentationen des 11. September in kulturellen Diskursen, Literatur und visuellen Medien, Bielefeld: transcript 2009; Heribert Tommek/Matteo Galli/Achim Geisenhanslüke (Hg.) Wendejahr 1995. Transformationen der deutschsprachigen Literatur. Berlin, Boston: de Gruyter 2015. Vgl. auch: Corinna Caduff/Ulrike Vedder (Hg.): Chiffre 2000 – Neue Paradigmen der Gegenwartsliteratur. München: Wilhelm Fink 2005 sowie den daran anschließenden Band: Corinna Caduff/Ulrike Vedder (Hg.): Gegenwart schreiben. Zur deutschsprachigen Literatur 2000–2015. Paderborn: Wilhelm Fink 2017. 26 Achim Bühl: Die virtuelle Gesellschaft des 21. Jahrhunderts. Wiesbaden: Springer Verlag für Sozialwissenschaften 2010.

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nicht auf die Uhr genau datieren lässt, aber dennoch durch den heraufbeschworenen millenium bag als Gespenst der globalsystemischen Dominanz der neuen Technologien eine apokalyptisch untermalte Markierung erfuhr. Dass mit der Ziffernkombination der beiden Nullen das Ende der (Literatur-) Geschichte nicht eingetreten ist, beweist unter anderem die Vitalität der Textproduktion, die sich seitdem registrieren lässt und der es mittlerweile gelungen ist, selbst die strenge Abneigung der ehemaligen „Verächter“27 zu milder geneigten bis jubelnden Tönen umzustimmen. Das prominente Ausrufezeichen, mit dem etwa das Stichwort Gegenwartsliteratur auf der Titelseite eines der jüngst erschienenen Hefte der „Neuen Rundschau“ versehen wird, darf in dieser Hinsicht als augenzwinkerndes Signal eines solch konsensualen Klimawechsels in der breiteren Leseöffentlichkeit betrachtet werden.28 Mit bedingt durch die Markierung des ‚Hier und Jetzt‘ als dynamische Sinnkonfiguration ist die Konzentration auf das breite Spektrum der Bedeutungsgefüge, die sich aus dem Neben- und Ineinander der einzelnen Positionsbestimmungen und Akzentsetzungen ergeben und die auch im Mittelpunkt dieser kollektiven Untersuchung stehen: Gegenwart als zeiträumliche Kontextualität, als historischer Erfahrungsraum, als subjektiver Wahrnehmungshorizont, als episodische Momentaufnahme, als veränderte Bewusstseinslage, als Neukodierung von Sprachzuständen, als Ausgangspunkt einer imaginativen Transformierbarkeit der Welt über die Grenzen – und Krisen – des faktisch Gegebenen hinaus. Als komplementäre Folge dieses Ansatzes galt es, die Aufmerksamkeit für die Koexistenz von Traditionslinien und Rezeptionssträngen zu schärfen, die in den jeweils individuellen Signaturen durch Verfahren der Überprüfung, Umgewichtung, Re-Signifikation von gesetzten Motivkomplexen und Stilgeprägen konkreten Ausdruck finden, wobei sich das Repertoire tradierter Topoi der klassischen Moderne wie Natur und Technik, Religion und Wissenschaft, Sprache und Sprachreflexion, Geschichte und Erinnerung als seismographisch relevante – wenn auch nicht erschöpfende – Referenzfolie dargeboten hat. Kurt Pinthus, der es mit kühner Geste wagte, seine Symphonie jüngster Dichtung quasi in Echtzeit sympathetisch zu dokumentieren, hob selber neben dem ikonoklastischen Willen der Avantgarde die stratigraphische Fortwirkung des Gewesenen hervor – und tat es mit ebenso kühnem Rückgriff auf die höchste Kanon-Autorität par excellence, indem er sich rückblickend auf Goethes Diktum berief: „Die literarische

27 Christian Döring (Hg.): Deutschsprachige Literatur. Wider ihre Verächter. Frankfurt/M.:

Suhrkamp 1995.

28 Vgl. Neue Rundschau 126 (2015), 1, S. 5–6. Als Herausgeber des Hefts firmieren das Editorial

Ina Hartwig, Christian Metz und Oliver Vogel.

Zur Lage der Gegenwartsliteratur

Welt hat das Eigene, daß in ihr nichts zerstört wird, ohne daß etwas Neues daraus entsteht, und zwar etwas Neues derselben Art.“29 Damit wurde auf ein entropieverwandtes Prinzip der Energieumwandlung verwiesen, nach dem im literarischen System nichts ex nihilo erzeugt bzw. zerstört werden könne. Die Frage, wie sich das Prisma der Welt- und Wirklichkeitsentwürfe der Gegenwartsliteratur dazu verhält, ist Bestandteil der Sondierungen der hier gesammelten Aufsätze und Äußerungen, die im Sinne einer Perspektivverschränkung in drei Sektionen gegliedert wurden.

29 Kurt Pinthus: Nach 40 Jahren (New York, Sommer 1959). In: Ders., (Hg.): Menschheitsdäm-

merung. Ein Dokument des Expressionismus. Hamburg: Rowohlt Verlag 1991. [Nachdruck von: Kurt Pinthus (Hg.): Menschheitsdämmerung. Symphonie jüngster Dichtung. Berlin: Rowohlt Verlag 1920], S. 14–15.

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Zur Struktur dieses Bandes 1. Unter dem Titel Ästhetik Kritik Vermittlung widmet sich der erste Teil dem Zusammenhang von aktuellen ästhetischen Reflexionen im Zeichen des Gegenwartsbegriffs und dem Bild der Gegenwart in der literaturkritischen Publizistik. Der Eröffnungsbeitrag von Jan Urbich erörtert aus philosophischer Perspektive die kategorialen Rahmenbedingungen und Parameter, die zur Debatte stehen, wenn von „Gegenwart“ und „Gegenwärtigkeit“ die Rede ist. Der Durchgang seiner ideengeschichtlichen Untersuchung kreist zum einen um die enge Bindung des ästhetisch sich (er-)findenden Subjekts um den Begriff der Gegenwart als demjenigen Punkt, an welchem es sich überhaupt erst zu erkennen und in Erscheinung zu treten vermag, ohne dabei, zum anderen, doch weder sich selbst noch dieser Gegenwart ganz anzugehören: Doch entstehen genau in dem sich eröffnenden Bereich der Nicht-Identität ästhetische Bilder und Entwürfe von Gegenwart, in welchen deren Kräfte und Dynamiken zu Schrift und Stimme finden. Die darauffolgenden zwei Aufsätze gehen von diesen erkenntniskritisch-ästhetischen Präliminarien zum aktuellen Panorama der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur über, wie es sich vorzugsweise im Blick auf die Feuilletonkultur und die Paradigmen der Literatursoziologie darbietet. Carsten Rohde widmet sich einer kritischen Rekapitulation der mehr oder minder Aufmerksamkeit erregenden Debatten, Skandale und Querelen, die der Literaturbetrieb in den letzten 15 Jahren hervorgebracht hat, und kontrastiert dabei ihre Relevanz und Nachwirkung durch einen parallelen Bezug auf autonome Selbstbehauptungsabsichten von Autoren und Werken. Komplementär dazu fokussiert Steffen Richter die marktwirtschaftlichen Bedingungen, unter denen Neuerscheinungen heutzutage von Buchmessen- zu Buchmessensaison oftmals vor allen ästhetischen oder inhaltlichen Debatten (oder gar an deren Stelle) an das Lesepublikum gebracht werden. Im Anschluss gewährt Thomas Geiger Einblick in Mechanismen und Dynamiken der institutionellen Literaturvermittlung, der seiner beruflichen Haupttätigkeit direkt entspringt – zum einen als Mitherausgeber der Zeitschrift Sprache im technischen Zeitalter, zum anderen als Kurator des Veranstaltungsprogramms im Literarischen Colloquium Berlin, das, 1964 von Walter Höllerer gegründet, als zentrale Instanz zur Förderung der zeitgenössischen Literatur nicht nur im deutschsprachigen Raum gilt.

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2. Der zweite Teil konzentriert sich unter dem Titel Texte Kontexte Lektüren auf zwei verschiedene Generations- und Gattungsperspektiven, wobei in der Parallelführung von Prosa und Gedicht dem lyrischen Diskurs als privilegiertem Ort poetologischer Selbstauskünfte ein besonderer Stellenwert eingeräumt wird. So verbinden sich hier Textanalysen zu Werken von Jürgen Becker, Paulus Böhmer, Hans Magnus Enzensberger, Wulf Kirsten, Michael Krüger, Volker Braun, Botho Strauß mit Einblicken in die ästhetischen Entwürfe einer jüngeren ‚west-östlichen‘ Generation, die aus intern differenzierten Jahrgangskohorten besteht, zu der ebenso repräsentative Stimmen der zeitgenössichen Literatur wie Ulrich Peltzer, Lutz Seiler, Marcel Beyer, Uljana Wolf gehören. – Und nicht selten erschließen sich durch diese Gegenüberstellung bedeutsame poetologische Korrespondenzen bzw. dialogische Affinitäten zwischen den jungeren und den älteren Autoren. Den Einstieg bildet Stephan Turowski, der in seiner empathischen Lektüre des Becker-Gedichtes See-Wetter; aber die See nicht veranschaulicht, wie das scheinbar minimale orthografische Detail des Semikolons der Gegenwart des lyrischen Sprechers die in ihr verborgenen Dimensionen des Vergangenen, Zukünftigen, aber auch Hypothetischen und Imaginierten erschließen und hinzugewinnen kann. Hinsichtlich der Neuaufwertung der Tradition des Langgedichts untersucht Romina Nikolić Paulus Böhmers Hauptwerk Kaddish, das verschiedenste Gegenwarten und Vorstellungswelten zu einem ‚Totenbuch‘ vereint und im Beschwören der „langen letzten Sekunde“ das Leben als organische Unendlichkeit festzuhalten – und zu feiern sucht: Eine ästhetische Transgression, welche die Schwellen kodierter lyrischer Formen überschreitet und dabei Gegenwartsvorstellungen sowie Fragen der Abbildbarkeit, Referenz und Korrespondenz disparater biografischer, historischer und naturwissenschaftlicher Fakten und Zusammenhänge miteinander verbindet. Ausgehend von einem der ältesten lyrischen Motive, der Vogelkunde, zeigt Jan Röhnert am Beispiel jüngster Gedichte von Hans Magnus Enzensberger, Wulf Kirsten und Michael Krüger, wie die genannten Autoren das wissenschaftsgeschichtliche Dispositiv der Ornithologie in ihre jeweiligen, um Erkenntniskritik (Enzensberger), Landschaft (Kirsten) und Zeitempfindung (Krüger) kreisenden Poetiken integrieren und dabei gleichsam aus der Vogelperspektive einen Blick auf die Gegenwart zu werfen vermögen. Zwei antithetische Habitusformen gegenüber dem Strukturwandel der Gegenwart stehen im Mittelpunkt der Beiträge von Enza Dammiano und Elisabetta Villano. Enza Dammiano wendet sich dem „fortgesetzten Engagement“ Volker Brauns zu und zeigt dabei, wie die für seine Poetik bestimmende Konfrontation Kapitalismus vs. Sozialismus auch nach der Wende fruchtbares Material einer eigenwilligen Fortschreibung des „grässlichen Fatalismus der Geschichte“ bleibt; am Beispiel einer

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Nachdichtung der Lyrikerin Uljana Wolf wird ferner illustriert, wie sein Œuvre als Inspiration und Vorbild im produktiven Dialog mit dem Werk jüngerer Autoren steht. Elisabetta Villano hingegen unterzieht Botho Strauß’ elitäre Auffassung der Dichterrolle im Kontext der digitalen Revolution einer kritischen Reflexion und erläutert dabei, wie seine Re-Aktualisierung der an Dostojewski angelehnten Haltung des „Idioten“ mit einer kulturpessimistischen Diagnose der multimedialen „Incommunicabilitas“ als nivellierende Reproduktionsdynamik von seriellen „Menschen im Konsens“ einhergeht. In Zusammenhang mit dem Experimentieren neuer medienbewusster Schreibformen nimmt sich Lorenzo Licciardi den Realismus-Begriff Ulrich Peltzers vor: Am Leitfaden von dessen 2011 gehaltenen Frankfurter Poetikvorlesungen untersucht er das Eröffnungskapitel des Romans Teil der Lösung, um anhand exzerpierter Textpassagen Peltzers Auseinandersetzung einerseits mit dem Gerüst der einflussreichsten medienkritischen Theorien, andererseits mit der Tradition der deutschen klassischen Moderne bzw. der nordamerikanischen Postmoderne nachzuspüren. Valentina Di Rosa deutet Lutz Seilers Poetik der Erinnerung als bewusste Positionierung in der ‚Post-DDR-Gegenwart‘, lenkt aber zugleich das Augenmerk auf bislang unbeachtete Aspekte seiner lyrischen Produktion, die im Zeichen einer „Moderne ohne die üblichen Modernismen“ eine eigenwillige Aneignung der Tradition des 20. Jahrhunderts aufweist und auf diesem Weg zu einer ästhetischen Neukodierung des Natur- und Dinggedichts führt. Robert Hain rekonstruiert die intertextuellen Beziehungen zwischen Marcel Beyers Gedicht An die Vermummten und der deklarierten Vorlage, Georg Trakls An die Verstummten, und verdeutlicht dabei, wie im Spiel von Pastiche, Collage und Sampling Techniken der historischen Avantgarden, der zeitgenössischen Popkultur und des globalen Infotainments aufeinanderprallen und verschmelzen bzw. wie die unmittelbare Aktualität durch den Blick in die Vorgeschichte apokalyptischer Poetiken und historischer Katastrophen an Tiefenschärfe gewinnt. Zwei Aufsätze sondieren anschließend die rezenten Transformationen der Gegenwartsliteratur im Sinne einer Grenzerweiterung der ästhetischen Praxen: Daniela Allocca fokussiert das Phänomen des Poetry-Slam im Hinblick auf seine experimentelle Performativität und plädiert dabei für eine Neuaufwertung des Hörens als Grundlage ‚akustischer‘ Gemeinschaftsbildungen, während Christian Stein die ‚andere‘ Sprache der Digitalisierung bzw. die Entstehung von Gedichten als algorithmisches Produktionsverfahren analysiert und dabei beleuchtet, wie solche Texte als Computerprogramm bzw. sogenannter ‚Quellcode‘ durch elektronische Befehle im virtuellen Raum generiert und somit auf der Bildschirmoberfläche realisiert werden.

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3. Der dritte Teil ist unter dem Titel Lesungen Gespräche Akzente den sieben nach Braunschweig eingeladenen Autorinnen und Autoren gewidmet, die sich mit ihren Gegenwartsassoziationen und eigens zu diesem Anlass beigesteuerten Texten an unserem Symposium beteiligt haben: Jürgen Becker, Marcel Beyer, Kathrin ­R öggla, Julia Schoch, Tom Schulz, Ulf Stolterfoth, Jan Wagner. Leitkriterium bei der Zusammenstellung dieses Ensembles war, zumal durch die dialogische Gegenüberstellung von zwei Generationen eine möglichst repräsentative Heterogenität zu erzielen, sowie auch – im Sinne der beabsichtigten Verbindung des wissenschaftlichen mit dem ästhetischen Interesse – wenigstens einige unserer Präferenzen als Literaturleser gelten zu lassen. Gestaltet wurde der Austausch in Form von drei Lesungs- und Diskussionsrunden, an denen noch zwei Vertreter des Literaturbetriebs, Kristina Maidt-Zinke und Thomas Geiger, in ihrer doppelten Rolle als Innen- und Außenbetrachter teilnahmen. Neben den von den Autorinnen und Autoren selbst kommentierten Äußerungen in Lyrik- und Prosaform, die einen fokussierten Zugang zu ihren Werken und Poetiken ermöglichen, bieten sich die hier aufgezeichneten Gesprächsauszüge als Vergegenwärtigung differenzierter Ansichten, Interessengefüge, Erfahrungshintergründe und ergeben in ihrer Gesamtheit eine literarisch-reflexive Partitur von Stimmen, die in gegenseitiger Relativierung dennoch gelegentlich Berührungspunkte und gegenseitige Resonanzen aufzuweisen vermögen. Thematisiert wurden die ästhetischen Strategien im Umgang mit der Gegenwart sowie das subjektive Verständnis von Zeitgenossenschaft: Keine fest kristallisierten Thesen kommen dabei zum Vorschein, eher Denkbewegungen, die sich im Takt des Mündlichen artikulieren und in ihrem prozessual offenen Charakter anregenden Stoff zur Reflexion bieten, weit über die jeweils verfolgten Spuren hinaus. Wegweisende Anregungen hinsichtlich der gesamten Projektgestaltung kamen weiterhin aus der ‚Parallelaktion‘ des Forschungskolloquiums zur Gegenwartsliteratur, das seit 2009 an der Universität „L’Orientale“ Neapel besteht. Unter dem Titel „scrittureletturetedesche“ beruft sich das Kolloquium auf die deutschsprachige Tradition der Poetikvorlesungen und kombiniert sie mit der didaktischen Praxis des Seminars, wobei im Mittelpunkt der Werkstattgespräche mit den jeweils eingeladenen Autorinnen und Autoren ein close reading der Texte sowie Fragen zu Werk und Ästhetik stehen1. 1

Kuratoren des Programms, das sich einer Kooperation mit dem Literarischen Colloquium Berlin, dem Goethe-Institut und dem Istituto Italiano per gli Studi Filosofici verdankt, sind Thomas Geiger (Berlin) und Valentina Di Rosa (Neapel). Bisherige Gäste der Literaturreihe waren: Ulrich Peltzer (2009), Uwe Timm (2009), Lutz Seiler (2010), Marcel Beyer (2010), Sibylle Lewitscharoff (2011), Jan Wagner (2011), Katja Lange-Müller (2012), Ann Cotten (2013), Ingo

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Nach einem analogen Prinzip galt als Auftakt zum Braunschweiger Symposium der im Mai 2015 in Neapel veranstaltete Workshop, wo wir uns mit StudentInnen, DoktorandInnen und NachwuchswissenschaftlerInnen aus den Reihen beider Universitäten vorbereitende Lektüren aus den Werken der sieben von uns angesprochenen Autorinnen und Autoren vornahmen: Daraus sind sowohl einige der hier versammelten Beiträge hervorgegangen als auch Reflexionen und Fragestellungen, die später als roter Faden der Literaturgespräche im Hintergrund standen. Rückblickend erinnert das kollegiale Miteinander der deutsch-italienischen Braunschweiger Tage an die Figur der Konversation, wie sie Roland Barthes in Anlehnung an Mallarmé preist und mit Rekurs auf das assoziierende Prinzip einer sich nach und nach formierenden „Kette“ pointiert: In der Wanderbewegung der Worte könne jeder „reihum zum Zeremonienmeister werden“ – Anfangsfigur sei nur eine Geste, deren Rolle darin bestehe, „den Ring in die Runde zu werfen“.2 Von besonderem Wert war für uns deshalb die Dialogbereitschaft der Autorinnen und Autoren, und im Besonderen geehrt waren wir, dass Jürgen Becker einverstanden war, mit seiner Präsenz und seiner Stimme unser Symposium zu eröffnen – und insofern als Erster den Ring in die Runde zu werfen. Viel prägnanter als wir es konnten, hat er nämlich eine zentrale Dimension des ,Hier und Jetzt’ zu formulieren gewusst, als er bereits in einem Interview aus den 1970er Jahren seinen ästhetischen Entwurf abseits von der „Äußerung eines allgemeinen öffentlichen Bewußtseins“ im Spannungsfeld zwischen „sprachlicher“ und „außersprachlicher“ Aktion verortete und damit einen eminenten Beweis dafür liefert, dass das transformative Potential der Literatur – ihr „verändernder Impuls“ – wohl immer im hic et nunc eingebettet liegt, in dem Schreiben und Lesen sich einander begegnen: Wo die Sprache ihre Grenzen zeigt, provoziert sie zur außersprachlichen Aktion. […] Aber dennoch sind Aktionen meine Sache nicht, um so weniger, als ich Schreiben selber bereits als Aktion verstehe, als Aktion meines Bewußtseins, meines Denkens, meiner Sinne. […] Dennoch ist ein Verhältnis selbst zum unbekannten Leser denkbar, etwa dann, wenn der Leser aus den Stimmen, die ich zum Reden bringe, etwas heraushört, was auch seine Erfahrung zum Reden bringt. Denn wo in meinen Texten mein „Ich“ sich äußert, ist es immer ein vielstimmiges, multiples Ich, das gewissermaßen zum jedermann verfügbaren Medium werden kann. Und damit […] hat auch das Schreiben aus privaten Erfahrungen heraus nichts Isoliertes, Monologisches mehr. Denn es greift über in die Privatheit des Lesers, macht ihn sensibel für die eigene Umgebung, läßt ihn hören auf das, was in seinem Kopf und um ihn herum durcheinanderredet, aktiviert

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Schulze (2013), Marion Poschmann (2013), Navid Kermani (2014), Kathrin Röggla (2016), Durs Grünbein (2016), Ulf Stolterfoth (2017), Uljana Wolf (2018), Thomas Hettche (2018). Roland Barthes: An das Seminar. [Originaltitel: Au séminaire. Paris: Éditions du Seuil 1984]. In: Ders: Das Rauschen der Sprache. Deutsch von Dieter Hornig. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2006, S. 363–373 [mit einigen Änderungen].

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seine Sinne und sein Gedächtnis und legt am Ende vielleicht einiges von den Verschüttungen frei, unter denen seine Identität verschwunden ist3.

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Manfred Leier: Interview mit Jürgen Becker. In: Leo Kreutzer (Hg.): Über Jürgen Becker. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1972, S. 20–25, hier S. 24.

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I. Ästhetik Kritik Vermittlung

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Von der Unmöglichkeit, in der Gegenwart seiner selbst zu leben – und von der Kunst, es doch (nicht) zu tun · Bemerkungen zu einem Problemfeld in der Philosophie und Ästhetik seit dem Deutschen Idealismus Der begriffsgeschichtliche Problematisierungsspielraum, der im Ausdruck „Gegenwartsliteratur“ liegt, ist enorm. Denn der Begriff der „Gegenwart“, reduziert auf sein semantisches Grundgerüst, birgt Falltüren in sich, oder besser gesagt: Die grundsätzliche philosophische Reflexion seiner semantischen Infrastruktur führt zu systematischen Beschreibungsproblemen. Freilich, so würden ordinary language-Philosophen sagen können, ist der Gebrauch des Ausdrucks „Gegenwart“ in unserer sprachlichen Alltagspraxis weitestgehend unproblematisch. Wir wissen praktisch, worauf wir uns extensional beziehen und in welcher Weise wir dies intensional tun (wir kennen also implizit sowohl die Bedeutung als auch den Sinn dieses Ausdrucks)1, wenn wir ihn anwenden, und wir werden gewöhnlich in dieser Anwendung von Anderen verstanden. Wenn man demnach mit Heidegger das praktische Wissen des „Sichverstehen auf“2 als Wissen, wie ich mit den Gegenständen und Sachverhalten der Wirklichkeit bzw. ihrer sprachlichen Verfügung umzugehen habe, und wie es ist, bekannt zu sein mit ihren Gebrauchskontexten – als Indikator eines nichtbegrifflichen Verstandenhabens dessen, was sie ausmacht, und als Ausweis des heimisch seins in ihrer Umwelt – als maßgeblich ansetzt, und folglich Wittgensteins Definition „Eine Bedeutung eines Wortes ist eine Art seiner Verwendung“3 teilt, so verschwindet dieser Problemhorizont möglicherweise aus dem Blickfeld. Da jedoch m.E. Philosophie mehr sein sollte 1

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Die Begriffe hier nach Gottlob Frege: Über Sinn und Bedeutung. In: Ders.: Funktion, Begriff, Bedeutung. Fünf logische Studien. Hg. v. Günter Patzig. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 6 1986, S. 40–66. Istvan M. Fehér: Verstehen bei Heidegger und Gadamer. In: Günter Figal/Hans-Helmuth Gander (Hg.): Dimensionen des Hermeneutischen. Heidegger und Gadamer. Frankfurt/M.: Klostermann 2005, S. 89–117, hier S. 105. Vgl. Martin Heidegger: Sein und Zeit. Tübingen: Klostermann 182001, S. 78 [§ 17] bzw. S. 142–148 [§ 31]. Ludwig Wittgenstein: Über Gewißheit. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1970, S. 24; vgl. auch Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen. In: Ders.: Werkausgabe. Bd. 1. Frankfurt/M.: Suhrkamp 81992, S. 225–619, hier S. 262 [43]: „Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache.“

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als eine Beschreibung des funktionierenden Alltagsgebrauchs von Ausdrücken unter Hinnahme ihrer selbstverständlichen Geltung, müssen demgegenüber andere Voraussetzungen für eine grundsätzlich philosophische Herangehensweise anerkannt werden: Vor allem die negative Voraussetzung, dass man aufgrund der Bekanntschaft mit einem Ausdruck und seinem Gebrauch nicht voraussetzen kann zu wissen,4 welchen vernünftigerweise wesentlichen Bedeutungszusammenhang ein Ausdruck bildet, ob seine logische und semantische Infrastruktur hinreichend deutlich und vor allem widerspruchsfrei expliziert werden kann, ob die Selbstbeschreibung des Ausdrucks mit seinem Gebrauch in Einklang steht, und ob der Anspruch seiner Explikation den Anforderungen der extensionalen Bezugnahme standhält. Pointiert zusammengefasst: „Es geht nicht um die Erforschung dessen, was schon kategorisiert ist, sondern um die Erforschung der Kategorisierung.“5 Wo man demnach literaturwissenschaftlich über ‚Literatur in ihrer Gegenwärtigkeit’ spricht, wie es der hier vorliegende Sammelband in der Vielfalt seiner Perspektiven unternimmt, ist in theoretischer Perspektive – auf begriffslogischer Ebene und vor allen empirischen Befunden und Diskussionen – die ‚Gegenwärtigkeit als Modus von Literatur’ in ihren kategorialen Möglichkeiten und Grenzen thematisch relevant: Gerade dann besonders, wenn es als empirischer Befund nicht von der Hand zu weisen ist, auf welch intensive Weise bspw. die Lyrik der Gegenwart eine Lyrik der Gegenwärtigkeit ist, d.h. Gegenwart als Thema und als Form selbst ins Zentrum rückt. Ich will deshalb im Folgenden (1.) einen Problemstand der philosophischen Subjekttheorie der Moderne an ihrem Ursprung im Deutschen Idealismus in Bezug auf die grundlegende Frage nach der Gegenwart des Ich und des Ich in der Gegenwart ganz unvollständig und sehr schematisch anreißen; und zwar deshalb, weil im Rahmen dieser Diskussion das kategoriale Problem der Gegenwärtigkeit erstmals philosophisch eine volle Kontur gewonnen hat. (2.) will ich andeuten, dass die philosophische Ästhetik der Moderne in gewissen Hinsichten und bei bestimmten Autoren das Ästhetische immer schon als Bewältigungsstrategie von Problemen begriffen hat, die mit dieser Geschichte kategorialer Gegenwärtigkeit des Ich zusammenhängen. (3.) will ich anhand einer aktuellen ästhetischen Theorie der Gegenwärtigkeit in der Kunst, Christoph Menkes Buch Die Kraft der Kunst, skizzieren, inwiefern hier die erwähnten Problemstände und Problemlösungsangebote aufgegriffen und reformuliert werden, um dieses Problem bis in die jüngste Gegenwart weiterzureichen.

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„Das Bekannte überhaupt ist darum, weil es bekannt ist, nicht erkannt.“ G.W.F. Hegel: Phänomenologie des Geistes. Frankfurt/M: Suhrkamp 21989 (=Werke in 20 Bänden, Bd. 3), S. 35 [Hervorhebung im Original]. Lambert Wiesing: Artifizielle Präsenz. Studien zur Philosophie des Bildes. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2005, S. 14.

Von der Unmöglichkeit, in der Gegenwart seiner selbst zu leben

1. Die Bodenlosigkeit der Gegenwart des Ich im Deutschen Idealismus Der Begriff raumzeitlicher Selbstgegenwart eines Ich für sich im strengen Sinn des „hier und jetzt“, oder genauer: Gegenwärtigkeit als Erfahrungsmodus des intentionalen Bewusstseins von der kotemporalen und kospatialen Präsenz seiner repräsentationalen Gegenstände mit sich selbst als Körper, Leib und Geist im Jetzt und Hier, ist spätestens seit Kant, Fichte und Hegel ein schwieriger, d.h. hochgradig problembeladener Gegenstand. Der repräsentationale Gehalt intentionaler Zustände, deren Referent die leibseelische Einheit des intentionalen Bewusstseins selbst ist, und die semantische wie metaphysische Logik ihrer Bezugnahme samt der Frage nach ihren Bedingungen und Bedeutungskontexten bilden weiterhin einen der schwierigsten Themenbereiche der modernen Philosophie. Der sogenannte „Deutsche Idealismus“ als Bezeichnung für die deutschsprachige Philosophie Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts hat bekanntlich dem Paradigma der Subjektivität und damit der Form der Ichheit als Prinzip der Philosophie höchste Bedeutsamkeit zugemessen.6 Man könnte sagen: Der Deutsche Idealismus macht ernst mit der Idee, dass letztlich alles Wirkliche auf Strukturen von Subjektivität rückführbar, bzw. dass auch alles scheinbar Nicht-Subjektive in seiner ontologischen Tiefenstruktur angemessener in Begriffen von Subjektivität beschreibbar ist. Diese Idee darf nicht so verstanden werden, als sei damit die Auflösung der Erfahrungswelt in bloße Bewusstseinsprozesse des Ich gemeint, wie man es philosophiegeschichtlich gern zuerst George Berkeley (1685–1753) und seiner Spielart eines phänomenalistischen Idealismus zuschreibt. Es war jedoch gerade eine solche abwegige Definition des Deutschen Idealismus als Epoche, mit der man ihn im 19. Jahrhundert nach seinem Ende zu katalogisieren versuchte (v.a. bei Wilhelm Windelband oder Friedrich Albert Lange, zwei wichtigen Philosophiehistorikern der Zeit), und die ihm den Namen „Deutscher Idealismus“ eingebracht hat. Alles Seiende sei demnach nur Produkt mentaler Prozesse bzw. geistiger Funktionen von Ich-Subjekten, die Wirklichkeit nur ‚erdacht‘ oder gar ‚konstruiert‘. Tatsächlich ist damit das „realistische“, d.h. das auf die externe, nicht-subjekthafte Wirklichkeit sowie auf die Wirklichkeit im Ganzen gerichtete Moment alle dieser Denker ausgeblendet. Denn ihnen geht es gerade nicht um die Einebnung von grundlegenden Unterschieden wie denen zwischen Subjektivität und Objektivität, Ich und Wirklichkeit, Geist und Materie, Bezugnahme und Gegenstand, sondern um das Verständnis von deren komplexer Relationalität. Außerdem war es immer schon ein eklatantes Missverständnis, diese Beziehungshaftigkeit alles Wirklichen auf subjekthafte geistige Gehalte, Bezugnahmesysteme und Regelsysteme mit seiner bloßer Konstitution durch 6

Vgl. dazu Vf.: Der Abgrund der Vernunft. Wie wird das Ich sich seiner selbst bewusst? In: der blaue reiter. Journal für Philosophie 38 (2016), S. 35–39. Die unüberschaubare Forschungsliteratur zum Thema „Subjektivität“ muss hier weder referiert noch aufgezählt werden; sie ist leicht aufzufinden über mittlerweile erhältliche Nachschlagewerke und Sammelbände.

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Subjekte zu verwechseln.7 Parmenides’ Diktum „Dasselbe ist Erkennen und Sein“8 ist viel eher geeignet, die idealistische Prämisse in ihrer erkenntnistheoretischen wie in ihrer ontologischen Seite zu beschreiben: Die ontologisch als geistunabhängig anerkannte externe Realität der nicht-subjekthaften Gegenstandsbereiche ist durch den Geist vollständig erkennbar. Der klassische objektive bzw. absolute Idealismus von Platon bis Hegel, wo er nicht in Ausnahmen wie in Berkeleys phänomenalistischem oder Kants transzendentalem Idealismus die geistexterne Außenwelt (beinahe) ganz leugnet oder (mittels der Verdopplung der Außenwelt in Erscheinungen und ‚Dinge an sich’) zur terra incognita erklärt, hat vielmehr gerade an der Geistunabhängigkeit der Außenweltbereiche die Größe und Kraft des Geistes zu erweisen gesucht. Sowohl sinnlich-empirische wie auch unsinnlich-abstrakte Gegenstandsbereiche sind im objektiven Idealismus ohne Rest für Subjekte verständlich und begriffsförmig reformulierbar – weil auch in ihrer Unabhängigkeit vom Mentalen, d.h. vom subjektiven Geist, die Substanz ihres Bestehens und Entstehens, d.h. die Bedingungen ihrer Geltung und Genese, als Instanziierung von geistigen Regelsystemen zu verstehen sind. Der objektive Idealist ist so metaphysischer Realist, wenn auch zumeist ergänzt um die ontologische These, dass diese denkunabhängige Realität eine subjektexterne und unendliche („absolute“) Realisation derselben geistigen Gründe, Strukturen und Prinzipien ist, die das intentionale Bewusstsein in der Weise endlicher subjektiver Formen und Gehalte prägen. Der sogenannte „Deutsche Idealismus“ als letzte große idealistische Schule der Philosophiegeschichte durchdenkt deshalb in verschiedener Weise die Idee, dass man die notwendige Beziehung von Seiendem auf Geist verstehen muss, wenn man dieses Seiende (oder gar das Sein überhaupt) verstehen will: Wobei dieser „Geist“ deutlich die Substanz von Subjektivität annimmt, ohne dass damit (wie eben erläutert) bloß Mentales gemeint sei. Jedes Grundlagenprogramm von Philosophie ist für dieses philosophische Programm in „Ichheit“ als der unendlichen Form von Ich-Sein zu fundieren, ohne dass alles Seiende damit mentalistisch auf endliche Bewusstseinsinhalte reduziert wird, notwendig endliche Ichheit ist oder nur durch diese entsteht. Subjektivität als Ichheit geht für den „Deutschen Idealismus“ weit über eine ihrer Instanzen, das empirische Ich und seine intentionalen Zustände, hinaus, auf die man jene gern reduziert. Vielmehr ist auch damit eine unendliche, absolute Struktur 7

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Die „ungerechtfertigte[] Gleichsetzung von Zugangs-Bedingungen mit Geltungs-Bedingungen“ (Wolfgang Welsch: Homo mundanus. Jenseits der anthropischen Denkform der Moderne. Weilerswist: Velbrück 2012, S. 28) bzw. klassisch mit Frege und Husserl der Unterschied von „Genese“ und „Geltung“ (vgl. dazu konzis Gottfried Gabriel: Geltung und Genese als Grundlagenproblem. In: Erwägen Wissen Ethik 23 (2012), 4, S. 475–486) sollte demnach gerade hier beachtet werden. „τὸ γὰρ αὐτὸ νοεῖν τε καὶ εἶναι“ (Parmenides: Die Fragmente. Griechisch/Deutsch. Hg. v. Ernst Heitsch. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 21991, S. 16 [B3]).

Von der Unmöglichkeit, in der Gegenwart seiner selbst zu leben

von Geist gemeint, die das Wesen begrifflicher bzw. aussageförmiger Gehalte mit besonderen Dimensionen von Reflexivität und Bewusstsein („Fürsichsein“) verbindet, und die sich unter anderem auch als einzelnes Ich instanziiert, jedoch darüber hinaus größere und komplexere Verwirklichungsformen annimmt, die das einzelne Ich sowie das Paradigma des Mentalen auf das Ganze der Wirklichkeit hin übersteigen. Deshalb ist es für diese Tradition seit Descartes ein so dringliches philosophisches Problem, die kategoriale Architektur des Ich an sich und für sich theoretisch wie praktisch angemessen zu beschreiben. Aus Sicht dieser klassischen modernen Subjektphilosophie gilt jedoch für die Selbstgegenwärtigkeit des Ich als seinen grundlegenden Modus des In-der-Welt-seins, was Augustinus einst für die Zeit überhaupt formuliert hatte: „Quid est ergo tempus? Si nemo ex me quaerat, scio; si quaerenti explicare uellim, nescio.“9 Ich will im Folgenden diesen Problemstand stark verkürzt und vereinfacht skizzieren: Und zwar nur bis zu dem Punkt, an welchem sichtbar wird, warum es sich überhaupt um ein Problem handelt. Die einschüchternd vielfältigen Beschreibungs- und Lösungsansätze dieses Problems in der Philosophie der Moderne und ihre jeweils weitgehenden Transformationen, die es manchmal schwer zu entscheiden machen, ob es sich überhaupt noch um dasselbe Problem handelt,10 bleiben gänzlich unbeachtet, um das ‚Ideal des Problems’ herauszuarbeiten. Für René Descartes ist bekanntermaßen in den Meditationes de prima philosophia (1640/41) die fürsichseiende Selbstgegenwart des Ich der archimedische Punkt, an den alle Geltungsansprüche von Aussagen über sich und die Außenwelt und derart das System von Wissensansprüchen rückgebunden werden können. In der Durchführung des radikalen vernünftigen Zweifels, der alle scheinbaren Grundannahmen, welche auch nur den kleinsten Grund zur Bezweifelung ihres Anspruchs auf Gewissheit erlauben, erst einmal einklammert, um von ihnen die schlechterdings unbezweifelbaren Gewissheiten abzusondern11 und ferner aus ihnen das System des grundsätzlichen Wissens dann neuerlich abzuleiten,12 gelangt Descartes in der zweiten Meditation mit „Was ist Zeit? Wenn niemand mich fragt, weiß ich es; werde ich aber gebeten es zu erklären, weiß ich es nicht.“ Augustinus: Confessiones, lib. X, V.17. Vgl. auch: „Sie [die Zeit, J.U.] ist das Sein, das, indem es ist, nicht ist, und indem es nicht ist, ist […]“. G.W.F. Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse [1830]. Bd. II. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1986 (=Werke in 20 Bänden, Bd. 9), S. 48, [Hervorhebung im Original]. 10 Stellvertretend will ich hier nur auf die Leibphilosophie der Moderne bspw. bei Maurice Merleau-Ponty verweisen, welche bereits die Ausgangslage des Subjektbegriffs gegenüber den Idealisten ändert, indem sie diesen vom Leib und seiner ganz anderen Art der Synchronisation von Ich und Gegenwart her umschreibt. 11 „Der vernünftige Mensch hat gewisse Zweifel nicht.“ Wittgenstein: Über Gewißheit (wie Anm. 3), S. 62 [Hervorhebung im Original]. 12 Vgl. René Descartes: Meditationes de prima philosophia. Lateinisch/Deutsch. Hg. v. Christian Wohlers. Hamburg: Meiner 2008, S. 33–45 (1. Meditation: Über das, was in Zweifel gezogen werden kann).

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dem Titel „Über die Natur des menschlichen Geistes“ an die Instanz des Zweifels selbst, das Ich. Die dort argumentativ erreichte berühmte und als absolut ausgezeichnete Gewissheit, die dann andernorts als „cogito ergo sum“ verkürzt wird,13 darf nicht als eine inferentielle Struktur, d.h. als materiale oder gar logische Implikation im Sinne des dahingehend falsch übersetzten „Ich denke, also bin ich“ missverstanden werden: Und zwar schon deshalb nicht, weil es Descartes um die Begründung basaler, nicht-inferentieller Geltung von Aussagen geht, die aus subjektinterner Perspektive voraussetzungslos und durch sich selbst begründet zweifelsfrei gültig sind und aufgrund dessen Fundamentcharakter übernehmen sollen.14 Descartes’ Argument besteht nicht in inferentiell, sondern in performativ hergestellter Geltung, und damit in besonderer Weise als Idee zweifelsfreier Gegenwärtigkeit eines Ich für sich.15 Diese Gewissheit beruht mithin nicht auf einer rein logischen Geltung in dem Sinne, dass sie unabhängig von Subjekten und ihren raumzeitlichen Handlungen jederzeit gilt wie mathematische Gesetze. Vielmehr ist sie bedingt durch die grundlegende intentionale Handlungsweise des Ich,16 nur innerhalb dieser Bedingung voraussetzungslos gültig und deshalb hinreichend begründet zu sein, weil sie rational unbezweifelbar 13 Wirkmächtig zuerst in: René Descartes: Discours de la Méthode [1637]. Französisch-Deutsch.

Hg. v. Christian Wohlers. Hamburg: Meiner 2011, S. 59 („je pense, donc je suis“). In den Meditationes heißt es anders (und dem Gedanken gemäß richtiger): „[U]nd er möge mich täuschen, soviel er kann, niemals wird er bewirken, daß ich nichts bin, solange ich denken kann, daß ich etwas bin; so daß schließlich, nachdem ich es zur Genüge überlegt habe, festgestellt werden muß, daß dieser Grundsatz Ich bin, ich existiere (Ego sum, ego existo), sooft er von mir ausgesprochen oder durch den Geist begriffen wird, notwendig wahr ist.“ Descartes: Meditationes (wie Anm. 12), S. 49 [Hervorhebung im Original]. 14 Zur Diskussion über die logische Aussageform dieser argumentativen Gelenkstelle bei Descartes vgl. Gregor Betz: Descartes’ „Meditationen“. Ein systematischer Kommentar. Stuttgart: Reclam 2011, S. 85–95 [Hervorhebung im Original]. 15 Anders als Betz und Grundmann (Thomas Grundmann: Analytische Einführung in die Erkenntnistheorie. Berlin: de Gruyter 2008, S. 292–298; und Ders.: Descartes’ Cogito-Argument. Versuch einer sinnkritischen Rekonstruktion. In: Ders. (Hg.): Anatomie der Subjektivität. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2005, S. 255–276) glaube ich, dass eine solche Art der performativen Geltung durchaus hinreichend schlüssig erläutert werden kann. „Performativ“ verstehe ich allerdings nicht im Sinne der Lesart Hintikkas, der sie gegen die Standardinterpretation des Schlusscharakters erstmals vorgeschlagen hat (Knowledge and Belief. Ithaca: 1962), sondern in der hier im Folgenden skizzierten Weise, die sich von Hintikkas Logik des „performativen Widerspruchs“ und der „performativen Beglaubigung“ deutlich unterscheidet. 16 „Was aber bin ich demnach? Ein denkendes Ding (res cogitans). Was ist das? Nun – ein denkendes, einsehendes, behauptendes, bestreitendes, wollendes, nicht wollendes, und auch etwas sich vorstellendes und sinnlich wahrnehmendes Ding.“ (Descartes: Meditationes (wie Anm. 12), S. 57). Descartes denkt das sich denkende Ich, wo es sich unzweifelhaft im Vollzug gegeben ist, konsequenterweise auch nur als sich vollziehendes gegeben, d.h. das Ich ist sich unmittelbar gewiss nicht als ein vorgestelltes Ding, sondern als unanschauliche Funktion von Tätigkeitsweisen bzw. Handlungsarten des Geistes im Zeitraum ihres Selbstvollzuges.

Von der Unmöglichkeit, in der Gegenwart seiner selbst zu leben

ist.17 Das Cogito bezeichnet die philosophische Reflexion auf die besondere epistemische Erfahrung eines prinzipiell für sich offenen Selbstvollzugs, der im Moment seines Geschehens nicht anders erfahren werden kann, wenn er auch als kontingenter prinzipiell stets anders ausfallen (oder ganz ausfallen) kann, und der alle anderen Denkakte als Horizont begleitet und umspannt. Das unbezweifelbare Sein des Ich und damit die gewisse Wahrheit des Satzes „Ich existiere“ im komplexen raumzeitlich erstreckten Augenblick seines Aussprechens bzw. Ausagierens bestehen eben darin, dass das Ich sich im Moment des ihm gegenwärtigen Vollzuges des eigenen Denkens notwendig, unmittelbar und unbezweifelbar als existentes Dasein in einem Jetzt und Hier immer schon zweifelsfrei erschlossen ist, und dass es dieses Erschlossensein reflexiv zum Gegenstand eines völlig evidenten und unbezweifelbaren Wissens von sich machen kann: Mit anderen Worten, dass es eine besonders ausgezeichnete, zweifelsfreie und unmittelbare Art des Wissens aus der Erste-Person-Perspektive gibt, die von jedem umweltbezogenen Wissen kategorial, funktional und qualitativ unterschieden werden muss.18 Es macht schlechthin keinen Sinn daran zu zweifeln, so Descartes,19 dass ich es bin, der mir in der Selbstgegenwart meiner Denkvollzüge insofern sie gerade von mir vollzogen werden, unmittelbar gewiss „da“ ist, dessen Gegenstandsbewusstsein also von einem irreduziblen impliziten Vollzugsbewusstsein begleitet wird, das anders als das Gegenstandsbewusstsein nicht falsifizierbar oder unsicher ist, und das expliziert werden kann; so wie es analog bezüglich nicht-intentionaler, nicht-faktiver Akte des Empfindens, die für Descartes ebenfalls den Charakter basaler Überzeugungen besitzen, keinen Sinn macht daran zu zweifeln,

17 Mit Carnap könnte man sagen, dass der Vollzug des fundamentalen Handlungscharakters des

Ich das „linguistische Rahmenwerk“ der Geltung ist, welche in der Ich-Gewissheit ausgesprochen wird (Rudolf Carnap: Empirismus, Semantik und Ontologie. In: Ders.: Bedeutung und Notwendigkeit. Wien: Springer 1972, S. 257–278, hier S. 269). 18 Inwiefern die Erste-Person-Perspektive und ihre privilegierten Zugänge zu Bewusstseinsinhalten, aus denen u.a. epistemische Normen wie Verantwortlichkeit erwachsen, für die Zuschreibung von „Wissen“ notwendig sind, ist hingegen Gegenstand der Diskussionen zwischen dem epistemologischen Internalismus und dem Externalismus (vgl. dazu konzis Johannes Hübner: Einführung in die theoretische Philosophie. Stuttgart: Metzler 2015, S. 45–53; Grundmann: Analytische Einführung in die Erkenntnistheorie (wie Anm. 15), S. 249–277). Davon zu unterscheiden ist die ontologisch vorgelagerte und in der „Philosophie des Geistes“ seit Gilbert Ryle kontrovers diskutierte Frage, ob es überhaupt verständlich ist zu sagen, dass der Geist eines Menschen für sich selbst unmittelbar transparent und selbstenthüllend, d.h. sich in einer selbstevidenten, unfalsifizierbaren und unvermittelten Weise vor allen anderen Bezugsweisen und aufgrund einer eigentümlichen Quelle dieses Selbstwissens vertraut ist. Vgl. Ansgar Beckermann: Analytische Einführung in die Philosophie des Geistes. Berlin, New York: de Gruyter 3 2008, S. 405–410. 19 Descartes: Meditationes (wie Anm. 12), S. 49 f.

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dass ich es bin, der Schmerzen hat, wenn ich Schmerzen habe;20 oder daran zu zweifeln, dass ich Schmerzen fühle, wenn ich Schmerzen fühle. Ichheit ist ein Seinsmodus, der sich im Moment des Vollzuges seiner grundsätzlichen bewussten Akte des Denkens, Fühlens, Meinens, Glaubens, Handelns selbst unmittelbar, unvordenklich und unbezweifelbar gegenwärtig und erschlossen ist. Ich muss ebenso wenig aus den Tatsachen des Bewusstseins erst erschließen, dass ich es bin, der hier und jetzt etwas denkt, fühlt und handelt, wie ich nicht erst erschließen muss, dass ich hier und jetzt gerade dabei bin, denkend, fühlend und handelnd bei mir zu sein: Ganz gleich wie begrifflich beschreibbar und erschließbar dieses Hier und Jetzt ist, und ebenfalls unter Ausklammerung der Frage, ob in diesem Zugleichsein und In-der-Welt-sein nun das Ich, die Welt oder der Zustand des Wahrnehmens selbst als primäre Realität dieser Konfiguration zu verstehen ist.21 Das Ich ist sich selbst auf diese grundsätzliche Weise aber auch eine Zumutung ständigen Ausgesetztseins in die eigene unentrinnbare Gegenwart seiner bewussten Vollzüge.22 Menschen sind nach humanistischer bzw. aufklärerischer Auffassung Wesen der beständigen Selbsttranszendenz, die die empirische Nichtidentität mit sich als Maß ihrer Bildung an sich tragen, und idealerweise das ständige Wachsen am Anderswerden nicht nur auszuhalten vermögen, sondern geradezu suchen und kultivieren: „Jedes Thier ist, was es ist: der Mensch allein ist ursprünglich gar nichts. Was er sein soll muß er werden: und da er doch ein Wesen für sich seyn soll, durch sich selbst werden. Die Natur hat alle ihre Werke vollendet, nur von dem Menschen zog sie die Hand ab, und übergab ihn gerade dadurch an sich selbst. Bildsamkeit, als solche, ist der Charakter der Menschheit.“23 Zur Begrenzung dieses existentiellen Drucks ständigen Anderswerdens wie auch zur Absicherung des Geltungsdrucks, der ihnen in dieser dynamischen Geistnatur entsteht, benötigen Menschen nach Descartes jedoch ein gewusstes bzw. wissbares Fundament unverlierbaren Beisichseins im Augenblick ihrer Seelentätigkeiten. Dieses Beisichsein verschafft außerdem allen Akten der Selbsttranszendenz epistemische bzw. praktische Geltung und einen minimalen existentiellen Rückhalt in der Konstanz von ichhafter Personalität,24 sodass alle Ver20 Hier gegen Grundmann: Analytische Einführung in die Erkenntnistheorie (wie Anm. 15), S.

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296 f., der eben diese unmittelbaren Überzeugungen über nicht-faktive Bewusstseinszustände nicht als Kandidaten zweifelsfreier Geltung ansieht; allerdings vor allem deshalb, weil er sie in seiner Argumentation immer wieder mit faktiven mentalen Zuständen durcheinanderwirft. Vgl. dazu Lambert Wiesing: Das Mich der Wahrnehmung. Eine Autopsie. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2009. Vgl. ebd., S. 124 ff. Johann Gottlieb Fichte: Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Hg. v. Reinhard Lauth u.a. Abteilung I, Bd. 3: Werke 1794–1796. Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog 1966, S. 379 [Hervorhebung im Original]. Vgl. zum Problem dieser Identität grundlegend Martine Nida-Rümelin: Der Blick von innen. Zur transtemporalen Identität bewusstseinsfähiger Wesen. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2006, S.

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änderung nicht in Verwandlung umschlägt und das Ich für sich selbst unerkennbar wird.25 Die positive Normativität der Gewissheit des Ich im Vollzug seiner selbst, d.h. das innere wie äußere latente Selbstvernehmen in der Gegenwart seiner selbst,26 die niemals völlig asynchron werden kann, wird erst viel später, bspw. von Emmanuel Levinas, ethisch radikal in Frage gestellt und als Belastung artikuliert. Levinas’ früher Text Ausweg aus dem Sein/Über die Evasion (1935/36) formuliert deshalb: Die Identität des Menschen mit sich selbst verliert den Charakter einer logischen oder tautologischen Form; sie nimmt vielmehr, wie wir zeigen werden, eine dramatische Form an. In der Identität des Ich offenbart die Identität des Seins sich wesenhaft als Verkettung, da sie als Leidensform auftritt und zur Evasion einlädt. So ist die Evasion auch das Bedürfnis, aus sich selbst herauszugehen, d.h. die radikalste, unwiderruflichste Verkettung zu durchbrechen, nämlich die Tatsache, daß das Ich es selbst ist.27

Die cartesianische Selbstgegenwart des Ich als „Gefängnis, dem es zu entkommen gilt“, und folglich die Kräfte der „Exzendenz“28 des Menschen zu denken, unternimmt Levinas anhand der Grunderfahrungen des Unwohlseins, der Scham und des Ekels, die das Ausgeliefertsein des Ich an seine eigene Selbstgegenwart überhaupt kennzeichnen. Bereits viel früher aber – um zu Descartes und seinen zeitlich näheren Nachfolgern zurückzukommen – ist metaphysisch die Möglichkeit reiner Selbstgegenwärtigkeit im Bewusstsein logisch zu einem Problem geworden, bevor sie bei Levinas ethisch 15–17.

25 Zum Unterschied von Veränderung und Verwandlung vgl. Hans Georg Gadamer: Wahrheit

und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Tübingen: Mohr Siebeck 51986, S. 116. 26 Zur Theoriegeschichte der Idee des präsentischen Charakters des Ich in seiner Stimme bzw. den Gefährdungen der Selbstgegenwart im Sich-Aussprechen vgl. Jan Urbich: Operative Zeit. Bemerkungen zur Situation moderner Lyrik zwischen Authentizität und Polyphonie – am Beispiel Hölderlins. In: Jan Röhnert/Jan Urbich/Jadwiga Kita-Huber/Pawel Zarychta (Hg.): Authentizität und Polyphonie. Beiträge zur deutschen und polnischen Lyrik seit 1945. Heidelberg: Winter 2008, S. 15–31, hier S. 17–21. 27 Emmanuel Levinas: Ausweg aus dem Sein. Französisch-Deutsch. Hg. v. Alexander Chucholowski. Hamburg: Meiner 2005, S. 15 f. Vgl. die mythische Version dieser Kette der Selbstidentität, wie sie sich – als Mythisches reflektiert – in poetischer Kürze in Goethes Urworte. Orphisch als „Daimon“ ausspricht und von Goethe im Sinne eines Bildungsgesetzes des Individuums rationalisiert wird: „Wie an dem Tag, der dich der Welt verliehen, / Die Sonne stand zum Gruße der Planeten, / Bist alsobald und fort und fort gediehen, / Nach dem Gesetz wonach du angetreten. / So mußt Du sein, dir kannst du nicht entfliehen, / So sagten schon Sibyllen, so Propheten.“ Johann Wolfgang Goethe: Gedichte 1800–1832. Hg. v. Karl Eibl. Frankfurt/M.: Deutscher Klassiker Verlag 1988 (=Sämtliche Werke, Tagebücher und Gespräche. Frankfurter Ausgabe, Bd. 2), S. 501. 28 Levinas: Ausweg aus dem Sein (wie Anm. 27), S. 15

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werden kann: für die Deutschen Idealisten nämlich, mit weitreichenden Folgen für die gesamte Philosophie der Moderne. Die Selbstgegenwärtigkeit des Ich erscheint dabei als wichtiges Moment des übergreifenden idealistischen Problems, wie sich das Ich als Ganzes und als Reales selbst erfassen und beschreiben, d.h. sich im Zusammenhang seiner Momente zum Gegenstand repräsentationalen Selbstbewusstseins mit der Gewissheit von der Realität des eigenen Selbst machen kann, damit es auf der Basis dieser philosophischen Versicherung wie Descartes Geltungs- und Wissensansprüche auf den Ich-Akten aufzusetzen vermag. Das Problem prägt sich zuerst in voller Deutlichkeit, wie so oft, bei Immanuel Kant aus. Seine Kritik der reinen Vernunft beinhaltet einen „Phänomenalismus der Selbsterkenntnis“29, und damit das Problem, dass sich das Ich in der Substanz seiner Gegenwärtigkeit partiell unverständlich wird, folglich die reale Gegenwart seiner selbst als selbstverständlicher und selbstgewisser Ausgangspunkt aller Bezugnahmen und Akte nicht in derselben Weise durch transzendentale Argumente30 philosophisch gesichert werden kann wie das, was sich aus ihr als Apparat der Anschauungsformen, Kategorien, Schemata, Urteilsformen und Ideen ableitet: „[I]ch habe also demnach keine Erkenntniß von mir wie ich bin, sondern bloß, wie ich mir selbst erscheine.“31 Der höchste Punkt von Kants theoretischer Philosophie, die sogenannte „synthetische Einheit der Apperzeption“ als Funktionsbegriff des „Ich denke“, dass „alle meine Vorstellungen begleiten können“ muss,32 verarmt und entleert das Ich in seiner kategorialen Beschreibung. Er verarmt es: Denn das Ich als funktionaler Kern der Selbstidentität aller Urteile unabhängig von jeder Erfahrung, d.h. jenseits der Erkenntnis seiner selbst als Erscheinung, schmilzt auf das hypothetisch angenommene Vollzugsbewusstsein der apriorischen Funktion der Verstandessynthesis zusammen, gegebene Vorstellungen in der Form von Aussagen zur Kontinuität eines Bewusstseins zu verbinden, um durch die Selbigkeit des Bewusstseins die Konstanz von prädizierten Gegenständen sowie die Einheit ihrer Elemente und damit die Form von ‚Etwas überhaupt für mich‘ denken zu können. Er entleert es aber auch: Das Ich wird als Funktion seiner objektkonstitutiven Prozesse33 29 So Georg Mohr in seinem Kommentar zur „Kritik der reinen Vernunft“. Immanuel Kant: The-

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oretische Philosophie. Texte und Kommentar. Hg. v. Georg Mohr. 3 Bde. Band 3. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2004, S. 135 f. Zum Unterschied von Erkennen und Denken bei Kant vgl. Kant: Kritik der reinen Vernunft, B XXVI f. (v.a. die Fußnote). Transzendentale Argumente wiederum haben das Problem, dass sie zirkelhaft das selbst sind, was sie erst begründen wollen (synthetische Urteile a priori); vgl. dazu Thomas Grundmann: Was ist eigentlich ein transzendentales Argument? In: Dietmar H. Heidemann/Kristina Engelhard (Hg.): Warum Kant heute? Systematische Bedeutung und Rezeption seiner Philosophie in der Gegenwart. Berlin, New York: de Gruyter 2004, S. 44–75. Kant: Kritik der reinen Vernunft (wie Anm. 30), B 158. Ebd., B 132. Vgl. Dieter Henrich: Identität und Objektivität. Eine Untersuchung über Kants transzendentale Deduktion. Heidelberg: Winter 1976.

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und als deren Einheitspunkt im Bewusstsein sich selbst gegenüber nur notwendige Annahme und hypothetische Unterstellung, die selbst mit transzendentalen Argumenten nicht weiter aufzuhellen ist als bis zu dem Punkt einer teilweise ungeklärten Voraussetzung. Denn als Grund allen Bestimmens und Verbindens ist es nicht selbst wiederum wie ein Erfahrungsgegenstand in der Erkenntnis bestimmbar, weil es das aller Bestimmtheit und Erfahrbarkeit immer schon vorausgesetzte und stofflose Muster aller synthetischen Prozesse ist.34 Wirklich gegenwärtig im Selbstbewusstsein und in dieser Gegenwärtigkeit funktional verstehbar ist sich das Ich nur als empirisches, d.h. als innere Wahrnehmung (Empfindung) seiner eigenen Zustände in der Zeit, und damit als Erscheinung35. Zwar besteht auch Kant auf einer existentiellen Gewissheit des Ich, nämlich mir „meines Daseins in der Zeit […] durch innere Erfahrung bewußt“36 zu sein, welche – hier wird später Fichte ansetzen – in gleichursprünglicher Fundamentalunterscheidung von „der Beziehung auf etwas, was mit einer Existenz verbunden, außer mir“ zu denken ist,37 sodass auf diese Weise „das Äußere mit meinem inneren Sinn unzertrennlich verknüpft“ wird und derart „die Realität des äußeren Sinnes mit der des inneren, zur Möglichkeit einer Erfahrung überhaupt, notwendig verbunden“ ist. Dieses „empirische[] Bewußtsein meines Daseins“ ist zwar „mehr, als bloß [mir] meiner Vorstellung bewußt zu sein“, d.h. mehr als ein rein bewusstseinsimmanentes Wissen darüber, eine Vorstellung von sich zu haben, aber auf deren reales Substrat (Dasein) bloß durch Glauben verwiesen zu sein, wie es der ‚psychologische[] Idealismus‘ eines George Berkeley behauptet – eben weil dieses empirische Bewusstsein in negativer Korrelation zur Realitätsgewissheit des äußeren Sinns sich mit diesem wechselseitig in der Gewissheit des Daseins der je eigenen Gegenstände stützt, also nicht bloß auf die innere Geschlossenheit der eigenen Vorstellungsmaterie verwiesen ist. Es ist aber zugleich weniger als die epistemische Gewissheit, jenseits der apriorischen Muster der Erfahrung ein „Seyn schlechthin“ bzw. ein „absolute[s]

34 Vgl. Kant: Kritik der reinen Vernunft (wie Anm. 30), B 422. Vgl. Wittgensteins Bemerkungen

zur Rolle und Funktion des „Weltbildes“, die darauf zielen zu zeigen, dass der letzte Rahmen einer propositionalen Bezugnahme nicht Gegenstand dieser Bezugnahme sein kann, weil er alle Formen von Bezugnahmen allererst ermöglicht und diesen so stets vorausliegt (Wittgenstein: Über Gewißheit (wie Anm. 3), S. 33–36). 35 Zum Erscheinungsbegriff vgl. Kant: Kritik der reinen Vernunft (wie Anm. 30), B 34 f. 36 Alle folgenden Zitate aus der großen Fußnote der Vorrede zur zweiten Auflage (B). Kant: Kritik der reinen Vernunft, B XXXIX–XLIII. 37 Vgl. zu Fichtes Gleichursprünglichkeit von empirischem Ich und Nicht-Ich Jan Urbich: Der andere, der ich hätte sein können. Fichte und Ricœur – im Gespräch mit Fernando Pessoa. In: der blaue reiter. Journal für Philosophie 39 (2016). Verweise auf die reichhaltige und hochspezialisierte Fichte-Forschung zum Thema vermeide ich hier erneut, da sie leicht aufzufinden ist.

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Seyn“ zu besitzen:38 „[D]ie Vorstellung von etwas Beharrlichem im Dasein“39 bleibt eine des „Daseins in der Zeit“40 und damit im Rahmen der transzendentalen Muster von Erscheinung, wenn auch nicht als bloßer Schein. Kants „Ich denke“ äußert sich demnach im Vollzug der Akte des intentionalen Ich-Bewusstseins als implizites, begleitendes und nicht-intentionales gefülltes Bewusstsein, welches wie das Licht des Horizontes in seinem funktionalen Vollzug nicht innerhalb von diesem sichtbar gemacht werden kann, eben weil es Sichtbarkeit ermöglicht.41 Wird es selbst zum intentionalen Gegenstand des Bewusstseins gemacht, „ist es ein Denken“, „daß ich bin“, aber „keine Erkenntnis von mir wie ich bin“42: „Das Bewußtsein seiner selbst ist also noch lange nicht ein Erkenntnis seiner selbst“43 und erst recht „nicht ein Anschauen“44, sondern eine gewissermaßen ‚hypothetische Gewissheit’ der eigenen Existenz als Ich, die nicht mehr als einen abgekürzten transzendental-argumentativen Schluss auf den notwendigen Grund alles Bestimmens darstellt. Kants Versuche, mit der Ich-Gewissheit des unbezweifelbaren eigenen Daseins die ontologische Aussagekraft des transzendentalen Apparates bis an seine Grenze auszulasten, vermögen also diese Grenze nicht zu überschreiten: Das Ich bleibt gerade darin statt unmittelbar nur in sich vermittelt (über die Realität des äußeren Sinns), und statt reinem Beisichsein nur Funktion von Erscheinung. Mit Kant steht das Ich deshalb philosophisch unter dem fundamentalen Argwohn der Einheit seiner eigenen Gegenwärtigkeit gegenüber, die es weiterhin nicht bestreiten, der es aber auch nicht mehr cartesianisch als bruchlosen Zugriff auf sich selbst vertrauen kann, weil ihm die vollständige und gewisse Beschreibung der Ebenen und Dimensionen dieser Gegenwärtigkeit entgleitet: Dass es darin gerade nicht sich selbst unmittelbar erfahre, sondern nur in den äußeren Gebilden einer schlimmstenfalls uneigentlichen Erscheinung seiner selbst zuhause sei, durch welche ihm alles mittels der Ich-Funktion gegenständlich vergegenwärtigte ebenso zerrinne. Johann Gottlieb Fichte, der mit seiner Philosophie des „absoluten Ich“ in der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre (1794/95) an eben dieses Problem anknüpft, 38 Friedrich Hölderlin: Urtheil und Seyn. In: Ders.: Sämtliche Werke. Stuttgarter Hölderlin-Aus-

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gabe. Hg. v. Friedrich Beissner. Bd. 4.1: Der Tod des Empedokles. Aufsätze. Text und Erläuterungen. Hg. v. Friedrich Beissner. Stuttgart: Kohlhammer 1969, S. 216 f. Kant: Kritik der reinen Vernunft (wie Anm. 30), B XLIII. Ebd., B XL. Luhmann wird dies später, von jeder allgemeinen oder besonderen Subjektivität gereinigt, als „blinden Fleck“ jedes operativen Beobachtungsvollzuges, der die konstitutive Unvollständigkeit allen Beobachtens bedingt, systemtheoretisch mit ähnlichem Resultat entwickeln. Zum epistemologischen Problem der Selbsterkenntnis als Rückbeugung auf den ‚blinden Fleck‘ allen Erkennens vgl. zuletzt Axel Hutter: Narrative Ontologie. Tübingen: Mohr Siebeck 2017, S. 3–43. Kant: Kritik der reinen Vernunft (wie Anm. 30), B 157 f. Ebd., B 158. Ebd., B 157.

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löst es nur mithilfe seiner Verschärfung. Fichtes erklärtes Ziel besteht darin, gegen die Kantische Vorgehensweise, nämlich bestimmte Grundunterschiede […] als nicht weiter zu vereinigend voraus[zu]setze[n], […] jene ursprüngliche Einheit des Seins und Bewusstseins in dem, was sie an sich und unabhängig von ihrer Spaltung in Sein und Bewusstsein ist, [zu] durchdringe[n] und dar[zu]stelle[n]. Wird man sie, jene Einheit, recht dargestellt haben, so wird man zugleich den Grund, warum sie in Sein und Bewusstsein sich spalte, einsehen; […] alles schlechthin a priori, ohne alle Beihilfe empirischer Wahrnehmung, aus jener Einsicht der Einheit; […]. Diese jetzt beschriebene Philosophie ist die Wissenschaftslehre.45

Als Versuch, die von Kant nicht weiter ableitbaren Grundunterschiede und nicht weiter begründbaren Prinzipien auf eine letzte, zugleich unterschiedslose wie unableitbare und doch in sich grundhafte substantielle Einheit zurückzuführen,46 stößt Fichte auf ein ‚absolutes Wissen‘ als Letztfundament, dem eine bestimmte fundamentale Form von Ichheit zugehört. Diese besteht in der reinen Aktivität der Selbstverwirklichung. Die Grundstruktur von Ichheit als das, was Fichte die „Tathandlung“ des „absoluten Ichs“ nennt, und die im Sich-Setzen des Ich als Identität eines Vollzuges zugleich mit der Unterscheidung zu einem ‚Anderen überhaupt’ besteht, welche als Unterscheidung beide Pole der Unterscheidung allererst hervorruft,47 soll zwar wie bei Kant den Grund der Möglichkeit von Bewusstsein und der Geltung seiner Akte überhaupt abgeben. Deshalb aber kann sie wiederum selbst nicht in das Bewusstsein fallen, also kein intentionaler Gegenstand oder prädikativ formulierbares Medium der Selbsterfahrung des Ich als Einheit mit sich in der Gegenwart seiner selbst sein. Die einzelnen, komplizierten Schritte der Selbstsetzung und des damit verbundenen Selbstbewusstseins brauchen uns hier nicht zu interessieren.48 Entscheidend ist das 45 Fichte: Gesamtausgabe (wie Anm. 23), Bd. III, S. 247. 46 „Die Philosophie ist noch nicht am Ende. Kant hat die Resultate gegeben: Die Prämissen fehlen

noch. Und wer kann Resultate verstehen ohne Prämissen?“ Johannes Hoffmeister (Hg.): Briefe von und an Hegel. 4 Bde. Bd. I. Hamburg: Meiner 1981, S. 14 [Schelling an Hegel, 6.1.1795]. 47 Vgl. Franz von Kutschera: Ein neuer Blick auf Fichtes Wissenschaftslehre. In: Vittorio Hösle, Fernando Suárez Müller (Hg.): Idealismus heute. Aktuelle Perspektiven und neue Impulse. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2015, S. 50–69, hier S. 57 f. Vgl. Johann Gottlieb Fichte: Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre (1794/95). Hg. v. Wilhelm G. Jacobs. Hamburg: Meiner 1997, S. 11–21 (§ 1; Erörterung der Tathandlung des Ich als „schlechthin unbedingter Grundsatz“) bzw. 21–44 (§ 2 und 3. Grundsatz vom Nicht-Ich und dessen Grundverhältnis zum Ich). Zum Grundproblem Fichtes, wie hier erörtert, vgl. bspw. Dichter Henrich: Fichtes „Ich“. In: Ders.: Selbstverhältnisse. Gedanken und Auslegungen zu den Grundlagen der klassischen deutschen Philosophie. Stuttgart: Reclam 1982, S. 57–82. 48 Einen guten Überblickskommentar über die entscheidenden Argumentationsschritte gibt Eckart Förster: Die 25 Jahre der Philosophie. Eine systematische Rekonstruktion. Frankfurt/M.:

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Argumentationsresultat: Das Ich weiß sich praktisch zwar als ein Sein, dessen einzelne Akte des Denkens, Fühlens, Wollens und Handelns in einer stets vorgängigen, nur als ursprüngliche Handlung des Ich zu denkenden Selbsterschließung mit absoluter, kategorischer Geltung gründen. Auf dem Grunde seines Daseins ist das Ich reine Gegenwart und reine Geltung eines Selbstvollzugs des Sich-Eröffnens des Unterschiedes seiner selbst und des „Nicht-Ich“, mittels dessen intentionales Bewusstsein und damit Ichheit allererst möglich wird. Ichheit erlangt ihre unverlierbare Einheit mit sich in Abgrenzung zu Anderem immer schon auf unbezweifelbare Weise, mit sich als Seiendes bekannt und für sich offen zu sein im Unterschied gegen Äußeres: Und zwar durch eine anzunehmende Tathandlung ewiger Präsenz, in welcher das Ich unvordenklich und untrennbar mit sich vertraut, mit sich synchron, im Angesicht seiner selbst gegenwärtig ist. Aber diese reine Gegenwart des unterscheidenden Selbstvollzugs bleibt ihm als empirisches Ich epistemisch verschlossen, weil dieser Akt nicht selbst intentionale Gegenstandsform annehmen und damit in die Unterscheidungskonfigurationen des Bewusstseins49 fallen kann. Rekonstruieren lässt er sich im Nachhinein, d.h. er wird hypothetisch vorausgesetzt; aber im Vollzug bleibt er undarstellbar. Das empirische Ich ist so auf den paradoxen Umstand verwiesen, dass es Ergebnis einer permanenten Selbstverwirklichung ist, deren logisch aber eigentlich notwendig anzunehmender Modus der Selbstgegenwart in der dynamischen Form der Verwirklichung ihm vorausliegt. Bezüglich seiner fundamentalen Seinsweise ist sich das Ich immer schon selbst vorgegeben und bewusstlos geschehen, obwohl es sich durch sich und in sich selbst ständig vollzieht und mit jedem Augenblick vollziehen muss.50 Die temporale Infrastruktur des Ich liegt derart in transzendentaler Schizophrenie begraben. Folglich muss sich das Ich zwar, um sich überhaupt verständlich zu sein, denken als auf seinem Grund im Selbstvollzug einer unveränderlichen Gegenwart seiner selbst gegeben, die beinahe nach dem christlichen Modell der Ewigkeit als „ewige Gegenwärtigkeit“51 zu verstehen ist. Zugleich aber fällt es in seiner empirischen Gestalt niemals mit dieser reinen Gegenwart seiner selbst zusammen: Sie bleibt ihm teilnahmslos verborgen und ist nur spekulativ-abstrakt als unerreichbare Voraussetzung Klostermann 2011, S. 185–233.

49 Zur grundlegenden Unterscheidungsoperation des Bewusstseins vgl. Fichte: Grundlage der

gesamten Wissenschaftslehre (wie Anm. 45), S. 24 f. Zum systematischen Unterschied der epistemischen Typen von Selbsterkenntnis und Objekterkenntnis vgl. Hutter: Narrative Ontologie (wie Anm. 41), S. 4–15. 50 Vgl. Fichtes „Versuch einer Neuen Darstellung der Wissenschaftslehre“ (1797/1798), in welcher dieser Umstand durch eine Kette von Negationen bezüglich der Tathandlung des Ich entwickelt wird, die sie zuletzt beinahe in Nichts – zumindest in das Nichts transzendentaler Abstraktionen auflöst: kein Bewusstsein – kein Begreifen – kein Anschauen – kein bestimmtes Handeln. Fichte: Gesamtausgabe (wie Anm. 23), Bd. 4, S. 213–215. 51 Helmut Echternach: Ewigkeit. In: Joachim Ritter u.a. (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. II. Basel: Schwabe 1982, S. 838–844, hier S. 839.

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zu erschließen.52 Voraussetzungen jedoch, das hat Hegel später aufgezeigt, sind ihrer Genese und Geltung nach als Resultate der Handlungen, die auf ihnen basieren, zu verstehen, und damit immer schon intern erzeugte Funktionen des Abgeleiteten.53 Mit Kant und Fichte kann man sagen, dass sich die Vollzüge und Seinsräume von fundamentaler Selbstheit als Einheit eines Selbst mit sich bzw. als Seinsgewissheit seiner selbst als Ich-sein nur deduktiv und indexikalisch transzendental erschließen, niemals aber als in ihrem Vollzug für ein intentionales Bewusstsein epistemisch präsentisch machen lassen; mit anderen Worten: dass die Form des intentionalen Gegenstandsbewusstseins mitsamt seines Mediums der Sprachlichkeit nicht die primäre und geeignete Darstellungsweise von Ichheit in ihrer letztfundierenden Struktur ist. Fichte baut Kants Gedanken aus, indem er die fundamentale synthetische Form des Selbstbewusstseins, welches gegenständliche Denkakte denknotwendig immer begleitet, in Form eines nicht-intentionalen, bloß impliziten Bewusstseins von sich konzipiert, welches einzig wirklich vollständig bzw. einheitlich ist54 und wiederum als Abbild der vorintentionalen Einheit von Bewusstsein und Sein vorgestellt wird – eben jener Einheit, die im Selbstsetzungsakt des Ich vollzogen wie aufgehoben wird, und die im nicht-intentionalen Vollzugsbewusstsein damit latent in endlich-bestimmter Form eines unfokussierten Sich-Wissens in allem bestimmten Wissen von etwas in das geformte Ich hineinreicht.55 Konkret zugespitzt auf zwei Erscheinungsformen dieser inneren Architektur des Ich zeigt sich dies am Unterschied von Gegenstandsbewusstsein und Vollzugsbewusstsein. Zu jedem expliziten intentionalen Bewusstsein eines Subjekts, irgendeinen Gegenstand zu denken56 (sei es eine mathematische Formel, die Gestalt eines Hauses, die Überzeugung dass es heute regnen wird oder irgendetwas anderes), gehört ein „zweites“, nur implizites Bewusstsein davon, dass man auch weiß, wer diesen Gedanken gerade denkt (nämlich man selbst und nicht irgendein anderer). Dieses für jedes Denken fundamentale implizite, nicht-intentionale 52 Welche Vermittlungsrolle dabei die Instanz der „intellektuellen Anschauung“ spielt (eine

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umkämpfte Frage in der Fichte-Forschung), soll hier ausgeblendet werden. Vgl. neuerdings dazu Xavier Tilliette: Untersuchungen über die intellektuelle Anschauung von Kant bis Hegel. Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog 2015. G.W.F. Hegel: Wissenschaft der Logik II. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1986 (=Werke in 20 Bänden, Bd. 6), S. 28–30. Vgl. später auch Sartres Begriff des „präreflexiven Cogito“: Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1991 (=Gesammelte Werke. Philosophische Schriften I), S. 17–28. Manfred Frank hat diese Idee von Fichte und Sartre aus immer wieder durchdacht, zuletzt summarisch in: Manfred Frank: Präreflexives Selbstbewusstsein. Vier Vorlesungen. Stuttgart: Reclam 2015. Zu diesen Unterschieden von intentionalem expliziten, nicht-intentionalem impliziten, vorintentionalem und überintentionalem Bewusstsein im Anschluss an Fichte vgl. Kutschera: Ein neuer Blick auf Fichtes Wissenschaftslehre (wie Anm. 45), S. 55–62. „Denken“ wird hier im weiten Sinn als „Haben eines Bewusstseinsinhalts“ verstanden.

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Bewusstsein seiner selbst ist jedoch nur unvollständig thematisierbar. Denn wenn ich dieses verdeckte zweite „Bewusstsein in allem Bewusstsein“ thematisiere und so reflexiv selbst zum Inhalt des Gegenstandsbewusstseins mache, läuft auch in diesem Gedanken wieder ein neues implizites, nicht-intentionales Selbstbewusstsein mit, das nicht selbst Thema ist, damit der Inhalt des Gedankens überhaupt für mich zum Thema werden kann; mache ich dieses nun zum Thema, passiert wieder dasselbe, usw.57 Verschiedene Gehalte und Funktionsweisen des menschlichen Geistes sind von ganz unterschiedlichen Arten solcher blinder Flecken betroffen: Die menschliche Vernunft ist seit Kants dezidierter Kritik des vernunftgeleiteten Erkennens und Handelns als eine ihre Funktionalität nach wesentlich endliche und bedingte verstanden, die von ihren unüberschreitbaren Grenzen und ihren uneinholbaren Bedingungen her erst ihre Leistungsfähigkeit erhält. Das heißt: Weder auf dem Grund, in welchem das Ich im Setzungsakt und seinen Bedingungen in bruchloser Einheit mit sich und seiner Umwelt gänzlich bei sich ist, noch in den endlichen Akten seines intentionalen Bewusstseins, die von einem Gefühl des Selbstseins begleitet werden, welches als eben dieses jedoch verschwindet, wenn es selbst Gegenstand des intentionalen Bewusstseins werden soll,58 ergreift sich das Ich vollständig als fundamentale Einheit mit sich, und das meint in der völligen Gegenwart seiner selbst. Die damit erreichte Gedankenfigur der Gegenläufigkeit von reflexivem Bewusstsein bzw. Wissen des Subjekts von sich als Ganzem mit all seinen Voraussetzungen und Gründen,59 und der gleichwohl immer wieder ahnbaren bzw. bruchstückhaft 57 Vgl. dazu im Einzelnen Kutschera: Ein neuer Blick auf Fichtes Wissenschaftslehre (wie Anm.

45), S. 56 ff. Hutter (Narrative Ontologie (wie Anm. 41), S. 4–23) hat gezeigt, warum das Ich in der Selbsterkenntnis, wo diese dem hermeneutischen Prozesscharakter von Selbstheit entsprechend konzipiert ist, gemäß den Normen von Gegenständlichkeit in der Objekterkenntnis zu einem ‚Nichts‘ verkommt. 58 „[M]an kann […] darauf hinweisen, dass mit dem implizit Bewussten in jedem Akt intentionalen Denkens mehr gegenwärtig ist als explizit bewusst wird. Das nur implizit Bewusste kann man sich zwar in einer Reflexion explizit bewusst machen, dabei kommt aber ein neues implizites Bewusstsein ins Spiel, sodass das normale, intentionale Selbstbewusstsein auf allen Reflexionsebenen unvollständig bleibt.“ (Kutschera: Ein neuer Blick auf Fichtes Wissenschaftslehre (Anm. 45), S. 60). 59 Deshalb ist Manfred Franks Unterscheidung von ‚idealistischen‘ und ‚romantischen‘ Theorien des Subjekts auch zu schematisch gehalten: „Als idealistisch bezeichne ich die – zumal durch Hegel verbindlich gemachte – Überzeugung, Bewußtsein sei ein selbstgenügsames Phänomen, das auch noch die Voraussetzungen seines Bestandes aus eigenen Mitteln sich verständlich zu machen vermöge. Dagegen ist die Frühromantik überzeugt, daß Selbstbewußtsein einem transzendenten Grund sich verdankt, der sich nicht in die Immanenz des Bewußtseins auflösen lasse.“ (Manfred Frank: „Unendliche Annäherung“. Die Anfänge der philosophischen Frühromantik. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1997, S. 359 [Hervorhebung im Original]). Diese Charakteristik von ‚idealistisch‘ gilt in bestimmter Hinsicht nur für Hegel, aber nicht für Kant, Fichte oder Schelling, bei denen Subjektivität qua Bewusstseinsform nicht selbstmächtig in jeder Hinsicht

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erfahrbaren vollständigen Selbstgegenwärtigkeit60 hat gerade die Romantiker und Schelling philosophisch intensiv beschäftigt, und im Anschluss daran die philosophische Moderne bspw. bei Husserl, Sartre, Merleau-Ponty und Ricœur, aber auch bei Heidegger und Gadamer entscheidend geprägt.61 Bei Novalis heißt es programmatisch: die Gründe ihres Seins und Handelns aufzuklären vermag, auch wenn dieses Sein wie Sein überhaupt nicht jenseits der Operationen von Subjektivität zu denken ist. 60 Vgl. die Rede vom „Selbstgefühl“ bei den Romantikern, v.a. bei Novalis: Manfred Frank: Selbstgefühl. Eine historisch-systematische Erkundung. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2002. 61 „Darin, das neuzeitliche Subjekt dem Sein gegenüber auf Platz zwei zu verweisen, kommen die philosophischen Entwürfe der letzten 150 Jahre insgesamt überein. […] Die Reflexion vermag zwar durch Selbstnegation die falsche Stellung des Gedankens zur Wirklichkeit zu korrigieren, kann sich aber nicht als Urheber ihres Seins, auch nicht ihrer Selbsttransparenz, anschauen.“ (Manfred Frank: Einführung in die frühromantische Ästhetik. Frankfurt/M: Suhrkamp 1989, S. 260; vgl. dazu auch Winfried Menninghaus: Unendliche Verdopplung. Die frühromantische Grundlegung der Kunsttheorie im Begriff absoluter Selbstreflexion. Frankfurt/M. 1987, S. 72 ff.). Vgl. dazu umfassend historisch und systematisch Manfred Frank: Einführung in die frühromantische Ästhetik, S. 231–341; und zuletzt ders.: Präreflexives Selbstbewusstsein. Vier Vorlesungen. Stuttgart: Reclam 2015; Martin Götze: Ironie und absolute Darstellung. Philosophie und Poesie in der Frühromantik. Paderborn/München u.a.: Schöningh 2001; Jan Urbich: Der Abgrund der Vernunft. Wird das Ich seiner selbst bewusst? In: der blaue reiter. Journal für Philosophie 38 (2015), S. 35–39. Vgl. zu den angesprochenen „Folgen“ als Dezentrierung des Subjekts mittels seiner Abhängigkeit von einem ihm vorausliegenden Grund seiner selbst (der je nach Theoriedesign erscheint als Sein oder Seinsgeschehen, Absolutes, Lebenswelt, Unbewusstes, Geschichte etc.), dem es existentiell zugehört und der ihm doch in der Form des „Cogito“ unerreichbar fremd, indirekt erfassbar und im Ganzen undarstellbar entgegentritt, konzis Bernhard Waldenfels: Idiome des Denkens. Deutsch-Französische Gedankengänge II. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2005, S. 13–31; zu Ricœur in dieser Beziehung sehr klar und umfassend Jens Mattern: Ricœur zur Einführung. Hamburg 1996, S. 39–75, 183–211. Luhmanns Theorie der „Beobachtung zweiter Ordnung“ und der prinzipiellen Unbeobachtbarkeit des Beobachters im Beobachten reformuliert dieses Subjektproblem jenseits der Subjektterminologie systemtheoretisch; zahlreiche andere Theorierahmen ließen sich diesen an die Seite stellen. Peter Sloterdijk bspw. hat rückblickend diese innere Bodenlosigkeit des Ich an Nietzsches Verkoppelung von dionysischen und apollinischen Kräften im Ich gebunden und überzeugend aufgezeigt, dass das Ich-Bewusstsein nur aus dem für es selbst unbeherrschbaren Gegensatz zwischen Begreifen und Unbegreiflichkeit, Grund und Grundlosigkeit zusammengehalten wird: „Das dramatische Denken Nietzsches ist dabei, zu entdecken, daß Selbstreflexion und Identität – im Sinne eines zur Ruhe führenden Einheitserlebnisses – überhaupt nicht gleichzeitig vorkommen können.“ (Peter Sloterdijk: Der Denker auf der Bühne. Nietzsches Materialismus. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1986, S. 70). Heidegger und Gadamer haben diese Bodenlosigkeit des Subjekts zeitlich zu begründen versucht: Heidegger durch die Einrückung des Subjekts in die Vorgängigkeit der „Seinsgeschichte“, Gadamer durch das „Überlieferungsgeschehen“. Deshalb heißt es bei Nietzsche: „Wir bleiben uns nothwendig fremd, wir verstehn uns nicht, wir müssen uns verwechseln, für uns heisst der Satz in alle Ewigkeit ‚Jeder ist sich selbst der Fernste‘, – für uns sind wir keine ‚Erkennenden‘ […].“ (Friedrich Nietzsche: Zur Genealogie der Moral. In: Ders.: Kritische Studienausgabe. Hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Bd. 5: Jenseits von Gut

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„Reflectirt das Subj[ekt] aufs reine Ich – so hat es nichts – indem es was für sich hat – reflectirt es hingegen nicht darauf – so hat es für sich nichts, indem es was hat.“62 Das Ich realisiert sich folglich als permanenter Ausstand seines Grundes, als Defizit einer Selbstgegenwärtigkeit in der Selbstgegenwärtigkeit, auf der es beruht und die doch paradoxerweise für das Ich im Rahmen seiner reflexiven, sprachlichen intentionalen Bewusstseinskompetenzen nicht gegenwärtig sein kann. Der Idealwert seiner eigenen Gegenwärtigkeit wird dem Ich nicht gegenwärtig. Es kann sich nicht einrichten, nicht zuhause sein in dem von ihm verantworteten Raum reiner Selbstpräsenz, durch den es sich selbst ‚gibt‘ und durch den ihm zugleich erst die Geltungen vernünftiger Akte und Handlungen zuwachsen, sondern es kann nur in dessen abgeschatteten Folgeerscheinungen, Ruinen und Wirkungen vegetieren. Hegel schließlich geht in seiner Phänomenologie des Geistes im Kapitel „Die sinnliche Gewißheit“ noch ein Stück weiter: Er liefert eine spekulative Bedeutungsanalyse der sprachlichen bzw. begrifflichen Funktionsweisen, scheinbar unmittelbare Gegenwärtigkeit überhaupt zu bezeichnen – oder besser gesagt: Der Unmöglichkeit, das „hier und jetzt“ als Augenblick unmittelbaren Wissens eines unmittelbar Gegebenen, frei von Vergangensein und Zukünftigkeit (A-Reihe/Modalzeit), von vorher und nachher (B-Reihe/ Lagezeit)63 bzw. frei von Vermitteltsein überhaupt, darzustellen. Laut Hegel ist nämlich bereits das sinnliche „Hier und Jetzt“ als präsentische Markierung der raumzeitlichen Stelle des unmittelbaren Zugriffs auf die Wirklichkeit im strengen Sinn sprachlich bzw. logisch prinzipiell unzugänglich. Es zeigt sich bei genauerer Analyse vielmehr als Effekt und damit als Schein eines darin arbeitenden hochgradigen Vermittlungsgeschehens begrifflicher Allgemeinheit, das stets noch anderes und mehr als die Einfachheit unmittelbarer Gegenwärtigkeit einführt, die gemeint und Böse. Zur Genealogie der Moral. München: de Gruyter 1999, S. 245–412, hier S. 247 f.). Zuletzt hat Judith Butler in ihren Frankfurter Adorno-Vorlesungen aus moralphilosophischer sowie aus psychoanalytischer Sicht das Dilemma des Subjekts, „das sich nicht selbst begründet, d.h. dessen Entstehungsbedingungen sich nie vollständig erklären lassen“ (30), eingehend und ausführlich thematisiert – v.a. im Blick auf das Problem, dass bestimmte, geschichtlich codierte ontologische Normen des Subjektseins als „historisch gegebene präskriptive Codes eine ganz bestimmte Art der Subjektformierung erzw[i]ngen“ (26) – und folgende These einer „Theorie der Subjektformierung [vertreten], die die Grenzen der Selbsterkenntnis anerkennt, […] [und doch] im Dienst einer ethischen Konzeption und sogar im Dienst einer Konzeption von Verantwortung“ steht: „Wenn das Subjekt sich selbst undurchsichtig ist, wenn es sich selbst nicht gänzlich durchdringen und erkennen kann, kann es noch lange nicht tun, was es will, oder seine Verpflichtungen gegenüber anderen ignorieren; ganz im Gegenteil.“ (30) ( Judith Butler: Kritik der ethischen Gewalt. Adorno-Vorlesungen 2002. Erweiterte Ausgabe. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2007). 62 Novalis. Die Schriften Friedrich von Hardenbergs. Hg. v. Paul Kluckhohn/Richard Samuel. Zweiter Band: Das philosophische Werk I. Stuttgart: Kohlhammer 1965, S. 137 f. [Nr. 49]. 63 Vgl. John M. E. McTaggert: The Unreality of Time. In: Robin Le Poidevin/Murray MacBeath (Hg.): The Philosophy of Time. Oxford: University Press 1993, S. 23–35.

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ist. Hegels Kritik der idealisierten Abstraktion einer bestimmten epistemischen Haltung, die auf den Voraussetzungen begriffsloser unmittelbarer Erkenntnis und eines vermeintlich unmittelbaren Zugangs zur Realität von Gegenständen und des eigenen Ich im sinnlichen Gewahrwerden beruht, destruiert die dreifache Unmittelbarkeit von Erkenntnissubjekt, Erkenntnisobjekt und ihrer Beziehung zueinander von den begrifflich-semantischen Konsequenzen einer solchen Einstellung her. In Wahrheit, so Hegel, gibt es keine sprachlich darstellbare einfache Gegenwärtigkeit als den Ort, an welchem sich die Geltungsansprüche der Rede auf Wahrheit und Realität ihrer Gegenstände durch Verweis auf das Präsentische des „hier und jetzt“ einlösen lassen. [W]ir sprechen schlechthin nicht, wie wir es in der sinnlichen Gewißheit meinen. Die Sprache aber ist, wie wir sehen, das Wahrhaftere; in ihr widerlegen wir selbst unmittelbar unsere Meinung, und da das Allgemeine das Wahre der sinnlichen Gewißheit ist, und die Sprache nur dieses Wahre ausdrückt, so ist es gar nicht möglich, daß wir ein sinnliches Sein [im Hier und Jetzt], das wir meinen, je sagen können.64

Sowohl der zeitliche (jetzt), als auch der räumliche (hier), als auch der personale (Ich) Index einer Konstellation der bloßen Gegenwärtigkeit des Ich in seiner Wirklichkeit weisen stets doppelt über den Moment der Gegenwärtigkeit hinaus: Weil sie dem scheinbar unmittelbar-Einzelnen des Augenblicks gegenüber mittelbar-Allgemein und damit „gleichgültig“ sind, also niemals nur eben diesen einen Moment in seiner Gegenwärtigkeit meinen;65 und weil sie bestimmt-negativ sind (ein „Negatives überhaupt“), also stets den Gehalt des Augenblicklichen nur in transformierter Form bedeuten.66 Das erst macht die Sprache für Hegel gerade „konkret“ und damit wahrheitsfähig: Aber eben dafür hat sie den Wunsch aufzugeben, die Spuren und Leuchtfeuer des reinen Gegenwärtigen von Ich und Gegenstand in seiner isolierten Gestalt und abstrakten Einfachheit einfangen oder gar mit Wahrhaftigkeit versehen zu wollen. Das Ich hat keinen Zugriff auf die Benennung einer Gewissheit der unmittelbaren Ganzheit und Einheit seiner selbst und der Bewusstseinsinhalte, an denen es sich erfährt. Der Selbst- und Fremdbezug im reinen gegenwärtigen Augenblick, in welchem das Ich sich und Anderes unvermittelt zu erfahren meint, fächert sich auf in eine Vielzahl abgeleiteter und augenblicksabgewandter Bezugnahmen im Medium sprachlicher Allgemeinheit,67 die stets über die Gegenwärtigkeit des Ich hinausreichen und diese zum Verschwinden bringen. 64 65 66 67

Hegel: Phänomenologie des Geistes (wie Anm. 4), S. 85. Ebd., S. 85–87. Ebd., S. 84. Hegel verwendet in der Kritik der „Sinnlichen Gewißheit“ zwei verschiedene Begriffe des Allgemeinen, einen der Gattung (ebd., S. 84 f.) und einen der „Komplexion“ des Ganzen (ebd., S. 89 f.), um die komplexe Allgemeinheit der Bezugnahme auf reine Gegenwärtigkeit zu umreißen

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Wollte man weitergehend von Hegel auch noch auf Husserls Phänomenologie kommen, was ich hier nur im Gewand der Verneinung tun kann, dann würde man sehen wie sich dieser Skeptizismus hinsichtlich der Selbstgegenwärtigkeit des Ich bis in die philosophische Moderne hineinzieht: Husserls Zeitlichkeitsanalysen der Intentionalität des Bewusstseins zerlegen noch den sichersten Eindruck von Gegenwärtigkeit im Bewusstsein in protentionale und rentionale Spuren des Vergangenen und Zukünftigen, sprich sie zerlegen das Gegenwärtige in „gegenwärtige Vergangenheit“ und „gegenwärtige Zukunft“, und zeigen, inwiefern im Bereich der „primären Erinnerung“ im Gegensatz zur „sekundären Erinnerung“ eigentlich das Vergangene und das Kommende den Horizont des Gegenwärtigen viel stärker bestimmen als der von beiden unterschiedene Moment reiner Jetztheit.68 Von allen Seiten kreisen also der Deutsche Idealismus und seine Nachfolger als ein wesentliches Moment der Undurchsichtigkeit von Ichheit die Unmöglichkeit ein, mit sich selbst wirklich und vollständig gegenwärtig zu sein, und sich und seine Lebenswelt im Modus des rein Gegenwärtigen zu erfahren bzw. zu begreifen. „O ewiges Geheimniß, was wir sind/ Und suchen, können wir nicht finden; was/ Wir finden, sind wir nicht“69, wie es in Hölderlins Empedokles-Fragment heißt, oder etwas prosaischer bei Friedrich Schlegel: „Wir sind nur ein Stück von uns selbst.“70

2. Kunst als Medium der Selbstgegenwart im Deutschen Idealismus Als sei diese Bemerkung direkt gegen die zum Zeitpunkt der Abfassung erst noch kommende Phänomenologie Hegels gerichtet, findet sich in Schillers Kallias-Briefen folgender Eintrag zur Transsubstantationsfähigkeit des Poetischen gegenüber den (vgl. Andreas Graser: Zu Hegels Porträt der Sinnlichen Gewißheit. In: Dietmar Köhler/Otto Pöggeler (Hg.): G.W.F. Hegel. Phänomenologie des Geistes. Berlin: Akademie Verlag 22006, S. 35–55, hier S. 50–52). 68 Vgl. Edmund Husserl: Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins. In: Ders.: Phänomenologie der Lebenswelt. Hg. v. Klaus Held. Stuttgart: Reclam 2002, 80–166, hier 93 f. Vgl. dazu Gerhard Seel: Das Erleben des Augenblicks. In: der blaue reiter. Journal für Philosophie 31 (2011), 26–33. Freilich ist für Husserl auch die gegenteilige Stoßrichtung zu beachten, dass er die integralen, das Kontinuum von erlebter Gegenwärtigkeit sichernden Kräfte des transzendentalen Bewusstseins besonders markiert. 69 Hölderlin: Der Tod des Empedokles. Aufsätze (wie Anm. 38), S. 8 f. [erste Fassung, erster Akt, erster Auftritt, V. 165 f.]. In Bezug auf Hölderlin fasst Henrich die konträren Ich-Entwürfe im Vergleich zu Fichte pointiert zusammen: Dieter Henrich: Hölderlins philosophische Grundlehre. In der Begründung, in der Forschung, im Gedicht. In: Thomas Grundmann u.a. (Hg.): Anatomie der Subjektivität. Bewusstsein, Selbstbewusstsein und Selbstgefühl. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2005, S. 300–325. 70 Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Hg. v. Ernst Behler u.a. Bd. XII: Philosophische Vorlesungen I (1800–1807). Paderborn: Schöningh 1964, S. 392.

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Defiziten der Sprache: „Die Natur des Mediums, dessen der Dichter sich bedient, besteht also ‚in einer Tendenz zum Allgemeinen‘ und liegt daher mit der Bezeichnung des Individuellen (welches die Aufgabe ist) im Streit. Die Sprache stellt alles vor den Verstand, und der Dichter soll alles vor die Einbildungskraft bringen (darstellen) die Dichtkunst will Anschauungen, die Sprache gibt nur Begriffe. Soll also eine poetische Darstellung frei sein, so muß der Dichter ‚die Tendenz der Sprache zum Allgemeinen durch die Größe seiner Kunst überwinden, und den Stoff (Worte und ihre Flexions und constructionsGesetze) durch die Form (nehmlich die Anwendung derselben besiegen.‘“71 Das Projekt der „Ästhetik“ nun im engeren Sinn, wie es als „Philosophie der Kunst“ seit der Mitte des 18. Jahrhunderts entwickelt worden ist, zielt unter vielem anderen auch immer wieder darauf, in der Kunst ein Medium zu sehen, durch welches das Subjekt sich mit seiner Gegenwärtigkeit synchronisieren, in der Gegenwärtigkeit seiner selbst ankommen, und sich in den Mitteln seiner Gegenwärtigkeit einrichten könne. Nur wenige ganz kurze Hinweise für diese These müssen hier genügen. Für den Kant der „Kritik der ästhetischen Urteilskraft“, des ersten Teils der Kritik der Urteilskraft, ist es gerade das Geschmacksurteil angesichts des Schönen, durch welches das moralische Subjekt der Vernunft, d.h. das Ich wie es sich nicht nur Erscheinung ist, mit sich Fühlung erlangt. Bekanntlich ist es die Pointe der Kantischen Theorie, dass wir im Geschmacksurteil („Dieser Stein ist schön“) trotz der Formgleichheit zum Erkenntnisurteil („Dieser Stein ist rund“) gar kein objektives Urteil über die Beschaffenheit des Objekts, sondern ein objektives Urteil über den Zustand des Subjekts angesichts der Erfahrung des schönen Objekts fällen.72 Das Geschmacksurteil als Vollzugsraum ästhetischer Kommunikation ist laut Kant ein Reflexionsurteil, was bedeutet: Das Subjekt empfindet nicht zuerst eine Lust am Gegenstand, die dann im Urteil Ausdruck findet, sondern es gilt umgekehrt „die allgemeine Mitteilungsfähigkeit des Gemütszustandes in der gegebenen Vorstellung, welche als subjektive Bedingung des Geschmacksurteils demselben zum Grunde liegen und die Lust an dem Gegenstande zur Folge haben muß“73. Mit anderen Worten: Das Geschmacksurteil bildet nicht eine ihm vorhergehende Lust am Gegenstand ab, sondern die ästhetische Lust ist eine am Geschmacksurteil und dem, was es zum Ausdruck bringt – nämlich einen Zustand des Subjekts angesichts des Gegenstandes, in welchem im „freien Spiel[…] der Erkenntnisvermögen“74 unsere gesamte seelische Funktionsweise im harmonischen Zusammenhang ihres Vollzuges 71 Friedrich Schiller: Kallias, oder über die Schönheit. In: Ders.: Theoretische Schriften. Hg. v.

Rolf-Peter Janz. Frankfurt/M: Deutscher Klassiker Verlag 1992 (=Sämtliche Werke in zwölf Bänden, Bd. 8), S. 276–330, hier S. 328 f. [Hervorhebungen im Original]. 72 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. Hg. v. Manfred Frank/Véronique Zanetti. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2001 (= Schriften zur Ästhetik und Naturphilosophie, Bd. 2), S. 521 f. (§ 1). 73 Ebd., S. 539 (§ 9). 74 Ebd., S. 540 (§ 9).

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als Ganze fühlbar und zugänglich erscheint,75 weil in der gattungsbildenden Formation von „Erkenntnisse[n] überhaupt“76 der Mensch in den reinen reflexiven Selbstvollzug seiner geistigen Tätigkeit versetzt wird. Geschmacksurteile und die ästhetischen Situationen, in denen sie entstehen, sind für Kant mithin Tiefenbohrungen in die Synchronizität des Ich mit sich. Im ästhetischen Urteil reflektiert das Subjekt auf das Hineinragen seines Grundes, in welchem seine sinnliche und seine übersinnliche Natur in der Gegenwart eines Vollzuges seiner selbst zusammenwirken, in die Praktiken des Urteilens überhaupt. Bei Kant freilich ist dieses Hineinragen nicht viel mehr als ein Versprechen darauf – Kant sagt: „[E]in Symbol“77 –, dass diese Gegenwärtigkeit mit sich zugänglich, wirklich und wirksam sei. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling in seinem System des transzendentalen Idealismus (1800) überschreitet diese Grenzlinie des „Als ob“: „Bewußte und bewußtlose Tätigkeit sollen absolut eins sein im Produkt, gerade wie sie es im organischen Produkt auch sind, aber sie sollen auf andere Art eines sein, beide sollen eines sein für das Ich selbst.“78 Kunstwerke sind für Schelling kristallisierte Praktiken der Selbstsynchronisation, mittels derer sich das Subjekt durch die herstellende wie verstehende Arbeit am ästhetischen Objekt in die Einheit mit seinem unbewussten Grund und damit in die volle Gegenwärtigkeit seiner selbst hineinarbeitet: Derart, dass in der Produktion des Kunstwerkes die „prästabilierte Harmonie zwischen dem Bewußten und dem Bewußtlosen“79, als im Subjekt verkörperte Trennung des absoluten Urgrunds des Göttlichen in die endlichen Gegensätze der Realität von Natur und Geist, sich ins Werk einbildet. Es gibt in der Kunstproduktion einen Punkt, an welchem die bewusste Produktion in die Bewusstlosigkeit des Nicht-Intendierten übergeht, ohne in diesem Übergehen in ein Anderes überzugehen, sondern sich vielmehr als mit diesem untrennbar identisch zu 75 Vgl. dazu Petra Bahr: Darstellung des Undarstellbaren. Religionstheoretische Studien zum Dar-

stellungsbegriff bei A.G. Baumgarten und I. Kant. Tübingen: Mohr Siebeck 2004, S. 286–293.

76 Kant: Kritik der Urteilskraft (wie Anm. 72), S. 540 (§ 9). Grundlegend zur These, dass Kant im

Geschmacksurteil nicht primär das spezifische Urteil über das Schöne, sondern eigentlich den Basisvollzug des Urteilens überhaupt im Blick hat, Wolfgang Wieland: Urteil und Gefühl. Kants Theorie der Urteilskraft. Göttingen: Vandenhoeck&Ruprecht 2001, S. 344–383. Als scharfsinnige und überzeugende Kritik an Wieland, welche den Begriff der „Erkenntnis überhaupt“ noch mal schärfer fasst, vgl. die Rezension von Andrea Kern: Lust an der Erkenntnis. Wolfgang Wieland, Urteil und Gefühl. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 51 (2003), 6, S. 1061–1065. 77 Kant: Kritik der Urteilskraft (wie Anm. 72), S. 712–715 (§ 59). Vgl. zu diesem Symbolbegriff und seinem Kontext in der Ästhetik des 18. Jh. Jan Urbich: Darstellung bei Walter Benjamin. Die „Erkenntniskritische Vorrede“ im Kontext ästhetischer Darstellungstheorien der Moderne. Berlin, New York: de Gruyter 2012, S. 436–446, und ders.: Friedrich Schlegels frühromantischer Symbolbegriff. Überlegungen zum poetologischen Problemhorizont der Goethezeit. In: Athenäum. Jahrbuch der Friedrich-Schlegel-Gesellschaft 23 (2013), S. 67–113 78 F.W.J. Schelling: System des transzendentalen Idealismus. Hg. v. Horst D. Brandt/Peter Müller. Hamburg: Meiner 22000, S. 284 [Hervorhebungen im Original]. 79 Ebd., S. 286.

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erweisen. Kunstwerke sind für Schelling Produkte, denen das Paradox gelingt, das Ungemachte zu machen; das Nicht-Intendierte zu intendieren, oder auch das Unveranstaltbare zu veranstalten,80 und zwar auf eine solche Weise, dass bewusste Intentionalität und unbewusste Transzendenz, subjekthafte Bestimmtheit und naturhafte Unbestimmtheit sich als im Grunde vereint, nämlich als Aspekte der einen Substanz des Wirklichen zeigen. Diese aber ist zugleich der Grund und der ganze Umfang des Ich als „absolutes Ich“, sodass Kunstwerke auch Medien sind, an deren Einheitspunkt von bewusster und unbewusster Tätigkeit das produzierende wie rezipierende Ich sich in die Gegenwärtigkeit seiner eigenen Ganzheit geworfen findet. Adorno hat genau das später als die „subjektive Paradoxie der Kunst“ beschrieben: „Blindes – den Ausdruck – aus Reflexion – durch Form – zu produzieren; das Blinde nicht zu rationalisieren, sondern ästhetisch überhaupt erst herzustellen; ‚Dinge machen, von denen wir nicht wissen, was sie sind‘.“81 Hegel schließlich in seinen Vorlesungen über die Ästhetik denkt Kunst als eine der drei Weisen, wie das einzelne Subjekt mit sich als Gattungswesen bzw. mit den ganzen epistemischen wie praktischen Möglichkeiten seiner eigenen geschichtlichen Gegenwart synchronisiert wird. Kulturgegenstände, die wie die Kunst Verwirklichungen des „absoluten Geistes“ sind, haben keinen anderen Inhalt und keine andere wahre Funktion mehr als die, sich auf ihre Kultur als ganze zu beziehen und den kulturellen Gesamtzusammenhang an begrifflichen Normen und Praktiken, die dem Subjekt zur Selbstbeschreibung und Selbstentfaltung im intersubjektiven Raum zur Verfügung stehen, dem Bewusstsein und dem Handeln des Einzelnen einzubilden. Der Geist als wahrer Geist ist an und für sich und dadurch kein der Gegenständlichkeit abstrakt-jenseitiges Wesen, sondern innerhalb derselben im endlichen Geiste die Erinnerung des Wesens aller Dinge: das Endliche in seiner Wesentlichkeit sich ergreifend und somit selber wesentlich und absolut. Die erste Form [der Kunst] nun dieses Erfassens ist ein unmittelbares und eben darum sinnliches Wissen, ein Wissen in Form und Gestalt des Sinnlichen und Objektiven selber, in welchem das Absolute zur Anschauung und Empfindung kommt.82

Mittels der Kunst gelangt das einzelne Subjekt auf Augenhöhe mit den Bedingungen und Formen, den eingelösten und den uneingelösten, seiner geschichtlichen Gestalt des Menschseins überhaupt. Es gerät also in die Gegenwart seiner selbst als geschichtliches Wesen, und zwar in der konkreten Form sinnlich-materieller Gegenwärtigkeit 80 Vgl. Jan Urbich: Literarische Ästhetik. Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2011, S. 134–144. 81 Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2003 (=Gesammelte

Schriften, Bd. 7), S. 174.

82 G.W.F. Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik I. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1986 (=Werke in 20

Bänden, Bd. 13), S. 139 [Hervorhebungen im Original].

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und in der Weise einer vollständigen Vereinheitlichung seiner sinnlichen und seiner vernünftigen Grundausstattung am Gegenüber des Artefakts.

3. Christoph Menkes Ästhetik des Subjektbruchs Wir leben nicht mehr im Chronotop der ‚historischen Zeit‘. Das ist wohl, erstens, am deutlichsten im Hinblick auf die Zukunft. Sie ist für uns kein offener Horizont von Möglichkeiten mehr, sondern eine Dimension, die sich zunehmend allen Prognosen verschließt und die zugleich als Bedrohung auf uns zuzukommen scheint. […] Zweitens […] liegt ein anderes Problem im neuen Chronotop darin, dass es nicht mehr gelingt, irgendeine Vergangenheit hinter uns zu lassen. […] Zwischen dieser uns überflutenden Vergangenheit und jener bedrohlichen Zukunft ist, drittens, die Gegenwart zu einer sich verbreiternden Dimension von Gleichzeitigkeiten geworden.83

Ich will Gumbrechts Diagnose der „breiten Gegenwart“ gar nicht bewerten oder kommentieren, sondern sie als einzelnen Beleg dafür stehenlassen, in welcher Weise die Gegenwart von Gegenwart neuerdings so zum Problem geworden ist, dass deren einstige Unmöglichkeit neuerdings einer Unausweichlichkeit von Gegenwart gewichen zu sein scheint. Freilich ist hier auf den ersten Blick eher der geschichtliche, primär intersubjektive Begriff von Gegenwart gemeint, wohingegen die Analysen des Deutschen Idealismus erst einmal auf die vorgelagerte Selbstgegenwärtigkeit eines Ich überhaupt zielten. Trotzdem hängen diese differenten Fluchtlinien von Gegenwart natürlich dort zusammen, wo sie auf einem gemeinsamen Modus von Gegenwärtigkeit beruhen. Dementsprechend arbeiten sich auch neueste Versuche einer philosophischen Beschreibung künstlerischer Praktiken und Prozesse noch immer – oder eben wieder – an der Art und Weise ab, wie Kunst sich zur Dimension der Selbstgegenwärtigkeit des Menschen verhält. Ich möchte mich hier beispielhaft an Christoph Menkes Buch Die Kraft der Kunst (2013) aufhalten. Christoph Menke, Lehrstuhlinhaber in Frankfurt/M., ist einer der gegenwärtig wichtigsten deutschsprachigen Philosophen, der seit seiner Dissertation Die Souveränität der Kunst. Ästhetische Erfahrung nach Adorno und Derrida (1991) immer wieder den philosophischen Zugriff auf die Kunst sucht. Speziell die soeben erwähnte Promotion ist m.E. noch immer einer der wichtigsten Versuche, die Philosophie der Dekonstruktion und die Kritische Theorie Adornos auf ihre vernünftigen Schnittpunkte hin zu untersuchen und daraus eine Theorie ästhetischer Prozessualität zu entwickeln. In Die Kraft der Kunst aktiviert Menke einen der ältesten und bis in die Moderne wirkmächtigsten Bestände der abendländischen Ästhetik und Poetik: die platonische Enthusiasmuslehre, wie sie in Platons Frühdialog 83 Hans Ulrich Gumbrecht: Unsere breite Gegenwart. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2010, S. 15 f.

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Ion zuerst hervorgetreten ist. Ziel ist es, Kunst als eine Praktik zu entwerfen, die nun – ganz gemäß dem Leidensdruck, wie er in einer breiter werdenden Gegenwart entstehen muss – umgekehrt zur klassischen Ästhetik (und in gewisser Hinsicht analog zu Levinas’ früher zitierten ethischen Äußerungen) gerade darauf zielt, dieser Last einer omnipräsenten kulturellen Gegenwärtigkeit der modalzeitlichen Richtungen in der Kunst zu entgehen. Ich will auch hier nur den einen Hauptgedanken Menkes kurz vorstellen und seine Implikationen freilegen: Das ästhetische Denken beschreibt die Kunst mit Sokrates als ein Feld der Kraftentfaltung und Kraftübertragung. Das ästhetische Denken bewertet dies aber nicht nur anders als Sokrates, es versteht dies auch anders als Sokrates. […] Die Kunst ist vielmehr die Kunst des Übergangs zwischen Vermögen und Kraft, zwischen Kraft und Vermögen. Die Kunst besteht in einem paradoxen Können: zu können, nicht zu können; fähig zu sein, unfähig zu sein. Die Kunst ist weder bloß die Vernunft der Vermögen noch bloßes Spiel der Kraft. Sie ist die Zeit und der Ort der Rückkehr vom Vermögen zur Kraft, des Hervorgehens des Vermögens aus der Kraft.84

Die Anklänge an Schelling und Adorno fallen auf und sind gewollt. Wichtiger ist mir jedoch festzustellen, dass Menke das Epizentrum ästhetischer Tätigkeiten zurückverlegt in ein vor- und übersubjektives, formloses, bewusstloses und zweckloses Spiel von Kräften, die als Hemmung, als Widerstand, als Unterbrechung in die „Vermögen“ eingreifen, durch welche das Subjekt, als sich seines Tuns wie seiner selbst bewusstes, Realität mittels intentionaler Zustände und Geltungshandlungen gewinnt. Subjektive Vermögen als „logische Struktur der Vollzüge, die ein Subjekt ausführen kann“85 und mittels derer es allererst ein Subjekt im vollen Sinne ist,86 müssen in der Produktion wie Rezeption von Kunst strukturell versagen, damit Kunstwerke entstehen oder aufgenommen werden können. Anders als bei Schelling, dessen Ästhetik Menkes darin zu entsprechen scheint, dass sie die verschiedenen Gegensätze von Poetischem und Ästhetischem, Bewusstheit und Unbewusstheit, Vermögen und Kraft in der Kunst zusammenführt, versteht Menke die so entstehende negative Verschränkung von Vermögen und Kraft, bewusstem Können und unbewusstem Tun 84 Christoph Menke: Die Kraft der Kunst. Berlin: Suhrkamp 2013, S. 13 f [Hervorhebung im Ori-

ginal. In seinem eher historisch orientierten Vorläuferbuch Kraft hat Menke gezeigt, wie die klassische Ästhetik des 18. Jh. in ihren beiden Theoriemodellen sowohl die Konstitution als auch die Hinterfragung cartesianischer Subjektivität ins Werk gesetzt hat, indem sie zuerst den modernen Begriff des Subjekts überhaupt gebildet und ihn dann in der Kraftästhetik wieder partiell außer Kraft gesetzt hat: „So ist die Ästhetik, die erste Ästhetik, diejenige Baumgartens, die den Begriff des Subjekts geprägt hat.“ (Christoph Menke: Kraft. Ein Grundbegriff ästhetischer Anthropologie. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2008, S. 8). 85 Menke: Die Kraft der Kunst (wie Anm. 84), S. 35. 86 Ebd., S. 13.

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nicht als Wiederherstellung einer vollständigen Ganzheit des Subjekts, die dann für die nicht-pathologische Selbstsynchronisation des Ich jenseits der geschichtlichen Zumutungen von Gegenwärtigkeit verantwortlich wäre. „Es geht um die Freiheit von der sozialen Gestalt der Subjektivität“:87 Kunstwerke sind Medien, in denen wir das Ereignis der Selbstüberschreitung unserer bewussten Subjektformatierung und damit unserer transzendental gesicherten Gegenwärtigkeit für uns bewusst zulassen und ins Werk setzen. An wesentlichen Kategorien des künstlerischen Prozesses (Werk, Schönheit, ästhetisches Urteil, Experimentcharakter) führt Menke vor, wie Kunst im Aussetzen der sozial durchregulierten Selbstmächtigkeit und Selbstgegenwart von Subjektivität erst dort anlangt, wo das Machen und Wissen im expliziten wie latenten Beisichsein niemals hinkommen könnte: in einem „Hervorbringen, das sich dem Selbstverlust in der Ungesetzlichkeit der Einbildungskraft aussetzt“88. Kunst zu produzieren und angemessen zu rezipieren heißt aber damit nicht, seine Subjektivität im dionysischen Rausch einfach fahrenzulassen. Aber es heißt, sich selbst ins Wort vollzogener Selbstgegenwart zu fallen: den Einspruch und die Hemmung der eigenen Selbstmächtigkeit aktiv durchzuführen, im Machen und Beurteilen den Übergangspunkt aktiv einzulösen, an welchem man sich nicht mehr als Subjekt in seinen Normen, Vermögen und Potenzen bzw. in den Techniken der beständigen Selbstsynchronisation gegenwärtig ist. „Das ästhetisch Schlechte läßt das Subjekt in Übereinstimmung mit sich selbst“:89 Ästhetisch gut und damit Kunst zu sein hingegen bedeutet, die Ent-Täuschung und die Ver-Rückung des Subjekts zu inszenieren. „Die Treue zu sich selbst“ ist die „Treue zur Gegenkraft in sich“, so Menke:90 „Nur derjenige kann und nur derjenige braucht mit sich selbst zu experimentieren, der der Kraft treu ist, die in seinem Handeln gegen sein Können wirkt und damit dessen Gelingen zu einer radikal offenen Frage macht.“ So wird das Kunstwerk wieder zur kritischen Anstalt: In ihm entgehen wir den Automatismen unserer sich gegenwärtigen Subjektvollzüge, aus denen wir gefährlich weit bestehen, und stehlen uns damit aus dem Gefängnis der Gegenwärtigkeit, wie es Levinas und Gumbrecht je anders beschrieben haben. Dabei kommt es argumentativ auf die Struktur des Übergangs an: Denn wie in Hölderlins Konzept der „gegenrhythmischen Unterbrechung“91, aber entgegen dessen idealistischen Vorentscheidungen, richtet sich für Menke die ästhetische Subjektivität in den Rhythmen der reflexiven Negativität ein, durch welche sich Vermögen in Kraft und Kraft in Vermögen, Selbstgegenwart in Selbstverlust und Selbstverlust in Selbstgegenwart beständig übersteigen. Subjektivität selbst wird zur Potenz, durch permanente rhythmische Selbstnegation sich im Anderswerden zu 87 88 89 90 91

Ebd., S. 14. Ebd., S. 89. Ebd., S. 78. Ebd., S. 102. Hölderlin: Stuttgarter Ausgabe (wie Anm. 38), Bd. 5: Übersetzungen, S. 196.

Von der Unmöglichkeit, in der Gegenwart seiner selbst zu leben

erhalten; sich im Spiel der Kräfte aufs Spiel zu setzen und als Differential wiederzugewinnen; zuletzt, das Beisichsein und die Selbstgegenwart nicht als etwas ängstlich zu Sicherndes oder Wiederzugewinnendes, sondern als Risikokapital zu verstehen, in dessen Verlust man sich einzig permanent bei sich einfindet und erhält. Leider neigt Menkes Theorie bisweilen dazu, den Pol der Kraft und damit des Selbstverlusts, des Unbewussten, des formlosen Spiels zu abstrakt als bloßes Gegenteil von Vermögenssubjektivität zu begreifen. Damit aber gerät sein Denken immer wieder in die Schieflage, in diesem Prozess rhythmischer Übergängigkeit den Kraftpol als eigentlichen, grundlegenderen, wesentlichen zu akzentuieren. Gegen diese Unwucht ist es jedoch vielmehr sinnvoll, noch die begriffsfernste Materialität und selbstvergessenste Kraftförmigkeit in der Kunst stets ebenso als hochgradig vermittelte Funktionen von Intentionalität – und damit aber durchdrungen von Unterscheidungs-, Reflexions-, Ausdrucks- und Darstellungsfiguren, die Geistförmigkeit ins Werk setzen – zu verstehen, die diese jedoch entscheidend erweitern. Denn erst dann wird klar und beschreibbar, in welcher Weise in künstlerischen Prozessen der wechselseitige Übergang von Kraft und Vermögen auch durch Abbruch noch am Gehäuse des Subjekts und der Erweiterung seiner Möglichkeiten baut, in seiner Gegenwart zuhause zu sein – auch und gerade dort, wo es die Mächtigkeit der bewussten wie impliziten Selbstgegenwart ins Spiel der Kräfte einspeist. Giorgio Agamben hat zuletzt Kategorien sozialphilosophisch fruchtbar zu machen versucht, die zuerst in seinem Kommentar zum Römerbrief (Die Zeit, die bleibt) als messianische entwickelt und nun von ihm in säkularisierter Form in den Diskurs zukünftiger Möglichkeiten menschlicher Vergesellschaftung eingetragen worden sind.92 Mir scheinen diese generell auch für ästhetische Fragen dieser Art ausgesprochen fruchtbar zu sein. In Zentrum steht dabei die paulinische Figur des „Als-ob-nicht“, begrifflich gesprochen die Figur der Unwirksamkeit: Genuin menschlich ist einzig die Tätigkeit, die die Werke durch ihre Außerkraftsetzung wieder der Möglichkeit und einem neuen Gebrauch öffnet. Ein, wie mir scheint, schlagendes Beispiel ist die Dichtung. Was ist Dichtung anderes als eine sprachliche Operation, die darin besteht, die informativen und kommunikativen Funktionen der Sprache zu neutralisieren, um sie einem anderen Gebrauch zu öffnen: ebenjenem Gebrauch, den man Dichten nennt.93

92 Giorgio Agamben: Die Zeit, die bleibt. Ein Kommentar zum Römerbrief. Frankfurt/M.: Suhr-

kamp 2006.

93 Giorgio Agamben: Europa muss kollabieren. Interview mit Iris Radisch. In: DIE ZEIT Nr. 35

(27. August 2015), S. 39 f., hier S. 40. Vgl. auch Agamben: Die Zeit, die bleibt (wie Anm. 92), S. 35–40 et passim.

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Ganz ähnlich, so könnte man Menke leicht korrigieren, geht es in Kunst um die Öffnung des Subjekts hin auf Zustände seiner Unwirksamkeit von festgelegten Vermögensakten und Selbst-Wissensbeständen, die es erweitern und einem anderen Gebrauch seiner selbst zuführen: also nicht abstraktes Negieren, Vergessen oder Verlassen von Subjektivität in ihren sozial bestimmten Handlungsmustern, Deutungsgehalten, Pathologien und Diskurszwängen. Dem offenen Möglichkeitsraum von Gegenwart überhaupt seit dem Verlust aller geschichtsphilosophischen Verbindlichkeiten entspricht das Subjekt viel eher, wenn es in der Kunst als Kraft des Übergangs zwischen unseren Vermögen als Subjekt und unseren Kräften im Subjekt, und somit in der rhythmischen „Entzweiung mit uns selbst“94, die operativen Möglichkeiten eines neuen Gebrauchs von sich erprobt und aufs Spiel setzt. Im Handeln der Kunst lässt der Mensch dort am ehesten den Möglichkeitsraum des Gegenwärtigen zu, „wo die Normalität des Gelingens [von Subjektivität] zerbrochen ist“95, oder besser, wo sie unwirksam gemacht wird, um sie einem neuen Gebrauch zu öffnen; um ein ‚Medium zweiter Ordnung‘ zu werden, mittels dessen das Subjekt gerade durch die aufgegebene Selbstgegenwart als festes Schema des Selbstbezugs vollends in der Gegenwart seiner selbst ankommt. Ähnliche Modelle reichen bis in die Zeit des Ursprungs der modernen Theorien und Probleme von Subjektivität zurück, womit sich der Kreis schließt. Friedrich Hölderlin hat einst, in seinen späten Pindar-Fragmenten, ein utopisches Modell der Selbstgegenwart des Ich jenseits von entgrenzendem Selbstverlust und starrer Selbstzumutung poetisch ergründet, welches im „Gesang der Natur“96 ihr Vorbild hat: „Um diese Zeit giebt jedes Wesen seinen Ton an, seine Treue, die Art, wie eines in sich selbst zusammenhängt.“97 Im Ton eines Subjekts bekundet sich dessen Treue zu sich selbst: Nicht als vom starren Format der Identität her gedachte logische Kongruenz des Ich mit sich, die so gedacht, doch stets unergründlich bleibt und ein Abgrund von Leiden an sich selbst, sondern die, als von den Schwingungen eines unverlierbaren Zusammenhangs getragene Selbstverausgabung in den Akt des eigenen Artikulierens, der niemals gänzlich verklingen kann. Erst dann ist die latente Gefahr in aller Selbstmächtigkeit und Selbstgegenwart begriffen und entschärft: „Wie der Mensch sich sezt, […] und in Erinnerung ursprünglicher Noth froh da ist, wo er sich halten kann.“98

94 95 96 97 98

Menke: Die Kraft der Kunst (wie Anm. 84), S. 81. Ebd., S. 99. Hölderlin: Übersetzungen (wie Anm. 91), S. 284 („Vom Delphin“). Ebd. Ebd., S. 288 („Die Asyle“).

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Ästhetische Debatten im literaturpolitischen Feld der Gegenwart · Ein Überblick in acht Schlag­ lichtern

1. Foren Wo finden ästhetische Debatten statt? Sie finden wenig bis gar nicht statt, einigermaßen überraschend, in literarischen Zeitschriften, wie eine Auswertung einschlägiger Publikationen (Literaturen, Akzente, Sinn und Form, Sprache im technischen Zeitalter u. a. m.) ergeben hat. Noch immer ist das klassische Feuilleton der Hauptort der lite­ rarästhetischen Streitkultur. Offensichtlich braucht diese Streitkultur die tagesaktuelle Erregungs- und Empörungsdynamik, die von den journalistischen Printmedien ausgeht. Im Gegensatz zur stark volatilen Internetöffentlichkeit binden die Kulturseiten etablierter Tages- und Wochenblätter (FAZ, SZ, FR, taz, Spiegel, Zeit u. a. m.) auf der anderen Seite eine stabile Stammleserschaft, die für die Kontinuität und Anschlussfähigkeit ästhetischer Diskurse wichtig ist. In zweiter Reihe stehen einige Magazine (Merkur, Cicero, Lettre Internationale) sowie Kultursendungen in TV und Radio, in denen sich der ästhetische Diskurs zu literarischen Fragen der Gegenwart weiter ausdifferenzieren kann. Im Falle des Literarischen Quartetts (1988–2001) stieg ein Fernsehformat gar zeitweise zu einem Leitmedium in der literarischen Öffentlichkeit auf. Die dort geführten Gespräche über literarische Neuerscheinungen verknüpften sich immer wieder auch mit grundsätzlichen ästhetischen Fragestellungen, die wesentlich bestimmt wurden von den drei ständigen Teilnehmern der Sendung: Marcel Reich-Ranickis liberalkonservative Vorliebe für ein – im weitesten Sinne – realistisches Erzählen traf auf Sigrid Löfflers vergleichsweise avancierten Modernismus, dazwischen stand Hellmuth Karaseks gemäßigter Modernismus mit Affinität zur Unterhaltungsliteratur. Hinzu kam ein jeweiliger Gastteilnehmer, der ein weiteres Element einbrachte. Ob Zufall oder nicht, mit diesem Spektrum von Realismus bis Modernismus sind in nuce die wesentlichen Positionen in der literarästhetischen Diskussion um das Jahr 2000 abgebildet. Was sich in den einzelnen Sendungen des Quartetts entfaltete, waren sodann ironische Rollenspiele mit Repetition und Variation bekannter Koordinaten. Die Ironie resultierte aus dem Wissen um die Relativität jeder einzelnen Position (denn es gibt im literarästhetischen Feld nicht so etwas wie einen objektiven, allgemeinverbindlichen Standpunkt). Wichtig ist auch der wechselnde Gast der Sendung, der die prinzipielle Offenheit der Diskussionssituation markiert – wenn auch nicht immer einlöst – und symbolisch für

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die Möglichkeit steht, dass in diesem Feld die unterschiedlichsten Koalitionen und Mehrheitsverhältnisse entstehen können. Abseits der überregionalen, gesamtdeutschsprachigen literarisch-kulturellen Öffentlichkeit haben sich im Zuge der Ausdifferenzierung medialer Öffentlichkeiten eine Reihe von meist genre- und szenespezifischen Subsystemen etabliert, in denen ebenfalls literarästhetische Debatten geführt werden. Die zeitgenössische Lyrik etwa führt ihren ästhetischen Diskurs in eigenen Zeitschriften (z. B. bella triste, Das Gedicht), in eigenen Internetforen (z. B. lyrikzeitung.com), und sie hat darüber hinaus ein eigenes Netz von Institutionen entwickelt (Verlage wie kookbooks, Festivals wie Open mike, Literaturhäuser, Werkstätten, Poetry Slams, Lesebühnen), das weitgehend abgekoppelt von der ‚großen‘ literarischen Öffentlichkeit eigenständige literarästhetische Diskurse ausbildet. Ähnliches gilt für das Drama der Gegenwart, das zumal im großzügig ausgestatteten, ausdifferenzierten Stadttheaterbetrieb in Deutschland, Österreich und der Schweiz auf eigenständige öffentliche und institutionelle Ressourcen zurückgreifen kann (Zeitschriften wie Theater heute, Festivals und Wettbewerbe wie der Heidelberger Stückemarkt und das Theatertreffen in Berlin, nicht zu vergessen die unzähligen Theaterbühnen mit ihren je eigenen lokalen, teilweise national ausstrahlenden Öffentlichkeiten). Lediglich der Roman bzw. die Prosa haben kein vergleichbares Netz von genrespezifischen Kommunikationsstrukturen ausgebildet – sie benötigen es auch nicht, denn die literarästhetischen Debatten in diesem Genre werden überwiegend über die etablierten Medien der ‚großen‘ literarisch-kulturellen Öffentlichkeit hinreichend promotet und prozessualisiert.

2. Typologie „Debatten gibt es in der Gegenwartsliteratur wie Sand am Meer.“1 Doch nicht jede Literaturdebatte ist auch eine ästhetische Debatte. Allgemein lassen sich unterscheiden: a) Debatten im eigentlichen Sinne, z. B. die Debatte über Realismus und Gegenwartsliteratur zu Beginn der 1990er Jahre (dazu unten mehr); b) der allgemeine literarästhetische Diskurs, das fortlaufende Gespräch über Literatur und Kunst, in dem ästhetische Positionen explizit und implizit verhandelt werden. Im sog. deutsch-deutschen Literaturstreit 1990/91 konzentrierte sich die Debatte jedoch nicht auf ästhetische Fragen, sondern auf politische Themen und die Person Christa Wolf. Ulrich Greiner bildete eine Ausnahme, wenn er in einem Artikel in der Zeit Christa Wolfs Poetik der Moral hinterfragte und das Verhältnis von Politik, Moral

1

Michael Braun: Die deutsche Gegenwartsliteratur. Eine Einführung. Köln, Weimar, Wien: UTB 2010, S. 78.

Ästhetische Debatten im literaturpolitischen Feld der Gegenwart

und Ästhetik mit dem Begriff der „Gesinnungsästhetik“ verknüpfte.2 Skandalisierung, Politisierung, Personalisierung – für eine Typologie literarästhetischer Debatten in der Zeit um das Jahr 2000 sind diese drei Dynamiken charakteristisch. Die Debatte über Christian Krachts Roman Imperium3 führt alle Momente schulmäßig zusammen: Die Skandalisierung aufgrund des politischen Verdachts – Achtung, Nazi! – ging einher mit einer Fokussierung auf die enigmatische bzw. ebenfalls politisch-moralisch onminöse Erscheinung des Autors. Dabei verknüpfte sich die Debatte durchaus mit fundamentalen ästhetischen Fragestellungen, in denen das Erbe faschistisch-totalitärer Kunstideologie zur Diskussion stand, Modelle und Konstellationen, die sich mit Namen wie Leni Riefenstahl, Ernst Jünger und Gottfried Benn verbinden. Welche Funktionen haben diese ästhetischen Dispositive heute, in einer spätmodernen, digitalen Massenmediengesellschaft? Wie gehen wir damit um, dass auch sie inzwischen zu historisierten Bestandteilen eines gigantischen Medienarchivs geworden sind? Doch gingen solche Fragestellungen zumeist im medialen Getöse unter. Positiv gewendet ließe sich auch sagen: Sie fallen im ausdifferenzierten Literatursystem der Wissenschaft zu, deren ureigene Domäne es ist, aus größerer Distanz die literarästhetischen Phänomene in den literatur- und ästhetikgeschichtlichen Diskurszusammenhang einzuordnen. In der Mediengesellschaft werden ästhetische Debatten häufig über Namen prozessualisiert, die als Kennmarken im medialen Dauerrauschen fungieren. Die Debatte über Botho Strauß’ Spiegel-Essay Anschwellender Bocksgesang (1993) wurde so zur „Botho-Strauß-Debatte“,4 jene über W. G. Sebalds Luftkrieg-Interventionen (1997/99) zur „Sebald-Debatte“,5 und die sich im Anschluss an Martin Walsers Friedenspreis-Rede von 1998 entrollende Diskussion firmierte unter dem Namen „Walser-Bubis-Debatte“.6 Solche Personalisierungen – das wird schon während der Debatte selbst oft beklagt – gehen auf der einen Seite einher mit einer Vernachlässigung des ästhetischen Gehalts. Richtig verstanden lenken sie aber den Blick auf ein Phänomen, 2

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Ulrich Greiner: Die deutsche Gesinnungsästhetik. Noch einmal: Christa Wolf und der deutsche Literaturstreit. Eine Zwischenbilanz. In: Thomas Anz (Hg.): „Es geht nicht um Christa Wolf“. Der Literaturstreit im vereinten Deutschland. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1995, S. 208–216 (zuerst in: Die Zeit, 2.11.1990). Vgl. Christian Kracht trifft Wilhelm Raabe. Die Diskussion um Imperium und der Wilhelm Raabe-Literaturpreis 2012. Hg. v. Hubert Winkels. Berlin: Suhrkamp 2013. Vgl. Michael Braun: „Anschwellender Bocksgesang“ und die Folgen. Anmerkungen zur BothoStrauß-Debatte. In: Gerd Langguth (Hg.): Die Intellektuellen und die nationale Frage. Frankfurt/M., New York: Campus 1997, S. 264–279. Vgl. Bernd F. W. Springer: Geschichten statt Geschichte. Dieter Fortes erzählerische Aufarbeitung des Bombenkrieges im Kontext der Sebald-Debatte. In: Revista de Filología Alemana 16 (2008), S. 199–210. Vgl.: Die Walser-Bubis-Debatte. Eine Dokumentation. Hg. v. Frank Schirrmacher. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1999.

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das ein Höchstmaß an ästhetischer Aufmerksamkeit verdient. Die Debatte über den Anschwellenden Bocksgesang etwa ist fürwahr eine Botho-Strauß-Debatte insofern, als es in ihr auch um den exemplarischen intellektuellen Lebenslauf eines Literaten am Ende des 20. Jahrhunderts geht, der um 1970 im Zeichen der Kritischen Theorie und Adornos seinen Anfang nimmt und sich im Alter zunehmend kulturkonservativen Positionen annähert. Ästhetische und intellektuelle Karrieren kommen so in den Blick, typische oder auch atypische ‚Geschichen von jungen Menschen‘ (Histoire d’un jeune homme nannte Flaubert seine Éducation sentimentale im Untertitel), paradigmatische Lebensläufe, biographische Patterns, in denen Kunstprinzipien und Lebensprinzipien untrennbar miteinander verwoben sind. Karrieren, die Antworten auf die Frage formulieren: Wie leben? Welche Kunst? Lebensläufe, mit denen Zeitgenossen und nachfolgende Generationen ihre eigenen ästhetischen und intellektuellen Karrieren abgleichen, an denen sie sich orientieren und in Zustimmung oder Ablehnung produktiv abarbeiten.

3. Literaturpolitik Literatur der Politik: Debatten entzünden sich immer auch am gesellschaftlichen Hier und Jetzt, sie benötigen ein aktuelles, ein ‚heißes‘ gesellschaftliches Momentum – so schon um 1800, wenn die ästhetischen Debatten in Weimar und anderswo nicht ohne die Reflexbewegung auf die Französische Revolution zu verstehen sind. So auch in der Debatte um Neue Sachlichkeit in der Weimarer Republik, in welcher neuere soziale und technische Entwicklungen reflektiert werden. Die Literatur der Gegenwart greift gesellschafts- und geschichtspolitische Fragen auf – wie z. B. im Falle des „Jahrhundertthema[s]“7 nationalsozialistische Vergangenheit oder in der Frage einer postmigrantischen, globalisierten Gesellschaft8 – und spiegelt diese ästhetisch verfremdet zurück in die allgemeine gesellschaftliche Kommunikation. In der künstlerisch-literarischen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus geht es dabei im Kern um die Frage der Repräsentierbarkeit von Geschichte. In der bildenden Kunst ist hierfür das Holocaust-Mahnmal in Berlin von Peter Eisenman ein Beispiel, in der Literatur die Geschichtsromane von Martin Walser, insbesondere Ein springender Brunnen von 1998, der auch in der Walser-Bubis-Debatte eine Rolle spielte und letzten Endes ein Plädoyer für die Inkommensurabilität der je individuellen Vergangenheit darstellt, mithin die Möglichkeit einer kollektiven Repräsentation negiert. So führen diese Debatten immer wieder auf Grundfragen der literarischen 7 8

Kurt Rothmann: Kleine Geschichte der deutschen Literatur. 20. durchges. u. erw. Aufl. Stuttgart: Reclam 2014, S. 420. Vgl. Maxim Biller: Letzte Ausfahrt Uckermark. In: Die Zeit 20.2.2014, der in seiner Polemik entsprechende ‚Antworten‘ der Literatur der Gegenwart auf diese rezente gesellschaftliche Veränderung einfordert.

Ästhetische Debatten im literaturpolitischen Feld der Gegenwart

Ästhetik: Was kann Literatur? Und was kann nur sie? Worin unterscheidet sie sich z. B. von der faktual-historiographischen Erzählung? Gibt es einen moralischen Kern von Literatur? Und worin besteht er, in bestimmten programmförmigen Grundsätzen oder eher in der Autonomie und Inkommensurabilität des Ästhetischen? Politik der Literatur: Ästhetische Debatten – Bourdieus Feldtheorie liefert hierfür ein Beschreibungsmodell – ereignen sich in einem politischen Feld konkurrierender Interessen, sie sind auch das Ergebnis von Kämpfen um kulturellen Einfluss und Macht. Nach 1989 stehen diese Konflikte oftmals in Zusammenhang mit generationellen Konflikten und Bündnissen. Der generationelle Diskurs differenziert sich in der Zeit um das Jahr 2000 stark aus, was sich u. a. in immer neuen Bezeichnungen für die jüngeren Generationen niederschlägt: 89er-Generation, Generation X, Generation Golf, Generation Berlin, Generation Praktikum, Generation Facebook usw. Die ästhetischen und lebensweltlichen Patterns, die für diese Generationen – Produzenten und Rezipienten der Literatur der Gegenwart – charakteristisch sind, stehen zumeist in Konfrontation zu jenen älterer Generationen, insbesondere der 68er. Sie fließen als biographischer und quasi selbstverständlicher, alltäglich-lebensweltlicher Hintergrund in die Konfiguration des literaturpolitischen Feldes der Gegenwart ein. Der Generationszusammenhang resultiert laut Karl Mannheim aus „gleichzeitigen, historischen Schlüsselerfahrungen“ und erzeugt eine Art „‚natürliches Weltbild‘“.9 Für die Nachkriegsgenerationen bildeten Krieg und Nazi-Verbrechen bis hinein in die 1980er Jahre eine gemeinsame historische Identitätsreferenz. Dies ändere sich „erst in den 90er Jahren radikal“10. Die großen politideologischen Diskurse des 20. Jahrhunderts, die weite Teile auch des Diskurses über Kunst und Literatur bestimmt haben, verlieren nach 1989 an Bindekraft. „Die Mehrzahl der jungen Autorinnen und Autoren macht bei all diesen Debatten nicht mit.“11 Als wesentliche gemeinsame Schlüsselerfahrungen der Generationen nach 1989 nennt Wolfgang Emmerich den Mauerfall, die Globalisierung sowie die Prekarisierung der Lebensverhältnisse (Hartz IV). Haltungen und Einstellungen, die daraus erwachsen, sind eine „zivilisationskritische Grundhaltung“ und die „Skepsis“ gegenüber Fortschritt und einfachen Sinnangeboten.12

Vgl. Wolfgang Emmerich: Generationen – Archive – Diskurse. Wege zum Verständnis der deutschen Gegenwartsliteratur. In: Fabrizio Cambi (Hg.): Gedächtnis und Identität. Die deutsche Literatur nach der Vereinigung. Würzburg: Königshausen & Neumann 2008, S. 15–29, hier S. 19 f. 10 Ebd., S. 22. 11 Ebd., S. 28. 12 Ebd. 9

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4. Realismus Totgesagte leben länger – auf den Begriff des literarischen Realismus trifft diese Redensart besonders zu, wird doch der Realismus quasi im gesamten modernistisch dominierten ästhetischen Diskurs des 20. Jahrhunderts als obsolet verabschiedet. Desto bemerkenswerter, dass er sich auch in den ästhetischen Debatten nach 1989 als quicklebendig erweist. Gewiss liegt das auch daran, dass der Begriff des Realismus relativ offen ist und so anschlussfähig bleibt für diverse philosophische, ästhetische und politische Konzepte. „‚Realität‘“, schreibt Vladimir Nabokov im Nachwort zu Lolita, sei „eines der wenigen Worte, die ohne Anführungszeichen nichts bedeuten“.13 Zu Grabe getragen wurde 1989 ff. zunächst die Spielart des sog. ‚sozialistischen Realismus‘. Gleichwohl blieb der Kern dieses Konzepts, gesellschaftskritisches Engagement qua Literatur bzw. Kunst, auch in darauffolgenden literarästhetischen Debatten präsent. So etwa, wenn vier Autoren Mitte der 00er Jahre in einem Manifest von der Zunft der Romanciers einen „relevanten Realismus“ einfordern, und das heißt einen gesellschaftlich, gesellschaftskritisch relevanten Realismus.14 In Abgrenzung von der hedonistischen Erlebnisgesellschaft sei das „Ziel“ eine „relevante Narration, denn wir glauben, dass dem Roman heute eine gesellschaftliche Aufgabe zukommt: Er muss die vergessenen oder tabuisierten Fragen der Gegenwart zu seiner Sache machen, er muss die Problemfelder, ob in lokalem oder globalem Kontext, in eine verbindliche Darstellung bringen.“ Allerdings ist der relevante kein naiver, vielmehr ein reflektierter Realismus: „‚Relevanter Realismus‘“, das heißt: „Ebenso weit entfernt von Pseudoavantgarde wie von Zeitgeisterei, arrangiert der Relevante Realist seinen Stoff so kunstvoll zur Fiktion, dass sie beim oberflächlichen Lesen mit einem Abbild der Realität verwechselt werden könnte: inszenierter Realismus.“15 Das Manifest des ‚relevanten Realismus‘ ist vielfach kritisiert worden – schon das Epitheton ‚relevant‘ erscheint problematisch, suggeriert es doch so etwas wie einen objektiv erkennbaren Auftrag der Literatur. Angreifbar machen sich diese Autoren zudem, wenn sie an die „ästhetisch-moralische Verantwortung“ des „Schriftstellers“ appellieren und damit die Rückkehr zu Dichterbildern propagieren, die letztlich auf der fragwürdigen Überlegenheit des Intellektuellen über die Masse basieren. Versucht der ‚relevante Realismus‘ wenigstens teilweise an die sozialkritische Dimension der realistischen Tradition anzuknüpfen, so spielt dieses gesellschaftskritische Moment in einer weiteren, früheren Realismusdebatte allenfalls indirekt eine Rolle. Realismus ist hier eher der Sammelbegriff für literarästhetische Prinzipien wie Welthaltigkeit und Authentizität, Narrativität und Leserfreundlichkeit. Zum 13 Vladimir Nabokov: Lolita. Roman. Deutsch v. Helen Hessel u.a. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt

1997, S. 509.

14 Martin R. Dean/Thomas Hettche/Matthias Politycki/Michael Schindhelm: Was soll der

Roman? In: Die Zeit 23.6.2005.

15 Ebd.

Ästhetische Debatten im literaturpolitischen Feld der Gegenwart

Vorbild werden nord- und lateinamerikanische Autoren wie Philip Roth, Paul Auster und Gabriel García Marquéz erklärt, denen es gelungen sei, E und U miteinander zu verbinden, den Leser narrativ zu fesseln, zu unterhalten und zugleich auf hohem gedanklichen Niveau herauszufordern. Maxim Biller, einer der Protagonisten dieser Realismusvariante, polemisierte sowohl gegen die elitäre Hermetik der historischen Avantgarden und deren „Wirklichkeitsverbot“16 als auch gegen die esoterische Versponnenheit der deutschen Literaturtradition: „Kunst ist Kunst ist Transzendenz ist Religion. Und Realität ist Dreck ist Boulevard ist Fernsehen ist Journalismus.“17 Gegen das Modell vom Autor, der in seiner Innerlichkeit verharrt oder in künstliche Welten flüchtet, stellte Biller den Typus des Journalisten-Autors, der als Reporter und Detektiv auf Recherche in die Wirklichkeit auszieht und so das Lebensgefühl einer Zeit realistisch-eindrücklich einfängt. Auch Matthias Altenburg empfiehlt seinen Schriftstellerkollegen, die „dirty places“ der Wirklichkeit aufzusuchen und „bei jener dicken Mama“ in die Schule zu gehen, „die wir uns angewöhnt haben ‚das Leben‘ zu nennen“.18 Roger Willemsen wiederum spricht in diesem Zusammenhang kritisch von einem allzu forcierten „‚Always Ultra‘-Realismus“, der sich, weitgehend frei von Selbstreflexion, dem vermeintlich „‚wahrhaft Existentiellen‘ in die Arme wirft“19 und derart eine Form von ästhetischer Unmittelbarkeit prätendiert, die in ihrer Eindimensionalität nicht weniger angreifbar ist als ihr Gegenteil.

5. Pop Pop ist eines der zentralen ästhetischen Paradigmen in der Zeit zwischen 1989 und 2015. Der Aufstieg des ästhetischen Popdiskurses geht einher mit der Depotenzierung von Politik und Ideologie nach 1989. Die Zeichen zählen, weniger die Gesinnung und die Partei. Im Gegensatz dazu ist der Begriff der ‚Popliteratur‘ höchst umstritten, ja, seine Berechtigung wird nicht selten ganz in Frage gestellt. Popliteratur, so lautet der Verdacht, ist ein reines Medienphänomen, ein kommerzieller Markenbegriff, der Bezeichnung mangelt jegliche ästhetische Substanz. Aber ist das so? Mit Blick auf bestimmte Erscheinungen im Literaturbetrieb Ende der 1990er Jahre ist die kritische 16 Maxim Biller: Soviel Sinnlichkeit wie der Stadtplan von Kiel. Warum die neue deutsche Litera-

tur nichts so nötig hat wie den Realismus. Ein Grundsatzprogramm. In: Andrea Köhler/Rainer Moritz (Hg): Maulhelden und Königskinder. Zur Debatte über die deutschsprachige Gegenwartsliteratur. Leipzig: Reclam 1998, S. 62–71, hier S. 63 [zuerst in: Die Weltwoche, 25.7.1991]. 17 Ebd., S. 69. 18 Matthias Altenburg: Kampf den Flaneuren. Über Deutschlands junge, lahme Dichter. In: Maulhelden und Königskinder (wie Anm. 16), S. 72–78, hier S. 74 f. (zuerst in: Der Spiegel, 12.10.1992). 19 Roger Willemsen: Fahrtwind beim Umblättern. Über den Streit der jungen deutschen Literaten. In: Maulhelden und Königskinder (wie Anm. 16), S. 79–85, hier S. 84 (zuerst in: Der Spiegel, 21.12.1992).

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Distanz durchaus gerechtfertigt: Christian Kracht und Benjamin von Stuckrad-Barre als Models für Peek & Cloppenburg, medienwirksame Auftritte in Talkshows, die Fokussierung auf Markennamen, der Hype um bestimmte Jungautoren – all dies weist in Richtung eines eigendynamisch sich verselbständigen Narrativs, das primär dazu dient, im Kulturbetrieb der Gegenwart symbolisches Kapital zu generieren. Am Ende haftet das Etikett ‚Popliteratur‘ allem an, das, ästhetisch vollkommen entleert bzw. beliebig, jung, knallig und irgendwie unkonventionell daherkommt. In größerem Rahmen betrachtet, bleibt es jedoch dabei: Pop ist ein, wenn nicht das zentrale ästhetische Paradigma der Gegenwart. Einmal, weil kaum eine zeitgenössische literarische, künstlerische, intellektuelle Karriere denkbar ist ohne mehr oder weniger starke Einflüsse aus der Popkultur. Nur weil die Popkultur derart tief in der Lebenswelt vieler Akteure der literarischen Öffentlichkeit verankert ist, konnte die Debatte über Popliteratur überhaupt so viel Aufmerksamkeit erregen. Hinzu kommt, dass im Zuge dieser popkulturellen Infiltration spezifische popästhetische Verfahren das literarische Schreiben beeinflussen. Historisch gesehen, besteht darin bereits seit dem Aufkommen einer kommerzialisierten Massen- und Medienkultur im 19. Jahrhundert die Hauptfrage für das traditionell hochkulturell codierte Kunst- und Literatursystem: Wie reagiert High auf Low, wie verhält sich die etablierte Kunst zur Massenkunst? Die Ausdifferenzierung der Medien und Künste im 20. und 21. Jahrhundert spitzte diese Frage nicht nur zu, sie führte im Ergebnis letztlich auch dazu, dass popkulturelle ästhetische Erlebnisse und Verfahren nach und nach Einzug hielten in die Normalbiographie von Literaten, Künstlern, Intellektuellen. Dass Platten von zeitgenössischen Popbands inzwischen mit größter Selbstverständlichkeit im Feuilleton besprochen werden, gehört ebenso zu diesem Prozess der Normalisierung wie der Umstand, dass zumindest die großen unter diesen Feuilletons natürlicherweise neben dem Architekturkritiker, dem Theaterkritiker und anderen Spezialisten einen Autor beschäftigen, dessen Aufgabengebiet der Popdiskurs ist. Weiterhin wandern aus der Popkultur bestimmte ästhetische Verfahren und Prinzipien in die Literatur über. Andy Warhols Lob der schönen Oberfläche ohne Sinntiefe findet sich schon bei Rolf Dieter Brinkmann wieder und ist weiterhin maßgeblich für einen bestimmten popästhetischen Duktus und Gestus der Gegenwart. Filmische Schreibweisen gehören inzwischen zum Standardrepertoire der literarischen Kultur.20 Mix- und Remix-Techniken aus der DJ-Kultur – wie sie etwa Thomas Meinecke in seiner Prosa fruchtbar macht – knüpfen an Verfahren der Montage in der ästhetischen Moderne an, generieren aber auch einen ästhetischen Mehrwert aus der spezifisch

20 Vgl. etwa Jan Röhnert: Springende Gedanken und flackernde Bilder. Lyrik im Zeitalter der

Kinematographie. Blaise Cendrars, John Ashbery, Rolf Dieter Brinkmann. Göttingen: Wallstein 2007.

Ästhetische Debatten im literaturpolitischen Feld der Gegenwart

popkulturellen Club- und elektronischen Musikkultur.21 Schließlich verbindet sich das popästhetische Paradigma teilweise auch mit einem spezifischen Habitus und Lebensgefühl, einer Ästhetik intensiver, gegenwartsbezogener Existenz, wie sie von Rolf Dieter Brinkmann bis Rainald Goetz literarisch inszeniert worden ist: „jetzt, jetzt, jetzt, ad infinitum!“22

6. Medien Im Alltag, im Literaturbetrieb, in der Wissenschaft – allenthalben ist in der Zeit um das Jahr 2000 von den Medien die Rede. In welcher Weise reflektieren literarästhetische Debatten diesen Zentralbegriff unserer Epoche? Das Literatursystem ist auf verschiedenen Ebenen mit dem Mediendiskurs verbunden, ganz praktisch zunächst dadurch, dass seine Akteure innerhalb eines medialen Systems agieren und somit deren allgemeinen Funktionsmechanismen unterliegen. Das berührt noch nicht unbedingt die ästhetische Substanz der Literatur, auch wenn bereits auf dieser Ebene immer wieder allgemeine ästhetische bzw. medienästhetische Fragestellungen aufkommen. Die Diskussion, die um die fotografische Inszenierung des Autorbildes von Judith Hermann entbrannte, ist hierfür nur ein Beispiel.23 Auch die Literatur selbst behandelt das Thema. Martin Walsers Tod eines Kritikers (2002) zum Beispiel kann als Medienroman im doppelten Sinne gelesen werden, indem er erstens ein Roman über die Medien ist, auf der stofflich-thematischen Ebene mit bekannten Versatzstücken aus diesem Milieu arbeitet und erzählerisch spielt; und zweitens ist er in einem noch eminenteren Sinne ein Roman, der auf einer gleichermaßen erzähl- wie erkenntnistheoretischen Metaebene die Bedingungen und Möglichkeiten von Wahrheit in einer medialen Gesellschaft zum Gegenstand hat. Er thematisiert im Medium des fiktionalen, romanhaften Erzählens die medialen Voraussetzungen und Konsequenzen der verschiedenen Medien in einer demokratisch-pluralen Mediengesellschaft. Das hochartifizielle Ineinander verschiedenster, fiktionaler wie faktualer Erzählmodi und Textsorten in diesem Buch ist als ein Spiegel dieser Mediengesellschaft zu verstehen, und dieses höchst komplexe und verwirrende Ineinander der Erzählebenen verdeutlicht, dass es in diesem Geflecht so etwas wie objektive Wirklichkeit und 21 Vgl. Ulf Poschardt: DJ-Culture. Diskjockeys und Popkultur. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt

1997.

22 Rolf Dieter Brinkmann: Erkundungen für die Präzisierung des Gefühls für einen Aufstand:

Reise Zeit Magazin. Die Story ist schnell erzählt. (Tagebuch). Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1987, S. 240. Vgl. auch Eckhard Schumacher: Gerade eben jetzt. Schreibweisen der Gegenwart. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2003. 23 Vgl. Braun: Die deutsche Gegenwartsliteratur (wie Anm. 1), S. 67; Dirk von Petersdorff: Literaturgeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Von 1945 bis zur Gegenwart. München: C. H. Beck 2011, S. 110 f.

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Wahrheit nicht gibt, lediglich unterschiedlich konstruierte und erzählte Versionen dieser Wirklichkeit bzw. Wahrheit. „Wahn! Alles Wahn!“24 kommentiert eine Figur an einer Stelle des Romans treffend diese Verzweigung des Diskurses ins Unendliche bzw. – mit Jean Baudrillard – in die absolute, simulakrenhafte Täuschung. Die Erzählanordnung indiziert den strukturellen Normalfall in der demokratisch-pluralistischen Mediengesellschaft: Etwas geschieht und spiegelt sich sogleich in einer Vielzahl von Medienreflexen. Wahrheit und Wirklichkeit sind von Anfang an nur zerstreut, disseminiert präsent. Tod eines Kritikers erweist sich in dieser Vielschichtigkeit nicht zuletzt der aufgeregten Debatte überlegen, die das Buch auslöste, indem hier immer wieder versucht wurde, den Autor Walser auf eine bestimmte Position zu fixieren. Die spätmoderne Mediengesellschaft wird als tiefer Einschnitt in die kulturelle Semiosis empfunden. Walsers Roman ist hierfür ein Beispiel, ebenso die vieldiskutierte Causa Hegemann (Axolotl Roadkill, 2010), in welcher die Frage nach Originalität und Authentizität von Autorschaft im digitalen Copy & Paste-Zeitalter verhandelt wurde.25 Allgemein werden die Phänomene der Mediengesellschaft vielfach in kulturkritischer bis kulturpessimistischer Perspektive behandelt. Die literarästhetische Debatte steht hier in einem unauflöslichen Zusammenhang mit der allgemeinen kulturphilosophischen Debatte über Medien seit den 1960er Jahren, also seit Marshall McLuhans Schriften zum ‚Ende der Gutenberg-Galaxie‘. Sie partizipiert auch an den Erregungsenergien, die solche Medienende bzw. -wechseldiskurse in der Regel freisetzen. Zur Disposition steht bekanntlich nicht weniger als die Existenz des Buches bzw. der Buchkultur. Es droht deren Marginalisierung in einem Zeitalter, in dem Digitalität und Ikonizität die leitenden Parameter zu sein scheinen. Nicht nur thematisch, auch ästhetisch-formal operationalisiert die Literatur den Siegeszug der neuen und elektronischen Medien im 20. und 21. Jahrhundert. Die sog. ‚Netzliteratur‘ ist nur einer von zahlreichen Abkömmlingen eines Schreibens, das auf die neuen Medien mit der Adaption je spezifischer Techniken reagiert. Andererseits zeigt gerade dieses Beispiel auch, als wie mächtig sich noch immer die ästhetische Tradition erweist: Zentrale ästhetische Begriffe der Netzliteratur wie Hypertext und Nonlinearität lassen sich mehr oder weniger problemlos in das bestehende ästhetische System der Moderne integrieren, davon abgesehen, dass die avancierte Aura dieser Begriffe ohnehin rasch verblasste und sie bis dato auch in der Sache erstaunlich wenig ästhetische Substanz hinterlassen haben.

24 Martin Walser: Tod eines Kritikers. Roman. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2002, S. 196. 25 Vgl. Steffen Richter: Der Literaturbetrieb. Eine Einführung. Texte – Märkte – Medien.

Darmstadt: WBG 2011, S. 70–73.

Ästhetische Debatten im literaturpolitischen Feld der Gegenwart

7. Tradition Wie steht es um das Bewusstsein der ästhetischen Tradition in der Literatur der Gegenwart? Verschiedene diskursive Ebenen sind hier zu unterscheiden. Ein Teil des ästhetischen Streitdiskurses der Gegenwart steht in der Tradition moderner Kulturkritik und thematisiert, grob gesagt, das ‚Leiden‘ an der modernen Gesellschaft. Botho Strauß mit seinem Anschwellenden Bocksgesang (1993) und Peter Handke mit seinen Serbien-Schriften (1996 ff.) treten in die Fußstapfen von Rousseau und Schiller, Nietzsche und Hofmannsthal, indem sie der allgemeinen technisch-materiellen Progression die immateriellen Verluste gegenrechnen. Die Präsenz der zumal in Deutschland einflussreichen ästhetikgeschichtlichen bzw. kunstphilosophischen Tradition, die von der Antike über den Deutschen Idealismus bis hin zu Luhmann und französischen Poststrukturalisten in der Gegenwart reicht,26 diese philosophischen Traditionslinien kommen im literarästhetischen Diskurs hingegen eher selten zur Geltung. Ausnahmen bestätigen die Regel: Thomas Meineckes Theorieromane (Tomboy, Hellblau u. a. m.), Andreas Maiers hochphilosophische Romane und Poetikvorlesungen sowie Rainald Goetz’ erklärtermaßen theorieaffine Prosa gehören dazu. Doch insgesamt, so scheint mir, sind die philosophischen Theoriegebäude und Begriffsdome zu weit entfernt von der konkreten literarischen Praxis, als dass sie dort eine ästhetisch relevante Rolle spielen würden. Vor allem spielen sie in den Literaturdebatten, selbst in jenen mit einem erkennbaren ästhetischen Gehalt, kaum eine Rolle. Anders verhält es sich mit der jüngeren Tradition, sprich mit dem literarästhetischen Diskurs der Moderne und Spät- bzw. Postmoderne. Frank Schirrmacher etwa attestierte den „jungen Autoren des Jahres 1989“ in einem Artikel in der FAZ ein vergleichsweise ausgeprägtes ästhetikgeschichtliches Wissen, insbesondere der „Moderne“. Er nannte beispielhaft Thorsten Becker, bei dem er Spuren der „Erzähltheorie Walter Benjamins“ erkannte, und Botho Strauß, bei dem deutliche Echos der „Simulationskonzepte Baudrillards“ zu hören seien.27 Pessimistischer fällt das Urteil von Michael Braun aus, der den Autoren der Anthologie Lyrik von Jetzt (2003) mit Blick auf die ästhetischen Standards der Spätmoderne „Traditionsvergessenheit“ vorwarf.28 Bis in die ersten Jahre des neuen Jahrtausends hinein fand zudem über die Postmoderne-Debatte eine Auseinandersetzung mit ästhetischen Prinzipien der Moderne statt. „Ironie, Maskerade hoch zwei, metasprachliches Spiel“29 bzw. „Offen26 Vgl. Ingo Meyer: Notizen zur gegenwärtigen Lage der Ästhetik. In: Merkur 67 (2013), S. 191–204. 27 Frank Schirrmacher: Idyllen in der Wüste oder Das Versagen vor der Metropole. In: Maulhel-

den und Königskinder (wie Anm. 16), S. 15–27, hier S. 19 (zuerst in: FAZ, 10.10.1989).

28 Michael Braun: Die vernetze Zunge des Propheten. Eine kleine Strömungslehre zur Lyrik des

21. Jahrhunderts. In: Text + Kritik 171 (2006): Junge Lyrik, S. 37–51, hier S. 39.

29 Hanns-Josef Ortheil: Was ist postmoderne Literatur? In: Roman oder Leben. Postmoderne in

der deutschen Literatur. Hg. v. Uwe Wittstock. Leipzig 1994, S. 125–134, hier S. 131.

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heit, Unbestimmtheit, Dezentrierung“30– das waren literarästhetische Begriffe und Positionen, die eine Zeitlang zu bekannten Spielmarken in ästhetischen Debatten und Diskursen zählten. Schließlich ist noch die literarische Tradition im engeren Sinne zu nennen – Befassung und Abgleich mit ihr finden oftmals im Rahmen von Preisreden und Klassiker-Jubiläen statt (z. B. Büchner-Preis, Goethe-Jubiläumsjahr 1999, Kleist-Jubiläum 2011). Texte, die in diesem Kontext entstehen, fallen im Hinblick auf ästhetische Positionen eher verhalten aus, selten ungeschützt identifikatorisch, eher punktuell zustimmend, im Ganzen skeptisch, ironisch, historisierend. Jedenfalls entzündet sich auch hier selten einmal ein Funke, der überspringen würde auf größere ästhetische Debatten.

8. Ästhetik der Existenz In einer emphatischen Variante thematisieren ästhetische Diskurse und Debatten eine Ästhetik der Existenz, wie sie etwa in den Schriften von Rainald Goetz begegnet. „We’ll never stop living this way“ – der Titel eines Westbam-Songs dient als Chiffre für den rauschhaften Heroismus der Verausgabung, den Goetz insbesondere im Zyklus Heute Morgen im Zusammenhang mit der Utopie einer ravenden Gesellschaft verfolgt.31 Ästhetische Debatten sind stets auch ein Spiegel des allgemeinen Lebensgefühls der denkenden und künstlerischen Teile der Nation. Die ‚Neue Sensibilität‘ etwa, die Herbert Marcuse und Rolf Dieter Brinkmann um 1970 ausrufen, ist das ästhetische Äquivalent einer allgemein verbreiteten Zeitstimmung, die befreite Sinnlichkeit in sämtlichen gesellschaftlichen und kulturellen Bereichen einforderte. Welche Muster sind hier prägend gewesen für das Vierteljahrhundert von 1989 bis 2015? Was wird auch in Zukunft bleiben? Botho Strauß’ bereits erwähnter zeitdiagnostischer Bocksgesang? Florian Illies’ generationelle Lifestylefibel Generation Golf? Philosophisch gehaltvollere Texte von Richard Rorty (Kontingenz, Ironie und Solidarität, 1989) oder Byung-Chul Han (Müdigkeitsgesellschaft, 2010)? Politische Manifeste wie jenes von Hardt/Negri (Empire. Die neue Weltordnung, 2003)? Oder gar poststrukturalistisch avancierte Theorie von Agamben, Badiou, Žižek …? All diese zeitdiagnostischen Versuche der vergangenen 25 Jahre (denen sich selbstverständlich weitere hinzufügen ließen) sind das, was Hegel der Philosophie im Allgemeinen zuschrieb: Zeit, in ihre Gedanken gefasst. Sie stehen mit dem literarästhetischen und literaturpolitischen Feld der Gegenwartsliteratur in einem osmotischen 30 Hanns-Josef Ortheil: Postmoderne in der deutschen Literatur. In: Roman oder Leben (wie

Anm. 29), S. 198–210, hier S. 203.

31 Vgl. Rainald Goetz: Rave. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1998, S. 268 (Motto zum Schlussabschnitt)

und S. 271 (Schlusssatz der Erzählung): „Nein, wir hören nicht auf, so zu leben.“ Vgl. auch auf dem Umschlag von Dekonspiratione (2000), wo der Autor mit einem T-Shirt mit der englischen Version des Slogans abgebildet ist.

Ästhetische Debatten im literaturpolitischen Feld der Gegenwart

Austauschverhältnis, durchdringen und befruchten einander mit ihren ästhetischen und semantischen Zeichen. Der literarästhetische Ironiebegriff, wie er von Autorenseite aus auf verschiedenen Wegen profiliert wurde,32 partizipiert ganz wesentlich am allgemeinen Geist der Ironie in einer „Kultur ohne Zentrum“,33 ohne ‚starke‘, sinnfundamentierende Wahrheiten. Was ist Kunst? Was soll der Roman? Welche Funktion hat das Ästhetische? Was bedeutet Ironie zu Beginn des 21. Jahrhunderts? Antworten auf diese ästhetikimmanenten Fragen hängen entscheidend davon ab, wie wir über folgende Fragen denken: Wie wollen wir leben? Was ist wichtig? Welches Lebensgefühl zeichnet gegenwärtige Generationen aus? Die neue Hauptstadt Berlin wurde so zu einem Projektions- und Experimentierraum gleichermaßen für ästhetisch-künstlerische und lebensweltlich-existentielle Modelle.34 Der Hauptstadt-Diskurs ist untrennbar mit ästhetischen Fragestellungen verknüpft, nicht nur dort, wo es ausdrücklich um, z. B., die lokale Literaturszene oder die Kunstszene geht. „Wir sind viele und wir sind zu zweit / Wir sind big in Berlin tonight“, sangen Die Sterne 1999 auf dem Album wo ist hier und verliehen damit einem Lebensgefühl Ausdruck. Aber was heißt das eigentlich, so das implizite Reflexionsgebot an jene, die mitsingen: Big in Berlin, groß in Berlin sein, im Leben wie in der Kunst? Wie leben und welche Funktion hat das Ästhetische (Popmusik, Literatur usw.) in diesem Leben? Wie könnte ein Zustand ästhetischer und existentieller ‚Größe‘ und Erfüllung aussehen? Wo ist hier? – emphatisch verstanden. Die Fragen sind das Ziel, Pluralität unhintergehbar. Die Vielfalt der Ansätze und Positionen in den ästhetischen Debatten der deutschsprachigen Literatur seit 1989 ist das eigentliche, durchgängige Charakteristikum, das im Ergebnis eine fortwährende Reflexivität des Ästhetischen im literaturpolitischen Feld der Gegenwart zur Folge hat.

32 Vgl. neben Rorty etwa auch Dirk von Petersdorff: Bekenntnisse. In: Roman oder Leben (wie

Anm. 29), S. 302–314, hier S. 314, der ein Loblied auf die „wahren“, d. i. die umfassenden „pneumatischen Ironiker[n]“ anstimmt. Vgl. ders.: Die Schule der Ironie. 1789, 1989. In: Merkur 64 (2010), S. 403–412. 33 Vgl. Richard Rorty: Eine Kultur ohne Zentrum. Vier philosophische Essays und ein Vorwort. Aus dem Englischen übers. v. Joachim Schulte. Stuttgart: Klett Cotta 1993. 34 Vgl. Heinz Bude: Generation Berlin. Berlin: Merve 2001; Francesco Masci: Die Ordnung herrscht in Berlin. Aus dem Französischen v. Daniel Fastner. Berlin: Merve 2014.

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Literatur und/oder Betrieb · Zur Ökonomie einer alten Debatte mit Neuigkeiten aus Bologna An Debatten herrscht im Literaturbetrieb kein Mangel. Wenn in den Feuilletons über längere Zeit Ruhe herrscht, vorrangig das Rezensionsgeschäft bedient wird, ruft garantiert bald einer der Mitspieler des Betriebs eine Debatte aus – und sei es auch nur eine „Mini-Debatte“ oder eine „Mini-Diskussion“.1 Eine Minidebatte ist besser als gar keine. Das bezeugt auch der Relaunch, welchen das Onlinemagazin Perlentaucher im Januar 2014 vornahm. Der seit dem Jahr 2000 als eine Art unersetzliches Zentralorgan des Betriebs fungierende Service-Dienstleister wollte fortan nicht mehr nur eine tägliche Presseschau mit dem Titel „Heute in den Feuilletons“ liefern, sondern initiierte neben seiner „Kulturrundschau Efeu“ explizit die „Debatten-Rundschau 9Punkt“. Ganz offensichtlich aber waren es die Perlentaucher-Redakteure schon lange müde, die Debatten der anderen nur zu rapportieren und lediglich dezent, oft einzig durch gezielten Konjunktivgebrauch, zu kommentieren. Nein, man wollte selbst Debattenteilnehmer sein. Das zeigen schon die Blogs und Beiträge geladener Autoren, die Diskussionen anstoßen sollen. Dieser Wunsch, sich als Debattenteilnehmer zu präsentieren, ist bezeichnend. Der Grund ist einfach: Dass in Debatten Sachverhalte verhandelt werden, ist nur eine Seite der Medaille. Auf der anderen steht die zentrale Funktion von Debatten, für ihre Beteiligten und deren Produkte Aufmerksamkeit zu akkumulieren – Aufmerksamkeit als Standardwährung des Informationszeitalters. Diese Aufmerksamkeitsakkumulation erfolgt einerseits innerhalb der literarischen Öffentlichkeit. Sie signalisiert Kolleginnen und Kollegen: Ich bin im Geschäft! Wer sich wie ich in Debatten engagieren kann, steht noch auf der Matte! Aufmerksamkeit aber will andererseits auch auf einem Feld jenseits des literaturbetrieblichen „inner circle“ akkumuliert sein. Letztere ist für das gesamte literarische Leben, den Literaturbetrieb, den Buchmarkt und die Kulturtechnik Lesen von größter Bedeutung, geht es doch darum, der Konkurrenz anderer Freizeitbeschäftigungen wie Fernsehen, im

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Richard Kämmerlings etwa wollte vor einiger Zeit eine „schwelende Mini-Debatte um Maßstäbe“ der Literaturkritik sehen: Warum haben Blurbs nur so einen schlechten Ruf ? In: Die Welt, 21.10.2013. Und Sieglinde Geisel berichtete kürzlich auf ihrem Blog, dass sie an einer „Mini-Diskussion über die Büchnerpreis-Tauglichkeit des Rainald Goetz“ teilgenommen hatte: Der Wille zum Wilden. Büchnerpreis an Rainald Goetz. 9. Juli 2015. http://www.sieglindegeisel.ch/2015/07/09/der-wille-zum-wilden-buechnerpreis-an-rainald-goetz/ (zuletzt aufgerufen: 26.01.2016).

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Internet surfen, Gartenarbeit oder Radfahren etwas entgegenzusetzen.2 Der literarische Betrieb braucht die Debatte, denn sie verkündet: Wir sind noch da! Und: Wir haben etwas zu verkaufen.

1. Die Debatte als Politisierung des Ästhetischen Die nicht beruflich mit Literatur befassten Mediennutzer dürften die meisten literarischen Debatten kaum als solche erkennen. Sie verbleiben im letztlich kleinen Kreis der betroffenen Autoren, Lektoren, Pressechefs und Ressortredakteure. Geht es um wirklich öffentliche Aufmerksamkeit, muss die Debatte das Gemeinwesen betreffen – oder so inszeniert werden, als beträfe sie das Gemeinwesen. Sie muss politisch reformulierbar, dem Politischen kompatibel sein. Das ist weder schwierig noch verwerflich. Literatur als Kommunikation über unser In-der-Welt-Sein, literarischer Stil als eine Frage der Weltsicht (wie Marcel Proust formuliert), ist grundsätzlich eine Angelegenheit, die das Gemeinwesen betrifft. Ästhetische Debatten können – aus dieser pragmatisch-literaturbetrieblichen Perspektive – immer auch politische sein. Nur mit einer Politisierung des Ästhetischen gelangt man in die Tagesschau – einst das Allerheiligste und der größte Aufmerksamkeitsakkumulator der bürgerlichen Öffentlichkeit in Deutschland. Wie die Generierung von Aufmerksamkeit bei neuen, thematisch ausdifferenzierten Anbietern von Online-Nachrichten erfolgt, wie etwa der Youtube-Star LeFloid seine Informationen auswählt, ist noch kaum untersucht.3 Die letzten Autoren, die es in Hauptnachrichtensendungen geschafft haben, waren Christa Wolf, Günter Grass und Martin Walser. Im Falle von Christa Wolfs Was bleibt ging es 1990/91 um den Umgang mit dem intellektuellen Erbe der DDR. Bei Günter Grass und seinem Weiten Feld stand 1995 das Selbstverständnis des wiedervereinigten Deutschland auf dem Prüfstand, anhand von Martin Walsers Tod eines Kritikers musste im Jahr 2000 geklärt werden, wie es dieses vereinte Deutschland künftig mit dem Antisemitismus halten will. Das alles scheinen mir Fragen zu sein, die das Gemeinwesen betreffen. Erstaunen und/oder erfreuen könnte bestenfalls die Tatsache, dass unsere Gesellschaft zentrale Aspekte ihres Selbstverständnisses anhand des oft als überlebt denunzierten künstlerischen Ausdrucksformats Literatur diskutiert. In die Reihe dieser politisierten Literaturdebatten, mit denen natürlich immer auch Literaturpolitik betrieben wird, gehören selbstverständlich auch die 2 3

Ein Ranking der beliebtesten Freizeitbeschäftigungen veröffentlicht jährlich der Börsenverein des Deutschen Buchhandels in seiner Publikation Buch und Buchhandel in Zahlen. Vorläufig zumindest ist eine Orientierung an traditionellen Nachrichtenformaten zu beobachten, versetzt mit medienspezifischen Informationen wie etwa Verdienstmöglichkeiten durch das Internet. Vom Eingeständnis einer jugendlichen Mitgliedschaft in der Waffen-SS durch einen Literaturnobelpreisträger würden wir aber wahrscheinlich nicht nur in der Tagesschau, sondern auch bei LeFloid erfahren.

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nicht ganz so weitreichenden Auseinandersetzungen um die Verleihung des Heinrich-Heine-Preises an Peter Handke in Düsseldorf 2006, um Christian Kracht als angeblichen „Türsteher der rechten Gedanken“ (Georg Diez)4 im Jahr 2012 oder Sibylle Lewitscharoffs Ausfälle gegen künstliche Befruchtung, moderne Medizin und die Rechte gleichgeschlechtlicher Partnerschaften im Frühjahr 2014. Nein, hier haben Literaturkritiker – denn sie sind es maßgeblich, die Debatten führen – nicht ihre literaturkritischen Kompetenzen überschritten, sondern sie ausgeschöpft. Literaturkritische Kompetenz beschränkt sich eben nicht auf das Formenarsenal, in dem die Literatur spricht, sie umfasst im besten Fall auch spezielle Kenntnisse der Sachverhalte, von denen die Literatur spricht. Von einer bewahrenswerten „Reinheit“ des Ästhetischen, das durch seine Politisierung „beschmutzt“ würde, kann meines Erachtens keine Rede sein. Eine solche „Reinheit“ kann zudem kaum im Interesse der Literatur liegen. Schließlich tragen all diese Auseinandersetzungen zum komfortablen Status bei, den Buch und Literatur noch immer genießen. Sie überblenden allerdings eine andere Debatte. Diese Debatte besitzt zwar eine geringere Reichweite, verfügt aber über eine enorme Relevanz für die Verfassung der ästhetischen Produktion selbst. Es geht um eine Frage, die der Zeit-Literaturredakteur Jens Jessen schon 2007 im Schiller-Jahrbuch gestellt hatte: „Verdirbt der Literaturbetrieb die Literatur?“

2. „Verdirbt der Literaturbetrieb die Literatur?“ – die alte Debatte Im Unterschied zu Jessen würde ich diese Frage weniger suggestiv und moralisierend formulieren und eher nach den Wechselwirkungen zwischen Betrieb und Literatur fragen. Erstaunlich ist tatsächlich, dass trotz aller Selbstreflexivität der erwähnten Debatten, die nach einer ersten Phase der Sachargumentation fast regelmäßig in eine Phase der Metadebatte übergehen, eine Art blinder Fleck existiert. Er verhindert, dass sich die Debattenteilnehmer mit ihren Praktiken als Teil des Literaturbetriebs wahrnehmen, welcher der Literatur sowohl Gegenstände als auch Formen aufdrängt, sie medial modifiziert oder formatiert. Dieser Literaturbetrieb, die Gesamtheit aller Institutionen, Instanzen und Personen sowie ihrer Beziehungen untereinander, welche die Rahmenbedingungen für die Produktion, Distribution und Rezeption literarischer Texte bilden, dieser Betrieb hat sich in den 1990er Jahren einschneidend verändert. Grund dafür sind mehrere sich überlagernde Prozesse. Dazu gehört die deutsche Wiedervereinigung mit dem Beitritt ostdeutscher Autorinnen und Autoren, Lektoren, Verleger und Buchhändler – meist unter Wegfall der ostdeutschen Distributionsinstitutionen und einer starken Veränderung der Rezipientenschaft. Ein anderer bedeutsamer Vorgang ist der 4

Georg Diez: Die Methode Kracht. In: Der Spiegel 07/2012 (13.02.2012), S. 100–103.

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Globalisierungsschub dieser Dekade, der sogenannte „Weltbestseller“ ermöglichte, der die Verlagerung von Produktionsstandorten mit sich brachte, vor allem aber Konzentrationserscheinungen im Verlagswesen und später auch im vertreibenden Buchhandel zur Folge hatte. Der wichtigste Prozess, der in den 1990er Jahren eingesetzt hat, ist aber die digitale Revolution. Sie beeinflusst alle Institutionen des Betriebs (wenngleich nicht alle gleichermaßen), gestaltet sie teils radikal um oder schafft sie gar ab. Insgesamt ist der Literaturbetrieb seit den 1990er Jahren gekennzeichnet durch seine Spezialisierung, Ausdifferenzierung und Professionalisierung – unter dem Signum von Kommerzialisierung und Beschleunigung. Ob und wie dieser veränderte Betrieb die literarischen Texte affiziert, ist Bestandteil der Frage nach dem Wechselverhältnis zwischen Literatur und Betrieb. In der Wahrnehmung vieler Beobachter scheint der Literaturbetrieb seit den 1990er Jahren mit seinen Festivals und spektakulären medialen Inszenierungen von Autorschaft und Text zum Bestandteil einer allgemeinen Erlebniskultur zu werden und gleichsam „überhand zu nehmen“. Das ist der Boden, auf dem die Angst vor einer Verbetrieblichung der Literatur grassiert und aus dem Jens Jessens Feststellung sprießt, „daß der Literaturbetrieb dem literarischen Schaffen feindlich sei“.5 „Es gibt den Vorwurf“, so Jessen, „daß der Literaturbetrieb, der diese amusische Öffentlichkeit herstellt, nicht die Literatur, sondern das Abgeleitete, den Skandal, die Enthüllung, den Klatsch wolle, die gutaussehende Dichterin, die Homestory, die Geschichte von einer erniedrigenden Jugend.“6 Angesichts des kulturkritischen Impetus könnte man erstens genervt abwinken, was etliche von Jessens Lesern auch getan haben. Schließlich schlägt hier eine Vorstellung von Literatur durch, in welcher der Dichter mit dem Dämon ringt und ein noch immer genialer, also originärer Schöpfer ist, wie das späte 18. Jahrhundert ihn entworfen hat. Man könnte Jessens Klage zweitens auch entgegenhalten, dass sie schon vor 200 Jahren erhoben werden konnte, als der moderne literarische Betrieb entstand. Bereits Johann Gottlieb Fichte empörte, „daß in diesem Systeme die Bücher lediglich gedruckt werden, damit sie rezensiert werden können, und es überhaupt keiner Bücher bedürfen würde, wenn sich nur Rezensionen ohne Bücher machen ließen“.7 Und die Werther- und Lotte-Sammeltassen, die blau-gelbe Wertherkluft, Goethes Selbstinszenierung in der Campagna auf Tischbeins Gemälde oder sein Gedicht Rezensent („Schlagt ihn todt, den Hund! Es ist ein Recensent.“8) liefern zumindest 5 6 7 8

Jens Jessen: Verdirbt der Literaturbetrieb die Literatur? Vorbemerkung zu einer Diskussion. In: Jahrbuch der Schillergesellschaft 51 (2007), S. 11–14, hier S.11. Ebd. Johann Gottlieb Fichte: Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters. In: Vorlesungen, gehalten zu Berlin im Jahre 1804–1805. Sechste Vorlesung. Berlin: Realschulbuchhandlung 1806, S. 94 f. Der junge Goethe in seiner Zeit. Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Schriften bis 1775. Band 2. Frankfurt/M.: Deutscher Klassiker Verlag 1998, S. 144.

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Schlaglichter auf die erstaunliche Modernität des Betriebs um 1800 – inklusive Bestsellermarketing, gezielte Produktion eines Autorenimages und Betriebsschelte. Harry Potter ist aus dieser Perspektive nur ein merkantil forcierter Werther. Drittens aber könnte man Jessens Frage ernst nehmen. David-Christopher Assmann hat das kürzlich in seiner Dissertation getan und diese Frage konsequent weitergetrieben: Gibt es „Poetologien des Literaturbetriebs“?

3. „Poetologien des Literaturbetriebs“? – einige Banalitäten Anstatt die einschlägigen politisch relevanten Debatten auszuwerten, geht es bei Assmann interessanterweise ums ästhetisch Eingemachte, also um Poetologien, die auf den Betrieb reagieren, aus ihm heraus entstehen.9 Nach 500 terminologisch recht ambitionierten Seiten gelangt er zur vergleichsweise schlichten Einsicht, dass die „vielgescholtenen Realitäts- und Schlüsselverfahren“ als zentrale Techniken die Ebenen von Histoire, Discours und Paratext zur so genannten Literaturbetriebs-Szene verknüpfen.10 Eine Poetologie des Betriebs reflektiert also die Einbindung des Literarischen in diesen Betrieb durch die Referenz auf wiedererkennbares Personal wie Verleger, Kritiker oder Autoren? Ähnlich erstaunlich wirkt das Fazit der opulenten Studie: Literaturwissenschaftliche Fremdbestimmungen literarischer Kommunikation konzentrieren sich hingegen auf nicht mehr, aber auch nicht weniger als auf die ‚Redeskription‘ literarischer Phänomene als Formen, im Fall der diskutierten Texte als Literaturbetriebs-Szenen. Diese sind die literarische Darstellung und der operative Gebrauch der Unterscheidung zwischen primären und sekundären Formen, mithin der Selbstverweis der Literatur auf ihr sozialstrukturelles Eingebundensein. Geformt wird die Literaturbetriebs-Szene durch die literarische Thematisierung des sozialstrukturellen Rahmens der Literatur, bei gleichzeitiger Regulation der Literatur durch ihr sozialstrukturelles Eingebundensein, das die an literarischen Entstehungs-, Vermittlungs-, Medialisierungs- und Förderungsprozessen beteiligten Akteure und Organisationen bestimmen.11

Eine ‚Redeskription‘ dieses Fazits könnte lauten: Der Betrieb schreibt mit an der Literatur, die ihre Autonomie erlangt, indem sie ihre betriebliche Einbindung reflektiert. Assmann wählt als Belegtexte gerade nicht die notorischen Betriebsromane, sondern Texte, die den Betrieb eher peripher und untergründig verarbeiten wie Bodo Kirchhoffs Schundroman (2002) und Erinnerungen an meinen Porsche (2009), Andreas Maiers Sanssouci (2009), Norbert Gstreins Die ganze Wahrheit (2010) und Ernst-Wilhelm Händlers Die Frau des Schriftstellers (2006). David-Christopher Assmann: Poetologien des Literaturbetriebs. Szenen bei Kirchhoff, Meier, Gstrein und Händler (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, Bd. 139). Berlin, Boston: De Gruyter 2014. 10 Ebd., S. 478. 11 Ebd., S. 472 f. 9

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Abgesehen davon, dass hier ein wunderliches, aber verbreitetes (Literatur-)Wissenschaftsverständnis sichtbar wird, das Verständlichkeit offenbar als Form von Unterkomplexität ablehnt, kann dieses Ergebnis nicht recht befriedigen.12 Allerdings ist bezeichnend, dass überhaupt nach „Poetologien des Literaturbetriebs“ gefragt werden kann. Schlüsselromantechniken und explizite Reflexion der betrieblichen Produktions-, Distributions- und Rezeptionsbedingungen zeugen natürlich von poetologischen Reaktionen auf den Betrieb. Allerdings scheint mir das relativ banal. Sogenannte Literaturbetriebsromane gibt es mittlerweile wie Sand am Meer. Sehr viel könnte man sagen zu Martin Walsers Tod eines Kritikers, zu Thomas Glavinic’ Das bin doch ich (2006), Norbert Gstreins Die ganze Wahrheit (2010) oder Klaus Modicks Bestseller (2006). Allerdings scheint mir keineswegs ausgemacht, dass diese Romane eine spezifisch literaturbetriebliche Poetologie entwickeln und ihre ästhetische Autonomie-Status-quo-Reflexion ihres betrieblichen Umfelds besser als andere Texte behaupten. Außerdem: Gehört die Reaktion auf die literaturbetrieblichen Produktions-, Distributions- und Rezeptionsumstände nicht immer schon zur Literatur? Auch der Don Quixote (1605/1615) als erster Großroman der modernen europäischen Literaturgeschichte ist ein Literaturbetriebsroman, insofern Cervantes sich im zweiten Teil gehörig über den Plagiator lustig macht, der, auf der Erfolgswelle des ersten Teils schwimmend, einen eigenen zweiten Teil veröffentlicht hatte. Cervantes jedenfalls reflektiert sein betriebliches Umfeld sehr genau. Sein Landsmann und Zeitgenosse Mateo Alemán hatte sich in ähnlicher Weise am illegitimen Fortsetzer seines erfolgreichen Pikaroromans Guzmán de Alfarache (1599/1604) gerächt, indem er ihn in seinem eigenen zweiten Teil zu einer Figur und zum Bediensteten seines Protagonisten machte. Es liegt nahe, dass der Betrieb die Literatur immer schon in unterschiedlichen Weisen und Intensitäten affiziert hat – ohne dass sich veritable Poetologien des Literaturbetriebs herausgebildet hätten. Assmann zielt zweifellos ins Zentrum der Frage nach dem Verhältnis von Literatur und Betrieb. Doch dabei überspringt er vor lauter Ambition einige sehr offensichtliche Aspekte dieses Verhältnisses – die freilich nicht weniger banal sind als die Tatsache, dass Romane den Betrieb zum Thema machen und ihre betriebliche Eingebundenheit bedenken.

12 Zur Spannung zwischen Anspruch und Ergebnis, Gestus und Sprache der Dissertation hat Ste-

fan Neuhaus das Erforderliche gesagt: Vom Versagen der Autoren, der Literaturkritik und der Literaturwissenschaft. Oder: Die Folgen wissenschaftlicher Hybris. Eine Studie als Lehrstück. http://www.uibk.ac.at/literaturkritik/rezensionen/1284555.html (zuletzt aufgerufen: 27.01.2016).

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4. Weitere Banalitäten zum Verhältnis von Literatur und Betrieb Ein expliziter Zusammenhang lässt sich zwischen Formen der Literaturförderung und der Literaturproduktion herstellen. Viele Texte werden eigens für Wettbewerbe oder Stipendien verfasst und an den jeweiligen thematischen Anforderungen ausgerichtet. Stadtschreiberstellen führen zu Erzählungen über Duisburg oder Ahrenshoop auf dem Darß, Texte, die andernfalls kaum entstanden wären. Das bedeutet nicht, dass sie zwangsläufig literarisch irrelevant wären. Ähnlich können Preise die Entstehung neuer Texte anregen, bestimmte Genres oder Themen befördern und damit die Literatur selbst mitprägen. Das gilt etwa für den Adalbert-von-Chamisso-Preis, der an Autorinnen und Autoren vergeben wird, deren Muttersprache nicht Deutsch ist. Auf einer anderen Ebene beeinflusst der Literaturbetrieb in Gestalt des vertreibenden und produzierenden Buchhandels die Entstehung von Texten, wenn Bestseller Fortsetzungen oder Nachfolger inspirieren, die narrative Strukturen oder Themen aufnehmen – und oft schon durch die Angleichung der Covergestaltung an die des vorangegangenen Erfolgstitels zu verstehen geben, dass sie einen Käufermarkt abschöpfen wollen. Das Spektrum solcher Praktiken reicht von Adaptionen der Romane Dan Browns bis zu denen Umberto Ecos. Auch die Frankfurter Buchmesse als eine Institution des Literaturbetriebs zieht jedes Jahr enorme Zahlen an Übersetzungen von Texten aus dem jeweiligen Gastland nach sich, die ohne diesen Auftritt kaum den Weg auf den deutschsprachigen Markt gefunden hätten. Zu fragen wäre nicht zuletzt nach dem Einfluss von professionellen Schreibausbildungsstätten wie dem Deutschen Literaturinstitut Leipzig oder dem Hildesheimer Studiengang Kulturjournalismus und Kreatives Schreiben auf Themen und Formen der Literatur. Wie nahezu jeder Mitspieler des Literaturbetriebs Themen und Stile neuer literarischer Texte beeinflussen kann, gilt umgekehrt, dass die Literatur den Betrieb modifiziert. So führte der Wunsch nach alternativer Literatur in den 1990er Jahren zu neuen Kleinverlagen. Die boomende Krimi-Produktion schuf das Bedürfnis nach kompetenten Wegweisern und Vorsortierern wie der KrimiZEIT-Bestenliste. Die Popliteratur hat vor zwei Jahrzehnten den Agenturen zu Bedeutung und Ausbreitung verholfen. Und die lyrische Produktion junger Autoren wurde quantitativ so überwältigend, dass der von der Berliner Literaturwerkstatt ausgerichtete Wettbewerb „Open Mike“ im Jahr 2007 einen speziellen Lyrikpreis einrichtete. Aktuell ist vor allem die Formatierung literarischer Texte durch neue, der Digitalisierung verbundene Medienformate sehr interessant, aber nur ansatzweise erforscht. Welche neuen Ästhetiken entstehen in Blogs, die eine extreme Form von Gegenwärtigkeit, also Echtzeitliteratur ermöglichen? Gibt es schon Poetologien des Facebook-Romans oder des E-Mail-Fortsetzungsromans, wie ihn Tilman Rammstedt derzeit mit Morgen mehr verfasst? Nikola Richters E-Book-Verlag Mikrotext publiziert seit 2013 Kurztexte, die auf neue Lesegewohnheiten mit dem Smartphone reagieren sollen. Doch auch der traditionsreiche Hanser Verlag setzt mit seinem neuen

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Verlagsleiter Jo Lendle seit 2014 auf das E-Book-Programm Hanser Box und damit auf kurze narrative Formate. Mit der Selfpublishing-Szene schließlich ist ein Sektor des literarischen Lebens entstanden, den die etablierte Literaturkritik noch nicht einmal in den Fokus genommen hat, der aber in Einzelfällen zumindest für interessante Verkaufszahlen sorgt. Was aber geschieht mit der Ästhetik literarischer Texte, wenn Amazon als wichtigste Selfpublishing-Plattform die Autorinnen und Autoren, deren Bücher auf Amazon verliehen werden, nach gelesenen Seiten honoriert? Dieser Verleih macht immerhin 15–20 % des Umsatzes deutscher Selfpublisher aus. Werden dadurch nicht bestimmte narrative Muster und Cliffhänger-Dramaturgien begünstigt? Aber, und nicht zuletzt: Nimmt die Literatur durch ihre mediale Formatierung tatsächlich gänzlich neue Formen an oder finden hier nur Veränderungen statt, deren Struktur aus früheren Medienrevolutionen – wie etwa der Entstehung periodisch erscheinender Zeitungen mit Feuilletonromanen – bekannt sind? Zu diesen poetologisch relevanten Debatten treten aktuell andere Literaturbetriebsdebatten, die weitere Aspekte der Digitalisierung betreffen: Etwa die Entindividualisierung der Kulturtechnik Lesen in den sozialen Netzwerken (wie Goodreads) – wobei längst nicht mehr nur zwischen der Lektüre in Print- und Onlinemedien unterschieden wird, sondern auch zwischen der auf E-Book-Readern und Smartphones. Zum aktuell Debattierten gehört die forcierte Verwandlung von Lesenden in Schreibende durch den Wegfall von Veröffentlichungsbarrieren. Dazu gehört auch die im Sommer 2015 geführte Debatte um das digitale Literaturzeitungsprojekt Fahrenheit 451, die Wolfram Schütte im Perlentaucher angestoßen hat – und die auch eine Fortsetzung der Dauerdebatte um die Dauerkrise der Literaturkritik ist. Immerhin ging aus diesen Diskussionen das von Sieglinde Geisel initiierte Online-Literaturmagazin tell hervor, dessen Start im Frühjahr 2016 erfolgte. Im deutschsprachigen Raum ist in Diskussionen um die neue literaturbetriebliche Situation – das heißt die mediale und merkantile Situation – oft eine Frontstellung zwischen kulturpessimistisch inspirierten Medienkritikern und agilen Medienenthusiasten zu beobachten. Letztere blicken gern auf Erstere wie auf eine Karawane hinab, die auf ihren ausgetretenen Wegen weiterzieht – wie im Fall von Stephan Porombkas manifestartigem Aufruf Das Nächste, bitte, der 2012 die Konferenz „LitFlow“ programmatisch begleitete, die ein „Thinktank für die nächste Literatur“ sein wollte. Ein Blick über die Grenzen, der vor allem ein Blick auf eine literarisch-literaturbetriebliche Praxis ist, kann das etwas starre Verhältnis entspannen.

5. Neuigkeiten aus Bologna: Wu Ming Ein Projekt, das die Frage nach Literatur und ihrem medialen, institutionellen und politischen Umfeld auf originelle Weise stellt und permanent neu beantwortet, stammt aus dem Untergrund der 1990er Jahre in Bologna. Es heißt Wu Ming. Wu Ming steht,

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so viel vorweg, für eine äußerst lebendige und zugleich kontroverse, eine ungeheuer ernsthafte und doch lustbetonte Weise, Literatur zu produzieren. Ein Großteil der deutschsprachigen Gegenwartsprosa nimmt sich dagegen aus wie Mittelstandsliteratur von Frühvergreisten. Wu Ming ist das Kollektivpseudonym von vier Autoren aus Bologna, die unter diesem Namen gemeinsam Romane schreiben. Als sie begannen, hießen sie noch Luther Blissett und waren ein Projekt der Kommunikationsguerilla. Den Namen hatten sie geborgt von einem britischen Fußballer jamaikanischer Herkunft, der in den 1980er Jahren eine Saison lang für den AC Mailand stürmte. Das Bild, das kursierte, war eine computergenerierte Synthese mehrerer alter Porträtfotos. Luther Blissett fütterte die italienischen Medien mit getürkten Nachrichten, um die Logiken der Generierung und Akkumulation von Aufmerksamkeit vorzuführen. Sie legten hanebüchene Unprofessionalität von Journalisten und sogenannten Experten sowie verborgene politische Interessen offen. Einmal wurde der voyeuristischen Fernsehsendung Chi l’ha visto? weisgemacht, ein englischer Künstler namens Harry Kipper sei verschwunden. Dann setzte Luther Blissett das Gerücht von satanischen Messen und allerlei dämonischem Spuk in der Region Lazio in die Welt. Die Medien kümmerten sich regelmäßig um die Skandalisierung und produzierten die erwartbare Anteilnahme oder moralische Entrüstung. Doch am Ende seines fünfjährigen Lebens wurde Luther Blissett, der Dealer mit Falschinformationen, zum Romancier: 1999 erschien Q, ein dickleibiger Roman über Reformation, Bauernkrieg und Wiedertäuferbewegung – das Zeitalter des beginnenden Buchdrucks und der sich formierenden Kapitalmärkte. Doch während Q für den Premio Strega nominiert und in 15 Sprachen übersetzt wurde, „entleibte“ sich Luther Blissett zum ersten Hahnenschrei des neuen Jahrtausends in Form eines Seppuku, des traditionellen Suizids der Samurai. Allerdings nur, um wenig später wieder aufzuerstehen als Wu Ming, was auf Chinesisch „ohne Namen“ bedeutet. Eigentlich aber steht Wu Ming für: Laboratorium politischer, kultureller und insbesondere literarischer Phantasien. Mittlerweile sind neben etlichen Bänden Theorie und Essayistik sechs Romane unter diesem Namen erschienen. Alle handeln von historischen Umwälzungen und Umstürzen, alle stehen als historische Abenteuerprosa in der Tradition von Emilio Salgari bis Jack London. Und immer stellen sie den verfestigten Narrativen nicht-kanonische Geschichtsabläufe entgegen und kratzen so an der Legitimation von Machtpositionen. Ja, Wu Ming ist durchaus vertraut mit Antonio Negris und Michael Hardts kapitalismus- und globalisierungskritischen Konzepten „Empire“ und „Multitude“. Inwiefern aber lässt Wu Ming sich lesen vor dem Hintergrund der Frage nach dem Verhältnis von Literatur und Betrieb? Das Kollektiv kam Mitte der 1990er Jahre mit den neuen Möglichkeiten des Internets zur Welt, mit Foren und global verzweigten Netzwerken. Auf andere Weise als zuvor konnte man Texte zirkulieren lassen und Gemeinschaft begründen. Natürlich

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spielt Wu Ming virtuos auf der Tastatur aller möglichen Medienformate. Das kann man schnell feststellen bei einem kurzen Streifzug durch die überbordenden Aktivitäten auf der Webseite „Wumingfoundation“, dem Blog „Giap“ oder auch auf Youtube. Die Geburt aus dem Geiste der Digitalisierung heißt aber gerade nicht, dass die Autoren vollständig auf virtuelle Welten setzen würden. Im Gegenteil: Sie suchen ihr Publikum so oft wie möglich in der materiellen Welt auf. So groß die mediale Experimentierfreude und so ausufernd die Netzaktivitäten auch sind, Wu Ming ist überzeugt davon, dass „die entscheidenden Dinge, die Partizipation an öffentlichen Angelegenheiten, auf der Straße diskutiert werden“.13 Wu Ming verabreicht dem Publikum jede Menge physische Präsenz – und zwar als Gegengift gegen die nicht nur kollektivierenden, sondern eben auch vereinzelnden Kräfte der virtuellen Netzwerke. Diese operativ mobile Position zwischen On- und Offline kehrt wieder in Wu Mings flirrendem Konzept von Autorschaft. Auch das hat mit ihrer Herkunft zu tun, diesmal im lokalen Sinn: Bologna „la Rossa“, eine Stadt mit Realsozialismus all’italiana, war in den 1990er Jahren ein Ort der intellektuellen und kulturellen Experimente, der Centri Sociali, alternativer Quartiertreffs, und der „grossen Begeisterung für kollektive Arbeit“.14 Als Kollektivpseudonym steht Wu Ming quer zu gängigen Konzepten von Autorschaft. Die Literaturwissenschaft hat in den letzten Jahren den Autor bekanntlich wiederbelebt – wenn auch nicht als Autorität und oberste Instanz der Textinterpretation, wohl aber als eine „das literarische Feld ordnende Größe“.15 Autorschaft muss unter heutigen literaturbetrieblichen Bedingungen zu Markenbildung tendieren und dabei alle Strategien der Selbst- und Fremdinszenierung nutzen. Das tut Wu Ming erfolgreich. Schließlich will man in die Öffentlichkeit mit all ihren unterschiedlichen Bühnen, in all ihren Facetten hinein. Wu Ming aber inszeniert eben kein Individuum, das als Marke für bestimmte Produkte steht, für die es Eigentumsrechte beansprucht, um sie auf dem Markt zu verkaufen – wie sich gegenwärtige Autorschaft üblicherweise beschreiben ließe. Wu Ming hingegen inszeniert ein Kollektiv als Marke, das auf Eigentumsrechte zu weiten Teilen verzichtet und sich kapitalistischen Verwertungsprozessen teilweise entzieht. Zur Erinnerung: Um Fragen des Urheberrechts im digitalen Zeitalter kreisen seit Jahren heftige Auseinandersetzungen.16 Die eine Seite befürchtet eine „Enteignung“ der Künstler – wie die seinerzeit von Günter Grass und Christa Wolf mitgetragene 13 Steffen Richter: „Wir erzählen Revolutionen“. Wu Ming hiess früher Luther Blissett: Was ist

das Erfolgsgeheimnis des italienischen Autorenkollektivs? (Porträt der Autoren von Wu Ming). In: Neue Zürcher Zeitung (17.8.2015). 14 Ebd. 15 Thomas Wegmann: Autor. In: Erhard Schütz (Hg.): Das BuchMarktBuch. Der Literaturbetrieb in Grundbegriffen. Berlin: Rowohlt 2005, S. 31. 16 Vgl. dazu die vorzügliche Studie von Ilja Braun: Grundeinkommen statt Urheberrecht. Zum kreativen Schaffen in der digitalen Welt. Bielefeld: transcript 2014.

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„Leipziger Erklärung zum Schutz geistigen Eigentums“ im Umfeld der sogenannten Helene-Hegemann-Debatte 2010. Die andere Seite, wie etwa die Piratenpartei, sieht in gültigen Urheberrechtsbestimmungen ein Problem: Vervielfältigungsbeschränkungen für Werke, heißt es im Parteiprogramm, „verknappen künstlich deren Verfügbarkeit, um aus einem freien Gut ein wirtschaftliches zu machen. Die Schaffung von künstlichem Mangel aus rein wirtschaftlichen Interessen erscheint uns unmoralisch, daher lehnen wir diese Verfahren ab“.17 Abgelehnt wird also eine Verschwendung kultureller Potentiale, die nur denen zugänglich sein sollen, die für sie bezahlen. Tatsächlich ist das Konzept des geistigen Eigentums eine sehr fragwürdige, ganz fraglos aber eine kapitalistische Angelegenheit. Die Autoren von Wu Ming bzw. Luther Blissett haben sich auch in dieser Auseinandersetzung in eine Zwischenstellung begeben: Sie praktizieren seit 1996 Copyleft und stellen ihre Texte ein Jahr nach der Buchveröffentlichung gratis als Download zur Verfügung – auch die Übersetzungen, wenn die nationalen Rechtslagen es zulassen. Zum einen verkaufen sie ihre Romane – ihr Buch ist Ware, die Autoren leben von ihrer Kunst. Zum anderen verschenken sie viel und honorieren damit das Buch als Kulturgut. Ähnlich halten sie es mit der ökonomisch wichtigen literaturbetrieblichen Institution des Lesebetriebs. Deutschsprachige Autoren beziehen einen beachtlichen Teil ihres Einkommens aus diesem Lesebetrieb – zumindest sind diese Einnahmen meist höher als das vom Verlag gezahlte Honorar. Wu Ming begibt sich auf Lesereise, verzichtet aber oft auf Honorare oder lässt sich lediglich Auslagen erstatten. Das Projekt Wu Ming praktiziert – aus literaturbetrieblicher Perspektive, die für das Autorenkollektiv freilich kaum oberste Relevanz besitzt – ein beständiges Austarieren zwischen Drinnen und Draußen. Die nie fixierbare Flexibilität Wu Mings im Umgang mit dem Literaturbetrieb geht auch auf eine dritte Wurzel zurück: die seit Mitte der 1990er Jahre viele linke Projekte inspirierende Identitätspolitik des Subcomandante Marcos in Chiapas. Als Person nicht greifbar und dennoch politisch-poetischer Akteur zu sein, der das Gegebene phantasievoll unterminiert – das ist auch Ziel und Praxis der Italiener. Wu Ming will Ideen in den Mainstream bringen. Und zwar als trojanisches Pferd, das die Sahnetorte Kapitalismus gewissermaßen von innen aufrollt. So wie der Literaturbetrieb mit seinen Medien und Institutionen sich derzeit permanent verändert, muss auch die Revolte, die Wu Ming in diesen Betrieb infiltriert, in immer neue Verwandlungen hinein. Natürlich gehört es zum Wu-Ming-Programm, diesen Betrieb und seine Erwartungen zu düpieren. Schon lange wird das linke Kollektiv mit der Frage konfrontiert, 17 Grundsatzprogramm. Piratenpartei Deutschland https://www.piratenpartei.de/wp-content/

uploads/2013/01Piratenpartei_Grundsatzprogramm_Dezember_2012.pdf, S. 11 (zuletzt aufgerufen: 27.01.2016).

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wann es denn endlich einen Roman über die italienischen 1970er Jahre, die „anni di piombo“, des Terrorismus schreiben werde. Die öffentliche Auskunft der Autoren in dieser Sache lautet: Sie dächten bereits angestrengt darüber nach. Es werde wohl etwas mit Fliegenden Untertassen werden …18

18 Vgl. Steffen Richter: „Wir erzählen Revolutionen“ (wie Anm. 13).

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Die Kanonisierung des Augenblicks · Oder: Wie neue Literatur ins Gespräch kommt Jedes Jahr erscheint im deutschsprachigen Raum eine unglaubliche Anzahl an neuen Büchern. Der Börsenverein des Deutschen Buchhandels gibt jährlich die Broschüre Buchhandel in Zahlen heraus. Für 2014 sind da, zum Beispiel, 87.134 Neuerscheinungen genannt. Natürlich sind das nicht nur Titel der schönen Literatur, aber die Belletristik macht doch einen großen Teil der Novitäten aus. Wie aber kommt es, dass dann im Laufe eines Jahres nur von 20 oder 30, oder wenn wir großzügiger rechnen, von vielleicht 50 bis 100 belletristischen Titeln etwas ausführlicher die Rede ist? Wie sortiert sich der Buchmarkt, oder besser gefragt, wie sortiert sich der Markt der Aufmerksamkeit? Denn es gibt Bücher, die nur eine überschaubare Auflage erreichen – sagen wir 5000 Exemplare –, über die die ganze Branche spricht. Auf der anderen Seite erscheinen Bestseller, von denen die ernstzunehmende oder die akademische Kritik überhaupt kein Aufheben macht. Die Rolle des Vermittlers dieser Bücher und ihrer Autoren zu den immer noch nicht unerheblich wenigen Lesern übernimmt das, was in Deutschland Literaturbetrieb heißt. Mit dem Literaturbetrieb verhält es sich ein wenig so wie mit dem Tourismus: Fast jeder möchte reisen, aber keiner möchte als Tourist gelten. Viele wollen einen Beruf, der mit dem Lesen und Schreiben zu tun hat, aber keiner möchte Teil des Literaturbetriebs sein. Die weitaus meisten Autoren möchten gelesen werden, viele Bücher verkaufen, Preise und Stipendien bekommen, aber den Literaturbetrieb lehnen sie eigentlich ab. Übrigens ist das aus ihrer Sicht auch ganz legitim. Denn natürlich ist dieser Betrieb ungerecht, eitel, in ihm übertönt das Unwesentliche oft das Wesentliche. Es wird – auch dort – zu wenig gelesen und zu oft vom Falschen. Aber als einer, der beim besten Willen nicht leugnen kann, an einer zentralen Stelle, tja, wie sollen wir es nennen, ebendieses Literaturbetriebs sitzt, wäre es nicht nur autoaggressiv, sondern auch unredlich, den Betrieb, wie er sich im deutschsprachigen Raum darstellt, per se zu verurteilen. Denn ohne die vielen Mitspieler innerhalb des literarischen Feldes, so nannte das Bourdieu und so klingt es schon viel ernsthafter, wäre die Aufmerksamkeit, die die Gesellschaft als Ganzes der Literatur widmet, viel geringer. Und das heißt, die Autoren wären noch viel randständiger, als sie es vielleicht eh schon heute sind. Aber wer sind die Akteure, die diesen Betrieb bilden? Die Gesamtzahl, so will es mir scheinen, ist etwa so groß wie eine kleine Stadt. Sagen wir, dieser Ort hat etwa 3000 bis 5000 Bewohner. Das heißt, man kennt sich persönlich. Und wenn nicht, dann hat man wenigstens eine Meinung über den anderen. Die wichtigsten Akteure sind – wenn wir einmal von den Urhebern, den Autorinnen und Autoren, absehen – die

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Verleger und die Verlagsmitarbeiter in den Lektoraten, Presse-, Werbe- und Vertriebsabteilungen. Trotz aller spektakulären Einzelerfolge des selfpublishing im Netz, sind die allermeisten Urheber doch froh, professionell vom Manuskript zum Buch und mit dem Buch in die Läden und in die Öffentlichkeit begleitet zu werden. Die Buchhandlungen des stationären Handels sind trotz Amazon und anderen Internethändlern immer noch die Lastesel des Buchvertriebs. Aber natürlich müssen sie sich anstrengen, um sich der Konkurrenz aus dem Netz zu erwehren. Von daher zielen die Verlage in dem Versuch, ein Buch ins Gespräch und natürlich auch in den Einkaufskorb zu bringen, in mindestens drei Richtungen. Erstens in den Handel, dafür haben sie bis heute Vertreter, die nahezu jede Buchhandlung bereisen. Die zweite Gruppe, an die sich die Verlage wenden, sind die professionellen Vermittler, also Kritiker in Print, Rundfunk und Fernsehen und in letzter Zeit natürlich auch für verschiedenste Formen der Literaturvermittlung in der digitalen Welt. Im weiteren Sinne gehören aber auch die Mitarbeiter in den Lizenzabteilungen dazu, die die Werke in das Ausland verkaufen oder Übertragungen in andere Gattungen wie Theater, Film oder Hörspiel respektive Hörbuch forcieren. Ein zunehmend wichtig gewordener Bereich für Verleger sind auch Lesungen der Autoren geworden. Lesungen erzeugen noch einmal Öffentlichkeit für Autoren und Bücher vor Ort, außerdem werden anlässlich von Lesungen auch Bücher verkauft, wenn auch nur in seltenen Fällen in wirklich für die Verlage wahrnehmbaren Größenordnungen. Für die Schriftsteller aber sind Lesungen mittlerweile eine nicht zu unterschätzende zusätzliche Einnahmequelle. Aus all diesen Gründen haben fast alle großen und viele der mittelgroßen Verlagshäuser heute Angestellte, die sich ausnahmslos um Lesungsakquise und Lesereisenorganisation der Hausautoren kümmern. Und die dritte Gruppe sind die Leser, die Buchkäufer. Sie werden meist über Anzeigen in Print und Netz angesprochen, Rundfunk- bzw. Fernsehwerbung konnte sich nicht durchsetzen. Sie ist wahrscheinlich auch einfach zu teuer. Neu in diesem Bereich sind von Verlagen initiierte Lesegruppen, die gemeinsam ein Buch lesen. Das ist der Versuch, die Einsamkeit des Lesers zu überwinden – das ist insofern ein wenig paradox, als diese Einsamkeit für viele Leser ja ein Grund des Lesens an sich ist. Eine der Hauptaufgaben von Verlagen, zumindest so, wie wir sie im Kopf haben, scheinen sie aber in den letzten Jahren zunehmend delegiert zu haben: die Suche nach neuen Autoren. Zum Klischee der Verlagsarbeit gehört die schier nicht enden wollende Masse an unverlangten Einsendungen, die das Lektorat beschäftigt. Natürlich kommt es auch noch heute vor, dass eine Autorin, ein Autor durch ein mehr oder weniger anonym eingesandtes Manuskript von einem Verlag angenommen wird, aber die Realität ist doch eine ganz andere. Die Suche nach Talenten haben die Verlage in bester kapitalistischer Manier outgesourct. Neben den klassischen Entdeckern und Ermöglichern wie den immer noch zahlreich erscheinenden Literaturzeitschriften (eine Auswahl findet sich unter Literaturport.de), übernehmen andere Institutionen

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und Personen das Scouting (um einen Ausflug in die Fußballsprache zu machen): Da sind zum einen die Studiengänge für Schriftsteller in Leipzig, Hildesheim und Biel/ Bienne in der Schweiz zu nennen (aus Biel kommen übrigens die meiner Meinung nach eigenwilligsten, die besten Autoren), aber auch Wettbewerbe wie der „open mike“ der Literaturwerkstatt Berlin, der Ingeborg-Bachmann-Preis der Stadt Klagenfurt sind Stätten der Vorauswahl geworden. Außerdem gibt es noch zahlreiche andere Preise, wo zum Teil ohne Namensnennung eingereicht wird, wie etwa der Walter-Serner-Preis, den der RBB und das Literaturhaus Berlin ausrichten. Schließlich müssen in diesem Zusammenhang auch Schreibkurse wie die „Autorenwerkstatt Prosa“ des Literarischen Colloquiums Berlin, der sogenannte Häschenkurs, der zum festen Programm des Ingeborg-Bachmann-Preises gehört, oder die verschiedenen Angebote der Bayerischen Akademie des Schreibens genannt werden, die vom Literaturhaus München initiiert wurden und seit einigen Jahren zusammen mit dem Literaturarchiv Sulzbach-Rosenberg organisiert werden. Die Teilnehmer und Absolventen der Wettbewerbe, Studiengänge und Kurse werden nun von den Verlagslektoren und seit einigen Jahren und zunehmend von Agentinnen und Agenten genau beobachtet und unter Vertrag genommen. Man kann sicherlich noch nicht sagen, dass nahezu alle Autoren bei einer Agentur sind, aber die Ausnahme ist es seit langem nicht mehr. Dieses Outsourcing des Autorenentdeckens hat zumindest zwei offensichtliche Folgen: Zum einen hat sich das Berufsbild des Lektors vom stillen Erstleser und stummen Redigierer im Hintergrund zu einem Produktmanager gewandelt. Zum nicht geringen Teil wird die eigentliche Lektoratsarbeit heute außer Haus besorgt. Andererseits muss der heutige Lektor seinem Autor Cicerone durch den Literaturbetrieb sein, der Lektor ist zu einer öffentlichen Figur geworden, der auftreten und für seinen Autor, für das von ihm betreute Buch, auch werben können muss. Verstecken gilt nicht mehr! Neben der Welt des herstellenden und verbreitenden Buchhandels ist die akademische Literaturkritik ein zweiter wesentlicher Bereich, der die Neuerscheinungen prüft und wertet. Schon die Auswahl, welche Autoren und welche Bücher etwa in der Zeit, der FAZ, der Süddeutschen, in der NZZ oder der Literarischen Welt besprochen und damit hervorgehoben werden, ist ein wesentlicher Moment, ob ein Buch wahrgenommen wird oder in der Masse versteckt bleibt. Hier haben die großen Verlage natürlich einen Aufmerksamkeitsbonus, und die kleinen und mittleren Häuser arbeiten sehr daran, diese Aufmerksamkeit zu erlangen. Und, um das klarzustellen, hier geht es noch gar nicht darum, ob das Buch gut oder schlecht besprochen wird, sondern nur um die schiere Tatsache, dass das Buch wahrgenommen wird. Wie ein Mantra muss man auch in diesem Zusammenhang die Veränderung der Literaturwelt durch das Internet erwähnen. Das geschieht auf mehrfache Weise. Als Erstes sei die ökonomische Seite erwähnt. Durch die vom Netz ausgelöste Zeitungskrise (Leser- und Anzeigenverluste an das Internet) verändert sich nicht nur der Umfang

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des Feuilletons, sondern es wird auch zunehmend leichter konsumerabel geschrieben. Beides dient nicht der ernsthaften Kritik und damit auch nicht der Literatur als Ganzes. Durch das veränderte Leseverhalten im Netz werden die ‚zumutbaren‘ Artikellängen immer kürzer, die Homestory zum Autor wird wichtiger als seine Bücher – gefühlt saß kaum ein Kritiker noch nicht auf Clemens Setz’ Tandem, um sich von diesem, hinter ihm hertretend, Graz zeigen zu lassen. Und trotzdem ist die Vielfalt vernünftiger Kritik, die ihren natürlichen Platz in den Printmedien im deutschsprachigen Raum findet, immer noch sehr groß, wenn man etwa vergleichend die südeuropäischen Länder betrachtet. Ein Sonderfall ist die angloamerikanische Welt mit der New York Book Review und der London Review of Books. Begleitet wird diese Kritik noch durch die vielen öffentlich-rechtlichen Funkhäuser vom Saarländischen Rundfunk bis zum Deutschlandfunk. Interessanterweise gelingt es dem Fernsehen nicht, ein wesentlicher Mitspieler in der Kritik zu sein. Die große Ausnahme war das Literarische Quartett unter der Regentschaft von Marcel Reich-Ranicki und seinem treuen Kämpen Hellmuth Karasek und vor allem Sigrid Löffler – bis sie von den Herren herausgemobbt wurde. Das Fernsehen scheint als dem Buch diametral konträres Medium für Literaturkritik im eigentlichen Sinne einfach untauglich zu sein. Zwar kann man gerade im ZDF verfolgen, wie die Neuauflage des Quartetts sein Vorbild um Längen verfehlt. Einmal weil die Teilnehmer bei weitem nicht neugierig genug auf die Bücher sind, und wichtiger als die genaue Kenntnis der vorgestellten Bücher ist hier eine dezidierte Meinung dazu. Und die Auswahl der besprochenen Bücher ist auch in keiner Weise nachvollziehbar – kurz: Die Fernbedienung ist immer schnell bei der Hand und damit der Ausknopf. Die Auswahl der besprochenen Bücher ist in dem von Denis Scheck moderierten Büchermagazin „Druckfrisch“ näher an der akademischen Kritik: Das Magazin besticht auch durch die mediengerechte Bebilderung der Autoreninterviews (Regie: Andreas Ammer) und lebt vor allem von der stets originellen Befragung durch Scheck, allerdings hat die empathische Gesprächssituation die Folge, dass alle Bücher und Autoren, die es in die Sendung schaffen, gut besprochen werden. Die sehr späte Sendezeit am Sonntagabend führt dann endgültig dazu, dass der Einfluss der Sendung überschaubar bleibt. Neben den Verlagen und der Literaturkritik gibt es, wie schon erwähnt, eine ausgeprägte Lesungskultur im deutschsprachigen Raum. Während in romanischen Ländern Autoren und Leser eher unter dem Motto Meet the author zusammentreffen und in den osteuropäischen Ländern regelrechte Signierveranstaltungen Usus sind, ist es das deutsche Publikum gewohnt, bei Lesungen weit über eine Stunde dazusitzen und zuzuhören, wie eine Autorin, ein Autor aus seinem neuesten Buch vorliest und sich von einem mehr oder weniger begnadeten Moderator zu Leben und Werk befragen lässt. Diese Lesungen fanden traditionell in Buchhandlungen statt, seit den 1980er Jahren jedoch gibt es mehr und mehr Literaturhäuser, die, mit meist öffentlichen Geldern, ein Literaturprogramm organisieren. Auf diese Weise gewinnt die Literatur

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nicht nur mehr Raum im öffentlichen Kulturleben, sondern so wird zum Zweiten auch aus den Neuerscheinungen ausgewählt, um neue Bücher einem breiteren Publikum nahezubringen, und zum Dritten wird durch die ausbezahlten Honorare – sozusagen nebenbei – auch direkte Autorenförderung betrieben. Zu den öffentlichen Veranstaltungen gehören zunehmend Literaturfestivals. Traditionsreich ist das Erlanger Poetenfest, das sich in den Jahren seiner Existenz zu einer sehr beachtlichen und beachteten Leistungsschau der Herbstnovitäten entwickelte. Dieses Festival findet immer in der letzten Augustwoche statt und hat den Charme eines Open-Air-Events. Neuer sind das Internationale Literaturfestival Berlin oder die „litcologne“ in Köln, die eine Brücke vom Populären zur schwierigeren Literatur zu bauen versucht. Literaturpreise gehören in jedem Land der Welt zum Literaturbetrieb. In Deutschland, der Schweiz und Österreich gibt es Hunderte. Die wichtigsten sind keine Preise, die für ein bestimmtes Buch vergeben werden, sondern sind solche für das Lebenswerk. So wie der Georg-Büchner-Preis oder der Joseph-Breitbach-Preis, in Österreich wäre der Österreichische Staatspreis zu nennen. Diese Preise werden nicht selten von Akademien vergeben. Der Georg Büchner-Preis von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, der Joseph-Breitbach-Preis von der Mainzer Akademie. Für unser Thema, wie mendeln sich die wichtigsten, die meistbesprochenen, die am besten verkauften Bücher einer Saison heraus, spielen die Lebenswerkpreise zwar nicht gar keine, aber doch eine etwas weniger relevante Rolle. Durch die Einführung des Deutschen Buchpreises im Jahr 2005 und der zeitgleichen Institutionalisierung des Preises der Leipziger Buchmesse haben sich die aus dem angloamerikanischen Raum bekannten Long- und Shortlists hier sehr ausgebreitet und sofort Furore gemacht. Besonders der Deutsche Buchpreis, der vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels initiiert wurde, erwies sich als der kalkulierte Erfolg. Da über den Börsenverein der ganze verbreitende Buchhandel gewissermaßen von vornherein mit im Werbeboot sitzt, wurden viele der ausgezeichneten Bücher auch außergewöhnliche Verkaufserfolge. Während durch einen Büchner-Preis ein paar Tausend Bücher mehr verkauft werden, erreichen die Zahlen beim Deutschen Buchpreis immer wieder sechsstellige Höhen. Die Leipziger Siegertitel schaffen es aber auch regelmäßig in die Bestsellerlisten. Auch andere Literaturpreise agieren zunehmend mit Shortlists, etwa der Wilhelm-Raabe-Preis, der Internationale Literaturpreis des Hauses der Kulturen der Welt oder der Alfred Döblin-Preis seien hier genannt. Zwei Dinge sind es, die solch eine Shortlist für die Preisauslober interessant machen: Potentiell hat man zweimal die Möglichkeit, die Presse auf den Preis (und damit auf sich selbst) aufmerksam zu machen und zum Zweiten kann die Öffentlichkeit lange die Auswahl kritisieren, man bleibt im Gespräch. Die Autoren mögen diese Form der Preisvergabe nicht, beim Oscar sind es immerhin professionelle Schauspieler – von denen kann man erwarten, dass sie sich öffentlich gekonnter für die Konkurrenten freuen können. So wenig es übrigens ein Zufall ist, dass Akademien für das Auszeichnen von Lebenswerken

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zuständig sind, so wenig überrascht es, dass die beiden wichtigsten „Listenpreise“ an die beiden großen Buchmessen in Deutschland angebunden sind. Der Leipziger trägt es schon im Namen, der Deutsche Buchpreis wird immer unmittelbar vor der Frankfurter Buchmesse im Frankfurter Römer vergeben. Wenn wir aber schon bei Listen sind, dann müssen wir auch die zwei mittlerweile klassischen Listen nennen. Das eine ist die Bestsellerliste, die Woche für Woche der Spiegel erheben lässt. Hier ist, wie es der Name schon andeutet, der Verkauf die entscheidende Maßzahl. Seit 1975 aber gibt es auch die Bestenliste des SWR. Etwa 30 Kritiker vergeben Punkte und erstellen so Monat für Monat eine Liste, die ziemlich präzise die wichtigsten und gehaltvollsten Bücher aufführt, die gerade neu in die Läden kommen. Listen also gibt es schon seit langem. Aber neu heraus bildet sich gerade eine weitere Öffentlichkeit, man kann sie die digitale nennen. Im Moment sehe ich noch nicht, dass durch das Netz die alten Strategien der Öffentlichkeit völlig abgelöst werden, aber die Internetöffentlichkeit wird immer wichtiger und wichtiger. Ob das die Berichterstattung über die täglichen Feuilletons im „Perlentaucher“ ist – eine Zusammenfassung der wichtigsten Artikel über Kultur am Tag – oder ob das eines der zahlreichen Foren über Literatur im Netz ist, es ändert sich gerade. Übrigens haben fast alle wichtigen Verlage mittlerweile eigene Blogs. Die alte Tatsache, dass alles im Wandel begriffen ist und ständig Neues hinzukommt, ist vielleicht so wahr wie selten einmal. Aber das heißt andererseits nicht, dass alles, was alt ist, verschwinden wird. Es liegt nahe zu glauben, durch die Digitalisierung würde sich auch der Literaturbetrieb und womöglich auch die Literatur selber vollständig verändern. Das ist sichtbar nicht der Fall. Wer Reiner Stachs fulminante dreibändige Kafka-Biographie gelesen hat, weiß, dass in der kurzen Lebenszeit Kafkas das Telefon, das Grammophon und das Kino erfunden wurden. Plötzlich konnte man Stimmen von Menschen hören, die weit weg waren, oder sie über ihren Tod hinaus konservieren. In den Kinos lernten die Bilder laufen, und eine ganz neue Erzählform, der Film, entstand. Dagegen ist die bisher festzustellende Veränderung durch die Digitalisierung zunächst eher eine der Speicherform und des Vertriebswegs: Stichwort E-Book und Amazon. Darüber hinaus eignet sich das Netz natürlich auch zum Promoten jedweden Produkts, also auch des Buchs. Dies geschieht durch die Verlage, den Buchhandel (den stationären, vor allem aber auch den Versandbuchhandel, sei er analog oder digital) aber – und das ist neu – auch durch die Autoren selbst. Aber auch das verändert nicht den Text an sich, sondern nur seine Wahrnehmung in der literarisch interessierten Öffentlichkeit. Bei Péter Esterházy heißt es: „Es ist elend schwer zu lügen, wenn man die Wahrheit nicht kennt.“ Mit der Zukunft verhält es sich ähnlich. Eines scheint mir jedoch völlig undenkbar: Ich glaube nicht, dass ausgerechnet in unserer kurzen Lebenszeit das gedruckte Buch, das veröffentlichte Gedicht ausstirbt. Vielleicht werden die Bücher tatsächlich wieder schöner, haptischer. Ganz egal – das Lesen lebt und wird nicht aussterben.

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II. Texte Kontexte Lektüren



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Stephan Turowski

„Am Mauspfad; Autobahnbau“ · Bemerkungen zum Gebrauch des Semikolons in den Gedichten Jürgen Beckers Ein Gedicht besteht nicht nur aus Wörtern. Es besteht vor allem auch aus dem, was zwischen diesen steht. Es ist die Leere zwischen den Wörtern, die Raum schafft für die Reflexion über das, was im Gedicht geschieht, und wie die semantischen, lexikalischen und logischen Verhältnisse im Text miteinander zusammenhängen. Von diesen Zwischenräumen her bestimmen sich auch die zeitlichen Relationen zwischen den Geschehnissen im Gedicht, deren markantes äußeres Signum die Satzzeichen sind; die spezielle Art und Weise, wie der Dichter das von ihm Geschriebene interpunktiert, zeugt von der Bestimmtheit und Partikularität seiner poetischen Praxis. Hinsichtlich der Gedichte Jürgen Beckers, über die ich in diesem Zusammenhang nachdenke, fällt dem Leser schon recht bald auf, wie häufig und wie signifikant Becker das Semikolon verwendet. Es gilt, ein wenig besser zu verstehen, was mittels dieser scheinbar bloß stilistischen Eigentümlichkeit in diesen Gedichten zusätzlich, über den bloßen, bei Becker oft so beiläufig daherkommenden Wortlaut hinaus, zum Ausdruck gelangt. Dieser tiefe, von weither kommende Strom des Kontinuierlichen, diese unbedingte Treue zu stark definierten, im Gesamtwerk so häufig wiederkehrenden poetischen, biographischen und mentalen Szenarien, und dennoch, immer wieder plötzlich, dieses stets von neuem überwältigende Jetzt des glückhaften Augenblicks: Diese grundlegende Dualität, wie auch andere, ähnlich dialektische Charakteristika seiner Schreibweise, verkörpert sich, zum Emblem verdichtet, im Semikolon – in dessen leiblicher, aus zwei einander widersprechenden Interpunktionen bestehenden Gestalt sich bereits die im folgenden aufzuweisende Einheit der Widersprüche manifestiert. Einerseits, nach wenigen Seiten bereits wird es einem klar, wie jung und innerlich lebendig der Tonfall dieser Gedichte ist, sowohl jener aus den Siebzigern als auch aus den letzten Jahren –, obwohl doch die Art und Weise, die Menschen und die Landschaften der Gegenwart und der bundesrepublikanischen Nachkriegsgeschichte durch den Fokus eines lyrischen Subjekts zu betrachten, das, meist als Ich-Figur im Text in Erscheinung tretend, zum einen ungeschützt autobiographisch präsent scheint, zugleich aber, als ein Irgendjemand, die Diskretion des bloßen Chronisten verkörpert, von einer tief melancholischen Nüchternheit geprägt ist. Der konsequente Wechsel zwischen diesen beiden Erscheinungsformen, immer wieder auch innerhalb eines Gedichtes oder auch weniger Zeilen, scheint mir einer der Gründe zu sein für die ungebrochene innere Lebendigkeit der Gedichte Jürgen

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Beckers und damit auch für ihre dauerhafte Anziehungskraft auf jüngere Autoren: Die Leichtigkeit, mit der sie zuerst einmal dem Leser entgegenkommt, ist immer der Last der eigenen und der kollektiven Geschichte abgerungen; die unaufdringliche, stets sicht- und spürbare Kunstfertigkeit dieser Dichtung dient dabei der Aufrechterhaltung ihrer existentiellen Schutzlosigkeit. Ein gelassenes und zugleich konfliktreiches Ineinander von Beiläufigkeit und Komplexität strukturiert diese Gedichte: Der Grundton, für den sich Becker entschieden hat, den er bis in die bisher letzten Gedichte durchgehalten hat, ist der des scheinbar einfachen, am alltäglichen Prosaparlando orientierten Sprechens, dessen Zugänglichkeit dem Leser gekonnt verschleiert, dass ihn auf einer ganz anderen Ebene erst, jener des Verstehens dieses konsequenten Ineinanderwebens aller temporalen, räumlichen und emotionalen Bezüge oft innerhalb weniger Zeilen, die wirklichen philologischen Schwierigkeiten erwarten. Diese erwarten den Leser in jener schwer fassbaren Sphäre, die Walter Benjamin in seinem Hölderlin-Essay das „Gedichtete“ nennt, das, wie Benjamin dialektisch listig hinzufügt, Erzeugnis und Gegenstand der Untersuchung zugleich ist. Jene Sphäre, von Benjamin auch als „innere Form“ des Gedichts bezeichnet, materialisiert sich unmittelbar in der konkreten leiblichen Gestalt der Texte, ihrem sogenannten unterschiedliche sprachliche Kategorien wie Vokabular und Syntax umfassenden Stil. In diesen Zusammenhang gehört auch das Thema, das mich beschäftigt: An der Entscheidung, welche Art von Interpunktion an welcher Stelle der Autor wählt, lässt sich ablesen, wie die jeweilige zeitliche Struktur des Ausgesagten gemeint und gestaltet worden ist und was diese Art der Gestaltung schließlich für das „Leben“ als das „Gedichtete der Gedichte“, so Benjamin, das dem Leser als bewusst komponierter Text begegnet, bedeuten könnte. Zeitlichkeit ist auch insofern ein zentraler Aspekt in Jürgen Beckers Gedichten, als die größtenteils unheilvolle Geschichte des 20. Jahrhunderts und auch der Gegenwart jene Erfahrung ist, welche das Subjekt dieser Texte in seiner Wahrnehmung von Menschen, Biographien, Beziehungen und Landschaften grundlegend geprägt hat. In diesem Sinne, entsprechend dem bekannten Diktum Adornos aus seinem Essay über die Satzzeichen, in diesen habe Geschichte sich sedimentiert, lässt sich der so häufige Gebrauch des Semikolons, das seiner graphischen Gestalt nach den unauflöslichen Widerspruch zwischen dem den Satz weiterführenden Komma und dem ihn beendenden Punkt in sich vereinigt, auch als die konkrete Signatur eines paradoxen Begehrens lesen, das historische Unheil hinter sich zu lassen und dabei gleichzeitig zu wissen, dass dies letztlich der Dichtung die ihr eigene poetologische Grundlage entziehen würde, dass es keine Möglichkeit gibt, diesen schmerzlichen Erinnerungen zu entrinnen.

„Am Mauspfad; Autobahnbau“

Zur Erfahrung des Lesers mit den Gedichten Jürgen Beckers gehört aber auch, bei all ihrer diskreten, wenngleich dadurch nicht weniger vertrackten Komplexität, dass sie alles Thesenhafte, Theoretisierende oder auch Polemische scheut – viel zu widersprüchlich, mit sich selbst im unreinen ist das Subjekt dieser Texte viel zu sehr der permanenten Unentwirrbarkeit von Vergangenheit und Gegenwart, Routine und Epiphanie, Wirklichkeit und Imagination, Innenwelt und Landschaft, Ich und Du, Liebe und Gewohnheit ausgesetzt, als dass es sich zu irgendwelchen falschen Eindeutigkeiten hinreißen lassen würde. Hinzukommt, diesen Befund vertiefend, eine weitere, jedem Becker-Leser von jeher vertraute, ebenso fruchtbare Dichotomie wie die eben erwähnte, jene nämlich zwischen einer ganz nah an den Dingen, Landschaften und Umständen der heimatlichen Lebenswelten in Gegenwart und Vergangenheit orientierten Schreibweise, durch die im Verlauf der Jahrzehnte ein entsprechendes Idiom aus vertrauten Utensilien, Räumlichkeiten und Handlungsabläufen entstanden ist – es sind alltägliche Wörter wie „Scheune“, „Schnee“, „Pullover“, „Ofen“, „Zaun“, „Wiese“, „Katze“, „Kamm“, „Rasenmäher“, „Hügellinie“, „Krokusse“, u.v.m., aus denen sich dieses Vokabular zusammensetzt – und einer formaleren diskursiven Ebene, die aus Formeln bzw. Floskeln besteht, welche alles sonst so Nahe und Heimatliche bewusst kontrastieren (der Ausdruck „eine wünschbare Phase der Gleichgültigkeit“ aus dem Gedicht Vorhersage kommt mir für diese Sprachebene in Beckers Gedichten beispielhaft in den Sinn). Auch für diese, keiner mildernden Versöhnung bedürfenden Ambivalenzen in Beckers Gedichten scheint mir das zwiegesichtige Semikolon eine treffende Signatur zu sein. Die eben erwähnte Divergenz der sprachlichen Ausdrucksebenen lässt sich zudem sehr schlüssig als Hinweis auf eine zusätzliche gattungsspezifische Polarität bzw. Dialektik in den Texten verstehen: Die klassische Differenz zwischen prosanahen Sätzen und bewusst gebauten Versen ist in den Gedichten Beckers gleichermaßen verschärft sichtbar und dadurch auch absolut aufgehoben; oft scheint es so, als kämen die Zeilen einfach – auch in dieser Hinsicht ist die Präsenz des Semikolons signifikant, da es in erzählenden Texten meist dazu dient, längere Satzperioden zu gliedern – als Bruchstücke aus einem imaginären Erzählzusammenhang daher, wodurch besonders die Anfänge der Gedichte Jürgen Beckers eine so leuchtende Selbstverständlichkeit bekommen, wie sie keinem anderen deutschsprachigen Dichter gelingen. Diese Fassbarkeit, die es dem Leser anfangs so leicht zu machen scheint, sich dem erst auf den zweiten Blick schließlich so komplexen Geflecht der Stimmen, Stimmungen, Zeitschichten und Landschaftsebenen dieser Gedichte anzuvertrauen, hat seinen beständigen Widerpart in einer weiteren für das Schreiben Jürgen Beckers bezeichnenden Eigenschaft, einer Art instinktiven methodischen Vorbehalt dieses Autors, den zuerst wohl Peter Handke vor Jahren in seiner Rede anlässlich der Verleihung

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des Hermann-Lenz-Preises an den zehn Jahre älteren Kollegen auf den treffenden, gleichwohl dem Weiterdenken Raum lassenden Begriff gebracht hat. Handke sprach hierbei, auf die Prosawerke des Preisträgers bezogen, von dem Becker eigenen „speziellen Zögern“, sprach von einem „Grundzug des zögernden Umreißens“, das dessen Büchern zu eigen sei: Genau das ist es, dachte ich dann auch beim Wiederlesen dieser Rede – die wahrhaftige Würdigung und Einführung in die Schreibweise Jürgen Beckers zugleich ist es, was als innere und handwerkliche Haltung auch dem so markanten Gebrauch des Semikolons in den Gedichten zugrunde liegt; geradezu sinnbildlich verkörpert dieses Satzzeichen den von Handke so treffend beschriebenen Habitus. Am wirkmächtigsten ist es oft zu Beginn eines Textes, wenn der eben erst gesetzte Gedanke, das eben erst angedeutete Bild, in ihrer Entfaltung bewusst retardiert werden, um sie gerade dadurch besonders hervorzuheben. Es gibt in den Gedichtbänden Jürgen Beckers unzählige Beispiele hierfür; eines, ein winziges, aber bezeichnendes, möchte ich, meine Bemerkungen beschließend, jedoch anführen, um zu zeigen, wie stark das Setzen des Semikolons an dieser sogleich folgenden Stelle – anstatt etwa eines genauso möglichen Kommas oder Punkts – den Sinn und die Atmosphäre des entsprechenden Gedichtes zu bestimmen vermag. Es handelt sich um das kurze, bloß vier Zeilen umfassende Gedicht „Einst, im Februar“ aus dem Band „Das Ende der Landschaftsmalerei“, das ich zuerst einmal vorlese, um dann noch einen Hinweis zu geben: „See-Wetter; aber die See nicht. / Diese Erinnerung an Küsten; Küsten / des Exils, die ich so nannte, / einst, als ich hierblieb.“ Man kann vielleicht schon heraushören, an welchen Stellen die beiden Semikola zu finden sind. Jenes erste im Text, nach „See-Wetter“ gesetzte, scheint mir besonders zwingend zu sein, da es, das darauffolgende „aber“ noch um ein Vielfaches verstärkend, ganz deutlich jene Reflexionspause markiert, die den eben erst begonnenen Vers zur Ellipse verkürzt und zugleich ihn um ein noch unbestimmt lange nachhallendes Schweigen erweitert. Zu flüchtig wäre an dieser Stelle ein Komma, zu pathetisch dagegen ein Doppelpunkt: Becker nun, im Sinne seines „speziellen Zögerns“, synthetisiert diese beiden Zeichen und verschärft die Ambivalenzen, indem er Anziehung und Abstand zwischen den durch das Semikolon getrennten Wörtern gleichermaßen stärkt und abschwächt; die gewählte Interpunktion an dieser Stelle, ihres Fermatencharakters wegen, vertieft zudem die Gravität und Ferne des in der Überschrift und in der letzten Zeile apostrophierten „Einst“.

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Der Tod – von allen Seiten · Zur Multiperspektivität in Paulus Böhmers Kaddish Die amerikanische Autorin Annie Dillard erzählt in ihrem Essay The Stunt Pilot von David Rahm, den sie 1975 in Bellingham, Washington kennengelernt hatte. David Rahm, so schreibt sie, hatte sich vorgenommen, alles über Berge zu lernen, alles zu wissen, aus jeder möglichen Perspektive. Dazu studierte er zunächst Geographie und als ihn das nicht mehr weiterbrachte, wechselte er zur Geologie. Im Rahmen seiner Forschung und späteren Lehrtätigkeit auf diesem Gebiet stellte er fest, dass es um ein Vielfaches aufschlussreicher war, die Berge zusätzlich aus der Luft zu betrachten als nur zu Fuß. So kam er dazu, selbst Fliegen zu lernen, und die teils höchst riskanten Manöver, die er erfand, um „seine“ Berge zu studieren, variierte und perfektionierte er schließlich soweit, dass er zu einem der begnadetsten Stuntpiloten seiner Zeit wurde, weil er am Himmel etwas „erschuf“, das niemand vorher so gesehen hatte: He slid down ramps of air, he vaulted and wheeled. He piled loops in heaps and praised height. He unrolled the scroll of the air, extended it and bent it into Möbius strips; he furled line in a thousand new ways, as if he were inventing a script and writing it in one infinitely recurving utterance until I thought the bounds of beauty must break.1

Im Rahmen der ästhetischen Debatten, die in den Feuilletons ausgetragen werden, wurde Paulus Böhmer lange Zeit übergangen, obwohl oder gerade weil er mit seinem Kaddish-Zyklus bis heute einzigartig und rätselhaft in der deutschsprachigen Literaturlandschaft steht wie Kubricks Monolith vor der Affenhorde. Dem Stuntpiloten Rahm nicht unähnlich hat auch er in jahrzehntelanger Arbeit etwas geschaffen, das die Grenze dessen, was – in seinem Fall in der Lyrik – als schön gilt und gängig ist, bis ans Äußerste strapaziert und dadurch eine eigenwillige Faszination auszuüben vermag. Geschuldet ist dies nicht zuletzt seiner Thematik und der ureigenen Art seiner Darstellung. Der Kaddish ist im Judentum ein vergleichsweise kurzes Gebet, das die Herrlichkeit Gottes preist und das deshalb eine zentrale Rolle im jüdischen Gottesdienst innehat, die einem „liturgischen Komma“2 gleichkommt. Ein besonderer Anlass Kaddish zu sagen – und auch nur in diesem Zusammenhang heißt es „Kaddish sagen“ – ist der Tod, bei 1 2

Annie Dillard: The Writing Life. New York (u.a.): Harper Collins 1989, S. 108 f. Anita Diamant: Saying Kaddish. How to Comfort the Dying, Bury the Dead, and Mourn as a Jew. New York: Schocken Books 1998, S. 27.

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dem der Kaddish des Trauernden bis zu zwölf Monate lang täglich und darüber hinaus jährlich am Todestag des Verstorbenen rezitiert wird. Über das Gotteslob soll so an den Verstorbenen erinnert und der Tod als Teil von Gottes Schöpfung anerkannt werden. Der Tod in Böhmers Kaddish ist vielgestaltig. Auf über 650 Seiten gibt es schockierende, grausige, rührende, banale, skurrile und fast komische Tode. Es gibt Morde in allen möglichen Ausprägungen: Es wird gewürgt, geschossen, gelyncht, vergiftet, vergast, verbrannt, erdolcht, erhängt, ertränkt. Der Selbstmord steht neben dem Genozid. Die Leichen schwimmen im Badewasser oder in Flüssen. Der Tod von Neugeborenen und von Alten, von Fremden wie von bekannten Persönlichkeiten, Hollywood-Diven, Kriminellen, Philosophen, Autoren, Arbeitern, der Tod von Freunden und der Tod von Verwandten wird aufgenommen ins Gedicht. Es wird der Tod aller möglichen Lebewesen besungen – darunter Haustiere, Nutztiere, Wildtiere, Versuchstiere –, und daneben steht das Vergehen verschiedenster lebloser Dinge: Eisberge schmelzen und Sterne explodieren. Aus ebenso vielen verschiedenen Quellen stammen die Tode und die Toten: aus den Nachrichten im Fernsehen, aus den Zeitungen, aus der Erinnerung des Autors, aus seiner Imagination, aus Erzählungen von Anderen, aus Geschichtsbüchern. Und der Tod im Kaddish wird in vielfältiger Weise dargestellt: In Form von Aufzählungen der Namen Verstorbener, in Schilderungen des Sterbevorgangs, in Standbildern, in Nahaufnahmen der Gesichter Sterbender, in Beschreibungen des Leichengeruchs, in medizinischen Beobachtungen der physiologischen Vorgänge, in apokalyptischen Visionen, teils nüchtern, teils pathetisch, im Betrachten der Verwesung – bis nichts als Erde und Staub übrig bleiben. „Sieh auf die Lebenden, liebe sie, und halte durch.“3 Diesen Leitspruch, die Schlusszeile aus Douglas Dunns Poem „Disenchantments“, einer in Terzinen gefassten, neunteiligen Meditation über das Sterben, den Tod und das Leben danach, stellt Paulus Böhmer seinem opus magnum voran. Ohne Kontext gelesen scheint es zunächst im diametralen Gegensatz zur thematischen Ausrichtung des das Motto spendenden Textes zu stehen. Das Schlussbild bei Dunn ist aber das des gerade Verstorbenen, der über den Totenfluss fährt und ein letztes Mal zurückblickt: […] that’s when you own Your miserable life entirely. Sackcloth. Mineral loneliness. The hour of stone. A boat cut loose. Not much to steer it with. Grey branches hanging over Acheron. Look to the living, love them, and hold on.4

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Paulus Böhmer: Kaddish I-X. Frankfurt/M.: Schöffling 2002, S. 5. Douglas Dunn: Dante’s Drum-kit. London: Faber & Faber 1993, S. 45 f.

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Böhmer schließt daran nahtlos mit seinem Ersten Kaddish an: Für die lange letzte Sekunde, in der wir uns zusehen können: Gestrüpp aus Feinwurzeln, bepackt mit Klümpchen, Pilzen, Mineralstoffen, Abrieb. Für unseren letzten Blick auf die Wand.5

Sein Kaddish liest sich unter diesem Gesichtspunkt also als die Vision eines Sterbenden, als Vision der langen letzten Sekunde, in der das Leben mit all seinen Facetten sprichwörtlich noch einmal an einem vorüberzieht. Böhmer nutzt diesen Rahmen, um ein großes Erinnerungspanorama zu konstruieren, wobei er in dem Sinne multiperspektivisch6 arbeitet, indem er versucht, so viele Blickwinkel wie möglich einzunehmen.7 Dabei trägt Böhmer nicht nur alles Mögliche zusammen, was er zum Thema findet, sondern variiert, rekontextualisiert und verschneidet die verschiedenen Elemente so miteinander, dass ein Textkonstrukt entsteht, das zunächst sehr undurchsichtig erscheint. Douglas Dunns Text versammelt ebenfalls verschiedene Aspekte des Todes, bedient sich dabei aber einer formalen Gefasstheit und vergleichsweise einfachen Ordnung, die Böhmers ausufernder, ungebundener, amorpher Struktur deutlich gegenübersteht. Obwohl Böhmers Gedicht um so vieles länger ist – Dunns „Disenchantments“ erstreckt sich über 46 Seiten –, hält er sich im Gegensatz zu Dunn nicht mit Chronologien oder Erklärungen auf. „Wir erschließen uns den Tod in Bildern […]“8, heißt es bei Böhmer und so fließt ein Bild in das andere: Für alle Beinsammlerinnen, die schrecklich behaarten, mit den Prädikaten von Hypnos, Eidechse, Mohnkapsel versehen. Für das Kalte Herz mit seinen Phantasmen, Entwürfen & Mythen. Für Feline, für den unschuldigen Knopf ihres Afters, wenn sie durch die Kornfelder trippelte in zwitscherndem Stau.

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Böhmer: Kaddish I-X (wie Anm. 3), S. 9. Der Begriff der Multiperspektivität, der aus der Geschichtsdidaktik bzw. aus der Erzähltheorie entlehnt ist, wird hier unüblicher Weise auf Lyrik angewendet, weil er am besten Böhmers in Montage- und Collagetechnik gearbeitete Lyrik beschreibt. Vgl. Philipp Kampa/Christian Wilke: Aus dem Gespräch mit Paulus Böhmer. In: Jan Röhnert (Hg.): Poesie und Praxis. Sechs Dichter im Jahr der Wissenschaft. Jena: IKS Garamond 2009, S. 64. Böhmer: Kaddish I-X (wie Anm. 3), S. 35.

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Für alle Gesäße, wüst und gereizt, explodierend wie der Schöpfungsbrei vor Milliarden. Für das Weiße Rauschen der Sprache, klebend an Dei-Dei, an Chers Stäbchenbakterien, an oszillierenden Schameingängen, Hefe-Extrakten, an Punkten, Linien, Trajektorien der Newtonschen Mechanik, taub gegen Musik, gleichgültig gegen Hoffnung, Leiden, Verbrechen. Oh du lieber Augustin, alles ist hin.9

Ein Aspekt von Böhmers Werk, der gerne unterschlagen wird, aber an dieser Stelle deutlich hervortritt, ist, dass der Kaddish bei all der Klage ob der vielen Tode immer auch Momente der Komik oder sogar der Albernheit enthält, die Böhmers Humor durchscheinen lassen. Ich sage auch „Böhmers Humor“, weil der Kaddish laut Aussage des Autors sein erstes Werk gewesen sei, welches er aus radikal persönlicher Ich-Perspektive gestaltet habe. Das „Ich“ im Text ist demnach kein lyrisches, sondern ein autobiographisches10 und das Wissen im Text, das enzyklopädischen Ausmaßes ist, ist Böhmers Wissen. Dem Schreiben geht bei Böhmer eine enorme, jahrzehntelange Fleißarbeit des Sammelns, also des Schauens, Lesens, Erinnerns und natürlich Notierens voraus, sodass Böhmer bei der Arbeit an seinen Texten auf ein gewaltiges Archiv an „Sudelbüchern“ mit diversem Material zurückgreifen kann, das er dann zu seinen großen Wortcollagen umgestaltet. Dieser intensiven Sammeltätigkeit und natürlich auch dem allumfassenden Interesse des Autors an der Welt – dem Dunn’schen Aufruf „Look to the living!“ folgend – ist es also geschuldet, dass Kaddish mit Wissen aus so unterschiedlichen Gebieten angereichert ist, dass er also den Tod aus so vielen verschiedenen Blickwinkeln betrachten kann. Da gibt es die literarische Perspektive, die bisweilen auch literaturgeschichtlich oder literatur- und sprachtheoretisch gefärbt ist: Böhmer zitiert direkt oder indirekt andere Autoren, die sich mit der Thematik des Sterbens auseinandergesetzt haben, wie zum Beispiel Franz Kafka – Herrn K. ist der Sechste Kaddish gewidmet – oder den bereits genannten Douglas Dunn. Außerdem sagt er auch bereits verstorbenen Dichtern und Schriftstellern Kaddish: Kaddish. Für Wilhelm Liefland. Für Janos Lintner. Für Rolf Dieter Brinkmann. Für Marianne Klein.

9 Böhmer: Kaddish I-X (wie Anm. 3), S. 10 f. 10 Kampa/Wilke: Aus dem Gespräch mit Paulus Böhmer (wie Anm. 7), S. 62.

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Für Irmgard in der Jauchegrube. Für Marlies von Bothmer. Sternwinde rauschen. Für Paul Antschel. Für Almut Gernhardt. Sternwinde rauschen für den Fremden am Fensterkreuz. Für den Wilderer, den Unbekannten, den Polen. […] Speise sind wir den Eingeborenen und die Erde ist ein Magnet. In der Ballnacht, im Roggenfeld, in der seltenen Nacktheit der Worte […]11

Zudem findet sich hier ein Beispiel für Böhmers ausgeklügeltes Referenzsystem: Das „Roggenfeld“ kann man leicht als bloße Ortsbenennung überlesen, aber darin steckt eine Anspielung auf J. D. Salingers Roman, die sich einige Seiten weiter in der Widmung des Zweiten Kaddish bestätigt, wo es heißt „Für den Fänger im Roggen“.12 In der „Nacktheit der Worte“ scheint Wittgenstein durch, wie an anderer Stelle Walter Benjamin, natürlich in Verbindung mit Paul Klee, wo es heißt: „kein Angelus Novus, / der die Toten weckt und die Zerschlagenen fügt […].“13 Sogar A. A. Milnes Kinderbuch „Pu der Bär“ wird für die Todesthematik vereinnahmt und in Verbindung mit Kindheitserinnerungen, Familienbildern und der wiederkehrenden Figur der sterbenden Mutter in den Text montiert: „Wohin?“ fragte Pooh. Gesichter tauchen auf und verschwinden, faltige Elefantengesichter, Köpfe, die willenlos hin und her schaukeln im Entsetzen des Nicht-mehr-Geliebtseins, es ist meine Mutter, mein Vater, mein Sohn, es ist so und ist weder Stolz, noch andere Geilheit. Sind Schnabeltassen und Mundgeruch, alte Klischees, Tropfen auf dem Linoleum und die Angst des Sohnes, das Laken im Totenbett könne beschmutzt sein. Sind Bilder wie brennender Leim, Bilder, brennend wie Schanker; und ein Stück Kuchen, angebrochen auf einem Teller, alles, was ich noch weiß.

11 Paulus Böhmer: Kaddish I-X (wie Anm. 3), S. 20 f. 12 Ebd., S. 27. 13 Ebd., S. 19.

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Eine Gorgone ist Mutter und eine Ikone nie gesehener Gesten das Sterben, mein Sohn. „Wohin?“ „Überallhin“, antwortete Christopher Robin.14

Hier zeigt sich neben der literarischen eben auch die persönliche, autobiographische Perspektive, die im Werk hauptsächlich mit dem Tod Verwandter und dem Tod von Freunden und Bekannten des Autors, aber auch mit dem Tod seines Hauskaters Schmulik verbunden ist, dem sogar ein ganzer, höchst emotionaler und in seinem Pathos dem Gotteslob der jüdischen Liturgie fast gleichkommender Kaddish gewidmet ist. Dem Tod der Mutter kommt, neben dem des Katers, eine besondere Rolle zu: Die Mutter selbst kommt in fast jedem Kaddish vor. Manchmal wird sie ganz konkret genannt, manchmal wird indirekt auf die Mutter referiert, zum Beispiel durch den „Gestank“ von Rübenzucker, der über das frühere Gedicht „Von der Wahrheit der Klischees“ mit dem Tod der Mutter assoziiert ist: „Deine letzte Arbeit: das Sterben. / Sagen die Schwestern. / Wie dein Geruch überlebt. / Nacht. / Regen. Rübenzucker. Fäulnis.“15 Das Bild der sterbenden Mutter taucht wieder und wieder im Kaddish – ja im gesamten Werk Böhmers – auf und wird dabei in die verschiedensten Kontexte gesetzt und immer wieder variiert: Die Tochter zieht der noch Lebenden Mutter das / Totenhemd an, ein bleicher Schleier bist du bald. / „War meine Mutter nicht auch so ein Geier, so / ein armes Vögelein, so allein?“ Oh Kindheit, oh Blick […]16 Meine Mutter starb in weichen Armen. / Doch ihr Tod, er spendet kein Erbarmen, / läßt nichts Ähnliches entstehn. / Während wir von ganz allein vergehn.17 Und als der letzte Morgen Abend machte, / lag meine Mutter da. / Mit weißen Händen lag sie jetzt, / mit großen Nasenlöchern da. / Tät keine Träne mehr. / Und Tiere hängen / bei vollem Bewusstsein an Schienen / bluten aus, zappelnd & schreiend […]18 Kaddish / dem Japsen meiner Mutter, / den Deformationen der Knie und dem Gefiepe / der Lungen, als sie starb.19 14 15 16 17 18 19

Ebd., S. 56 f. Paulus Böhmer: Da sagte Einstein. Gießen: Anabas 1990, S. 99. Paulus Böhmer: Kaddish I-X (wie Anm. 3), S. 64. Ebd., S. 68. Ebd., S. 91. Ebd., S. 178.

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In den letzten Augenblicken ihres Lebens / wimmerte meine Mutter: „Knie, mein Knie!“20

Hier lässt sich eine Parallele ziehen zu einem anderen berühmten Kaddish-Gedicht aus der amerikanischen Literatur: Der Kaddish Allen Ginsbergs entstand infolge des Todes seiner Mutter und ist auch mit einer entsprechenden Widmung – „For Naomi Ginsberg, 1894-1956“ 21 – versehen. Aus historischer Perspektive wird der Tod ebenfalls beleuchtet und, wie sich bei einem Autor von Böhmers Generation unschwer erahnen lässt, spielt der Holocaust dabei eine zentrale Rolle, wie hier in einer Passage mit bitterböser Kritik am Verhalten christlicher Geistlicher: Für die Hohepriester des Schlachtens, für das Vieh mit der Mitra, den Zombie, zu dessen Füßen das Lamm kauert, Hitler: kein Kaddish! Gaskammern die Wänste der Priester. Ihre Segnungen Selektionen. Als Vergaste schon werden unsere Kinder geboren. Eine platzende Metastase das Weltall. Du sollst kein anderes Zyklon neben mir haben.22

Eine weitere Richtung, aus der Böhmer sich dem Tod nähert ist die der Popkultur: Böhmer erwähnt Songs, wie beispielsweise „The Green Green Grass of Home“23 oder „Tom Dooley“24, in denen es um zum Tode verurteilte Straftäter geht: Kaddish Tom Dooley. Tom Dooley hang am dicken Strick, gestreckt und lang. Aus seinem Mund heraus fiel Blut. Ich nahm ihm Gürtel, Uhr und Hut.25

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Paulus Böhmer: Kaddish XI-XXI. Frankfurt/M.: Schöffling 2007, S. 90. Allen Ginsberg: Collected Poems, 1947–1997. New York (u.a.): Harper Collins 2007, S. 217. Paulus Böhmer: Kaddish I-X (wie Anm. 3), S. 23 f. Ebd., S. 99. Ebd., S. 193. Ebd., S. 202.

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Böhmer bedient sich bei seinen Todesdarstellungen außerdem exzessiv filmischer Zitate und Darstellungstechniken: Das Fernsehen zeigt, wie ein großer, massiger Mann von 270 Pfund Lebendgewicht unter dörrender Hitze und Aasfressern zu einem Kadaver von 60 Pfund schrumpft. Durch das offene Fenster Amselgeschrei. Später das Quarren von Enten, die zum Flußufer ziehen. Noch später wird ein Mann in einem Kellerverschlag aufgeschlitzt. Schnitt. Eine Frau wird vor das offene Rohr einer Fernleitung gekettet. Wir warten. Schnitt. Das Bewusstsein ist eine Form des Gefühls. Schnitt. Der Körper ist für das Hirn ein Modell. Schnitt. Hirntote krümmen die Zehen und machen das Lazaruszeichen. Aus toten, geöffneten, zergliederten Körpern steigt Venus. Am Ende seines feurigen Lebens wird sich der sterbende Stern ein letztes Mal aufblähen und brüllen. Schnitt.26

An dieser Textstelle wird deutlich, wie eng die einzelnen Perspektiven miteinander verknüpft sind: Der dokumentarischen Darstellung des Todes im Fernsehen zu Beginn folgen fast prototypische Mordszenen und dann eine spezifische Szene aus dem Film Der Knochenjäger von 1999, in dem eine Frau (Mrs. Rubin) von einem Serienkiller vor die Öffnung einer Fernleitung gekettet wird. Worauf der Zuschauer wartet, steht außer Frage, denn wer den Film gesehen hat, weiß, dass das Rettungskommando in diesem Fall natürlich zu spät kommt. Getrennt durch das Wort „Schnitt“ setzt Böhmer danach zwei Reflektionen, die ebenfalls assoziiert werden können mit dem Themenkomplex menschlicher Sterblichkeit. Danach folgt die medizinisch-naturwissenschaftliche Perspektive auf den Tod durch Nennung des Lazaruszeichens, das definiert ist als „spontane Bewegungen bei hirntoten Patienten ohne apparativ messbare Parameter“.27 Allein durch den Begriff werden natürlich auch biblisch-religiöse Assoziationen aufgerufen – Lazarus, der nach vier Tagen, in denen er als tot galt, von Jesus Christus wieder zum Leben erweckt worden war.28 Daran angeschlossen wird 26 Ebd., S. 201. 27 C.H.R. Wiese (u.a.): Lazarus-Phänomen. Spontane Kreislauffunktion nach beendeten Reani-

mationsmaßnahmen. In: Der Anästhesist 4, 2010, S. 333.

28 Joh 11, 41–44.

Der Tod – von allen Seiten

die mythologische Perspektive, die allerdings einen apokalyptisch-morbiden Anstrich bekommt, weil Venus – wir haben dabei das Boticelli-Gemälde vor Augen – bei Böhmer statt aus einer Muschel aus einem Leichenhaufen steigt. Böhmer schließt diesen Absatz mit einem kosmischen Todesbild: dem sterbenden Stern. Den Kontrapunkt zu den mit Tod assoziierten Stellen setzt Böhmer in dieser Passage mit den Lauten der Amsel und der Enten, die unbeteiligt und quasi unbeeindruckt vom ganzen Grauen ihrem Vogeldasein frönen. Sie stehen exemplarisch für Elemente im Kaddish, die scheinbar nicht zur Thematik gehören und als wahllos eingefügtes Füllmaterial fehlinterpretiert werden könnten, weshalb sie Böhmer oft den Vorwurf der Beliebigkeit eingebracht haben. Meines Erachtens ist dieser Vorwurf ungerechtfertigt, denn bei der Beschäftigung mit dem Text wird klar, dass nichts am Kaddish beliebig oder unreflektiert gesagt ist. Alles fügt sich mit seiner jeweiligen Funktion ein in den Wortstrom, in dem es natürlich nicht nur den Tod und die Klage geben kann, denn „wenn es nur Klage gäbe, gäbe es auch keine Klage“29, weil es der Kontrast ist, der die gegensätzlichen Pole eines Spektrums verstärkt. Außerdem spielt Böhmer mit dieser Art von Kontrastpunkten gewiss auch auf die global gesehen schier unbegreifliche Gleichzeitigkeit aller Vorgänge in einem einzigen Moment an. Der Beliebigkeitsvorwurf also, um noch einmal darauf zurückzukommen, ist bezeichnend für die Wirkung des Textes, die sich durch Böhmers multiperspektivischen Ansatz einstellt: Der Text verweigert sich damit einer einfachen Zugänglichkeit. In Böhmers poetologischem Gedicht „Über das Zusammenfügen von Teilen“ scheint ob dieser Tatsache eine gewisse, vielleicht sogar diebische Freude des Dichters durch, wenn er schreibt: „Wenn du denkst, du hast es, / ist es weg, du faßt es / nicht, so laß es / im Graben bei den Schaben.“30 Nichtsdestotrotz lässt sich die Funktion der Multiperspektivität erklären. Zum einen, und das ist eine Besonderheit des Kaddish als Erinnerungstext, ist es so, dass er nicht nur Erinnerungsinhalte und Reflektionen dazu aufzählt, wie es unter anderem bei Douglas Dunn der Fall ist, sondern dass er das Tohuwabohu des Erinnerns in seiner Struktur abbildet. Erinnern, Denken an sich, wenn man sich selbst dabei beobachtet, ist keinesfalls geradlinig und es ist unlängst bekannt geworden, dass die persönliche Erinnerung immer auch angereichert ist mit importierten Inhalten.31 Deshalb werden beispielsweise kosmische Ereignisse, Beobachtungen auf mikrobieller Ebene oder historische Begebenheiten, die der Autor gar nicht erlebt haben kann, als Weltwissen mit in den Erinnerungsstrom aufgenommen. Die Variabilität bestimmter Bilder, wie der Tod der Mutter, lassen sich aus neurowissenschaftlicher Sicht erklären: 29 Kampa/Wilke: Aus dem Gespräch mit Paulus Böhmer (wie Anm. 7), S. 66. 30 Paulus Böhmer: Wer ich bin. Gedichte. Frankfurt/M.: Edition Faust 2014, S. 42. 31 Vgl. Carsten Gansel: Formen der Erinnerung in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur

seit 1989. In: Carsten Gansel/Pawel Zimniak (Hg.): Das „Prinzip Erinnerung“ in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur nach 1989. Göttingen: V&R unipress 2010, S. 22.

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Romina Nikolić

Sich zu erinnern bedeutet mithin, assoziative Muster zu aktivieren, und bei diesem komplexen Vorgang kann einiges mit dem Erinnerungsinhalt geschehen. Schon intuitiv leuchtet ein, daß dieser Prozess der Muster-Vervollständigung so vielfältigen internen und externen Einflüssen unterliegt, daß von einer authentischen Erinnerung […] nur im seltenen Grenzfall auszugehen ist. Im Regelfall leistet das Gehirn eine komplexe und eben konstruktive Arbeit, die die Erinnerung, sagen wir: anwendungsbezogen modelliert.32

Böhmers erklärtes Interesse an diesem Wissensgebiet lässt vermuten, dass er hier tatsächlich bewusst an einer logischen, natürlichen Ästhetik poetischen Erinnerns gearbeitet haben könnte. Gleichzeitig muss man sich auch vor Augen führen, welche Konsequenz die von Böhmer dargestellte Fülle an „erinnertem“ Material für einen Menschen hat, welche Aussage über die Realität, in der wir leben, hier letztendlich getroffen wird. In diesem Zusammenhang ist der „Kaddish“ die Fortführung des Gedichts „Da sagte Joyce“: „Was klar und konzis ist, kann von der Wirklichkeit nicht handeln, denn Wirklichkeit heißt, vom Geheimnis umgeben zu sein. / Melde sich, wer / das Leben versteht“, aus dem 1990er Band „Da sagte Einstein“, in dem Böhmer zugleich notiert: Melde sich, wer das Leben versteht, ja, wer auch nur eine einz’ge leere Patronenhülse verstehtverstehtverstehtversteht. Schon trocknet die Blutlache auf dem Bürgersteig, schon fallen die Rohstoffpreise, steigen die Zinsen, rasen die Pulse der Wagnerianer im C-Dur-Jubel, oi woi … schon ist die Sau aufgebrochen, lange gelbe Zahnstümpfe erscheinen, im Erdkern steigt flüssiges Eisen auf, kühlt ab und sinkt wieder nieder, schon umhüllt der Tod mein Denken wie ein nicht zu vertreibender Schatten, schon erlischt der Druck aus dem Innern, schon bricht die Schwerkraft zusammen, die Schockwelle sprengt die Sternhülle ins All, was gibt es daran zu verstehen?33

Die Multiperspektivität des Kaddish lässt sich als ästhetische Position verstehen, die der Dichter angesichts seiner Wirklichkeits- und Gegenwartserfahrung bezieht, die, 32 Harald Welzer: Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung. München:

Beck 2002, S. 21.

33 Böhmer: Da sagte Einstein (wie Anm. 15), S. 45.

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Der Tod – von allen Seiten

beginnend mit seiner Geburt 1936, einem stetigen und tiefgreifenden politischen, gesellschaftlichen, technischen etc. Wandel unterworfen war. Darüber hinaus, und hier kann man den jüdischen Kaddish zur Erklärung mit heranziehen, wird durch die multiperspektivische Anlage und die dadurch erzeugte Fülle ein rauschhafter Strom erzeugt, der die sprachliche und inhaltliche Ebene transzendiert. Das Kaddish-Gebet muss man erleben, um es zu verstehen: The mystery of Kaddish is revealed every time it is spoken aloud with others. The truth is that the sounds of the words are more important than their definitions. The text is secondary to the emotional experience of its recitation.34 First and foremost, it is an experience of the senses. Like music, there is no understanding Kaddish without hearing and feeling it and letting go of the words.35

Ich behaupte – auch mit Hinblick auf Böhmer als Musikkenner –, dass sich das Gleiche über seinen Kaddish sagen lässt. Wer den Text nur mit der Suchmaschine liest und versucht, allen Spuren auf den Grund zu gehen, verpasst eine wesentliche, sinnliche Dimension des Kaddish, und darin offenbart sich die – das Pathos sei an dieser Stelle erlaubt – Genialität und die eigenwillige Schönheit des Textes als Gesang, als Hymnus. Und dadurch paradoxerweise als Liebeslied an das Leben, als Rückversicherung und Selbstvergegenwärtigung: Wer singen kann, ist noch da. Für die erotischen Passionen der Verlassenheit. Für das Zerschneiden des Logos, die Aufhebung des Grundes, das Zerreißen der Kausalität. Für die Erfindung der Liebe gegen die Regeln der Welt. Kaddish für Amos B., der, zu scheu für das Leben außerhalb der intrauterinen Frau Welt, entwich, stell ich mir vor, mit einem winzigen Lächeln: „Sing me another song.“ Kaddish.36

34 Diamant: Saying Kaddish (wie Anm. 2), S. 19. 35 Ebd., S. 20. 36 Paulus Böhmer: Kaddish I-X (wie Anm. 3), S. 25.

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Vogelkunde der Poesie? · Empirie und ­Naturwissenschaft bei Hans Magnus Enzensberger, Wulf Kirsten und Michael Krüger

1. Die Natur ist nie ganz verschwunden aus der deutschsprachigen Lyrik; nur hat sie, vom sogenannten Kahlschlag der Epochenzäsur 1945 bis in die unmittelbare Gegenwart, entscheidende Wandlungen durchgemacht – in den Gedichten nicht anders als in der Landschaft bzw. den Landschaften, wo Natur bzw. was von ihr übrig geblieben ist oder was wir für Rest- und Schwundbestände einst ‚wilder‘ Natur halten, noch anzutreffen ist. Freilich fängt schon beim Begriff ‚Natur‘ das Problem an – mehr denn je ist uns heute begreiflich, dass gerade er ein Kultur-Produkt ist und sich im Zuge eines nicht zuletzt medial determinierten Wahrnehmungswandels radikal verändert hat. In einer Gegenwart, in der mediale und virtuelle Repräsentationen von Wirklichkeit sich permanent über die ‚erste‘, mit Körpersinnen erfahrbare Wirklichkeit schieben, diese überlagern, sich mit ihr vermischen und vielfältig auf die Anschauung zurückwirken, kann auch ‚Natur‘ nicht mehr das sein, was sie vor 300, 150 oder 75 Jahren einmal bedeutet hat – wobei auch schon in vergangenen Epochen Anschauung und Begriff von „Natur“ auf ihre Weise medial aufbereitet worden sind. Ein Gang durch naturhistorische Museen kann zum Streifzug durch verschiedene Jahrhunderte museumspädagogischer Auffassungen und Arten der Veranschaulichung des ‚Natur‘-Begriffs werden – von Naturpräparaten wie Vogelbälgen zwischen dem 17. und 20. Jahrhundert über Schaukästen, Guckkästen und Dioramen des 19. und 20. Jahrhunderts hin zu aufwendigen elektronischen und interaktiven Natursimulationen der Gegenwart. Andererseits scheint es inmitten der simulierten Natur auch wieder eine Reauratisierungstendenz sinnlich erfahrbarer Natur zu geben – so lässt sich ein im Braunschweiger Naturkundemuseum angesiedeltes Bienenvolk aus allernächster Nähe durch einen gläsernen Kanal beobachten, der Ein- und Ausflugsloch im Museumsfenster mit dem Bienenstock verbindet – ein bei Kindern (und Erwachsenen) mindestens ebenso beliebtes Anschauungsobjekt wie die zahlreichen Natursimulationen. In Bezug auf Lyrik geht meine Vermutung dahin, dass die Art, wie „Natur“ in Gedichten vorkommt, ein feines diagnostisches Indiz für den Paradigmenwandel liefern kann, der hinsichtlich des Naturbegriffs und seiner abendländischen Tradition stattgefunden hat. Gleichwohl ist bei aller Veränderung eine überraschende Kontinuität zu gewärtigen, die wohl auch mit der Tatsache korrespondiert, dass wir trotz aller

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Simulation Wirklichkeit immer noch primär mit unseren Körpersinnen erfahren; dass „Natur“ überhaupt weiter als Topos diskutiert wird und dies- und jenseits der Lyrik für mitunter heftige Debatten sorgt, gehört selber schon zu diesen Kontinuitäten. Auch an einzelnen Motiven der sogenannten Naturlyrik lässt sich das ablesen: So taucht etwa ein ‚Wappentier‘ Günter Eichs, das über sein gesamtes Schaffen hinweg in den Gedichten aufkreuzt, nämlich der Eichelhäher, zur Figur des amerikanischen Blauhähers verwandelt in Marcel Beyers jüngstem Band Graphit (2014) wieder auf, wo im Zyklus „Mein Blauhäher“ ein Vertreter der amerikanischen Variante des Eichelhähers als fiktives Double des faktischen Dichters Ezra Pound agiert. Wenn ich mich entschieden habe, einigen Autoren der älteren Generation, nämlich Hans Magnus Enzensberger, Wulf Kirsten und Michael Krüger und ihrem Bezug zum Naturparadigma unter dem Aspekt der Vogelkunde nachzugehen, so einerseits, weil bei diesen Lyrikern ein mehr oder minder bilanzierender Blick auf ein zum größten Teil vorliegendes, in sich nahezu abgeschlossenes Werk gestattet ist, und andererseits, weil bei ihnen am augenfälligsten die Vermittlung zwischen einem der Vorkriegstradition entstammenden Naturbegriff – sei es diesen fortschreibend, differenzierend oder ablehnend – und einem Naturbegriff der Gegenwart betrachten werden kann. Vergleicht man die Naturrepräsentation dieser drei Autoren, wird man in Gedichten, die sich dem selben oder verwandten Gegenständen widmen, sowohl in der Form als auch in der Metaphorik, teilweise enorm divergierende Resultate vorfinden – ein Indiz dafür, dass anhand des Naturparadigmas auch davon unabhängige ästhetische Positionen dieser älteren Gegenwartsautoren veranschaulicht, verteidigt und befestigt werden, wenn nicht gar unter dem Deckmantel des „Naturgedichts“ eigentlich ästhetische Debatten ausgetragen werden. Das Naturgedicht erscheint nachgerade für ästhetische Debatten prädestiniert, handelt es sich dabei doch um ein Stück zweiter, artifizieller, schriftmedial hergestellter ‚Natur‘ nach der Natur, das sich gleichwohl inhaltlich auf die ‚erste‘ Natur bezieht. Obwohl zwischen menschlicher Schrift und ‚Schrift‘ der Natur kein ursächlicher Zusammenhang besteht, wird ein solcher zumindest vom traditionellen Naturdichter fingiert – eine vermeintlich ‚naive‘, mimetische ästhetische Position, die seit Baudelaire zahlreiche modernistische Gegenbesetzungen heraufbeschworen hat.

2. Radikaler als Hans Magnus Enzensberger hat kaum ein Dichter seiner Generation mit der aus der Vorkriegszeit geläufigen Naturemphase gebrochen. Diese wird zunächst mit scharfer Brecht’scher Dialektik, dann mit der Lakonie des Williams’schen Snapshot und schließlich mit der Begeisterung für naturwissenschaftliche Exaktheit abgelehnt. Diese drei modernen lyrischen Einwände gegen traditionelle Naturemphase sind geradezu schulbuchmäßig in einem seiner jüngsten Gedichte zusammengeführt; es

Vogelkunde der Poesie?

ist dem im Sommer über deutschen Innenstädten schwebenden Mauersegler gewidmet, den der Titel unter seinem naturwissenschaftlich exakten lateinischen Namen „Apus Apus“ evoziert: Er wiegt nur vierzig Gramm. Monatelang lebt er in der Luft, ununterbrochen, jagt, liebt und schläft hoch oben. Er ist unbezähmbar. „Herrschsüchtig, stürmisch, übermütig“, nennt ihn der alte Brehm. Schrille Rufe im rasend kreisenden Schwarm, wütende Kämpfe aus Eifersucht. Unbeholfen am Boden, fliegt er mühelos drei-, vier- fünftausend Meter hoch über unsre Köpfe hinweg in die Tropen. Er ist windschnittig gebaut. Er kommt ohne Radar aus. Er trinkt im Gleitflug über die Wasserfläche hin. Er ist wetterfühlig. Lang segelt er bewegungslos mit der Thermik, aber sein Sturzflug ist rasant. Unsre Bewunderung geht ihn nichts an.1

Enzensbergers lakonische Apologie des sommerlichen Gleiters wirkt zunächst wie eine Mitschrift von Stichproben diverser Lexikoneinträge, beginnend mit dem lateinischen Namen im Titel und der Auflistung seiner Eigenschaften bis hin zu verschiedenen Attributen und Zuschreibungen. Das umgekehrt proportionale Verhältnis zwischen der Unscheinbarkeit von Größe und Gewicht zu seinen aviatorischen Höchstleistungen stiftet jedoch einen das Gedicht subtil strukturierenden Kontrast. Die Figur des Paradoxons, die rhetorisch solche Kontraste hervorbringt, erweist sich damit als poetisches Prinzip des Gedichts. Hinter der Faktizität empirisch belegter, höchstens leicht übertriebener Beobachtungen, hinter dem Zitatcharakter der Verweise auf genannte und ungenannte einstige Autoritäten der Natur- und Vogelkunde wird das Staunen über den Gegensatz zwischen der Minimalität von Aufwand und Gestalt zur Maximalität von Leistung und Erscheinung, das Staunen über eine der

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Hans Magnus Enzensberger/Jan Peter Tripp/Justine Landat: Blauwärts. Ein Ausflug zu dritt. Berlin: Suhrkamp 2013, S. 10–12.

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Atmosphäre, dem aerischen Element angepasste Existenzform inszeniert, die dem Menschen in seinem Naturzustand versagt bleibt. Die ironische Brechung dieses Staunens in der Schlusszeile, eine typisch Enzensberger’sche Volte, die das bis dahin Vermerkte erkenntniskritisch infrage stellt und wiederum gut zum diagnostizierten ‚Übermut‘, zur ‚Unbezähmbarkeit‘, zur unvorhersehbaren Rasanz der porträtierten Vögel passt, legt prinzipielle Widersprüche menschlicher Naturbetrachtung offen: Dass einerseits bereits die schiere Auflistung empirischer Fakten über einen zoologischen Gegenstand im Menschen Bewunderung erregt, und dass andererseits dieses Staunen eine typisch menschliche Eigenschaft ist, die oft genug stillschweigend an der naturwissenschaftlichen Empirie mitwirkt, wenn sie sie nicht gar erst initiiert. Die Bewunderung erscheint rückblickend zwar als Triebfeder der Empirie, gleichwohl ist sie dem bewunderten Tier in keiner Weise reziprok, sie bleibt nach menschlichem Ermessen unbeantwortet. Haben wir es überhaupt mit einem Gedicht über den Mauersegler zu tun oder nicht ebenso gut mit einem Gedicht über die menschliche Natur und den Versuch, Staunen und Bewunderung angesichts der Natur empirisch zu bewältigen, d.h. in Form von Naturwissenschaft zu kompensieren? „Apus Apus“ ist weit davon entfernt, ein bloßes Beiprodukt von Enzensbergers lyrisch und essayistisch bewiesener Neugier an empirischen Gegenständen zu sein; es führt vielmehr am Beispiel des Mauerseglers vor, wie sich die Erkenntnis über einen empirischen Gegenstand aus der wechselseitigen Verquickung von Staunen, Beobachtung, Methodik und vergleichender Lektüre generiert. Zwar ist dabei die Neugier, das Staunen über den natürlichen Gegenstand wohl ein zeitloses anthropologisches Faktum, die spezifische Art der generierten Erkenntnis ist es nicht. Sie ist eine ausdrücklich neuzeitliche und hat damit Teil an allen Widersprüchen, die durch die Dialektik einer sich von ihrer unmittelbaren Lebenswelt entkoppelnden Naturwissenschaft hervorgebracht werden und die Enzensberger besonders drastisch in den Porträtgedichten seines 1975 erschienenen Mausoleum. Siebenunddreißig Balladen aus der Geschichte des Fortschritts herausgestellt hat. Einer der finstersten Gestalten dort lässt das fast 40 Jahre spätere „Apus Apus“ implizit so etwas wie späte Gerechtigkeit widerfahren. Der italienische Gelehrte Abbé Lazzaro Spallanzani (1729–1799) wird im Mausoleum als mustergültiger Repräsentant einer Dialektik der Aufklärung geschildert, welche im Namen von naturwissenschaftlicher Empirie die Natur zu malträtieren, sezieren und vivisezieren beginnt: Ein aufgeklärtes Jahrhundert. Aber von Aas wimmelt es. Der Abbé ist ein Triebtäter. Molche kopuliert er mit Kröten: monströse Vereinigungen. Aus den geöffneten Weibchen holt er den Laich,

Vogelkunde der Poesie?

dann schlachtet er Männchen, zapft ihre Milch ab, und pflanzt die Toten fort. Dieses erstaunliche Schauspiel hat meine Phantasie beflügelt. (Im selben Jahr konstruiert Réaumur in Paris eine künstliche Mutter.) Er masturbiert einen Hund und spritzt einer Hündin das Sperma ein. Ich kann aufrichtig sagen, daß mir ein lebhafteres Vergnügen niemals zuteil ward. Das Tier wirft. (Bald folgt ihm die erste Frau.)2

Gleichwohl war Spallanzani mehr als der infernalische, aus empirischer Neugier lüsterne Zergliederer und Experimentator lebender Materie, jener Vorläufer heutiger Genmanipulatoren und In-Vitro-Techniker, die ohne Ehrfurcht vor natürlichen Abläufen verändernd in Fortpflanzung und Artenvielfalt eingreifen, als welcher Enzensberger ihn aus der Retrospektive des Mausoleum unter dem Kehrreim „Die Folgen dieser Handlungen stelle man sorgfältig fest“ darstellt, sondern, erstaunlich genug, nachgewiesenermaßen auch der erste moderne Beobachter des Mauerseglers, dessen Standorttreue oder dessen Fähigkeit, im Flug zu schlafen, er 1797 im sechsten Band seiner Viaggi nelle due Sicilie e in alcune parti degli Appenini zum ersten Mal empirisch bestätigt hatte.3 Schließlich ist Enzensbergers Mauersegler-Hommage auch als eigentümliche Fortsetzung seiner kursorischen Beschäftigung mit der „Geschichte der Wolken“ zu sehen, die 2003 im gleichnamigen Band mit dem titelspendenden Gedichtzyklus zusammenfloss4 – mit dem paradoxen Resultat, dass sich nichts Endgültiges über diese amorphe Geographie des Himmels, der wir das Wetter verdanken, sagen lässt: „diese fliegenden Bilderrätsel – / obwohl die Lösung immerfort wechselt, / kann sie ein jeder entziffern.“5 Trotz des akkumulierten Wissens über sie entziehen die Wolken sich immerfort dem staunenden Betrachter, ebenso wie die über den Wolken oder am wolkenlosen Himmel beheimateten Mauersegler trotz allen über sie zusammengetragenen Wissens ihrem Stenographen ein Rätsel bleiben.

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Hans Magnus Enzensberger: L. S. (1729–1799). In: Ders.: Mausoleum. Siebenunddreißig Balladen aus der Geschichte des Fortschritts. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1975, S. 40–42, hier S. 41. Vgl. Emil Weitnauer/Erwin R. Scherner: Apus Apus. In: Handbuch der Vögel Mitteleuropas. Hg. von Günther Niethammer. Bearb. von Kurt M. Bauer/Urs N. Glutz von Blotzheim. Bd. 9. Columbiformes – Piciformes. Unter Mitw. v. Michael Abs. Wiesbaden: AULA 1980, S. 671–712; zu Spallanzani insbes. S. 675, 686, 698–700, 707, 711. Vgl. Hans Magnus Enzensberger: Die Geschichte der Wolken. 99 Meditationen. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2003. Ebd., S. 135.

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3. Ganz anders hat sich nahezu zeitgleich Wulf Kirsten demselben Sujet angenähert. Es ist durchaus ungewöhnlich für jemanden wie Kirsten, der sich in seinen Gedichten und poetologischen Stellungnahmen immer wieder nahezu ausschließlich zur lyrischen Vertextung von Landschaft bekannt hat, zum „Landschafter“ analog den Traditionen der neuzeitlichen Landschaftsmalerei, die das Spezifische einer bestimmten Gegend, eines regionalen ländlichen Weltausschnitts an ihren Gegenständen darzustellen sucht,6 dass er mit dem Mauersegler einen ausgesprochen urbanen Sommervogel porträtiert, denn anders als den weitgehend auf den ländlichen Raum beschränkten und dort auch bedrohten Schwalben ist es den Mauerseglern während der letzten Jahrzehnte gelungen, sommers auf die Innenstädte europäischer Mittel- und Großstädte auszuweichen. Das hat mit ihrem vergleichsweise anspruchslosen Nist- und Brutverhalten zu tun (unter Dachziegeln oder -balken, auf erhöhten Mauersimsen und -vorsprüngen usw.), dem Nahrungsangebot in Form von Mücken, Fliegen, Wespen u.a. Insekten sowie der Tatsache, dass die ursprünglichen Felsbrüter dort weniger natürlichen Feinden ausgesetzt sind. Kirsten gelingt es mit seiner Art des Mauerseglergedichtes jedoch, eine gleichsam ländliche Atmosphäre über der Stadt zu evozieren, dem urbanen Raum mithilfe seiner atmosphärischen Sommergäste gleichsam eine zweite Landschaft ‚anzudichten‘, indem er nämlich den keineswegs unbewohnten oder unbelebten weiten Himmel darüber suggestiv mit in die Stadtlandschaft einbezieht – die flüchtige Stadt verflüchtigt sich damit zur Landschaft der auf und über ihr ein- und wiederkehrenden Mauersegler, die städtischen Mauersteine werden zur Kulisse für die sie umsegelnden Vögel, und zwischen beiden Sphären befindet sich vermittelnd das Vogelschau betreibende lyrische Ich, dessen empirische Wahrnehmung sich, anders als bei Enzensberger, im Verlauf des Gedichtes unverhohlen zur Euphorie steigert: Mauersegler für Helga Brunnemann wo nur bleiben die himmelsbewohner mit ihren schreien der lebenslust, schrillem schrie-schrie-schrie? erst spät im april zu sehn die vorhut der gefiederten akrobaten, stromlinienförmig gestylt,

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Vgl. Wulf Kirsten: Landschaft als literarischer Text. Ein Eingrenzungsversuch. In: Gerhard R. Kaiser (Hg.): Landschaft als literarischer Text. Der Dichter Wulf Kirsten. Jena: Glaux 2004, S. 50–57.

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lebendige pfeile, getragen von gesichelten flügeln, darsteller gesteigerter szenen, tollkühner kapriolen in waghalsiger rasanz zu bewundern, in eleganten schwüngen ziehen sie bis in unsichtbare höhen hinauf, zu schwarzen punkten verwinzigt, schweben sie wetterflüchtig taglang über den wolken, heißt es, mitunter den vollmond umkreisend, dies sah ich mit eigenen augen, eh sie im sturzflug durch den abend huschten gleich fledermäusen, flugspiele im pulk, atemberaubend, gespräche en bloc oder reden sie nur mit sich selbst? einverstanden, schwebend am leben zu sein? dem kurzen sommer lauthals stimme geben, den himmel beleben, bis abend für abend die dunkelheit sie jählings einhalten heißt.7

Kirstens Gedicht folgt einer geradezu klassischen Klimax, die sich mit den letzten beiden Zeilen allerdings abrupt ins Gegenteil kehrt, und greift in zahlreichen Anklängen, Wendungen und Signalwörtern auf eine in der Beschwörung des kurzen Sommers mindestens bis zu Hölderlins Ode „An die Parzen“ („Nur einen Sommer gönnt, ihr Gewaltigen“8) und in der Vergegenwärtigung des akrobatischen Flugs bis zu Rilkes Fünfter Duineser Elegie („ihre kühnen / hohen Figuren des Herzschwungs, / ihre Türme aus Lust“9) reichende Tradition zurück. Einerseits wird damit ein ‚hoher‘ lyrischer Ton fortgeführt – Kirsten veröffentlichte ein Porträtgedicht auf Hölderlin und

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Wulf Kirsten: was ich noch sagen wollte. Neue Gedichte mit drei Radierungen von Susanne Theumer. Bucha: quartus 2014, S. 35. Friedrich Hölderlin: Sämtliche Gedichte. Hg. v. Jochen Schmidt. Frankfurt/M.: Deutscher Klassiker Verlag 2005, S. 197. Rainer Maria Rilke: Duineser Elegien. Die Sonette an Orpheus. Nach den Erstdrucken von 1923 kritisch herausgegeben von Wolfram Groddeck. Stuttgart: Stiftung Lyrik Kabinett 1997, S. 22–26, hier S. 25.

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hat sich wiederholt zu Georges rigorosem Formbewusstsein bekannt –,10 mit welchem sich, andererseits, gleichwohl die genaue Beobachtung eines klar umrissenen Gegenstands als ‚Weltausschnitt‘ sowie die konkrete Verortung in einem spezifischen Hier und Jetzt verbinden. Dies wird erkennbar am persönlichen Betrachterstandort des Ich, aber auch zeitgenössischen Anglizismen wie „gestylt“, dem vorwärts drängenden, in einen Strophenblock gegossenen, dadurch wie ein langer, mit seinen an- und abschwellenden Perioden immer wieder verzögerter Atemzug wirkenden Rhythmus, und v.a. dem Paratext: „Mauersegler“ beschließt eine Auswahl neuer Gedichte, die unter dem Titel was ich noch sagen wollte zu Kirstens 80. Geburtstag erschienen ist – ein geradezu idealer Hintergrund für die autobiographische Reverenz vor Hölderlins „Parzenlied“ –, und es ist einer Weimarer Aktivistin gewidmet, die sich überregional durch ihr ehrenamtliches Engagement um Nist- und Schutzmöglichkeiten für Mauersegler einen Namen in der Naturschutzbewegung gemacht hat.11 Dieser Umstand rückt Kirstens Gedicht – und viele seiner in den Jahrzehnten zuvor entstandenen, auf ökologische Notstände der Gegenwart verweisenden Gedichte bestätigen das – in eine seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hervorgetretene Lyrik des ökologischen Protests, Widerstands und der Rückbesinnung auf die aus dem postmodernen Alltag vermeintlich verschwundene ‚wilde‘ Natur, wie dies in Amerika etwa in den, ungleich spirituelleren, Gedichten Gary Snyders praktiziert wird.12 Kirstens „mauersegler“, weit entfernt von einem zeitlosen Idyll, entwerfen auf diese Weise das Tableau einer fragilen, vom umweltzerstörerischen Ausstoß der Zivilisation bedrohten atmosphärischen Landschaft –, denn es ist ja nicht so, dass die Mauersegler in der Großstadt ein Paradies vorfänden; sie stellt lediglich eines ihrer letzten Rückzugsgebiete dar. Noch eines kommt bei ihnen als lyrischem Gegenstand Enzensbergers wie auch Kirstens hinzu: Anders als die Schwalben sind die Mauersegler (noch) kein Sujet bestehender lyrischer Traditionen und weder von Hölderlin oder Rilke explizit ins Gedicht genommen worden. Erst Kirsten und Enzensberger entdecken gewissermaßen am 10 Vgl. Wulf Kirsten: Textur. Reden und Aufsätze. Zürich: Ammann 1998; sowie ders.: curriculum

vitae. In: Ders.: fliehende ansicht. gedichte. Frankfurt/M.: S. Fischer 2012, S. 57.

11 Vgl. Helga Brunnemann: Mauerseglern helfen – Nistplätze schaffen – Fundvögel versorgen.

Ein Erfahrungsbericht. Weimar: Ackerhalm 2014.

12 Vgl. Gary Snyder: Lektionen der Wildnis. Aus dem amerikanischen Englisch von Hanfried

Blume. Berlin: Matthes & Seitz 2010. Zu Snyders zeitgenössischer Rezeption in Deutschland vgl. den Lyriker (und Schafhirten) Olaf Velte mit seiner Würdigung zu Snyders 80. Geburtstag am 8. Mai 2010 in der Frankfurter Rundschau: http://www.fr-online.de/literatur/zum-80--vongary-snyder-sprache-ohne-schlamm,1472266,4454068.html (zuletzt aufgerufen: 30.08.2015). Zur ökologischen Debatte in der deutschen Literatur vgl. u.a. Hans Magnus Enzensbergers Polemik: Brunnenvergiftung. Eine ungehaltene Rede über das Wasserrecht und verwandte Gegenstände. In: Ders.: Mittelmaß und Wahn. Gesammelte Zerstreuungen. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1991, S. 195–206.

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Mauersegler das diesen Vogel für zeitgenössische Gedichte prädestinierende Potential wie dessen Urbanität, Fragilität und Exzentrizität. Gerade Eigenschaften wie diese werden in poetologischen Stellungnahmen gern als Charakteristika zeitgenössischer Gedichte aufgeführt. Insofern sind die Mauersegler-Gedichte beider Autoren auch Widerspiegelungen ihrer ästhetischen Positionen; hinter der Darstellung der Mauersegler verbirgt sich ein poetologischer Impuls: die metareflexive Einstellung zum Gedicht als ästhetischem Gegenstand. Bis in beinah identische Formulierungen hinein („in waghalsiger rasanz zu bewundern“) spielt dabei auch die Auseinandersetzung mit naturwissenschaftlicher Anschauung, Empirie und Exaktheit eine Rolle. Weder Enzensberger noch Kirsten verleugnen die primär dafür nötige sinnlich-körperliche Erfahrung – die Neugier, das Staunen, die Bewunderung und mit versuchter Empathie für den Gegenstand vermischtes Anschauungsvermögen gehören dazu. Einzig die Schrift ist als Medium zwischen die Natur und ihre Darstellung geschaltet, wobei diese jene „nichts angeht“. Diese sprach- und erkenntniskritische Pointe Enzensbergers wird bei Kirsten in der metapoetischen Volte nachvollzogen: „gespräche en bloc oder / reden sie nur mit sich selbst?“ Für die am ornithologischen Gegenstand gemachten Überlegungen zur Natur des Gedichtes brauchen weder Kirsten noch Enzensberger auf mediale Simulationen oder virtuelle Überblendungen Bezug zu nehmen; noch immer genügen ihnen die fünf Sinne, ein wenig Beschäftigung mit Vogelkunde und eine präzise Vorstellung vom Gedicht als ästhetischem Gegenstand.

4. Dass Vogelwelt und Vogelkunde ins zeitgenössische Gedicht gehören – für die zeitgenössische Prosa stellen dies u.a. die Romane Kaltenburg13 von Marcel Beyer sowie Die Sprache der Vögel14 Norbert Scheuers oder die Übersetzung von J. A. Bakers Klassiker Der Wanderfalke15 in der Reihe Naturkunden des Verlags Matthes & Seitz unter Beweis –, ließe sich noch an einer Vielzahl von Gegenwartslyrikern konstatieren. Lohnenswert wäre zweifellos, den etwa in den Gedichten Jürgen Beckers über die Jahre hinweg in seinen Landschaften wiederkehrenden Eichelhähern, Kolkraben, Spechten, Elstern, Tauben, Spatzen oder den Singvögeln am winterlichen Futterhaus nachzugehen. Was die Anzahl einschlägiger, expliziter ‚Vogelgedichte‘ betrifft, nimmt allerdings Michael Krüger eine exponierte Stellung in der Gegenwartslyrik ein. Krüger greift so oft wie kein anderer deutscher Gegenwartslyriker und mit erstaunlicher Sachkenntnis auf ornithologische Tatbestände zurück –, um sie unerwartet 13 Marcel Beyer: Kaltenburg. Roman. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2007. 14 Norbert Scheuer: Die Sprache der Vögel. Roman. München: S. Fischer 2015. 15 J. A. Baker: Der Wanderfalke. Aus dem Englischen von Andreas Jandl und Frank Sievers. Reihe

Naturkunden. Hg. v. Judith Schalansky. Berlin: Matthes & Seitz 2014.

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mit aktuell zeitgeschichtlichen, ästhetischen, philosophischen oder poetologischen Diskursen kurzzuschließen. Krügers vielleicht bekanntester Band, für den er 1986 den Peter-Huchel-Preis erhielt, Die Dronte, widmet sich im Titelzyklus dem sagenhaft überproportionierten, einst auf Mauritius ansässigen Vogel, auch Dodo genannt, der seine Entdeckung durch die Europäer mit dem Ausgerottetwerden bezahlte; in einem früheren Band Krügers unter dem Titel Zoo, 1982 erschienen, firmieren u.a. Gedichte auf Raben und Papageien, aber unter den zahlreichen Vogelarten, auf die Krügers ornithologisch geschulter Blick verfällt, ragen die hierzulande geläufigsten hervor, wie etwa Krähen oder Spatzen. Mit seinen lyrischen Bezugnahmen auf die Vogelwelt setzt Krüger zum einen die alte, etwa auf Theophrasts Charaktere zurückreichende moralistisch-physiognomische Tradition fort, bestimmte menschliche Eigenschaften vom Antlitz bestimmter Tiere abzulesen. Das eröffnet ihm die Chance, auf verschlüsselte Art im Literaturbetrieb, den er als Verlagsleiter lange mitbestimmte, grassierende Eitelkeiten aufs Korn zu nehmen, ohne dass es die Betreffenden kompromittieren würde – falls sie es überhaupt mitbekommen. So enthält der 1996 veröffentlichte Band Nachts, unter Bäumen eine mit zoologischem Fachwortschatz gespickte Rede des Ornithologen, der nur über ihren Paratext zu entnehmen ist, worauf sie eigentlich abzielt. Die „Rede“ ist Herbert Heckmann gewidmet, seinerzeit Präsident der Darmstädter Akademie für Sprache und Dichtung, der gewusst haben dürfte, wer sich in bester aufklärerischer Tradition der menschliche Schwächen aufs Korn nehmenden Tierfabel hinter sprechenden Namen wie der „Knäkente im Sommerkleid“, der „krickentenköpfigen Schnatterente“ oder der „Plüschkopfente“ – alles ornithologischer Fachwortschatz, den Krüger nicht einmal imitieren musste – tatsächlich verbirgt: Rede des Ornithologen für Herbert Heckmann Sagen wir: durch heftige Stürme verschlagen oder von anderen Zugbewegungen erfaßt oder einfach mitgeflogen und hängengeblieben wie so vieles andere Gelichter, jedenfalls da und heimisch geworden und von ungeübten Augen nicht zu erkennen: Irrgäste, wohin man blickt. Anus rubripes zum Beispiel, die Dunkelente, von einer hier geborenen Stockente nur durch die hellen Wangen zu unterscheiden. Oder die Blauflügelente mit dem weißen Halbmond vor dem Auge, etwa so groß wie die Krickente, das Weibchen einer Knäkente im Sommerkleid

Vogelkunde der Poesie?

ähnlich. Oder Anas falcata, die aussieht wie eine krickentenköpfige Schnatterente, aber mit struppiger Haube im Nacken. Gar nicht zu reden von der Plüschkopfente, Somateria fischeri, mit dem unförmigen hellen Augenfleck, oder der Halsringente mit den zwei Schnabelbinden, die den normalen Vogelfreund an die Bergente, die schwarzrückige, erinnert, die Weibchen an Tafelenten. Manche von ihnen pfeifen sanft, andere quaken rauh oder sind am nasalen Doppelruf oder einem lebhaften Kichern zu erkennen. Der Herrgott weiß, warum sie in unseren Lagunen nisten oder im dichten Röhricht, auf jeden Fall sind sie da und zunächst mal willkommen.16

Bei aller gesetzlich verbürgten Freiheit des Wortes ist es nach wie vor nicht selten, dass ästhetische Debatten im Literaturbetrieb aufgrund der oft engen persönlichen Bekanntschaft der Beteiligten für die Öffentlichkeit in verschlüsselter Form ausgetragen werden. Der Auseinandersetzung mit Naturwissenschaft käme dann auch eine Alibi-Funktion zu, deren doppelter, esoterischer Sinn nur dem Eingeweihten aufginge. Unter diesem Gesichtspunkt wäre ein genauerer Blick in Ulf Stolterfohts großen Fachsprachen-Zyklus lohnenswert, wenngleich kaum zu unterscheiden sein wird, inwieweit hier tatsächlich ein geheimer Doppelsinn vorliegt oder nicht vielmehr die Persiflage einer esoterischen Rede – in jedem Fall entsteht ein enormer ästhetischer Hinzugewinn aus dem Verfahren, Vokabular und Syntax von Fachsprachen konsequent in mehr oder weniger selbstreferentielle poetische Strukturen zu überführen. Im Falle Krügers kommt neben der moralistischen Intention, Analogien in der tierischen Physiognomie für menschlich-allzumenschliche Verhaltensformen zu finden, aber noch ein anderer, poetologischer Impuls hinzu, wenn er sich explizit auf sein Studium der Vogelwelt bezieht. Der von ihm hochverehrte und verlegerisch betreute Nobelpreisträger Tomas Tranströmer hat in einer seiner wenigen poetologischen Äußerungen, und zwar der Dankesrede zur Verleihung des Pilot-Preises,17 gestanden, dass seine erste Leidenschaft lange vor der Beschäftigung mit Lyrik eigentlich den exakten Naturwissenschaften, insbesondere der Zoologie gegolten habe. Tranströmer ist mit seiner umfassenden Sammlung von Schmetterlingen der 16 Michael Krüger: Nachts, unter Bäumen. Gedichte. Salzburg, Wien: Residenz 1996. 17 Tomas Tranströmer: Rede zur Verleihung des Pilot-Preises. In: Ders.: In meinem Schatten

werde ich getragen. Gesammelte Gedichte. Aus dem Schwedischen von Hanns Grössel. Hg. v. Hans Jürgen Balmes. Frankfurt/M.: S. Fischer 2013, S. 313–321.

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zoologischen Fachwelt so treu geblieben wie Ernst Jünger mit seiner Käfersammlung – und nach beiden sind auch neu entdeckte Arten in diesem Bereich benannt worden. Was Tranströmer zwischen den Zeilen mit seinem autobiographischen Hinweis zu verstehen gibt, ist ein Bekenntnis zum empirischen Fundament seiner lyrischen Neugier, seiner Wahrnehmung und ihrer metaphorischen Vergegenständlichung im Gedicht, das auch für Michael Krüger gilt, der wohl hinzufügen würde: Erst wenn wir etwas am radikal Anderen, am Tier, wahrnehmen, wenn das Tier in seiner Fremdheit zu uns ‚spricht‘, können wir auch etwas an uns selbst wahrnehmen und über uns erfahren – um es mit den Worten des Ethnologen Devereux zu sagen: „Jede Beobachtung ist eine Beobachtung am Beobachter.“18 Krügers lyrischer Beobachter gelangt in der Anschauung der Vögel zu sich selbst – und weit über sich hinaus, wie eine eindrucksvolle Reflexion auf Turmfalken aus dem 2007 veröffentlichten Zyklus „Meditationen unter freiem Himmel“ zeigt, welchem ein Credo des Insektenforschers Jean-Henri Fabre19 („Beobachten, das ist immerhin schon etwas, aber das reicht nicht aus“) voransteht: Das tägliche Spiel der Turmfalken: ein Bild, das sich aufbaut und löscht im Luftraum zwischen den Wassern, das sich aufbaut und löscht. Auch sie umgarnen, umgarnen mit dem eigennützigen Faden der Flugbahn eine immer enteilende Welt. Augustinus lacht. Ich lebe in drei Welten: in dieser hier, im Schatten unter dem Maulbeerbaum, in der Welt meiner Gedanken (it was the world in which I walked) und in der Welt der Bücher, in der ich lese, was geschah, als ich, auf kurze Zeit, das Leben eines Vogels führte.20

18 Paul Devereux zit. n. Hans Jürgen Heinrichs: Das Feuerland-Projekt. Über das Reisen. Ham-

burg: Europäische Verlagsanstalt 1997, S. 84.

19 Dessen naturwissenschaftliche Autobiographie, die Erinnerungen eines Insektenforschers,

ebenfalls im Naturkunden-Verlag Matthes & Seitz erstmals vollständig auf Deutsch erscheinen, ein halbjährlich fortgesetztes editorisches Großprojekt. 20 Michael Krüger: Mediationen unter freiem Himmel. In: Ders.: Unter freiem Himmel. Gedichte. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2007, S. 7–31, hier S. 14.

Vogelkunde der Poesie?

Was Krüger, Enzensberger und Kirsten mit ihrem empirisch angereicherten Interesse an der Vogelkunde unterstreichen, und mit weiteren Namen wie Marcel Beyer oder Jürgen Becker habe ich angedeutet, dass dies ein durchaus breites Phänomen in der Gegenwartsliteratur ist, bekräftigt die Fruchtbarkeit von Begegnungen zwischen Naturwissenschaften und Literatur, und seien diese noch so akzidentiell. Es ist eben nicht nur eine Motivgeschichte, die sich damit andeutet, sondern auch ein weites Feld ästhetischer Debatten und Positionen, das diese „Vogelkunde der Poesie“ eröffnet. Ausgehend von ihrer alten emblematischen Funktion, sicher auch in Reminiszenz an die Gattung des Lehrgedichts in Antike und Humanismus, sind Vögel, über den Umweg anthropomorphisierter Natur im sogenannten Erlebnisgedicht, Stichwortgeber im zeitgenössischen poetologischen Diskurs geworden, der um Fragen von Wahrnehmung, Exaktheit, Traditionsbezug vs. Gegenwartsbewusstsein, die Umdeutung alter Kategorien wie Natur und Kultur im Lichte gegenwärtiger Fiktionalität, Medialität und Virtualität kreist, aber nach wie vor die uralten erkenntnistheoretischen und -kritischen Fragen nach dem Sinn unseres Daseins und unserer Beziehung zum Sprach-losen, radikal Anderen, nämlich dem Tier, stets mit einschließt.

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Enza Dammiano

„Fortgesetzter Widerstand“ · Volker Brauns ­ästhetische Positionierung nach 2000 Wenn die Ideen begraben sind, kommen die Knochen heraus1

In seiner Leipziger Poetikvorlesung vom 12. Dezember 1989 zitiert Volker Braun Peter Weiss’ Ästhetik des Widerstands mit Bezug auf Aufgaben und Perspektiven der Kunst, die sich – durch die unmittelbare Konjunktur der Wende bedingt – in der „unheilen Welt“ ergeben, und schildert dabei die eigene Methode der Auseinandersetzung mit der Gegenwart2 als eine vertikal geprägte Denkbewegung – als „Gang in die Tiefe“, als „archäologisches / erkundendes Verfahren“.3 Die archäologische Metapher der ,Ausgrabung‘ der untersten Schichten des gegenwärtigen Geschehens hinter der Oberfläche des rein Aktuellen wird somit zur leitenden Chiffre des Braun’schen zeitkritischen Diskurses: „Inhaltlich betreibt der Autor seit Beginn seiner Laufbahn Archäologie der Gegenwart. Und dieser scharfe Blick hinter die ideologischen

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Volker Braun: Die Verhältnisse zerbrechen. Rede zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises 2000. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2000, S. 25. Unter die Bezeichnung ,DDR-Autor‘ gefallen, wurde Volker Braun als Dichter und Intellektueller des wiedervereinigten Landes oft in Frage gestellt. Doch die Vermutung, „das Schreibbegehren könne an ein Staatswesen gekoppelt sein“, zeuge nach Peter Geist „nicht gerade von Sensibilität in Fragen künstlerischer Prozesse, im Falle Braun war sie geradezu absurd“. (Vgl. Peter Geist: Lyrik. In: Michael Opitz/Wizisla Erdmut (Hg.): Was immer wird, es wühlt im Hier und Jetzt. Im Zwiegespräch mit Volker Braun. Leipzig: Lehmstedt Verlag 2014, S. 161.) „Auch in der Gesellschaft der Bundesrepublik kann er nicht mitnehmen und dulden, was ihm gesellschaftliche Faktoren vorgeben wollen. Braun bleibt der Autor mit Mitgestaltungsanspruch, der er in der DDR war und setzt sein Schreiben bewusst mit der gleichen Haltung fort. Er verfolgt weiterhin das Ziel, eine Gesellschaft auf Basis der Gerechtigkeit und Solidarität aufzubauen – nun in der Bundesrepublik und nicht in der DDR.“ (Vgl. Hannah Schepers: Kontinuität im Denken trotz Wandel in der Politik. Gesellschaftlicher Mitsprache-Anspruch am Beispiel Volker Brauns. In: Carsten Gansel/Werner Nell (Hg.): Vom kritischen Denker zur Medienprominenz? Zur Rolle von Intellektuellen in Literatur und Gesellschaft vor und nach 1989. Bielefeld: transcript 2016, S. 271–283, hier S. 281). Volker Braun: Wir befinden uns soweit sowohl. Wir sind erst einmal am Ende. Äußerungen. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1998, S. 29–50, hier S. 44–46.

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Barrikaden in (früher) Ost und (heute) West/Welt ist es, der ihm stets Kritik von Verteidigern des jeweiligen Status Quo eintrug“4. Um die Jahrtausendwende wird für den engagierten Autor die Verleihung des Georg-Büchner-Preises (2000) zur erneuten Gelegenheit, die eigene Positionierung im Kontext der ästhetischen Debatten der Gegenwart zu reflektieren.5 Diese Auszeichnung – bemerkt Christine Cosentino – verpflichtet, denn sie fordert, will man es genau nehmen, Belege für Arbeit an Themen, die der revolutionäre Aktivist Büchner im 19. Jahrhundert vorgab. Man kann es genau nehmen, denn wie kaum ein anderer Dichterkollege konnte Braun beweisen, dass die revolutionären Texte Büchners auch in auswegslosester Zeit unentbehrlich für sein eigenes Schreiben und Wirken sind und waren.6

Hierbei wird der produktive Dialog mit Büchners Werk, dem Braun bereits seinen Büchners Briefe-Essay (1977) gewidmet hatte, zum poetologischen Leitfaden der Dankesrede: Ich habe vor Jahren, unter anderen Verhältnissen, Büchner zitiert, um einen Sprengsatz zu legen; jetzt in seinem Namen herzitiert zu sein, muß mich wieder unterminieren. Ich stehe vor Ihnen auf dem gefährlichen Boden, wo man Stellung bezieht, wo Absichten wurzeln, wo ein Narr die Arbeit macht, der scheitern will, und G e l i n g e n ist Scheitern.7

Die Anspielung auf die Vergangenheit „unter anderen Verhältnissen“ verlangt eine neue gegenwartsbezogene Orientierung und motiviert die Suche nach neuen Antworten in Verbindung mit der Kategorie „Jetzt“. „Büchner blickte in ein Nichts“ – schrieb Braun im Jahr 1977. „Und wohin denn blicken wir?“ fragt er sich konsequent im Schwellenjahr 2000.8 Büchner habe nämlich sein Werk im „Moment der Krise des bürgerlichen Vorwärtsdenkens angesichts der Gewalt und Schmerzen des Epochengangs“ verfasst und dabei die eigene „Desillusionierung“ zum Ausdruck gebracht: 4

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Rolf Jucker: „Was werden wir die Freiheit nennen?“: Volker Brauns Texte als Zeitkritik. Würzburg: Königshausen & Neumann 2004, S. 77. Vgl. auch Katrin Bothe: Der Text als geologische Formation. ‚Archäologisches Schreiben‘ als poetologisches Programm im Werk Volker Brauns. In: Rolf Jucker (Hg.): Volker Braun in Perspective. Amsterdam, New York: Rodopi 2004, S. 1–36. Gustav Seibt: Das Wirklichgelungene. Laudatio auf Volker Braun zum Büchner-Preis 2000. In: Volker Braun: Die Verhältnisse zerbrechen (wie Anm. 1), S. 7–18, hier S. 7. Christine Cosentino: „Wer bin ich?“. Notizen zum dichterischen Selbstverständnis im jüngsten Schaffen Volker Brauns, „Glossen“ 18/2003. http://www2.dickinson.edu/glossen/heft18/cosentinobraun.html (zuletzt aufgerufen: 24.10.2017). Volker Braun: Die Verhältnisse zerbrechen. In: Ders., (wie Anm. 1), S. 22. Volker Braun: Büchners Briefe. In: Ders., Die Verhältnisse zerbrechen (wie Anm. 1), S. 37.

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„Sie ist das radikale Salz […]. Wir schmecken es mit Wollust, als Kinder wieder eines Zeitenbruchs.”9 Hatte der Darmstädter Dichter den Kollaps der Freiheitsideale der Französischen Revolution zu konfrontieren, so leben wir inzwischen – so Braun – in der Epoche einer rücksichtlosen „Kapitalräson“10 bzw. des „vorauseilenden Fatalismus der Regierungen, der dem Geldaristokratismus Platz macht, von dem der Anführer Büchner sagte: lieber soll es bleiben, wie es jetzt ist.“11. Als „gerettetes, transhistorisches Wesen“12 befinde sich der Mensch zu Beginn des 21. Jahrhunderts in der Rolle des ‚Kunden‘ einer globalisierten Gesellschaft und sei insofern neuen Herrschaftsverhältnissen unterworfen, die sich als „ein gewaltigeres Präparat“13 gestalten. Den provokatorischen Titel der Rede – Die Verhältnisse zerbrechen – setzt Braun insofern in ein eindeutiges Spannungsverhältnis mit dem vorletzten Schlusssatz derselben Ansprache („wir werden drum die Verhältnisse nicht zerbrechen“14), den er in einer separaten, auf den 28. Oktober 2000 datierten Notiz im Arbeitsbuch 1990– 2008 mit einem aufschlussreichen Kommentar ergänzt: „der schluß (wir werden die verhältnisse nicht zerbrechen) ist paraphrase jenes theater-danton und mit verstellter stimme zu lesen, auf die gefahr, einverständnis zu erzielen.“15 Im gleichen Sinn gilt Brauns Re-Lektüre des künstlerischen Erbes des Darmstädter Dichters dem Gebrauchswert seiner Potentiale zugunsten der Gegenwart, nämlich als Suche nach einem Ausweg aus der zwingenden Aporie des „Jetzt“ durch die konstruktive – wenn auch paradoxe – Formulierung einer Alternative: In der Dichtung konnte er [Büchner] radikal sein und dem Druck der Erfahrung mit allen Sehnen, allem Sehnen standhalten, um jenes subversive, alles Bestehende befragende Verlangen auszudrücken: Möglichkeit des Daseins. […] Keine Antwort auf dieser Bühne, nicht die rasche, die noch immer Geschichte schreibt – nur das sinnliche Argument der Widersprüche, das uns rigoros in die Wirklichkeit führt; das ist die Handlung der Kunst. Sie mag scheitern, in dem es gelingt und die Frage weiterbrennt …16 9 10 11 12 13

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Volker Braun: Die Verhältnisse zerbrechen. In. Ders., Die Verhältnisse zerbrechen (wie Anm. 1) , S. 20. Ebd., S. 26. Ebd. Ebd. Ebd., S. 20. Vgl. auch den im gleichen Jahr veröffentlichten Erzählband Das Wirklichgewollte, in dem der Autor die Frage der Globalisierung noch einmal explizit thematisiert: Volker Braun. Das Wirklichgewollte. Frankfurt M.: Suhrkamp 2000 und hierzu Kai Köhler: Die Kämpfe einer neuen Epoche. Volker Braun skizziert die globalisierte Welt. http://literaturkritik.de/public/ rezension.php?rez_id=3144 (zuletzt aufgerufen: 24.10.2017). Volker Braun: Die Verhältnisse zerbrechen (wie Anm. 1), S. 29. Volker Braun: Werktage 2. Arbeitsbuch 1990–2008. Berlin: Suhrkamp 2014, S. 541. Volker Braun: Die Verhältnisse zerbrechen (wie Anm. 1), S. 21 und 29.

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In seinem Lyrikband Auf die schönen Possen (2005) geht Braun wieder auf „das sinnliche Argument der Widersprüche“ ein, indem er an der für ihn charakteristischen Schwelle zwischen Ernst und Sarkasmus die Interdependenz von Macht-, Geld- und Gewaltverhältnissen auf geopolitischer Ebene schildert. So entlarvt sich im Gedicht Der Mittelpunkt die Suche nach dem gemeinten „Mittelpunkt der Welt“ in der touristischen Kulisse Nordafrikas als reiner Konsum-Imperativ: Dann wollte ich zum Mittelpunkt der Welt. Ich nahm ein Taxi, er lag in der Nähe Ein flacher Haufen Schutt schräg ansteigend Von einem Fußtritt, die Geschichte Ging da lang mit Absicht. Und wir sehn die Wüste. Der Fahrer Raste durch den Stau und stand Vor einem Laden. Shopping, sagte er. Ich linste aus dem Schlag und sah nichts. Die Pracht der Gründerjahre, mein Jahrhundert Und nicht die Weltmitte. Ich halsstarrig: Zum Obelisk. - No Shopping? Und schlug sich an die Stirn. Ich stieg nicht aus. Die wissen nicht mehr, wo der Mittelpunkt ist. […]17

Die Spuren antiker Geschichte, die „da lang mit Absicht [ging]“, kollidieren mit den prosaischen Ansprüchen der Gründerjahre einer globalen Welt des Konsums, worin auch die westliche Konsumhaltung gegenüber dem Exotischen eingebettet ist: Die antithetische Gegenüberstellung „Shopping“/„No Shopping?“ banalisiert die Sehnsucht nach einem „Mittelpunkt“ und lässt die Feststellung der allenthalben verlorengegangenen ‚Ziele‘ als drastisches Urteil klingen. Die real-metaphorische Chiffre der Verwüstung kehrt in den letzten Zeilen des Gedichts im Zeichen des „Nichts“ wieder und wird zum triftigen Echo der Büchner-Preis-Rede: […] Ich weiß auch nicht Warum es mich an diesen Punkt zerrte DAS NICHT S, DA S E TWA S WA R D A S ZU NICHT S WI R D. Den ich erblicke ohne aufzuschauen Unter dem Sand, der durch mich flog. 17 Volker Braun: Auf die schönen Possen. Gedichte. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2005, S. 65.

„Fortgesetzter Widerstand“

Shopping, sagte ich ruhig Er lud mich aus und ging an sein Gebet Mitten in der Wüste von Neukairo Ich an das meine.18

Die militärische Gewalt und ihre Folgen werden im Gedicht Ultimatum an die Petersilieninsel, das den geopolitischen Konflikt zwischen Spanien und Marokko um die Insel Perejil im Jahr 2002 fokussiert, in Frage gestellt: […] Ergib dich, Inselchen Schüttle die Flüchtlinge ab, die schmächtigen Ziegen Erkenne die Ordnung an Reiße deine Petersilie aus Und empfange die Panzerreiter.19

Die befremdlich zynische Aufforderung zur Kapitulation wird zum Ausdruck der Wehrlosigkeit der kleinen umstrittenen Insel, die im Namen einer vermeintlichen „(Welt-)Ordnung“ zum Verhandlungsobjekt internationaler Großmächte geworden ist. Die Auseinandersetzung mit solchen Macht- und Gewaltverhältnissen führt zu einer eindeutigen Positionierung der Dichterstimme: „Groß ist dein Grabmahl, Augustus“ – heißt es im Gedicht Die Weltmacht – „ich schreib auf die / flüchtigen Zettel – – / Was denn? ich schreib es huscht drüber die Eidechs hin“20 und in den Versen der Lyrik Die Kunst wird derselbe Gedanke fortgesponnen: Sie tanzt auf den Gräbern, mit Grazie Mit ihrem wilden Gedächtnis. WIR KÖNNEN JA NICHTS BE HA LTE N. Sie Ruft die Verreckten herauf, die Vergessenen Mit ihren Messern und Forderungen. Erloschene

18 Ebd. 19 Ebd., S. 69. 20 Ebd., S. 94. Vgl. die Büchner-Preis-Rede: „Sind wir nicht in einem ewigen Gewaltzustand? Ich

habe die sogennante Vergeblichkeit erlebt. – Aber was sind so allgemeine Begriffe gegen die akute Erfahrung. Was ist das lähmende Bewußtsein, daß alles ins Nichts läuft, gegen die Kraft der Sinne, die Lust, das Entsetzen. Ich bin, in meinen Fasern, nicht der Macht verhaftet. Apparate, Parteien und ihr abgelebter Geist, das mag zum Teufel gehn. Das macht mich lachen. Das hilft mir nicht. Meine Natur nährt eine rohere Kost. […] Mein Widerstand wohnt im Gewebe, mein Gram, mein Verlangen.“ Volker Braun: Die Verhältnisse zerbrechen (wie Anm. 1), S. 24–25 [Hervorhebung im Original].

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Liebe, kalter Zorn, vertane Zeiten. Was Ist der Gedanke, dass wir sterblich sind Gegen das GROSSE U M S O NS T. Sie wagt es zu denken Im Untergrund, wo alles lebt. Wie, ist es möglich? dass die Verhältnisse tanzen.21

Die Geschwindigkeit der Gegenwart und die durch die Großbuchstaben hervorgehobene Flüchtigkeit des geschriebenen Wortes („Wir Können Ja Nic ht s Behalt en“) werden zum ‘Tanz der Verhältnisse’ chiffriert, der sich in den „vertanen Zeiten“ als unterirdische Bewegung („Im Untergrund, wo alles lebt“) konfiguriert und als Widerstandskraft der Kunst trotz des „G r o s s e n UMSONST“ zu behaupten weiß. Noch einmal wird diese Resilienz der Kunst im Gedicht Pontinische Sümpfe pointiert: In einer Bucht im Schlamm sah ich ein Paar Kniend vor einem Schlammhaufen Den es sachte häufte händeweise Auch mit den Fingerkuppen sachte Schlamm Träufelnd, die sich zudem berührten Lehmig wie sie waren wollüstig Und nach und nach ein Bauwerk aufrichteten. Ein Turm aus Zärtlichkeiten hingegossen Den jeder mit Bewunderung erblickte: War es der Ernst, die Liebe, was mehr rührte? Jedoch so dicht am Wasser wuchs er Daß jede Welle ihn, mit einem Schlag Zerschwemmen mußte. – Was beginnt ihr? Nichts bleibt von eurer Kunst und eurer Liebe. – Sie ließen sich im mindsten nicht beirren.22

Die Naturelemente einer sumpfigen Bucht werden hier zur Figuration eines kreativen Gestaltungsverfahrens: Wasser und Boden verschmelzen nicht zuletzt dank der Tätigkeit menschlicher Hände, indem sie als Schöpfungsakt und zugleich Liebesgeste gedeutet werden. Wird das Fortleben des „Bauwerks“ durch die ambivalente konstruktiv-destruktive Rolle des Wassers bedroht, so leistet die Kunst – nicht zuletzt als Werk der Liebe – Widerstand gegen jegliches „Beirren“. Brauns Metaphorik des ‚Bodens‘ als vorwärts orientierte Archäologie kommt in seiner im Jahre 2010 am Ernst-Bloch-Zentrum gehaltenen Zukunftsrede noch einmal 21 Ebd., S. 39. 22 Ebd., S. 43.

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zur Geltung. Im Gedicht Die ewige Beschäftigung mit der Zukunft, das dieselbe Rede eröffnet, stellt Braun die Kategorie ‚Zukunft‘ überhaupt in Frage, („Woher wissen wir eigentlich / Daß es sie gibt?“, […] Oder stehen die Türen offen / Weil sie uns schon verlassen hat?“)23 und formuliert eine implizite Antwort darauf, indem er – ausgehend von Pierre Marivaux’ abenteuerliche Erzählung Die Kutsche im Schlamm (1713-14) – die kritische Konstellation der Gegenwart als „Komfort“ bzw. als „tödliche Summe der Dysfunktionen“ umreißt und folgerichtig die Phantasie einer Zukunft heraufbeschwört „als eine Gedenkstätte, ein ernstes Museum, worin die verschenkten, versiebten, vertanen Möglichkeiten erinnert werden, die unwiederbringlichen Augenblicke, das Ziel, das nicht mehr erreichbar ist“.24 Der halbfiktionale Text gestaltet sich konsequent als Wandern zwischen imaginierten Räumen der Zukunft, deren Gestalt zugleich als „Kerker“ und „Werkstatt“ figuriert wird, wobei die pars destruens und pars construens der Rede gleichsam zusammenfallen – einerseits „das Feld der Unterdrückung“ und „der ganz neue Fundus der Krisen“, andererseits „die virtuelle Empörung“, der Raum für „Alternative“, da, „wo die Interessen am Werk sind, das grobe und feine Zeug, woraus Zukunft gemacht wird. Was immer wird, es wühlt im Hier und Jetzt“25. Die Zukunft führt nämlich zurück zur Gegenwart, insofern sie der Utopie ein Fundament verleiht und sie zugleich lösungsoffen macht: „Die Zukunft soll man nicht voraussehen wollen, sondern möglich machen.“26 Solches Hauptanliegen fällt mit der Notwendigkeit des Schreibens zusammen, das wiederum im Wie des Erzählens grundiert wird: „Die Art, wie Geschichte gemacht wird, ist der Grund für die Spannung und Stimmung der Gesellschaft; wie sie Probleme angeht und Konflikte bewältigt, ist der Gradmesser der Kultur; die Handlungsweise wirkt die Zukunft.“27 Die Gedichte des Zyklus Wilderness, die erstmals in der Zeitschrift Sinn und Form (2013) gedruckt wurden, artikulieren den Versuch, diese „Stimmung der Gesellschaft“ aufzufangen. Die zehn Texte, die den Zyklus bilden, skizzieren durch konkrete Ortsangaben eine genaue Kartographie der globalen Welt, welche nach Peter Geist die „Verfasstheit unser Zivilisation“28 reflektiert:

23 Volker Braun: Die Zukunftsrede. Berlin: Verlag Matthes & Seitz 2010. Der Text ist auch unter

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folgendem Link abrufbar: http://www.bloch.de/Websites/www.bloch.de/Downloads/zukunftsrede_volkerbraun.pdf (zuletzt aufgerufen: 20.10.2017). Ebd. Ebd. Vgl. hierzu Klaus Kufeld: Zeit für Utopie. In Julian Nida-Rümelin/Klaus Kufeld (Hg.): Die Gegenwart der Utopie. Freiburg, München: Verlag Karl Alber 2011, 9–24, hier S. 21. Volker Braun: Die Zukunftsrede (wie Anm. 23). Ebd. Opitz/Wizisla (Hg.): Was immer wird, es wühlt im Hier und Jetzt (wie Anm. 2), S. 163.

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Brauns Grundthema von Jugend an, die Demokratisierung hochgradig autoritärer, parasitärer Gesellschaften, […] ist ja mitnichten erledigt, denn feudaler Staatssozialismus und High-Tech-Kapitalismus beruhen beide auf der Unterwerfung der inneren und äußeren Natur des Menschen, der Fetischisierung entfremdeter Arbeit, der Spreizung von Verstand und Vernunft in instrumenteller Rationalität und Humanitätsdefiziten.29

Die Macht-, Markt- und Gewaltverhältnisse, die das gegenwärtige Weltgeschehen im Sinne einer unheimlichen Deregulierung bestimmen, kommen wieder ganz konkret ins Spiel. Die Wilderness / Wildnis wird zum symbolischen Ort für die den Globalisierungsprozessen innewohnenden Widersprüche, deren Ausartung zu einer erneuten Barbarei führt: […] O Vielzahl, Vielgestalt, die Wildnis der Ganzheit In keiner Gewißheit geborgen, »ungestüm« Kein Gesetz lehrt sie überleben Und ich wittre wieder die Gier Gemeinsamkeit, das Notwendige, ohne Zwang Unbändige Freiheit.30

Das sechste Gedicht des Zyklus, Utøya Utopia, wo die Assonanz des Ortsnamens Utøya mit dem Schlüsselbegriff Utopia für einen deutlichen Kontrapunkt sorgt, evoziert etwa – durch ein bildlich-assoziatives Verfahren – das Breivik Massaker vom Juli 2011 auf der norwegischen Insel Utøya, das durch die kontrastierende Reihe der Begriffe „Rohheit“, „Vernunft“, „Umarmung“, „Krieg“ einprägsam kommentiert wird: Vier Skandinnen (Norwegen? Schweden?) in der U-Bahn Überirdisch schön, sie biegen den jungen Leib An den Haltegriffen gegen den Drive, du trinkst […] Der Amokläufer am Inselrand Psychisch dereguliert, wie nur je ein Land Mit ‚innerem Unglücksvorrat‘ und genug Munition 29 Peter Geist: ‘Worte und Knochen’ – Überlegungen zu Volker Brauns Gedicht ‘Andres Wacht-

lied’. In: http://petergeist.homepage.t-online.de/volker%20braun%20andres%20wachtlied.htm (zuletzt aufgerufen: 24.10.2017). 30 Volker Braun: Wilderness. In: Sinn und Form 65 (2013), 2, S. 453–462. Jetzt auch in: Ders: Handbibliothek der Unbehausten. Neue Gedichte. Berlin: Suhrkamp Verlag 2016, S. 80.

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: damit mich kein Mensch vergißt – Breivik, sie ist leer, alle Schüsse gefallen, die Massaker Hiermit geschehn, alle Morde getätigt, die Rohheit Restlos aufgebraucht, hier in Utøya, ein Strand der Vernunft diktiere ich, eine Umarmung gewaltig, absurd wie ein neuer Krieg.31

Auf derselben engen Verbindung zwischen Gegenwart und Zukunft basiert auch Brauns Dialog mit den jüngeren Generationen. Im Sammelband Was immer wird, es wühlt im Hier und Jetzt, das 2014 von Michael Opitz und Erdmut Wizisla als Hommage zum 75. Geburtstag des Dichters herausgegeben wurde, entfaltet sich eine ästhetische und wissenschaftliche Debatte, die verschiedene Generationen von KünstlerInnen, DichterInnen, SchriftstellerInnen und LiteraturwissenschaftlerInnen zusammenführt.32 Nach Brauns Vorbild verfolgt der Sammelband eine ‚archäologische Methode‘, wodurch vielfältige Aspekte der literarischen und metaliterarischen Auseinandersetzungen mit dem Autor und dessen Schreibverfahren zum Ausdruck kommen. Die Absicht der intergenerationellen Kommunikation sowie des intertextuellen Dialogs, die den Band prägt, kann am Beispiel des Gedichts von Uljana Wolf abschied von abschied von bricklebrit erläutert werden. Es handelt sich dabei um eine Fortschreibung eines früheren Gedichts aus dem Zyklus meine schönste lengevitch, in dem Wolf, in ihrer doppelten Rolle als Lyrikerin und Übersetzerin, ihre Poetik der Hybridisierung des Deutschen mit Englisch und anderen Sprachen entwirft. Das abschied-von-abschied-Gedicht, das Braun gewidmet wird, inszeniert einen intertextuellen Dialog sowohl mit dem vorausgegangenen abschied-Gedicht als auch mit dem Braun’schen Prinzip des verfremdenden Selbstzitats. Ausgehend vom Zauberwort 31 Ebd., S. 82–83. 32 Organisiert in fünf thematischen Sektionen, die von Bildern von Núria Quevedos („Die Qua-

dratur des Kreises I, II, III IV“) und Max Uhligs („Nach Volker Braun“) eingeleitet werden, gestaltet sich der Band als heterogene Montage von schriftlichen und visuellen Materialien. Die Texte jüngerer AutorInnen wie etwa Julia Schoch, Marion Poschmann, Ron Winkler, Lutz Seiler, Ann Cotten, Jan Wagner, Uljana Wolf, Marcel Beyer, Tom Schulz, Ingo Schulze interagieren miteinander sowie mit jenen einer älteren Generation, zu der Richard Pietraß, Elke Erb, Jürgen Becker, Rainer Kirsch, Wolf Biermann, Uwe Timm gehören. Integriert ist ein Raum der literaturkritischen bzw. -wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Brauns Werk, wo, neben den Essays der beiden Herausgeber, Beiträge von Peter Geist, Francesco Aversa, Lothar Müller, Ulrich Kaufmann, Friedrich Dieckmann, Stephan Krause, Barbara Hahn, Andreas Jäger figurieren. Angereichert wird der literarische und metaliterarische Diskurs durch ein bildliches ‚Intermezzo‘, das aus Werken von Angela Hampel, Günther Uecker, Felix Martin Furtwängler und Mark Lammert besteht.

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des Grimm’schen Märchens „Tischlein deck dich“33 thematisiert Wolf im ersten abschied-Gedicht die Schwierigkeit der mündlichen Kommunikation. abschied von bricklebrit weiß ist mein esel, leiser als schnee. er schwebt in einem kugelsturm, das juckt ihn schon lang nicht mehr. er wiehert nicht, trägt keinen sack. sah ihn nie auf straßen traben für leichtere lasten kühneres gras. wie soll das klappen, frag ich: schwanz heben, taler legen, anderer leute karren bewegen? he bruder, ruf ich, schluss mit trutzig, die stummen zähne, die du zeigst, was stehen die eng zusammen, klamm wie zeilen? klafft dahinter nicht ein lauteres maul, sagt man nicht auch, deine ohren wüssten kniffe, dein fell wüchse so zottelartig, dass mehr als zettelart draus wird? wirbel von mir aus, keine weißen schleier. und wo bleibt dieser alles vertauschende wirt, lauf jetzt, und hol ihn mir, sonst sitzen wir noch ewig fest.34

Die Verse, die die Kleinschreibung als stilistische Chiffre durchgehend verwenden, artikulieren ein monologisches Sprechen, das aus einer Sequenz von Aufforderungen und offenen Fragen ohne Antwort besteht. Der Seh- und Hörsinn oder vielmehr die Haltung des Nicht-Hörens („deine ohren wüssten kniffe“), welche die Wahrnehmung bestimmen, werden zum Material einer synästhetisch geprägten und alliterationsreichen Textur. Das Arrangement der zwölf Zeilen ist hauptsächlich durch das Prinzip des Enjambements gekennzeichnet, das die Disjunktion zwischen Rhythmus und Syntax hervorhebt. Die Zäsur am Ende der 4. Zeile, die graphisch und syntaktisch durch einen Doppelpunkt („frag ich:“) markiert wird, antizipiert das Schlussbild der Stummheit und der Unbeweglichkeit (12. Zeile: „ewig fest“). Das zweite abschied-von-abschied-Gedicht distanziert sich vom ersten – diesmal wird der Akzent von der Mündlichkeit auf die Schriftlichkeit der lyrischen Sprache und auf ihren langwierigen Entstehungsprozess verschoben: abschied von abschied von bricklebrit schau auf meinen fortschrittsbalken, schau ein teig, den blicke walken, tut sich was, sich nicht gut, tuts eine sicht aus meinem kopf? bitte hier einschreiben,

33 Vgl. Michael Opitz: Welt in Verwandlung. Uljana Wolf: „meine schönste lengevitch“. http://

www.deutschlandradiokultur.de/lyrik-welt-in-verwandlung.950.de.html?dram:article_id=277080 (zuletzt aufgerufen: 20.10.2017). 34 Uljana Wolf: meine schönste lengevitch. Gedichte. Berlin: kookbooks Verlag 2013, S. 7.

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oder nicht, gegengezeichnet vom lyrischen wicht: augenschütte, handschuhangst, der kleine, weiße, tägliche weg aufs ziegenblatt. meh, meh, ist so satt! - hängt doch der himmel zweifach zum mit fenstern, schnee, dass ich aus meinen aufgeh-augen nur den balkenseh, der quer dazu und unsichtbar im kopf varrammelt war. schon sechzig prozent. davon achtzig reimes eigenliebe, das zum schreiben nur ein restlein. oder ziege bleibt den halmtrick zeigt.35

Wieder aufgenommen wird hier sowohl die rhythmische als auch die syntaktische Struktur von abschied-Gedicht. Die Zäsur am Ende der 4. Zeile („wicht:“) wird behalten und die Enjambements bestimmen auch in diesem Fall die Rhythmik der Verse. Eine eigenwillige Kontinuität lässt sich an den phatischen und appellierenden Funktionen der Aussagen feststellen, die sich im Zwiegespräch des lyrischen Ich mit sich selbst entfalten. Als generativer Prozess wird das Gedichtschreiben als „fortschrittsbalken“ figuriert. Die Konzentration des lyrischen Ich, das sich indirekt mit seinen „aufgeh-augen“ (10. Zeile) zu Wort meldet, kämpft gegen den „queren“, „unsichtbar[en]“ Balken im Kopf, der das Schreiben untersagt bzw. zum Umschreiben zwingt, so dass der „kleine, weiße, / tägliche weg aufs ziegenblatt“ nur prozentual gelingen kann. Die politischen, sozialen und historischen Verhältnisse werden somit zum Stoff für die metapoetische Reflexion über die Möglichkeit/Unmöglichkeit bzw. Mittelbarkeit/Unmittelbarkeit des Schreibens und dessen Zwängen. Ist die Zeit aus den Fugen geraten, wie Mark Lammerts Bild in Anlehnung an einen der leitmotivischen Aspekte der Poetik Brauns suggeriert36, so behauptet sich die Sammlung der Beiträge als Hommage an dessen, „fortgesetzte[n] Widerstand“. Nicht von ungefähr wird Brauns letzter Gedichtband (2016) durch die Zeilen der Lyrik Bestimmung eröffnet, wo unter dem Stichwort Dämon der unbehauste Dichter seine lyrische Selbstverortung beharrlich signalisiert: „Ja, mein Sehnen geht ins Ferne / Wo ich heitre Dinge treibe. / Doch bestimmen mich die Sterne / Daß ich fest am Boden bleibe. / Und so gern ich mich erhebe / Zieht mich eine Last nach unten / Eingenäht in mein Gewebe / Hat sie ihren Ort gefunden.“37

35 Uljana Wolf: abschied von abschied von bricklebrit. In: Opitz/Wizisla (Hg.): Was immer wird,

es wühlt im Hier und Jetzt (wie Anm. 2), S. 85.

36 Opitz/Wizisla (Hg.): Was immer wird, es wühlt im Hier und Jetzt (wie Anm. 2), S. 47. 37 Braun: Handbibliothek der Unbehausten (wie Anm. 30), S. 7.

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Elisabetta Villano

„Der Unverbundene, der Unbegreifliches spricht“ · Botho Strauß oder das Amt des Dichters im digitalen Zeitalter Strauß’ Essay Lichter des Toren. Der Idiot und seine Zeit erscheint im August 2013 und kann als aktualisierte Bilanz der langjährigen Reflexion des Autors über die Rolle des Dichters in der Gegenwartsgesellschaft betrachtet werden1. Hier setzt sich Strauß mit Strukturen und Dynamiken der digitalen, globalisierten Welt auseinander, indem er, auf frühere Thesen zurückgreifend, sich auf die bereits fokussierte Kluft zwischen Dichter und Masse, poetischer Sprache und gesellschaftlichem Mainstream erneut konzentriert. Ausgangspunkt und zugleich Hauptkern dieser Prosaskizze ist die Thematisierung der abgesonderten Position des Dichters in der zeitgenössischen Mediengesellschaft, die als Folge einer grundsätzlichen „Incommunicabilitas“ gedeutet wird. Über die konventionelle Links-Rechts-Opposition hinaus, die sein ästhetisches Denken der 90er Jahre stark geprägt hatte, versteht Strauß die soziokulturelle Landschaft zu Beginn des neuen Jahrtausends als eine zunehmend polarisierte: Einerseits die Mehrheit der „Menschen im Konsens“, andererseits die aussterbende Minderheit isolierter Figuren, die sich bewusst fern von der massenkommunikativen Öffentlichkeit halten. Zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts ist der Typus des Außenseiters aus Gesellschaft wie Literatur so gut wie verschwunden. Der Einzelgänger, der sich fern von neuen Foren hielte, die nur nach Eingemeindeten zählen, besäße heute keinerlei Nimbus mehr, sondern erschiene wohl den meisten als schrullige Figur.2 1

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Botho Strauß: Lichter des Toren. Der Idiot und seine Zeit. München: Diederichs Verlag 2013. Antizipiert wurde die Buchveröffentlichung durch zwei Vorabdrucke: Variationen über den Idioten und seine Zeit. In: Neue Zürcher Zeitung, 26.5.2012 und Der Plurimi-Faktor. Anmerkungen zum Außenseiter. In: Der Spiegel (29.7.2013), 31, S. 108–112. Während der erste Artikel kaum rezipiert wurde, konnte sich Der Plurimi-Faktor einer viel stärkeren Resonanz erfreuen, nicht zuletzt da er genau 20 Jahre nach Strauß’ umstrittenem Essay Anschwellender Bockgesang dieselben provokatorischen Positionen mit schärferen Tönen vertritt bzw. weiterentwickelt (vgl. Botho Strauß: Anschwellender Bockgesang. In: Der Spiegel (8.2.1993), 6, S. 202–207. Jetzt auch in: Ders:. Der Aufstand gegen die sekundäre Welt. Bemerkungen zu einer Ästhetik der Anwesenheit. München: Karl Hanser Verlag 2004, S. 55–78). Strauß: Lichter des Toren (wie Anm. 1), S. 11. Zu Strauß’ Auffassung von Links und Rechts, die in Anlehnung an Adorno als rein kulturkritische Kategorien verstanden werden, vgl. insbesondere Herwig Gottwald: Botho Strauß – Eine kurze Einführung in Haupttendenzen seines

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Gegen die „stete Anpassung nach unten“, die sich in seinen Augen aus dem befremdlichen Primat der „Quoten“ ergibt, feiert Strauß die Rolle des Dichters als Außenseiter, indem er ihm die irritierend souveräne Würde des ,Idioten verleiht‘ – eine Bezeichnung, die im Anschluss an Dostojewskis literarischem Vorbild durch den programmatischen Rückgriff auf das altgriechische Wort durchaus im etymologischen Sinne verstanden werden will: ‘Iδιώτης, l’homme isolé, der Unverbundene, der Unbegreifliches spricht. Er dreht sich wie eine abgerissene Rose im Flußstrudel zielstrebiger Menschen. Menschen im Konsens. Eingemeindete. Zugehörige eines wundersamen Einvernehmens. Zielstrebige Personen, doch über ihr Ziel täuschen sich alle. Privatperson. Gemeinschaftsstümper. Idios: beiseite, abseits befindlich; den einzelnen betreffend, dem einzelnen zugehörig. Idioteia: Privatleben. Torheit. Der idiot savant, wie man zuerst den Autisten nannte, wäre als Begriff zu entlasten und vielleicht verwendbar für jene Abenteurer, die anders verbunden sind als nur untereinander. Das Verbundensein wiedererstarkt in der Absonderung. Der Abgesonderte ist ja der idiotes im antiken Wortsinn.3

Von der literaturgeschichtlichen Genealogie des Begriffs und dessen an Nietzsche angelehnten unzeitgemäßen Implikationen ausgehend, zitiert Strauß mehrere antike und moderne Quellen der westeuropäischen Tradition, greift etwa in Zusammenhang mit der deutschen Variante der „Verblödung“ auf Jonathan Swift und Edward Young, Gustav Flaubert und Witold Gombrowicz, um dann abschließend auf das

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Werks. In: Diana Florea/Simone Gottschlich et al. (Hg.): AugenBlicke. Multiperspektivischer Zugang zum Werk von Botho Strauß. Würzburg: Könighausen & Neumann 2013, S. 1–12. Nach Gottwald gilt Strauß’ Kritik dem „politischen Mainstream der linksliberalen Intelligenz, des Feuilletons und auch der Höhenkammliteratur“; so sei die Rechte als „Kritik an Lebensformen“ zu verstehen, die „zum Verlust der Erinnerung an das kulturelle Erbe führen“: „Der „Rechte“ ist für ihn [=Strauß] Außenseiter der Kultur, Kämpfer für eine elitäre und konservative Antwort auf den „kulturellen Mainstream“ der „Linken“. […] Gegen die Vertreter der für ihn epigonalen und pseudoemanzipatorischen „Totalherrschaft der Gegenwart“, die er in den Nachfolgern der ‚Achtundsechziger‘ zu erkennen glaubt, richtet er seine Appelle zum „Mut zur Sezession“ an eine Elite kultureller Außenseiter.“ (Ebd., S. 3 f.). Strauß: Lichter des Toren (wie Anm. 1), S. 11. In der griechischen Polis bezeichnete der Begriff idiot denjenigen, der sich aus öffentlichen politischen Angelegenheiten heraushielt. Im Lateinischen bezeichnete das entlehnte Wort idiota nicht nur den Privatmann, sondern auch den „Stümper“, den „unwissenden Menschen“. Die aktuelle Bedeutung „Narr, Blöd- oder Schwachsinniger“ verbreitete sich zuerst im 14. Jahrhundert in der englischen Sprache; im Deutschen setzte sie sich erst im 19. Jahrhundert durch (vgl. Das Digitale Wörterbuch der Deutschen Sprache (DWDS) der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften: http://www. dwds.de/?view=1&qu=idiot (zuletzt aufgerufen: 21.12.2016)).

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apokryphe Buch der Weisheit (22, 7-8) bzw. auf die darin enthaltene Ur-Charakterisierung des Narren zurückzuverweisen: Wer einen Narren lehrt, der leimt Scherben zusammen oder handelt wie einer, der jemand aus tiefem Schlaf weckt. // Wer mit einem Narren redet, der redet mit einem Schlafenden, der am Ende fragt: Was ist denn?4

Wird bei der Darstellung des idiot savant („der Unverbundene, der anders verbunden ist“) die zeitkritische Funktion der „Absonderung“5 wiederholt hervorgehoben, so dient sie im Sinne der Argumentation Strauß’ der ebenso zeitkritischen Reflexion über die massen- bzw. konsensbildende Wirkung der neuen Medien6. Die Rede ist 4

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Strauß: Lichter des Toren (wie Anm. 1), S. 109. Im gleichen Zusammenhang zitiert Strauß aus Shakespeares Macbeth die berühmten Worte des Königs von Schottland, der das Geheimnis des Lebens bzw. der Kunst in der bedeutungslosen Erzählform eines Narren geborgen sieht: „A tale told by an idiot, full of sound of fury, signifying nothing.“ (William Shakespeare: Macbeth. Akt 5, Szene 5, V. 17–28; hier zit. nach Strauß: ebd., S. 110). Zur Rolle der literarischen Tradition im Werk Botho Strauß’ und deren Bedeutung in seiner Produktion der letzten Jahre siehe: Monika Wolting: „Gegen die Totalherrschaft der Gegenwart“ – Literarische Tradition im Werk von Botho Strauß nach der Wende. In: Carsten Gansel/Markus Joch/Monika Wolting (Hg.): Zwischen Erinnerung und Fremdheit. Entwicklungen in der deutschen und polnischen Literatur nach 1989. Göttingen: V&R unipress 2015, S. 365–378. Wie das Stammwort sonder suggeriert, soll auch das Wort „Absonderung“ etymologisch verstanden werden, und zwar als Abtrennung, Separation: „sonder Präp. […] Ahd. suntar (9. Jh.), mhd. mnd. sunder ‚außer, ohne’ […]. Voraus geht ein Adverb ahd. suntar ‚abseits, gesondert, für sich‘ (8. Jh.), mhd. mnd. sunder ‚auf eine gesonderte Weise, abseits, im Einzelnen, für sich, ausschließlich, ausgezeichnet, sehr‘, asächs. sundar ‚abgesondert, besonders‘, mnl. sonder, aengl. sundor ‚beiseite, für sich‘ (in engl. asunder ‚auseinander, entzwei‘), anord. sundr ‚gesondert, auseinander, entzwei‘, got. sundrō ‚abgesondert, allein‘ […].“ (Vgl. Das Digitale Wörterbuch der Deutschen Sprache (wie Anm. 3), http://www.dwds.de/?view=1&qu=absondern (zuletzt aufgerufen: 21.12.2016)). Strauß’ Medienkritik speist sich von verschiedenen philosophischen Impulsen. Zuerst als Student und dann als junger Theaterkritiker setzte er sich bereits in den 1960er Jahren mit der Frankfurter Schule auseinander. Adornos Minima Moralia.– Reflexionen aus dem beschädigten Leben (1951) und Blochs Das Prinzip Hoffnung (1954–1959) zählten damals zu seinen beliebtesten Lektüren, zu denen sich bald darauf Texte von Benjamin, Nietzsche, Kierkegaard, Heidegger, Foucault gesellten. (Vgl. u.a. Volker Hage: Schreiben ist eine Séance. Begegnungen mit Botho Strauß (1980 und 1986). In: Michael Radix (Hg.): Strauß lesen. München: Carl Hanser Verlag 1987, S. 188–216, hier S. 215). Doch wesentlich breiter ist das Spektrum der Autoren, die im Gesamtwerk Strauß’ zitiert werden. Dirk M. Becker fasst etwa Susanne Lämmermanns literarische Inventararbeit folgendermaßen zusammen: „von Aitmatow, Albers, Augustin, Benn, Bertram, Beuys, Blake, Böhme, Bosloungh, Brecht, Briggs, Burckhardt, Caproni, Colli, Descartes, Dostojewski, Eccles, Flaubert, von Foerster, Franck, von Glasfeld, Goethe, Gogol, Gombrowicz, Hawking, Heidegger, Heine, Hofmannsthal, Hofstadter, Hölderlin, Hoyle, Ibsen, Jaynes, Jünger, Kant, Kassner, Keidel, Kierkegaard, Kleist, La Violette, Mandelbrot, Mann, Martin,

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dabei von „Kaltschnauzen, die […] überhaupt nur als Massenteilchen zur Kommunikation existieren“, „Modularen oder Kombi-Menschen“ oder gar „Replikanten“7, die für die negativen Effekte der technologieabhängig uniformierten Verhaltensmuster stehen, nicht weniger als vom medienkodierten Sprachgebrauch, das zur Prägung von unreflektierten Stereotypen entscheidend beiträgt: Die Konsensivitäten von heute berühren sich mit den Baconschen idola fori – Idolen des Markts. (Bruchstücke einer „vorurteilsvollen Sinnesart“). Sie entstanden seit jeher aus engem Beieinander und dem Gemeinschaftsdrang des menschlichen Geschlechts. Ihr Bindemittel sind die Übereinstimmungsklischees.8

Sich auf Bacons Novum Organum stützend, zitiert Strauß dessen Definition der „Götzenbilder des Marktes“9, die als entscheidendes Bindemittel für die Herstellung eines öffentlichen Konsenses betrachtet bzw. als problematische Konsequenz der durch die sozialen Netzwerke verbreiteten Kommunikationsmechanismen in der digitalen Gegenwart reflektiert werden: Seid umschlungen, Millionen, hielt man die längste Zeit für eine gewagte menschenselige Hyperbel, bis sich zeigte, dass sie die Zukunft der Facebook-Freundschaften, das Alle-WeltGefühl des Stubenhockers besang. Darin sind alte Einsamkeit und alte Geselligkeit gleichermaßen verloren.10

Marturana, Minsky, Mombert, Mörike, Musil, Newton, Nietzsche, Pascal, Pavese, Peat, Picard, Platen, Platon, Popper, Pound, Prigogine, Proust, Rauschenberg, Rossellini, Ruskin, Schlegel, Schmidt, Schwenk, Shakespeare, Skrjabin, Spielhagen, Stanislawski, Steiner, Swift, Thales, Tizian, Tschechow, Varela, Valéry, Weiß, Wheeler bis Young und Ziegler […].“ (Dirk Michael Becker: Botho Strauß: Dissipation. Die Auflösung von Wort und Objekt. Bielefeld: transcript 2004, S. 8 f.; Susanne Lämmermann: Für unser Werk, mein Liebster! Die Thematisierung von Produktion im Erzählwerk von Botho Strauß. Frankfurt/M.: Peter Lang 1996, S. 78–80). 7 Strauß: Lichter des Toren (wie Anm. 1), S. 18, 111 und 119. 8 Ebd., S. 79. 9 Vgl. Bacon: „Die Götzenbilder des Marktes sind die lästigsten von allen; sie haben durch ein Bündniss der Worte und Namen den Geist für sich eingenommen. Die Menschen glauben, dass ihr Geist dem Worte gebiete; aber oft kehren die Worte ihre Kraft gegen den Geist um; davon sind die Philosophie und die Wissenschaften sophistisch und unthätig geworden. Die Worte werden meist nach der Auffassung der Menge den Dingen beigelegt, und diese trennt sie nach den Richtungen, welche dem gewöhnlichen Sinne am auffallendsten sind.“ (Francis Bacon: Neues Organon. Übersetzt, erläutert und mit einer Lebensbeschreibung des Verfassers versehen von J. H. v. Kirchmann. Berlin: Heimann 1870, Erstes Buch: 59. Hier zitiert nach: Projekt Gutenberg – DE. http://gutenberg.spiegel.de/buch/neues-organon-7708/8, zuletzt aufgerufen: 24.02.2017). 10 Strauß: Lichter des Toren (wie Anm. 1), S. 79–80.

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Zwischenmenschliche Beziehungen und Alltagserfahrungen, individuelle und kollektive Erinnerungsprozesse: Der Zeitgeist des postmodernen Menschen spiegelt in Strauß’ Augen die gründlichen Transformationen nicht nur des Raum-, sondern auch des Zeitgefühls wieder, welche die Welt der neuen Technologien kennzeichnen. Verheerendes Resultat dieser Prämissen ist nach diesem Deutungsmodell eine artifizielle Nivellierung der Zeitwahrnehmung, die sich als täuschende Gleichzeitigkeit des Vergangenen und des Zukünftigen in Gestalt einer immerwährenden Gegenwart auswirkt: Starke Elemente der digitalen Technik sind Speicher, Cloud und Dauerpräsenz (das totale Präsens). Sie modulieren auch den persönlichen Erinnerungsraum. Wir erfahren mehr und mehr das Gedächtnis als ein Medium der Gleichzeitigkeit. Was damals war, ist nicht vergangen, sondern ewig verfügbar als ein Bestandteil des Simultanen.11

Auch in diesem Fall geht Strauß’ kulturdiagnostische Haltung mit seiner elitären Kunstauffassung einher. Hat das liberal-demokratische Motto Kultur für alle12 in seinem Denksystem zu einem Verlust der gesellschaftskritischen Funktion des Intellektuellen bzw. zu einer allgemeinen Anpassung an die Logik falscher Ziele („Dekor, Markt und Beliebigkeit“) geführt, so kritisiert er hier umso schärfer die herrschende Werthierarchie der medialen Gegenwart: Der ästhetische Urfehler ist der Plurimi-Faktor: das Hohe zugunsten des Breiten abzuwerten. Das Untere zur obersten Interessensphäre zu machen. Das Breite zur Spitze zu erklären. Inzwischen paktiert auch die Kunst liebedienerisch mit Quote und breitem Publikum. Kaum einer, der Verbreitung nicht für Erhöhung hielte.13

Mit dem Stichwort „Plurimi-Faktor“ definiert Strauß die Überbewertung des Mehrheits-Prinzips („des Breiten“) und die entsprechende Unterschätzung der Rangstellung des Besonderen („das Hohe“), woraus sein ausgeprägtes Misstrauen gegenüber dem massenmedialen Charakter der Internet-Ära hervorgeht: „Das ‚Netz‘ als Symbol 11 Ebd., S. 102. 12 Ebd., S. 116. Hilmar Hoffmanns Leitsatz „Kultur für alle“ zieht sich wie ein polemisches Leit-

motiv durch die kritische Reflexion Strauß’, der schon zu Beginn der 1980er Jahre in einem Artikel über die theatralische Poetik Dieter Sturms die Worte des Dramaturgen in die eigene provokatorische Maxime umgewandelt hatte: „Kunst ist nicht für alle da“ (vgl. Hilmar Hoffmann: Kultur für alle. Perspektiven und Modelle. Frankfurt/M.: S. Fischer 1984 und Botho Strauß: „Der Geheime“. Über Dieter Sturm, Dramaturg an der Berliner Schaubühne. In: Die Zeit, 23.5.1986). 13 Strauß: Lichter des Toren (wie Anm. 1), hier S. 32–33.

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des Einen und Ganzen trägt in sich ein großes und heilloses Durcheinander […], ein Pseudo-Alles, in dem nichts mehr zu unterscheiden ist, weder wahr von falsch noch Faktum von Fiktion, noch heute von gestern und morgen.“14 Konsequent erläutert er am Beispiel von Marcel Prousts À la recherche du temps perdu das digitale Lesen als einen rückschrittlichen Wendepunkt im Umgang mit Literatur, welche nun – fern von ihrem ursprünglichen wirkungsästhetischen Rahmen – zum reinem Bestandteil des diffusen Regimes von Wissen und Information degradiert worden sei: Es gibt selbstverständlich eine starke Tradition von Proust-Lesern bis auf den heutigen Tag. Und jeder von ihnen wird die Bergotte-Episode, den Tod Bergottes als einen der Höhepunkte des Romanwerks ansehen. […] Unzähligen bleibt die Episode frei zugänglich in irgendeinem Online-Archiv, auf das sie ohne Absicht und vielleicht nur zufällig stoßen. Während früher nur eine überblickbare Schar Eingeweihter davon Kenntnis besaß, weil sie eben Proust-Leser waren. Heute verirrt sich mancher im Wald der vielen Wegweiser oder links zu etwas, das er nie suchte.15

Stellt Internet ein ungeordnetes Archiv dar, das dem Leser literarische Quellen jederzeit zur Verfügung zu stellen vermag, so betrachtet Strauß das Lesen im digitalen Zeitalter als eine fragmentarisch gewordene Erfahrung, die durch das technische Dispositiv der automatischen Weiterleitungen über Links den Text zerstückelt und somit die ästhetische Wirkung grundsätzlich in Frage stellt. Dadurch wird das „Segment“ zur grundierenden Texteinheit sowohl beim Lesen also auch beim Schreiben, das nicht nur die Rezeption der literarischen Werke, sondern auch deren Entstehungsmechanismen und Produktionsverfahren beeinflusst, indem es die traditionsgemäß linearen Formen des realistischen Erzählens subvertiert. Im Übrigen ist nicht zu leugnen, dass diese neuen digitalen Verfahren jede Erinnerung an den „Realismus“ unserer erzählerischen Vorfahren behindern oder sogar schon gelöscht haben. Es fällt mir von Mal zu Mal schwerer, der alten linearen Narrationsform zu folgen, der Geschichte eines Romans. Mein assimilierter Text ist daher das gedrängte Segment, mein Echo der Abschnitt, der nicht in einer Folge, sondern in einer untergründigen („vernetzten“) Verbindung zu allen übrigen Segmenten steht, die miteinander am Ende ein simultanes Tableau und keinen Verlauf ergeben. Mein digitales Maß die Minutie, Fingerabdruck meiner Zeit und Weile. Die Kleinigkeit, die unverkennbar macht.16

14 Ebd., S. 117 f. 15 Ebd., S. 103 [Hervorhebung im Original]. 16 Ebd., S. 76 f.

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Als fragmentarisch ist freilich auch die stilistische Grundgeste des Essays Lichter des Toren zu bezeichnen, in dem Anekdoten und philosophische Betrachtungen, aphoristische Bilder und lose Gedankengänge in einem freien Duktus aneinander gereiht werden.17 Hier radikalisiert Strauß die diskontinuierliche Struktur seiner früheren Werke, indem er sich eine dekonstruktive Kritik der Kommunikation in Verbindung mit der digitalen Vernetzung vornimmt. Das Ergebnis ist ein komplexer Entwurf, der sich am Rand des Literarischen bewusst situiert und als Reflex des abstrakt-reflexiven Sprechhabitus des ‚Idioten‘ textuell inszeniert wird. Erweisen sich die Zusammenhänge zwischen einzelnen Passagen als oft flüchtig oder gar hermetisch, so zielt Strauß durch das Spannungsverhältnis zwischen Motiven bzw. Zitaten aus eigenen oder fremden Quellen dennoch auf eine interne Kongruenz im Sinne einer „Werkdialogizität“18 ab. Die Anspielungen auf die eigenen Texte von früheren Jahren werden als theoretische Brückenschläge verstanden, die es dem Leser ermöglichen sollen, sein poetisches Programm zu rekapitulieren – von den ersten Spuren des „ästhetischen Fundamentalismus“19 der 60er Jahre über 17 Botho Strauß hatte bereits in Paare, Passanten (1981) seinen diskontinuierlichen Stil erarbeitet,

der einerseits ausdrücklich an Montaigne anlehnt, andererseits durch die Lektüre von Adorno und Benjamin beeinflusst ist. In den Texten der 1980er und vor allem der 1990er Jahre radikalisiert sich diese Ästhetik, wobei eine progressive „Poetisierung und Fragmentarisierung des Dargestellten“ festzustellen ist: „Mit der Negation einer in sich geschlossenen Formgestaltung richtet sich der Fokus fortan auf die Suchschemata des Elementaren und des Einfachen [BFL, 76] das heißt: nicht auf den geschlossenen Zusammenhang, sondern auf das Ungeordnete, „das Versprengte“ [BFL, 133].“ (Simone Gottschlich: Linie und Kreis – Konzeptionen des Zeitlichen im Prosawerk von Botho Strauß. In: Florea/Gottschlich et al.: AugenBlicke (wie Anm. 2), S. 46–88, hier S. 66–67; Zitiert mit der Sigle BFL wird Botho Strauß: Beginnlosigkeit. Reflexionen über Fleck und Linie. München: Carl Hanser Verlag 1997). 18 Dass die Sprach- bzw. Formzersplitterung der Texte Strauß’ nicht zur totalen Zusammenhanglosigkeit führt, hebt Gottschlich hervor: „Somit ist in Strauß’ Werken auch hinsichtlich der formalen Gestaltung in der Regel keine völlige Zusammenhanglosigkeit zu verzeichnen, insofern der einzelne Text durch diverse Verfahren der Textverknüpfung (zum Beispiel mithilfe von Leitmotiven und immer wiederkehrenden Symbolen), wie auch die verschiedenen Teile des Gesamtwerks durch homo-intertextuelle Verweise, das heißt durch eine umgreifende ‚Werkdialogizität‘, miteinander verbunden sind.“ (Gottschlich: Linie und Kreis (wie Anm. 17), S. 68). Vgl. dazu auch: Charlotte Schubert: Zitate und Fragmente: Die kulturelle Praxis des Zitierens im Zeitalter der Digitalisierung. In: Charlotte Schubert/Markus Klank (Hg.). Das Portal eAQUA – Neue Methoden in der geisteswissenschaftlichen Forschung III, Leipzig, 2012. S. 3–30. http://journals.ub.uni-heidelberg.de/index.php/eaqua-wp/issue/view/1361/showToc (zuletzt aufgerufen: 29.12.2017); Ute Tischer: Zitat, Fragment und Kontext. Enn. Ann. frg. 6,14 Sk. und die Rolle von Kontextfaktoren bei der Deutung von Fragmenten. In: Hermes 143, (2015), 3, S. 333–355. 19 Zu Strauß’ Grundkonzeption eines „poetischen Fundamentalismus“ vgl. insbesondere sein Essay: Die Distanz ertragen. Über Rudolf Borchardt. In: Ders., Der Aufstand gegen die sekundäre Welt (wie Anm. 1), S. 5–22, hier S. 14. Im Anschluss an Rudolph Borchardts Theorie der

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die „Ästhetik der Anwesenheit“20 der 1990er Jahre bis hin zur Poetik des Idioten zu Beginn des 21. Jahrtausends. Insbesondere die „Ästhetik der Anwesenheit“ spielt in diesem Zusammenhang eine entscheidende Rolle: Als Fortschreibung der politischen Protesthaltung der 70er Jahre „gegen die rationalistische Tendenz der westlichen Welt insgesamt und zugleich gegen ihre tiefsten institutionalisierten Grundlagen“21 bedeutet sie für Strauß eine Verschärfung der kulturkritischen Haltung durch eine besondere Fokussierung auf die Sprachkritik. Ausgangspunkt ist die durch George Steiner postulierte Unterscheidung zwischen primären und sekundären Diskursen, aus der das Strauß’sche Plädoyer für eine Literatur der Realpräsenz hervorgeht.22 Im Mittelpunkt dieses ,modernen Fundamentalismus’ steht in Strauß’ Augen einerseits eine prinzipielle Kritik des Journalismus als „umfassende Mentalität des Sekundären“, andererseits die magisch-mythische Energie des dichterischen Wortes, die als schöpferische Kraft gegen den Primat der kollektiven Meinungen und des unnötigen Geredes bejaht wird. Dadurch strebt Strauß eine Re-Sakralisierung der Poesie als „Befreiung des Kunstwerks von der Diktatur der sekundären Diskurse“23 an, wobei ihm der Elfenbeinturm als klassischer Legitimationsort der Absonderung der dichterischen Stimme vorschwebt.

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„schöpferischen Restauration“ plädiert Strauß bereits in diesem Aufsatz für eine Erneuerung der Kultur durch die Rückbindung an die Tradition, die als neu herzustellende Beziehung zwischen Antike und Jetzt-Zeit postuliert wird. Vgl. dazu Stefan Breuer: Ästhetischer Fundamentalismus. Stefan George und der deutsche Antimodernismus. Darmstadt: Primus 1995; Ders: Moderner Fundamentalismus. München: Philo Verlag 2002. Auf Breuer verweist Torsten Hoffmann in seiner Studie: Konfigurationen des Erhabenen. Zur Produktivität einer ästhetischen Kategorie in der Literatur des ausgehenden 20. Jahrhunderts. [Handke, Ransmayr, Schrott, Strauß]. Berlin: de Gruyter 2006, S. 92: „Die Differenz zwischen ästhetischem und religiösem Fundamentalismus erklärt Breuer damit, dass bei ersterem nicht die ‚Normen und Regeln einer distinkten Religion, sondern lediglich die Empfindungen, die das Heilige auslöst – Gefühle des Respekts, des ahnungsvollen Ergriffenseins, der Scheu vor dem Erhabenen‘ […] interessieren.“ Strauß: Der Aufstand gegen die sekundäre Welt (wie Anm. 1), S. 37–53. (Zunächst unter dem Titel „Bemerkungen zu einer Ästhetik der Anwesenheit“. In: George Steiner. Von realer Gegenwart. Hat unser Sprechen Inhalt? München: Carl Hanser Verlag 1991, S. 305–320). Breuer: Ästhetischer Fundamentalismus (wie Anm. 19), hier S. 2. Vgl. Steiner: Von realer Gegenwart (wie Anm. 20). Strauß verwendet Steiners theologischen Begriff der „Realpräsenz“ in Bezug auf die poetische Sprache, indem er „die Verse eines Gedichts mit der Eucharistiefeier, d.h. der rituellen Feier der leibhaftigen Anwesenheit Jesu“ unmittelbar vergleicht. Insofern „Literatur dergestalt den Status einer „sakrale[n] Poetik“ (ASW, 308) erhält, vermag sie den für die Moderne typischen Bruch zwischen Zeichen und Bezeichnetem zu überwinden und der damit einhergehenden, letztlich Abwesenheit erzeugenden, Referenzlosigkeit von Sprache entgegenzuwirken.“ (Vgl. Gottschlich: Linie und Kreis (wie Anm. 17), hier S. 77; zitiert mit der Sigle ASW wird Strauß’ Aufstand gegen die sekundäre Welt (wie Anm. 1)). Strauß: Der Aufstand gegen die sekundäre Welt (wie Anm. 1), S. 41 ff.

„Der Unverbundene, der Unbegreifliches spricht“

Beide Rollen und Funktionen – der poeta doctus und der poeta vates – kommen hierhin zur Geltung und tragen dazu bei, das Profil des ,Idioten’ als re-aktualisierte Verkörperung des Gelehrten und des Propheten zu konturieren.24 Im Text wird diese Redefigur als Er- bzw. Ich-Instanz mit einem „Januskopf“ versehen („nach vorn blickt die Parodie des Informierten, der Info-Demente. Zurück blickt die Heiterkeit des Ungerührten“25), der Strauß’ ambivalente Haltung im Umgang mit den neuen Medien wiederspiegelt: Nun, ich mache alles mit, benutze das Handy mit Androidsystem, Blu-ray-Beamer, Navigationsgerät und High-end-Verstärker, jede elektronische, informationstechnische Neuerung reizt mich zum Kauf, ich lese die Zeitung auf dem Tablet. Aber ich weigere mich, das menschliche Schicksal in den Revolutionen des Komforts sich erfüllen zu sehen.26

Die sich rasend entwickelnden Technologien der Gegenwart sieht Strauß mit kritischem Blick an, indem er versucht, die Geste der eigenen Resistenz als Rettungsweg zu stilisieren. Hinter seiner „Revolte gegen die moderne Welt“27 kommt nämlich ein bewusst provozierendes Selbstbildnis zum Vorschein:

24 Vgl. dazu Gottwald: Botho Strauß (wie Anm. 2), S. 4 f.: „Der Begriff poeta doctus bezeichnet

den gelehrten Dichter, der seine Meisterschaft mehr auf handwerkliches Können und Wissen als auf Inspiration gründet. Der Begriff ist als Typus bereits in antiken Poetiken enthalten (bei Aristoteles und Horaz). Seit dem Humanismus dominiert diese Form von Autorschaft in der europäischen Literatur, durch den Sturm und Drang sowie die Romantik gewinnt zusehends der ebenfalls antike Typus des vates, des kultischen Dichtersehers, an Bedeutung, der über besondere Geistesgaben verfügt und als Empfänger bzw. Medium der geschauten göttlichen oder natur-religiösen Erscheinungen (Epiphanien) fungiert. In der neueren deutschen Literatur gibt es ab dem 18. Jahrhundert bedeutende Repräsentanten des Dichter-Sehertums, von Klopstock, Novalis, Hölderlin über Nietzsche, Stefan George und Ernst Jünger bis zu Peter Handke und eben Botho Strauß, den man – zumindest mit großen Teilen seines Werks – in jene ‚pontifikale Linie‘ der deutschen Literatur einordnen könnte.“ Zu Strauß’ Beziehung zur Romantik siehe u.a.: Nadja Thomas: „Der Aufstand gegen die sekundäre Welt“. Botho Strauß und die „konservative Revolution“. Würzburg: Königshausen & Neumann 2004; Sigrid Berka: „Vorsicht Lebensgefahr“. Die Spätfolgen der Romantik bei Botho Strauß. In: Erika Tunner (Hg.). Romantik, eine lebenskräftige Krankheit. Ihre literarischen Nachwirkungen in der Moderne. Amsterdam – Atlanta: Rodopi 1991, S. 187–208. 25 Strauß: Lichter des Toren (wie Anm. 1), S. 7. 26 Ebd., S. 76. Vgl. dazu Heribert Tommek: Botho Strauß’ Wiederherstellung der sakralen Kunstsphäre aus dem Geist der Zeitdiagnose. In: Ders: Der lange Weg in die Gegenwartsliteratur. Studien zur Geschichte des literarischen Feldes in Deutschland von 1960 bis 2000. Berlin, München, Boston: de Gruyter 2015, S. 331–345. 27 Strauß: Der Aufstand gegen die sekundäre Welt (wie Anm. 1), S. 47.

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Der Reaktionär ist Phantast, Erfinder (der Konservative dagegen eher ein Krämer des angeblich Bewährten). […] Zweifellos lebt er in Symbiose mit den Verhältnissen, die er verpönt, und einzig in seiner Sprache kann er sich über sie erheben. […] Der Reaktionär ist dem Wortsinn nach jemand, der reagiert – während andere noch stumm und willfährig bleiben.28

Mit dem Akt des „Reagierens“ verbindet sich in Strauß’ Poetologie die Wiederentdeckung des Mythos. Der Rückgriff auf alte Daseinsformen und Weltdeutungsmodelle stellt seinen Versuch dar, dem Subjekt-, Geschichts- und Sinnverlust der Gegenwart mit historischem Bewusstsein zu begegnen und somit die Gegenwart als geschichtlich geschichtete Materie in den Blick zu rücken.29 Die „Lichter“ des Toren, die im Essaytitel angedeutet werden, sind in diesem Sinn auch als Zeichen des Verdrängten in den dominanten Diskursen zu verstehen: Funken der Vergangenheit, die dank einem anamnestischen Prozess als Verbindung „zum mächtigen Einst“ in der dichterischen Sprache wieder auftauchen.30 Diese „rumorende“31 Sprache bleibt dennoch meistens unerhört, denn nur der ‚Idiot‘ ist in der Lage, sie wahrzunehmen: „Selbstverständlich gibt es keine bloße nackte Gegenwart, und selbst der reinste oder meinetwegen mystische Augenblick bricht aus irgendeiner tieferen Vergangenheit hervor, der geschichtlichen Erfahrungswelt, aber eben als versprengter Klumpe, nicht als Teil einer temporalen Verkettung, und sein Verglühen im Jetzt ist sein Erleuchten.“32 Als ein Fremder in der eigenen Sprache 28 Strauß: Lichter des Toren (wie Anm. 1), S. 43 und 104. Mit Verweis auf Steiners kunsttheore-

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tische Positionen versteht Strauß die Figur des Reaktionären bereits in Der Aufstand gegen die sekundäre Welt in einem durchaus positiven Sinn, nämlich als Kämpfer „gegen Vergeßlichkeit in jeder Epoche“: „Der Reaktionär ist eben nicht der Aufhalter oder unverbesserliche Rückschrittler, zu dem ihn die politische Denunziation macht – er schreitet im Gegenteil voran, wenn es darum geht, etwas Vergessenes wieder in die Erinnerung zu bringen.“ (Strauß: Der Aufstand gegen die sekundäre Welt (wie Anm. 1), hier S. 49). Vgl. dazu Henriette Herwig: Verwünschte Beziehungen, verwebte Bezüge. Zerfall und Verwandlung des Dialogs bei Botho Strauß. Tübingen: Stauffenburg 1986 und Anja Maria Richter: Das Studium der Stille. Deutschsprachige Gegenwartsliteratur im Spannungsfeld von Gnostizismus, Philosophie und Mystik. Heinrich Böll, Botho Strauß, Peter Handke, Ralph Rothmann. Frankfurt/M.: Peter Lang 2010. Vgl. dazu Diana Florea: „Die Rückkehr des Verdrängten (oder auch des nur Vergessenen) auf gesellschaftlicher Ebene – ein Phänomen, dass Strauß in mehreren Texten als Emporsteigen eines Rumoren aus geschichtlicher Tiefe beschreibt – entspricht einer Drohung von Unordnung und Zerstörung, hat aber auch das Potenzial der Erneuerung. Noch erkennen nur wenige den Rumor.“ (Diana Florea: Sprechen, Schweigen, Schreiben bei Botho Strauß. Das Thema der verbalen Kommunikation als selbstreflexive Auseinandersetzung des Schriftstellers mit den Möglichkeiten der Sprache. In: Florea/Gottschlich: AugenBlicke (wie Anm. 2) S. 13–45, hier S. 31). Strauß: Lichter des Toren (wie Anm. 1), S. 96. Ebd., S. 98.

„Der Unverbundene, der Unbegreifliches spricht“

fühlt sich der Dichter: In Strauß’ Stilisierung gilt er als Anachronist, dessen Offensive als „Voranstürmender der Erinnerung“ in der Isoliertheit der sprachlichen Schöpfung unbeachtet stattfindet. Verbunden ist er mit der vorbildlichen Tradition der deutschen „Zerrissenen“, zu der in erster Linie Hölderlin und Nietzsche, aber auch Keller, Heidegger und Jünger, gehören, insofern sie sich als „ungestüme Widersacher“ ihrer Epoche zu behaupten wussten: „Ein Fremder im eigenen Lande ist man dennoch nicht wegen der Ausländer und Zugewanderten, sondern angesichts der Selbstentwurzelung seiner Landesleute. Dieser Fremde ist kein Ausgestoßener, sondern jemand, der in seiner Zeit, eine Fremdsprache denkend und sprechend, umherirrt.“33 Die sich nach außen abschirmende, geheimnisvolle Sprache des Dichters, stellt somit Strauß’ Antwort auf die Entfremdung der Massengesellschaft dar, wobei die Geste der auratischen „Incommunicabilitas“ der stilistischen Entscheidung für einen kalkulierten Hermetismus entspricht. Flüchtig die tieferen Dinge berühren, mit fluchtbereiten Gedanken oder manchmal wie ein Blinder, der mit den Händen nur eben nach bekannten Stellen tastet, um den weiteren Weg zu finden. Nur leicht gestreift, nur beiläufig erwähnt. Nur eben so. Nur gerade so eben. Umgang mit Ideen etwa so, wie wenn dich Blicke wacher Frauen streifen.34

Von der Erfahrung des sprachlichen Wirrwarrs zur endgültigen Katastrophe: Radikal stellt Strauß den ,Idioten‘ als einzig Überlebenden nach dem unaufhaltsamen Zerfall der Gegenwartsgesellschaft dar. Mit einem nihilistisch anmutenden Ton malt er sich das Ende bzw. die Apokalypse als spiralförmige Bewegung aus, wobei der einzige, der in dieser Vision überlebt, ist eben der Poet, der ,Idiot‘: Du stehst im Rauch von eingebrochenen Bauten, der Duft von Trümmern berauscht dich noch. Du bist nicht mitgestürzt. Schade. Du kriechst, Blakes Nebuchadnezzar gleich, um den Rand des Trichters, den ihr Sinken riß, und rufst nach dieser zauberhaften Stadt. Umrundest unermüdlich den scharfen Saum und erblickst nichts mehr, in die Tiefe starrend, von wo dich Dunst und Rauch benebeln.35

Hier nimmt Strauß’ negative Utopie literarische Gestalt an. Heraufbeschworen wird der Anbruch einer neuen Epoche, in der die Herausbildung eines mythischen Bewusstseins im Sinne eines kreisförmigen Ineinanderfließens von vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Zeiträumen als Voraussetzung für einen großen Befreiungsakt imaginiert wird, der die lineare Einseitigkeit des historischen Blicks 33 Ebd., S. 15 f. und 140. 34 Ebd., S. 21 f. 35 Ebd., S. 113.

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überwinden soll.36 In dieser Hinsicht wird das Schreiben selbst zum esoterischen Rettungsakt, der sich in der transfigurierenden Dimension des „Gewärtigens“ verwirklicht und sich insoweit als Re-Inszenierung des magisch-religiösen Verwandlungswunders der Eucharistie versteht.37 Kulturpessimismus und Elitebewusstsein begegnen sich noch einmal in den Schlussworten des Essays in der Verwerfung der Kommunikationsmechanismen der digitalen Gegenwart.38 Disktinktionsbemüht passt sich der „reaktionäre“ Dichter der Totalherrschaft der Gegenwart nicht an, indem er sich bewusst am Rande der massenmedialen Öffentlichkeit verortet: „Seine Position sei für ihn die einzig richtige, sonst aber für niemanden empfehlenswert.“39 „Friedlich und verwundert“ beobachtet er konsequent die unbequeme Rangstellung des ,Idioten‘, der sich abseits der Mehrheit gezwungen sieht, auf verlorenem Posten zu stehen: „Für sie war er versiegt, das spürte er wohl selbst, die ganze Person war ihnen nur noch zum Übersehen da.“40

36 Das Thema ist bekanntlich nicht neu im Werk von Botho Strauß. Seine Zeitkonzeption als

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Negation der linearen Zeitvorstellung hat etwa Gottschlich am Beispiel von Strauß’ Beginnlosigkeit als „sukzessive Aneinanderreihung von Jetztpunkten“ bzw. als „Allzeit“ erläutert. (vgl. Gottschlich: Linie und Kreis (wie Anm. 17), hier S. 58 f.). Die Spiralform der Zeit ist bereits in Strauß’ Roman Der junge Mann (1984) zentral. Hier beschreibt der Autor „die Gestalt der Zeit mit Hilfe des Begriffs der Spiralität, die die Gestalt der Zeit ‚unfaßlich‘ mache, aber nötig sei, weil der Mensch als linear denkendes Wesen in einer prinzipiell zyklischen Welt lebe“. (Ralf Kühn: TempusRätsel zum Tempuswechsel – Moderne Zeitdiskurse und Gegenwartsliteratur zwischen Berechnung und Verrätselung der Zeit. Tübingen: Dissertation 2004, S. 1073). Strauß: Der Aufstand der sekundären Welt (wie Anm. 1), S. 41 und dazu Thomas Assheuer: „Wie der Priester im christlichen Abendmahl Fleisch und Blut in Brot und Wein verwandelt, so soll der Strauß’sche Dichter die medial zerstreuten Wörter neu versammelt in ihren ursprünglichen Bedeutungsgrund transubstantiieren.“ Thomas Assheuer: Tragik der Freiheit. Vom Remscheid nach Ithaka. Radikalisierte Sprachkritik bei Botho Strauß. Bielefeld: transcript 2014, S. 155. Vgl. Oliver van Essenberg: Kulturpessimismus und Elitebewusstsein. Zu Texten von Peter Handke, Heiner Müller und Botho Strauß. Marburg: Tectum Verlag 2004. Strauß: Lichter des Toren (wie Anm. 1), S. 173. Ebd., S. 175.

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Gegen die „Totalmedialisierung“ der Gegenwart · Zu Ulrich Peltzers Poetik des Realismus „Was nutzen mir historische Ruinen? Ich will mehr Gegenwart.“ – Mit programmatischer Geste übernimmt Ulrich Peltzer die scharfe Stellungnahme Rolf Dieter Brinkmanns und verwendet sie als Motto des ersten Abschnitts seiner Frankfurter Poetikvorlesungen (2011)1. Das Zitat setzt einen unmittelbaren Akzent auf eine Schlüsseldimension der Poetik Peltzers, die auf eine ästhetisch-kritische Durchleuchtung des komplexen Sozialgefüges der zeitgenössischen Realität abzielt und sich dabei auf „ein theoretisches Interesse“ für das spekulative Wissen der Kultur- und Gesellschaftstheorien stützt.2 Die Intention einer „Darstellung oder Untersuchung des Alltagslebens in der modernen Welt“3 setzt einerseits einen objektiven Blick auf die Gegenwart, andererseits eine subjektive Perspektive voraus: Es geht darum, „Gesellschaft über und durch das Subjekt, über Subjektivität zu verstehen“ und „in welcher Relation beides steht“.4 In dieser Hinsicht versteht Peltzer seine Figuren als seismographische Dispositive der Narration und das Schreiben selbst als ein Lesen der „Symptome der Welt“5:

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Vgl. Ulrich Peltzer: Angefangen wird mittendrin. Frankfurter Poetikvorlesungen. Frankfurt/M.: S. Fischer 2011, S. 7. Allerdings variiert bzw. verstärkt Peltzer die Emphase der Originalaussage Brinkmanns: „Und was nützen mir historische Ruinen?: Ich möchte mehr Gegenwart!“. (Vgl. Rolf Dieter Brinkmann: Rom, Blicke. Reinbek: Rowohlt 1979, S. 145). [Hervorhebung L.L.] Zur besonderen Rolle der französischen Philosophie vgl. Paul Fleming/Uwe Schütte: „Der Text hat seinen Eigensinn“. Interview mit Ulrich Peltzer. In: Paul Fleming/Uwe Schütte (Hg.): Die Gegenwart erzählen. Ulrich Peltzer und die Ästhetik des Politischen. Bielefeld: transcript 2014, S. 7–26 und insbesondere S. 12 f., wo Peltzer auf Foucault, Lyotard, Deleuze, Guattari und Virilio ausdrücklich zu sprechen kommt. Peltzer: Angefangen wird mittendrin (wie Anm. 1), S. 19. Fleming/Schütte: „Der Text hat seinen Eigensinn“, S. 13. Im bereits zitierten Interview kommentiert Peltzer die Rolle des Protagonisten von Bryant Park (2002) mit folgenden Worten: „[…] die ganze Stadterfahrung von New York fließt durch ihn durch, und er ist mehr oder weniger so ein Aufzeichnungsgerät, ein Seismograph.“ Vgl. Fleming/Schütte: „Der Text hat seinen Eigensinn“ (wie Anm. 2), S. 19. sowie das auf 2008 datierte Gespräch mit Thomas David: „Es geht darum, sich – bevor man mit dem Schreiben beginnt – einen Begriff von der Gesellschaft zu verschaffen, in der der Roman situiert sein soll. Das ist natürlich eine analytische oder begriffliche Arbeit, die auch künstlerische Folgen hat, aber nicht dazu führen darf, dass ich die Ergebnisse meiner Gesellschaftsanalyse hinterher leitartikelmässig in meinem Buch wiedergebe.“ Vgl. Thomas David: Über die Gegenwart nachdenken. Michael Kumpfmüller und Ulrich Peltzer im Gespräch über die Aktualität des Politischen in

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Eigentlich geht es darum, ein Subjekt als Medium zu setzen, um gesellschaftliche Wirklichkeit durch dieses Subjekt hindurch darzustellen, sozusagen subjektiviert durch dieses Subjekt. Insofern sind alle meine Bücher realistische Bücher, also Bücher des Realismus. Ich meine dabei »realistisch« nicht im Sinne einer literaturtheoretischen oder wissenschaftlichen oder geschichtlichen Gattung. Ich verstehe Realismus als den Versuch, gesellschaftliche Wirklichkeit nicht abzubilden, sondern in den Personen eines Buches einen Resonanzraum dafür zu schaffen.6

Konsequent spielt auch der Titel seiner Poetikvorlesungen – Angefangen wird mittendrin – auf einen poetologischen Topos – in medias res mit dem Erzählen zu beginnen – an und suggeriert zugleich den Beginn des Schreibens als „Situation radikaler Gegenwärtigkeit“7. Zentral für die Erkundung der gesellschaftlichen Wirklichkeit der Gegenwart ist für Peltzer ohne weiteres der urbane Raum. Ist New York als global city schlechthhin der Schauplatz von Bryant Park (2002)8, so kreisen die vier weiteren Romane – Die Sünden der Faulheit (1987), Stefan Martinez (1995), Alle oder keiner (1999) und Teil der Lösung (2007)9 – um das Westberlin der Mauerzeit bzw. um das Berlin der Wende und Wiedervereinigung. Es handelt sich aber „nicht so sehr um Berlin als geographischen Ort, sondern als Ausdruck einer bestimmten Bewusstseinslage“, wie Helmut Böttiger zu Recht beteuert, denn die Großstadt, in der Peltzers Geschichten spielen, dient eigentlich zur Scharfstellung eines mehrperspektivischen Blicks auf die Gegenwart. 10

der Literatur. In: Neue Zürcher Zeitung (26.04.2008). https://www.nzz.ch/ueber-die-gegenwart-nachdenken-1.719482 (zuletzt aufgerufen: 14.05.2017). 6 Fleming/Schütte: Interview mit Ulrich Peltzer (wie Anm. 2), S. 20. 7 Jesko Bender: Im Gespräch: Ulrich Peltzer. Warum sind Gefühle nicht das Wahre, Herr Peltzer? In: FAZ online (28.03.2011). http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/autoren/ im-gespraech-ulrich-peltzer-warum-sind-gefuehle-nicht-das-wahre-herr-peltzer-1609221.html (zuletzt aufgerufen: 14.05.2017). 8 Der Blick auf die amerikanische Metropole geht mit einem ausgesprochenen Interesse für die Erzählstrategien der amerikanischen Romanautoren einher: „Bei Gaddis […] war es natürlich die Art und Weise, wie er Dialoge schreibt. Die Elliptik der Dialoge, das Selbstverständliche nicht zu sagen, sozusagen sich in Sprüngen vorwärts zu bewegen, ähnlich wie bei DeLillo. […] Und dann die Gesellschaftspanoramen von Pynchon, der natürlich immer einen auktorialen Erzähler hat, dessen Position aber unterläuft, instabil macht, indem er den Text explodieren lässt […]. Und dann beispielsweise bei DeLillo, wie man historische Ereignisse erzählt. […] Alle diese Autoren scheinen mir näher zu sein bei dem, was ich mache: von Gesellschaft zu erzählen, Individuen zu umreißen, ohne eindeutig zu werden.“ Vgl. Fleming/Schütte: „Der Text hat seinen Eigensinn“ (wie Anm. 2), S. 23. 9 Zum Zeitpunkt der Tagung (September 2015) war Das bessere Leben gerade erst erschienen und ist deshalb nicht Bestandteil dieser Untersuchung. 10 Helmut Böttiger: Intensität und Sinn. Laudatio auf Ulrich Peltzer zum Berliner Literaturpreis 2008. In: Sprache im technischen Zeitalter 46 (2008), 3, S. 226–232, hier S. 226.

Gegen die „Totalmedialisierung“ der Gegenwart

Eine Art roter Faden verbindet die Texte entlang den Ereignissen der jüngsten Vergangenheit. Berlin ist das urbane Modell, an dem sich Peltzers Perspektive meistens orientiert, mit dem Ziel, „den globalen Veränderungen der letzten dreißig Jahre“11 Rechnung zu tragen – und zwar „weg von all diesem Ost-West-Blödsinn“12. Allerdings ist erst der fünfte Roman Teil der Lösung, der sich exemplarisch als Großstadtroman der Gegenwart herauskristallisiert: Hier wird das heutige Berlin als globale Großstadt dargestellt, wo die architektonischen und die städtebaulichen Transformationen eine Neuordnung mit bedingt haben, die der Autor durch eine detaillierte sozioökonomische Charakterisierung der Romanfiguren vermittelt.13 Die Geschichte spielt 2003 in Berlin. Protagonist ist Christian Eich, ein 36-jähriger freiberuflicher Journalist, der sich durch Gelegenheitsaufträge mühevoll über Wasser hält. Sein Weg kreuzt sich mit dem von Nele: Sie gehört einer Gruppe von jungen Aktivisten an, „die einem zunehmend als totalitär empfundenen System den Kampf angesagt haben und mit immer militanteren Mitteln Zeichen setzen wollen, gleichermaßen gegen den Verlust demokratischer Rechte und Werte, wie gegen die Folgen von Kapitalismus und Globalisierung“.14 Neben den beiden bewegen sich andere soziologisch charakterisierte Figuren, wie etwa Jakob Schüssler, der hingegen als Professor, Ehemann und Vater das Vorbild der Integration in der bürgerlichen 11 Ulrich Peltzer: Angefangen wird mittendrin (wie Anm. 1), S. 33. 12 „Ich will weg von all diesem Ost-West-Blödsinn. Das ist unerträglich. Das ödet mich nur noch

an. Ich habe einige jüngere Freunde, die noch in der DDR geboren wurden, für die das längst keine Rolle mehr spielt, bzw. biografisch nie gespielt hat. Die lesen Deleuze oder Foucault. Lebenslängliche Fixierungen an die Feinde von einst sind einfach nur ruinös“. Vgl. Jörg Magenau: Gespräch mit Ulrich Peltzer. „Ich will weg von all diesem Ost-West-Blödsinn.“ https:// www.boersenblatt.net/artikel-gespraech_mit_ulrich_peltzer.148716.html (zuletzt aufgerufen: 14.05.2017). 13 Über die Zentralität des Großstadtdiskurses bei Peltzer als paradigmatische Bühne der Postmoderne sind sich Kritiker und Rezensenten einig. Vgl. beispielsweise Susanne Ledanff: Haupstadtphantasien: Berliner Stadtlektüren in der Gegenwartsliteratur 1989–2008. Bielefeld: Aisthesis Verlag 2009, S. 20: „Bei Peltzer führt diese urbanomane Schreibtradition zu der erstaunlich späten Vorlage eines die Erwartungen an den ‚Metropolenroman‘ noch am ehesten ausfüllenden Berlinromans im Jahr 2007: Teil der Lösung, ein Roman, der aus der Anwendung von modernistisch-detailrealistischen Schreibweisen für die Bespiegelung einer zeitgenössischen großstädtischen Existenz zu verstehen ist.“ 14 Matthias Auer: Ulrich Peltzer. In Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. München: edition text+kritik 2006, S. 13. In diesem Sinne zeigt Teil der Lösung „die Effekte des Neoliberalismus am Beispiel von Christians prekärem Alltag“, aus dem man „die Unsicherheit und Unplanbarkeit der Lebens- und Arbeitsverhältnisse“ ablesen kann. Vgl. Heide Reinhäckel: „Liebe in Zeiten der Diskursanalyse, eines verschlissenen Alltags, prekärer Verhältnisse“. Ulrich Peltzers Teil der Lösung (2007) als kritischer Gegenwartsroman. In: Ders.: Traumatische Texturen. Der 11. September in der deutschen Gegenwartsliteratur. Bielefeld: transcript 2012, S. 161–168, hier S. 165.

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Stabilität darstellt. „Mir scheint,“ ergänzt Peltzer hierzu, „dass eine bestimmte Form des Konformismus auf eine eigenartige Weise heute wieder sozial prägnant wird“, wobei er eine solche „unreflektierte Rückkehr des Bürgerlichen“ als „ein fast schon resignatives Moment“ empfindet, das „vollkommen ausblendet, was auch an politisch-emanzipatorischem Potenzial im Bürgerlichen steckt“.15 Die Gesamtheit der Personen von Teil der Lösung scheint insofern symptomatisch das „Unbehagen der Postmoderne“16 abzubilden, das Peltzer unter dem Stichwort Leben oder Geld als Ergebnis der insgesamt zunehmenden Prekarisierung und sozialen Ungewissheit im Zeitalter des „Postfordismus“ (und dessen politischen Implikationen) reflektiert:17 Dass erhöhter Mobilitätsdruck, die Flexibilisierung und Automatisierung von Produktionsabläufen, die Verlagerung großer Unternehmen in Billiglohnländer, Deregulierung der Arbeitsmärkte und Lean Management, berufliche Verfügbarkeit praktisch rund um die Uhr, kurz, eine Ausdehnung ökonomischer Konkurrenzsituationen in jede menschliche Sphäre als Kennzeichen dessen, was ich Postfordismus nennen würde, anstelle von – wie ich finde, ein unpräziserer Begriff – Globalisierung, dass all das zu einer Verflüssigung traditioneller Lebensplanungen und Reproduktionsweisen führt, ist inzwischen eine Binsenweisheit, entwertet jedoch keineswegs die – nur auf den ersten Blick – banale Frage: Auf wen oder was kann man sich noch verlassen? Bzw. lässt die Frage Rolf Dieter Brinkmanns aus den Erkundungen für die Präzisierung des Gefühls für einen Aufstand, nämlich: »Wer ist der Direktor dieser sogenannten Wirklichkeit?«, in einem ganz neuen Licht erscheinen.18

In seinem Essay Erzählen ohne Grenzen (2006) thematisiert Peltzer parallel die tiefen Auswirkungen der neuen materiellen und diskursiven Machtverhältnisse im Hinblick auf deren literarische Darstellbarkeit: Mit Macht, wie sie hier verstanden wird, ist nicht vorrangig Herrschaft gemeint, […] sondern die Vielzahl der politischen, ökonomischen, historischen, juristischen, psychologischen Kräfte, die ein Gebiet bevölkern und Verhältnisse unterschiedlicher Qualität eingehen, von denen keine Lebensäußerung unbeeinflusst bleibt. Auf jede Ebene wirksam, schreiben sie sich ins Intimste ein, wie sie die komplexesten Gebilde, den modernen Staat zum Beispiel, hervorbringen können. Eher sind sie für die Produktion von Aussagen zuständig, zielen auf Normalisierung 15 Ulrich Gutmair: Groteske Rückkehr des Bürgerlichen. Mit seinem Roman ‚Teil der Lösung‘

erforscht Ulrich Peltzer die gesellschaftlichen Verhältnisse Berlins. In: die tageszeitung (01.06.2007). http://www.taz.de/!4701 (zuletzt aufgerufen: 14.05.2017). 16 Zygmunt Bauman: The Individualized Society. Cambridge: Polity Press 2001, S. 39. 17 Ebd., S. 36: „Partly as a result of a deliberate policy of ‘precarization’ initiated by supranational and increasingly exterritorial capital, […] precariousness is today the major building block of the global power hierarchy and the main technique of social control.“ 18 Peltzer: Angefangen wird mittendrin (wie Anm. 1), S. 160–161.

Gegen die „Totalmedialisierung“ der Gegenwart

und reibungsloses Funktionieren ab, als einfach repressiv zu sein, Instrumente in der Hand irgendwo zu lokalisierender, sinistrer Gestalten; wenngleich das als Option nie ausgeschlossen werden darf. Sich hinter ihrer eigenen Anonymität verbergend, hinter Sachzwängen und beeindruckenden Ziffergebirgen, geht es mehr darum, sie in ihrer mikroskopischen Wirkungsweise sichtbar zu machen, denn blindwütig zu verdammen […]; wenigstens einen Verdacht über diese Mechanismen sollte man haben, bevor man seinen Größenphantasien und seinem Selbstermächtigungsgerede wieder einmal erliegt.19

Peltzers Suche nach einer „zeitgenössischen Poetik“ versteht sich in diesem Zusammenhang als „Erkenntnishilfe“ im Sinne einer „Aufklärung über bestimmte Zustände“, zu denen die sogenannte „Totalmedialisierung der Welt“20 als grundsätzliche Transformation der individuellen und kollektiven Existenzbedingungen in erster Linie gehört. Als zusätzlich zentraler theoretischer Bezugspunkt für Peltzers Überlegungen formulierte Guy Debord schon 1967 in Die Gesellschaft des Spektakels seine ebenso drastische wie erhellende Prognose über das „Monopol des Scheins“ als ein „durch Bilder vermitteltes gesellschaftliches Verhältnis zwischen Personen“: „Das ganze Leben der Gesellschaften, in welchen die modernen Produktionsbedingungen herrschen, erscheint als eine ungeheure Sammlung von Spektakeln. Alles was unmittelbar erlebt wurde, ist in eine Vorstellung entwichen.“21 Ein Versuch, Brinkmanns Fragestellung zu aktualisieren bzw. auf die Realität des neuen Millenniums zu übertragen, wird von Peltzer bereits im Essay Erzählen ohne Grenzen unternommen, der nicht zuletzt wegen des unmittelbaren zeitlichen Zusammenhangs als gedankliche Prämisse zum Roman Teil der Lösung betrachtet werden kann: Wie berechtigt ist diese Frage nach dem Direktor der Wirklichkeit erst heute, wo sich Wirklichkeit aufsplittert in eine schier unübersehbare Anzahl von Szenen und Settings, wo sie sich medial zu verdoppeln und verdreifachen, sich auf Bildschirmen und Displays, die praktisch allgegenwärtig sind, in Permanenz selbst zu erzeugen scheint.22

19 Ulrich Peltzer: Erzählen ohne Grenzen. Über denkbare Plots, Flüchtige Subjekte und die

Raumstruktur des zeitgenössischen Romans. In: Sprache im technischen Zeitalter 44 (2006), 3, S. 294–312, hier S. 307–308. 20 Peltzer: Angefangen wird mittendrin (wie Anm. 1), S. 33. 21 Guy Debord: Die Gesellschaft des Spektakels. Berlin: Edition Tiamat 1996, S. 13. Anlässlich des Poetikseminars, das Peltzer am 10. Januar 2009 im Rahmen des Literaturkolloquiums „scrittureletturetedesche“ an der Universität „L’Orientale“ in Neapel unter der Leitung von Prof. Dr. Sergio Corrado und Prof. Dr. Valentina Di Rosa gehalten hat, kam er auf die Rolle der Philosophie Guy Debords für die Inspiration des Romans Teil der Lösung ausführlich zu sprechen. 22 Peltzer: Erzählen ohne Grenzen (wie Anm. 19), S. 299 f.

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Betont Peltzer die totalitäre Dominanz und die autoreferentielle Tendenz der Medientechnologien, so tritt hier ein entscheidender Faktor in den Vordergrund, der mit diesem Prozess im Gleichschritt geht: die Digitalisierung des Alltagslebens.23 Auch in diesem Fall sind Berührungspunkte mit der Gedankenwelt der neusten Medientheorie festzustellen. In Bezug auf die Entstehung einer „elektronischen Topologie“ betont etwa Paul Virilio den „Verlust der Horizontlinie der geographischen Perspektive“, welche die „Realisierung eines ‚Ersatzhorizonts‘“ dringend erforderlich macht: „Hierbei handelt es sich um den ‚künstlichen Horizont‘ eines Bildschirms oder Monitors“, wobei die „Tiefwirkung des ‚telepräsenten‘ Ereignisses nunmehr die Oberhand gegenüber den drei Dimensionen des Volumens der tatsächlich gegenwärtigen Dinge und Orte“ gewinnt.24 Eben dieser „Horizont des Bildschirms“ legt den Rahmen fest, die den Auftakt zum Roman Teil der Lösung definiert. Gemeint ist das erste, prologartige Kapitel, das unter dem Titel Sony Center im gleichnamigen, weltberühmten Gebäudeensemble am Potsdamer Platz spielt. Das erzählerische Hauptdispositiv, das das ganze Gerüst vom Sony Center gleichsam zusammenhält, besteht hier in den unzähligen Überwachungskameras, die im ganzen Raum der Shopping- und Entertainmentmall verteilt sind. Mangels eines Ich oder einer dritten Person als Erzählinstanz sind es hier nämlich die Kameras und die Bildschirme, welche die einzige Seh- und Beobachtungsperspektive bestimmen. Demzufolge wird die totalmedialisierte Großstadt zur eigentlichen Protagonistin des Texts, während die menschlichen Figuren – zwei Security-Wächter, die Kundenmenge des Centers und später eine Gruppe von Aktivisten, die ins Hauptgebäude eindringen und eine Protest inszenieren – subordiniert und anonym bleiben. Als Metonymie der globalisierten Metropole und insofern Mikrokosmos der globalisierten Welt, okkupieren die Bilder des Sony Centers fast den ganzen Erzählraum, wodurch der Potsdamer Platz lediglich als eine durchkontrollierte Konsumzone zum Vorschein tritt.25 23 Es handelt sich um ein Phänomen, das Vilém Flusser mit der Formel „digitaler Schein“ bezeich-

net. Flusser hebt insbesondere den Verdünnungsprozess von Gegenständen „wie Bilder auf dem Fernsehschirm, in Computern gelagerte Daten, in Robotern gespeicherte Programme, Mikrofilme und Hologramme“ als Beispiel für „die Umwandlung von der Materialität zum Digitalen“ hervor. Vilém Flusser: Medienkultur. Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuchverlag 1997, S. 202 und S. 185 ff. 24 Paul Virilio: Information und Apokalypse. Die Strategie der Täuschung. München, Wien: Carl Hanser Verlag 2000, S. 20. 25 Vgl. Jörg Metelmann: Die Überwachung der Gefühle. Teil der Lösung und Probleme moderner Affektpoetik. In: Fleming/Schütte: „Der Text hat seinen Eigensinn” (wie Anm. 2), S. 179–204, hier S. 194: „Das Berlin aus Sony Center ist reduziert auf das Areal im neuen Herzen der Hauptstadt, den Potsdamer Platz. Es ist das Negativbeispiel für zeitgenössische Urbanität heute: ein anonymisierter Stadtraum als riesige Konsumzone, steril und durchkontrolliert.“

Gegen die „Totalmedialisierung“ der Gegenwart

Nicht von ungefähr spielt die allererste Szene des Kapitels Sony Center im engen Kontrollraum des Sicherheitsdienstes, wo alles, was innerhalb des Einkaufszentrums geschieht, durch Videokameras abgefilmt und auf Monitoren durch Bildausschnitte reproduziert wird. Auf der narrativen Ebene erkennt der Leser zuerst den dunklen Schattenriss eines Wächters, der, in einem Zimmer ohne Tageslicht geschlossen, von leuchtenden Oberflächen und elektronischen Geräten umgegeben ist: Die Silhouette des Mannes zeichnet sich deutlich vor den Bildschirmen ab. Wie es im Halbdunkeln scheint, hat er seinen Kopf leicht in den Nacken gelegt. Rechts von ihm steigt eine dünne Rauchfahne aus dem Aschenbecher auf der Konsole hoch, ein schmuckloses längliches Pult mit zwei Tastenfeldern. Mentholzigaretten, eine zerlesene Zeitung. Unter dem Pult stehen die Speichergeräte, Empfänger und verkabelte Rechner, deren grüne Dioden wie brennende Augen aus dem Schatten hervortreten. Es ist still, ein Raum ohne Fenster, in dem man jetzt nur sich selbst und entfernt noch das Rauschen einer Klimaanlage hört.26

Der Aussichtspunkt wird bald darauf auf die überdachte Halle des Sony Centers verlagert. Die Sicherheitsbildschirme zeigen Besucher und Touristen, die sich träge und ziellos herumbewegen: Die Monitore sind stumm, kein Ton, nicht einmal Knistern gruppiert die Szenen zu einem Ganzen: all die Leute im Freien, ihre hierher übertragenen Wege an Schaufenstern und dichtgefüllten Caféterrassen vorbei zu diesem großen Brunnen mitten auf der überdachten Piazza. Man sieht sie am Rand des Edelstahlbeckens sitzen, müde Blicke in Reiseführer und Hochglanzprospekte aus der Volkswagen Youth.lounge werfen, durch die Sucher ihrer Kameras schauen, telefonieren. Andere kreuzen durchs Bild und verdecken sie einen Moment lang, Körper und Gesten. Im Wasser planschen zwei kleine Jungen, spritzen sich nass, während eine Frau im Hintergrund sie für ihr digitales Heimkino filmt. Sie schwenkt den Camcorder nach oben zur Spitze der Dachkonstruktion, die wie ein gewaltiges Zirkuszelt aus Fiberglas und weißem Segeltuch über dem Rund der Gebäude aufgespannt ist, zehn oder zwölf Stockwerke hoch.27

Das literarisch reproduzierte Geflecht von Scharfeinstellungen und Nahaufnahmen, das wiederum als Zusammenspiel der Überwachungsanlagen und der elektronischen Apparate der Sony-Center-Besucher gedacht wird, umreißt in dieser Passage die Koordinaten einer singulären digitalen Topologie, in der eine virtuelle Überlagerung der visuellen Flächen zustande kommt – das Analoge des Realen wird demzufolge durch das Digitale der reproduzierten Bilder ersetzt, wobei Geste und Ziele der abgefilmten Figuren um das Konsumangebot der Mall konzentrisch kreisen: 26 Ulrich Peltzer: Teil der Lösung. Zürich: Amman Verlag 2007, S. 7. 27 Ebd.

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Da hängt Spiderman. Überlebensgroß an der Front des Mupliplexkinos. […] Auf einer Bühne neben der Youth.lounge wird eine Präsentation vorbereitet, immer wieder flackern bunte Scheinwerfer über eine glänzende Plane, die ein Auto verhüllt […]. Erwartungsvoll treten schon Schaulustige näher, Prospekte in der Hand, die eine Reihe emsiger Helfer verteilen. Indes ein Pulk Touristen den Megastore im Durchgang zur Potsdamer Straße verlässt, eine halbe Busladung, die von Etage zu Etage an den Zerbrechlichkeiten in den Vitrinen vorbeigeschlendert ist, auf grellrosa Plastikkissen ausgestellte Miniaturen von Technik, die niemand für möglich hielt, Notebooks verkleinert zu Schulheften, und Mobiltelefone kaum größer als ein Salzstreuer. Man raunt sich Zahlen zu, erstaunliche Details, die ein unbeholfener Witz von ihrer magischen Ausstrahlungskraft zu befreien versucht. Dann verliert man sich in der Menge, […] weiter in einem ziellosen Treiben von da nach dort und zurück, von nichts angezogen und von allem zugleich.28

Die allmähliche Entthronisierung des menschlichen Subjekts kommt hier sowohl auf der lexikalischen als auch auf der syntaktischen Ebene zum Ausdruck. In einem äußerst verknappten Prosastil, der dem kalten digitalen Auge der Kameras entspricht, wird die identitätslose Menschenmenge auf ein unbestimmtes man reduziert oder aber durch die undifferenzierte Gruppenbezeichnung „Schaulustige“/„Touristen“ charakterisiert. Mit dieser diffusen Opazität der Menschen kontrastiert die „Überfülle an Signifikanten“29 bzw. die genaue Beschreibung von Farben und Klängen, die die Räume des technologischen Konsums mit ihren Markenzeichen typisieren. Dicht aneinandergereiht werden elektronische Geräte, mechanische Geräusche, Leuchtsignale, denen wiederum automatisierte, maschinell geprägte Gesten korrespondieren. Die nächste Erzählsequenz gestaltet sich auch typographisch als ununterbrochener Fluss von visuellen Reizen. Begriffe des Techno-Konsums paaren sich mit Eigennamen von Läden, Brands, Snackbars, Showrooms, Internetcafés, indem sie eine detaillierte Kartographie der Shoppingmall im Sinne des Mainstreams nachzeichnen. Nicht nur die Besucher des Sony-Centers, sondern auch der eine Wächter scheint sich durch seine routinierten Gesten in eine Maschine verwandelt zu haben:30 Er reibt sich die Augen, die wie immer nach zwei oder drei Stunden zu brennen beginnen, selbst wenn man die vorgeschriebene Pause macht. Aufstehen, sich recken, den Speicher im Hirn von Ballast befreien. Um nicht abzuschalten und das Wichtigste zu verpassen. Auf was es ankommt im verschwiegenen Kern des Wartens, eine aufblitzende Irritation, die plötzlich die Aufmerksamkeit fesselt, ein Impuls von Gefahr, der wie aus dem Nichts den Geist elektrisiert.31 28 Ebd., S. 8. 29 Peltzer: Angefangen wird mittendrin (wie Anm. 1), S. 32. 30 Als „Schädigung der Ökologie des Wahrnehmbaren“ typisiert Virilio die „Digitalisierung der audi-

ovisuellen, taktilen und Geruchsinformationen“, die zum „gleichzeitigen Verlust der unmittelbaren Sinneswahrnehmungen“ führen. Vgl. Virilio: Information und Apokalypse (wie Anm. 24), S. 103. 31 Peltzer: Teil der Lösung (wie Anm. 26), S. 10.

Gegen die „Totalmedialisierung“ der Gegenwart

Seiner Funktion vollkommen unterworfen, kann dieser anonyme Mitarbeiter des Security-Personals seine Bewegungen nicht mehr kontrollieren. Syntaktisch imitiert die Reihe der Verbformen im Infinitiv („aufstehen“, „sich recken“, „befreien“) den Stil militärischer Befehle als Kontrapunkt zur gespürten Atrophie des Körpers; lexikalisch vermitteln Worte wie „Speicher“, „abschalten“, „Impuls“, „elektrisiert“ die Wirkung der elektronischen Apparate als befremdliche Verwandlung.32 Geschildert wird hier einerseits die Bedrohung der zunehmenden Technokratie, die die Existenzformen im Alltag modifiziert und regelt; andererseits das Gefühl einer „Ohnmacht angesichts eines immer rigidere Formen annehmenden Überwachungsstaates“.33 In dieser Hinsicht korrespondiert solche allumfassende Form der Medialisierung der Gegenwart mit dem Phänomen, das Virilio „panoptische Teleüberwachung“34 nennt. Gemeint wird in beiden Fällen die Perspektive einer ubiquitären Überwachung, die durch die digitale Revolution nur noch effizienter potenziert wird. „Das Gefühl, beobachtet zu werden, ohne die leiseste Ahnung, von wem, der Eindruck, man sei ein Objekt anonymer Vorgänge“35: Darin besteht in Peltzers Augen die verhängnisvolle Zusammenwirkung der Globalisierung und der Digitalisierung, gegen die sich der postfordistische Mensch zu wehren hat. „Bleiben Sie wachsam, meine Damen und Herren, und kümmern Sie sich um Ihre Aufnahmen“36:So lautet die Ermahnung der Aktivisten, die im selben Kapitel Sony Center einen Protest gegen die Macht des Kapitalismus und des Überwachungsstaats inszenieren. Die Reaktion, die diese jungen Situationisten mit ihren spielerischen Ansagen und verteilten Flyern provozieren, ist aber keine Bewusstwerdung der Passanten, sondern ihre digitale Konzentration auf das außergewöhnliche Ereignis, das sie als Spektakel konsumieren und folglich mit ihren Apparaten festhalten wollen: „Die Leute erwarten sich was, Material für ihre gefräßigen Objektive. Um es in Endlosschleifen durch ihre Player zu jagen, Stoptrick und Zeitlupe, auf der Suche nach einem bezwingenden Moment, in dem sich Einzigartiges offenbart.“37 Interessant 32 Vgl. Flusser: Medienkultur (wie Anm. 23), S. 188: „Es ist nicht schwer, sich dieses Leben vorzu-

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stellen: Die mit elektronischen Apparaten spielenden und sich an ihnen berauschenden ‚neuen Menschen‘ um uns herum leben bereits heute das undingliche Leben von morgen. An diesem neuen Leben ist die Atrophie der Hände bemerkenswert. […] Die von ihm programmierten Apparate werden jede künftige Behandlung übernehmen. Übrig bleiben von den Händen die Fingerspitzen. Mit ihnen wird der künftige Mensch auf Tasten drücken, um mit Symbolen zu spielen und um audiovisuelle Informationen aus Apparaten abzurufen. Der fingernde handlose Mensch der Zukunft wird nicht handeln, sondern tasten. Sein Leben wird kein Drama mehr sein, das eine Handlung hat, sondern es wird ein Schauspiel sein, das ein Programm hat.“ Vgl. Auer: Ulrich Peltzer (wie Anm. 14), S. 12. Virilio: Information und Apokalypse (wie Anm. 24), S. 109. Peltzer: Erzählen ohne Grenzen (wie Anm. 19), S. 294. Peltzer: Teil der Lösung (wie Anm. 26), S. 20. Ebd., S. 16 f.

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wird dabei der subversive Moment, wo die Aktivisten auf die Position der Überwachungskameras verweisen und somit „wie bei einer Kettenreaktion“ eine ansteckende Neugier in der Menschenmenge ausbreiten, die sich zu einer Art ‚Jagd nach den Kameras‘ umwandelt: Der Kreis lockert sich ein wenig auf, auch weil einige jetzt mit Hilfe des fotokopierten Zettels entferntere Kameras suchen, als seien sie auf einer Schnitzeljagd durch das Center. Als hätten sie nur darauf gewartet, dass etwas passiert, was sie aus ihrer touristischen Routine herausreißt, großstädtische Erfahrungen, brandneues Wissen. Auf den Monitoren sind die Leute zu sehen, wie sie herumgehen, stehenbleiben, nach oben deuten und sich gestisch über die Koordinaten ihres Standorts verständigen […]. Es gibt sogar welche, die filmen die Kameras […].38

In einem solchen durch und durch medialisierten Kontext kann sich in letzter Instanz nur der Totalitarismus des Digitalbilds als triumphierende Macht behaupten. Anstatt ein kritisches Bewusstsein auszulösen, erregt der Verweis auf das Überwachungssystem einen weiteren Konsumimpuls, der semantisch im Text durch eine präzise Wortwahl vermittelt wird – die Rede ist von „gefräßigen Objektive[n]“ sowie von der „Suche nach einem bezwingenden Moment“.39 Die frühkapitalistische Jagd nach der Ware hat sich hier offensichtlich in einen Bildkonsum verwandelt. Oder, besser gesagt, sie ist selbst auf das klassische „Prinzip des Warenfetischismus“ zurückzuführen, das Debord von Karl Marx übernimmt: Ein Prinzip, „das sich absolut im Spektakel vollendet“, indem „die sinnliche Welt durch eine über ihr schwebende Auswahl von Bildern ersetzt wird“.40 Auf der Erzählebene stellt Peltzer das zirkuläre Perspektivenspiel doch wieder ein: Durch die Aktivisten animiert, versuchen die überwachten Besucher des Centers, die Videokameras des Centers in ihren Bildern aufzufangen, wobei sich hier gerade jenes Paradox ergibt, das die Eigenschaften des fiktiven, virtuellen Raums enthüllt. Peltzer selbst beschreibt die digitale Fläche als „nicht ganz real“: Auf den Monitoren ist nämlich nur ein „zerteilter Raum“ bzw. „Vordergründe im Quadrat, die sich staffeln, überlagern, ergänzen“ zu sehen,41 die insoweit nur eine Videosimulation der Wirklichkeit ermöglichen. Peltzers stilistisches Verfahren beschränkt sich aber nicht auf die Beschreibung der ,aufgesplitterten Wirklichkeit‘, sondern es macht auch – und vor allem – die konstitutiven Mechanismen der videodigitalen Dispositive sichtbar. Als Ausdrucksmöglichkeiten 38 Ebd., S. 18. 39 Vgl. Zygmunt Bauman: Globalization. The Human Consequences. Cambridge: Polity Press

1998, S. 83: „For the consumers in the society of consumers, being on the move – searching, looking for, […] not-finding-yet is not a malaise, but the promise of bliss.“ 40 Debord: Die Gesellschaft des Spektakels (wie Anm. 21), S. 14. 41 Peltzer: Teil der Lösung (wie Anm. 26), S. 9 f.

Gegen die „Totalmedialisierung“ der Gegenwart

solcher technischen Apparate, die das Visuelle erzeugen und lenken, werden Gesamtansichten und Vergrößerungen, „langsame Zooms und Schwenks“42 unmittelbar im Text thematisiert: „‚Näher ran‘, sagt Fiedler. Sich durch Glasfasern fortpflanzender Tastendruck rückt den Geschehnissen auf den Leib, Gesichtszüge werden deutlicher, die albernen Flecken von roter Schminke auf den Wangen der Frauen […].“43 Schließlich entwirft Peltzer mit der Großstadtminiatur seines Sony Center eine Simulation der Simulation, d.h. eine textuelle Umcodierung der digitalen Mediensprache. Was ihm dabei gelingt, ist eine intermediale Hybridisierung des literarischen Textes, seine ‚Remedialisierung‘44. Im Zeitalter der Totalmedialisierung der Gegenwart lässt sich ein solches Experiment mit Andreas Huyssen als „literarische Sabotage visueller Medien“ charakterisieren – nämlich als ästhetische Strategie, die ein eigenes subversives Potential im Sinne einer „radikalen Innovation“ in sich birgt, insofern sie zugleich als „Intensivierung der Stadtwahrnehmung“ funktioniert.45 Zu fragen ist spätestens an dieser Stelle, welche Rolle denn das Politische in Peltzers poetologischem Konzept spielt. „Ich bin mehr an dem interessiert, was Literatur politisch macht, nicht an ‚politischer Literatur‘, und das ist eher eine ästhetische Frage als eine des Inhalts“, erläutert er programmatisch. „Als ästhetisches Verfahren ist diese im Übrigen genuin moderne Art des Schreibens für mich Ausdruck einer politischen Haltung“, ergänzt er dann selbstreflexiv im bereits zitierten Gespräch mit Thomas David.46 In erster Linie versteht Peltzer das literarische Schreiben als reine Erzählung, bar jeder moralischen oder politischen Stellungnahme: 42 Ebd., S. 9. 43 Ebd., S. 11. 44 Vgl. Jay David Bolter/Richard Grusin: Remediation. Understanding New Media. Cambridge:

MIT Press 1999.

45 Durch die kulturkritische Kategorie der Großstadtminiatur schließt Huyssens Interpretations-

modell an die literarische Tradition der frühen Moderne an: „Mein Interesse richtet sich auf eine vernachlässigte Form moderner Stadtliteratur vor und nach 1900, die ich als affirmative Sabotage nicht-literarischer, visueller Medien lese. Es handelt sich um eine kleine Literatur gekennzeichnet durch Verknappung und Komprimierung raum-zeitlicher Koordinaten von Stadterfahrung. […] Der Fokus auf Bildlichkeit bietet den Schriftstellern den Vorteil, die Ausdehnung von Zeit und Raum, die im realistischen Stadtroman weitläufig ausgebreitet wird, zu einem überdeterminierten synchronen Bild zu verdichten. […] Diese Bildlichkeit der Metropolen, selbst meist mit Schrift verknüpft, reproduzierte sich in den massenhaft verbreiteten Druckmedien ebenso wie in Stummfilm, Fotografie und illustrierten Zeitungen. Die Flut visueller Eindrücke wurde zur Herausforderung literarischer Imagination, wie es mit anderen Akzenten erst wieder im Zeitalter der digitalen Medien und des Internet aktuell geworden ist.“ Vgl. Andreas Huyssen: Literarische Sabotage visueller Medien. http://science.orf.at/stories/1698486 (zuletzt aufgerufen: 14.05.2017). 46 Vgl. dazu David: Über die Gegenwart nachdenken (wie Anm. 5) und Bender: Im Gespräch: Ulrich Peltzer (wie Anm. 7): „Es geht darum, Geschichte zu erzählen, ohne ins Ressentiment

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Die Frage, die ich mir beim Schreiben stelle, ist: Wie kann ich Wirklichkeit, die sich mir fragmentiert darstellt, die nicht mehr in ihrer Totalität zu erfassen ist, in eine narrative Form bringen, so dass zwischen Text und Wirklichkeit Korrespondenzen entstehen? Das meine ich vor allem, wenn ich über das Politische in der Literatur spreche: dass es eher die ästhetischen Fragen sind, die für mich politisch sind oder politische Konsequenzen nach sich ziehen.47

Auf diesen Voraussetzungen basierend, begibt sich Peltzer „auf der Suche nach einer Syntax der Gegenwart“48, was für ihn bedeutet, „verkehrte Bedeutungen“, „Dehnungen der Grammatik“ und „Verkehrungen der Sprache der Mehrheit“ herzustellen.49 Mit der Absicht, „eine minoritäre Sprache […] jenseits herrschender Bedeutungen und Aussagevorschriften“ zu gestalten, bedient er sich der vorherrschenden Codex und Diskurse, jedoch nur, um sie umzuformulieren und um deren eingeschriebenen Sinn zu dekonstruieren. In der multimedialen Fiktion von Sony Center besteht eine solche Verkehrung der Sprache der Mehrheit im Experiment einer transmedialen Verschiebung, mit dem poetologischen Ziel, eine „Flucht vor erstickenden Konventionen, vor dem Zeichenregime einer dominanten Zentralmacht“ zu suggerieren.50 In Peltzers Poetik erkennt die geistesverwandte Autorin Kathrin Röggla nicht von ungefähr den „Ansatz für einen Widerstand“, wobei sie eine eigene Definition des Zusammenhangs von ästhetischem und Politischem in dessen literarischen Produktion bietet: „Es findet sich bei ihm eine Weiterführung des Marx’schen Gedanken, dass Theorie und Praxis zusammengehören, allerdings auf undogmatischem, mikropolitischem Gelände, eine Wissenslandschaft, die im Ästhetischen verankert ist, ohne das Politische preis zu geben.“51 Als Motto des dritten Abschnitts vom Angefangen wird mittendrin findet sich Peltzers entsprechende Abbreviatur – ein Aphorismus von André Malraux bzw. ein emblematisches Zitat von Heiner Müller: „Der Künstler ist nicht jemand, der die Welt transkribiert – er ist ihr Rivale.“52

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abzurutschen, ohne denunziatorisch zu werden. […] Ich schreibe nicht Romane, um in ihnen Beweise anzutreten, und auch nicht, um moralische oder politische Programme umzusetzen.“ David: Über die Gegenwart nachdenken (wie Anm. 5). Peltzer: Angefangen wird mittendrin (wie Anm. 1), S. 168. Ebd., S. 133. Ebd., S. 132 f. Katrin Röggla: Entscheide dich! Oder: Finito la musica! In: Fleming/Schütte: Die Gegenwart erzählen (wie Anm. 2), S. 205–213, hier S. 208 [Hervorhebung im Original]. Peltzer: Angefangen wird mittendrin (wie Anm. 1), S. 73. Zitiert wird aus Zur Lage der Nation (1990) von Heiner Müller, wo der Letztere einen Aphorismus von André Malraux überträgt.

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„in jeder Gegenwart auf der Suche nach einer ­Vergangenheit“ · Zeiträumliche Palimpseste in der Lyrik Lutz Seilers Man ist ein Teil der Geschichte, man kann sehen, das hat es gegeben, dieses Heranrücken der Halden und dann verschwindet das Dorf. Ein Teil der eigenen Geschichte ist plötzlich weg, und das ist auch eine Erfahrung, die die Wende beispielsweise mitbringt. Ein Teil der eigenen Geschichte verschwindet, wird unsichtbar, wird in relativ kurzer Zeit völlig überzeichnet, und das ist immer eine ständige Herausforderung für das Schreiben. Die Rekonstruktion von dem: Was war denn eigentlich? Was ist gewesen? Wo komme ich her und wer war ich damals selbst? So geht es mir auch mit Culmitzsch. Culmitzsch war der erste Ort in meinem Leben, den gibt es nicht mehr. Da gibt es jetzt nur noch ein Feld und eine Straße, die immer noch die Kurven macht, als würde sie durch das Dorf fahren.1

So reflektiert Lutz Seiler den Ursprung seines lyrischen Alphabets in Zusammenhang mit seinem bislang letzten Gedichtband im felderlatein (2010) – ein Nachdenken über die Erosion seines ostdeutschen Herkunftshorizonts und zugleich eine topographische Verankerung der durch den Kollaps des sozialistischen Systems ausgelösten Frage des was bleibt, welche, sich durch das breite Spektrum der Post-DDR-Literatur ziehend, seit 1989/90 eine differenzierte Pluralität von Zugängen und Bilanzierungsversuchen generiert hat. Nachträglich skizziert, verweisen die verschütteten Konturen der Thüringer Landschaft auf die existentielle Dimension des Verlusts nicht weniger als auf die ästhetische Suche nach der Latenz des Vergangenen und implizieren dadurch den Anspruch auf eine andere Lesbarkeit der Welt, die Seiler im „Nebeneinander des Erinnerten und Sichtbaren“2 grundiert sieht und im Spannungsbogen zwischen Einst und Heute, Geschichte und Gegenwart konsequent verortet.

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Interview mit Michael Opitz für den Deutschlandfunk, gesendet am 26.1.2011. http://www. deutschlandfunk.de/als-dichter-ein-solitaer.700.de.html?dram:article_id=84924 (zuletzt aufgerufen: 26.05.2017). Jetzt auch in Michael Opitz: Mit dem Geigerzähler im Abraum der Geschichte – hörbar gemachte Vergangenheit in Texten Lutz Seilers. In: Viviana Chilese/ Matteo Galli (Hg.): Im Osten geht die Sonne auf. Tendenzen neuerer ostdeutscher Literatur. Würzburg: Königshausen & Neumann 2015, S. 187–199, hier S. 188. Lutz Seiler: „Nie hört die Nachkrigeszeit auf“. Über Jürgen Becker. In: Ders: Sonntags dachte ich an Gott. Aufsätze. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2004, S. 57-69, hier S. 63.

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Entsprechend subjektiv gestaltet sich seine Kartographie der lieux de mémoire. Angedeutet durch die Leerstelle Culmitzsch sind die wiederholten „Umwälzungen von Biographien und Landstrichen“3, die infolge beider Epochenzäsuren 1945 bzw. 1989 die Physiognomie der Region tiefgreifend gezeichnet haben. Als pars pro toto der sukzessiven Transformationsprozesse stehen die Halden mit ihrer „affektiv-erregenden Wirkung“ für ein mehrschichtiges Assoziationsfeld, das Seiler im Bild der „schwarze[n] Abfahrt Gera-Ost“4 verdichtet und als eigene Deklination des „Chronotopos Wismut“5 poetisch und poetologisch fixiert. Zu DDR-Zeiten noch visuelles Indiz der Kontaminierung und städtebaulichen Zerstörung weiter Areale, in den Nachwendejahren zur „größte[n] radioaktive[n] Schlammdeponie Europas“ geworden, markieren die „Hügel“ die Koordinaten eines Territoriums der Seele, das mittlerweile durch die Sanierungsmaßnahmen und die Re-Lokalisierung der ehemaligen Uranprovinz in der „gesamtdeutsche[n] Geographie“ zur Chiffre einer doppelt entschwundenen Welt avanciert ist.6 Allerdings positioniert sich Seilers Erinnerungsarbeit vom Beginn an abseits jeglicher (n)ostalgischen Verklärung. Bereits im Essayband Sonntags dachte ich an Gott sorgt er für eine kritische Perspektivierung seines Gedächtnisdiskurses bzw. für eine vertiefende Überprüfung des Heimat-Begriffs, den er vom „ideologischen Kanon“ der DDR-Staatspropaganda eindeutig ablöst und erst im Hinblick auf einen viel feiner differenzierten Bedeutungshof fokussiert.7 3 4 5

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Ebd., S. 67 [Hervorhebung im Original]. Vgl. Lutz Seiler: Schwarze Abfahrt Gera-Ost. In: Ders., (wie Anm. 2), S. 112–119. Vgl. Michael Ostheimer: Chronotopos Wismut. Der ostdeutsche Uranbergbau im Forschungsfeld der DDR- bzw. Post-DDR-Literatur. In: Chilese/Galli: Im Osten geht die Sonne auf (wie Anm. 1), S. 203–223, der wiederum auf Wolfgang Emmerichs Aufsatz verweist: Zwischen Chronotopos und Drittem Raum. Wie schreibt man die Geschichte des literarischen Feldes DDR? In: Norbert Otto Eke (Hg.): „Nach der Mauer der Abgrund“? (Wieder-)Annäherungen an die DDR-Literatur. Amsterdam: Rotopi 2013, S. 43–64. Unter den prägenden Landschaften, die „nirgends als in der DDR angesiedelt sein können“, hebt Emmerich bereits hier den Wismut-Bergbau als „einmalig“ hervor. Zur Rekonstruktion der Geschichte der „Sowjetisch-Deutschen AG Wismut“ vgl. Seilers eigene Referenz auf Michael Beleites: Altlast Wismut – Ausnahmezustand, Umweltkatastrophe und das Sanierungsproblem im deutschen Uranbergbau. Frankfurt/M.: Brandes & Apsel 1992 (Seiler: Schwarze Abfahrt Gera-Ost. In: Ders., (wie Anm. 2), S. 149). Seiler: Heimaten. In: Ders., (wie Anm. 2), S. 31–51, insbes. S. 40 f. Vgl. dazu: Valentina Di Rosa: Archäologie des Verschwindens. Wenden und Wunden der wiedervereinigten Landschaft Ostdeutschlands. In: Ulrich Fröschle/Giusi Zanasi (Hg.): Grenzrisiken? Europäische ‚Grenzregionen‘ als dynamische Semiosphären. Dresden: Thelem Verlag 2016, S. 243–270. Der vorliegende Aufsatz schließt an dort enthaltene Reflexionen und Textanalysen an und übernimmt davon einige (zum Teil überarbeitete) Passagen. Seiler: Heimaten. In: Ders., (wie Anm. 2), S. 42 f. Ausdrücklich wird hier die evozierende Kraft der Landschaft als „ursprüngliche Behausung“ mit der klassisch-romantischen Konstellation

„in jeder Gegenwart auf der Suche nach einer ­Vergangenheit“

Viele seiner lyrischen Textpartituren leben mithin von der Rückprojektion in die Vorgeschichte der Thüringer Landschaft, die er als „Abkömmling einer ganzen Familie von Bergarbeitern“ im Mikrokosmos der Kindheit ansiedelt – rhapsodische Exkurse in die abgelagerten Schichten einstigen Lebens, die als subtile Fügung des Autobiographischen mit dem Gesellschaftlich-Politischen synthetisiert werden und erst indirekt auf die „Pervertierung des Privaten durch Ideologie“ als repressiven Rahmen der eigenen DDR-Sozialisation hindeuten.8 Es handelt sich nicht um ein mimetisches Abbildungsverfahren: Seilers Re-Inszenierung der Welt „im osten der länder“9 verdankt sich einer raffinierten Gratwanderung zwischen Abstraktion und Einfühlung, die, auf illustrative Passagen gänzlich verzichtend, durch elegisch chiffrierte Erlebnisfragmente vermittelt wird. Heraufbeschworen wird das ausgestorbene Arbeits- und Lebensmilieu des Uranbergbaus durch eine elliptische Konzentration auf isolierte Details und Alltagsgegenstände sowie durch eingestreute Zitate und anspielungsreiche Fachtermini, die auf den prägenden Jargon jener Kultur verweisen. Zentral ist dabei der Resonanzwert der Worte – Parolen, Sprüche, Redewendungen –, der darauf abzielt, die „steinzeit der dörfer“10 als Echoraum zu vergegenwärtigen und erst indirekt – durch die Lücken des „nichtgesagte[n]“ – die Suchbewegung nach Reminiszenzen und Stimmungsnuancen zu suggerieren, „in / denen ich enthalten war“11. haldenglühn hiess physikalisch: havarien, scheintot, plötzlich purpur schläfen-schächte; haldenglühn war trinkbranntwein, akzisefrei für troglodyten, dann „heraus zum ersten mai“. […] du liebtest, wenn die schafe oszillierten, ihr lausiges zucken im schlaf, der leichte spasmus im glück auf! – alles

der Sehnsucht in Verbindung gebracht, wofür Hölderlins Gedicht Heimat („euch traute Berge, / die mich hüteten einst“) und Schuberts Lied Wanderer an den Mond exemplarisch stehen. 8 Ebd., S. 46. 9 Seiler: pech & blende. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2000, S. 35. 10 Lutz Seiler: im felderlatein. Berlin: Suhrkamp 2010, S. 28. 11 Lutz Seiler: vierzig kilometer nacht. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2003, S. 56.

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erinnert einen an etwas unter spänen, untergraben steht ein wind auf augenhöhe hoch aus der vergangenheit; in jedem blick wechseln die seiten, jeder lidschlag schaufelt deine höhle in der zeit12

Ergänzt wird der verschlüsselte Stil der Lyrik Seilers durch das „Faktische“ und das „Konkrete“ seiner Prosatexte, die sich als narrativ-essayistisches Korrelat der Bildersprache lesen und durch die Einbindung von Geschichten und Anekdoten aus der eigenen Familientradition einen nicht zuletzt historisch-dokumentarischen Wert beanspruchen: Die Kumpels der Uranprovinz hatten Schichtarbeit, aber gute Bezahlung, kürzere Bestellzeiten für Automobile und eine monatliche Rate von vier Flaschen Trinkbranntwein, akzisefrei. 0,7 Liter wurden abgegeben für 1,17 Mark. Ein werkseigener Schnaps, den die Bergleute „Kumpeltod“ nannten. Überhaupt Ihr Humor war makaber und entsprang einem Gemisch aus Wissen und Ahnungslosigkeit. Wenn mein Großvater am Morgen aus der Grube heimkehrte, saßen wir noch in der Küche vor dem Radio. Er kam zu uns herüber und schwenkte seine Hand über dem Holzkasten des Empfängers. Augenblicklich versackte die Musik in einem außerirdischen Knacken und Rauschen. Nahm er die Hand vom Kasten, verschwand der Spuk und der Bayerische Rundfunk kehrte zurück. Wir waren beeindruckt, und er lachte.13

Die radioaktive Strahlung der kontaminierten Umgebung zählt Seiler parallel zu den „präpoetologische[n] Axiome[n]“ seiner Literatur: Als „Wahrnehmungszustände der Kindheit“ werden „Abwesenheit, Müdigkeit, Schwere“ auf ihre produktive „Trance-Qualität“ hin ausgelotet, insofern sie als Prägung der „Nervensysteme der Erinnerung ( Joachim Sartorius)“ fortwirken.14 Bedingt durch diese Prämissen ist Seilers Methodik des Orte-Lesens. Sein „Hineingehen in die Landschaft“15 gestaltet sich als Strategie einer topographischen Spurensuche, die sich auf die Namen der einzelnen Provinzgemeinden – Culmitzsch, Gera, Ronneburg, Korbußen, Selingstädt, Großenstein, Teichwolframsdorf – als Fixpunkte eines realen und zugleich irreal gewordenen Horizonts stützt. Als subjektive Orientierungskoordinaten einer „grosse[n], dann kleiner werdende[n] Geographie“ finden die 12 13 14 15

Lutz Seiler: pech & blende (wie Anm. 9), S. 18 f. Seiler: Heimaten. In: Ders., (wie Anm. 2), S. 36–37. Ebd., S. 37 und 39. Seiler: „Nie hört die Nachkriegszeit auf“. In: Ders., (wie Anm. 2), S. 58.

„in jeder Gegenwart auf der Suche nach einer ­Vergangenheit“

Orte Eingang in die Gedichte als Bestandteile einer Archäologie der Sinne – Klänge, Gerüche, haptische Eindrücke –, die im Hier und Jetzt der lyrischen Aussage aufgespürt und aufbewahrt werden. „noch einmal wächst die zeichnung // meiner dörfer aus / dem schutt“; „auf wenig geht alles / zurück. die strasse, dann / der viehweg, jemand / winkt bergauf. das wispern an / den fingerspitzen ist / ein tau. das kind / denkt zu fuss / laub & laub & laubgeruch“.16 Eine vertikale Dynamik bestimmt hierbei die Erkundung des Gedächtnisraums. Durch die „gelagerte Kenntnis“ des „Früher“ wird das Graben und Tiefbohren der Bergbauleute zum ästhetischen Modell einer vertiefenden Betrachtungsweise, die Seiler mit literarischen Quellen frei untermauert17 und ans Prinzip der Gravitationskraft bindet: „Die Heimat als Gangart, auch im Vers: jedes gedicht geht langsam von oben nach unten … zu den rohen Stoffen, den Erzen, den Knochen der Erde, wie sie nach alter Bergbaumythologie benannt sind.“18 Im Titelgedicht des ersten bei Suhrkamp erschienen Lyrikbands pech & blende (2000) wird zwar das Motiv der Herkunft in einem narrativen Duktus entfaltet, doch funktionieren Kontraktion und Brechung – als Reflex der Spaltungspotentiale des Urans – als Matrix eines frei assoziierenden Sprachfindungsprozesses, der bis in die Substanz (in das „Erz“) der Worte hineinwirkt. Resultat ist eine hermetische, an Celan gemahnende „mechanik der bildwelt“19, die wie im Ablauf einer umcodierten Todesfuge in der Stilisierung der Vaterfigur als lebensgefährdeter Wismut-Kumpel kulminiert. Enggeführt wird in den Schlussversen dessen Herzpochen mit dem Ticken des Geigerzählers – beide als Messdispositive gedacht und als Chiffren des memento mori miteinander kurzgeschlossen. was uns anblies aus grossen, bevölkerten bäumen war von haus aus vertieft in die zeit der gespräche, baumsprache war baumkuchen und lag schwer zu haus, wie ausgeruhter knochen, der wie wir kinder oft riefen vor deiner zeit unterwegs war, der die felder durchschritten

16 Seiler: vierzig kilometer nacht (wie Anm. 11), S. 57 und 71. 17 Vgl. etwa die Anspielungen auf Benns Berliner Novelle Ptolemäer („Uran, Pechblende, Isotop

235! Weithinabreichende Neurose“), auf Büchners Woyzeck, der „stampfend über die Erde, vernommen haben mußte: ‚alles hohl da unten‘“, auf Hofmannsthals Vortrag Poesie und Leben, aus dem Seiler seinen Essaytitel „Und unter den Füßen liegen die Vergangenheiten …“ herleitet. (Seiler: Heimaten. In: Ders., (wie Anm. 2), S. 37 und 72). 18 Ebd., S. 37. Das Selbstzitat verweist hier auf das Gedicht gravitation (Vgl. Seiler: pech & blende, (wie Anm. 9), S. 80–81, hier S. 80. 19 Seiler: pech & blende, (wie Anm. 9), S. 11.

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und beatmet hatte, den wir nun lang und gern zu loben wussten und sahen dass auch vater ihm gut war, ihn eine stütze der erinnerung, ein stellwerk seines herzens nannte und saatgut kaum noch geläufiger schritte, der kettenfahrzeuge, der erze und öle, heraus gebrochen aus dem quartier seines gehens, weit hinter den dämmen von culmitzsch, weit heraus gerissen aus einer seltenen arbeit bei selingstädt mit russischen erzen und ölen. und obwohl wir selbst längst hätten schlafen müssen drängten wir zu mutter hinunter, wenn vater nachts umherging und schrie den knochen das weiss das waren die knochen mit russischen ölen und erzen so sagten wir uns, er wittert das erz, es ist der knochen, ja er hatte die halden bestiegen die bergwelt gekannt, die raupenfahrt, das wasser, den schnaps so rutschte er heimwärts, erfinder des abraums wir hören es ticken, es ist die uhr, es ist sein geiger zähler herz20

*** Immanenz des Verlusts/Persistenz des Gewesenen: Kreist die lyrische Spannung um diese zwei Polen, so wird der frontale Gestus der ideologischen Auseinandersetzung mit dem untergegangenen Staatssystem dennoch tendenziell gemieden. Vielmehr ist Seiler vordergründig bemüht, das Atmosphärische jener Existenzphase im simultanen Nebeneinander von „richtig“ und „falsch“ aufzufangen, erweist es sich selbst im Nachhinein als schwer zu bestimmen, „wo der Apparat begann mit seiner Indoktrination und wo unser einfaches Leben, mit Dingen, die man gut hieß, siedelte“21. 20 Ebd., S. 35–36 [Formatierung und Hervorhebungen im Original]. Zuerst erschienen war die

Lyrik 1995 im Debütband Seilers: berührt/geführt. Gedichte. (Berlin: Oberbaum Verlag 1995), der weitgehend unbemerkt blieb. Vgl. dazu Peter Geist: „überdunkeltes atmen durch die umzäumung“. Über die Lyrik Lutz Seilers und ihre Wahrnehmung in der Literaturkritik. In: die horen. Zeitschrift für Literatur, Kunst und Kritik 46 (2001), 203, S. 163–180. 21 Seiler: Heimaten. In: Ders., (wie Anm. 2), S. 46.

„in jeder Gegenwart auf der Suche nach einer ­Vergangenheit“

Nicht die moralisch-kritische Haltung des Zeitdiagnostikers, sondern die empathisch-introspektive des Seismographen ist dem Dichter eigen, der seine Antennen für „andere Intensitäten“ spannt. Relevant ist die kontaminierte Substanz der Uranregion demnach nicht als Materie einer retrospektiven Abrechnung, sondern als Anlass zu einer Reflexion über die schöpferischen Prämissen der eigenen Autorschaft, wobei die Rückbesinnung auf die ostdeutsche Tradition der nature morte22 eine sehr wichtige Rolle einnimmt. Insbesondere die Schlüsselkategorie der „Abwesenheit“23 zeugt von einer bewussten Bezugnahme auf das Werk Wolfgang Hilbigs, der selber in den 1970er Jahren die abwesenheit als „Ort der Poesie“ und insofern als Strategie der „Entwirklichung“ gegen die Macht des SED-Regimes programmatisch verkündet hatte.24 Mit der Dichtung des etwa 20 Jahre älteren Vorgängers teilt Seilers Lyrik nämlich eine nicht nur landschaftsbezogene Affinität25. Als Angehöriger der späteren Generation der Hineingeborenen, die im Schatten der erst gebauten Mauer aufwuchsen, geht es ihm ebenso darum, die „Absence“ als konstruktive Dynamik der Selbstentziehung zu reflektieren, um den Suchprozess nach einer „anders gearteten“ Innerlichkeit 22 Vgl. Wolfgang Emmerich: Von der „durchgearbeiteten Landschaft“ zur nature morte. Ein lyri-

sches Sujet im Wandel. In: Ders.: Die andere deutsche Literatur. Aufsätze zur Literatur aus der DDR. Opladen: Westdeutscher Verlag 1994, S. 151–168. 23 Lutz Seiler: „Und unter den Füßen liegen die Vergangenheiten …“. In: Ders., (wie Anm. 2), S. 71–80, hier S. 74 f. 24 Hilbigs Gedicht abwesenheit wurde 1979 im gleichnamigen Band beim westdeutschen Fischer Verlag veröffentlicht. In der Anthologie seiner Lyrik und Prosatexte, die 1983 unter dem Titel stimme stimme in der DDR (Reclam-Verlag Leipzig) erscheinen durfte, wurde dasselbe Gedicht aus Zensurgründen ausgelassen. (Vgl. hierzu Paul Cookie: Speaking the Taboo. A Study of the Work of Wolfgang Hilbig. Amsterdam, Atlanta, GA: Editions Rodopi 2000, S. 55 f.). Zu den Implikationen des Begriffs, den Hilbig ursprünglich mit Mallarmé in Verbindung setzt, vgl. das unter dem Titel Zeit ohne Wirklichkeit veröffentlichte Gespräch mit Harro Zimmermann, wo die „Abwesenheit“ eine zentrale Rolle spielt und (nicht nur im Kontext des Totalitarismus) als Mittel zur Erprobung der „Widerstandskraft der Literatur“ reklamiert wird. (vgl. Text + Kritik. Wolfgang Hilbig (1994), 123, S. 11–18, hier S. 17 f.). Vor diesem Hintergrund porträtiert Seiler Hilbig in seiner Hommage an den 2007 verstorbenen Dichter als souverän abwesende Gestalt, die „am Rande irgendeiner Ödnis, irgendeines Niemandslands zwischen Ost und West“ einer eigensinnigen Logik zu gehorchen scheint (und auch deswegen an Peter Falks Engelrolle im Wim Wenders’ Film Der Himmel über Berlin erinnert). Vgl. Lutz Seiler: Columbo. In: Neue Rundschau 119 (2008), 2, S. 96–99, hier S. 97. 25 Vgl. dazu Di Rosa, (wie Anm. 6), S. 248 ff. Noch einmal anlässlich der Büchner-Preis-Verleihung (2002) fokussiert Hilbig die „schwarze Erde“ bzw. die durch Industrie und Braunkohlebau bedingte Zerstörung seiner Heimatlandschaft um Meuselwitz als identitätsstiftende Erfahrung und Ausgangshorizont seiner Dichtung (vgl. Iris Hanika/Bert Rebhandl: „Ich komme aus dem Wald“. Gespräch mit Wolfgang Hilbig. In: Berliner Zeitung (26./27.10.2002), S. 4). Auf die Verbindung zwischen Hilbigs Texten und den Thüringischen Landschaftslegenden, die ihm durch den Vater überliefert wurden, kommt Seiler in seinem bereits zitierten Erinnerungsporträt des Dichters zu sprechen. Vgl. Seiler: Columbo (wie Anm. 24), S. 98–99.

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nachzuzeichnen. Gleichermaßen zentral ist bei Seiler die Kluft zwischen „wir“ und „ich“, die als Widerspruch zwischen dem kollektiven „Heruntermarschieren der Kampflieder“ und dem individuellen „Nicht-zur-Sprache-kommen-Können“ aus der Perspektive des damaligen Kindes mehrfach versinnbildlicht wird.26 durchs gebirge, durch die steppe zog unsere kühne division aber wir standen wie abgehustet vor jedem ehrenmal des unbekannten, schulter an schulter, halbschwimmer, schriftführer erstarrt vor der weit aus gestreuten namenlosigkeit unserer befreier. […] […] leuchtend jeder gruss in seiner folge auf brosamen und eingeweiden. unser gruss mit flacher, erhobener hand. […] bin ichs oder bin ichs nicht 27

Figuriert wird der Frust gegenüber „Gleichschaltung“ und „Hermetik“ des Landes nicht zuletzt durch die Subversion der festcodierten Semantik der Heimat-Konstellation, der sowohl die Phantasiefluchten der Kinderspiele gelten, („als kind wollten wir immer / in andere länder / marschieren, aber / am waldrand waren wir alt / & mußten zurück“28), als auch die Aura unbekannter Territorien, wofür Stichworte wie madagaskar, alaska oder gagarin als kondensierte Abbreviaturen stehen. Ähnlich verknappt verhält es sich mit den sachlichen Verweisen auf die „Realgegenwart“ des DDR-Staatsgebildes, vor deren Hintergrund Seilers Kindheitsmuster nach und nach Konturen gewinnt. Lassen die Zeitangaben einiger Gedichtüberschriften

26 Seiler: Heimaten. In: Ders., (wie Anm. 2), hier S. 47. 27 Seiler: pech & blende, (wie Anm. 9), S. 47. Analog operiert das Gedicht wanzen, das den Ref-

rain aus dem populären Kinderlied auf der mauer auf / der lauer mit dem Unbehagen am sozialistischen Ritual des Kollektivsingens verschränkt: „erstens schnauze alle singen / zweitens auf der mauer auf / der lauer drittens lauter & // wir sangen […] wir sangen erbrachen begannen / erneut unser lied sie rücklings langsam kleiner / lauter singend ab zu würgen doch […] wir / sangen wurden schwarz verschwanden waren wanzen viertens: das war ich.“ (Ebd., S. 44; vgl. dazu Seiler: Heimaten. In: Ders., (wie Anm. 2), S. 44–47). 28 Seiler: pech & blende (wie Anm. 9), S. 54.

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(mein jahrgang, dreiundsechzig, jene; neunundsechzig, altes jahrhundert; dreiundachtzig)29 auf bestimmte kulturgeschichtliche Phasen der sozialistischen Ära rückschließen, so kommt der Nexus zwischen Makro- und Mikrohistorie erst durch den Akzent auf subjektivierte Nahaufnahmen zum Vorschein. Zumeist orientiert sich das Erinnerungsprinzip an der lakonischen Methodik der „inventur“30. Alltagsszenarien reihen sich in loser Sequenz aneinander und fungieren durch in der Versdiktion einzeln skandierte Details, Figuren, Zeichenkombinationen als „Medium fürs Eintauchen in die Geschichte“ – so etwa die vergiftete Naturlandschaft („das holz“, „das gras“,„die böschung“, „die fäulnis“, „der tickende schutt“ …); die archaisch anmutende Welt der Bauernhöfe („die ernte“, „die scheune“, „der stall“, „die zäunung“, „die schafe“, „das vieh“,…); die trägen Rhythmen des Dorf- und Familienlebens („totentage“, „fruhstücksstimmen“, „mittagsschlaf“, „heldenfilme“, „abendbrot“ …); das Umfeld der Neubausiedlungen („häuserzeilen“, „grünanlagen“, „plattenwege“, „wäschestangen“, „eisenschaukeln“ …); die routinierte Disziplin der Schule und später des Militärdiensts („milchdienst“, „tischdienst“, „fahnenappell“, „latrine“, „des-/infektionen“, „wachstube“ …). Kongruent dazu kristallisiert sich das Profil der Ich-Instanz aus der Dominanz isolierter Körperteile heraus („die kehle“, „die schläfen“, „der scheitel“, „die ohren“, „der schädel“, „das knie“, „die knochen“, „die bronchien“, „ die lungen“, „die finger“, „die nägel“ …), und zwar oft in Verbindung mit Verben, denen eine gleichsam hypnotische Sogwirkung anhaftet: das „atmen“, das „hocken“, das „lauschen“, das „wispern“, das „zucken“, das „winken“, das „sehen“, das „nachsehn“ und immer wieder das „gehen“, das „hinten gehen“, das „ortsfeste gehen“. Und dennoch täuscht Seilers häufiger Gebrauch des Präteritums über die narrative Intention seiner lyrischen Gefüge hinweg: „Nach dem Lesen oder Hören dieser Gedichte – schreibt er in Zusammenhang mit dem Gedicht Sonntags dachte ich an Gott – hat man das Gefühl, es wurde einem etwas erzählt, man ist nur nicht in der Lage, eindeutig zu sagen, was es war, denn es war vieles gleichzeitig.“31 sonntags dachte ich an gott wenn wir mit dem autobus die stadt bereisten. am löschteich an der strasse stand ein trafohaus & drei & vierzig kabel kamen aus der luft in dieses haus aus hart gebrannten ziegelsteinen; dort

29 Ebd., S. 41–42 und 85–90; Seiler: vierzig kilometer nacht (wie Anm. 11), S. 82–83. 30 Seiler: im felderlatein (wie Anm. 10), S. 83. 31 Seiler: Sonntags dachte ich an Gott. In: Ders., (wie Anm. 2), S. 132–147, hier S. 135 f.

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im trafo an der strasse wohnte gott. ich sah wie er in seinem nest aus kabel enden hockte zwischen seinen ziegelwänden ohne fenster dort am grund im dunkel an der strasse hinter einer tür aus stahl sass der liebe gott; er war unendlich klein & lachte oder schlief32

Aufschlussreich ist der Selbstkommentar, der die Textgenese „aus dem Zentrum des Geschehens“ poetologisch erläutert. Nicht nur zugunsten des Lesers dekonstruiert Seiler hier die enge Motivverflechtung der Lyrik, indem er die etlichen Inspirationsfäden auseinanderzieht, um sie als korrelierte Elemente einzeln zu deuten und in einer komplementären Prosaarchitektur neu zu bündeln. In der Tat handelt es sich um das Extrapolieren neuer Ausgangs- und Fluchtpunkte aus dem Mäandernden der Erinnerung, wodurch Seiler das Ungeschriebene gleichsam wiederholt. Dazu gehören die Kinderphantasien über Elektrizität, die unheimliche Figur des „Werkkundemann[es]“ aus der Schulzeit, die konzentrierte Arbeit in der Garage mit dem Vater, die gemeinsame Leidenschaft für Motoren und Motorräder, das sonntägliche Läuten der Glocken, die ferne Vorstellung Gottes, und, als bindendes Stimmungsbild, die Glücksstunde „der Ruhe, der Aufmerksamkeit, des stillen, sich in Wiederholungen bestätigenden Tätigseins“, die mit einem Zustand der „Andacht“ und oder gar mit einem metaphysischen Gespür für „Jenseitige[s]“ gekoppelt wird.33 Derselbe Kondensierungseffekt, nur weiter intensiviert, ist im Spiel bei der Denkfigur im felderlatein, die – als Gedichttitel im Zyklus pech & blende (2000) bereits vorhanden – als Gesamttitel des Lyrikbands von 2010 wiederaufgenommen wird und somit auf das feine Netzwerk der Selbstzitate und intertextuellen Verbindungslinien 32 Ebd., S. 132 (auch in: Seiler: pech & blende (wie Anm. 9), S. 58). 33 Ebd., S. 140 f. Als einziger im Hinblick auf die Essaysammlung neu geschriebener Text ist

Sonntags dachte ich an Gott aus einer Anregung des damaligen Lektors des Suhrkamp-Verlags Thorsten Arendt hervorgegangen: „Zunächst stand der Buchtitel fest“, dann galt es „die Szenen zum Titel zuzuführen.“ (So Seiler anläßlich des Poetikseminars, das er im Januar 2010 im Rahmen des Forschungskolloquiums zur Gegenwartsliteratur „scrittureletturetedesche“ an der Universität „L’Orientale“ Neapel abgehaltenen hat). Hier sind bereits die Prämissen zur Entfaltung des narrativen Prosaduktus zu erblicken, die zu den beiden Erzählungsbänden (Turksib (2008); Die Zeitwaage (2010)) und zum größeren Entwurf des Romans Kruso (2014) führen werden.

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verweist, das Seilers Œuvre durchzieht. Mit seinem magisch beschwörenden Resonanzraum vermag das neu geprägte Wort-Bild das Sediment einer Ursprache zu chiffrieren, in der konvergierende Bedeutungskonstellationen mitschwingen – zum einen das heimatliche Alphabet der verlorenen Kindheit, zum anderen das verborgene Idiom der verlorenen Herkunftslandschaft, die sich simultan als Natur- und Geschichtsraum darbietet.34 So verschränkt sich in der ersten Lyrik, die den Titel im felderlatein trägt, das Lauschen des „inneren kindes“ auf „gemurmelte sprachen“, (auf ihr „rollen nach innen“), mit dem Weg à rebours des Erwachsenen, durch den erst jene semantische Latenz als tief gelagertes Erfahrungsarchiv zutage gefördert und hinübergerettet werden kann: „diese // strassen sind eine leise gesprochene / sprache noch über das einmal / gesagte hinweg an den gärten / ins felderlatein.“35 Zu dieser komplexen zeiträumlichen Landschaftstextur fügen sich im Zuge der Transformationswellen der Nullerjahre weitere (Bedeutungs-)Schichten hinzu. Nicht von ungefähr integriert der eingangs erwähnte Essay Schwarze Abfahrt Gera-Ost (2003)36 eine aktualisierte Bestandsaufnahme des Wismut-Areals, das Seiler in Anlehnung an der ihm kongenialen Lese-Methode des Dichters Jürgen Becker mnemographisch kartographiert.37 Festgehalten wird die vertraute Physiognomie der Abraumhalden kurz vor ihrem endgültigen Verschwinden, während die fortschreitenden Rekultivierungsmaßnahmen auf die Installierung der sogenannten „Neulandschaft Ronneburg“ im Rahmen der Bundesgartenausstellung von 2007 bereits hindeuten: Wer die Uranprovinz noch einmal sehen will, muß sich beeilen. 2007 sollen alle Halden verschwunden sein, dann wird die Bundesgartenschau sich mit ihrer guten dunklen Muttererde über den Schutt gelegen haben. Schon jetzt verändert sich die Landschaft täglich, jeden Tag werden 40000 Tonnen Haldenmaterial bewegt. Besuchern wird der sogenannte ‚Revitalisierungspfad Nr. 5‘ empfohlen, der über einen Rundkurs von 11 Kilometern allerhand bereithält: 34 Zum weiten Assoziationsfeld des Neologismus vgl. Seilers Gespräch mit Michael Opitz, zit.

in: Opitz: (wie Anm. 1), S. 189.

35 Seiler: pech & blende (wie Anm. 9), S. 55. 36 Zuerst erschienen war der Text in der Süddeutschen Zeitung vom 25./26. Januar 2003 und dann

in der Anthologie: Deutsche Landschaften. Hg. v. Thomas Steinfeld. Frankfurt/M.: S. Fischer 2003, S. 173–183. 37 Mit dem Dichter Jürgen Becker teilt Seiler nicht nur die ästhetische Konzentration auf das „Orte-Lesen“, sondern auch die autobiographische Verbindung zur ostdeutschen Kriegs- bzw. Nachkriegslandschaft bei Leuna, wo Becker zwischen 1939 und 1947 Teil seiner Kindheit verbrachte und Seiler selbst circa 40 Jahre später beim Militär diente. Vgl. Lutz Seiler: „Nie hört die Nachkriegszeit auf“. In: Ders., (wie Anm. 2), S. 67. (Ausschnitte dieses Aufsatzes wurden in der von Seiler gehaltenen Laudatio auf Becker anlässlich der George-Büchner-Preisverleihung 2014 überarbeitet und hineinmontiert. Vgl.: http://www.deutscheakademie.de/de/auszeichnungen/ georg-buechner-preis/juergen-becker/laudatio (zuletzt aufgerufen: 26.05.2017)).

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von der Aussichtsplattform am Rande des Tagebaurestloches Lichtenberg kann man den Blick Hunderte Meter in die Tiefe schweifen lassen. Oder man wandert über Panzerplatten am Fuße der beiden weiterhin sichtbaren, längst ins Bild dieser Landschaft eingeschriebenen Kegelhalden. Natürlich hat man ein Schaubergwerk errichtet, die tatsächlichen Stollen, die sich über eine Länge von über 1000 Kilometern durch das Erdreich ziehen, sind aus Strahlenschutzgründen gesperrt. Und wo 1666 die Bad Ronneburger Urquelle mit dem strahlenden Heilwasser entdeckt worden war, steht ein Glaspavillon zur Besichtigung bereit.38

Die erste Sektion des Lyrikbandes im felderlatein, (ortsteile gab es, orte), liest sich konsequent als poetisches Protokoll einer posthumen Inspektion. Eröffnet wird sie durch das Gedicht das neue reich, wobei der Rückgriff auf Stefan Georges bekanntes Motiv aus Das Jahr der Seele („komm in den totgesagten park und schau“) mit dem Topos der Sprachkrise Hofmannsthal’scher Provenienz verknüpft wird. Entscheidend ist aber hier die Akzentverschiebung, die in beiden Fällen das Gefühl des Befremdlichen transportiert: fernsprechrauschen, vogelhusten: zuerst gehst du noch einmal alles durch in den gedanken; die blaue waffelkachel gab es schon, brusthoch der braune sockel, öl & die gebüsch-motive; nadelnd, fast musik ist das herausrieseln der stimmen aus den kugellampen. kein labyrinth & keine chandoshysterien, nur wortgeruch & falsche nelken: früher war es nicht vergittert dieses fenster, nicht gemarkert diese schrift komm in den totgesagten technikpark – fischgrätenstrich39

38 Seiler: Schwarze Abfahrt Gera-Ost. In: Ders., (wie Anm. 2), S. 117. Der Essay dokumentiert

im Detail die Gesichtsveränderung des Landschaftsraums um Gera und korreliert die 1996 eröffnete „Anschlußstelle 59“ der neuen Bundesautobahn „mit der endgültigen Zerstörung einer Extraterritorialität, wie man sie den Lieblingsorten der Kindheit noch zuspricht, wenn in Wirklichkeit nichts mehr dazu Anlaß gibt“ (ebd., S. 115; vgl. dazu: Di Rosa: (wie Anm. 6), S. 263 ff.). 39 Seiler: im felderlatein (wie Anm. 10), S. 11 [Formatierung und Hervorhebung im Original].

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Als „Hüter des genius loci“ rekurriert der Dichter auf die kontemplative Geste des Verweilens als Strategie der Resistenz gegen den ringsum waltenden Mechanismus der Tilgung und Substitution. Der Überschreibung des Territoriums durch den neugestalteten Freizeitpark und der damit einhergehenden Vermarktungslogik wird eine andere Ökonomie der Wahrnehmung gegenübergestellt – und sie frönt nicht dem Verstummen, das bei Lord Chandos als Folge des Schreibversagens galt,40 sondern fungiert als Präzisionsinstrument, um die paradoxe Evidenz der „abgeschafften dinge“ erst recht zu konstatieren. Stationen der retardatio („lauschen“ „blinzeln“, „inne halten“) bestimmen weiterhin den Weg durch die artifizielle „bereinigung“ der technisch reproduzierten Naturkulisse. Erst nach und nach, „schritt für schritt“, vermag sich das Ich der fortwirkenden Interferenz des Vergangenen zu vergewissern: „statisch, die geduld // der widerstände, das knistern in / den lebensfäden“; „die schreibhand blaß // im gang durch die instanzen“; „auf lunge nahm ich diese schächte wo / der leere raum entsteht […] – siebzehn jahre // vor dem text“.41 Lyrisch performiert wird dieser Wach/Traum-Zustand der Versunkenheit als ein Zugleich von Besitz und Verlust, Verwurzelung/Entwurzelung, Heimkehr und Abschied. So zieht im ganzen Gedichtzyklus die Gravitationskraft der Erinnerung immer wieder konzentrische Bahnen um den nun ferneren Meridian-culmitzsch und generiert im Wechselspiel Damals/Heute eine eigene Sprachdynamik der Wiederholung, Abwandlung, Vertiefung als transformative Arbeit an der Wortsubstanz: „die löffel / liegen bei den löffeln, das fett / an den stiefeln & zur stiefelkammer führt / jene zwergenhafte tür, die dich / zu tränen rührt. mutter der löffel // käme ich nach haus, wäre alles gesagt. […] heimkehr / ist einkehr des atems / staubige umkehr […].“42 Wesentliche Gestalten dieser erneuten Expeditionen in das „Gewordensein der Landschaft“ sind die Bäume, die sich mit der präzis beobachteten Graphik ihrer Äste, Wurzeln, Rinden, Jahresringe als altehrwürdige Protagonisten des Naturraums behaupten. Kraft ihrer autonomen Sprache zeugen sie von der organischen Kontinuität des felderlatein und stemmen sich souverän gegen die einebnenden Effekte einer „schnelle[n] geschichte“.43 40 Auch bei der Re-Lektüre des Hofmannsthal’schen Motivs der Sprachkrise knüpft Seiler zwi-

schen den Zeilen an Hilbigs poetisches Erbe an (vgl. die imaginierte Replik auf Lord Chandos anlässlich des 100-jährigen Brief-Jubiläums, in der Hilbig gegen den „Sprachverfall“ für eine ‚andere‘ Sprache der Wahrnehmung bzw. für eine neue Sprachermächtigung der Literatur plädiert. Ders.: Aufruf zum Widerstand. Warum wir dem Verfall trotzen müssen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (19.7.2002), S. 37). Über die erste Begegnung mit der Lyrik Georges berichtet Seiler in seinem Essay: Das dunkle Blau. In: George-Jahrbuch 10 (2014/2015), S. 125–129. 41 Seiler: im felderlatein (wie Anm. 10), S. 12, 14 und 17. 42 Ebd., S. 27 [Hervorhebungen im Original; Unterstreichungen V.D.R.]. 43 Vgl. Seiler: vierzig kilometer nacht (wie Anm. 11), S. 64.

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[…] all die falschen scheitel, sauber nachgezogen im archiv der glatten überlieferung. gern sagst du, es ist die kälte, welche dinge hart im auge hält, wenn große flächen schlaf wie winkelschleifer schleifen in den zweigen. so sagt man auch. es ist ein baum & wo ein baum frei steht muß er sprechen (im felderlatein)44

*** Mit der gleichen Konzentration auf der erzählenden Physiognomie des Waldes bewohnt Seiler seit der Jahrtausendwende das Haus an der Peripherie Potsdams, wo der Dichter Peter Huchel residierte und als Chefredakteur der Zeitschrift „Sinn und Form“ wirkte, bevor er vom Amt abgesetzt und in eine exilähnliche Isolation gezwungen wurde, bis er schließlich 1971 das Land verlassen durfte. „Draußen im Walde vom Wilhelmshorst“45: Der Essay Im Kieferngewölbe schildert den Einzug in die ehemalige Villa Hoeft am Hubertusweg als Dialog des Neuankömmlings mit dem früheren illustren Bewohner. Anhand der Lyrik und der 44 Seiler: im felderlatein (wie Anm. 10), S. 53. Transponiert wird hier „eine implizite Kritik an

einer Art von Geschichtsaufarbeitung, die nur unterstreicht („nachzieht“), was politisch korrekt ist, sich aber trotzdem als seriös arbeitend darstellt; das Archiv wird damit zu einer Art Erfüllungsgehilfe dessen, was politisch opportun ist, je nach Machtverhältnissen; eine Geschichte, die sicher nicht einmalig ist, aber ich hatte die Aufarbeitung von DDR-Geschichte im Kopf. Das poetische Bild ist sicher schwer übertragbar, […] es ist eine Metapher, die von ihren nicht-paraphrasierbaren Anteilen lebt. Die körperliche Vorstellung (Scheitel) und die papierne Anmutung des Archivs als Kontrast“ (so Seiler im Sommer 2011 in einem E-Mail-Austausch anlässlich meiner Übersetzung ins Italienische einer Auswahl seiner Gedichte; vgl. Valentina Di Rosa: Lutz Seiler – La misura del tempo. In: Poesia. Mensile internazionale di cultura poetica XXV, (2012), 267, S. 14–27). Vgl. auch: Valentina Di Rosa: „zu gast in der rinde“. Lutz Seilers Gratwanderungen zwischen Natur- und Dinggedicht. In: Sprache im technischen Zeitalter 55 (2017), 223, S. 269–281, dem die folgenden Abschnitte dieses Aufsatzes (leicht modifiziert bzw. weiter ergänzt) entnommen sind. 45 Das berühmte Hans Mayers Zitat stammt aus seinem ebenso berühmten Essay über Huchel (vgl. Ders: Erinnerungen eines Mitarbeiters von „Sinn und Form“. In: Hans Mayer (Hg.): Über Peter Huchel. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1973, S.173–180 und dazu: Seiler: Im Kieferngewölbe. In: Ders., (wie Anm. 2), S. 9–30, hier S. 25 ff.).

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Notizhefte Huchels erkundet Seiler mit der ihm eigenen Genauigkeit die einzelnen Räume des Hauses und dessen Umland, registriert die „bewegliche Zeichnung“ der Kiefer, sondiert die Stimmung „unter den Sohlen“ auf der Suche nach „Verbindungen in die Tiefe“, verzeichnet die in der Natur- (und Literatur-)landschaft eingeschriebenen Spuren, betrachtet sein Tagwerk als Re-Lektüre des geschichteten Palimpsests der Gegend und Fortschreibung der ortsgebundenen Tradition. Zwei Perspektiven fließen hierbei ineinander: Einerseits beschäftigt Seiler die gebrandmarkte Schriftstellerexistenz Huchels, andererseits die „Zeugenschaft“ des Ortes, die er im Erdboden sedimentiert weiß und insofern als physischen Umgang mit der organischen Materie („Gewächse“, „Moos“, „Beete“ „Wiese“, „Waldgras“, „Sand“, „Holz“, „Laub“) versteht. Den „Spaten“ in der Hand, reflektiert er die Hinwendung zur konkreten ländlichen Gartenarbeit im Sinne einer real/symbolischen „Archäologie“, die zwischen den Zeilen an Benjamins paradigmatischer Methode des Ausgrabens und Erinnerns gemahnt.46 So nimmt es nicht wunder, dass er das Ritual der ersten eigenen Baumpflanzungen im Huchel-Garten als Figur einer quasi wortwörtlichen Aneignung dessen materiellen/immateriellen Erbes im Detail protokolliert: „Gedenk derer, / Die einst Gedichte wie Bäume gepflanzt“.47 Huchels Inversion des Brecht’schen Diktums mobilisiert sinnverwandte Visionen, denn auch Seiler will das Reden über Bäume nicht als Verdrängung der Geschichte, sondern erst recht als Teilnahme am diachronen, tieferen Wissen der Natur verstanden wissen. … heimleuchten, hartwuchs: der preussische wald ist moränen-mechanik, als ob er noch aufrücken könnte, wort für wort, wenn kühl im laub mit dem regen, der kommt, der wind anschlägt und sein langes, langsames sprechen 46 Ebd., S. 15 f. 47 Ebd., S. 29: „Meine überwachsenen, im Grunde unsichtbaren Beete und die Pflege ihrer spon-

tanen, sporadischen Überlieferungen haben mich zur Gartenarbeit gebracht. […] Am 6. Januar 2000, am Tag der ,Heiligen drei Könige‘, pflanzte ich unseren Christenbaum […]: meine erste eigene Pflanzung, die nun im diesem Schichtenwerk der Zeit den Jahrtausendwechsel markiert. […] Im Frühjahr darauf pflanzte ich einen weiteren Baum, der jetzt auf halbem Wege zwischen den Totenbeeten und denen aus der Huchelzeit, die als Gemüsebeete näher zum Haus lagen“ [Hervorhebung V.D.R.]. Als geradezu programmatisch liest sich hier die Anspielung auf Huchels Gedicht Der Garten des Theophrast, das, im letzten von ihm herausgegebenen Heft von „Sinn und Form“ (1962) publiziert, seinen Abschied von der Zeitschrift besiegelt und den Beginn des inneren Exils förmlich markiert. (Vgl. Peter Huchel: Gesammelte Werke. Hg. v. Axel Vieregg. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1984, Band I: Gedichte, S. 155).

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beginnt jahrelang selber wald gewesen […]

(hubertusweg)48

ich sah, was kiefern schrieben mit ihrem von schnee schwer abgehangenen gebein; jeder satz war in den schlaf gespannt […] […]. ich las die kalten frachtpapiere, träume über wölfe & verlangen, träume von dodona und swedenborg wo ich nie gewesen bin.

(in die mark)49

Allerdings führt der Leitfaden des Baumdiskurses weit über den topographischen Bezug zum Ort hinaus, denn was Seiler vorschwebt, ist eine prinzipielle Rehabilitierung der Naturlyrik als „eine der stärksten Traditionslinie der deutschen Poesie“, die er durch die auf die sechziger Jahre datierte Wende zum „modernen Alltagsgedicht“ als zu Unrecht verdrängt oder gar diskreditiert sieht.50 Verankert im selben poetologischen Horizont ist seine Aufwertung der unzeitgemäßen Autorenkonstellation, die im Zeichen einer „Moderne ohne die üblichen Modernismen“ Peter Huchel mit Günter Eich und beide wiederum mit Wilhelm Lehmann und Oskar Loerke verbindet.51 Als Wiederentdeckung eines zum großen Teil in Vergessenheit geratenen Werks liest sich Seilers längerer, Loerke gewidmeter Essay als Bekenntnis zu dessen naturmagischer Bildkraft und gleichzeitig als Folie einer ästhetischen Selbstreflexion. Gepriesen wird bei Loerke bezeichnenderweise die Zentralität der Bäume als „Kuppler […] zwischen Unten und Oben, Oben und Unten“ und insofern als faszinierende Achse „eines vertikalen Weltzusammenhangs“. Ist Loerkes Wald eine „Parallelwelt, in der alles gefunden werden kann: Musik, Lektüre, Geschichtsschreibung“, so wird

48 Seiler: vierzig kilometer nacht (wie Anm. 11), S. 23 [Hervorhebung im Original]. 49 Seiler: im felderlatein (wie Anm. 10), S. 41. Ist die Anspielung auf Brechts Lyrikzyklus aus dem

dänischen Exil unschwer zu erkennen, so verweisen die Anmerkungen im Anhang des Bandes auf den „ältesten Orakel der griechischen Welt“, der sich wiederum als Reminiszenz an Hilbigs „dodonische wälder“ liest (vgl. Wolfgang Hilbig: zwischen den paradiesen. Prosa – Lyrik. Hg. von Thorsten Ahrend. Mit einem Essay von Adolf Endler. Leipzig: Reclam Verlag 1992, S. 284). 50 Seiler: Im Kieferngewölbe. In: Ders., (wie Anm. 2), S. 26. 51 Ebd.

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die „Funkverbindung“ mit der „Kiefernversammlung“ in Wilhelmshorst nicht verschwiegen, sondern nachdrücklich pointiert.52 Insoweit hat Seilers Positionsbestimmung im „Draußen“ nicht mit dem Topos der „Weltflucht“ oder gar mit einem Rückzug ins „Idyllische“ zu tun, sondern eher mit einer poetologisch motivierten Verortung in einer Genealogie jenseits der „automatischen Kopplung zwischen Stadt und Moderne“53. Darauf spielt nicht zuletzt die zeiträumliche Figuration der vierzig kilometer nacht an, die sich als Vermessung eines doppelten Distanzgrades liest – einerseits als Markierung der 40 Jahre währenden Existenz des DDR-Staates, die als „gegen-zeichnung“ die Stratigraphie der neuen „republik / berlin“ mit bestimmt,54 andererseits als Hinweis auf die geographische Entfernung von der westöstlichen Metropole, die spätestens seit den Nullerjahren zum beliebten Mittelpunkt der Literaturszene des wiedervereinigten Landes geworden ist. Gemeint ist jedoch nicht der Wille zu einer radikalen Sezession, sondern vielmehr die produktive Konzentration auf den „Wald als Ort des eigenen Schreibens“, die Seiler durch ein Zitat aus Francis Ponges Notizbuch vom Kiefernwald noch einmal unterstreicht: „Alles hier, ohne Exzeß, ist darauf eingerichtet, einen sich selber zu überlassen […], und das inmitten der Natur, ohne scharfe Trennung, ohne gewollte Isolation, ohne große Gesten, ohne Hemmschwellen.“55 Anvisiert in Form einer „Wahrnehmungs-Utopie“ ist hier ein komplexes ästhetisches Unterfangen, das – in Anlehnung an die Achse Huchel/Ponge – als Gratwanderung zwischen Natur- und Dinggedicht umrissen wird: „Abwesenheit als ein erstrebenswerter Zustand und die Chance, als Schauender scheinbar zurückzutreten, die Dinge wahrzunehmen ohne Absicht, statt ihnen mit unseren Bestimmungen zuvorzukommen.“56 52 Lutz Seiler: Im Wald der Welt. Zu Oskar Loerke. In: Oskar Loerke: Sämtliche Gedichte. Hg.

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v. Uwe Pörksen/Wolfgang Menzel. Göttingen: Wallstein 2010, S. 7–22. Zu dieser literarischen Spurenvergewisserung gehört ferner die Fahrt nach Frohnau, die Seiler auf der Suche nach den von Loerke besungenen „fünfundvierzig Bäumen“ unternimmt, um dann vor Ort feststellen zu müssen, dass nur eine einzige – „eine echte Loerke-Kiefer“ – davon übriggeblieben ist. (Ebd., S. 14). Seiler: Im Kieferngewölbe. In: Ders., (wie Anm. 2), S. 26. Vgl. das Titelgedicht des Bandes vierzig kilometer nacht, in dem die real-imaginierte Autofahrt Berlin-Potsdam über die ehemalige Transitstrecke zu einer Inventur „im gegenlicht“ des sich rapide verändernden Landschaftsraums der Nachwendejahre wird – „nervenbilder“ stehen für „ein heimatlich gedächtnis“, wobei der Signalwert der Majuskeln die subjektive „Verletzlichkeit des Blicks“ angesichts der Furie des Verschwindens transportiert: „auf fah rt / / s a ar mün d : [… ] h i e r / bau t f ür s i e das l an d … [ … ] ic h / mö c h t e g e r n no c h bl e i be n doch // de r wag e n r ol lt a m bi l d vor be i [ … ] stau [ … ] abfah rt / t e lt ow [… ] jeder Blick / ein n e g at iv. tunnel aus / absencen.“ (Seiler: vierzig kilometer nacht (wie Anm. 11), S. 32–36). Seiler: Im Kieferngewölbe. In: Ders., (wie Anm. 2), S. 30 [Hervorhebung im Original]. Seiler: „Und unter den Füßen liegen die Vergangenheiten …“. In: Ders., (wie Anm. 2), S. 75. [Hervorhebung im Original]. Seiler beschäftigt sich näher sowohl mit Huchels Rezeption der

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Darauf beruht Seilers gründliche Auseinandersetzung mit der Tradition beider Genres, die ihn zur Verwirklichung einer stilistischen Neusynthese führt. Perspektiviert das Gedicht die rosen die Absage der klassischen Moderne an die Attitüden der Erlebnislyrik,57 so erläutert Seiler die Inspiration des ersten in Wilhelmshorst geschriebenen Gedichts (good evening kap) durch die Betrachtung von Edward Hoppers Wald-Bild Cape Code Evening, dem er auch die enigmatische Präsenz eines Hundes entlehnt.58 Die Spur des Tieres erweist sich hier als eine besonders signifikante, denn an ihr entlang lässt sich die Architektur eines eigentümlichen Echoraums von Resonanzen und intertextuellen Referenzen aufschlüsseln, die Seilers schöpferischen Umgang mit literarischen Modellen bzw. kongenialen Weggefährten methodisch prägt. Diese Konstellation bildet den Kern des poetologischen Gedichts der schrifthund: vom speckrand her: der richtplatz ist mein lesezimmer. schrift mit lücken, dazu russisch birken-blicke, […] & jetzt auf beutespuren: […] […]: denn im wald da wird das rauschen seiner unbehaustheit gross & hoch & seine unbehaustheit hat

mystischen Lehre Jakob Böhmes (De signatura rerum) als auch mit Ponges Ästhetik des Parti pris des choses, die sich in dessen Einführung in den Kieselstein rekapituliert findet (vgl. hierzu Seiler: „Im Falle des Verlusts zu senden an“. Peter Huchel – Lebensbibliothek und poetisches Grundbuch. In: Ders.: (wie Anm. 2), S. 81–98, hier S. 97 und Seiler: Heimaten. In: Ders., (wie Anm. 2), S. 38). Eine weitere Brücke wird daraufhin zwischen Ponge und Loerke geschlagen: Beide Autoren verbinde die „Überzeugung, daß die Dinge selbst im Zentrum der Bemühung gehören beim Schreiben und nicht, was darüber gefühlt oder ‚gemenschelt‘ werden könnte.“ (Seiler: Im Wald der Welt (wie Anm. 52), S. 12). 57 Dabei suggeriert das Rosenmotiv Anklänge an die doppelt verbindliche Lektion von Rilkes Selbstepitaph („Rose, oh reiner Widerspruch…“) und Celans Niemandsrose im Sinne einer sprachreflexiven Dekonstruktion des Topos: „die rosen liegen im schatten / und sind so kühl – was / doch hiesse: pressen, präparieren, »emotional / gewesenes«. doch // zu leicht gebaut der kasten mit / der walze, resonanzen, ein / paar fresken für / den trüben text, der weiter geht & dir / die hände auf den scheitel legt: // schneide die rosen, sie / beginnen zu denken“ (Seiler: vierzig kilometer nacht (wie Anm. 11), S. 28 [Hervorhebung im Original]). 58 Seiler: Im Kieferngewölbe. In: Ders., (wie Anm. 2), S. 12 f.

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den schrifthund aufgehetzt. der trainer brüllt, der schrifthund kläfft & bringt ihm all die toten lerchen mit den versen, weich am hals wie schleifentiere. das war falsch. der gute trainer muss jetzt schlagen, streng bestrafen, doch er weint, er wendet sich dem schrifthund zu: »ich weiss, das alles warst du nicht, du warst so welche trän’ vielleicht von schlechten augen & vor versen eingeknickt bist du, nicht schlimm, du bist nur falsch herum gestanden, nicht herein geschaut in mein« & schlägt das vieh in sein gesicht. dann folgt der schrift-59

Das Zitat „Ein Hund bellt. Was für eine Erleichterung: ein Hund“, das den Lyrikzeilen vorangestellt wird, spannt einen ersten Bogen zu Rilkes Malte und dessen Sehnsucht nach dem Landleben, indem es einen Kontrapunkt zum Gefühl der „unbehaustheit“ statuiert, von dem im Gedicht die Rede ist – für Malte gilt das Fremdgefühl der Pariser Modernität; für den fiktiven „schrifthund“ einem fremden, sich neu anzueignenden „wald“. Die elliptische Wendung der „russisch birken-blicke“ verweist ferner (im Sinne einer Vorstufe) auf Rilkes Neuschulung des Blicks durch die Pariser Begegnung mit der Malerei Cézannes, worüber die Briefe über Cézanne berichten – es ist nämlich hier, dass Rilke in Zusammenhang mit dessen Lehre der „Dingwerdung“ den Kurzschluss Cézanne-Hund im Bild festhält, um dann eine sich verselbstständigende Dynamik Herr/Hund daraus zu entfalten.60 59 Seiler: vierzig kilometer nacht, (wie Anm. 11), S. 26 f. 60 Vgl. den Brief vom 9. Oktober 1907: „So malt er nach seinen alten Zeichnungen. Und legt sich

seine Äpfel hin auf Bettdecken […]. Und macht (wie Van Gogh) seine ,Heiligen‘ aus solchen Dingen; und zwingt sie, zwingt sie, schön zu sein […]. Und sitzt im Garten wie ein alter Hund, der Hund dieser Arbeit, die ihn wieder ruft und ihn schlägt und hungern läßt. Und hängt doch

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Ein weiterer, ebenso verborgener Faden führt über Cézannes Kunstprinzipien zu Peter Handke, der in Die Lehre der Saint-Victoire die Reise auf den Landschaft-Spuren des französischen Malers mit einer vertiefenden Reflexion über das Wechselverhältnis Ding-Bild-Schrift zusammenfügt.61 Doch nicht nur diese produktive Affinität verlinkt Handke mit Seiler, sondern auch dessen Rolle als deutscher Übersetzer von Ponges Notizbuch vom Kieferwald – ausgehend von der Parteinahme für die Autonomie des „Objekts“, inszeniert Ponge hier metaliterarisch das langwierige Entstehen seines Poems als Resultat eines Ringens mit dem Wortmaterial in der Vor- und Rückwärtsbewegung der verschiedenen Fassungen.62 Vor dem Hintergrund dieses weit gefächerten Assoziationsfelds codiert Seiler die progressive Herausarbeitung einer eigenen Ästhetik als Domestizierungsprozess des Schrifthundes. Dessen Rennen „auf beutespuren“ im Auftrag des strengen Trainers, (hier wie bei Rilke als alter ego des [Schrift-]Hundes zu verstehen), liest sich zwischen den Zeilen als eine Allegorie der Einflussangst („der richtplatz ist mein lesezimmer“). Zuerst bringt der Hund nur „die toten lerchen mit den versen“, aber „das / war falsch“, wie es falsch und strafwürdig ist, nur „vor versen“ einzuknicken, so herum zu stehen und nicht (in sich selbst) herein zu schauen. Doch erst diese „falsche“ Haltung ermöglicht, sich von der Ehrfurcht gegenüber tradierten Bildern zu befreien und den eigenen Weg einzuschlagen. Was geschehen muss, ist eine kreative Transformation des Lese-Materials nach der Logik eines eigenen Alphabets, worauf die Schlusszeile im Sinne einer geglückten Emanzipation anspielt: „dann folgt der schrift-„ Dieselbe Dialektik des Lesens/Schreibens grundiert freilich von Anfang an Seilers Beschäftigung mit Huchels Werk und dessen Hinterlassenschaft, wobei die Entscheidung, „in einer Art Ahnentempel der Literatur“ zu siedeln, den programmatischen mit allem an diesem unbegreiflichen Herrn, der ihn nur am Sonntag zum lieben Gott, wie zu seinem ersten Besitzer, zurückkehren läßt, für eine Weile.“ (Rainer M. Rilke: . In: Ders.: Werke. Hg. v. Manfred Engel/Ulrich Fülleborn et al.. Frankfurt/M.: Insel Verlag 1996 f.. Bd. 4: Schriften. Hg. v. Horst Nalewski, S. 597–636, hier S. 611 f ). 61 Gestreute textuelle Indizien machen Seilers Lektüre des Handke-Buchs durchaus plausibel – verknüpft wird hier nämlich Cézannes Programm der réalisation mit Edward Hoppers Malerei durch einen expliziten Verweis auf dessen Cape-Code-Landschaftsmotive (vgl. Peter Handke: Die Lehre der Saint-Victoire, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1980, S. 19). In Zusammenhang mit der „Verwandlung und Bergung der Dinge in Gefahr“ wird ferner Cézannes Briefstelle zitiert, die sich auf das durch Industrie und Fortschritt bedingte Verschwinden seiner Landschaft in der Provence bezieht: „Es steht schlecht. Man muss sich beeilen, wenn man noch etwas sehen will. Alles verschwindet.“ (ebd., S. 79 f.). Eine analoge Redewendung gilt in Schwarze Abfahrt Gera-Ost dem Verschwinden der Wismut-Landschaft (vgl. dazu Anm.38). 62 Insbesondere die beiden Teile Bildung einer poetischen Geschwulst und Das alles ist nicht das Richtige veranschaulichen Ponges Konzept der „stetigen Unfertigkeit“ (vgl. Francis Ponge: Das Notizbuch vom Kieferwald und La Mounine. Deutsch von Peter Handke. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1982, S. 32–54).

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Balanceakt mit voraussetzt, in einen lebendigen Dialog „mit Toten“ zu treten und „sich aus der Mitschrift zu lösen“.63 Diverse Textstellen dokumentieren entsprechend Seilers Einbindung bzw. Verfremdung von Huchels Redefiguren, wobei sich die jeweiligen Motivrekurse als selbstbewusste Übersetzung der Quellen in einer neuen Lyriksprache gestalten – in abgeschlossenen kapiteln wohnen heißt Einübung in die Disziplin der Selbstbefragung und Selbstüberprüfung zum Zweck der Selbstfindung: „… laden / sichern altern … […] laden // altern & am ende / gehst du noch einmal durch / alle fassungen zurück, fremdzitate oder kämpfe […] du / atmest ein, […] was schreibt, warum“.64 Repräsentierten die Huchels-Lektüren bereits während der Militärzeit einen heilsamen Gegenentwurf zur Scheinwelt der „Attrappen“65, so richtet sich Seilers Aufmerksamkeit in Wilhelmshorst hauptsächlich auf Huchels Arbeitsmethode, und zwar wieder in enger Verbindung zur eigenen Schreibpraxis. Untersucht werden im Detail die Vorgänge von dessen Textproduktion inklusive der „mitunter unglaubliche[n] Trivialität“ der vorbereitenden Stufen: das systematische Rubrizieren von „Spontannotizen“ und „Rohmaterialien“ aus vielerlei Themen- und Wissensbereichen, das „vorsichtige Jonglieren“ mit alternativen Wortoptionen, die Suche „im Austauschverfahren“ nach der spannungsgeladenen Energie des „Magnets“, die erst zum Gelingen einer Form verhilft, wenn „der Magnet die Eisenspäne schließlich strukturiert“.66 Im Anschluss daran deutet Seiler die Zentralität der Kategorie Schwere für sein Schaffen in direktem Zusammenhang mit der Figur der „Gravitationsfelder“ und 63 Seiler: Im Kieferngewölbe. In: Ders., (wie Anm. 2), S. 22 und 30. Vgl. ferner das Huchel gewid-

mete Gedicht die poesie ist mein schiesshund : „…doch wenig / führt durchs gedicht. […] dagegen die robinien / theophrasts […]“ (Seiler: pech & blende (wie Anm. 9), S. 64; vgl. dazu auch Anm. 47). Ebenso bedeutsam ist Seilers Engführung des eigenen Huchel-Lesens mit Kafkas Entlarvung eines Bauernfängers im Essay Huchel. Attrappen. Fokussiert wird hier die „Scham“ als Erkennungszeichen des Kunst-Wollens, „wenn sich einer abstützt an der Bücherwand, die Augen schließt und lächelt – ‚Erkannt!‘“ (Seiler: Huchel. Attrappen. In: Ders., (wie Anm. 2), S. 52–56, hier S. 52). 64 Seiler: vierzig kilometer nacht (wie Anm. 11), S. 38. Neben dem eher klassischen „raunen“ (vgl. Seilers hubertusweg und der aufenthalt bzw. das nach Axel Vieregg „vielzitierte Huchels Wort“ als Anspielung auf dessen „Vorsichhinsprechen der entstehenden Gedichte“) sind etwa als weitere Zitate bzw. freie Adaptionen zu nennen: „jeder psalm verfolgt // vom psalmodieren“ (vgl. Seilers hubertusweg bzw. Huchels Winterpsalm); „aus brosamen und eingeweiden“ (vgl. Seilers durch gebirge, durch die steppe zog bzw. Huchels Brosamen für Eingeweide in Hubertusweg); neunzehnhundertreisen (vgl. Seilers Lyriktitel bzw. Huchels Wendung neunzehnhunderttraurig). Zu den Zitatquellen vgl. der Reihe nach: Seiler: vierzig kilometer nacht (wie Anm. 11), S. 23 f.; Ders., im felderlatein (wie Anm. 10), S. 43; Ders.: pech & blende (wie Anm. 9), S. 47 und 69; Huchel: Gesammelte Werke. Band I: Gedichte (wie Anm. 47), S. 375, 155, 222 und ebd., Band II: Vermischte Schriften, S. 213. 65 Seiler: Huchel. Attrappen. In: Ders., (wie Anm. 2), S. 52–56. 66 Seiler, „Im Falle des Verlustes zu senden an“. In: Ders., (wie Anm. 2), S. 87 ff.

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bezieht sich dabei – als kontrastives Beispiel – auf die postmoderne Fixierung auf „Leichtigkeit“, „Flimmern“ und dergleichen „entmaterialisierende Vorstellungen“, die in der Prenzlauerberg-Szene der achtziger Jahre en vogue war und von dem er sich retrospektiv deutlich distanziert.67 Damit einhergehend ist die Umwertung der poetischen Werte, auf der sein Programm im Abseits der Provinz als kongruentes Diagramm von pro und contra fußt: für die „Verlangsamung“ des Landlebens gegen die Beschleunigungseffekte der großstädtischen Lebensverhältnisse; für den „Regionalismus der vielen, kleinen Heimaten“ gegen den „Typ des Schriftstellers als ‚Globalplayer‘“, für die Resistenz eines rohen, „archaische[n] I C H “ gegen die Verführung von „Mainstream“, „Moden“ und „Lifestyle“.68 Kohärent mit diesen Inklinationen ist Seilers Reserviertheit gegenüber Technik und Technologie bzw. seine passionierte Parteinahme für die Mechanik als geschichtsträchtiges Wissensreservoire, woraus sich die Vorliebe für die etlichen Utensilien, Werkzeuge und vor allem Messinstrumente herleitet, die seine Texte füllen – vom Geigerzähler zum cartesianischen Taucher, von der Zeitwaage zum Gas- und Drehstromzähler: alle faszinierende Dispositive einer Imagination, die sich noch von der etymologischen Wortverwandtschaft zwischen ‚zählen/durchzählen‘ und ‚erzählen‘ zu speisen weißt. […] jemand

wollte noch das wasser kontrollieren, jemand notierte das gas. das ICH liest den eisernen zähler, der dir in den adern hängt: jedes gedicht nagt am singenden knochen, es ist auf kinderhöhe abgegriffen und erzählt

(gravitation)69

*** Ist Seiler der Habitus des Gelegenheitsdichters grundsätzlich fremd, so erläutern beide Essays Aurora und Im Ankerglas den Entstehungsprozess seiner Lyrik als Abfolge von

67 Seiler: „Und unter den Füßen liegen die Vergangenheiten …“. In: Ders., (wie Anm. 2), S. 77. Eine

komplementäre Valenz der „Schwere“ als „Verankerung in einer Herkunft“ erschließt sich in Seilers Beitrag: „du willst dich aus dieser gegend beugen.“ Über Jörg Schiekes auf wunsch einer einzelnen dame. In: „Die eigene Rede des anderen…“. Dichter über Dichter. Zusammengestellt von Jürgen Krätzer und Kerstin Preiwuß. In: „die horen“. Zeitschrift für Literatur, Kunst und Kritik 57 (2012), 246, S. 48–52. 68 Seiler: Heimaten. In: Ders., (wie Anm. 2), S. 43 und 47.  69 Seiler: pech & blende (wie Anm. 9), 80–81, hier S. 81.

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behutsamen Gestaltungsmanövern, die erst „mit einem Mindestmaß an Geschichte im Rucken“70 Aussicht auf ein stimmiges Endergebnis beanspruchen können. In Aurora schildert Seiler seinen Aufenthalt als Stipendiat in der gleichnamigen Villa an der pazifischen Küste und abstrahiert dabei seinen Schriftstellerstatus als Resultat einer subtil angedeuteten Kompetenzübertragung zwischen dem „Carpenter“ und „Bricklayer“, der er in seiner ersten Jugend gewesen, und dem „Writer“ und „Fellow“, welcher er mittlerweile aus der Perspektive der kalifornischen Aktualität geworden ist.71 Bekräftigt wird diese Nachbarschaft zwischen „Bauwesen“ und „Schreibwesen“ am Beispiel der (durch eine Rückblende eingebundenen) Herstellung eines „dreikalibrigen Kerzenhälters“, wobei die Frage der ästhetischen Modellierung noch einmal in den Vordergrund tritt – diesmal aus einem anderen, komplementären Standpunkt. Fokussiert werden hier die gekonnte Anwendung des „Zweckdienliche[n]“, die sorgfältige Überprüfung der jeweiligen Fügungen, die präzise Einschätzung der Statik, das Gelingen der Form als Kunst des Gleichgewichts: Bei diesem Kandelaber mußten aus Gründen der Stabilität die jeweils benachbarten Figuren des Ensembles an den fragilen, äußersten Punkten ihrer Existenz eine – wenn auch nur schmale, quasi unsichtbare – Verbindung eingehen. Gerade in diesen sensiblen Bereichen, an diesen neuralgischen Punkten, hauchdünnen Brücken, wo zum Beispiel sich die Flinte des Jägers am Ende ihres Laufs mir der linken Ohrspitze eines Rehs verband, erwies sich die Meisterschaft dessen, der die Säge führte.72

Wiederholt sich in der Villa, deren Vorgeschichte auf das Exilleben von Martha und Leo Feuchtwanger während des Zweiten Weltkriegs zurückführt, das chiffrierte Erfahrungsmuster „gedenkstätte: vergatterung“73, so konzentriert sich Seilers Interesse hier auf ein poetologisches Experiment, in dem es darum geht, im Anschluss an die Skizze des Holzobjekts die Genese eines Gedichts in seinen konkreten Zeit-Raum-Relationen zu durchdenken bzw. dessen Konstrukt in statu nascendi in Worten zu fixieren. Die immaterielle Konsistenz des Gewesenen mobilisiert eine materielle Beschäftigung mit den herumliegenden Dingen, wobei sie nicht als „musealisierte Reste“ in Betracht gezogen werden, sondern im Hinblick auf ihre „rohe“ Qualität als Gebrauchsgegenstände des Alltags. In diesem Fall sind es alte Knöpfe, die „zusammengewürfelt aus den verschiedenen Zeiten und Moden“ in der Lage sind, Gedächtnisräume zu 70 Seiler: Aurora. Versuch zu einer Antwort auf die Frage, „wohin das Gedicht heute unterwegs

ist“. In: Ders., (wie Anm. 2), S. 99–111, hier S. 102.

71 Ebd., S. 99 f. 72 Ebd., S. 101. 73 Ebd., S. 103. Das Selbstzitat verweist hier auf das Gedicht in abgeschlossenen kapiteln wohnen

(vgl. Anm. 64).

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erschließen und einen imaginativen Bogen zur eigenen, als „ureigen empfundenen Existenzweise“ zu spannen74. Unter dem provisorischen Arbeitstitel Aurora wird die Vorstufe des virtuellen Ding-Gedichts als eine Art Zwiegespräch inszeniert, in dem zwei Vergangenheiten mit einander in Dialog treten und, sich von der realen Ausgangssituation loslösend, zum Stoff einer autonomen Ich/Welt-Phantasmagorie gerinnen. Bestimmend ist hierbei allerdings nicht die (programmatisch ausbleibende) Vollendung der Form, sondern die „Darlegung der Methode“ als fiktionale Illustration eines work in progress: Aber wenn das Gedicht allein in einem fremden Haus ist, begegnet es dem Paradox. Die Dinge einer unbekannten Vergangenheit werden zu Erinnerungsstücken. Wenn ich die Knopfschachtel über dem Schreibtisch (der einmal Franz Werfel gehört haben soll) auskippe, gibt das ein Memory-Spiel für das „A urora -Gedicht“. Vielleicht wie ein Kind mit Knöpfen spielt, abwesend, vertieft, wenn es diesen Knopf umdreht, sieht es in ein Gesicht, das spricht. Es legt eine Straße, Figuren, Augenpaare, es baut eine Geschichte […]. Knöpfe als Augen: die bloße Mimik des Schauens. […] Vielleicht ist das Paradox eine Art Nähzeug des Gedichts. Ich jedenfalls sitze mit dem Feuchtwanger-Nähzeug am Schreibtisch und sortiere Knöpfe. Das Gedicht legt sie zu Augenpaaren, es schiebt Augen zu Paaren, es montiert und verteilt Augenpaare wie Aussagen auf dem Tisch. Der Tisch hat jetzt Augen. Ich könnte annehmen, er betrachtet mich, wie ich ihn betrachte. Ich könnte annehmen, er fragt sich, was von mir an ihn erinnert usw. […] Das Gedicht Aurora geht durchs Haus und sucht einen Umgang mit Dingen. […] Gern wäre es selbst ein Ding, um teilzunehmen am Gespräch der Dinge.75

Das Bewusstsein über die produktive Latenz des Ungeschriebenen entspricht der Methodik des „Einweckens“ als kalkulierte „Investition von Zeit“. Mit Bezug auf Edgar Allan Poes Philosophy of Composition thematisiert der Essay Im Ankerglas neben der Arbeit des Konservierens den ebenso kreativen Prozess der Dekonstruktion, auf die das „Hantieren mit der Schere“ als projektive Abwägungsphase deutet: das Zerschneiden „quer durch Verse und Strophen“, die Trennung von „Worten oder 74 Ebd., S. 105 f. 75 Ebd. Auch hier ist das Echo Ponges zwischen den Zeilen vernehmbar: Im Anhang zum

Notizbuch vom Kiefernwald bzw. im Briefwechsel mit G.A. [Gabriel Audisio, V.D.R.] wird das unvollkommene Poem noch einmal zum Thema. Debattiert werden beide vorschwebenden Optionen – den Text als reine Gegenüberstellung von provisorischen Zwischenstufen im Sinne einer „Einlegearbeit“ zu legitimieren („G.A.“) oder aber „ihn umzubringen, durch dessen Objekt“ (Ponge). „G.A.“ äußert sich begeistert zu Ponges „Darlegung der Methode“ und sieht sie in unmittelbarem Zusammenhang mit dem eigenen ungedruckten Text, den er Geburt eines Gedichts tituliert und (in deutlicher Anlehnung an Edgar Allan Poe) als „Entmystifizierung der Inspiration“ verstanden wissen will. (Vgl. Ponge: Das Notizbuch vom Kiefernwald (wie Anm. 62), S. 72 ff. [Hervorhebungen im Original]).

„in jeder Gegenwart auf der Suche nach einer ­Vergangenheit“

Wortgruppen“, die Rücknahme der misslungenen Entwürfe als Re-Akkumulation von Fragmenten im Hinblick auf eine mögliche spätere Verwendung76 – schließlich die Einräumung der Schreibkrisen als konstitutives, obzwar zwischenzeitlich eher frustrierendes Bestandteil des literarischen Schaffens. Die präludierende Metapher des „steifen“ Derwischs, der erst durch den Einsatz der Stimme zu seinem Tanz findet, suggeriert, dass zur Mobilisierung der „organischen Starre“ der eingelegten Materie die Energie des Rhythmus in erster Linie gehört. Seilers Gedichte sind nämlich alles andere als statische Gedichte – vielmehr Resultat eigendynamischer Akkordkombinationen, denen ein souveränes „Ohrvertrauen“ zugrunde liegt.77 Steht das Ohr als eminentes Verbindungsorgan zwischen Außen- und Innenwelt für die introspektive Neigung zum „lauschen“, so korrespondiert diese spezielle Wertigkeit mit einer Dominanz des Akustischen als prägendes Gesetz der Textproduktion. Auf das generative Moment der Intonation setzt Seiler selber einen gewichtigen Akzent, indem er Jürgen Beckers „prozessuale“ Schreibweise im Sinne einer schöpferischen Empathie veranschaulicht: Der vor sich hin spricht, der das kleine Lagerfeuer seines Selbstgesprächs in Gang hält, tut das zunächst, um noch da zu sein, auf der Welt, und ihre mögliche Wärme zu spüren. Eine nach dem Nächstliegenden, Einfachsten tastende Vergewisserung, mit der ein Text beginnen kann und vorankommt. Der eigenen Stimme, dieser seltsamen Quelle des Geräuschs, kommt dabei eine induktive Rolle zu: erst mal was sprechen, dann hören wir weiter, ein »Sprechen, das / nach den Wörtern sucht, die allesamt doch vorhanden // sind«, wie Jürgen Becker es sagt. Entsteht auf diese Weise eine Verbindung aus Intuition und Erinnern, kommt das Schreiben in Gang.78

Sprechen/Hören/Schreiben: Unterschiedliche Strategien kommen bei diesem nur zum Teil intuitiven Kompositionsverfahren zur Geltung. Zielt die Bildkondensierung 76 Seiler: Im Ankerglas. In: Ders., (wie Anm. 2), S. 123-131, hier S. 125 ff. 77 Sonntagsrituale der Kindheit: Gehört die väterliche Werkstatt zum Bildkomplex ‚Garage/Kir-

che‘, so wird in der Lyrik geruch der gedichte die Mutterfigur mit der „lithurgie“ des Kochens assoziiert, als das Kind Verse aus dem literarischen Kanon zu memorieren hatte. Die Einweihung ins Mysterium der Rhythmik verbindet sich hier mit einem an Proust gemahnenden, synästhetisch verschränkten Körpergedächtnis, das der Szene die Kraft einer Urszene zu verleihen scheint: „»schön konzentrieren bitte!« […] meine mutter bestimmte den kurs: / zeile für zeile, name / des autors, überschrift, die kleine / pause & dann das gedicht: enjambement, diesen ausdruck kannte / keiner, es gab nur den löffel // der mir diktierte, das wippen & nicken / über den töpfen mit klößen / thüringer soßen, erst / die worte, dann die punkte […] & dann / die innere bewegtheit meiner mutter, die / mir vorsprach – ich // lernte das alles / von ihr: erst ohne betonung / dann mit“ (Seiler: im felderlatein. In: Ders., (wie Anm. 10), S. 95). 78 Vgl. Seilers Laudatio auf Jürgen Becker (wie Anm. 37) mit Rückbezug auf den Becker-Essay (wie Anm. 2), S. 60.

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auf eine Verrätselung der Zusammenhänge, so arbeitet Seiler mit einer konsequenten Destabilisierung linearer Sinnanordnungen – dazu dienen die Auflockerung der syntaktischen Textur; die Kargheit der Interpunktion; die Suspension der häufigen Pausen, Zeilenbrüche, Gedankenstriche; die gelegentliche Interferenz der Kursive, Anführungszeichen, Majuskeln im sonst homogenen Kontinuum der Kleinschreibung; der Rekurs auf das Enjambement als Drehpunkt gleitender, oft beidseitig offener Bedeutungskonstrukte; das semantische Zusammenspiel von Worttrennungen und Wortaggregationen, das durch den favorisierten Gebrauch des „&“ als Trennungsbzw. Bindungssignal weiterhin verstärkt wird. Parallele Irritationseffekte erzeugen die Überlagerungen bzw. Perspektivsprünge Präsens/Präteritum, Hier/Dort, nicht weniger als die beabsichtigte Unschärfe in der Rollenaufteilung zwischen dem ich und dem du (und dem selteneren wir) als Instanzen der lyrischen Anrede, wobei das du als oft verfremdende Doppelung des monologisierenden Subjekts zum konstanten Changieren der Blickrichtung zwischen Distanz und Nähe, Innen- und Außenbetrachtung mit konkurriert. da stand dein bett, wo jetzt zwei birken schlafen, du mit den wurzeln in den knien. baracke 5 verwächst mit tuning/styling hagebau – sehr verstreut sind diese existenzen & dein atem schleift am bettgestell. die krone macht den himmel gross; geäst am gaumen, taube haut die einzeln mit den zahnen flüstert ich war zu schwer, ging neben her […] (dendrochronologie)79 79 Seiler: vierzig kilometer nacht. In: Ders., (wie Anm. 11), S. 84 (Hervorhebungen im Original).

Dabei greifen das Verweissystem der im Titel angedeuteten dendrochronologie und das chiffrierte Heranwachsen des Ich/Baums ineinander. Integriert wird dieses Gedicht aus vierzig kilometer nacht in der Sektion altes objekt, welche – durch die altdeutsche Formel …insprinc haptbandun, invar vigandun eingeleitet – Porträtsausschnitte des Ich als „kalter krieger“ zusammen montiert. (Unterschiedlich gedeutet, verweist der Spruch nach Jakob Grimm, mit Rückbezug auf Tacitus, auf das „entscheidungschlachtfeld zwischen Germanen und Römern“. Vgl. Ders: Abhandlungen zur Mythologie und Sittenkunde. Berlin: Ferd. Dümmlers Verlagsbuchhandlung Harrwitz und Gossmann 1865, S. 6). „Raumdenken“ und „eigenes Früher“ werden hier mit den sukzessiven Umfunktionalisierungen des Geländes um Leuna, wo Seiler während des Militärdiensts stationierte, mit einander verwoben: „früher Wehrmachtkaserne, […], dann Gefangenlager, dann Flüchtlingslager, schließlich NVA und nach dem Mauerfall Gewerbepark – inzwischen bankrott.“ (Seiler: „Nie hört die Nachkriegszeit auf“ (wie Anm. 2), S. 66).

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Strukturiert wird solche „komplizierte, labyrinthische Mechanik“80 der Textmontagen durch die Kunst des rhythmischen Arrangements, wobei die diagonale Rekursivität der Klangsymmetrien (Assonanzen, Alliterationen, Binnenreime) unvermutete Beziehungen als akustische Gravitationspunkte jenseits der meistens freien Skandierung (und typographischen Setzung) von Versen, Versabschnitten, Strophen herzustellen vermag.81 So gelingt es Seiler, das Kryptische seiner lyrischen Diktion im hypnotischen Duktus der musikalischen Gestaltung zu verankern und seine Gedichtzyklen, gleichsam als kommunizierende Sprachrohre, im Zeichen eines unverwechselbaren Tonfalls miteinander zu verketten: […] hätte es uns nicht gegeben wir hätten uns selber erfunden morgen vorm losgehen & täglich verbrieft das papier für die steife der zipfel unsrer mützen: nach drinnen ein träumen in füssen & draussen gäb es uns nicht wüchse die ebbe im regen wüchsen die wasser schwärzten die sümpfe das schwarzwild am abend ständ auf den strassen die schwärze der schlacken & schwarzer holunder der etlichen schwärze getürmt auf den rispen, den rissen gesucht & befunden: wir hätten

80 Seiler: Heimaten. In: Ders., (wie Anm. 2), S. 39. 81 Zu dieser fließend-flexiblen „Gangart“ jenseits der „Verbindlichkeiten der Gattung“ gehört

ferner das bruchlose Kontinuum Titel/Text, wobei die Gedichtüberschriften mitunter mit dem ersten Vers in Eins fallen und dadurch unmittelbar in den Textkorpus eingebunden werden. Vgl. etwa: „doch gut war // zu atmen“; (Seiler: pech & blende. In: Ders., (wie Anm. 9), S. 32; „nachts, unter den geräuschen // einer siedlung“; (ebd., S. 71); „siehst du die welt von osten: wie // das kurze, grüne haar sich legt“; (Seiler: vierzig kilometer nacht. In: Ders., (wie Anm. 11), S. 18; „wir lagen vor madagaskar und hatten // die welt / und das thema verfehlt“ (ebd., S. 43); „am abend // folgten mir schwebend die tiere / über die gleise“; (Seiler: im felderlatein. In: Ders., (wie Anm. 10), S. 18); „war es nicht tatsächlich so? immer genau // dort wolltest du wohnen“ (ebd., S. 59).

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das bein an die zeit gebunden (gera)82

*** Doch nicht nur hinsichtlich der langen Inkubationsphasen seiner Texte, sondern auch beim Gedanken an deren Wirkung besitzt die Zeit für Seiler eine maßgebliche Valenz, setzt wohl das Handwerk des Schreibens das Handwerk des Lesens voraus. Auf die Frage, „wohin das Gedicht heute unterwegs ist“, antwortet er indirekt mit einem Rückgriff via Celan auf Mandelstams Motiv der Flaschenpost, dem er das Bild des Ankerglases als eigene, ebenso auf altem Wissen basierende „Hoffnung auf die Zukunft“ gegenüberstellt.83 Dabei paart sich die Problematisierung der Konstellation Autor/Publikum von vornherein mit dem Bewusstsein über die „verborgene Abneigung gegen das sperrige, schwer rubrizierbare Wesen des Gedichts“ – ein Phänomen, das Seiler in den vorgegebenen Rahmenbedingungen der postmodernen Mediengegenwart sachlich kontextualisiert und durch die nur halb spielerisch beschworene Alternative „Lyrik oder Champions-League“ näher in den Fokus nimmt.84 Kontrastiert wird die gesellschaftlich sanktionierte Funktion der „Rhapsode[n], Minnesänger oder Hofschreiber“ zumal mit der spätestens seit Beginn der Moderne prekär gewordenen Legitimierung der Dichterrolle, die kaum dadurch relativiert werde, dass die Marketingstrategien des Literaturbetriebs dagegen steuern und eifrig um Konsens werben: 82 Seiler: pech & blende (wie Anm. 9), S. 56. Eingebettet im Radius der sich quer reimenden Parti-

zipien („gegeben/erfunden/befunden/gebunden“) funktioniert hier das Schwarze der Pechblende als Medium einer akustischen Schwingung, die, durch weitere Tonmarkierungen verstärkt (vgl. etwa die Sequenzen drinnen/träumen, gäbe/ebbe/abend/ständ; draussen/füssen/wasser/rispen/rissen; wüchse/wüchsen/sümpfe), um die sch(w)-sch(l)-st-Laute (schwärzten/schwarzwild/schwärze/ schlacken/schwarzer/schwärze) leitmotivisch kreist. 83 Seiler: Im Ankerglas. In: Ders., (wie Anm. 2), S. 126 f. 84 Seiler: „Und unter den Füßen liegen die Vergangenheiten …“. In: Ders., (wie Anm. 2), S. 71 f. Allerdings macht Seiler aus seiner eigenen Fußballleidenschaft keinen Hehl, wie unter anderem sein anlässlich der Weltmeisterschaft 2006 geschriebenes Langgedicht die fussinauten beweist. Dabei bietet das Sportevent eine (poetologische) Gelegenheit, die zeiträumliche Semantik des felderlatein zu erweitern: Durch die angedeutete Zeitspanne (1990–2005) verschränkt Seiler das Epos seiner Amateurmannschaft der „tiergartenjahre“ mit der Transformation der Berliner Topographie der Postwende-Ära bzw. mit der Sanierung des ehemals verwüsteten Reichstagsareals und der neu eingeführten Raumanordnung um die neue Bundestagsarchitektur. Das seitdem geltende Spielverbot markiert „trotz Protesten“ das Ende der „fünfzehnjährigen Odyssee“, das in der Schlusswendung der Lyrik als sentimentaler/ironischer Abschied von jenem liebgewonnen/ verlorenen Fußballgelände inszeniert wird: „wohin / jetzt ziehen – wie lange noch / ihr freunde, fliehn? lieber winfried, hendrik, peter, carsten / lieber michael, tobias, jan – / diesmal, bitte, laßt uns bleiben: brüllen, traben tore schrein / & pässe schlagen, laßt / uns noch eins zwei gute bälle über diesen aller / letzten acker tragen –“. Vgl. Seiler: im felderlatein. In: Ders., (wie Anm. 10), S. 77 ff. und 99 sowie: http://www.zeit.de/2005/47/Fu_a7ballgedicht_47/ (zuletzt aufgerufen: 26.05.2017).

„in jeder Gegenwart auf der Suche nach einer ­Vergangenheit“

„Heute lächeln die Autoren auf den Autorenphotos, oft lachen sie, nicht selten von ganzem Herzen und mit erstaunlich guten Zähnen […]. Lacht ein Autor nicht schon von selbst in die Kamera, fragen die erfahrenen Photographen bald, ob man nicht auch etwas freundlicher herüberschauen könnte.“85 Vor dem Hintergrund dieses Unbehagens liest sich Seilers Kommentar zu Loerkes Werken nicht nur als engagierte Empfehlung eines vergessenen Autors, sondern schlechthin als Parteinahme für die Eigenrechte der Poesie und ihre kompromisslose „Unbedingtheit“: Wie kommt man heran an einen dieser Alten, deren Ton und Gangart auf den ersten Blick ganz fremd erscheint. Gar nicht, lieber nicht, wäre eine Antwort. Aber etwas hält einen fest, man hat Notizen gemacht, man hat bereits Ja zu Loerke gesagt. Dieses Ja ist nun schon einige Jahre alt, seitdem lese ich Loerke und frage mich, was ich eigentlich begreife dabei, obwohl ich doch jedem, der mir nach einem Abend mit Gedichten sagen möchte, daß es aber doch schwer gewesen sei zu verstehen, sofort erwidere, daß es nicht darum gehe, daß man zunächst einmal einfach nur hören solle, Rhythmus, Klang, eine Wendung, und dann nur ankommen lassen, was ankommt, falls etwas ankommt, und bloß nicht verkrampfen, eher genießen, wenn möglich.86

Erkennbar hinter dem Topos der captatio benevolentiae ist die Identifikationsgeste des Lyrikers, der selber die herkömmlichen Reaktionen von „Verlegenheit“ und „Hilflosigkeit“ auf seine Verse gut kennt, der aber nichtsdestotrotz offen und risikobereit auf die intuitiven Mechanismen des Sinnverstehens setzt – und zwar im Namen eines Lustprinzips, das nicht von ungefähr mit der Semantik des Suchens als Graben nach „Fundtstellen“ gekoppelt wird: Loerkes Werk ist ein Bergwerk mit unterirdischen, nie ganz zu Ende denkbaren Gängen und Winkeln, in denen Schätze nisten. Und wie gut es wäre, wenn wir ihn so ansehen und lesen könnten: als Schatzgräber, die hoffen dürfen, alle paar Seiten auf etwas Unvergleichliches zu stoßen, das auch im Licht und nach langem Anschauen nicht verblaßt, im Gegenteil.87

In dieser Beziehung scheint der Entwurf des idealen Loerke-Lesers die Eigenschaften des idealen Seiler-Lesers mit abzuspiegeln, auf die bereits zu Anfang die Schachregel berührt/geführt als abstrahierende Chiffre einer passiven/aktiven Disposition hinzudeuten vermochte. Gefragt ist nämlich auch bei der Lektüre der hermetischen Texte Seilers die Bereitschaft zur Verlangsamung („etwas Geduld, etwas Gelassenheit“) nicht weniger als ein Spürsinn für Rhythmik, um sich „rätselnd belauschen[d]“ 85 Seiler: Babelsberg. Kurzer Text über Ernst Meister. In: Ders., (wie Anm. 2), S. 120 ff, hier S. 122. 86 Seiler: Im Wald der Welt (wie Anm. 52), S. 10 [Hervorhebungen im Original]. 87 Ebd., S. 22.

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auf dem Terrain der „Unklarheit“ vorzutasten. – An sich eine komplexe imaginative Herausforderung und dennoch, wie bei jeder Schatzsuche, nicht ohne Aussicht auf Belohnung, denn: „Am Ende bleiben Bilder, von denen man nicht lassen möchte.“ 88

88 Ebd., S. 21.

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„da sich alles / an schwarzem Material überlagert“ · Intertextuelle Beziehungen zwischen Marcel Beyers An die Vermummten und Georg Trakls An die Verstummten Beschäftigt man sich mit deutscher Gegenwartsliteratur, kommt man an Marcel Beyer nicht vorbei. Sein Œuvre, das von Lyrik über Prosa bis hin zu Opernlibretti reicht, ist ebenso vielseitig wie herausragend und widmet sich der deutschen Vergangenheit auf eine ganz eigene sprachlich präzise wie poetisch weitreichende Art. Nicht zuletzt aus diesem Grund wurde ihm am 5. November 2016 der Georg-Büchner-Preis von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung verliehen.1 Das Spektrum von Beyers Lyrik verarbeitet nicht nur historische Begebenheiten, sondern betrachtet ebenso die Poesie vergangener Epochen. So ist Beyers Gedicht An die Vermummten eine schon im Titel offensichtliche Referenz an Georg Trakls Gedicht An die Verstummten. Zwischen beiden Werken, dem 1913 geschriebenen Gedicht Trakls und dem 2014 veröffentlichten Gedicht Beyers, liegen über 100 Jahre. Trotz dessen oder vielleicht gerade deshalb wählte Beyer dieses Werk als Material für seine eigene Dichtung, was den Keim zum Interesse an der intertextuellen Untersuchung ausmacht. Die Frage, der auf den Grund gegangen werden soll, erscheint zunächst simpel: Was machte Marcel Beyer aus dem Gedicht Georg Trakls? Nach einer kurzen Einordnung in die aktuelle Forschung wird es unerlässlich sein, sich dem Inhalt von An die Verstummten zu nähern, wobei zwei Aspekte, nämlich der Titel und erzeugten sinnlichen Assoziationen gesondert herausgelöst werden, um später wieder aufgegriffen werden zu können. Nun wird angenommen, dass das Trakl-Gedicht Material für An die Vermummten ist. Beyers Gedicht ist eine Montage: Mediale Interferenzen, die 1

Mit dem Georg-Büchner-Preis 2016 zeichnete die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung mit Marcel Beyer einen Autor aus, „der das epische Panorama ebenso beherrscht wie die lyrische Mikroskopie und den zeitdiagnostischen Essay. Seine Texte widmen sich der Vergegenwärtigung deutscher Vergangenheit mit derselben präzisen Hingabe, mit der sie dem Sound der Jetztzeit nachspüren. Sie betreiben eine poetische Erdkunde, die immer auch Spracherkundung ist; kühn und zart, erkenntnisreich und unbestechlich, lassen sie die Welt zugleich wundersam bekannt und irisierend neu erscheinen.“ Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung: Urkundentext zum Georg-Büchner-Preis 2016. https://www.deutscheakademie. de/de/auszeichnungen/georg-buechner-preis/marcel-beyer/urkundentext (zuletzt aufgerufen: 01.08.2017).

Robert Hain

einen Großteil der montierten Passagen ausmachen, gesellen sich zu den Elementen der Trakl-Vorlage. Da sich in dem Gedicht Montagetechniken finden, die über das reine aneinanderfügen von inhaltlichen Elementen hinausgehen, möchte ich meine Untersuchung anhand literaturtheoretischer Begriffe wie Oberflächenübersetzung, Zitat, Collage, Montage und Pastiche stützen. Besonders prominent firmiert bei Beyer eine sprachlich-phonetische Montagetechnik, die den Klang einer Vorlage in neue Inhalte zu überliefern sucht. Da es bisher keine wissenschaftliche Studie gibt, die sich mit der Intertextualität der Gedichte An die Verstummten von Georg Trakl und An die Vermummten von Marcel Beyer beschäftigt, ist dieser Vergleich ein besonders reizvoller Gegenstand. Lediglich die Feuilletons überregionaler Tageszeitungen aus den Jahren 2014 und 2015 bieten eine Auseinandersetzung mit Beyers Gedicht An die Vermummten. So beschäftigt sich Michael Braun gleich zweifach, im »Tagesspiegel«2 und in der »Zeit«,3 mit der Thematik. Greift sein erster Artikel vor allem den Rhythmus der beiden Gedichte auf, ist es der zweite, welcher sich zunächst dem Inhalt von Beyers Gedicht widmet und anschließend auf das vermeintliche Auftreten Trakls in eben diesem eingeht. Zuletzt wäre noch der auf deutschlandfunk.de veröffentliche Artikel4 von Tobias Lehmkuhl zu nennen, der sich ebenfalls mit den klanglichen Eigenschaften der beiden Gedichte beschäftigt und sich daraufhin an einer Interpretation des Titels versucht.

1. An die Verstummten O, der Wahnsinn der grossen Stadt, da am Abend An schwarzer Mauer verkrüppelte Bäume starren, Aus silberner Maske der Geist des Bösen schaut; Licht mit magnetischer Geissel die steinerne Nacht verdrängt. O, das versunkene Läuten der Abendglocken. Hure, die in eisigen Schauern ein totes Kindlein gebärt. Rasend peitscht Gottes Zorn die Stirne des Besessenen,

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Michael Braun: Marcel Beyers Gedichtband „Graphit“. Wie Poesie entsteht. http://www. tagesspiegel.de/kultur/marcel-beyers-gedichtband-graphit-wie-poesie-entsteht/10858000.html (zuletzt aufgerufen: 31.08.2016). Michael Braun: Marcel Beyer. Verschwörungstheorien sind keine Option. http://www.zeit.de/ kultur/literatur/2015-01/marcel-beyer-graphit (zuletzt aufgerufen: 31.08.2016). Tobias Lehmkuhl: „Graphit“ von Marcel Beyer. Wenn sich der Wortschatz öffnet. http://www. deutschlandfunk.de/graphit-von-marcel-beyer-wenn-sich-der-wortschatz-oeffnet.700.de.html?dram:article_id=311448 (zuletzt aufgerufen: 31.08.2017).

„da sich alles / an schwarzem Material überlagert“

Purpurne Seuche, Hunger, der grüne Augen zerbricht. O, das grässliche Lachen des Golds. Aber stille blutet in dunkler Höhle stummere Menschheit, Fügt aus harten Metallen das erlösende Haupt.5

Das im November 1913 entstandene Gedicht An die Verstummten kann als Klagegedicht gelesen werden, das sich mit der zivilisatorischen Situation im Entstehungszeitraum des Textes auseinandersetzt. Die Welt, die Trakl in seinem Gedicht entwirft, entspricht der scheinbar fortschrittlichen Großstadtlandschaft der industrialisierten Gesellschaft kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Hierbei handelt es sich um etwas von Menschen Gemachtes oder weniger neutral ausgedrückt: um etwas von Menschen selbst Verschuldetes. Schon der erste Vers: „O, der Wahnsinn der grossen Stadt, da am Abend“ beginnt klagend und betrachtet den erwähnten urbanen Lebensraum eindeutig kritisch. Die wahnsinnige, also krankhafte, geistig verwirrte Eigenschaft der Stadt lässt sich, sofern man diese als Metonymie liest, ebenfalls auf ihre Einwohner beziehen. So ist Geld, Hab- und Machtgier in den Versen „Aus silberner Maske der Geist des Bösen schaut“ (Vers 3) und „O, das grässliche Lachen des Golds“ (Vers 9) verkörpert. Dieses Bild wird durch die „Hure“ in Vers sechs noch einmal verstärkt. Ein biblischer Bezug ist hier unverkennbar. Die sündendurchzogene Stadtlandschaft schafft „eine deutliche Parallele zu dem Schicksal der biblischen Städte Sodom und Gomorra“6, der Auftritt der Hure erinnert im biblischen Kontext an die Hure Babylon. Ferner seien die Beziehungen zwischen den Ausdrücken „Hure“, „Stirne“, „purpurne Seuche“ und „das grässliche Lachen des Golds“ eine Verbindung mit dem Gericht über Babylon in der Offenbarung des Johannes, was diese Assoziation untermauert. Die Sünde, das Schlechte und Böse ist also im Wahnsinn der großen Stadt konzentriert. Im fünften Vers „O, das versunkene Läuten der Abendglocken“ werden die erklingenden Kirchenglocken, die ein Symbol für das christlich-fromme Leben sind, durch den Großstadtlärm übertönt. Dieses Bild ist Ausdruck einer säkularisierten Gesellschaft, die in Trakls Gedicht negativ konnotiert, mit Sünde gleichgesetzt ist und die Strafe Gottes nach sich zieht: „Rasend peitscht Gottes Zorn die Stirne des Besessenen“ (Vers 7). Der „Besessene“ ist der wahnsinnige Mensch in seiner wahnsinnigen Umgebung. Er ist Täter und Opfer zugleich: 5

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Die Wiedergabe des Gedichts folgt der Ausgabe Georg Trakl: Sämtliche Werke und Briefwechsel. Historisch-kritische Ausgabe mit Faksimiles der handschriftlichen Texte Trakls [Innsbrucker Ausgabe]. Hg. v. Eberhard Sauermann und Hermann Zwerschina. Bd. 3. Dichtungen Sommer 1913 bis Herbst 1931. Hg. v. dens. Frankfurt/M.: Stroemfeld (Roter Stern) 1998, S. 345–351. Károly Csúri: Trakls Großstadt als poetisches Konstrukt. Zur Erklärung des Gedichts „An die Verstummten“. In: „Millionen Welten“. Festschrift für Árpád Bernáth zum 60. Geburtstag. Budapest: Osiris 2001, S. 263–276, hier S. 246.

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Täter als Verursacher der gegenwärtigen Situation und Opfer seiner Selbst sowie der Bestrafung Gottes. Seuche, Hunger, ja auch die Fehlgeburt der Hure sind Plagen, die über ihn ergehen und erst in letzter Strophe, ebenso biblisch, in der Erlösung, also der Gnade Gottes, münden. Der Mensch hat eine Welt erschaffen, die von Sünden durchsetzt ist und an Sodom und Gomorra zu erinnern scheint. Diese Entwicklung führt zum Verfall der beschriebenen Großstadtwelt, sie schafft sich gewissermaßen selbst ab, doch man könnte noch weiter gehen: Betrachtet man den Entstehungszeitraum des Gedichtes, führt die Bestrafung Gottes noch weit über das Ende des Textes hinaus. Das 1913 geschriebene Gedicht wurde kurz vor Anfang des Ersten Weltkrieges veröffentlicht, Trakl ließ sich ebenfalls 1913 mithilfe einer Bewerbung wieder vom Kriegsministerium rekrutieren;7 eine Information, die in den Kontext des Gedichts gehört. An die Verstummten erzeugt beim Leser eine ganz gezielte auditive und visuelle Wahrnehmung. „Das ‚Metallene‘ repräsentiert […] nicht nur die ‚Härte‘, es erzeugt auch eine virtuelle Klangmusik“8, die an der Seite des „gräßlichen Lachens“ (Vers 9) in einem Gegensatz zum „versunkenen Läuten der Abendglocken“ (Vers 5) und dem „stillen Bluten“ der „stummeren Menschheit“ (Vers 10) steht. Hier werden zwei sich kontrapunktierende Klangwelten aufgezeigt. Die eine impliziert einen harten, metallischen Klang, gepaart mit der aufdringlichen Penetranz des „grässlichen Lachens“, die andere ist eine Anti-Klangwelt; ist das „Läuten der Abendglocken“ möglicherweise noch dumpf und mit viel Konzentration in dem rasenden Getöse vernehmbar, gibt die „stille blutende“, verstummte Menschheit bereits keinen Ton mehr von sich. Ferner bildet diese Gegenüberstellung eine sonore, also stimmhaft klingende, Harmonie der Buße und Erlösungshoffnung,9 die im metaphorischen Verstummen ihr Ende findet. Ähnliche Eindrücke kommen beim Motiv des Sehens bzw. Nicht-Sehens auf. Licht und Dunkelheit stehen sich gegenüber. Licht, die vielleicht wichtigste Voraussetzung, um ein Sehen überhaupt zu ermöglichen, ist in Trakls Gedicht rar gesät. Die Szenerie der großen Stadt inszeniert Trakl am Abend. Die „schwarze Mauer“ (Vers 2) erzeugt nicht nur eine düstere Atmosphäre, sondern ist gleichzeitig Metonymie der großen Stadt.10 Verbindet man die „schwarze Mauer“ aus Vers zwei mit der „steinernen Nacht“ aus Vers vier, ließen sich die Adjektive umkehren, was den semantischen Horizont des Gedichts um die Ausdrücke „steinerne Mauer“ und „schwarze Nacht“ erweiterte.11 In der ersten Strophe kommt weiterhin das Licht zur Sprache, das mit „magnetischer Geissel die steinerne Nacht verdrängt“ (Vers 4). Vgl. Hans Szklenar: Georg Trakl. Ein biographischer Abriß. In: Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur 4/4a (1969), S. 42–45, hier S. 44 f. 8 Csúri: Trakls Großstadt als poetisches Konstrukt (wie Anm. 6), S. 273. 9 Vgl. ebd. 10 Ebd., S. 266. 11 Vgl. ebd., S. 267. 7

„da sich alles / an schwarzem Material überlagert“

Dieses Licht könnte im ersten Moment als Lichtblick gedeutet werden, doch ist es im Kontext der modernen Großstadt als elektronische Beleuchtung zu verstehen.12 Die magnetische Geissel ist die magnetische Spule eines Stromgenerators, der den technischen Fortschritt und den neuen Lebensraum symbolisiert, welcher wiederum zu einer „Personifikation des Bösen“13 heranwächst. In der folgenden Strophe tritt das Sehinstrument ins Zentrum des Geschehens. Die Augen, ein wiederkehrendes Motiv in Trakls Gedichtzyklus Sebastian im Traum,14 erscheinen als „grüne Augen“ (Vers 8), die zerbrechen, womit auch das Sehen zerbricht. Die grüne Farbe stünde, so Csúri, für die Unschuld und Hoffnung, die in der Textwelt scheitern müssten.15 Die Menschen sind nicht nur verstummt, der Hunger und die „purpurne Seuche“ nahm ihnen ebenfalls das Augenlicht. Mit „Aber stille blutet in dunkler Höhle stummere Menschheit“ (Vers 10) beginnt die letzte Strophe. Die Höhlenmetaphorik steht für die große Stadt voller tiefer Dunkelheit und das sich in ihr befindliche miserable Leben. Sie erzeugt das Bild einer höllischen Unterwelt-Szenerie, einer Hölle auf Erden,16 der nur noch durch die Erlösung im letzten Vers entflohen werden kann: Der letzte Vers „Fügt aus harten Metallen das erlösende Haupt“ beendet das irdische Leben in Sünde, wie er auch das Gedicht ausklingen lässt. Gleichzeitig ist eine Verbindung der beiden Sinneswahrnehmungen zu erkennen. So korrespondieren Stille und Dunkelheit wegen der Abwesenheit eines sensorischen Reizes ebenso miteinander wie Dunkelheit und das „grässliche Lachen“ aufgrund dadurch hervorgerufener negativer Assoziationen. Es ist zu überlegen, wer „die Verstummten“ eigentlich sind, an die der Titel das Gedicht adressiert. Károly Csúry sieht in den Verstummten „den leidenden und glaubenden Menschen, im Gegensatz zum ‚Geist des Bösen‘ und dem ‚Besessenen‘ einer gottlos-verdorbenen Gegenwartswelt“17, der leidet, indem er metaphorisch in dunkler Höhle ausblutet (Vers 10), wohingegen Stephan Jaeger die Frage nach dem Subjekt bzw. dem lyrischen Ich des Texts aufwirft und im Hinblick auf den Titel zu folgendem Schluss gelangt: 12 Ebd., S. 271. 13 Ebd., S, 274. 14 Zu nennen wären an dieser Stelle die Gedichte Stundenlied, An den Knaben Elis, Elis, Nachts,

Verwandlung des Bösen, An einen Frühverstorbenen, Gesang des Abgeschiedenen sowie der Prosatext Traum und Umnachtung (Georg Trakl: Sebastian im Traum. In: Ders.: Dichtungen und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe. Hg. v. Walther Killy/Hans Szklenar. Bd. 1. Gedichte; Sebastian im Traum, Veröffentlichungen im Brenner 1914/15, Sonstige Veröffentlichungen zu Lebzeiten, Nachlass, Briefe. Hg. v. dens. Salzburg: Otto Müller Verlag 1969, S. 78–150.) 15 Vgl. Csúri: Trakls Großstadt als poetisches Konstrukt (wie Anm. 6), S. 270 f. 16 Ebd., S. 264. 17 Ebd.

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Wer beobachtet oder bewertet? Das Subjekt kann weder distanziert von außen das Leid der Menschen betrachten; dazu ist der Text zu evokativ – noch kann es selbst der Mensch oder ein Zugehöriger der verstummten Menschen sein, dazu wären die verfremdeten Auskünfte zu reflektiert. Außerdem wäre dann der Titel ‚An die Verstummten‘ nur als Selbstreflexion lesbar, was zumindest für das Subjekt als unmögliches Paradoxon erschiene – sprechend aber verstummt.18

Betrachtet man allerdings, dass es sich bei einem Paradoxon nur um einen scheinbaren Widerspruch handelt, der bei genauerer Analyse auf eine höhere Wahrheit hinweist, verliert der Gegensatz ‚sprechend aber verstummt‘ an Schärfe. Ein eher metaphorisch zu deutendes Verstummen kann in vielfältiger Weise auf bewusst unterlassene Handlungen oder Machtlosigkeit, was ein anderer Hintergrund der Passivität ist, hindeuten und steht in keinem Widerspruch zu einer rein sprachlichen Äußerung.

2. An die Vermummten I So der Wahnsinn Abbottabad, da sich alles an schwarzem Material überlagert: Asche von Türmen, nordpakistanische Nacht und auch dieser alte, auf hoher See bestattete Zottelbart. Großes Bunkergefühl heute. Samt Magengrollen. Ungefilmt bleibt der Nebenraum, wo man ein totes Kind verhört. R ASEND PEIT SCH T G O TTE S ZO RN den Heli übers Anwesen, Stroboleuchten ertasten zwei braune Augen, mehr nicht. Kohl, Kartoffeln und Haschisch im Hof. Dann gibt es nur noch eins. Blut. Man hört die vermummten Menschen, Flüche, RAUS, WAR TE , Metall, das Getöse. Kein Laut. II Oder was, Slim Shady vom Waagplatz, schaust du da,

18 Stephan Jaeger: Intensität statt Hermetik: Zur Theorie von Textbewegungen in Trakls Lyrik

am Beispiel der Gedichte ‚Siebengesang des Todes‘ und ‚An die Verstummten‘. In: Georg Trakl und die literarische Moderne. Hg. v. Károly Csúri. Tübingen: Max Niemeyer Verlag 2009, S. 77–98, hier S. 95.

„da sich alles / an schwarzem Material überlagert“

als Bartloser, aufgehübscht unterm Frotteeturban, an deinem Billig-TV, Slim Shady IM TRA U M ? Bist mir magischer Bruder. Weißt eisern zu schweigen. Wart ab, so wirst du dunklere Beute. Bleib unerschrocken. (Du sollst den Raum niemals sehn: Dort hat man ein totes Kind verhört.) Rasend peitscht (keine Geiseln) Gottes Zorn (und kein Purpur) des Besessenen (kein Heavy Metal) Stirne (kein Licht). Du hast nur ein Tütchen A U RO RA , ein Tütchen SARIN, und deinen fiebrigen Blick auf manchmal rosenfarbene Moscheen, nervösere Haut.19

Die Erstveröffentlichung von An die Vermummten erfolgte im Rahmen der Veröffentlichung des Gedichtbandes Graphit im Jahre 2014. Dort hat es in Folge der Gedichte Rotorblätter und Schmieriger, glasiger – zweier Gedichte, denen ebenfalls Krieg als ein übergeordnetes Thema zuteil ist20 – einen so passenden Rahmen, dass kein Zweifel an einer linearen, dem Graphit-Band bestimmten Entstehungsgeschichte aufkommen würde. Bereits zuvor jedoch hatte Beyer die Einladung erhalten, einen Beitrag für die Anthologie mit Trakl-Adaptionen Trakl und wir. Fünfzig Blicke in einen Opal21 zu verfassen, die einige Wochen nach Graphit erschien, so dass Graphit die Erstveröffentlichung von An die Vermummten enthält. Das Gedicht setzt sich aus zwei Teilen zusammen, die nach gleichem Aufbau gefertigt sind: Drei Strophen mit fünf, vier und zwei Versen stehen sich in zweifacher Ausführung gegenüber. Selbst die Anzahl der Silben innerhalb eines jeden Verses ist deckungsgleich zu der Anzahl ihres Schwesternverses. Nicht synchron sind jedoch die Verslänge und der mit ihr verbundene Satz. So ist in Vers vier des zweiten Teils ein Versumbruch nötig, im ersten Teil jedoch nicht. Auch die Anwendung von Groß- und Kleinschreibung und die Art der Zeichensetzung variieren. Finden sich in beiden Teilen Wörter oder gar Sätze mit grossgeschriebenen Lettern – „rase n d pe i t sc h t g o t t e s z or n“ (Teil I, Vers 7) oder „ein Tütchen sar i n“ (Teil II, Vers 10) – ist es der zweite Teil, welcher an vier Stellen Wörter in Klammern bannt und das Bild so noch unruhiger werden lässt. Als unruhig lässt sich das optische Erscheinungsbild von An die Vermummten im Allgemeinen beschreiben; 19 Marcel Beyer: Graphit. Gedichte. Berlin: Suhrkamp 2014, S. 154 f. 20 Hierbei handelt es sich übrigens um zwei ebenfalls nach einer Vorlage gefertigte Gedichte:

„Rotorblätter: zu Photographien von Naomi Schenck. Schmieriger, glasiger: Nach einer telefonischen Bildbeschreibung von Daniel Richter.“, ebd., S. 203. 21 Mirko Bonné/Tom Schulz (Hg.): Trakl und wir. Fünfzig Blicke in einen Opal. München: Stiftung Lyrik Kabinett 2014.

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großgeschriebene Wortfolgen, Einschübe in Klammern, Enjambements legen dem Text schon vor dem eigentlichen Lesen einen hektischen Charakter auf. Auffällig ist auch die Häufung der Vokale A und O. Die Worte „So der Wahnsinn Abbottabad“ (Teil I, Vers 1) öffnen das Gedicht An die Vermummten, womit der Schauplatz des Geschehens geklärt ist: Abbottabad, Pakistan; bekannt als Sitz des Al-Kaida-Führers Osama Bin Laden. Und von diesem, oder vielmehr von dessen Erschießung, handelt Beyers Gedicht. Die Zeit verläuft weder chronologisch noch linear. Mit „da sich alles / an schwarzem Material überlagert: Asche / von Türmen, nordpakistanische Nacht“ (Teil I, Vers 1–3) wird die düstere Szenerie einer Landschaft entworfen, wie sie nach Ende des eigentlichen Geschehens zu sehen gewesen sein könnte, denn der „auf hoher See bestattete Zottelbart“ (Teil I, Vers 4) ist, wie das Präteritum verrät, bereits tot und von Bord geworfen. Die erwähnten Türme sind der unmissverständliche Rückbezug auf den Ursprung des Geschehens. Es sind die Twin Tower des World Trade Centre in New York City, die sich am 11. September 2001 zu einem großen Teil in Schutt und eben auch Asche verwandelt haben. Der anschließende Vers „Großes Bunkergefühl heute. Samt Magengrollen.“ (Teil I, Vers 5) ruft mit seiner Bild- und Wortwahl die passenden Assoziationen hervor. Das Paradoxon „Ungefilmt bleibt der Nebenraum, wo man ein totes Kind verhört“ (Teil I, Vers 6), das eine Analepse ist, lässt den Leser noch tiefer ins Geschehen eintauchen; in dem während der Operation Geronimo gestürmten Haus hielten sich neben Bin Laden einige seiner Gefolgsleute sowie Frauen und Kinder auf, welche dem Schusswechsel ebenfalls zum Opfer fielen. Das Ganze wurde per Satellit in den sogenannten Situation Room22 des Weißen Hauses übertragen, von wo aus das Handeln der US-amerikanischen Eliteeinheit Navy Seals überwacht und koordiniert wurde. Und eben diese Soldaten sind es, die per Hubschrauber – „ras e n d pe i t s c h t g o t t e s z or n den Heli / übers Anwesen“ (Teil I, Vers 7) – auf dem Weg zum Anwesen Bin Ladens sind. Es ist bereits Nacht, mit „Stroboleuchten“ (Teil I, Vers 8) bahnen sie sich ihren Weg zum Eingang, woraufhin das Blutvergießen beginnt: „Dann gibt es nur noch eins. Blut. Man hört 22 Im Situation Room ist auch der Titel eines im Jahre 2015 von Marcel Beyer veröffentlichten Ban-

des aus der Reihe Rede an die Abiturienten. Der Situation Room wird hier zur Metapher einer geheimen Schaltzentrale, von der aus eine ominöse Weltregierung das Schicksal der Menschheit lenkt, die Beyer entwirft, um sich von einer derartigen verschwörungstheoretischen und selbstentmündigenden Sicht gleich wieder zu distanzieren. Diese Zentrale weist Parallelen zu der des Weißen Hauses auf; nun ist diese nicht geheim, doch ist sie Knotenpunkt militärischer Geheimdienstoperationen der Vereinigen Staaten, die in der medialen und verschwörungstheoretischen Berichterstattung als scheinbar allmächtige militärische Supermacht dargestellt werden, die die weltpolitischen Prozesse lenkten, ohne dass die übrige Menschheit darauf Einfluss hätte. Möglicherweise ist die Auseinandersetzung mit der Thematik im Rahmen der Recherchen für An die Vermummten Ursprung für diesen Titel. (Marcel Beyer: Im Situation Room – Der entscheidende Augenblick. Rede an die Abiturienten. Sankt Ingbert: Conte 2015).

„da sich alles / an schwarzem Material überlagert“

die vermummten Menschen“ (Teil I, Vers 10). „Flüche, raus, wart e, Metall, das Getöse. Kein Laut“ (Teil I, Vers 11) sind die akustischen Wahrnehmungen. Flüche der überraschten Bewohner, lautstarke Kommandos der Soldaten sowie das metallene Getöse der Maschinengewehre und aufprallenden Patronen münden in Stille, Totenstille. Die Mission wurde erfüllt. Im Situation Room lehnt man sich zurück. Doch was ist eigentlich der „Wahnsinn“ in Abbottabad? An dieser Stelle lässt das Gedicht ganz bewusst Interpretationsspielraum. Der Wahnsinn könnte der Wahnsinn Bin Ladens sein. Die Festung Abbottabad, wo sich „alles / an schwarzem Material überlagert“ (Teil I, Vers 1 und 2) war jahrelang Zentrale der schwarzen Macht des Terrors, des Terrors in der westlichen Welt, und eben diese greift nun in einem wie vom Wahnsinn getriebenen Manöver den in die Jahre gekommenen Al-Kaida-Führer an. Ohne Rücksicht auf Verluste in gegnerischen Reihen und ohne Geiseln (vgl. Teil II, Vers 7) gehen die „Wahnsinnigen“ vor, bis niemand mehr am Leben ist, und verlassen das Gelände mit der Leiche ihres Zielsubjekts im Schlepptau. Diese Darstellung überspitzt die realen Begebenheiten, bei denen es durchaus eine große Anzahl an Überlebenden gab. Der zweite Teil des Gedichts beginnt mit einer Anspielung auf den US-amerikanischen Rapper Eminem, der in Person seines Alter Egos „Slim Shady“ (Teil II, Vers 1) als „Bartloser, aufgehübscht unterm Frotteeturban“ (Teil II, Vers 2) erscheint. Dies ist eine Referenz an das Musikvideo Eminems zu seinem Song Without Me, in welchem er unter anderem als Osama Bin Laden verkleidet auftritt, der von einer Gruppe mit Eminem befreundeter Rapper gejagt wird, bis er zum Zeichen des Waffelstillstands eine weiße Fahne schwenkt, woraufhin alle beginnen zu tanzen.23 Die Person unter dem Turban weiß „eisern zu schweigen“ (Teil II, Vers 4) und wird so „dunklere Beute“ (Teil II, Vers 5). Der Angriff auf Bin Laden, der jahrelang über seinen Aufenthaltsort schwieg und in der Dunkelheit, bei Nacht Beute der Amerikaner wurde, ist im folgenden Vers vorbei; aus Präsens wird Perfekt, aus „Ungefilmt bleibt der Nebenraum, wo man ein totes Kind verhört“ (Teil I, Vers 6) wird „Du sollst den Raum nicht sehn: Dort hat man ein totes Kind verhört“ (Teil II, Vers 6). Mit den Worten „Rasend peitscht (keine Geiseln) Gottes Zorn (und kein Purpur) / des Besessenen (kein Heavy Metal) Stirne (kein Licht)“ (Teil II, Vers 7 und 8) geht es weiter, indem Gottes Zorn, der in Teil I den Helikopter über das Anwesen peitschte, nun nicht gegen die besessenen Amerikaner schlägt, sondern sich gegen den vom Terrorismus besessenen Bin Laden wendet und zur Metapher für seine Ermordung wird. Das in Teil I bereits abgeschlossene Manöver wird hiermit erneut aufgegriffen, was eine weitere Folge der weder linear noch chronologisch verlaufenden Zeit ist. Nur 23 Eminem: Without Me (Video). Santa Monika, New York City: Universal Music Group 2002.

http://www.universal-music.de/eminem/videos/detail/video:327704/without-me (zuletzt aufgerufen: 11.09.2016).

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Tote, keine Geiseln werden zurückgelassen, das Heavy Metal der Maschinenpistolen ist verstummt und das Licht der „Stroboleuchten“ (Teil I, Vers 8) erloschen. Die bei Trakl christlich konnotierte Farbe Purpur wird zur Metapher für eine Billigung Gottes, die es ebenfalls nicht mehr gibt. Aurora, Göttin der Morgenröte, beendet die nordpakistanische Nacht: „Du hast nur ein Tütchen AURORA“, / ein Tütchen SARIN und deinen fiebrigen Blick auf manchmal“ (Teil II, Vers 9 und 10). Der Eindruck der Morgenröte und Reste des chemischen Kampfstoffs Sarin als Metapher für den Terror, ist das, was übrig bleibt. In An die Vermummten versucht Marcel Beyer sich nicht daran, die Geschichte neu zu erfinden. Die fiktionale Ebene, welche unweigerlich mitschwingen muss, tritt zunächst, könnte man annehmen, in den Hintergrund und lässt der medialen Wirklichkeit und assoziativen Innenwelt den Vorrang. Mediale Darstellung und alltägliche Wirklichkeit sind zwar divergent, doch ebenso simultan. An moderner Lyrik, so divers sie auch in ihren Strukturen sein mag, fällt allgemein die Tendenz zur Darstellung simultaner Vorgänge auf […] – immer kommt das Bestreben des modernen Lyrikers zum Ausdruck, die visuelle Komplexität und verbale Polyphonie des Alltags in neue lyrische Strukturen zu bannen.24

Die These Jan Röhnerts mit ihrem Fokus auf der Darstellungsform des Films lässt sich leicht verändert auch auf Beyers Gedicht anwenden. So ist es hier das Verhältnis aus klassischer Lebenswirklichkeit und medialer Berichterstattung, das die Vielstimmigkeit des Alltags ausmacht und simultan erfasst wird. Die alltägliche Wahrnehmung scheint mit der Informationsflut aus medialer Bildproduktion zu verschmelzen. Die Medien ergänzen lokale Eindrücke um ein Vielfaches, ergänzen die Erinnerung und schaffen so Material für die künstlerische Produktion. Besonders interessant sind an dieser Stelle das Fernsehen und auch die diversen Videokanäle im Internet. Obwohl es beispielsweise bei den Anschlägen vom 11. September unendlich viele denkbare Perspektiven und Punkte auf der Zeitachse zur Darstellung des Flugzeugs, welches in einen der Twin-Tower fliegt, gegeben hätte und gibt, ist den meisten bei passendem Stichwort schlagartig dasselbe Bild vor Augen, ein Bild, das in das kollektive Gedächtnis eingegangen ist. Verantwortlich dafür ist nicht etwa eine Manipulation oder gar die eingeschränkte Vorstellungskraft, sondern die Infiltration medialer Berichterstattung in unsere Erinnerung; so auch bei der Ermordung Osama Bin Ladens oder mit anderen Worten: so auch in An die Vermummten – doch mit einem Unterschied: diesmal ganz bewusst konstruiert. Eben diesen Umstand, also den Unterschied 24 Jan Röhnert: „Zbigniew Cybulski / ist tot“. Lyrische Situation und filmische Simulation in Rolf

Dieter Brinkmanns Gedicht Film.“ In: Authentizität und Polyphonie. Beiträge zur deutschen und polnischen Lyrik seit 1945. Hg. v. ders. et al. Heidelberg: Winter 2008, S. 151–160, hier S. 151.

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zwischen tatsächlich Erlebtem und durch die Medien Gefiltertem, muss man sich bewusst machen, um das Reale, den Realitätseffekt oder die scheinbare Authentizität bzw. den Einfluss der medialen Bilder auf An die Vermummten zu untersuchen.25 Abbottabad wird zum Schauplatz des Gedichts. Es ist ein Bild von Abbottabad, das eben jenem der Medienberichterstattung rund um den Angriff auf Bin Ladens Anwesen entspricht. Im ersten Teil sind die Bezüge relativ klar zu verorten, wohingegen es im zweiten Teil diffuser wird. Es gibt Fotos, wenige Fotos, die direkt von der Regierung der USA veröffentlicht wurden; die meisten dieser Fotos zeigen Präsident Barack Obama umgeben von seinen engsten Gefolgsleuten im Weißen Haus.26 Doch ebenso gibt es Fotos, die aus pakistanischen Reihen in die Medien gelangt sind und die Spuren vom 1. Mai 2011 zeigen.27 Letztere sowie die Schilderungen der US-Regierung sind es, die das medial geprägte Bild ausmachen, das in An die Vermummten zu erkennen ist. Neben den bekannten räumlichen und zeitlichen Koordinaten (vgl. Teil I, Vers 1–3) beginnt das Gedicht mit einer der brisantesten Informationen, die von der US-amerikanischen Regierung herausgegeben wurde: „und auch / dieser alte, auf hoher See bestattete Zottelbart“ (Teil I, Vers 3 und 4). Hierbei handelt es sich um die Behauptung, die Leiche Bin Ladens auf hoher See von Bord geworfen zu haben, einer Behauptung, die nicht zu verifizieren ist und in An die Vermummten ein reines Echo der Medienberichterstattung darstellt.28 „Ungefilmt bleibt der Nebenraum, wo man ein totes Kind verhört“ (Teil I, Vers 6) ist eine Anspielung auf die filmische Live-Übertragung der Ereignisse in den Situation Room des Weißen Hauses,29 die durch die Helligkeit der „Stroboleuchten“ (Teil I, Vers 8) erst ermöglicht wurde. Einer der US-amerikanischen Helikopter blieb bei dem Manöver flugunfähig zurück und wurde von den Amerikanern, um das militärische Gerät nicht in andere

25 Anders verhält es sich etwa in Kathrin Rögglas Prosaserie really ground zero, in welcher sie die

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Geschehnisse unmittelbar nach den Anschlägen des 11. Septembers beschreibt. Röggla war selbst in New York City anwesend und schildert ihre eigenen Wahrnehmungen, ist nicht auf Medienbilder angewiesen und sieht trotz dieses vermeintlichen Vorteils die Schwierigkeit einer authentischen Beschreibung (vgl. Kathrin Röggla: really ground zero. 11. september und folgendes. Frankfurt/M.: S. Fischer 2011, S. 4.). Marcel Beyer jedoch konnte keine eigenen Eindrücke sammeln und nur aus dem medialen Repertoire schöpfen. Vielleicht unterliegt seine Dichtung gerade deshalb nicht dem Dilemma, eine authentische Beschreibung liefern zu wollen und ist dadurch im Endeffekt authentischer. The White House: Mai 11, 2011. https://www.whitehouse.gov/photos-and-video/photogallery/ may-1-2011 (zuletzt aufgerufen: 11.09.2016, 18.05). Vgl. hierzu etwa Reuters: Photos from the Bin Laden Compound. http://www.reuters.com/ subjects/bin-laden-compound (zuletzt aufgerufen: 11.09.2016). Jim Garamone: Bin Laden Buried at Sea. http://www.navy.mil/submit/display.asp?story_id=60124 (zuletzt aufgerufen: 12.09.2016). The White House: Mai 11, 2011, Foto 2 (wie Anm. 26).

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Hände geraten zu lassen, zerstört;30 eine Situation, die im Kontext des Gedichts als Strafe Gottes gedeutet werden kann: „ras e nd pei t sc ht g ot t e s z or n den Heli übers Anwesen“ (Teil I, Vers 7). „Kohl, Kartoffeln und Haschisch im Hof“ (Teil I, Vers 9) entspricht relativ exakt den Impressionen, die man von dem Gelände zwischen Mauern und Haus gewinnen konnte,31 wohingegen die Verse „Dann gibt es nur noch eins. Blut. Man hört die vermummten Menschen / Flüche, raus, wart e, Metall, das Getöse. Kein Laut“ (Teil I, Vers 10 und 11) als eine freie, doch in ihrer Logik nachvollziehbare Rekonstruktion eines möglichen Ablaufs gedeutet werden können, wie er den Fotos der blutüberströmten Leichen vorausgegangen sein könnte.32 Teil II ist diffuser und enthält viele mehrdeutige Verweise, doch sind auch hier schnell die durch die Medien entstandenen Bilder zu erkennen. Der Vers „so wirst du dunklere Beute. Bleib unerschrocken“ (Teil II, Vers 5) weiß die nächtliche, düstere und medial vorgezeichnete Szenerie ins Gedicht zurückzuholen. Auch der Angriff auf Bin Laden und seine Gefolgsleute wird noch einmal geschildert (vgl. Teil II, Vers 6–8), wobei der Raum – eine Anspielung auf die filmische Live-Übertragung – wieder aufgegriffen wird: „Du sollst den Raum niemals sehen: Dort hat man ein totes Kind verhört“ (Teil II, Vers 6). Interessant ist die Abwesenheit der Farbe Purpur. Purpur lässt sich im Gedicht vielseitig interpretieren; „kein Purpur“ (Teil II, Vers 7) steht metaphorisch etwa für die medial überlieferte einfache, wenig prunkvolle Lebensweise Bin Ladens in seinem Anwesen,33 doch auch die im Kontext des Gedichts stimmige Assoziation zur Farbe des Blutes sollte nicht unerwähnt bleiben. Der Begriff „Tütchen“, der gleich zweimal auftaucht – „Du hast nur ein Tütchen aur ora, / ein Tütchen s ar in , und deinen fiebrigen Blick auf manchmal“ (Teil II, Vers 9 und 10) – ist ein Symbol für den Drogenhandel, mit dem Bin Laden einen Großteil seines Vermögens erwirtschaftet haben soll.34 Der fiebrige Blick ist hier die Repräsentation der Berichte über Bin Ladens mutmaßlich schlechten Gesundheitszustand.35

Reuters: Photos from the Bin Laden Compound, Foto 1 und 2 (wie Anm. 27). Ebd., Foto 5. Ebd., Foto 6–9. ABC News: Photos from Inside the Osama Bin Laden Kill Zone. http://abcnews.go.com/International/photos/photos-inside-osama-bin-laden-kill-zone-13508190/image-13508296 (zuletzt aufgerufen: 15.09.2016). 34 n-tv: Bin Laden war millionenschwer. Erbe, Drogen, kriminelle Geschäfte, http://www.n-tv. de/mediathek/videos/wirtschaft/Bin-Laden-war-millionenschwer-article3230651.html (zuletzt aufgerufen: 15.09.2016). 35 Seymour M. Hersh: The Killing of Osama bin Laden. http://www.lrb.co.uk/v37/n10/seymourm-hersh/the-killing-of-osama-bin-laden (zuletzt aufgerufen: 15.09.2016).

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Ein letztes medial geprägtes Bild mit Wirklichkeitsbezug ist das der „rosenfarbene[n] Moscheen“ (Teil II, Vers 11), die es tatsächlich in Abbottabad gibt36 und so ein potentiell reales Bild im Morgengrauen (vgl. Teil II, Vers 9) des 2. Mai 2011 darstellt. Am medialen Bildfundus hat außerdem der 2012 veröffentlichte Hollywood-Film Zero Dark Thirty37 einen nicht zu unterschätzenden Anteil. Der Film beschäftigt sich hauptsächlich mit der langen Suche nach dem Aufenthaltsort Bin Ladens und illustriert ebenfalls das Manöver zu seiner Ermordung. Letzteres korrespondiert in seiner Darstellung sowohl mit den genannten Berichten und Fotografien wie auch mit der Darstellung im Gedicht An die Vermummten. Bei den Fotografien, auf die Beyers Gedicht schließlich verweist, handelt es sich selbstverständlich nicht um quellenkritisch editierte oder unabhängig autorisierte Bilder, doch sind es eben diese medialen Vervielfältigungen, die das medial geprägte Bild in An die Vermummten ausmachen. Die Wirklichkeit wird in An die Vermummten zur medialen Inszenierung. Beyer nutzt die aufgezeigten Bilder medialer Wirklichkeit, um mit ihnen die Trakl-Vorlage An die Verstummten zu überschreiben.

3. Georg Trakls An die Verstummten verfügt nicht nur über die gleiche Strophenanzahl, sondern auch über ebenso viele Verse wie An die Vermummten. In drei Strophen und elf Versen erscheinen sowohl An die Vermummten wie auch das über hundert Jahre ältere Gedicht Georg Trakls. Ein großer Unterschied ist jedoch, dass Beyer sein Gedicht förmlich verdoppelt hat. Auf den ersten Teil folgt ein zweiter mit ebenfalls drei Strophen und elf Versen. Und diese Genauigkeit geht noch tiefer in die Versstruktur hinein: Die Verse der beiden Teile An die Vermummten I und II sind, was ihre Silbenstruktur angeht, absolut deckungsgleich. Vergleicht man diesen Aspekt mit dem Trakl-Gedicht, stößt man auf ein ähnliches Phänomen: Die Verse des Gedichts An die Verstummten verfügen ebenfalls über die jeweils selbe Silbenanzahl der Verse aus An die Vermummten I und II. Es gibt jedoch einen Unterschied: Sind An die Vermummten I und II, was ihre Silbenanzahl betrifft, völlig deckungsgleich, unterscheidet sich der zehnte Vers von Trakls Text durch eine fehlende Silbe. Die dargelegten Ähnlichkeiten in der äußeren Form, sind, neben dem bereits erwähnten Verweis des Autors, klare Indizien dafür, dass Marcel Beyer Georg Trakls Gedicht als Material für sein eigenes Schreiben verwendet hat. Wie genau die Vorlage als Material extrahiert und genutzt wurde, soll nachfolgend erörtert werden. 36 Hasnain Kazim: In der Stadt der Schande. Bin Ladens letztes Versteck, http://www.spiegel.de/

politik/ausland/osama-bin-ladens-tod-besuch-in-abbottabad-a-830064.html (zuletzt aufgerufen: 15.09.2016). 37 Kathryn Bigelow: Zero Dark Thirty. Universal City: Universal Pictures 2012.

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Zunächst wäre es denkbar, An die Vermummten als eine Art Oberflächenübersetzung seiner Vorlage zu bezeichnen, die an Gedichte wie Sommer (Aus dem Amerikanischen) von Rolf Dieter Brinkmann erinnert.38 Joachim Sartorius bezeichnete Brinkmanns Gedicht als „eine Folge von Annäherungen an das und völlig freien Abweichungen von dem Ausgangsmaterial“,39 eine Herangehensweise, die auch Beyer nachgesagt werden kann. Auf einer oberflächlichen Ebene gelingt es ihm, nicht zuletzt durch die (fast) identische Silbenanzahl, die phonetischen Eigenschaften des Originals an einigen Stellen beizubehalten: Aus „O, der Wahnsinn der großen Stadt, da am Abend“ (Vers 1) wird bei Beyer „So der Wahnsinn Abbottabad, da sich alles“ (Teil I, Vers 1). Der Rhythmus wird beibehalten und der Klang ist durch die Verwendung vieler A- und O-Vokale ebenfalls ähnlich. In den folgenden Versen finden sich weitere lautliche Übermalungen, die Sartorius in Brinkmanns Fall als „schamlose Nutzung des Materials für eigene Zwecke“40 bezeichnete: „An schwarzer Mauer“ (Trakl: Vers 2) wird zu „an schwarzem Material“ (Beyer: Teil I, Vers 2), was gleichzeitig eine Art poetologische Referenz an die Nutzung des Materials der Vorlage für seine eigene Dichtung ist, wie auch Brinkmann in dem Vers „Niemand kann das übersetzen. Was ein Ding bedeutet“41 einen derartigen Verweis auf die Entstehung seines Gedichtes integrierte. „Aus silberner Maske der Geist des Bösen schaut“ (Trakl: Vers 3) klingt in Kombination mit „von Türmen, nordpakistanische Nacht und auch“ (Beyer: Teil I, Vers 3) wie ein Beinahe-Reim, eine phonetische Ähnlichkeit, die in einem der folgenden Verse auch einen echten Reim hervorbringt, wenn man „Purpurne Seuche, Hunger, der grüne Augen zerbricht“ (Trakl: Vers 8) dem Vers „Stroboleuchten ertasten zwei braune Augen, mehr nicht“ (Beyer: Teil I, Vers 8) gegenüberstellt. Eine ähnliche Beziehung lässt sich zwischen den Versen „Fügt aus harten Metallen das erlösende Haupt“ (Trakl: Vers 11), „Flüche, raus, wart e, Metall, das Getöse. Kein Laut.“ (Beyer: Teil I, Vers 11) und „rosenfarbene Moscheen, nervösere Haut“ (Beyer: Teil II, Vers 11) erkennen. Selbst die „Geissel“ (Trakl: Vers 4) findet sich als „Geiseln“ (Beyer: Teil II, Vers 7) in Beyers Gedicht wieder. In jedem Fall, und das geht über eine Oberflächenübersetzung hinaus, findet man bei Beyer Zitate seiner Vorlage. Die wörtlichen Übernahmen in An die Vermummten sind nicht durch Anführungszeichen, Kursivierung oder einer anderen typografischen Methode als solche gekennzeichnet; mit einer Ausnahme: Der Vers „rasend pei t s c h t g o t t e s z or n den Heli übers Anwesen“ (Beyer: Teil I, Vers 7) stellt die übernommen Wörter aus „Rasend peitscht Gottes Zorn die Stirne des Besessenen“ (Trakl: Vers 7) in großen Lettern dar, was sie vom restlichen Text abhebt und dadurch 38 Rolf Dieter Brinkmann: Westwärts 1 & 2. Reinbek: Rowohlt 1975, S. 23. 39 Joachim Sartorius: Die Oberfläche des Sommers oder Was Brinkmann mit Ashbery machte.

In: Akzente 32 (1985), 3, S. 196–198, hier S. 196.

40 Ebd., S. 197. 41 Brinkmann: Westwärts 1 & 2 (wie Anm. 38), S. 23.

„da sich alles / an schwarzem Material überlagert“

besonders kennzeichnet, doch tritt diese Großschreibung noch an vier weiteren Stellen auf, was wir eine Aufforderung zur besonderen Betonung wirkt.42 Eine, wenn auch mit anderer Satzstellung, noch genauere Übernahme, diesmal kleingeschrieben, findet sich im zweiten Teil des Beyer-Poems: „Rasend peitscht […] Gottes Zorn […] des Besessenen […] Stirne […]“ (Beyer: Teil II, Vers 7). An anderen Stellen ist lediglich die Übernahme einzelner Wörter zu erkennen, die jedoch nichtsdestoweniger auf den Ursprungstext verweisen. Der Wahnsinn aus „O, der Wahnsinn der grossen Stadt, da am Abend“ (Trakl: Vers 1) findet sich in „So der Wahnsinn Abbottabad, da sich alles“ (Beyer: Teil I, Vers 1) wieder, die schwarze Mauer aus „An schwarzer Mauer verkrüppelte Bäume starren“ (Trakl: Vers 2) wird zum schwarzen Material in „an schwarzem Material überlagert: Asche“ (Beyer: Teil I, Vers 2) und das tote Kindlein aus „Hure, die in eisigen Schauern ein totes Kindlein gebärt“ (Trakl: Vers 6) taucht als totes Kind in „Ungefilmt bleibt der Nebenraum, wo man ein totes Kind verhört“ (Beyer: Teil I, Vers 6) wieder auf. Neben den in anderer Form erscheinenden Wörtern „blutet“ und „metallen“ (Trakl: Vers 10 und 11), die in Beyers Text zu „Blut“ und „Metall“ (Beyer: Teil I, Vers 10 und 11) werden, findet sich eine letzte wörtliche Übernahme aus Vers 14 Trakls: Hier sind es die Augen, welche – „Purpurne Seuche, Hunger, der grüne Augen zerbricht“ (Trakl: Vers 8) und „Stroboleuchten ertasten zwei braune Augen, mehr nicht“ (Beyer: Teil I, Vers 8) – in beiden Gedichten erscheinen. Die Anspielung auf Eminems Musikvideo lässt sich als eine Art ‚intermediales Zitat‘ begreifen. Des Weiteren beinhaltet An die Vermummten bzw. die Schreibweise Beyers Elemente des Pastiche. Die dadurch entstehende Intertextualität wird bewusst als Hommage an Trakl inszeniert. Pastiche fungiert zugleich als Begriff für das künstlerische Verfahren und dessen Resultat. Wie gezeigt werden konnte, hat Marcel Beyer den äußeren Stil des Trakl-Gedichts An die Verstummten gründlich imitiert. Auch wenn es zitatartige wörtliche Übernahmen gibt, handelt es sich doch insgesamt eher um eine rein stilistische Nachahmung ohne den Inhalt der Vorlage wiederholen zu wollen. Darüber hinaus sind die wörtlichen Übernahmen nicht als klassisches Zitat gekennzeichnet, sodass dieser Umstand nicht gegen die Deklarierung von An die Vermummten als Pastiche sprechen sollte. Zwei zentrale Begriffe sind außerdem die der Collage und Montage. Es handelt sich auch hierbei um den Gebrauch von Elementen, die ihrem ursprünglichen Zusammenhang entrissen und neu zusammengesetzt werden, wodurch ein Verfremdungseffekt erzielt werden kann. Montage und Collage sind zwei grundlegende Prinzipien der Avantgarden. Versucht man nun, An die Vermummten einzuordnen, ist zunächst zwischen diesen Begriffen zu unterscheiden. Peitschte Gottes Zorn bei 42 Eine besonders hervorhebende Intonation finden die großgeschriebenen Passagen auch wäh-

rend des Lesens von An die Vermummten durch den Autor Marcel Beyer selbst. So zum Beispiel am Abend des 11. September 2015 während der in diesem Band dokumentierten Tagung.

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Trakl noch die Stirne des Besessenen, peitscht er bei Beyer den Helikopter übers Anwesen bzw. in Beyers zweitem Teil trotz diverser Einschübe erneut die Stirne des Besessenen (Vgl. Trakl: Vers 7 und Beyer: Teil I, Vers 7 sowie Teil II, Vers 7). Das eingesetzte Material wird, mit Ausnahme der Großschreibung in letztgenannter Passage, nicht als Fremdkörper dargestellt, sondern in den Textfluss integriert, sodass eher von einer integrierenden bzw. verdeckten Montage zu sprechen ist. Die Grenzen zwischen Kunst und Nichtkunst werden in Beyers Text durch die Einbeziehung medialer Berichterstattung, von Informationen, wie sie in der Presse zu finden waren, relativiert. Doch findet man bei Beyer keine unmittelbaren Zitate aus Pressetexten, sondern nur, typisch für eine Montage, Zitate der Trakl-Vorlage, also Elemente eines Werkes derselben Kunstform. Die unterschwellige Einbeziehung anderer Medien lässt wiederum auf eine Collage schließen. Beyer lässt Eindrücke aller möglichen medialen Darstellungen rund um den 1. Mai 2011 in sein Gedicht einfließen, so auch fiktionale akustische und visuelle Eindrücke. Wird durch die Montage der Trakl-Elemente ein Verfremdungseffekt erzielt, erzeugen die collagierten medialen Eindrücke einen Realitätseffekt. Betrachtet man die Sichtbarkeit der Bruchstellen in Beyers Montage bzw. Collage, findet sich ein ambivalentes Bild. Mediale Eindrücke sowie Zitate und Anspielungen der Trakl-Vorlage sind fast durchgängig in den Text integriert und ohne Kenntnis von An die Verstummten nicht zu identifizieren, was an eine Collage erinnert. Bezieht man jedoch den Hinweis des Autors auf den letzten Seiten des Graphit-Bandes, also den Paratext des Gedichtes, mit ein, erscheint der Text wiederum auch als Resultat einer Montage. Es ist nicht Ziel, eindeutig zu bestimmen, um welche Technik es sich handelt, viel mehr finden sich Überschneidungen mit allen erwähnten Kunstpraktiken, die jedoch in unterschiedlicher Gewichtung auftreten. Pastiche und Oberflächenübersetzung sind zwei Begriffe, die nicht in vollem Umfang auf An die Vermummten anzuwenden sind, doch finden sich Elemente dieser Techniken wieder. Eine Oberflächenübersetzung geschieht zumeist aus einer anderen Sprache und mit weniger klanglichen Freiheiten; ein Pastiche wiederum enthält in der Regel keine direkten Zitate. Auch der Begriff des Zitats hat seine Berechtigung, denn es gibt, obwohl Beyer Zitate kaum oder gar nicht gekennzeichnet hat, wörtliche Übernahmen aus der Trakl-Vorlage. Vor allem jedoch kann An die Vermummten als Collage und Montage bezeichnet werden. Je nach Sichtweise, ob man die Beziehung zu Trakl in den Fokus stellt – was für eine Montage spräche – oder ob man die Einbeziehung anderer Medien fokussiert – was für eine Collage spräche –, ändert sich die Tendenz zum einen oder anderen Begriff, doch sind bei diesem vielschichtigen Gedicht beide zutreffend. Da „Montage“ überdies als Oberbegriff auch für Techniken der Collage etabliert ist, haben wir es in jedem Fall mit einer Montage zu tun.

„da sich alles / an schwarzem Material überlagert“

4. Neben den als äußerliche Nutzung des Materials aus An die Verstummten erkennbaren montierten Passagen und Stilelementen in An die Vermummten finden sich auf inhaltlicher Ebene weitere intertextuelle bzw. intermediale Elemente. Der Vers „Oder was, Slim Shady vom Waagplatz, schaust du da“ (Beyer: Teil II, Vers 1) enthält nicht nur die Anspielung auf den Bin Laden imitierenden Rapper Eminem, sondern noch eine weitere Bedeutungsebene. Der Waagplatz ist Metonymie für die Stadt Salzburg, die Stadt, in der Georg Trakl geboren wurde43 und den Großteil seines Lebens verbrachte.44 Doch warum kombiniert Marcel Beyer Osama Bin Laden mit Eminem und Georg Trakl? Warum werden Eminem und Trakl zu einer literarischen Figur, die „als Bartloser, aufgehübscht unterm Frotteeturban“ (Beyer: Teil II, Vers 2) erscheint? Eine Erklärung dafür versucht Michael Braun im Feuilleton der Zeit zu geben: Ein Foto Georg Trakls, hat Marcel Beyer dazu gesagt, habe ihn an den Rapper Eminem erinnert – und an dessen Alter Ego Slim Shady. So erscheint nun der „Slim Shady vom Waagplatz“, den wir als den drogensüchtigen Medikamentenakzessisten Georg Trakl aus Salzburg identifizieren können, der hier ein wirkungsvolles „Tütchen“ mit sich führt.45

Die Ähnlichkeit, die Beyer wahrgenommen und in das Gedicht projiziert hat, erklärt auch die zunächst scheinbar hermetischen Verweise der folgenden Verse. „Slim Shady I M T R A U M ?“ (Beyer: Teil II, Vers 3) beinhaltet einerseits die erneute Anspielung auf die vermeintliche Ähnlichkeit zwischen Trakl und Eminem und andererseits die Referenz zu Trakls Gedichtzyklus Sebastian im Traum, in welchem An die Verstummten veröffentlicht wurde. Der Trakl-Eminem-Vergleich gipfelt im darauffolgenden Vers, in welchem die Ähnlichkeit in Form einer fiktiven Verwandtschaftsbeziehung erneut aufgegriffen wird: „Bist mir magischer Bruder.“ (Beyer: Teil II, Vers 4). In der Tat war Georg Trakl drogensüchtig.46 Das Tütchen in Vers neun und zehn des Beyer-Poems ist deutliches Symbol für den Drogenkonsum und auch die Bezeichnung „magischer Bruder“ spielt – das englische Wort ,Magic‘ ist Bestandteil von Szenenamen diverser Drogen – auf diese biographische Nuance Trakls an. So muss auch der fiebrige Blick – „ein Tütchen S ARI N, und deinen fiebrigen Blick auf manchmal“ (Beyer: Teil II, Vers 10) – nicht unbedingt nur eine Referenz an den vermeintlich kranken Osama Bin Laden sein; er gibt vielleicht noch besser den Zustand Georg 43 Szklenar: Georg Trakl (wie Anm. 7), S. 43. 44 Ebd. 45 Braun: Marcel Beyer (wie Anm. 3). Diese Entstehung führte auch Beyer selbst noch einmal

bei seiner Lesung während der hier dokumentierten Tagung aus (siehe S. ### des vorliegenden Bandes). 46 Szklenar: Georg Trakl (wie Anm. 7), S. 45.

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Trakls wieder, der nicht nur drogensüchtig war, sondern auch an Depressionen litt und einer Kokainvergiftung erlag.47 Der Vers „so wirst du dunklere Beute. Bleib unerschrocken“ (Beyer: Teil II, Vers 5) enthält einen weiteren mehrdimensionalen Verweis. Assoziiert man die dunklere Beute aus Beyers Text mit der dunklen Höhle aus Trakls Gedicht (Trakl: Vers 10), wird An die Vermummten semantisch um den Begriff der Höhle bereichert, was, neben der intertextuellen Dimension, mit Bin Laden, der jahrelang in afghanischen Höhlen vermutet wurde, korrespondiert. Die direkte Ansprache an ein ominöses Du in An die Vermummten II stellt einen weiteren Bezug zu Georg Trakls Gedicht bzw. zu ihm selbst dar. Doch ist es mit dieser Interpretation getan? Vielmehr scheint es, dass das Du an einigen Stellen mehrere Bedeutungsebenen trägt und ohnehin im Laufe des Textes verschiedene Gestalten annimmt. Oder was, Slim Shady vom Waagplatz, schaust du da, als Bartloser, aufgehübscht unterm Frotteeturban, an deinem Billig-TV, Slim Shady IM TRA U M ? Bist mir magischer Bruder. Weißt eisern zu schweigen. Wart ab, so wirst du dunklere Beute. Bleib unerschrocken. (Beyer: Teil II, Vers 1–5)

Auch wenn Eminem, nicht zuletzt aufgrund seiner Performance als Bin Laden, in den Versen eins bis drei eine zentrale Rolle spielt, bekommt doch Trakl den Großteil der Aufmerksamkeit zugesprochen. Der Waagplatz, die Referenz an Sebastian im Traum und die Anspielung auf den Drogenkonsum bzw. die Ähnlichkeit zwischen Trakl und Eminem sind klare Indizien dafür. Das Du in Vers fünf ist ob des nächtlichen Überfalls in Abbottabad jedoch zugleich als eine Anrede an Bin Laden zu verstehen. (Du sollst den Raum niemals sehn: Dort hat man ein totes Kind verhört.) Rasend peitscht (keine Geiseln) Gottes Zorn (und kein Purpur) des Besessenen (kein Heavy Metal) Stirne (kein Licht). Du hast nur ein Tütchen A U RO RA , ein Tütchen SARIN, und deinen fiebrigen Blick, auf manchmal rosenfarbene Moscheen, nervösere Haut. (Beyer: Teil II, Vers 6–11)

47 Ebd.

„da sich alles / an schwarzem Material überlagert“

Betrachtet man Vers sechs, ist zu fragen, wer das Du ist, das den Raum niemals sehen soll. Es könnte Bin Laden sein, es könnten die Zuschauer im Situation Room des Weißen Hauses sein, doch könnte es auch ebenfalls eine konspirative Anspielung sein, in welcher das Du die internationale Öffentlichkeit ist, der eine Information vorenthalten wird. Das Du aus Vers neun, das nur ein Tütchen Aurora, also Morgenröte, zu Gesicht bekommt, ist ebenso ambivalent. Ist es die Leiche Bin Ladens, die, bevor sie im Meer versenkt wird, noch die ersten Anzeichen des Tagesanbruchs zu Gesicht bekommt? In jedem Fall ist die bereits thematisierte biographische Anspielung auf Trakls Drogensucht herauszulesen, die in Form des Tütchens verkörpert wird. So auch im folgenden Vers, in dem das Du dem Possessivpronomen weicht, das nicht minder auf Georg Trakl verweist. Doch auch hier kommt eine Dimension hinzu, die auf Bin Laden hindeutet, der, seiner vermeintlichen Krankheit ausgeliefert, den Blick auf die rosenfarbenen Moscheen in Abbottabad richtet. Stellt man die Welten, die in den beiden Gedichten entworfen werden, gegenüber, ist eine grundlegende Gemeinsamkeit zu erkennen. Haben wir es in An die Verstummten mit dem Wahnsinn der großen Stadt zu tun, ist es in Marcel Beyers Gedicht der Wahnsinn in Abbottabad, doch wahnsinnig ist beides. In beiden Texten finden sich Abgründe menschlichen Lebens. Es ist beinahe ein Prozess zu erkennen: Die Verfallstendenz der Großstadt in der Prä-Weltkriegsära Trakls stellt den Anfangspunkt des Zeitstrahls dar und mündet in der Spionage-Geheimdienstwelt des Informationszeitalters mit seinem globalen Terrorismus, der neuen Art, Krieg zu führen.

5. Wie seine Vorlage transportiert auch An die Vermummten gezielte auditive und visuelle Sinneseindrücke. Der Vers „ras e nd pe i t s c h t g ot t e s z or n den Heli übers Anwesen“ (Beyer: Teil I, Vers 7) erzeugt, ganz wie sein Pendant in Teil II eine virtuelle Klangmusik. War es in An die Verstummten das Metallene (Vgl. Trakl: Vers 4 und 11), das zu klanglichen Assoziationen aufforderte, sind es in Beyers Gedicht die ohrenbetäubenden Laute der Rotorblätter, die beim Lesen assoziativ mitschwingen. Jedoch findet man auch ganz konkrete akustische Effekte in An die Vermummten. Während die Trakl-Vorlage etwa das Läuten der Abendglocken (vgl. Trakl: Vers 5) aufruft, findet sich bei Beyer die direkte Schilderung sinnlicher Wahrnehmung: „Dann gibt es nur noch eins. Blut. Man hört die vermummten Menschen, / Flüche, raus, wart e, Metall, das Getöse. Kein Laut.“ (Beyer: Teil I, Vers 10 und 11). Das Metallene wird von Beyer aus dem Trakl-Gedicht extrahiert und in sein eigenes montiert. Es ist das Metallene, das bei Trakl Erlösung verheißt, eine Dimension, die, in Beyers Gedicht montiert, ganz deutlich den Tod meint, der die Folge metallischen Getöses ist.

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Äußerst präsent und damit eine weitere Verbindung zu der Trakl-Vorlage ist darüber hinaus das Motiv des Sehens oder Nicht-Sehens. Die „schwarze Mauer“ (vgl. Trakl: Vers 2) und „steinerne Nacht“ (vgl. Trakl: Vers 4), die ein schwarzes, dunkles Bild erzeugen und damit ein Sehen erschweren oder verhindern, erscheinen bei Beyer als „schwarzes Material“ (vgl. Beyer: Teil I, Vers 2) und „nordpakistanische Nacht“ (vgl. Beyer: Teil I, Vers 3). Das Adjektiv „dunkel“ verstärkt diesen Eindruck noch weiter: „so wirst du dunklere Beute. Bleib unerschrocken.“ (Beyer: Teil II, Vers 5). All diese Textstellen erzeugen den Eindruck des Nicht-Sehens, welcher das Gedicht zu beherrschen scheint und noch in drei weiteren Versen vorherrscht. „Ungefilmt bleibt der Nebenraum, wo man ein totes Kind verhört.“ (Beyer: Teil I, Vers 6) ist Ausdruck des Verborgenen und damit einer Art Anti-Wahrnehmung, die in Teil zwei noch einmal verstärkt wird: „Du sollst den Raum niemals sehn“ (Beyer: Teil II, Vers 6). Zuletzt ist die Bemerkung „kein Licht“ (Beyer: Teil II, Vers 8) zu nennen. War es in An die Verstummten noch das Licht, das die steinerne Nacht verdrängte, gibt es hier keinen Lichtblick mehr. Doch es gibt den „fiebrigen Blick“ (Beyer: Teil II, Vers 10) und die braunen Augen (Beyer: Teil I, Vers 8), die einziges, wenn auch krankes und vergängliches Zeichen des Sehens sind. Der fiebrige Blick steht als Metonymie für die dahinraffende Krankheit und die braunen Augen, die von Stroboleuchten an den Gewehren der Soldaten in den Fokus genommen werden, vollführen in diesem Moment ihren letzten Wimpernschlag, sodass auch diese beiden Stellen eher im Zeichen des Nicht-Sehens stehen. Neben den Stroboleuchten, die einen Lichtstrahl durch die Dunkelheit ziehen, ist der einzige unangetastete Akt des Sehens in dem Vers „Oder was, Slim Shady vom Waagplatz, schaust du da“ (Beyer: Teil II, Vers 1) zu finden. Die genannten Augen sind überdies eine weitere Parallelstelle zu An die Verstummten und anderen Gedichten Trakls, in welchen sie, wie verdeutlicht wurde, eine wiederkehrende Rolle spielen. Aus An die Verstummten wurde An die Vermummten. Im Sinne von Beyers Materialnutzung ist die Ähnlichkeit der Titel der deutlichste Hinweis auf die intertextuelle Beziehung der beiden Texte, denen sie vorausgehen. Doch wer sind die Vermummten? Vermummt sind die Islamisten um Bin Laden. Vermummte Frauen, Männer mit Turban und das abgeschottete Leben hinter hohen Mauern oder, wie es bei der Frage nach Bin Ladens Aufenthaltsort oft vermutet wurde, in Höhlen, lassen diese Assoziation unbedingt zu, doch nicht minder vermummt sind die nordamerikanischen Streitkräfte: Kugelsichere Westen, Helme, Nachtsichtgeräte und Gasmasken gehören zur Ausrüstung der militärischen Eliteeinheit, die man auf das Anwesen losließ und vermummen diese zur völligen Unkenntlichkeit. Die Ausrüstung nimmt den Angreifern jedes äußerliche identitätsstiftende Merkmal; einzige Ausnahme ist die nordamerikanische Herkunft und der damit verbundene Querverweis auf den Ursprung der Befehlskette. Letzteres ist eine Parallele zu den vermummten Terroristen

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in den Reihen Osama Bin Ladens; die eigene Identität spielt keinerlei Rolle, es verbirgt sich jedoch immer die Referenz zum islamistischen Drahtzieher. Eine Gemeinsamkeit ist also der nicht eindeutige Titel. Ist es bei Trakl der leidende und glaubende oder auch der aktiv untätige oder passiv machtlose Mensch, so ist bei Beyer die Frage nach den sich aktiv vermummenden Wahnsinnigen (vgl. Beyer: Teil I, Vers 1) ebenso wenig zu klären. Der Titel An die Verstummten verweist auf das Nicht-Sprechen bzw. Nicht-Hören. Bei Marcel Beyers Vermummten ist es ebenso eine sensorische Wahrnehmung, die ausbleibt, doch eine andere: Das Nicht-Sehen, das mit dem Nicht-gesehen-werden korrespondiert.

6. Um die intertextuellen Beziehungen zwischen An die Vermummten und An die Verstummten weiter zu deuten, lohnt sich ein Blick in Marcel Beyers Poetologie. Gedichte sind für Marcel Beyer eine Art Forschung – „auf ein Forschungsergebnis allerdings sind sie […] nicht ausgerichtet. Gedichte haben kein Ergebnis“.48 Eher handelt es sich um „Mutmaßungen von Geschichte“.49 Situationen, die zwischen hoher Bedeutungsaufladung und völliger Bedeutungslosigkeit changieren, seien die, die ihn als Schriftsteller herausfordern.50 Aus solchen Situationen setzt sich auch das Gedicht An die Vermummten zusammen. Beyer entwirft die Darstellung eines Ereignisses, das ebenso konkret wie vage ist. Sie ist das Ergebnis der Interferenz vielschichtiger Eindrücke und Momente. Das beschreibt Christina Weiss mit dem Fokus auf Beyers Roman Kaltenburg wie folgt: „wir entkommen dem Hervordrängen unserer selbst erlebten oder erzählten oder gelesenen Erinnerungen nicht, wenn sie sich einmischen – mögen sie noch so vage sein.“51 Und eben dieser Effekt findet sich in Beyers Bin-Laden-Trakl-Eminem-Gedicht. Alles überlagert sich: Eine Mutmaßung von Geschichte, wie sie gewesen sein könnte, vermischt sich mit medialen Erinnerungsbildern, Berichterstattungen, Musikvideos, sie ruft Assoziationen hervor und überschreibt letztlich das Gedicht Georg Trakls, der selber wieder neu erscheint. „Ich muß mir Bilder selbst ausmalen, wenn ich etwas vor Augen haben will“52 ist ein Schlüsselsatz aus Spione, mit dem Beyer die Unmöglichkeit einer authentischen historischen Darstellung geschickt unterläuft. Historische Bezugspunkte und die Ungreifbarkeit historischer Ereignisse53 48 Marcel Beyer: Putins Briefkasten. Berlin: Suhrkamp 2012, S. 118. 49 Christina Weiss: Mutmaßungen von Geschichte. Zum Werk von Marcel Beyer. In: Sprache 50 51 52 53

im technischen Zeitalter 52 (2014), 210, S. 405–413, hier S. 407. Vgl. Marcel Beyer: XX. Lichtenberg-Poetikvorlesungen. Göttingen: Wallstein 2015, S. 18. Weiss: Mutmaßungen von Geschichte (wie Anm. 49), S. 407. Marcel Beyer: Spione. Köln: DuMont 2000, S. 65. Vgl. Robin Hauenstein: Historiographische Metafiktionen. Ransmayr, Sebald, Kracht, Beyer. Würzburg: Königshausen & Neumann 2014, S. 176.

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bilden eine Aporie, die Beyer auch in An die Vermummten lyrisch vergegenständlicht, was spätestens mit der Auferstehung Georg Trakls in Person des Rappers Eminem, der wiederum als Bin Laden verkleidet herumtanzt, klar werden sollte. Beyer gelingt es, mindestens zwei geschichtliche Dimensionen übereinander zu legen: Die von Trakl entworfene Szenerie aus An die Verstummten, einem Gedicht, das selbst schon zu einem historischen Artefakt geworden ist, die Ereignisse des Jahres 2011 und sämtliche damit verbundenen, die Wahrnehmung beeinflussenden Eindrücke sind das Material, das Beyer zur Verfügung hat und nutzt. Beyer „liefert Mosaikteile von Geschichten, deren Bruchstellen den Leser provozieren“,54 konstatiert Weiss am Beispiel des Romans Kaltenburg, was in diesem Kontext nicht weniger passend erscheint. Weiter beschreibt sie mit: „Marcel Beyer, der wie Pastior und Egger vom poetischen Text fordert, dass er – dem Schreibenden und dem Lesenden – Dinge und Zusammenhänge durch sprachliche Konstellation als etwas Unbekanntes, Neues offenbart“55 ebenso stimmig, was Marcel Beyer mit An die Vermummten erschuf: Aus älterem, bereits vorhandenem Material macht er etwas Neues, eine Montage aus Bruchstücken, deren Bruchstellen mehr oder weniger deutlich erkennbar über den Text verteilt sind. Der Umgang mit dem Material und die zwischen Trakl und Eminem changierende sprachmusikalische Gestaltung verleihen An die Vermummten einen zentralen Stellenwert innerhalb der Poetologie Marcel Beyers.

54 Weiss: Mutmaßungen von Geschichte (wie Anm. 49), S. 408. 55 Ebd., S. 410.

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One Day – werden die Meistersinger ­wiederkommen · Poetry Slam oder die Wirkung des Performativen Alle Hip-Hop-Ausdrucksformen verdanken sich der Kunst des Zusammenwirkens P olo 1 Que la littèrature, la poésie, sont un jeu avec des mots. On oublie seulement que tout dépend de qui joue. H. M eschonic 2

1. Am Anfang war der Slam Der Titel dieses Beitrags zitiert eine Performance von Julia Engelmann, Schauspielerin und Poetry-Slammerin, die durch die virale Verbreitung einer Videoaufzeichnung ihres Auftritts beim 5. Bielefelder Hörsaal-Slam vom 7. Mai 2013 enorme Resonanz in den sozialen Netzwerken fand. Auf YouTube wurde das Video über 10 Millionen Mal aufgerufen3. Am 20. Januar 2014 publizierte die „Süddeutsche Zeitung“ unter dem Titel Exakt kalkuliert einen Artikel von Fritz Göttler, der durch folgendes Lead eingeleitet wurde: „Mit Sätzen wie Das mach ich später, ist die Baseline meines Alltags… und Mut ist auch nur ein Anagramm von Glück begeistert Poetry-Slammerin Julia Engelmann das Internet. Sie spricht aus, was alle denken. Aber ihr Video wirkt nicht durch Wahrhaftigkeit, sondern durch Ästhetik.“4 Warum werden aber hier Ästhetik und Wahrhaftigkeit kontrastiert oder gar als zwei sich aneinander ausschließende Kategorien verstanden? Inwiefern wirken beim Poetry Slam Ästhetik und Wahrhaftigkeit nicht doch zusammen, indem sie die 1 2 3

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Vgl. Antonio Bove: Vai mo. Storie di rap a Napoli e dintorni. Napoli: Monitor edizioni 2016, S. 31. Henri Meschonic: Poétique du traduire. Lagrasse: Éditions Veridier 1999, hier S. 170. Engelmann bezieht sich wiederum auf das Lied One Day/Reckoning Song des israelischen Folk-Rock-Musikers Asaf Avidan. Vgl. https://www.youtube.com/watch?v=DoxqZWvt7g8 (zuletzt aufgerufen: 16.10.2017). http://www.sueddeutsche.de/kultur/poetry-slammerin-julia-engelmann-exakt-kalkuliert-1.1867436 (zuletzt aufgerufen: 26.12.2017).

Daniela Allocca

Wirkung des Performativen bestimmen? Ich möchte hier nicht für Julia Engelmann eintreten, sondern erkunden, inwieweit die Rezeption ihrer erfolgreichen Auftritte als Beispiel für bestimmte rhetorisch-kulturelle Muster dienen kann. Um die Fragestellung zu vertiefen, sollen zuerst die Anfänge dieser neuen Form der Kunstdarbietung kurz rekapituliert werden. Als anerkannter ‚Vater‘ bzw. selbsternannter Slampapi berichtet Marc Kelly Smith darüber: „I’m the guy that started it and the poetry slam movement actually began before the name ‚slam’ was coined, it began at the „Get Me High” Jazz Club 1984. […] The first show called the slam was the Uptown Poetry Slam and started in July 1986.“5 Mittlerweile sind die Poetry-Slam-Events in der Chicagoer Green Mill Cocktail Lounge zu einer Art Institution geworden. Sie finden jeden Montag „7-9pm“ statt, mit Marc Smith als Master of Ceremony (MC). Der erste deutschsprachige Poetry Slam fand 1993 in Berlin statt. Seitdem haben sich solche Veranstaltungen auch im deutschsprachigen Raum etabliert und die entsprechende Szene gilt nach der englischsprachigen als die zweitgrößte der Welt. Es handelt sich dabei um einen interaktiven Performance-Wettbewerb von PoetInnen, die ihre selbstgeschriebenen Texten vortragen. Dass die Texte selbstgeschrieben werden müssen, ist eine festgeschriebene Regel beim Poetry Slam6, die mit den Regeln der Bühne bewusst interagiert. Auf der Bühne besitzen Körper und Stimme eine eigene Dynamik und einen eigenen Rhythmus, die durch den Rhythmus der Sprache ergänzt werden, wobei die Sprache selbst nur in Zusammenhang mit Stimme und Körpersprache zum Ausdruck kommt: „Die Performativität verkörperter Texte ist daher von der spezifischen Performativität von Aufführungen impliziert“ 7, schreibt Erika Fischer-Lichte. Peter Gruner registriert wiederum, wie bereits nach den ersten Auftritten die meisten Slam-PoetInnen ihre Autorenrollen ganz strategisch fest zu codieren begannen, um einen Wiedererkennungseffekt beim Publikum zu erzielen: Alle waren sie da: der sensible Lyriker mit dem Schmachtblick hinter der John-Lennon-Brille, der polternde Heavy Punk mit einer Mordswut im Bauch, der Freestyle MC, der so schnell

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http://www.slampapi.com/new_site/background/what_is_poetry_slam.htm (zuletzt aufgerufen: 16.10.2017). Vgl. weiterhin Marc Kelly Smith/Joe Kraynak: The Complete Idiot’s Guide to Slam Poetry. Indianapolis: Alpha Books 2004. „The poems must be of each poet’s own construction, the poet may not use props, costumes, or musical instruments, and if the poet goes over the time limit, points are deducted from his or her score.“ http://www.slampapi.com/new_site/background/what_is_poetry_slam.htm (zuletzt aufgerufen: 29.10.2017). Erika Fischer-Lichte: Performativität. Bielefeld: transcript Verlag 2012, S. 135.

One Day – werden die Meistersinger ­wiederkommen

rappte, dass er mitunter seinen eigenen Gedanken nicht folgen konnte, der theatralische Esoteriker mit seinen Drogenvisionen und der versoffene, puren Unsinn faselnde Boheme.8

Das geschah und geschieht zum Teil weiterhin, obwohl eine weitere Hauptregel des Slams lautet: „Es dürfen keine Kostüme und Requisiten auf der Bühne verwendet werden. Der Slammer /die Slammerin darf nur mit ihrer Stimme, Mimik und Körpersprache arbeiten. Reine Gesangstücke sind nicht erlaubt. Texte können jedoch als Sprechgesang vorgetragen werden.“9 Die SlammerInnen sollen „normal” – also spontan, authentisch – wirken und auch normal angezogen sein.10Was bedeutet aber ‚normal‘ bzw. authentisch auf einer Bühne zu stehen? Für wahrhaftig/authentisch wird im Theater die Präsenz des Darstellers gehalten und genau diese Präsenz ist das, was das Publikum sucht und was wir mit Bezug auf die Darbietungen des Poetry Slams als Wirkung des Performativen verstehen können. Dabei ist die Ebene der nonverbalen Kommunikation (Gebärde, Körpersprache, Kleidungsstil) ebenso relevant wie der Rhythmus und der Klang der Sprache, die Modulation der Stimme, die Artikulationsfähigkeit.11 Die Wirkung eines Slam-Textes ist auf den ersten Blick an den Bewertungen ablesbar. Ein mit Höchstnoten ausgezeichneter Slam-Text hat einen „kollektiven Orgasmus“ (Bob Holman) erzeugt, […]. Es können jedoch Merkmale beschrieben werden, die formal an jahrhundertealte Kennzeichen oraler Dichtung anknüpfen (Zumthor, 1993) und inhaltlich gegenwärtige Literaturströmungen aufnehmen und erweitern.12

Peter Gruner: Poetry Slam im muffigen Franken – Über den 1. Erlanger Poetry Slam im Erlanger E-Werk. In: raumzeitung für den großraum nürnberg-fürth-erlangen (Februar 2002), Nr. 13. Reinhold Schulze-Tammena: Poetry Slam. Performance-Poesie als Buhlen um die Publikumsgunst. In: Anja Hill-Zenk/Karin Sousa (Hg.): To read or not to read. Von Leseerlebnissen und Leserfahrungen, Leseförderungen und Lesemarketing, Leselust und Lesefrust. München: iudicium Verlag 2004, S. 130–145, hier S. 138. 9 Mark Smith zit. nach Ko Bylanzky/Rayl Patzak (Hg.): Poetry Slam. Was die Mikrofone halten. Poesie für das neue Jahrtausend. Riedstadt: Ariel Verlag 2000, S. 135 f. 10 „As the fictive ‘speaker’ emerges in performance through the person of the author, the conceptual split of author/speaker is much harder for the audience to realize in live poetry than when dealing with print.” Vgl. Julia Novak: Performing the Poet, Reading (to) the Audience: Some Thoughts on Live Poetry as Literary Communication. In: Journal of Literary Theory 6/2 (2012), S. 358–382, hier S. 359, sowie Dies.: Live Poetry. An integrated Approach to Poetry in Performance. Amsterdam: Rodopi 2011. 11 Vgl. Schulze-Tammena: Poetry Slam (wie Anm. 8), hier S. 138. 12 Petra Anders: Slam Poetry: Inszenierte Bühnen-Poesie. Berlin: http://www.slam2007.de/slam/ docs/SlamPoetry.pdf 2007 (zuletzt aufgerufen: 15.10.2017). 8

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Boris Preckwitz untersucht Poetry Slam auf eine Interaktionsästhetik hin und bemerkt hierbei, dass gerade durch die Vermischung von Literatur und mediale Kunstformen eine neuartige Qualität der Kommunikation realisiert wird.13 Lino Wirag unterstreicht wiederum den Unterschied zwischen den USA, wo Poetry Slam als Kunstform wahrgenommen wird und Deutschland, wo die didaktische Funktion solcher Literatur oft wichtiger als deren ästhetische Dimension zu sein scheint.14 Nach Konrad Engschall liegt ein solcher Unterschied in der performativen Praxis, denn – wie er schreibt – „German place emphasis on the text rather than a focus on the performance.”15 Wieso wirken deutsche Poetry-SlammerInnen nicht durch Ästhetik, sondern durch Wahrhaftigkeit? Ist es nur eine Frage der Ansicht, der Perspektive?

2. Körper, Klang, Gemeinschaft Unsere Gesellschaft leidet bekanntlich an einer Hypertrophie des Gesichtssinns und an einer entsprechenden Hypotrophie des Tast-, Geschmack- und Gehörsinns, obwohl unser Bewusstsein, etwa nach António Damásio,16 auf somatische Marker und auf audiovisuelle Bilder angewiesen ist. Die Hypotrophie des Gehörsinns kann als Effekt der allgemein zunehmenden Entfremdung der modernen Gesellschaften betrachtet werden, die auf den Verlust unserer rhythmischen Wahrnehmung der Umwelt hindeutet. Henri Lefebvre betont die Verbindung zwischen dem zyklischen Ablauf alter Rituale und den modernen Festspielen und verweist dabei auf die Kontinuität rhythmischer Elemente auch in den zeitgenössischen technologisch entwickelten Gesellschaften: Der Rhythmus sei

13 Boris Preckwitz: Spoken Word und Poetry Slam. Kleine Schriften zur Interaktionsästhetik.

Wien: Passagen Verlag 2006.

14 Lino Wirag: Die Geburt des Poetry Slams aus dem Geist des Theaters. In: KulturPoetik 14

(2014), 2, S. 269–281 und Ders: Zeitgenössische Formen informeller Literaturvermittlung. In: Vanessa-Isabelle Reinwand (Hg.): Handbuch Kulturelle Bildung. München: kopaed 2012, S. 485–488. Vgl. u.a. Charlotte Melin: Unpacking Contemporary German Poetry: „Hinsehen, Lesen, Hören“. In: Wiley on Behalf of the American Association of Teachers of German: Die Unterrichtspraxis / Teaching German, 43 (2010), 2, S. 133–143; Alexander Willrich: Poetry Slam für Deutschland. Die Sprache, die Slam-Kultur, die mediale Präsentation, die Chancen für den Unterricht. Paderborn: Lektora Verlag 2010; Petra Anders: Poetry Slam. Unterricht, Workshops, Texte und Medien. Deutschdidaktik aktuell. Baltmannsweiler: Schneider Verlag 2012. 15 Konrad Engelschall: Poetry Slam in Germany. In: World Literature Today 82 (2008), 1, S. 36. 16 António Damásio: L’errore di Cartesio. Emozione, ragione e cervello umano. Milano: Adelphi 1995, S. 162.

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ein Baustein unserer Sozietäten und wie unser Gehörsinn spiele er eine sehr wichtige Rolle in unsrer sozialen Lebenswelt17. In seinem Text Our Sonic Environment and the Soundscape. The Tuning of the World,18 der 2010 auf Deutsch mit dem leicht variierten Titel Die Ordnung der Klänge. Eine Kulturgeschichte des Hörens erschienen ist, entwickelt Schaefer unter dem Stichwort Ear Cleaning sein hörpädagogisches Konzept: The very emergence of noise pollution as a topic of public concern testifies to the fact that modern man is at last becoming concerned to clean the sludge out of his ears and regain the talent for clairaudience-clean hearing19.

Hierbei erklärt er, inwieweit unsere Körper als Vibration zu verstehen bzw. wie der Rhythmus als ganzheitliche Körpererfahrung zu betrachten ist: So the body also gives us modules for comprehending the acustic rythms of the environment and universe. What rhythm modules can we discover? […] Hearing is a way of touching at a distance and the intimacy of the first sense ist fused with sociability whenever people gather together to hear something special.20

Wenn wir nun Poetry Slam im Anschluss daran als Bewegung oder Ausdrucksform eines environment beziehungsweise einer bestimmten Gemeinschaft verstehen, dann können wir diese als acustic community bezeichnen: Eine akustische Gemeinschaft oder eben Hörgemeinschaft, in der die Anwesenheit des Dichters gleichermaßen wichtig ist wie die des Publikums. Im Unterschied zum Theater haben wir in diesem Fall keine vierte Wand, denn das Publikum gehört als wesentlicher Bestandteil mit zur Slam-Performanz. Die Bühne des Poetry Slams wird dabei zu einem Raum für die Entstehung einer partizipatorischen Kunstform,21 d.h. einem Raum für die Errichtung einer akustischen Gemeinschaft.

17 Henri Lefebvre: Rhythmanalysis. Space, Time and Everyday Life. London: Continuum 2004.

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Vgl. dazu Ryan Moore: The Beat of City: Lefebvre and Rhythmanalysis. In: Situation 5 (2013), 1, S. 61–77. Murray R. Schaefer: Our Sonic Environment and the Soundscape. The Tuning of the World. Rochester: Destiny Books 1977. Ebd, S. 11. Ebd., S. 11. Vgl. Helen Gregory: Texts in Performance: Identity, Interaction and Influence in U.K. and U.S. Poetry Slam Discourses (Dissertationsarbeit). Exeter: University of Exeter 2009. Mark Mattern: The Message is the Medium. Poetry Slam as Democratic Practice. In: Nancy S. Love/Mark Mattern (Hg.): Doing Democracy. Activist Art and Cultural Politics, New York: New York University Press 2013, S. 121–142.

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Die deutsche Sprache bewahrt Spuren dieser tiefen Verbindung zwischen dem Hören und Zugehören: Man gehört dazu, wenn man zuhört. Die ZuschauerInnen bzw. ZuhörerInnen interagieren nämlich mit den SlammerInnen, indem sie last but not least deren Darbietung zu bewerten haben. Die Jury besteht nämlich nicht aus Experten, sondern aus dem jeweils teilhabenden Publikum.22 Anlässlich des 15-jährigen Jubiläums des italienischen Poetry Slams hat Dome Bulfaro, Spoken Word Künstler, Slammer und MC sein „flüssiges“ Handbuch zu diesem ästhetischen Phänomen veröffentlicht, das er bereits im Titel als Revanche der Lyrik reflektiert.23 Im Unterschied zu anderen Darbietungsformen, die mit spoken word operieren oder als poetry performances als Fernsehen-oder Radioprogramme übertragen werden, zählt hier nämlich die physische Präsenz von DichterInnen und Publikum als entscheidende Dimension: Der Dichter/die Dichterin und das Publikum sind da und zwar „in carne ed ossa“24. Die herkömmliche Übersetzung dieses Ausdrucks lautet: „mit Leib und Seele“, wortwörtlich heißt es aber „mit Fleisch und Knochen.“ Das Wort Fleisch spielt auf Körper und Leben und zugleich auf Liebe und Eros an, während das Wort Knochen an das Skelett und dadurch an den Tod erinnert: Daraus ergibt sich die Polarität Eros/Thanatos, die dichterische Kombination par excellence. Zwischen den Zeilen evoziert Poetry Slam die Figur des Sterbens – oder des Überlebens bzw. des Gewinnens. Aus dem Sportvokabular hergeleitet, bedeutet das Verb to slam ‚zuschlagen‘, ‚zuknallen‘; ‚jemanden heruntermachen‘. Doch sind auf diesem Feld alle Gewinner: DichterInnen, Texte, Publikum, die durch die rhythmische Wirkung des Klangs zu einer sympathetischen Gemeinschaft geschmolzen werden. Die Lust des Hörens wird zur Lust des Dazugehörens, welche die Oberhand über Individualismus, Gefühlslosigkeit und Anonymität gewinnt.25 In dieselbe Richtung untersucht Schaefer in seinem Studium das breite Spektrum der verschiedenen Klänge, indem er sie mit Bezug auf ihre ebenso verschiedenen Funktionen klassifiziert. Er betrachtet zum Beispiel den Glockenschlag, der es vermag, eine Zentripetalkraft auszustrahlen. Ähnlich wissen Poetry-SlammerInnen eine Zentripetalkraft zu erschaffen: Durch Poetry Slam wird Poesie zu einem gemeinschaftsbildenden Medium. Eine „verlorene“ dennoch weiterwirkende Sprechart im Sinne der schwingenden Kraft des Worts leitet die Arbeit von Annick de Souzenelle über den Symbolismus 22 Vgl. Stephan Ditschke: „Wenn ihr jetzt alle ein bisschen klatscht …“. Text-Performance-Zu-

sammenhänge als Faktoren für Publikumswertungen bei Poetry Slam. http://www.iaslonline. de/index.php?vorgang_id=2716 (zuletzt aufgerufen: 21.01.2017). 23 Dome Bulfaro: guida liquida al poetry slam – la rivincita della poesia. Milano: Agenzia X 2016. 24 Ebd., S. 76. 25 Vgl. Schaefer, Our Sonic Environment and the Soundscape, (wie Anm. 19), S. 96: „Walls used to exist to isolate sounds. Today sound walls exist to isolate. In the same way the intense amplification of popular music does not stimulate sociability so much as it expresses the desire to experience individuation […] aloneness […] disengagement.“

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des menschlichen Körpers und erinnert uns wieder an die Verbindung zwischen Stimme und Körper, Schwebung und Materie: Jamais prononcé parfoi èpelè: Yod-Hé-vav-Hé, ce Nom, n’était proclamé qu’une fois par an par le grand prêtre dans secret du Saint des Saints et conformément à un mode vibratoire qui à été perdu. Nous qui n’avons plus aucune coscience de la puissance d‘un nome – être vivant qui informe celui qui le prononce – nous imaginons encore moins la terreur sacrée que ces Nom inspirait aus Hébreux.26

Die Wahrnehmung der Stimme als akustisches Phänomen neben der Erkundung der klanglichen Qualität des Spoken Word ist aber keine Neuerfindung, denn die performative Dimension der Laut-und Klangpoesie stand bereits im Mittelpunkt etlicher avantgardistischen Experimente des 20. Jahrhunderts. Hugo Balls Dada-Spuren sind erkennbar bei so verschiedenen KünstlerInnen wie Antonin Artaud, Demetrio Strato, Fatima Miranda, Sajnkho Namtchylak: Ihre „Stimmerfahrungen“27 haben alle zu einer produktiven „Ausweitung der Kunstzone“ des Klangs beigetragen, indem sie sich vorgenommen haben, eine emanzipatorische Ausweitung der sozialen Lebenswelt zu bewirken.28 Um ein genaueres Bild der zeitgenössischen Poesie nachzuzeichnen, sollen wir demnach die Zentralität der Stimme als körperliches Ereignis neu zu schätzen lernen. Insofern kann Poetry Slam auch als politisches Dispositiv betrachtet werden, wie Jérôme Cabot in Performances Poétiques behauptet, indem er dieses neue Genre zur kleinen Literatur im Sinne von Deleuze und Guattari zuordnet.29 Werden der ZuschauerInnen des Poetry Slams zu aktiven TeilnehmerInnen der Veranstaltung, so verwandelt sich die Bühne zu einem Ort kollektiver Äußerung und insofern zu einem Ort der Freiheit des „Sharing“ innerhalb einer sogenannten Temporary

26 Annick De Souznelle: Le symbolisme du corps humain. Paris: Édition Albin Michel 1991, S.

31 f. [Hervorhebung im Original].

27 Vgl. Corrado Bologna: Flatus vocis. Metafisica e antropologia della voce. Bologna: Il Mulino

1992; Adriana Cavarero: A più voci. Filosofia dell’espressione vocale. Milano: Feltrinelli 2003. Paul Zumthor: La presenza della voce. Introduzione alla poesia orale, Bologna: il Mulino 1984; AA.VV: Il libro della voce. Milano: Auditorium 2010. 28 Søren Møller Sørenson: Klang in der Lebenswelt. Vom avagardistischen Diskurs über das soziale Interventionspotenzial von Musik und Klangkunst. In: Erika Fischer-Lichte/Kristiane Hasselmann/Markus Rautzenberg (Hg.): Ausweitung der Kunstzone: Interart Studies. Neue Perspektiven der Kunstwissenschaften. Bielefeld: transcript 2010, S. 143–164. 29 Gilles Deleuze/Félix Guattari: Kafka. Pour une littérature mineure. Paris: Édition de Minuit 1975. Jérôme Cabot: La scéne ouverte de slam: dispositiv, situation, politique. In: Jérôme Cabot (Hg.): Performances Poétiques. Lormont: Éditions Nouvelles Cècile Defaut, S. 79–101.

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Autonomus Zone30. Die Medienrevolution hat die Entwicklung des Poetry-Slams erheblich beeinflusst im Sinne einer weiteren digitalen ‚Ausweitung der Kunstzone‘, doch die Live-Aufführung – sei es auf der Bühne oder auf der Straße – bleibt ein zentrales Merkmal dieser site-spezifischen performativen Kunst31. Mario Andreotti verweist in diesem Zusammenhang auf die bemerkenswerte Kontinuität zwischen den mittelalterlichen Minnesängern, die uns vor allem durch Wagners Opern bekannt sind, der Dada-Bewegung und dem heutigen Poetry Slam,32 das er im Hinblick auf seinen popkulturellen Charakter als experimentelle Literaturshow untersucht. Mit dem Wort show scheint der Akzent wieder auf das Sehvermögen verschoben zu werden, doch die liveness betont die Qualität einer ästhetischen Erfahrung, die partizipative Praxis voraussetzt und somit das Sensorium aller Sinne bewusst adressiert. In Anlehnung an Phänomene wie die Rap- und Hip-Hop-Szene betont bereits Marc Smith die gemeinschaftliche bzw. gesellschaftlich-politische Dimension der „Familie“ als konstitutives Element solcher künstlerischen Performanz, deren site-spezifische Herkunft in den USA verortet ist: Even though The Uptown Poetry Slam has always placed more emphasis on the performance aspects of this cabaret styled show, the competition, because of its gimmickry and dramatic nature, has been the media-generated cause for its spread to a couple hundred cities worldwide. Is this a good thing? Sometimes I think no. But the Slam does not belong to me. It belongs to the thousands of people who have dedicated their time, money, and energy to this Chicago-born, interactive format for presenting poetry to a public that has a million other barks and belches and flashes to hold its attention. Am I proud of the community that has grown from my small efforts? Yes, and I hope that it continues to grow in accordance with a few philosophies that have become what I consider to be the back bone of what we call the “Slam Family”.33

30 Hakim Bey: T.A.Z.: The Temporary Autonomous Zone. Ontological Anarchy, Poetical Ter-

rorism. New York: Antimedia Anti-Copyright 1985.

31 „Just as at God’s Bar, rap functions as a poetry workshop, a forum for publishing, a performance

space, and a social venue. Poems are written as part of the overall exchange. Hervey’s (S.) Poets are only beginning to address the capacity of Net to bring geographically dispersed strangers into virtual proximity; they have only begun to explore this language of the proximal as a poetic discourse.“ Lisa Brawley: The Virtual Slam: Performance Poetry on the Net. In: Poetry and Mass Culture 40 (1994), 2/3, S. 164–174, hier S. 174. 32 Mario Andreotti: Von Dada zur Slam Poetry: zur Geschichte der Literarischen Avantgarde. In: Sprachspiegel: Zweimonatsschrift (2006), 62, S. 38–48. 33 http://www.slampapi.com/new_site/background/philosophies.htm (zuletzt aufgerufen: 12.10.2017).

One Day – werden die Meistersinger ­wiederkommen

Die „Slam-Family“ ist eine der akustischen Art. Der Dichter/die Dichterin wird hier als Meistersänger/in einer akustischen Gemeinschaft gefeiert.34 In der Tat erweisen die Rap-Welt und die Poetry Slam-Welt gemeinsame Codes, Rollen und Rituale. Der Poetry Slam basiert ebenso auf dem Modell der rap battle und ist wie Hip-Hop und Rap als Gegenkultur – insofern nicht als Pop, sondern als ‚Antipop‘ – zu verstehen, wie Petra Anders erklärt: Im Gegensatz zur Popliteratur stellt Slam-Poetry einen produktiven Akt […] dar: In einer adressatenorientierten, dramaturgisch gestalteten Inszenierung wird in Slam-Texten das popliterarische Archiv der Marken und Konsumartikel ironisch gebrochen. Die Selbstinszenierung des Ich-Erzählers in Pop-Romanen weicht der Übernahme einer Sprecherrolle […], auch Tendenzen der Wertungslosigkeit in der Popliteratur werden enttarnt, ohne dass Slam-Poetry moralisierend angelegt wäre. Um Gegenwart zu reflektieren, bedient sich Slam-Poetry durchaus humoristischer Mittel, vor allem der Ironie […] und fordert […] aktive Teilhabe an kultureller und gesellschaftsbezogener Praxis.35

3. Poetry Slam vs Lyrik Nora Grominger, Poet-Slammerin, oder besser gesagt die „Queen“ des Spoken Word, Gewinnerin des Ingeborg Bachmann-Preises 2015, beschreibt in einem Interview, wie das Laut-Sprechen an den Aufbau ihrer Texte mitwirkt36. Schon die Titel ihrer Bücher lassen eine mündliche Dimension erkennen, wie zum Beispiel ach du je, publiziert im edition spoken script, eine Reihe des schweizerischen Verlags Der gesunden Menschen Versand, der einen besonderen Fokus auf die Welt des Spoken Word hat. Texte wie LAUT! Lesen! führen uns direkt in die Dimension der performativen Energie des gesprochenen Wortes ein: Krach

34 Bulfaro: guida liquida al poetry slam (wie Anm. 24), S. 146. Ein weiterer Aspekt des Poetry

Slams betrifft nicht von ungefähr den kreativen Umgang mit dialektalen und fremdsprachlichen Elementen. Vgl. etwa den seit zehn Jahren exisitierende Dialekt Poetry Slam: wos host gs o gt ? http://poetryslam.at/tag/wos-host-gsogt/ (zuletzt aufgerufen: 20.11.2017) sowie s äg räc ht! – dial ekt sl am. http://slamgallen.ch/event/sag-racht-dialekt-slam/ (zuletzt aufgerufen: 20.11.2017). Auf der Website der LIPS („Lega Italiana Poetry Slam”/Italienischer Poetry Slam-Bund) wird ausdrücklich betont, dass sowohl Texte auf Italienisch als auch auf anderen Mundarten zu den Wettbewerben zugelassen werden: http://www.lipslam.it/lips/regolamentocampionato/ (zuletzt aufgerufen: 12.10.2017). 35 Petra Anders: Slam Poetry. Inszenierte Bühnen-Poesie. http://www.slam2007.de/slam/docs/ SlamPoetry.pdf (zuletzt aufgerufen: 15.10.2017). 36 Yvonne Franke: Stimme, Stimmen, Stimmungen sind wichtig in und für die Literatur – Nora Gomringer im Interview. https://www.zebrabutter.net/stimme-stimmen-stimmungen-sind-wichtig-in-und-fuer-die-literatur-nora-gomringer-im-interview.html (zuletzt aufgerufen: 16.10.2017).

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Peng Quatsch Applaus Hallo Hello Aus die Maus Boing Peng Glibber So Hab Ich dich Hast du Nen Floh Gib ihn her Er will zu Mir Ach, nicht wahr! Komm, hol ihn dir! Eins, zwei Milchgrießbrei Sojaschnitzel Keksdreivier Willst du Kitzeln, Willst du, Bier? Bier, sagst du? Bist du bekloppt? Puffreisscheibe Dinkelschoko Dingsbums

One Day – werden die Meistersinger ­wiederkommen

Stop! Und again: Krach Peng Quatsch Applaus Hallo Hallo Raus bist du bin ich Padaus!37

Die Klangdimension dieses Texts ist deutlich, der Sprachfluss und die Praxis des Lautlesens gehören mit zu dessen Wirkung. Die Poetry Performances sind in diesem Sinn als Erlebnis zu betrachten – als Erlebnis sind sie nämlich im selben hier und jetzt verankert, das die aktive bzw. kreative Teilhabe des Publikums mitgestaltet,38 wobei Kreativität und Ritualität eng miteinander verbunden sind: Akteure, Rollen und Rituale stehen relativ fest. Der Slam findet normalerweise einmal monatlich, an einem bestimmten Tag und an einem etablierten Veranstaltungsort statt. Zu Beginn der Veranstaltung erklärt ein (oder zwei) Master of Ceremonies als Moderator dem Publikum und den Poeten die Spielregeln des Wettkampfs, ermittelt eventuell eine Publikumsjury und stellt den Ablauf des gesamten Abends und speziell eingeladene Gäste vor.39

Indem Leo Wirag das Konzept des Poetry Slams auf bestimmte Parameter wissenschaftlich festlegt – spatio-temporale Limitierung, Singularität, Transienz, oral geprägte Kommunikation, Nicht-Alltäglichkeit/Ästhetisierung, Regularität, Kollektivität bei konventionalisierter Rollenverteilung –, spricht er von einer ‚Slamifizierung‘ des gesamten kulturellen Bereichs40. 37 Ebd., S.102–104. 38 Anna Sica: Studi sulla performance. In: Michele Cometa (Hg.): Dizionario degli studi cultu-

rali. Roma: Meltemi 2004, S. 470. „Performing ist ein Paradigma der Liminalität. Der performative Raum zeichnet sich gerade dadurch aus, dass er auch eine andere als die vorgesehene Verwendug ermöglicht, auch wenn viele Beteiligte eine solche nicht vorgesehene Nutzung als ungehörig, ja empörend empfinden mögen […], dass es die jeweilige Verwendung ist, die den performativen Raum konstituiert und eine spezifische Räumlichkeit hervorbringt”. FischerLichte: Performativität (wie Anm. 7), S. 190. 39 Schulze-Tammena: Poetry Slam (wie Anm. 8), S. 138. 40 Vgl. Wirag: Die Geburt des Poetry Slams aus dem Geist des Theaters (wie Anm. 14).

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Ritualisierung geht mit Kodierung einher: In Deutschland variiert das Zeitlimit von Veranstaltung zu Veranstaltung, meistens beträgt es fünf Minuten, bei einer Überschreitung kann dem Dichter das Mikrofon entzogen werden. Jeder Wettbewerb setzt eine Liste mit den eigenen Regeln auf. Dabei sind alle literarischen Formen und Genres – beispielsweise Lyrik, Kurzprosa, Rap oder Comedy-Beiträge – erlaubt. Im Gegensatz zu einem Open Mike oder zu den Lesebühnen stehen die einzelnen TeilnehmerInnen einer slam-session im Wettbewerb zueinander. Dieser Aspekt dient vor allem dazu, das Publikum zum Mitfiebern und Mitwerten einzuladen, da das Publikum auch den Sieger/die Siegerin kürt: „Ebenfalls ist der Wettbewerb ein effektives Mittel für die Dichter, unmittelbares Feedback von einem Publikum zu erhalten, und soll als Ansporn für die Arbeit an den eigenen Texten und am Textvortrag […] genommen werden.“41 Was die Verortung der Lyrik innerhalb des Poetry Slam-Diskurses angeht, unterscheiden sich aber Meinungen und Auffassungen oft sehr radikal: Sie reichen von der Vorstellung, dass Lyrik das Herzstück des Poetry Slams sei, bis hin zur entgegensetzten Position, nach der Poetry Slam mit ‚reiner‘ Lyrik nichts Gemeinsames habe.42 Auf Bas Böttchers Webseite lesen wir etwa: „Prinzipiell ist ein Poetry Slam offen für alle Text Formen. […] Slam-Poetry ist eine Form der Lyrik, die für den (meist rhythmischen, dynamischen) Vortrag vor Publikum verfasst wurde.“43 Der Dichter (oder „Texter“, wie er sich selbst bezeichnet), Souleymane Diamanka betont hingegen vor allem die spielerischen Elemente der Poesie in Zusammenhang mit ihrem subversiven Potential: A la base le slam, c’est un concours de poésie à quelques membres du public s’improvisent jury et notent les poétes de façon plutôt ludique. […] pour moi le slam n’est pas un genre, c’est une tribune de libre expression, un certenant, un dispositif où la parole libre est ou coeur de tout.44

Diese Vorstellung des Slams als Dispositiv für die ‚Befreiung‘ der Sprache ist meiner Ansicht nach das, was uns helfen kann, die Auswirkung des Poetry Slams – im Sinne seiner Ästhetik und ‚Wahrhaftigkeit‘ – auf die Poesie bzw. und auf die Sprachkunst und auf die Sprache im allgemein zu verstehen. Mark Smith behauptet etwa, dass heutzutage AutorInnen/SlamerInnen/PerformerInnen nicht mehr bereit seien, etwas zu wagen oder gar zu riskieren: „People are 41 Vgl. http://www.myslam.net (zuletzt aufgerufen: 30.08.2017). 42 Clara Felis: Auf den Spuren des Poetry Slam. Ein Vergleich des US-Amerikanischen und der

Deutschen Poetry-Slam-Szene. Padeborn: Lektora 2013, S. 74.

43 Bas Böttcher: Plädoyer für die Wiederenteckung der akustischen Dimension der Dichtung.

Absolut wirksam! In: http://www.baesboettcher.de/eigene2.html (zuletzt aufgerufen: 26.10.2017).

44 Julien Barret: Souleymane Diamank: Écrire à voix haute. Rencontre entre une poète et un lin-

guiste autour de la poésie orale d’aujourd’hui. Paris: L’Harmattan Parris 2012, hier S. 29–30.

One Day – werden die Meistersinger ­wiederkommen

too safe.“45 Seiner Meinung nach wirken nicht wenige von ihnen allzu starr, und zwar insbesondere die ItalienerInnen, die SchweizerInnen und ihre deutschen KollegInnen: Sie würden ihre Texte vorlesen, ohne dabei die Körpersprache zu involvieren, ohne Gefahr zu laufen, die Kontrolle über ihren Text zu verlieren. Dome Bulfaro meint weiterhin ein ideologisches Vorbehalten gegenüber Poetry-Slam festzustellen, das sich als mehr oder weniger explizite Ablehnung seines underground-Charakters, manifestiere, wobei diese Form der Darbietung ein sehr wichtiges Instrument sei, um die Erfahrung der Poesie den neuen Generationen näher zu bringen.46 In der Tat hat die ästhetische Praxis des Poetry Slams einen neuen experimentellen Raum für die Gestaltung des Texts durch Energie und Rhythmik der Stimme und des Körpers eröffnet. Prosodie besteht hier aus einem Zusammenspiel von Lyrik und Mimik, von Sprache und Stimme, vom TexterInnen/RednerInnen und ZuschauerInnen/ZuhörerInnen. Und es ist eben diese interaktive Dimension, die eine produktive Hybridisierung verschiedener Codes der performativen Kunst ermöglicht und der nicht nur unsere Wahrnehmung, sondern auch unser Verständnis der Sprache als Ausdrucksmittel verändert. Ebenso prägnant ist das dem Poetry-Slam inhärente Potential, eine akustische Gemeinschaft zu bilden, in der das Publikum zur aktiven, mitbestimmenden Instanz der Text- bzw. Sinnproduktion wird und dadurch zu einer eigenen neuen sozialen Funktion findet – mit den Worten Deleuzes: „La santè comme littérature, comme écriture, consiste à inventer un peuple qui manque. Il appartient à la fonction fabulatrice d’inventer un peuple.“47 Und selbst wenn dieses kreative Potential nicht zu einer radikalen Emanzipation führt,48 können wir uns wenigstens getrost Kafkas Vorstellung der produktiven Auswirkung des Hörens anschließen: „Josefine ist der gegenteiligen Meinung, sie glaubt, sie sei es, die das Volk beschütze. Aus schlimmer politischer oder wirtschaftlicher Lage rettet uns angeblich ihr Gesang, nichts weniger als das bringt er zuwege, und wenn er das Unglück nicht vertreibt, so gibt er uns wenigstens die Kraft, es zu ertragen.“49 45 Vgl. die Videodokumentationen Poesia ad alta voce https://www.youtube.com/watch?v=Atu-

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tUuj_Tno (zuletzt aufgerufen: 15.08.2017) und Dichter und Kämpfer. Das Leben als Poetryslammer in Deutschland von Marion Hütter, 2012. Vgl. Dome Bulfaro: Un Tale, Una Tale – Tra Oralità e Scritture N.13: Appunti Didattici Per Dire Poesia Ora. http://www.poesia2punto0.com/2012/06/06/un-tale-una-tale-tra-oralita-escritture-n-13-appunti-didattici-per-dire-poesia-ora-di-dome-bulfaro/ (zuletzt aufgerufen: 15.10.2017). Vgl. auch: http://www.domebulfaro.com/; http://www.lellovoce.it/Il-Poetry-Slam-intervista-a-Lello (zuletzt aufgerufen: 16.10.2017). Gilles Deleuze: Critique et Clinique. Paris: Minuit 1993, S. 14. Vgl. Jacques Rancière: Le spectateure émancipé. Paris: La Fabrique édition 2008. Franz Kafka: Die Erzählungen. Originalfassung. Hg. v. Roger Hermes. Frankfurt/M.: S. Fischer 1996, S. 525.

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Literatur im | als Code · Code-Poetry und die ­Ausführbarkeit von Literatur Im Rahmen dieser Tagung wurde die Frage ins Zentrum gerückt, was das ist, ‚Gegenwart‘ – und ‚Gegenwärtigkeit‘ –, wo sie anfängt, wo sie aufhört, ob es sie überhaupt gibt. Wie vergegenwärtigen wir uns unsere heutige Gegenwart und welche Spezifika lassen sich in den Ästhetiken auffinden? Immer wieder wird dabei das Netz erwähnt, als Web, als Internet, aber auch als Metapher für eine vermeintlich generelle Struktur von Information. Das Fragmentarische, das Verlinkte, das Digitale, die Blogs, das Unbeständige, die Verallgemeinerung der Kritik, die Automatisierung, die Überwachung, der Kontrollverlust. In diesem Artikel, der ursprünglich „Literatur im | als Netz“ heißen sollte, soll es nun jedoch um etwas gehen, das vielleicht dem Netz-Gedanken in gewisser Weise zugrunde liegt. Zur Illustration dessen gibt es auch noch einen längeren Titel, der als eigentlicher Titel dieses Artikels zu verstehen ist.

Abb. 1: Langtitel des Artikels

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Man muss sagen, dass das die Langform des Titels ist und um die Layouter des Tagungsbandes nicht vor unlösbare Aufgaben zu stellen, gibt es auch einen Kurztitel. Dieser Kurztitel ergibt sich aus dem Langtitel. Nicht als Verkürzung oder Metapher, sondern algorithmisch durch die Übergabe des Langtitels an einen Compiler. Zur Erklärung: Es handelt sich hier um ein Java-Programm, genauer gesagt eines in der Java-Version 8, die es seit ungefähr zwei Jahren gibt. Das Programm enthält eine einzige Klasse „Main“ – großgeschrieben – zwei private, statische globale Variablen „talks“ und „activeTalk“ und drei Methoden „main“ – kleingeschrieben – „showNextTalk“ und „addTalks“. In der letzten, die aber gleich nach Aufruf von „main“ ausgeführt wird, werden Zeit, Titel und Autor des aktuellen Vortrags angelegt. Da es bei Tagungen häufig ein paar Verzögerungen gibt, errechnet sich die Anfangszeit des Vortrags dynamisch aus der aktuellen Zeit „now“. Der angezeigte Beginn ist also, wenn es tatsächlich losgeht, nicht, wenn es geplant losgehen sollte. In der Methode „showNextTalk“, die den nächsten Beitrag auf der Kommandozeile ausdruckt, wird nun jedes Vorkommen von „Netz“ in „Code“ geändert. Der eigentliche Kurztitel des Beitrags also lautet: Literatur im | als Code. Zurecht kann man sich jetzt fragen, was das mit Literatur zu tun hat. Die Frage nach dem, was Literatur im Allgemeinen und Speziellen ist und ausmacht, ist immer auch eine Frage nach den Bedingungen ihrer Produktion und Rezeption. Im komprimiertesten Sinne geht es dabei um die Codierung einer Information, um die Kommunikation oder zumindest Formwerdung eines umfangreichen Begriffsgefüges, um einen komplexen, oftmals irgendwie einzigartigen Ausdruck, der in eine Form gebracht wurde, die etwas Bleibendes hat – die nicht sofort wieder verflogen ist. Sonst wäre es für Literaturwissenschaftler schwierig, überhaupt etwas zu untersuchen. Friedrich Kittler schreibt in seinem nachgereichten Vorwort zu Aufschreibesysteme 1800/1900: Wenn literarische Texte Geschichte sind und haben, berührt das den Stand der Informationstechniken – programmatisch und nicht nur mimetisch. Und wenn Poesie Nachricht ist, kann sie als Technik analysiert werden, anstatt (wie seit Schivelbusch wieder üblich) in gelegentlichen Reflexen auf andere Techniken. Wie Schriftsteller die Eisenbahn, diese Muskelarbeitsersparnis, erlebt haben, ist sicher literaturhistorisch wichtig. Wie Literatur selber als Ausweitung oder Ersatz des Zentralnervensystems fungiert, ist noch um einiges wichtiger.1

Kittler beschreibt Literatur hier als datenverarbeitende Instanz, die Daten akquiriert, prozessiert, transformiert, transportiert und speichert. Dabei bezieht er sich noch nicht auf die technischen Aufschreibesysteme, sondern auf die Literatur selbst: Literatur 1

Friedrich Kittler: Aufschreibesysteme 1800/1900 Vorwort. In: Zeitschrift für Medienwissenschaft 6 (1/2012), S. 117–126, hier S. 117.

Literatur im | als Code

ist, bei allem, was man sonst über sie sagen könnte, Code. Ein Code, der kulturelles Wissen, Weltsichten und Einsichten, Ausdrücke und Eindrücke verarbeitet, interpretiert und schließlich in einer kopierbaren und transportierbaren Variante speichert. Dieser spezielle Code „Literatur“ existiert parallel zu vielen anderen Codes, die mal strengeren und mal offeneren Regeln folgen. Um die Differenzen zwischen unterschiedlichen Codes explizit zu machen, bietet sich ein Vergleich zwischen dem assoziativen, interpretierbaren und häufig subjektiven Code der Literatur mit den strengen Codes der Maschinensprache an. Diese sogenannten 1:1 Codes sind explizit definiert, überprüfbar und vermeintlich nicht diskutabel. Ihr richtig oder falsch bedarf keiner menschlichen Interpretation, sondern nur eines Compilers. Diese Technologien durchdringen nicht nur unseren Alltag allerorts, sondern beeinflussen auch und insbesondere die Produktion und Rezeption von Literatur. Es ist die Frage nach dem Verhältnis von technischer und natürlicher Sprache, oder, wie Kittler es formuliert, „die dringliche Frage, was Wörter leisten und was sie nicht leisten, nach welchen Regeln sie aufgeschrieben und gespeichert werden, nach welchen Regeln gelesen und ausgelegt.“2 Im Folgenden soll die Frage diskutiert werden, welche Verhältnisse zwischen diesen beiden Formen von Sprache bestehen, wie sie sich gegenseitig bedingen, welchen Möglichkeitsraum sie aufweisen und schließlich, wo sie sich verschränken lassen. Kittler entwirft eine materialistische Medientheorie, die gewissermaßen das Material der Gedanken als deren Bedingung und prägende Form annimmt. So sind die Gedanken nicht mehr ganz so frei und sie lassen sich sogar häufig erraten. Sie fliegen auch nicht vorbei wie nächtliche Schatten, sondern nehmen die sehr konkrete Gestalt von Texten, Sätzen, Wörtern, Buchstaben und Medien an. Der Geist, der nächtliche Schatten, der sich in niederer Materie nur artikuliert, erscheint im Lichte dieses Ansatzes nicht nur als flüchtig und ungreifbar, sondern als erst aus seiner Materialität geboren. Kittler wollte damit den Geisteswissenschaften ihr medientechnisches Apriori nachweisen. So besteht seine Strategie meist darin, die materiellen Ursprünge von Geist, Kunst, Kultur und Literatur aufzusuchen: die Medien. Dabei ist das prägende technische Gerät für Kittlers Denken der Computer, der in technisch nüchterner Klarheit Verarbeitung, Speicherung und Übertragung von Daten durch manifeste, mit Händen greifbare Platinen ermöglicht. In seinem berühmten Aufsatz „Es gibt keine Software“3 beschreibt er die Verbindung von Software und Hardware als Verbergungsakte, die, je weiter sie sich von der Hardware selbst entfernen und dem Menschen annähern, dessen universelle Möglichkeiten weiter und weiter einschränken und den Nutzer damit entmündigen würden. 2 3

Ebd. Friedrich Kittler: Es gibt keine Software. In: Ders.: Draculas Vermächtnis. Technische Schriften. Leipzig: Reclam 1993.

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Aus heutiger Sicht muss man vielleicht das Gegenteil behaupten: Die Abstraktion der Software ermöglicht immer mehr Menschen mit immer weniger Wissen, immer mehr zu tun. Die Grenze zwischen Programmierer und Nutzer verschwimmt zusehends. Keine heranwachsende Generation gibt es mehr, die nicht zumindest die Grundlagen von Programmierung lernen würde. Hardware wird überall virtualisiert und immer einfacher austauschbar, während der eigentliche Wert in den Daten und der Software liegt. Hardware selbst kann als Datenstruktur beschrieben werden, als eine vollständig im Computer entstandene Struktur, die lediglich in Materie ausgedruckt wird. Jeder neue Chip, entsteht vollständig mit und in Software, bevor er gebaut werden kann. Seine Produktion wird genauso von Software gesteuert wie seine Struktur das Ergebnis von Berechnungen ist. Ada Lovelace, die mit ihrer Berechnung der Bernoulli-Zahlen 1843 gemeinhin als die Autorin des ersten Programms überhaupt angesehen wird, schrieb dieses Programm fast 100 Jahre bevor es den ersten echten, Turing-vollständigen Computer gab.4 Man könnte sagen, es war die Software, die ihre Hardware eingefordert und so letztendlich erzeugt hat. Kittlers Verständnis von Computern und Programmiersprachen war dabei ein sehr rudimentäres, das eher von der Begeisterung und einer Gewissheit der Relevanz technischen Verständnisses getragen war. So forderte er zwar, dass jeder Geisteswissenschaftler im Allgemeinen und Literaturwissenschaftler im Besonderen programmieren lernen müsse, um überhaupt noch etwas über seine Zeit aussagen zu können. Er selbst fuhr jedoch fort, Texte statt Programme zu produzieren und auch wenn er basale Kenntnisse besaß, hat er nie wirklich produktive Programme geschrieben. Diese von theoretischen Grundannahmen geprägte Perspektive hatte zur Folge, dass er die Schichten der Abstraktion von der Hardware als Entfernung von der tatsächlichen Wirkweise begriff und nicht als Erweiterung des Möglichkeitsraums. Was sich hier mitzunehmen lohnt, ist vor allem die heute unauflösbar gewordene Verbindung der Sprache der Literatur mit der Sprache der Maschinen, bei der es sich tatsächlich um ein wechselseitiges Wirkungsverhältnis handelt und bei weitem nicht nur um die Einflüsse eines Werkzeugs auf sein Produkt.

Zwei Sprachen Zwei Formen von technischen Sprachen sollen hier unterschieden werden: Die Auszeichnungssprachen und die Programmiersprachen. Auszeichnungssprachen verbinden in erster Linie Daten mit Metadaten, d.h. sie machen Aussagen darüber, wie bestimmte Daten zu interpretieren sind, in welchem Kontext sie zu verstehen 4

Betty Alexandra Toole: Ada Byron, Lady Lovelace, an Analyst and Metaphysician. In: IEEE Annals of the History of Computing, 1996, S. 4–12.

Literatur im | als Code

sind oder auch wie sie dargestellt werden sollen. Typische und bekannte Auszeichnungssprachen sind beispielsweise XML – z.B. in der Variante docx – oder HTML. In Auszeichnungssprachen geschriebener Code ist per se nicht ausführbar und stellt eine Art Datenbasis dar. Programmiersprachen dagegen sind dazu gemacht, ausführbaren Maschinencode zu generieren. Sie stellen eine Syntax bereit, um Berechnungen und Modifikationen von Daten durchführen zu können, deren Abfolge sich dann zu Algorithmen und Programmen ergibt. In der Regel nutzten Programmiersprachen somit Daten, die beispielsweise mit Auszeichnungssprachen codiert worden sind. Das Wesentliche bei Code beider Formen ist, dass er eindeutig interpretierbar ist. Die Syntaxdefinition jeder Sprache legt klar fest, welche Aussagen in welchen Kombinationen gültig sind und wie sie prozessiert werden. Jeder Bruch dieser Definition führt zu einem Fehler. In diesem Sinne stellt sich für den Computer keine Frage der Interpretation eines Programms: Es ist ein Text, der immer gleich interpretiert wird, dessen Auslegung 1:1 mit dem Text verknüpft ist. Diese Eindeutigkeit ist faszinierend, denn sie stellt ein Kriterium zur Verfügung, das über richtig und falsch unabhängig von einem menschlichen Interpreter entscheiden kann und sich somit jeder Unsicherheit entzieht. Eine solche Eindeutigkeit stellt in gewisser Weise ein Kommunikationsideal dar und wirkt als solches auf natürliche Sprachen zurück. Der Wiener Kreis begann damit, eine logische, auf ihren Wahrheitsgehalt überprüfbare Kunstsprache zu fordern. Heute versuchen Terminologiedefinitionen, die Ambiguität und den breiten Deutungsraum der Gemeinsprache zugunsten von möglichst präzisen und definiten Termini einzugrenzen. Ihr Ideal ist die effektive, schnelle und klare Kommunikation über all die Dinge, die einheitlich definierbar zu sein scheinen. Es ist der Versuch, die Übermittlung von Information im Sinne der Shannonschen Informationstheorie vom Rauschen zu befreien und die Diskussion und Interpretation auf die Bereiche zu konzentrieren, in denen Eindeutigkeit und Konsens noch nicht erreicht sind. Terminologie also – vor allem in Bezug auf Terminologienormung, folgt dem Ideal der 1:1 Beziehung zwischen Benennung und Begriff in einem definierten Bedeutungskontext. Signifikant und Signifikat sind hier eine feste Bindung eingegangen, bei der das „Gleiten der Signifikate“ im Lacan’schen Sinne festgestellt wird. Man kann damit sagen, dass der Code des Computers, verstanden als eine künstliche 1:1-Sprache, in seiner Logik auf natürliche Sprache angewendet wird.

Code Poetry Wenn Literatur also Code ist und jeder Code Information prozessieren, transformieren und speichern kann, können dann nicht die gleichen Informationen unterschiedlich codiert werden? Können Codes nicht ineinander übersetzt werden und so bei gleichem Informationsgehalt ganz andere Gestalt annehmen? In technischen Sprachen ist dies tatsächlich häufig genau so möglich. Wo eine 1:1 Beziehung zwischen

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Zeichen und Interpretation besteht, lässt sich die identische Interpretation meist in einem anderen Code ausdrücken, sofern dieser über die Ausdrucksmöglichkeiten dazu verfügt. Für verschiedene Programmier- und Auszeichnungssprachen existieren Konverter, die beliebig und verlustfrei zwischen den Codes jonglieren können. Die einzelne Codierung wird damit austauschbar. In natürlichen Sprachen jedoch sind es paradoxerweise gerade die Ambiguitäten und individuellen Interpretations- und Assoziationshorizonte, die den spezifisch codierten Ausdruck einzigartig und nur verlustbehaftet umcodierbar machen. Das Problem zeigt sich schon in der einfachen Übersetzung, die immer auch eine Abwandlung, eine Interpretation und häufig eine Verkürzung darstellt – möchte man etwas anders sagen, hat man immer auch etwas anderes gesagt. Den Gehalt eines Gedichtes kann man nicht anders sagen. Man kann höchstens etwas Ähnliches sagen, wobei der Grad der Ähnlichkeit schwer bestimmbar bleibt. Natürliche Sprache im Allgemeinen und Literatur im Besonderen machen sich ihre Ambiguität zunutze. Sie ermöglicht das, was in technischen Sprachen ausgeschlossen ist: Die Verständigung zwischen nicht-identischen Codes, die nur mehr oder weniger ähnlich, aber nie gleich sind. Das Experiment wurde unzählige Male durchgeführt: Lasse einen Experten ein Fachwort definieren. Oder einen beliebigen Menschen ein beliebiges Wort. Immer werden andere Definitionen herauskommen, deren Ähnlichkeitsgrad nicht mehr bestimmbar ist. Aber ohne Ambiguität gäbe es kein Gespräch, keinen Austausch, keine Diskussion. Es gäbe nur Informationsübermittlung. Der Mensch ist gemeinhin von beidem fasziniert: Der Einzigartigkeit des Ausdrucks und der Exaktheit der Information. Eine besondere Form des Codes entsteht, wenn sich die Formen mischen. Programmcode und natürlichsprachlicher Code stehen nicht mehr in einem Produktions- und Repräsentationsverhältnis, sondern treten gemeinsam, sich überlagernd auf. Diese Form der Vermischung von Code nennt sich Code Poetry. Ein frühes und berühmt gewordenes Beispiel ist „Black Perl“. Dabei handelt es sich um ein Gedicht, dass in der Programmiersprache Perl 3 geschrieben ist. Es besteht aus ausführbarem Code, den ein Compiler verstehen und interpretieren kann, auch wenn in diesem Fall nichts Sinnvolles dabei herauskommt:

Literatur im | als Code

Abb. 2: Black Perl von Larry Wall5

Das Gedicht wurde am 1. April 1990 als Programm im Usenet publiziert. Larry Wall, der Autor dieses Gedichtes, ist gleichzeitig der Erfinder der Programmiersprache Perl. Der ausgebildete Linguist nimmt hier eine besondere Rolle ein: Er studierte Linguistik mit dem Ziel, eine Sprache zu finden, die kein Schriftsystem besitzt und eines dafür zu entwickeln. Nachdem er diesen Plan aus gesundheitlichen Gründen nicht so umsetzen konnte, wie ursprünglich gedacht, entwickelte er die bis heute verwendete Programmiersprache Perl. Das Programm ist in korrekter Perl Syntax geschrieben und wird dementsprechend vom Compiler geparst. Allerdings bewirkt der exit-Befehl in der ersten Zeile den Abbruch der Programmausführung, so dass der nachfolgende Code zwar prinzipiell ausführbar ist, tatsächlich aber nie ausgeführt wird.

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Larry Wall: Black Perl. http://www.perlmonks.org/?node_id=578707 (zuletzt aufgerufen: 10.01.2016).

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Schon im Titel baut das Gedicht mehrere Ebenen auf: Einerseits referenziert es auf die schwarze Perle, also eine besonders seltene und kostbare Perle von seltener Schönheit. Andererseits ist natürlich die Programmiersprache gemeint, wobei das „black“ auf die dunkle, oder andere Seite verweist, eine Verwendung, die ursprünglich nicht vorgesehen ist, ein Missbrauch in gewissem Sinne. Auch die schwarze Magie klingt an, vor allem, wenn man den Inhalt betrachtet, der einen dunklen Zauberspruch beschreibt. In diesem Zauberspruch ist eine Schleife6 eingebaut, „redo ritual until ‘all the spirits are pleased’“. Die Abbruchbedingung dieser Schleife wird dabei niemals erreicht, so dass die Methode „Ritual“ in eine Endlosschleife übergeht. „All spirits are pleased“ tritt niemals ein. Diese Ebene des Gedichtes versteht man nur, wenn man zumindest etwas die Perl Syntax zumindest etwas versteht. Die Mischung von natürlicher Sprache und Maschinensprache ergibt erst in der Kombination der Ebenen ihren eigentlichen Sinn. Aber da ist noch mehr: Im Gegensatz zum Gedicht fordert das Programm pausenlos seine Anpassung, seine Modifikation heraus. In einer Entwicklungsumgebung, die den Code analysiert, würde das „exit“ in der ersten Zeile bewirken, dass eine Warnmeldung „lines can never be reached“ für die folgenden Zeilen entsteht. Entfernt man daraufhin das „exit“ wird der folgende Code erreicht und ausgeführt. In der Modifikation bleibt der Ausgang, das „exit“, damit offen. Er wird nicht geschlossen. Der Zauberspruch kann hinaus in die Welt – so wie das Gedicht ins Usenet. Ein anderes Beispiel: „shift moralities“ bedeutet, dass der erste Eintrag der Array-Variable „moralities“ gelöscht wird, und somit keine Moralverschiebung stattfindet, sondern die erste Moral entfernt wird – welche auch immer das ist. Das Gedicht wendet sich somit explizit an denjenigen, der den Urtext lesen kann. Nicht der ausgegebene Text, das Resultat des Programms ist interessant, sondern sein Quellcode. Nicht Englisch ist die Sprache des Gedichts, sondern Perl. Nur wer den Quellcode als Quellcode lesen kann, versteht die tieferen Ebenen des Gedichts. Damit führt Wall vor Augen, dass der Code selbst eine eigene Logik, Ästhetik und Aussage hat, die sich nicht in seinem Zweck erschöpft, sondern in sich selbst liegt. Hier verschwimmt die Grenze von Programm-Code und Literatur-Code. Gleichzeitig wird die Serialität des Leseprozesses und der Bedeutungsgeneration aufgebrochen. Der Leser folgt nicht nur der natürlichsprachlichen Semantik, er folgt auch der Logik des Programms, den Sprüngen und Schleifen. Programme folgen in der Regel einer Sprunglogik, die wiederum einen neuen Text generieren. Sie sparen Redundanz und kommen so immer wieder auf sich selbst zurück. Dabei sind große Teile des Programmcodes ohnehin dem menschlichen Verständnis geschuldet. Insbesondere die Benennung von Klassen, Variablen, Parametern und Methoden folgt 6

Schleife wird hier im technischen Sinne als die mehrfache Ausführung des gleichen Code-Segments verstanden, die bis zum Erreichen einer Abbruchbedingung wiederholt wird.

Literatur im | als Code

ausschließlich einer Logik der Verständlichkeit und ist dem maschinellen Interpreter egal. Die heutigen Programmiersprachen orientieren sich, so wird man inzwischen sagen können, immer mehr an der Logik natürlicher Sprachen. Während es zu Kittlers Zeiten noch darum ging, Operationen möglichst performant zu berechnen und den Code dementsprechend auf die Maschine hin zu optimieren, hat sich das Verhältnis heute umgedreht. Viel wichtiger ist es, wie der Mensch den Code rezipiert, wie gut er ihn lesen und erweitern kann. Mit der zunehmenden Digitalisierung ist es gerade nicht mehr die Maschine, deren Logik sich der Mensch anpassen muss, sondern die Lesbarkeit für den Menschen, die im Vordergrund steht. Moderne Sprachen wie Ruby sind stärker von natürlicher Sprache, Verständlichkeit und kontextabhängigen Interpretationen inspiriert als von mathematischen Formeln, elektrischen Schaltungen oder Maschinencode. Das ist auch der Tatsache geschuldet, dass immer mehr Menschen Code lesen. War Programentwicklung in den Anfangszeiten der Mainframes noch eine relativ isolierte Angelegenheit, da ein einzelner Entwickler oftmals für nur ein einziges Computermodell schrieb, findet Entwicklung heute in enger Kooperation und mit einem hohen Grad an Wiederverwendung statt. Code wird immer wieder gelesen, in andere Kontexte integriert und abgewandelt. Diese Ausrichtung auf Lesbarkeit für den Menschen und das zunehmende Zurücktreten des maschinellen Interpreters ändert auch die Rolle des Codes als Ausdrucksmedium. Wo wir Menschen immer mehr und umfassender von Programmen umgeben sind und ständig mit ihnen interagieren, kann die Maschinensprache zu einem Ausdrucksmedium von und für Menschen werden. Dass Code genauso individuell geschrieben wird wie Literatur, hat jüngst eine Stylometrie Analyse ergeben.7 Demnach entwickelt jeder Programmierer einen eigenen, unverwechselbaren Stil. Wer ihn kennt, kann den Code zuverlässig seinem Autor zuordnen. Während das oben genannte Beispiel „Black Perl“ sich jedoch eher durch Syntaxkompatibilität und weniger durch eine Funktion auszeichnet, gibt es in jüngerer Zeit Beispiele, die wirklich erstaunlich und erhellend sind. Das aus dem Jahr 2015 stammende Code-Gedicht „CrushAlgorithm“ von Stefan Haiders weist auf den zweiten Blick ein paar sehr interessante Eigenschaften auf:

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Aylin Caliskan-Islam et al.: De-anonymizing programmers via code stylometry. 24th USENIX Security Symposium (USENIX Security 15), S. 255–270.

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Abb. 3: CrushAlgorithm von Stefan Haider8

Hat man sich nicht von dem Ersteindruck einer trivial ironischen Spielerei abschrecken lassen, offenbart dieses Gedicht eine unerwartete Tiefe. Unter der Oberfläche ist es ein tieftrauriges Gedicht, das gerade durch den Ablauf des Programms mehr Enttäuschung und Resignation – aber auch eine versteckte Hoffnung – transportiert, als es die natürlichsprachigen Benennungen innerhalb des Codes alleine könnten. Das Thema ist der Umgang mit der Verliebtheit zu einem Mädchen. Crush, das ist einerseits das brennende Verlangen, mit jemandem zusammen zu sein. Es ist aber auch das Brechen, Zerdrücken und Zerquetschen. Der Eingangsparameter des Programms ist ein Set, also eine Menge, die beliebig viele „Crushes“ enthalten kann. Von vornherein ist der Crush nichts singuläres, einzigartiges, das es zu erleben und erforschen gälte – auch das hätte man ausdrücken können –, sondern etwas, das in Serie auftritt und für deren Bearbeitung klare Kriterien aus der Erfahrung vorliegen. Am Anfang steht der Versuch, eine Verbindung aufzubauen. Die Verbindung beginnt vor der Schleife, sie ist das singuläre Element, das es als solches nur einmal gibt und das immer wieder mit jedem folgenden Schleifendurchlauf überschrieben wird. Es ist wichtig zu verstehen, dass man die „connection“ 8

Stefan Haider: CrushAlgorithem. http://codepoetry.at (zuletzt aufgerufen: 10.01.2015).

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auch in der Schleife hätte deklarieren können, sie wird hier jedoch explizit außerhalb generiert – jedoch als leerer Platzhalter, als Hoffnung auf etwas, von dem schon definiert ist, wie es aussehen soll, das jedoch noch nicht existiert. Dann beginnt die Schleife, in der eine nach der anderen die Mädchen abgehandelt werden. Alles beginnt gleich: Mit einem Versuch, einem „try“, dessen Ausgang nicht sicher ist. Try besagt in Java, dass der Entwickler damit rechnet, dass im folgenden Block Fehler entstehen können. Die Kombination von „try“ und „catch“ wird dafür verwendet, diese Fehler abzufangen und zu einem geregelten Ablauf des Programms zurückzukehren. Solche Konstruktionen werden gewählt, wenn unsicherer Code folgt, der sich nicht durch Verbesserung des Codes absichern ließe, sondern von externen Faktoren abhängig ist, die sich nicht vorhersehen oder vermeiden lassen. Normale Programmierfehler würden zu einem Crash führen und das Programm würde stehenbleiben. In der Regel geht im Laufe der Programmentwicklung einer try-catch-Konstruktion eine Reihe von Crashes voraus, die der Entwickler nun abstellen will. Der Leser sieht also, dass der Crush, als er noch singulär war, zum Crash geführt hat, bis die Erfahrung mit der Enttäuschung diese bereits in all ihren Möglichkeiten vorwegnimmt und als regulären Teil des Programms integriert. Der catch-Block ist der größte Block des Programms und gibt eine Reihe möglicherweise auftretender Fehler an, die irgendwo innerhalb des try-Blocks entstehen könnten. Die sind bekannt, benannt und definiert. RejectionException, TimeoutException, BoyfriendException, FriendZoneException und NoRelationshipWantedException. All das – bis auf TimeoutException – sind selbst definierte Exceptions, die einen bestimmten Erzeugungshorizont voraussetzen und nur in diesem gebraucht werden. Jede einzelne der Exceptions ruft nun die Methode getOverHer der Klasse Brain auf. Dann aber stutzt man: Es ist ungewöhnlicherweise eine statische und parameterlose Methode. Dass es sich um eine statische Methode handelt, ist daran ersichtlich, dass Brain großgeschrieben ist. Konkret bedeutet das, dass es sich nicht um ein bestimmtes Objekt der Klasse Brain9 handelt, sondern diese Methode direkt aus der Klasse aufgerufen werden kann und damit von einer konkreten Instanz unabhängig funktioniert. Solche Methoden sind besondere, eher seltene Methoden, die universal immer funktionieren und auf spezifische Konfigurationen des „Brains“ keine Rücksicht zu nehmen brauchen. Wäre „brain“ klein geschrieben, würde das auf eine konkrete Instanz hinweisen, ein spezifisches Gehirn, für das diese Lösungsstrategie gilt, 9

Klassen stellen eine Art abstrakter Definition bzw. Bauanleitung für konkrete Instanzen bzw. Objekte dar. So kann es beispielsweise eine Klasse „Auto“ geben, die besagt, dass ein Auto eine Farbe, eine Marke und einen Preis haben kann – ohne diese Werte zu konkretisieren. Jedes konkrete Auto, das vielleicht rot ist, von Volkswagen stammt und 10.000 Euro kostet, stellt dann eine Instanz dieser Klasse dar. Klassen sind somit unkonkret und allgemein und aus ihnen kann eine Vielzahl von Instanzen erzeugt werden. Gleichzeitig geht die Klassendefinition der Existenz einer Instanz immer voraus.

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während für ein anderes eine andere richtig sein könnte. Darin steckt eine Generalisierung der Fehler und ihrer Konsequenzen für alle Gehirne, ergo für alle, denen in einem Crush ein Fehler passiert ist. Ein interessantes Detail liegt darin versteckt, dass auch die remember-Funkionen von der Klasse aus aufgerufen werden und nicht von einer Instanz. Das wäre eigentlich zu erwarten gewesen, weil Klassen keine sich ändernden Werte speichern können, sondern nur eine Art universelles Muster für konkrete Objekte darstellen. Zudem hat keine dieser Funktionen einen Parameter.10 Man hätte erwarten müssen, dass die Variable „g“ für das gerade behandelte Mädchen übergeben wird, um die Erinnerung zu individualisieren. Genau das passiert nicht. Das deutet darauf hin, dass dem „g“, dem individuellen Mädchen, keine Bedeutung für die Erinnerung zukommt, sondern einzig und allein der Typ des aufgetretenen Fehlers erinnerungswürdig ist. So bleibt dem Leser auch der ausführende Code von „remember.iShouldntHaveWaitedThatLong“ und „remember.itsNotWorthTheEffort“ verborgen. Das lässt nur zwei Interpretationen zu: Entweder, es wird nichts gespeichert, ergo nichts erinnert und diese Methoden repräsentieren nur eine Leerstelle, eine Absicht ohne Folgen, erzeugt aus dem Gefühl, dass hier etwas passieren sollte, was nicht passiert. Darauf deutet auch hin, dass entsprechende Werte zu keinem Zeitpunkt vorher ausgelesen werden und die Erinnerung daher keinen Einfluss auf das Handeln in der Zukunft hat. Oder aber diese Methoden lösen ein verborgenes Verhalten aus, das mit Erinnern nichts zu tun hat und für alle Instanzen der Klasse Brain, ergo für alle Gehirne gilt. Hier könnte ein kollektiver Lernprozess angedeutet sein, ein kollektives Unbewusstes, dessen Funktionsweise verborgen bleibt. Wirklich spannend ist, dass in der Fehlerbehandlung nur eine Funktion auf einer Instanz ausgeführt wird, und das ist „connection.maintainFriendship()“.11 Auch ist dies der einzige Fall, in dem „Brain.getOverHer()“ nicht die finale Methode darstellt. Nur hier folgt noch etwas Anderes, etwas Individuelles, das sich nicht unter der Logik der Klasse subsumieren lässt. Wir erinnern uns, die „connection“ war das einzige, was vor der Schleife, folglich vor der Serie der Crushes, definiert wurde und was als Instanz individuell ist. Versteckt in der Reihe von Exceptions ist dies der Hoffnungsschimmer des Gedichts, die Freundschaft. Auch sie ist als Fehler definiert,

10 Funktionen sind bestimmte Codeblöcke, die von anderen Stellen im Programmablauf aus

aufgerufen werden. Häufig wird den Funktionen dann ein Parameter übergeben, der für die Berechnungen in diesen genutzt wird und damit das Resultat anpasst. Fehlt ein solcher Parameter, kann die Funktion nur auf globale Variablen zugreifen oder eine immer gleiche Aktion durchführen. 11 Im Unterschied zu Klassen werden Instanzen, also konkrete Ausprägungen mit individuellen Werten, immer klein geschrieben. „connection“ bezieht sich somit nicht auf Verbindungen im Allgemeinen, sondern auf eine spezifische, individuelle Beziehung zu einem Mädchen. „maintainFriendship“ ist eine Funktion, die direkt in dieser Instanz ausgeführt wird.

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aber es ist der einzige Fehler, der individuell auf das spezifische Mädchen eingeht und aus der Schleife herausführt. Das erste, was im try-Block versucht wird, ist eine URI zu definieren. Eine URI ist ein UniqueRessourceIdentifier. Im World Wide Web – folglich der Welt – repräsentiert eine URI einen weltweit einzigartigen Bezeichner, der gleichzeitig aussagt, wo sich das Objekt befindet. Es ist die Kombination einer URL (Unified Ressource Locator) mit einer URN (Unified Ressource Name), also das Wissen um den Ort des Objekts und seinen echten Namen. Hier klingt die Mystik des echten Namens an, der magische Fähigkeiten hat: Nur der echte Name, kann einen Geist herbeirufen. Und ein Geist ist es an dieser Stelle noch, noch besteht keine Verbindung zu dem Mädchen. Nur, dass es eine Verbindung geben kann, dass eine gewünscht oder erwartet wird, ist bereits definiert. Die URI wird „ip“ genannt, was für „internet protocol“ steht. Eine IP stellt eine Zugriffsmöglichkeit auf einen anderen Computer dar. Ihr ist aber auch eigen, dass sie sich normalerweise nach einiger Zeit ändert. Es gibt ein Zeitfenster, in der die „ip“ gültig ist, bevor sie verfällt und neu zugewiesen wird. Hier klingt die Zeitlichkeit der Möglichkeit einer Verbindung an. Die Verbindung kann nicht immer aufgebaut werden, nur einen Moment lang besteht diese Möglichkeit. Wird sie genutzt, passiert etwas Magisches: Der Name wird zur Beschwörungsformel, das Mädchen kann herbeigerufen werden, eine Verbindung kann aufgebaut werden. Wurde zu lange gewartet, tritt die TimeoutException ein. Während alle anderen Teile des Programms keinen Zeitbezug aufweisen, ist im Moment der Verbindung Zeit das einzig entscheidende. Ohne das richtige Timing kommt kein anderer Codeteil des try-Blocks zur Ausführung. Der Versuch scheitert an der Zeit. Ist eine Verbindung aufgebaut, wird diese stabilisiert. Auch hier wissen wir nicht, wie das geschieht, nur dass es geschehen muss, bevor eine sichere Verbindung aufgebaut werden kann. Sogenannte secureConnections, wie im Folgenden eine zu etablieren versucht wird, bedeuten, dass die Verbindung verschlüsselt ist. Jetzt geht es nicht mehr einfach nur um Kommunikation, es geht darum, einen bestimmten Verschlüsselungscode auszuhandeln, den nur die beiden miteinander Kommunizierenden kennen. Eine secureConnection hat immer eine einzigartige Verschlüsselung, die nirgendwo sonst auf der Welt in der Form existiert. Die Wahrscheinlichkeit dafür ist zumindest extrem gering. Verschlüsselungen schirmen aber nicht nur vor anderen ab, sie machen die Kommunikation auch umständlicher und langsamer. Die spezifische Verkettung von „getSecureConnection“ und „trySex“ bedeutet, dass getSecureConnection eine neue Instanz der Verbindung erzeugt und nicht nur die alte modifiziert. Es ist keine Vertiefung oder Privatisierung der bestehenden Verbindung, sondern eine ganz neue. Nur mit ihr kann Sex versucht werden. Diese Konstruktion ist sehr ungewöhnlich und ziemlich sicher mit Bedacht gewählt, denn in der folgenden Sequenz wird deutlich, dass die Methode tryRelationship – sofern der Wunsch dafür vorhanden ist – wieder auf der ursprünglichen Verbindung aufbaut.

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Obwohl es auf den ersten Blick so aussieht, als wäre die Beziehung einfach nur der nächste Schritt nach dem Sex und würde die Verbindung weiterentwickeln, zeigt die genaue Betrachtung des Codes, dass es sich um die nach außen hin offene, weil nicht verschlüsselte Verbindung handelt, auf der die Beziehung fußt. Während der Sex privat ist, ist die Beziehung wieder öffentlich. Nach der if-Anweisung folgt ein zweizeiliger Kommentar, der jeweils durch einen doppelten Schrägstrich eingeleitet wird. Kommentare richten sich an den Programmierer und werden nicht vom Computer interpretiert. Sie werden benutzt, um zu erklären, wie etwas funktioniert, häufig aber auch, um zu markieren, dass hier noch etwas geschrieben werden muss, das noch nicht existiert. Es ist die offen markierte Leerstelle, der Punkt an dem nicht nur behauptet wird, dass man alles tun könne, was man wolle, sondern der dazu auffordert, hier hineinzuschreiben, was geschehen soll. Das Gedicht wendet sich direkt an seinen Leser, einen Leser, der aufgefordert ist, hier seine Träume einzutragen, weil völlig unklar ist, was hier passieren kann. Es ist ein Moment der Ungewissheit und der Freiheit, der Moment in dem die allgemeine Klasse Brain zur individuellen Instanz werden kann und die unbegrenzte Menge Crushes zum einen Mädchen „g“. Das Naheliegende wäre – das sieht jeder Programmierer – hier einen „break“ einzufügen, wenn dieser Punkt tatsächlich ohne Fehler erreicht wird. Auch diese Ambivalenz ist interessant: Break könnte auf natürlichsprachiger Ebene als Bruch mit dem Mädchen verstanden werden, tatsächlich ist es aber ein Bruch mit der Ausführung der Schleife, so dass alle anderen Crushes nicht weiterverarbeitet würden. Aber break steht hier nicht. In der bestehenden Version würde genau an diesem Punkt die Verarbeitung der Menge Crushes fortgesetzt und „g“ einfach mit der nächsten Instanz von Girl überschrieben. Egal, ob die Verbindung funktioniert hat oder nicht. Die Zeit vergeht, die nächste Iteration kommt. Die Ausführung an der Stelle des Kommentars würde übrigens unabhängig davon ausgeführt, ob eine Beziehung gewünscht und versucht wurde. Vielmehr ist das, was hier ausgeführt wird gerade nicht die Ausgestaltung einer Beziehung, sondern das, was danach kommt. Die wesentliche Bedingung, an der das Erreichen des Kommentars hängt, ist nicht tryRelationship, sondern trySex. Am Ende der Schleifenausführung wird schließlich ein rekursives Code-Element verwendet:12 Die Methode dealWithCrushes wird aus ihr selbst heraus aufgerufen, nachdem sie über SearchEngine.findGirls() neue Crushes generiert hat. Das bedeutet in der Konsequenz, dass eine Vielzahl von verschachtelten Methodenaufrufen 12 Rekursion meint das Prinzip, das eine Funktion an einer Stelle ihrer Berechnungen sich selbst

aufruft und so eine tief verschachtelte Struktur aus Varianten derselben Funktion entsteht. Die Funktion ist jedoch zum Zeitpunkt des Aufrufs ihrer selbst noch nicht beendet. Erst mit dem Erreichen einer Abbruchbedingung, entwickelt sich die Verschachtelung zurück und jede der Funktionen setzt die Ausführung ihres Codes fort, bis sie terminiert und ihre Ergebnisse an die übergeordnete Funktion zurückgibt. Gibt es eine solche Abbruchbedingung nicht, setzt sich die Verschachtelung fort, bis der Speicher überläuft und das Programm abstürzt.

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entsteht, die sich aus sich selbst heraus immer wieder selbst aufrufen. Hier verbirgt sich eine Verbindung zur verwendeten Hardware: Zwangsläufig führt die Ausführung dieser Verschachtelung zu einem Stack Overflow, einem Stapelüberlauf, der entsteht, wenn der Speicher voll ist. Je größer der verfügbare Speicher, desto länger kann das Programm laufen. Sicher ist jedoch, dass dieser Fehler auftreten wird und das Programm abstürzt. Es ist ein Fehler, der nicht abgefangen wird wie zuvor im try-catch-Block. Der Fehler ist nicht vermeidbar, auch wenn unklar ist, wann genau er eintreten wird. Es ist der Tod des Programms, der Abbruch der Rekursion, ein unvermeidbarer „Überfluss“, der die Hardware überfordert und stillstellt. Nimmt man diese Aspekte der Interpretation zusammen, wird klar, dass es sich nicht um ein einfach nur in die Form von Sourcecode gebrachtes Gedicht handelt, wie es in Black Perl noch der Fall ist. Vielmehr handelt es sich nicht nur um ausführbaren Code, sondern um sinnvoll ausführbaren Code, der nicht einfach nur Syntaxkonform ist, sondern ein vielschichtiges Modell von Verliebtheit, Verbindung, Sex und Beziehung aufbaut. Dabei werden bewusst verschiedene Eigenheiten der Programmiersprache genutzt, um auf tiefergehende Zusammenhänge zu verweisen, die aus dem Verständnis der natürlichen Sprache allein nicht hervorgehen würden. Code Poetry erreicht in diesem Beispiel – es gibt noch viele andere – eine neue Ebene und nimmt dabei sowohl den Code der Literatur als auch den der Maschine ernst. Man muss sich klarmachen, dass Programmier-Code benutzt wird, um Abläufe unserer menschlichen Welt in Modelle zu fassen. Modelle, die Entscheidungen fordern – menschliche Entscheidungen – und immer auch ganz anders modelliert werden können. Programmcode ist Sprache gewordene Weltsicht. Eine Weltsicht, die im Moment ihrer Beschreibung aktiv wird, produktiv wird und auf die Welt zurückwirkt. Der Leser liest in einer Doppelfunktion und changiert zwischen diesen beiden Ebenen: Einerseits liest er wie der Compiler, er liest, wie eine Maschine und interpretiert das, was algorithmisch passiert. Damit wird er zu der Maschine, die er selbst steuert. Maschinenlogik schreibt sich zurück in unsere Gehirne ein und fordert überall distinkte Entscheidungen, erlaubt kein Offenlassen. Andererseits liest der Leser als Mensch, mit seinen Assoziationen und Interpretationen, Gefühlen und Fragen. Das Auge springt im Code hin und her, so wie der Geist zwischen den Codes springt. Das Auge wird zum springenden Cursor, dessen aktueller Punkt der der Gegenwart ist, einer hochgradig flüchtigen und trotzdem vollständig determinierten Gegenwart der sich durchmischenden Codes und einer Sprache, die nicht nur deutet und bedeutet, sondern selber handelt.

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III. Lesungen Gespräche Akzente Literaturkolloquium I



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„Eine Passage für / die unterschiedlichsten Arten der Gegenwart“ · Jürgen Becker und der poetische Standort im Hier und Jetzt Das, was wir uns in diesem Band ein Stückweit zu vermessen vorgenommen haben, könnte leicht als vermessen empfunden werden. Es geht um ästhetische Positionen und Debatten in der Gegenwartsliteratur. Das sind ziemlich hoch gesteckte Begriffe. Bei Jürgen Becker wage ich zu behaupten, dass sein Beitrag zum Begriff der Gegenwartsliteratur, zur ästhetischen Positionierung und Debatte nicht nur exemplarisch, sondern essentiell ist. Nicht wegen des Büchnerpreises, welchen er im Jahr 2014 erhalten hat, sondern weil er wie kein anderer lebender Schriftsteller in seinem Werk konsequent die Parameter des Begriffs Gegenwart vermessen, abgeschritten und ausgehandelt hat, und das nun schon über einen Zeitraum von über 50 Jahren hinweg. Sein Werk ist uns gewissermaßen so lange schon gegenwärtig, wie es die Musik Bob Dylans oder der Rolling Stones ist. „Also was ist eigentlich jetzt?“1 Mit dieser 1964 in seinem Debüt Felder gestellten Frage hat sich Jürgen Becker in einen bis heute andauernden Erkundungsprozess der Dimensionen von Gegenwart begeben, und zugleich leitete ein Satz wie dieser von heute aus gesehen ein neues Zeitalter für die deutschsprachige Literatur ein: War bis dahin ‚Zeitlosigkeit‘ ein weithin anerkannter Maßstab traditionsverankerten zeitgenössischen Schreibens, so wurde es mit diesem emphatischen jetzt die absolute Gegenwärtigkeit, Schreiben in einem konkreten Hier und Jetzt als Bedingung gelungener Literatur der Gegenwart, die Zahnpastareklame „modern wie die nächste Minute“ provokant zwischen das Goethe-Zitat „man halte sich an’s fortschreitende Leben“ und das Lessing-Zitat „Raub des gegenwärtigen Eindruckes“ gepinnt2 – so etwas hatte man bis dato in den Reihen der Gruppe 47 höchstens gefühlt, aber nicht niedergeschrieben, weshalb Becker 1967 denn auch den Preis der Gruppe 47 erhielt. Die Fliehkräfte, welche dieses emphatische Bekenntnis zu einer neuen Gegenwärtigkeit der Literatur entfaltete, waren von der sich im selben Jahr auflösenden Gruppe nicht mehr steuerbar, sondern spalteten sich zunächst in einander entgegengesetzte Richtungen auf: Einmal ins literarische Engagement als Teil des politischen Aktivismus, um die Gegenwart handfesten politischen Veränderungen zu unterziehen, und einmal in ein affirmatives, mit den Künsten und Medien der Gegenwart experimentierendes 1 2

Jürgen Becker: Felder. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1964, S. 15. Ebd., S. 72.

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Gegenwartsverständnis, wie es die Pop-Literatur praktizierte. Drittens, und wohl am beständigsten, blieb damit aber auch der Anspruch nach Kreation einer subjektiven Gegenwart im Akt des Schreibens erhalten, die zugleich Offenheit für alle Vorgänge in der Gegenwart jenseits des Schreibens einfordert, aber das, was die Öffentlichkeit mit ihren Medien und Sprachregelungen als Gegenwart ausgibt, doch zugleich wieder hinterfragt und kontrastiert mit einer individuellen Gegenwart, einer Anwesenheit im Hier und Jetzt, die ihre Koordinaten noch gar nicht kennt, sondern die, diese auf dem Papier erforschend, oszilliert zwischen den Zeiten: Denn „es war während der allgemeinen Geräuschvermischung und des Stimmentauschens in meinem Radiokopf voll täglich vergangener Erfahrung und Jetzt und Vorbei und Kommt wieder einst“3, wie es in Felder heißt. Die Qualitäten, deren es für den Schriftsteller bedarf, um seiner Gegenwart habhaft zu werden, hat Jürgen Becker 1990 im Rahmen des langen Gedichts „Das englische Fenster“ einmal in einem poetischen Katalog zusammengefasst: Geduld und ein Warten worauf Recherche, Investigation Biertrinken gehen, telefonieren Ruhe bewahren und über die Wiese gehen Ungeduld die Hartnäckigkeit der Illusionen Müdigkeit, Kaffee oder Tee Mißtrauen Resignation Training dieser und jener Methode plötzliches Aufmerksamsein, völlig vereinnahmt Langeweile, Kirschenpflücken Beschäftigung mit Zetteln, Archiven, Gerüchten Nägelkauen, Bleistiftspitzen, Rückbezug Einfluß von Jahreszeiten und Wetter Theorie handwerkliche Verrichtung, Niesanfall Zweifel bis zum Geht-nicht-Mehr Zigarettenrauchen Reflexion auf das was Material heißt Brotarbeit Tradition, die eine Sackgasse ist Einbahnstraße, Gängelung 3

Ebd., S. 15.

„Eine Passage für / die unterschiedlichsten Arten der Gegenwart“

Tradition, die ein offenes Feld ist etc. Erinnerung, die ganz hart ans Heute klopft, denn irgendwo in diesem Nebel fängt eine Spur an, die zu verfolgen ist, bis etwas sichtbar wird unter diesen Resten und Schichten, vielleicht zwischen Efeuranken, vielleicht zwischen den Stapeln der Landkarten, Photos … man kann es nie wissen, auch wenn man Daten und Gegenstände zu kennen glaubt, von denen man redet, und man hat keine Zeit, auf den Raben zu warten, der aus der Nacht der Geschichte zurück ins Zimmer kommt4

Gegenwart ist, wie Jürgen Becker nicht müde geworden ist zu veranschaulichen, ein komplexer Prozess, der fortschreitet, sich erweitert, neue Dimensionen aufbricht und vorhandene, als starr empfundene Muster und Konventionen, beispielsweise der literarischen Gattungen, aufsprengt und wieder miteinander verknüpft, um neue, hybride Formen entstehen zu lassen. Die Experimentieranordnungen seiner Felder, Ränder und Umgebungen gehen mit den siebziger Jahren in die mit ihm seither zur zweiten Natur gewordene offenere, assoziative, diskursive Form des langen Gedichts mit seinen weißen Leerzeilen und Zwischenräumen über. Und wieder taucht am Anfang die Frage nach der Gegenwart auf, gestellt in Italien, das sich u.a. mit dem deutschen Stipendiatenzentrum der römischen Villa Massimo nicht nur als Projektionsfläche für die deutsche Literatur der Vergangenheit, sondern auch der Gegenwart erweist. Das „Fragment aus Rom“ beginnt mit hier, wo immer das ist: das ist jetzt die Frage (jetzt immer): was ist und was drankommt, hier ist jetzt . . . / neuerdings wieder nachts, in diesen Träumen, diesige weiße Pisten und plötzlich die heiße Last der Luft, Miami wirklich, wie zehn, täglich, Zypressen vor Augen, 4

Jürgen Becker: Das englische Fenster. Gedichte. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1990, S. 20 f.

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Quadrat-Himmel drüber. Luft. Brauchbarer Blick zum Ausruhn, wie jetzt, in der heißen Stille von hier fortgehen kommt der ganze Sommer noch (?) Kein Sommer gewesen; gesagt vor zehn Jahren unter einem Teerdach, kalt und naß, mit Löchern von Krähen . . . (gewesen. gesagt. geblieben.) und seither das Fortgehen aus dem weißen Haus unter den Pappeln du bist immer fortgegangen ein Kind und weiter fort flog er zum ersten Mal und weiter wechselt die Häuser: lebt jetzt in anderen Städten Immer unterwegs so – Regionalismus, den Hut setz ich mir wieder auf, wenn ich ganz alt bin; nun fragt eine Rivista an: Roma ha un ruolo nel suo nuovo libro?5

Rom spielte für den Freund Ingeborg Bachmanns und sich zu mediterranen Ferien und Blickwechseln Bekennenden gewiss eine Rolle, doch in gleichem Maße wurde die Alte Welt auch überblendet von den Projektionen der Neuen, die Jürgen Becker 1972 in New York mit der Fotokamera erkundete, dem wohl adäquaten Medium für die von permanenter Gegenwart durchzuckte Hauptstadt des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts. Doch sein Zugriff auf die Gegenwartsmetropole New York, wie seine erst 2012 von seinem Sohn, dem Fotografen Boris Becker veröffentlichten Fotos zeigen, ist genuin literarisch, fragt im Medium der schwarz-weißen Fotografie nach der Darstellbarkeit von Gegenwart. Der Beobachtete ist selber anwesend in dem, 5

Jürgen Becker: Gedichte. 1965–1980. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1981, S. 9 f.

„Eine Passage für / die unterschiedlichsten Arten der Gegenwart“

was er beobachtet, und gleichzeitig verändert die vielfache Spiegelung dessen, was ihn umgibt und was er sieht, wie in der emblematischen Figur der mise en abyme ihn und sein eigenes Erscheinungsbild.6 Er sucht nach verborgenen Blickwinkeln auf Gegenwart, welche diese zugleich in ein neues, unerwartetes Licht stellen und sie etwa auf Katzenperspektive ‚verkürzen‘,7 und es ist schließlich die lyrische Kernfrage der Moderne: Wie lässt sich Schönheit, die Schiller noch als „Freiheit in der Erscheinung“ begriff, behaupten, wenn die Gegenwart für die Kategorie der Schönheit immer schon mediale Importe bereitstellt, die höchstens, in einer plötzlichen, blitzartigen Spur von Anwesenheit durchbrochen werden kann, um wie bereits Baudelaires „Passantin“, eine „konvulsive Schönheit“ auf dem Sprung zu erzeugen, die im nächsten Moment verschwunden sein wird oder sich entzogen hat, wie die Gegenwart selber, der sie für einen Moment entrückt gewesen zu sein scheint.8 Mit dem auf Anregung Walter Höllerers, der eine bis heute nachwirkende Debatte zum langen Gedicht anstieß, geschriebenen „Berliner Programm-Gedicht“ entwarf Jürgen Becker dann im Band Das Ende der Landschaftsmalerei 1973 so etwas wie sein literarisches Programm für die kommenden Jahrzehnte: Eine Ästhetik, die sich sozusagen selbst auf der Spur bleibt wie der Gegenwart, die sie, stets vorläufig, zu fixieren sucht. In die poetischen Modelle, die dabei entstehen und die Lebenspraxis ihres Autors nachvollziehen – Stichwort: „Poesie als Lebensform“ –, schreiben sich unter der Hand stets auch die politischen, ökonomischen, ökologischen, weltanschaulichen und ästhetischen Debatten der Gegenwart mit ein. Jürgen Becker hat vor allem an letzteren teilgenommen, allerdings weniger als Wortführer, sondern eher still und bestimmt von der Seite aus als eine Art ‚Chronist der laufenden Ereignisse‘, wie man in Abwandlung einer auf Peter Handkes Debütfilm zurückgehenden Lieblingsformulierung Beckers sagen könnte. In seiner Dankrede zur Entgegennnahme des Georg-Büchner-Preises, „Vom Mitschreiben der Wirklichkeit“, bringt er dieses, wenn man so will, ‚Mitgestaltungsrecht’ der Gegenwart an seiner Literatur auf den Punkt: Die tägliche Zeitungslektüre schreibt mit, die Stimme des Nachrichtensprechers, der Wetterbericht und die Bundesliga, der Raketenbeschuß und der Abhörskandal. Der Gedächtnisraum ist voll von Fetzen und Relikten, die Bestandteile meiner Gedichte sind, und ich weiß nicht immer, welcher Kontext sie hinterlassen hat. Zitate schreiben mit, von denen ich ebensowenig weiß, ob ich sie bewußt oder unbewußt verwende; vielleicht nur ein Wortlaut, der mir bekannt vorkommt. Ganze Biographien schreiben mit, die eigene wie die von anderen Leuten, und dazu gehört, was sich beim Schreiben zunehmend an Erinnerung einstellt: Kindheit, Krieg

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Vgl. Boris Becker (Hg.): New York 1972. Fotografien von Jürgen Becker. Köln: SPRUNGTURM 2012, S. 37. Vgl. Ebd., S. 142. Vgl. Ebd., S. 154.

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und Nachkrieg, Desaster in der Familie, Trennungen und schuldhaftes Versagen, Versäumnisse, Verirrungen, Verschwiegenes – die Mitsprache des Vergangenen, ein anschwellendes Geräusch. Was im Schreiben die eigene Stimme, was daran originär und unvermittelt ist, ich muß mich selber fragen, auf der Suche nach den Materialien, aus denen die Collage meines Bewußtseins zusammengefügt ist.9

Gleichwohl verfolgt Jürgen Beckers lyrischer Chronist die laufenden Ereignisse, alle ästhetischen und unästhetischen Debatten ja nicht zum Selbstzweck, sondern um sich über das Hier und Jetzt und seinen eigenen Standort darin zumindest vorläufige Klarheit zu verschaffen. Die Stimmenvielfalt ist Programm: Verschiedene Ansichten, Perspektiven, Entwürfe konkurrieren bei ihm um die Deutungshoheit über die Gegenwart. Er sondiert sein Gelände nach allen Seiten hin, bevor er es betritt. Nach und Nach erweist es sich sogar als trittfestes Terrain für zukünftige Schritte, eine seismographische Anzeige in traumgleichen Konstellationen, die im Moment ihres Aufscheinens keiner für wahr hielte, wie das 1988 veröffentlichte lange Gedicht von der wiedervereinigten Landschaft, das anstelle der nebenbei einfließenden Prophezeiung den Blick auf Beckers anderes Lebensthema lenkt, die Landschaft: Wie lässt sich nach dem unsentimental verkündeten Ende der Landschaftsmalerei noch von Landschaft, von Region oder Provinz, vom Charakteristischen einer bestimmten Gegend sprechen, wenn diese, wie das Thüringen des autobiographischen alter ego des 1999 erschienenen Romans Aus der Geschichte der Trennungen, verschwunden oder dem Zugriff entzogen ist? Oder wenn etwa das Bergische Land, wo Becker wie sein autobiographischer Chronist neben der Metropole Köln zuhause ist, Opfer eines homogenisierenden Strukturwandels geworden ist, der heute unter dem Stichwort „Globalisierung“ einstige Dörfer zu Stadtbezirken, aber auch Städte zu großen Dörfern mutieren lässt? Jedenfalls zieht sich die Frage nach der Physiognomie der gegenwärtigen Landschaft bis zum neuen „Journalroman“ Jetzt die Gegend damals wie ein roter Faden durch sein Werk, dem mit verloren geglaubten oder verdrängten Partikeln der Erinnerung und assoziativen Reflexen immer wieder neue Argumente zufließen. Auf die Zeilen Beckers aus seinem Langgedicht „Das englische Fenster“ zurückgreifend, lässt es sich daher verstehen als „eine Passage für / die unterschiedlichsten Arten der Gegenwart, die hier / ihren Anfang nehmen und Spuren entdecken, / die überraschend erscheinen, ein altes Zitat / oder erst eine Möglichkeit sind.“10 Eine Möglichkeit, sich mit seiner offenen Form der poetischen Lebenspraxis in vielfältiger Weise zu identifizieren, bietet das Werk Jürgen Beckers für die jüngeren, Jürgen Becker: Vom Mitschreiben der Wirklichkeit. Dankrede zum Erhalt des Georg-Büchner-Preises 2014. In: Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung (Hg.): Preise 2014. Göttingen: Wallstein 2014, S. 97 f. 10 Becker: Das englische Fenster (wie Anm. 4), S. 32. 9

„Eine Passage für / die unterschiedlichsten Arten der Gegenwart“

nachgewachsenen Autorinnen und Autoren der Gegenwart allemal. Die unverhohlene Sympathie, die sie ihm entgegenbringen, macht ihn neben höchstens noch zwei, drei anderen älteren Autoren in der deutschsprachigen Welt zu einer Symbolfigur für poetisches Beharren in der Gegenwart. Heutige ästhetische Debatten kommen ohne den Begriff Gegenwart nicht aus. An Jürgen Becker ist zu sehen, wie aus der poetischen Reflexion von Gegenwart ein kontinuierliches Werk entstanden ist, dessen Autor sich und seinem literarischen Ego bei aller Formen- und Themenvielfalt treu geblieben ist. Zu den Vögeln, die kontinuierlich in den Gedichten Jürgen Beckers auftauchen, gehört z.B. der Eichelhäher. Becker erwähnt einmal beiläufig dessen Gewohnheit, Eicheln als Vorrat im Boden zu vergraben und meist wieder zu vergessen, wo er dies tat, was sich als Segen für den Wald erweist: Neue Eichbäume gehen auf, der Eichelhäher ist der nachhaltigste Förster im Revier. Mir scheint, als hätte Jürgen Becker die Spuren seiner Texte zwar nicht im Walde versteckt und wieder vergessen, sie aber doch ohne eigenes Zutun als Saat unter den Jüngeren aufgehen lassen, so dass sie nun Wurzeln schlagen inmitten einer anderen Gegenwart.

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Programmgedicht – Wiederholung – vorläufige Topographie Ich bin ein sehr augenblicklicher Mensch, ich lebe also permanent in der Gegenwart – von dem, was ich schreibe, gilt eigentlich für mich immer nur das, was ich gerade schreibe oder gerade geschrieben habe. Dass Geschriebenes immer wieder aus Geschriebenem entsteht, vergesse ich dabei. Ich verdränge es. Ich habe immer das Gefühl, ich fange immer wieder von vorne an. Vor mir ein leeres, weißes Blatt – der Kopf ist leer. Um dem zu widersprechen, um diese Leere zu widerlegen, warte ich darauf, dass der erste Satz kommt, er kommt dann auch und es entsteht wieder ein Text. Dass dieser Text, ja dieser Satz die Fortsetzung von vielen anderen Sätzen ist, ist mir einerseits klar und andererseits muss ich es nach wie vor vergessen, denn sonst komme ich aus dem Gefühl nicht heraus, dass ich mich lediglich immer wieder zitiere. Das war ein Prozess, der sich über die ganzen Jahrzehnte hingezogen hat und dabei habe ich das Gefühl, so unterschiedlich die Texte auch sind, die ich hier zum Vorlesen ausgewählt habe, dass ich letzten Endes immer nur an einem einzigen Buch geschrieben habe: ein großes Buch, eine Art Lebenstext, eine Biographie, eine Autobiographie. Denn all das, was sich dabei an ästhetischen Fragen erörtern lässt, ist letztendlich zweitrangig. Entscheidend ist die Erfahrung, die hinter alldem steht, aus der heraus ich habe schreiben können. Das hat schon sehr früh angefangen – bereits mit meinem ersten Buch Felder. Eine germanistische Legende sagt, dass dies experimentelle Literatur sei. Mag sein. Nur in der Zeit, als ich es schrieb – Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre –, habe ich diesen Begriff weit weg von mir gehalten. Das Experimentelle gehörte damals zum Zeitgeist, aber ich hatte nicht das Gefühl, dass ich experimentiere, sondern ich hatte geschrieben unter dem Zwang, mich loszulösen – von Vorstellungen, von Kategorien, von einem Kanon, der bislang mein Verhältnis zu Sprache oder zur Literatur bestimmt hatte. Davon frei zu kommen, das war die Absicht des Buches. wie weiter, was sprechen, wie fortsetzen was und eine Gelegenheit, hier, setzen als Punkt und wohin im Vielleicht oder schrägen Vorbei von was einem Ding da ist keins aber waren ja Dinge da im damals etwa winterlichen Einst; rufen hier hin als Stimmen aus dem Schieben und Trippeln und Stehen von etwa Schaffnern, feuchten Pagen, Zimmermädchen in Fenstern, Packern im Hof oder Kolonnen, Klassen, Prozessionen oder Schritten, Schuhen und welchen Namen hat der Platz den er hat; fortsetzen was und beenden eine Bewegung oder anfangen, beschleunigen, unterbrechen im Mittendrin der Anfänge, Beschleunigungen, Unterbrechungen einer Bewegung fort von einem alten Ort, aus einem überfälligen Hof, durch einen verflossenen

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Flur, springend, zögernd, brüderlich und lustig verstört, los, fußfassend auf verwaltetem Weg, in beschreibbarer Richtung, heute, nein, nicht in bestimmbarer Entfernung zwischen Mast und Mast zurück ins Erinnern, zurück ins Erinnern einer Gelegenheit, eines Punktes, einer Stimmenverteilung, einer Bewegung zwischen Momenten, Pausen, Vorgängen, Flächen; was weiter; was rollte davon und floß vorbei und riß ab aber Reste davon und Gerinnsel und Risse zusammen gescharrt unterm Strich ja das blieb, blieben Flecken pendelnder Fenster auf einem flachen schrägen Platz im weißen Licht, als über ein Pflaster in der Hitze Schuhe schoben, wer stand denn zwischendrin, im Ticken aus den Fenstern über den Hüten, im Kichern aus den glänzenden Quadraten, wos kicherte und spritzte flink, flackerte mit den Scheiben, flappte mit dem quietschenden Leder, rieb, rutschte, patschte naß wie reinlich hell wie ein Morgen frisch und sieh! und lächelte in meine Augen: die es sind, keine Steine, nicht unter Müll, ich sage meine und dies Lächeln fiel hinab, hinein: graues Rinnen wohin es rann durch ein Dunkel machte es hell das Dunkel; was weiter; noch kreisten die Tauben; noch kreuzten Beine nicht Stümpfe noch Klumpen. Der Splitt glühte nicht auf unter den Sohlen. Der Sommer hielt im Gleichgewicht den Schrecken. Still verhielten ungebräuchliche Piloten. Rasenflächen luden ein. Wolken wie Blumenkohl. Sanfte Aschensäulen. Wanderungen. Ziele im roten Forst und Waldschenken. Grimmige Zwerge. Spielflächen zum Üben und friedlichen Jagen. Sonntags. Draußen zwischen den Hügeln fanden wir Gehölze und Hecken und Herden dröhnten von den Weiden her abends. Buschland blinkte unter dem Mond und ich schob ein Fahrrad im surrenden Licht aus dem Grund weg voll schlachtender Mücken. Pappeln und Fluß. Gegenden die ich vergaß. Ein Ackerwagen nachts und im Dämmer früh ein brauner Waggon. Was noch. Kreisten Tiere noch in der neutralen Luft, während vom Westen ruhiger Beton floß über den Himmel, und hier auf dem schrägen Platz, ja auf dem unaufhörlichen Platz, was machen, mein Sprechen im dauernden Scharren und Kreisen rund und quer im Wechsel von Lampen und Beinen und Flächen schräg über Flecken auf Pflaster und städtischem Grün unter plötzlichem Niesel von Leuchtstoff und Nebel, so war es also November, so schmierte schon Laub, notieren, November und noch anwesend auf vorhandenem Platz und stehengeblieben. Es ist ein genauer Ort. Er ist nicht zu beschreiben. Schneller ist die Gegenwart und durchlässig. Es sind unkenntliche Personen. Ein Lächeln ist selten aus einem Fenster aus einem Hotel. Ein Stückchen Rasen wiederholt endlose Landschaften von uns Kindern. Drei amtliche Bäume wie alt man geworden ist. Schneeballrollengedächtnis. Geschehnisse und Einsätze in bloß einem Augenblick auf der Stelle und einfach nicht weiter. Grenzen weder zwischen Jahreszeiten noch Löcher zwischen Stimmen. Wie fortsetzen, ich befinde mich inmitten unterwegs, ich werde beschreiben: dies ist ein Platz an einem Vormittag und es nieselt; unterbrechen; ich erinnere diesen Platz an einem Vormittag ohne Nieseln und Zimmermädchen schwirren durch die Fenster eines Hotels; zögern; ich kenne diesen Platz nach den Gelegenheiten des Gedächtnisses und seiner Einschübe dessen was alt ist und nicht tot; das ist nicht beschrieben; hier wuseln Packer herum und solche Pagen, mit diesen Schaffnern trank ich noch kein Bier; doch; Altstadt auf Neu; das ist ein Übel; Sperrbezirk für den freien Handel mit der laufenden Kundschaft; umsonst; Küchendunst aus unten den vergitterten Schächten; weiter; drüber lehne

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ich übers Gitter und äuge runter zu den gekachelten Bäuchen voll pfeifender Köche und Fritten rascheln hoch aus dem tückischen Öl unters Salz; los; einst nämlich war ich mein eigener Hund und kratzte umsonst am Büdchen um himmlischen Imbiß und schneite es Pappendeckel voll Senf, auch Nesseln und Gras blieb zu rupfen für unsere brotloseste Epoche im vorstädtischen Barackenland aber teilten wir lieb noch ein Ei; ja was noch; nun mischt sich Schnee und Ruß und Platz, wir sehen die Winterküsten; die Öffnung in den großen Nordwesten, graue Buchten, und keine Ruhe. Sprechen. So fort. Gänge quer längs lang während. Daueraufenthaltdauer. Die Pfiffe der nahen Züge aus dem Hintergrund die Pfiffe der plötzlichen Ereignisse im Vordergrund, die plötzlichen Aussichten sind immer schon da. Ich setze an, wo ich mich befinde, die Gelegenheiten schwinden, wieder, weiter, wie fortsetzen was ich setze fort, hier, der Punkt ist überall und die Stimmen sinds, was sprechen, die zusammenstoßenden Punkte, die ungesammelten Schritte, die springenden Fenster, die Flecken, das Pflaster, die Asche, das Haar, der Rest, das drohende Geräusch, der vermutliche Morgen, die Hoffnung auf Sprich und kein Ende, das nicht, bloß dies ein geringes weiter.1

Der Band Felder, 1962 geschrieben, sammelt sehr viele Schreibweisen, alle einzelnen Abschnitte, Felder, sind in einer immer anderen Schreibweise geschrieben. Das Ganze ist ein Gang durch eine Stadt, der beginnt morgens, endet mittags. Der Gang dauert drei Jahre. Die Stadt ist die, in der ich geboren bin und wo ich seinerzeit, mitten in der Stadt, hinter dem Hauptbahnhof lebte: Köln. Es war die Reaktion eines Bewusstseins auf das, was um einen herum vor sich geht. Wie reflektiere ich es in Sprache – und zwar zunächst nur in Sprache, ohne daran zu denken, ist es ein Gedicht, ein Prosastück, eine Erzählung, ein Essay oder sonst was. All diese Gattungen zu verlassen oder einzuschmelzen, war damals meine Intention, und dabei sind eben Sprachstücke entstanden – sprachliche Bewegungen, die alle Bewusstseinsvorgänge abbilden, die durch die Wahrnehmung, die Erfahrung dessen bestimmt sind, was um einen herum passiert. Ich mache jetzt einen großen Sprung – aus der Frühzeit dieser jetzigen Gegenwart in die Gegenwart jetzt – zu meinem neulich erschienenen Buch mit dem Titel Jetzt die Gegend damals. Inzwischen ist sogar eine Person aufgetaucht, in früheren Büchern schon vorhanden, eine Art alter ego, hinter der sich der Autor quasi ein bisschen versteckt, damit die eigene Autobiographie nicht allzu penetrant in den Vordergrund rückt – eine Figur namens Jörn Winter. In diesem ‚Journalroman‘, wie ich das Buch nenne, versuche ich etwas wie eine ‚Chronik der Augenblicke‘, wobei ein Augenblick ungeheuerlich lange dauern, ja eine Geschichte haben kann: 50 Jahre, 60 Jahre. Wo kommt der Augenblick, der jetzt stattfindet, her, was hat der für eine Voraussetzung, was hat ihn hervorgebracht, wie korrespondiert er mit anderen Augenblicken, wie 1

Jürgen Becker: Felder. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1964, S. 33–38; ebenso in: Wie es weiterging. Ein Durchgang. Prosa aus fünf Jahrzehnten. Berlin: Suhrkamp 2012, S. 9–12.

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entsteht also Geschichte – das ist, wie ich so merke, die Spur, die dieses Buch versucht zu legen oder ihr zu folgen. Daraus entnehme ich eine Passage, ein zusammenhängendes Stück, das fast denselben Schauplatz hat, den Kölner Bahnhof. Jedenfalls kommt der Bahnhof darin vor, sogar kleinere Motive kommen wieder vor. Lange nicht war Jörn in Ostende. Vier Stunden mit dem Zug, sechsmal am Tag, damals, als in der Stadt noch belgische Besatzung lag, deren Angehörige alle zwei Stunden die Gelegenheit haben sollten für den Eilzug über Lüttich, Brüssel, Gent, Brügge. Belgien war das nächstliegende Ausland; von dort kamen nach dem Krieg die ersten Fritten, und Jörn rauchte belgische Zigaretten, Belga und Boule d’Or. Eine Zeitlang übersetzte er die Briefe, die Claude, der wallonische Rekrut, an Sissy, seine deutsche Freundin, schrieb. Sissy war die Nachbarin in der Barackensiedlung, wo Jörn und Nora in einem Gartenhaus lebten; sie hatte Claude beim Schwof in Rick’s Diele kennengelernt, einem angesagten Tanz-Café, wo sich die Besatzer ihre Mädchen aufgabelten. Für das bettelarme Studentenpärchen war Claudes Versetzung nach Namur wie gerufen gekommen, denn Sissy entlohnte Jörn für seine Übersetzungen, dreimal in der Woche, mal mit einer Packung Belga, mal mit einer Salami, oder belgische Schokolade, oder einer Flasche Rotwein. Bis Sissy mit einem Jungen aus der Siedlung anfing. Am Rand der Siedlung ging die Bahnstrecke nach Aachen vorbei, nach Belgien. Im Gartenhaus waren die Züge zu hören. Und Jörn hörte ihrem Rauschen mit Sehnsucht, mit Fernweh nach, mit unbestimmten Vorstellungen von den Küsten des Exils, das Motiv-Bild der Gedichtpassgagen, an denen Jörn damals schrieb. Salamander brachte die Nachricht mit, die in den Boheme-Lokalen die Runde machte: Irmgard Keun ist wieder in der Stadt. Jörn kannte den Namen nicht, keiner kannte den Namen, außer ein paar von den Jahrgängen, die den Schlamassel mitgemacht hatten. Salamander wußte, wie immer, Bescheid; er hatte den einen oder anderen Roman gelesen; er wußte, daß die Keun kriegsüber im Untergrund gelebt hatte; sie wäre, die Emigrantin, für tot gehalten worden von der reichsdeutschen Presse; nach Belgien und wo sonst noch hin war sie ins Exil gegangen, irgendwann Mitte der Dreißiger. Jörn fragte sich, und es war das erste Mal, daß er sich das fragte, wie er, um eine Generation älter, sich verhalten hätte, ob er gegangen oder geblieben wäre; mit Salamander war er sich einig, daß man Deutschland 33 selbstverständlich hätte verlassen müssen. Aber hätte er den Mut gehabt; wovon hätte er leben können; wie hätte sich der Verlust des deutschsprechenden Alltags auf sein Schreiben ausgewirkt… Fragen, von denen Jörn wußte, daß ihm die Erfahrung fehlte, um sie klipp und klar beantworten zu können; im nachhinein, sagte er, kann ich nicht so tun, als hätte ich das Selbstverständliche auch getan. Jahre später, Jörn war inzwischen ein paarmal in Ostende gewesen, entdeckte er in einem Antiquariat Irmgard Keuns Bilder und Gedichte aus der Emigration, ein schlichtes Heft, vierzig Seiten, zwei Jahre nach dem Krieg erschienen. »Im April 1935 fuhr ich nach Ostende. Ich verreise nicht, ich wanderte aus, und ich war keineswegs sicher, daß ich noch einmal wiedersehen würde, was ich verließ«. Die ersten Sätze einer Geschichte, die vom Aufenthalt in Ostende erzählt, ein halbes Jahr vielleicht, bis es für die nächsten Jahre durch Europa weiterging; eine Zeit der Ungewißheit, Ängste, Geldnöte, der

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Versuche auch, erleichtert, frei, und so etwas wie heiter und unbeschwert zu sein in der Geselligkeit mit dem Zimmermädchen, der Toilettenfrau, den Apotheken-Zwillingen, mit denen sie ihren täglichen Umgang hat; zudem trafen die großen Kollegen ein, Kisch, Kesten, und Toller, Stefan Zweig und Joseph Roth, berühmte, reiche, arme, rastlose, resignierte, trinkende, schreibende Caféhaus-Kollegen; lange blieb keiner, keiner kam zurück, Ostende eine Durchgangs-Station. Für Jörn, seit er Irmgard Keuns Geschichte kannte, hatte sich etwas verändert; er konnte nicht mehr unwissentlich, unbefangen in einen Zug steigen, den die Kölner Kollegin im April 1935, im selben Bahnhof, bestiegen hatte, und wenn er an der Gare maritime ausstieg, sein erster Blick ging dann zu den kleinen Hotels hinüber; in einem dieser Etablissements war sie untergekommen, hatte sie aus dem Fenster hinab auf das Reisegewimmel des Bahnhofs gesehen. Als Jörn dort zum allerersten Mal angekommen war, lag der Bahnsteig ziemlich leer; nur wenige Reisende waren ausgestiegen, ein naßkalter Nachmittag im Februar, vom Hafen her kam Wind. Jörn wußte nicht wohin. Auf dem Platz vorm Bahnhof stehend sah er, daß Schiffsmasten hin und her schaukelten im Hafenbecken schräg gegenüber; er nahm seinen Koffer auf und ging hinüber zum Kai, der sich am Hafen entlangzog, vorbei an kleinen Hotels, Restaurants, Kneipen und Bars, vorbei am dümpelnden Fischkuttern und Jachtbooten, bis sich der Hafen zum Meer hin öffnete. Die Straße bog auf die Uferpromenade; sie lag hoch überm Meer, aber Flut war, wogte die Brandung bis an den Rand des Ufergemäuers, spritzte Gischt übers Eisengeländer der Promenade. Jörn ging an der Reihe der hohen, schmalen Appartement-Häuser lang, zwischen denen er, an einer Straßenecke, ein Gebäude, das mit seinen fünf Stockwerken niedriger war, stehen sah, das Hotel Die Prince. Er betrat das Hotel, als würde er es längst kennen, als hätte es auf ihn gewartet, und das Zimmer mit Blick aufs Meer wäre bestellt. Es schien nur ein paar Gäste zu geben; in der winzigen Reception sah Jörn am Schlüsselbrett fast alle Zimmerschlüssel hängen; der junge Hotelier fuhr ihn mit dem Aufzug hoch in den fünften Stock und zeigte im Zimmer zum Fenster. Das Meer. Jörn öffnete das Fenster und sah, wie die Brandung heranrollte und der Gischt aufs Trottoir schlug. Es dämmerte; auf der Mole drehte sich der Scheinwerfer des Leuchtturms; ein Fährschiff lief aus, Richtung England. Als kleiner Junge hatte Jörn im Bücherregal der Mutter ein Buch entdeckt, das er in seiner Begeisterung für die Jagdfliegerei gleich zweimal las: Der rote Kampfflieger, von Manfred Freiherr von Richthofen. In einem Kapitel, das auf Seite 70 begann, beschrieb das berühmte Flieger-As seine Versetzung von der russischen Front an einen Ort, dessen Namen Jörn zum ersten Mal las. »August 1915 traf ich in Ostende ein.« Ost? Ende? Jörn fragte gleich die Mutter. Sie legte ihm seinen Schulatlas hin. Sieh mal nach, Belgien, die Küste. Jörn mußte nicht lange suchen. Er sah, daß gar nicht so weit von seiner Heimatstadt entfernt das kleine Belgien anfing und am Meer auch schon wieder aufhörte, und dort an der Küste fand er auch den Ort, dessen Name ihm so sonderbar, und wenn der Junge das Wort schon gekannt hätte, so magisch vorkam: Ostende. Seitdem war der Name in seinem Kopf hängengeblieben, und obschon er keine Vorstellungen von der kleinen Küstenstadt hatte, sie bezeichnete einen topographischen Punkt auf der Landkarte seiner Sehnsüchte und Imaginationen. Es gab mehrere solcher Orte, die Jörn auf seinen Atlas-Reisen entdeckt hatte, aber Ostende lag dem

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Rheinland so nahe, am nächsten. Nach der Flucht aus der Ostzone war Jörn wieder im Rheinland, aber wenn er geglaubt hatte, das Thüringer Kapitel seiner Biographie sei abgeschlossen, die Erinnerungen waren bald nachgekommen, und auch die Ängste waren wieder da. Mit dem Korea-Krieg, Anfang Fünfzig, war das Gespenst des Krieges wieder unterwegs. In drei Tagen wäre der Russe am Rhein. Der erste Kriegs-Witz machte die Runde: am Kamener Kreuz würden die russischen Panzer steckenbleiben im Stau. Aber die Öllieferungen stockten, und die Familie rückte in dem kleinen Zimmer zusammen, in dem noch der Kohlenofen stand; Vater und Sohn begannen wieder, aus dem nahen Diepeschrather Wald Brennholz heranzuschaffen. Korea war längst überstanden, aber das Trauma hatte die vermeintlich vergessenen Schrecken mobilisiert, und Jörn spürte, wie in seinem Kopf wider die Flucht-Impulse tickten. Wenn der Russe durchbricht, nichts wie weg. Handkarren, Fahrräder, Fluchtweg wohin? Westwärts, Belgien; nach Belgien würden sich auch die belgischen Besatzungskräfte zurückziehen, in den Ardennen sich noch einmal verschanzen, aber wie lange sie ihre Stellungen halten würden… ganz klar, der Fluchtweg ging zur Küste, nach Ostende, hier endete der Osten, vielleicht noch eine Fähre hinüber nach England … ein Wirrwarr von panischen Vorstellungen, sagte Jörn, die sich noch am konventionellen Kriegsgeschehen orientierten, eher wäre ja ein Atomschlag zu erwarten gewesen, da wäre man mit dem Fahrrad nicht weit gekommen, aber dennoch, der Flucht-Gedanke spukte eine Weile noch im Kopf, und Ostende blieb der magische Ort, der alle Illusionen wachhielt. Als Jörn zum ersten Mal hinfuhr, erinnerte er sich an seine Ängste, aber sie fuhren nicht mehr mit. Er ging durch die Stadt, als bewege er sich durch einen Traum. Was er wahrnahm, kam ihm vor wie eine Bilderfolge von Imaginationen. Er saß in einer Straßenbahn, die entlangfuhr am Meer. Er stand am Meer im Gedonner der Brandung, in der Erwartung, daß die Wellen ihn mitnehmen und nicht mehr zurückbringen würden. Die Fährschiffe nach England, er überlegte, nach England zu verschwinden. Kneipen gab es, aus denen er morgens erst herausfand. In seinem Zimmer im Hotel saß er am Tisch und beobachtete die Möwen, die draußen auf der Fensterbank saßen und auf den Mann im Zimmer blickten. Im Nebel tutete alle fünf Minuten das Nebelhorn. Jahre später, nachdem er Irmgard Keuns Exil-Erinnerungen gelesen hatte, nahm Jörn sich vor, ihre Bekanntschaft zu suchen und mit ihr darüber zu sprechen, über Ostende und ihre Erfahrungen in der Emigration. Einmal hatte er sie in einer der Boheme-Kneipen, in der Kleinen Glocke, sitzen sehen, in einer Bankecke zwischen laut redenden Leuten, die alle betrunken waren. Salamander sagte, die Keun ist immer betrunken. Einmal hatte Jörn vorgeschlagen, sie in ein Interview zu holen mit Werner Höfer im Deutschlandfunk, aber Höfer hatte abgewinkt. Ihre Bücher waren neu aufgelegt worden, und eine Zeitlang war Irmgard Keun regelrecht berühmt. Aber sie schrieb nicht mehr, und Albrecht Fabri, ihr Wohnungsnachbar in der Trajanstraße, schüttelte den Kopf. Jörn zögerte, bis es zu spät war. Er schrieb dann ein Radiostück, in dem die Gare maritime, der Bahnhof am Meer, vorkommt mit Stimmen, die von Richthofen und Irmgard Keun erzählen, und das war seine

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letzte, imaginäre Reise nach Ostende gewesen. Einmal hatte er im Bahnhof in Köln den aushängenden Fahrplan studiert; einen durchgehenden Zug nach Ostende gab es nicht mehr.2

Das ist nun eine Art Zeitrahmen: Anfang der sechziger Jahre die Felder und 2015 diese Art, Vergangenheit zu vergegenwärtigen oder die Gegenwart zu befragen, was darin an Vergangenheit enthalten ist. In den Jahrzehnten zwischendurch habe ich Verschiedenes geschrieben, unter anderem auch Gedichte. Die erste war aber eine experimentelle Phase, in der für mich keine Gattungen mehr zu existieren schienen, da ich meinte, sie eingeschmolzen zu haben in einer Schreibweise, die ohne Gattungen auskommt. Das war ein Verfahren, das mich nicht in eine Sackgasse, aber irgendwie zu etwas führte, wo ich mich fragen musste: Wird das nicht Konventionelle selber zur Konvention oder wird die Deregulation nicht zur Regel – oder das Informelle verfestigte sich nicht zum Format. Eine Frage, die mich soweit beschäftigte, dass ich eine Weile gar nichts schrieb, bis ich dann wieder anfing, Gedichte zu schreiben, also diese Dinge wieder auseinandernahm: Für die akustischen Impulse schrieb ich Hörspiele, für die erzählerischen Impulse kam Prosa und für die lyrischen Impulse entstanden auch wieder Gedichte. Dazu gehört Das Ende der Landschaftsmalerei – und auch der Titel: Die Landschaftsmalerei hat natürlich nie aufgehört, aber eine bestimmte Art von Landschaftsmalerei – oder eine bestimmte Art von Landschaftauffassung – hatte für mich aufgehört. Ein endgültiger Abschied von der Idylle oder von der Erwartung, dass Natur vorhanden sei. Oder, anders gesagt, Entdeckung einer Landschaft als das, was wir herstellen und zerstören und kaputt machen und worin wir uns täglich aufhalten. Dazu einige Gedichte aus dieser Zeit, Anfang der 70er geschrieben. Parallel dazu existieren einige Fotos, die ich 1972 in New York machte, als ich da war, in der Nähe von Andy Warhol, die erst vor kurzem als Buch erschienen sind. In der Nähe von Andy Warhol als er dann wankte und umfiel, der Schwarze auf dem Union Square, hob ich ans Auge die Kamera und sah im Sucher, daß er liegen blieb zwischen den gehenden Leuten3

Nun mache ich den nächsten Sprung – zu einem Gedichtband, das 1995 erschienen ist, Foxtrott im Erfurter Stadion. Da hat Wirklichkeit – die Zeit, die Geschichte 2 3

Jürgen Becker: Jetzt die Gegend damals, Berlin: Suhrkamp 2015, S. 154–160. Jürgen Becker: Das Ende der Landschaftsmalerei. Gedichte. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1974, S. 46.

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– mitgeschrieben. Da war inzwischen die Mauer gefallen, da gab es die deutsche Einheit wieder und das waren Dinge, die mich aus vielerlei Gründen persönlich sehr berührt und betroffen hatten. Und in dieser Situation, in dieser Gegenwart, schrieb ich wieder lange erzählende Gedichte. Da nahm ich etwas wieder auf, was ich früher in Rom angefangen hatte, das Fragment in Rom, das 1965 entstand und 1971 vom Literarischen Colloquium im Bändchen Schnee gedruckt wurde. Foxtrott im Erfurter Stadion – ein erzählendes Gedicht, das quasi wie ein Journal geschrieben ist. Dazu neige ich oft: Ich kann nicht sitzen und warten, bis mal wieder der Einfall zu einem Gedicht kommt. Nein, ich muss eine längere Strecke vor mir haben. Es gibt einen bestimmenden Impuls, einen Einfall vielleicht, einige Zahlen. Und die können schon nach einer halben Seite zu Ende sein. Es kann aber auch sein, dass ich merke, da kommt ein Thema, ein Motiv zum anderen. So ein Gedicht zieht sich hin und da kann ich wochenlang daran sitzen und von diesen Wochen erzählt dann das Gedicht. Kirschzweig mit Nachrichten Telefon spät. Man sieht sich so selten; das war einmal anders . . . was soll ich sagen, wenn dies der nächste Meinungstest ist? Ein Scheibenstück Mond, im Fensterausschnitt, hat sich gezeigt hinterm schwarzen Geäst . . . ich erzählte es schon, falls dein Finger auf der Taste liegt. Nachmittags waren zwei Spechte im Baum; das waren nachmittags die Geräusche. Der folgende Film: ein Punkt, der leuchtend fliegt und zersprüht; N. legt die Platte mit Stardust auf; die Gäste stehn auf und das Zimmer wird leer. Scheinwerfer unter den Brücken; kurz blitzt im Hintergrund die Kamera; wir fahren weiter leichtfertig und frei. Die Eule sitzt überm Hohlweg, und wenn sie nur hustet, passiert zunächst nichts. Oder ein rasches Aufglühn im Kirschbaum, so näherte sich schon der Sommer . . . ja, Sommer mit seinem heiteren Geklirr der Marmeladengläser, Limonaden, oder was fluchst du im Heizungskeller herum . . . du suchst nach alten Straßenkarten aus dem Reich? BP-Olex‚ Ordensburg und Fremdenzimmer, verlegene Mädchen nach den Manövern, komm, gib mir meine Feldpost zurück. Aber

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du telefonierst, verbringst im Vorzimmer den Frühling, tippst in den Bildschirm unverständliche Daten. Irgendwo summt es, nein, sirrt es, oder ist es das leise Zischen im Ohr, das nie nachläßt, nie in die Nähe der Schmerzgrenze kommt . . . man hört nichts in diesen hellen, kommunizierenden Räumen, die asbestfrei möbliert sind mit Palmen. Draußen die Räumfahrzeuge, zwei Pferde fern auf der Koppel, auf Bretterzäunen Plakate der Utopie, dahinter Würstchenbuden, Wind überm Sportplatz. Laß uns gehn. Die Kellnerin zieht den Block aus der Schürze und rechnet. Die Nacht wird es schneien, und als du anriefst, war die Wiese schon weiß. Zu spät zum Fahren. Zu spät das Ticket Amsterdam: Mr. Chet Baker hat sein Hotel schon verlassen. Bleib bloß jetzt liegen, still, am Ufer der Introversion, die vielleicht ein Photo einbezieht mit ’ner Trompete, geschultert über dem T-Shirt, das all die Zeit (die vergessene Zeit zählt immer mit) ein schneegrauer Flecken war. Die Kälte hatte andere Namen, suchte sich Flächen, Erdteile aus, die mit unseren Stimmungen nicht korrespondierten, oder die Leitungen brachen zusammen, und zu stottern begann im Studio unser Mann. Alles Sache von Agenturen, die immer ganz nahe dran sind; so sieht es aus, aber wer ist der Fremde, der in der Dämmerung jetzt übers Feld geht und plötzlich verschwunden ist? Mach die Nachrichten an, halbstündlich. Sieh nach, ob Tesa-Film im Haus ist. So viele Kleinigkeiten liegen herum, die für Unruhe sorgen, Schlaflosigkeit, Gebirge aus Skrupel und Altlast. Dick wird das Öl, ich pumpe und pumpe gegen die Kälte; Krähen mit dem Wind aus Nordost. Vermutlich sind die Vorgärten Vermint. Kann sein, der Geruch dieser Veilchen lähmt uns die Lunge. Noch einmal abends zu den Vernissagen; aus Wellpappen ein Horizont, auf den du Konzepte des Weiterlebens projizierst; vom Überleben erzählen

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die Photos, die eine Gedächtnisspur ziehn zwischen Bunker und Funkkantine; im Sommer danach begann die erste Lügengeschichte des Friedens. Schlagbäume über dem Dorfweg; Schneisen durch Harz und Thüringer Wald mit Hochständen, Feldstechern, Fahrradpatrouillen; bald fielen die ersten Schüsse; die beiden Särge holten wir auf dem offenen Lastwagen heim. Eine nie erzählte Geschichte, so viele Andeutungen, Zitate, Variationen aus den Fluchtkoffern und Rucksäcken im hintersten Keller schon hervorgeholt sind. Zu lang die Liste, die Zuhörer schlafen ein oder haben Mietwagen bestellt; es gibt auch keine Bar in der Nähe, wo eine Rosetta spät noch Vorbeikommt . . . vielleicht das Zeitalter verwechselt; nun findet man sich, nach aller Angst, in der Fußgängerzone wieder. Fahrt weiter nach Nizza; die Reichsbahn für die alte Verwandtschaft; Anklam, Wernigerode; aus Werder kamen die Gurken. Immer noch keine Verbindung, besetzt schon die Vorwahl, das wird aus Telefonen ein riesiger Schrottberg; die Daten, die wir austauschen wollten, sind längst veraltet. Nachts kann ich euch hören auf Langewelle, da ist der Deutschlandsender wieder, das Rauschen der Kiefernwälder von Königs Wusterhausen. Bellte, oder wie hieß es, die Flak? In der Stille begann der Drahtfunk zu ticken; am Rand der Chaussee hüpften Krähen hin und her zwischen den Ebereschen. Ich bewege mich, und der Korbsessel knarrt. Da liegen noch Rechnungen, verschobene Termine; der Fragebogen folgt der Spur eines alten Romans, der jetzt ein paar Fortsetzungen vorschlägt. Dann knarren die Fensterläden; es ist eins der letzten Geräusche in unserer Gegend, das aus der gewesenen Zeit kommt und den Abend ums Haus stellt. Ums Haus gehn im Lichtschein der Satelliten, im knirschenden Schnee; seit Jahren knirschte über den Hügeln des Dhünn-Tals der Schnee nicht; am Wochenende wagten wir uns auf den zugefrorenen Waldteich und schlitterten Bahnen

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übers Eis. Schlittschuh-Gespräche; zur Schule übers hartgefrorene Schneebrett der Straße; Wettläufe, Foxtrott im Erfurter Stadion, bis die Kondensstreifen zogen hoch durch die blaue Luft. Komm zurüüück; die Lautsprecher zogen die Sehnsucht der Mädchen in eine Leere, die der Urlauberzug auf dem Bahnsteig zurückließ; vielleicht, ich warte auf dich, sah man sich wieder sonntags in der Matinee im Ufa-Palast. Das laufende Repertoire, oder: Alles noch einmal, aber so kommst du nicht, wie mans erwartet, hoch aufs Trapez; es fehlen auch noch zu viele Details, die im Traum, im Netz der Gleichzeitigkeit, ganz selbstverständlich Verfügbar sind. Immer ein Leck, ein poröses Geweb, ein plötzlich leerer Speicher, auf dem man frierend herumsteht, bis man zwischen den Sparren den Kinderschuh, ein Stück Zeitung entdeckt. Die Chronik der Dinge, Tschaikowsky-Walzer in der Wochenschau, am Ufer saß ich fischte, die öde Ebne im Rücken. Der Morgen beginnt mit verfließenden Bildern; der Versuch zu Verschwinden endet im Stau auf der A4: laufende Rendezvous auf dem Autobahnring. Zu Hause bleiben . . . ja wenn im Büro man der Älteste ist; ist das die gemeinte Zukunft . . . sehr wichtig, daß Fabers Bleistifte bleiben, daß sich Rinnsale durchsetzen, Türen plötzlich aufgehn im System. Gestern im Lift der Knoblauchgeruch; der Gang übern Flur ging gleich hinaus in die Steppe, oder war es eine Haltestelle in Lissabon . . . die Volontärin verstand nicht, als ich nach Seminaren fragte, wo man das Bunte, die nutzlosen Kringel, die Geräusche des Phantasierens studiert. Die Möwe vor den Fensterfronten zieht durch die Luft einen Weg, der zur Küste führt, dahinten, hinter den Antennen, und im Anrufbeantworter meldet sich die See, und wenn du wartest, schreib ich dir ’ne Ansichtskarte aus der Kantine; wir sitzen in einem hoch gezogenen, glitzerndem Würfel. In Aussicht

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einige Variationen, Standortwechsel, Bewegungen in der Struktur; bei diesem und jenem Risiko greift der Sozialplan; bloß diese Zinsen und langfristigen Biotope, diese Wochenendtrips zum Weinlieferanten im Elsaß‚ da muß einer was sagen, was tun, wozu hat man treu mit Spenden, Beiträgen etcetera . . . eine gewöhnliche Rechenaufgabe, die Verlorenes und Gewonnenes nach allen Seiten verteilt; irgendeiner kommt immer zu kurz. Die ärmsten Schlucker leisten sich neue Briefköpfe, Seidenpapier, Adressen mit französischen Namen; dann fällt der Strom aus, Briketts auf Bezugschein, der Briefträger streikt. Qualm der Geschichte. Eine kaum begriffene Lektion; die Kamera zeigt Minister, Streichquartett, pensionierten Geheimdienst; nachts kriechen Marienkäfer über die alten Märchen aus Bagdad. Mehr wissen unsichtbare Zensoren, die auf den Vorbeiziehenden Sternen untergebracht sind; sie kümmern sich um Stimmung und Front, den Spurenverlauf vom Schnee in die Wüste, Verzögerungen in der Logistik. Wo im Dickicht die Maus wühlt, die Schleiereule hört es vor ihrem lautlosen Anflug, und auf dem Monitor siehst du, bevor er sich auflöst, den Punkt, auf den es ankommt. Es kommt nicht auf Zielgruppen, sondern (es ist keinerlei Trick und nichts Virtuoses) auf Ziele an, die man erst unterwegs sieht, selbst wenn man sie lange zu kennen meint; es ist wie Sprechen, das nach den Wörtern sucht, die allesamt doch Vorhanden sind. Nichts, gar nichts vorhanden; man finge sonst nicht immer an, auf leeren Blättern neue Linien zu ziehen, die irgendwo draußen die Ränder des Paradieses berührten. Unendliches draußen, auch wenn es nur die geschlossene Schneedecke ist, die seit Tagen unsre Schuppen und Scheunen umgibt. Nächtelang weißes Stürmen; Eis in den Fensterritzen, die wir mit Decken verhängen; das Haus voller Holz, Kerzen und Branntwein; Mühen

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und Sorgen, die über diesen Winter hinausgehn; ich erzählte dir abends von Kriegsfrost, Schneehemden, Reisigbündeln und aufgetauten Kartoffeln; die Reste des Jungzugs am glühenden Öfchen. Am Horizont unbewegt die hellen Versprechen; mitten unter den Leuten schlägt man sich eine Gasse frei; die Herren vom Hochsitz schon weg in verdunkelten Coupés. Friedliches Singen schwillt an; Krachmacherei, weil wieder keiner die Stille aushält, das unsichtbare Zeichen der Angst. Vom Ufer, wo zwischen den Büschen die Angler sitzen, feuern plötzlich Maschinengewehre; wenig passiert; die Uferstraße bleibt weiter passierbar, und junge Leute mit schwarzen Tüchern betreten die Diskothek. Kunstpädagogen malen den ganzen Tag Tauben; abends wird an Gebeten gestrickt und der Kräutertee gerät in Bewegung. Rundum laufend Engel am Telefon; winzige Namen verlängern die Liste; noch eine Wortmeldung, aber die Nachbarin geht erst mal kegeln. Gut so. Falsche Richtung; das kommt, weil das Lesen von Meßtischblättern kein Studiengang ist. Man fährt all diesen Schildern nach; am Kamener Kreuz wären die russischen Panzer steckengeblieben im Stau. Feldwege sind mein Geheimtip, und jeder Zaunpfahl hilft beim Festhalten einer Herde Metaphern. Du kannst sie zählen, mit Stempeln versehen, verkaufen . . . nein, besser vermieten an Studios, die Schmuggel, Wildnis produzieren. Es zählt: nur der Schmerz, der genau ist; am Ende aller Migräne kauft man die Eigentumswohnung, den Dachgarten, wo du frühstückst in der Februarsonne. Zähl weiter; nächste Objekte, Müggelsee, Meiningen‚ Klassikprogramm; Reisekader gehen rüber zum Imbiß; Frankfurter, Wiener, Senf und die Selbstbedienung Europa. Rostfarbene Waggons, ein Radiogeräusch, das Erinnerungen transportiert vorbei am Gartengelände, durch Dunststreifen im September, der mit der Reihe Sonnenblumen zurechtkam für Spähtrupps, Flüchtlingskinder, ein paar

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Emigranten. Weit weg die Küsten, die Gassen zum Hafen vorbei an Cafés, wo großes Geschacher lief mit Kellnern, die zwischen den Himmelsrichtungen schielten und pfiffen für eine Taxifahrt ab ins Casino. Marine las Valéry; im Scherenfernrohr die endlose Dünung, bis eines Morgens die Fetzen von weißen Schals in leeren Wintergärten hingen; den Klavierdeckel hatte der jüngste Fähnrich zugemacht. Die Runde Korn kam später; dann sackten wir im Tauwetter ab; im Matsch die Offensive blieb liegen. Was auf die Leute niederging, war neben dem Bombenhagel der Beschuß durch die eigene Propaganda; versehentlich traf den Konvoi ein Schneeball. Aber alle Gespräche auf Band, und große Vogelschwärme sind unterwegs; nachts hörst du die Bewegung der Luft, den unsichtbaren Strom einer Reise, die von ihren Genauigkeiten nie abweicht. Mal wieder Bescheide, die freundlich, verständlich sind . . . na bitte, ans Fenster rührt der verloren geglaubte Kirschzweig; spät nachmittags glitzern die Pfützen auf, und der Schreiner bringt noch die Sommermöbel. Sitzt du am Telefon? Komm besser nach, heute abend; ich habe so lange dein Gesicht nicht berührt; das Licht draußen lasse ich an.4

Der nächste Sprung führt uns zum letzten Gedichtband Scheunen im Gelände, ein Buch, das mit Collagen von Rango Bohne versehen ist, die Malerin, mit der ich verheiratet bin. Es ist oft so, dass ihre Bilder und Collagen mich zu einem Text anregen und das bringen wir dann zusammen in einem Buch unter. In diesem Buch sind zehn Collagen von ihr mitgedruckt, auf die ich Gedichte geschrieben habe – Gedichte, die die Bilder nicht interpretieren, die aber das Motiv aufnehmen, das das Bild abgibt, und daraus ein eigenes Bild, ein Wörterbild machen.  Wiederholtes Motiv Wälder, die Überlandleitung. Es brauchte Jahrzehnte, um herauszufinden den Weg, den man ein zweites Mal geht. Ein Sommertag vor dem Krieg. Die Beteiligten, 4

Jürgen Becker: Foxtrott im Erfurter Stadion. Gedichte. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1993, S. 20–27.

Programmgedicht – Wiederholung – vorläufige Topographie

die es hätten erzählen können, können nichts sagen. Der Häher rätscht, als er uns kommen sieht. Wir kommen nicht weit. Die Wälder sind endlos. Beteiligt war ein unauffindbares Automobil, der Zaunverlauf, Gemäuer mit wucherndem Efeu.5

So sieht es im Buch aus: auf der einen Seite ein Bild mit dem Text, auf der anderen eine Collage, wo man im Hintergrund Pappeln sieht. Eine Reihe mit Pappeln, Pappeln und Wörtern von Felix Hartlaub, einem Autor, den man heute kaum kennt, der seit Ende des Krieges in Berlin verschollen ist. Er hat ein Kriegstagebuch geschrieben, das mich sehr beschäftigt hat, und aus diesem Buch zitiere ich gelegentlich: Pappeln und Wörter von Felix Hartlaub In der Nacht waren die Pappeln zu hören, obschon es so nahe, daß man sie hören konnte, Pappeln nicht gibt. Anfang September. Beginnt die Spule zu laufen, stellten die alten Sätze sich ein. Der Sommer steht noch in den Tabakfeldern; die Frauen kommen aus der Stadt und tragen die Arbeitskleidung von Männern. Die stimme, die alles nacherzählt, sucht nach fehlenden Resten. Zeitungsfetzen, Todesanzeigen; die Städte haben längst andere Namen. Wie kann man die Stimmung in jenen Tagen beschreiben (der Filmtitel, der einem einfällt, gehört hier nicht hin) – die Kinder spielten einfach weiter, und Feriengäste promenieren zwischen Waldesruh und Schöner Aussicht. Möglich das Brummen der Ju 52; sanft schaukeln auf Gummireifen Fuhrwerke durch die Allee; der Küstenwind schiebt quer übers Land die Machtgebilde der Wolken. Die Nachtwache horcht, das Fallobst schlägt auf. Man sieht nicht, wie es enden würde. Man sieht es auch jetzt nicht, wenn man die Ansichten, die Alben, das ganze Kartenmaterial 5

Jürgen Becker: Scheunen im Gelände. Gedichte. München: Stiftung Lyrik Kabinett 2012, S. 15.

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zur Hand nimmt. Kein Güterzug kommt, die Bahnschranke geht nicht hoch, der Leiterwagen steht. Die Jahreszeit stellt das Jetzt wieder her, das stapelweise in den Schubladen liegt. Die Maisfelder rascheln; Staub weht der Mäher bis hinein in die Siedlung; ein Fesselballon steht über den Kühen.   Der Gang zum Fenster, der Blick auf die Landschaft, wo die Bilder der Gleichzeitigkeit erscheinen, für einen Moment, dann sind sie wieder verschwunden, bis auf ein paar Wörter, Anfang September, Wagenkolonnen, Eimer mit Fallobst, Pappeln und taunasse Wiesen.6

Und zum Schluss lese ich das Eingangsgedicht des Bandes: Programm mit Wiederholungen Nächste Seite, alles         fängt noch einmal an. Die Einspruchsfrist. Die Kolonne der Zahlen. Der Landschaftsentwurf. Man wählt eine andere Farbe; es fallen einem Namen ein, Kreideschriften, weggewischt von einem Schwamm; man hört, wie der alte Wecker getickt hat.     Man weiß wieder, wo es langgeht; kann sein. Ein jäher Stimmungswandel ist es nicht; die Leute sprechen in Zusammenhängen, in die man sich erst hineindenken muß. Flußabwärts findest du die Quelle nicht; umgekehrt wär’s ein Suchvorgang, das Suchen nach dem Zeitungszitat.             Oder man geht vor die Tür, wenn das Ochsengespann den Heuwagen vorbeizieht, unendlich langsam, daß man nicht merkt, es sind ein paar Jahrzehnte vergangen.     Kein Wiedersehen mit der Vorhut; sie ist keine Vorhut mehr.         Aufhören geht nicht. Das Spiel hat gerade erst angefangen, und alle Zuschauer sind noch nicht da. Das Geschehen weitet sich aus; in Sichtnähe bleiben die wenigen Einzelheiten, die bald oder irgendwann 6

Ebd., S. 99.

Programmgedicht – Wiederholung – vorläufige Topographie

später entscheidend sind.           Im Hintergrund die Hügelreihe; der Fensterblick, an dem sich nichts ändert. Es geht nicht um Neuigkeiten, die per Knopfdruck zu haben sind; bloß musst du wissen, wann du die Wäsche hereinholst; nachmittags soll es ja regnen.   Stimmen … es soll ja verhandelt werden über Fristen, Zahlen, Entwürfe, und man sollte dabeisein, auch wenn man nicht viel zu sagen hat. Nicht neu ist das Durcheinander der Kausalitäten; im Nachhinein hat jeder schon alles gewußt.           Abends sind wir ein bißchen weiter. Der Stau hat sich aufgelöst, der Wagen steht seufzend in der Garage. Es läuft ein Film aus den Vierziger Jahren; die Küchenuhr stockt, sie braucht neue Batterien.7

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Ebd., S. 7–8.

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Die Gegenwärtigkeit des Geschriebenen · Jürgen Becker im Dialog mit Valentina Di Rosa und Jan Röhnert1

Valentina Di Rosa: Durch Ihre selbstkommentierte Textauswahl haben Sie einen Weg durch die fünf Jahrzehnte nachgezeichnet, in denen Ihr Werk entstanden ist. Dabei ist das Stichwort „Journal“ öfters gefallen, das wohl auf eine konstitutive Chiffre Ihrer Poetik verweist – einerseits ein offenes Gattungskonzept, dem sich das frei assoziierende Motivgeflecht Ihrer Prosa- und Lyrikpartituren verdankt, andererseits ein ästhetisches Verfahren, das das tägliche Handwerk des Schreibens mit reflektiert. Inwiefern wird Ihre literarische Inspiration durch die unmittelbare Gegenwart mitbestimmt? Wie würden Sie dieses Verhältnis zum jeweils konkreten Alltagsgeschehen charakterisieren? Jürgen Becker: Ich weiß nicht mehr genau, wann es war … oder doch. – Es war beim Gedichtband Erzähl mir nichts zum Krieg, der Mitte der siebziger Jahre entstanden ist, das war eine besondere persönliche, private Konstellation: Bei mir schreibt immer Umgebung mit, Wirklichkeit, der Ort, an dem ich mich befinde, oder die Verhältnisse, wie sie mich beschäftigen. Es kommt also nie etwas aus dem Nichts, aus der Sprache selber. Sprache entsteht bei mir immer nur dann, wenn aus dem Wirklichen ein Impuls kommt. Bei diesem Buch merkte ich also, ich versuche jeden Tag zu schreiben. Damals war ich festangestellter Redakteur im Deutschlandlandfunk und ich hatte nur den Abend Zeit. Um im Grunde diesen Fulltime-Job auszugleichen oder die Gegenstimme dazu zu liefern, dachte ich, ich muss jeden Abend die Energie aufbringen und an diesem Text weiterschreiben, den ich irgendwann angefangen hatte. Ich habe in einem gewissen Sinne so eine journalistische Antenne, auch beim Schreiben, für das, was der Tag gerade hervorbringt, ob das motivstiftend sein kann. Nicht, dass der Tag selber im Text sich abbildet, aber irgendetwas gibt der Tag von sich, wenn es auch nur eine Erinnerung ist, an einen anderen Tag oder an ein Getränk von diesem Tag. Wenn ich abends etwa noch ein Bier getrunken habe, aber das schmeckt mir nicht, weil es zu bitter ist, dann kriegt der Tag so einen bestimmten Akzent, irgendeinen Impuls, der aus einem 1

Wir danken Adele Sorice und Luigia Tessitore für die Unterstützung bei der Erstellung des Gesprächstranskripts.

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Tag herauskommt. Und der kann ins Schreiben hineingehen. Das habe ich später gewissermaßen systematisiert bis hin zu diesem Begriff „Journalroman“. Das heißt aber nicht, dass ich jeden Tag dasitze, wie ist das Wetter, was sagen die Nachrichten. Es ist eher ein Schreibprinzip, das sich öffnet für das augenblicklich Geschehende, so wie Peter Handke es einmal formuliert hat: „Chronik der laufenden Ereignisse.“ Wobei nicht jedes Ereignis gleich wichtig ist, nicht jedes Ereignis führt zur Sprache. Es ist aber eine Offenheit, eine Aufmerksamkeit gegenüber dem täglichen Geschehen. Und dieses tägliche Geschehen wiederum ist Produkt dessen, was irgendwann früher mal passiert ist. Und da interessiert mich dieser Zusammenhang zwischen dem jetzt Geschehenden, dem ich versuche, sprachlich zu folgen, und den Ereignissen, die drei Tage zurückliegen, oder 30 Jahre oder noch länger. Das ergibt eine Art von Gleichzeitigkeit im Kopf, ein Bewusstseinsvorgang. Und dem komme ich nicht bei, indem ich einen Roman schreibe, sondern es ist ein journalhaftes Verfolgen dessen, was geschieht – in meinem Kopf, in der Wirklichkeit, um mich herum, in der Vergangenheit, in der Vergegenwärtigung der Vergangenheit, im jetzt vergehenden Augenblick.

Jan Röhnert: Bis heute ist dieser Blick auf die Gegenwart, wie Sie ihn gerade beschrieben haben, prägend geblieben. Wo liegt denn für Sie der ‚Mehrwert‘ dieses intendierten Akzents? Jürgen Becker: Mir fällt nichts anderes ein! Ich bin nicht der Typ Schriftsteller, der aus sich heraus Welten entwickelt, Augenblicke erfindet, der Phantasie hätte, der gegenüber der Realität eine ästhetische Realität aufbaut – ich bewundere das, aber das kann ich nicht. Ich habe es hier und da versucht, aber dazu fehlte es an Kraft, an Einbildungsvermögen. Nein, ich bin eher sehr beschränkt in meinen Möglichkeiten, ich bleibe an dem, was ich täglich erfahre, was ich erlebe. Ich bin insofern ein Erlebnisdichter – ganz in diesem Klischee gedacht: Was ich nicht erlebt habe, kann ich auch nicht beschreiben. Es kommt jetzt nicht auf jede Einzelheit an, aber das Maß der Erfahrung, das Maß des Erlebens ist irgendwie motivstiftend. Ohne die permanente Erfahrung, die Erinnerung an die Erfahrung, entsteht bei mir nichts. Ich bin so ein Medium, das aus lauter Wahrnehmungen besteht und, älter werdend, aus Erinnerungen vor allen Dingen. Dann bleibt einem nichts anderes übrig. Insofern mache ich es mir sehr einfach: Ich suche gar nichts anderes mehr, ich halte mich an das, was da ist – und das ist oft sehr kümmerlich, sehr wenig, und entsprechend sieht der Text dann auch aus…! Oder die Erinnerung ergibt plötzlich einen neuen Weg. In diesem neuen Buch beschäftige ich mich damit, dass die Erinnerung allmählich anfängt zu vergessen, was sie alles schon weiß. Oder, anders gesagt, meine Erinnerung sagt mir, was passiert ist – nur: darüber hinaus ist viel mehr passiert und da greift meine Erinnerung nicht hin. Und woran liegt das? Hängt es irgendwie mit meiner Sprache zusammen, dass meine

Die Gegenwärtigkeit des Geschriebenen

Sprache nur das findet, oder dass nur das vorkommt, wohin meine Sprache reicht, oder lässt das Gedächtnis nach, oder habe ich es vergessen? Diese Bewusstseinsvorgänge, die Vergegenwärtigungsprozesse, die sind es, die mich zum Sprechen, zum Schreiben bringen. Insofern bin ich immer drangeblieben – ja, solange die Dinge an mir auch bleiben. Davon hänge ich natürlich ab, dass Dinge mich berühren, dass ich das Gefühl habe, dass irgendein Motiv von mir Besitz nimmt. Ich suche mir nicht Motive aus und sage: Dieses ist ein Motiv. Nein, das Motiv muss mich aussuchen, etwa diese Pappelreihe dahinten… irgendwann, auf einmal, hat sie mich erwischt und dann entsteht ein Gedicht oder viel mehr noch. Was davon bleibt, kann ich nicht beurteilen, das müsst Ihr dann als Literaturhistoriker wissen und definieren… dafür seid Ihr da! Mich interessiert nur das, was meinen Satz hervorbringt. Aus diesem einen Satz entstehen mehrere Sätze, dann ein Gedicht, ein Text, und so kommt es zu einem Buch…. Gut, ich bin eitel und denke, was geschieht jetzt damit. Gibt es eine Kritik oder so. Und dann ist es schon ein Mehrwert, wenn sie positiv ausfällt…. Aber der Text ist geschrieben und darin besteht das Berufsrisiko: Geht er unter oder kommt er an. Das müsst Ihr wirklich wissen, da sind wir Autoren von unseren Interpreten und unseren Kritikern abhängig. Ihr sorgt dafür, dass das, was wir schreiben, erstmal verständlich gemacht wird.

Valentina Di Rosa: Indem Sie ihr subjektives Verständnis von Gegenwart (und Vergangenheit) erläutert haben, haben Sie die Frage nach den Sedimentierungsformen der individuellen sowie der kollektiven Geschichte mit thematisiert. Sie haben einen Bogen zwischen „Jetzt“ und „Damals“ im Zeichen einer leimotivischen Kontinuität gespannt und sind dabei eben von Ihrem ersten Band Felder ausgegangen – welche Traditionslinien waren für Ihre literarischen Anfänge bestimmend? Jürgen Becker: Wenn man anfängt zu schreiben, beginnt man als Epigone: Ich hatte Rilke gelesen, ich hatte Gottfried Benn gelesen und das waren zwei wunderbare Gegensätze. Dann kam noch ein Amerikaner hinzu: Hemingway. Dann las ich noch Ernst Jünger. Erst später kamen die Zeitgenossen der fünfziger Jahre hinzu. Wenn man von Köln ausging, dann gab es noch den Heinrich Böll. Mit ihm konnte ich aber nicht so viel anfangen, obwohl etwas sehr Sympathisches von ihm ausging. Ein Dichter, der mich immer sehr interessierte, war Günter Eich, der schrieb Gedichte wie etwa Botschaften des Regens. Das war eine typische Metapher der fünfziger Jahre: Man saß am Fenster und der Regen rauschte oder trommelte aufs Dach – und das waren Botschaften… es ist heute Kitsch, aber es war eine elementare poetische Erfahrung, auf Regen zu hören und da vermeintliche Botschaften zu vernehmen. Günter Eich hatte es einem vorbuchstabiert. Das waren ganz frühe Erfahrungen, aber ich merkte irgendwann,

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das ist nicht meine Sprache, nicht wie ich etwas erlebe, wie ich mich ausdrücke, in Formen, in konventionellen Mustern – darin besteht ja das Eigene. Und dann kam es zu einem Bruch. Und dann natürlich die Entdeckung von James Joyce. Ihn zu lesen war sehr entscheidend, denn ich merkte, es hat eine Moderne gegeben vor der Moderne, in der ich lebte. Das war für einen jungen 18-Jährigen auf der Schule nicht zu entdecken: Es hat Dadaismus gegeben, es hat Surrealismus gegeben. Das waren eigentlich die ersten wirklich großen Anstöße, wo ich das Gefühl hatte: Moment mal, diese Geschichte ist gerade 25 Jahre alt und vorher? Was war dazwischen? Da war unser Drittes Reich und das war alles verboten, durfte nicht sein. In der Literatur, die jetzt entsteht, lese ich keine Spuren – weder bei Böll noch bei Andersch noch bei Eich… Wo ist dieser Surrealismus? Wo ist der Dadaismus? Die sind weg! Die waren aber nicht weg, sie kamen dann doch plötzlich wieder. Auf einmal sah man, wie Max Ernst in Köln auftrat mit seinen Gedichten. Und das war für mich eben die Anknüpfung an eine Moderne, die wir junge Leute Anfang der Fünfziger erstmal entdecken lernten – die Moderne der zwanziger Jahre und der Zeit davor. Und dann gab es Gegenwartsliteratur: Autoren, bei denen ich merkte, hier komm ich mir schon näher selber. Da waren Helmut Heißenbüttel, Franz Mon, der Kreis um Max Bense in Stuttgart. Das waren eine Zeitlang sehr wichtige Korrespondenzen. Und ich sah, es gibt die Wiener Gruppe – H. C. Artmann, Konrad Bayer – und dann merkte ich, man ist nicht alleine, es gibt doch einen Kontext, den ich in den späten fünfziger Jahren begann zu entdecken. Und dann überhaupt Vorgänge in der bildenden Kunst, die Umbrüche dort. Ebenso entscheidend für mich waren die Vorgänge in der Musik – da hatte ich in Köln das Glück, in der damaligen Hauptstadt der Neuen Musik zu leben. Also solche galt nämlich Köln durch den Westdeutschen Rundfunk, durch Karlheinz Stockhausen, der wie ein Magnet war und alles anzog – Luigi Nono, Pierre Boulez, John Cage … Ja, der Einfluss der Neuen Musik hat sehr stark mitgewirkt und das hat sich ewig so gehalten. Aber wenn Sie danach fragen, was da frühe Impulse oder Einflüsse waren, dann ist es ein offenes Feld. Es war nicht ein einziger Dichter, der einen Einfluss gehabt hätte. Es war vielmehr ein Zusammenhang von künstlerischen Ereignissen, die Ende der fünfzigerer, Anfang der sechsziger Jahre sehr unser Denken, unser ästhetisches Denken und Verhalten bestimmt haben. Adorno kam hinzu mit seiner Reflektion auf das, was in der Musik passiert, oder auf die Spannung Gesellschaft/Literatur. Man erinnert sich heute nicht mehr an die damaligen Diskussionen zwischen literature engagée und l’art pour l’art. Das waren noch Fragen – wohin gehörst du? in welches Lager? Denn die ästhetischen Debatten waren noch zum Teil auf Lager verteilt. Mit der Studentenbewegung der späten sechziger Jahre ging es erst richtig los – die Politisierung der Literatur. Dieser Konflikt hatte aber schon vorher angefangen durch die Veränderung in den Künsten, durch die Veränderung des ästhetischen Selbstverständnisses, durch das Aufkommen eines neuen Materialdenkens, das vor allem durch die Musik

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befördert wurde – Klangmaterial. Sodass ich mich fragte, was ist mein Material? Aha, Sprache, das ist dann mein Material! Da war eine Sprachebene, wo Sprache nicht nur Bedeutungsträger war: Da klang etwas, es hatte einen Rhythmus, man konnte mit der Sprache etwas tun. Ich bin aber nicht ein Materialdichter geworden – für mich war Sprache letzten Endes doch immer ein Bedeutungsträger, aber das waren damals Einflüsse und Impulse, die Spuren öffneten in das, was dann gekommen ist.

Jan Röhnert: Durch Ihre Charakterisierung gewinnt man fast den Eindruck, dass diese Impulse aus anderen Künsten und Medien teilweise sogar wichtiger als die literarischen Einflüsse waren. Sehen Sie es auch so? Jürgen Becker: Ja, es stimmt. Diese Einflüsse sind manchmal viel stärker gewesen als die aus der Literatur. Zum Beispiel, der ganze wunderbare Vorrat der deutschen Lyrik, möchten wir die Romantik nehmen, lässt mich völlig kalt, hat keinen Einfluss auf mich. Oder die Tradition des Erzählens, Fontane – da fängt es an: Eine Art von Sachlichkeit, von neuer Sachlichkeit, wie sie später dann hieß … Nein, ansonsten hat mich traditionelles Romanerzählen nie besonders interessiert. Ich war immer ein schlechter Leser. Gut, Krimis habe ich dann gerne gelesen, Raymond Chandler. Aber das war eine völlig artifizielle Art zu schreiben. Bei Chandler ging es mir gar nicht um die Geschichte, sondern um eine Art zu schreiben… da kommt jemand rein in eine Bar, der schießt und „es dauerte eine Woche, bis er umfiel“ – das waren plötzlich poetische Vergleiche, die ich in der deutschen Erzählliteratur nicht gefunden hatte. Aber ich weiche doch aus. Also, Musik, Film, bildende Kunst – ich wäre gern Maler geworden, aber ich kann nicht malen, ich habe kein Talent, ich kann auch nicht Noten lesen, ich kann kein Instrument spielen. Eine Zeitlang habe ich fotografiert, das schien eine Alternative zu sein, oder ein zweites Gleis zum Schreiben. Damit fing ich in den sechziger Jahren an. Bei bestimmten Dingen, merkte ich, die drücke ich eher in einem Foto aus als in einem Gedicht. Zum Beispiel ein dreitägiger Gang über den Broadway – da merkte ich, ich kann den Broadway nicht beschreiben, ich kann den nur fotografieren. Wenn ich an jeder Straßenecke stehenbleibe und hier ein Foto mache, dann habe ich nachher ein Bild. Es gibt Momente, visuelle Erfahrungen, da ich sie mit dem Auge lebe, die sich der Sprache entziehen. Dazu brauchte es das entsprechende Medium, eben die Fotografie. Ich habe sehr viel fotografiert, auch ein Fotobuch gemacht, Ein Zeit ohne Wörter. Das hätte ich gerne fortgesetzt, aber damals war es nicht so üblich in den Verlagen, oder nicht in meinem Verlag. Da war kein Verständnis für einen Schriftsteller, der plötzlich fotografiert. Ich ließ mich also entmutigen und habe es nicht weitergemacht. All diese Fotos sind liegen geblieben – gerade die amerikanischen, die New Yorker Fotos –, bis vor ein paar Jahren mein

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Sohn Boris, der selber Fotograf ist, mich fragte: Was ist mit den Fotos? Ich weiß nicht, ich finde sie nicht mehr. Dann suche mal! So hab ich sie gefunden, alles noch kleine Kontaktabzüge. Er hat sie gescannt, vergrößert und ein Buch daraus gemacht, das dann vierzig Jahre, nachdem die Fotos herumgelegen haben, erschienen ist. Da merkte ich, dass Fotografie für mich doch mal sehr wichtig war – im dokumentarischen Sinne. Diese Fotos dokumentierten, was ich vergessen hatte. Ich konnte mich an keine dieser Situationen erinnern, die ich fotografiert hatte. Langsam kam wieder etwas zurück – also wunderbar: Die Fotografie als Medium der Geschichte – oder ganz im Gegenteil, als Medium des Vergessens. Ich habe dann aufgehört zu fotografieren, eben auch dadurch, dass mein Sohn das beruflich viel besser machte. Er machte ja viele Fotos, die ich im Kopf hatte, weil er ein professioneller Fotograf ist und in der Becher-Schule in Düsseldorf richtig studiert hat. So habe ich es ihm überlassen, aber nach wie vor ist der Kamerablick für mich im Kopf geblieben – ein bestimmtes Hinsehen. Ich habe gemerkt, wenn ich die Straße, in der ich lebe, fotografiert habe, habe ich plötzlich Dinge entdeckt, die ich mit bloßem Auge nie gesehen habe. Ich hätte sie sehen können, aber erst das Foto sagt mir, was da oder dort ist. Einen Kamerablick zu entwickeln, als würde ich fotografieren, darum geht es. Das tue ich nicht jeden Moment – könnte es auch nicht. Doch ab und zu sage ich zu mir: Jetzt konzentriere dich bitte mal und gucke draußen diesen Platz an, als würdest du ihn fotografieren –, dann wird er beschreibbar, da können auch viele Wörter kommen, da kann Sprache entstehen.

Valentina Di Rosa: Auch der Einbezug des fotografischen Blicks scheint dem ‚Journal‘-Prinzip zu gehorchen, das Sie vorhin geschildert haben…. Jürgen Becker: Ja, es ist so! Jan Röhnert: Zu dieser „Chronik der laufenden Ereignisse“, wie Sie sie im Anschluss an Peter Handke genannt haben, gehört sicherlich auch die ästhetische Dimension der Bewegung, des Reisens… Jürgen Becker: Ja, das Spazierengehen, von unsrem Haus rechtsrheinisch am Stadtrand rüber in den Wald… fast die Hälfte meiner Literatur ist durch Gehen entstanden. Jetzt geht es zu Fuß nicht mehr so gut, aber – die Art des Fortbewegens ist immer auch eine Art, Wirklichkeit aufzunehmen. Spazierengehen, Fahrradfahren, ich bin die halbe Kindheit Fahrrad gefahren. Autofahren: Da bin ich freier, wobei es zweierlei ist – wenn

Die Gegenwärtigkeit des Geschriebenen

ich selber Auto fahre, ist es sehr eindimensional, wenn ich Beifahrer bin, kann ich gucken. Sehr gerne Zugfahrten: Ich kann im Zug schlecht lesen, weil ich immer aus dem Fenster gucke. Fliegen – eigentlich eine dumme Art des Reisens. Es geht nur um Geschwindigkeit. Es sei denn, man hat das Glück, etwas zu sehen. Nach Italien fliegen zum Beispiel… wunderbar! Die Alpen oder Venedig, aus der Luft gesehen… Irre! Es sind Bilder, die wir aufnehmen durch die Art, wie wir uns fortbewegen. Ich merke, dass es oft mit eine Rolle spielt, wie man denkt oder wie man Wirklichkeit sich vergegenwärtigt. Warum ist es heute schwieriger als früher? Heute geht alles sehr viel schneller, ich habe es gemerkt beim Schreiben des Buches Jetzt die Gegend damals. Mir fällt gerade eine Passage ein: Die langen Straßen der Kindheit. Die langen Straßen der Kindheit, geht man sie später noch einmal, wundert man sich, wie kurz sie sind. Auch die Vorgärten sahen größer aus und höher die Häuser. Wieviel Zeit man gebraucht hat für den Weg zum Briefkasten, zur Schule, zur Straßenbahn, zum Einkaufen, sonntags zur Kirche, mittwochs auf den Sportplatz, in den nächsten Vorort, für den Nachhauseweg.2

Diese langsame Art des Fortbewegens, gerade in der Kindheit, wo die Straße von hier nach dort eine Ewigkeit gedauert hat – ich nehme an, dass Sie diese Erfahrung alle kennen –, hat anders bewusstseinsbildend gewirkt, als die Geschwindigkeit, mit der wir uns heute bewegen. Deshalb vergeht mir die Zeit so schnell… wo kommen wir jetzt alles her innerhalb eines Tages, aus Dresden, aus Berlin, aus Köln, aus München, aus Neapel, Husch! Wie lange man gebraucht hat, wie schnell es heute geht – das ändert unsere Art zu schreiben oder zu denken, selbst die Erinnerungen werden immer schneller. Das ist jetzt aber ein Feld, auf das ich mich ungern bewege. Die Art, in Zukunft zu schreiben, mit dem Bleistift schreiben oder mit Papier – das müssen die jungen Leute beantworten, wenn man sich über Facebook äußert und so weiter. Ich glaube, das wird der entscheidende Schritt sein, hin zu einer Literatur, die sich von der, die wir machen oder gemacht haben, doch ganz elementar unterscheiden wird. Da kann ich aber nicht mitreden, da habe ich keine Erfahrung. Ich habe nur einen bestimmten Bleistift, meinen TK-Stift – früher nannte man ihn den Architekten-Stift – mit einer bestimmten Mine. Ich brauche bestimmte Stifte, ein bestimmtes Papierformat. Alles so kleine Tricks, mit denen man sich weiterhilft. Jeder Schreiber wird solche Dinge kennen und wissen, wie er davon abhängt. Äußerlichkeiten, aber sie entscheiden mit darüber, ob etwas entsteht oder nicht.

Jan Röhnert: In Kirschzweig mit Nachrichten aus Foxtrott im Erfurter Stadion ist eine Stelle, die, wie es mir scheint, auf die Poetik Ihrer Texte direkt anspielt – „sehr wichtig, daß Fabers / 2

Jürgen Becker: Jetzt die Gegend damals. Berlin: Suhrkamp 2015, S. 154.

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Bleistifte bleiben, dass sich Rinnsale durchsetzen, / Türen plötzlich aufgehn im System“. Als ob erst durch die wiederholte Konzentration auf das ‚Material‘ Gegenwart neue Dimensionen bzw. neue ästhetische Qualitäten entstehen würden, welche weit über das subjektive ‚Hier und Jetzt’ hinausragen…

Jürgen Becker: Die Stelle bezieht sich eben auf das, was immer bei der Arbeit Handwerk ist. Ich kann nur arbeiten nach Maßgabe meiner Möglichkeiten, meiner Einfälle, nach Maßgabe dessen, was ich vielleicht mal probieren oder experimentell ermitteln möchte. Das, was ich schreibe, muss irgendwie gedeckt sein durch die Beobachtung, eine Wahrnehmung, ein Erlebnis, ein Traum. Es muss irgendwie korrespondieren miteinander: Dieser Vorgang im Kopf und das Wetter draußen oder das Glas Wasser hier und das Glas, das gestern umgefallen und kaputt gegangen ist. Also der Zusammenhang zwischen dem, was man erlebt und dem, was man im Kopf hat und nachher auf dem Papier steht – ich kann ihn nicht genau ergründen, will es auch nicht. Es ist ein bisschen so, wie man früher – im analogen Damals – Filme entwickelte in der Dunkelkammer. Zu. Dunkel muss es sein. Wenn einer die Tür aufmacht und Licht reinfällt auf die Negative, – dann ist alles weg. So wäre es, wenn ich versuchen würde, diesen Prozess zu erläutern. Entweder weiß ich es nicht oder ich müsste es erfinden. Und ich kann mir durchaus Situationen erfinden… was übrigens immer eine Rolle spielt, bei allen Erinnerungen: die Erfindung, die Imagination. Denn ich weiß nicht, sind es meine Erinnerungen oder sind es erzählte Erinnerungen, was mir meine Eltern noch erzählt haben, mein Vater, oder was ich gelesen habe in einer Zeitung. Gerade Kriegszeiten – da rede ich über Dinge, als hätte ich sie selber erlebt. Nein: es ist mir alles so beigebracht, erzählt, vermittelt worden. Das mir Erzählte wird dann zu einer authentischen Erfahrung, so kommt es mir vor. Man imaginiert etwas, auch da, wo man merkt, dass die Erinnerung nachlässt oder ungenau wird. Nicht, dass ich ein Feind der Fiktion wäre – ohne Einbildung, ohne Vorstellung entsteht nichts, das ist klar. Es ist nicht immer alles dokumentarisch, eins zu eins – im Gegenteil, viel ist Erfundenes. Ja, jetzt wiederhole ich mich, die Phantasie, wie sie ein Romancier hat, ist mir nicht zu eigen, ich muss mich ans Konkrete halten, ans Erlebte. Dabei entscheide ich nicht, was davon überhaupt maßgeblich ist. Wenn etwas nicht in mir schreibt, wenn ich nicht das Gefühl habe, dieser Impuls verwandelt sich in etwas, was in mir schreibt, dann passiert nichts. Ich kann nicht sagen, ich will jetzt darüber schreiben, wenn es nicht in mir vorweg schon schreibt. Es fühlt sich jetzt ein bisschen mysteriös an, aber es ist so. Wenn nicht etwas mitdiktiert – und das ist nicht jeden Tag so, wenn man an einem längeren Text ist, dann muss man auch fleißig sein, dran bleiben –, dann geht es eben nicht. Aber es muss so angefangen haben, mit dem Gefühl, da diktiert wer was…

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Auszüge aus einem Journalgedicht1 · (Arbeitsfassung, März 2016)

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Vgl. den inzwischen gedruckten Band: Jürgen Becker: Graugänse über Toronto. Journalgedicht. Berlin: Suhrkamp 2017.



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Ich, Arrière-Gardistin 1. Es gibt keine andere Dringlichkeit für einen Schriftsteller als die der eigenen Obsessionen, der eigenen Themen, der eigenen Fragestellungen. Denke ich daran, was darüber hinaus getan werden muss, was dringend getan werden müsste, werde ich kraftlos. Unendliche Müdigkeit macht sich breit. Keine bessere Zeit als die jetzige, um wie von einem Hochstand herab zu erkennen, wie lächerlich und auf traurige Weise frustrierend sich jede Anwaltschaft von Autoren ausnimmt. Allein die letzten 100 Jahre – ein großer Katalog der hehren Bemühungen, nicht selten der tänzelnden Einfalt. Ich sage, die jetzige Zeit, aber was ist diese, die westliche Zeit? Eine, kommt es mir sofort in den Sinn, in der die Dinge bereits getan worden sind. Wir sind umgeben von grenzenloser Freiheit. Was den einzelnen Menschen noch vor kurzem massiv bedrohte, bevormundete und gängelte – Kirchen oder bürokratische Staatsapparate, Diktaturen oder Moralkodexe, Vätergenerationen oder militante Gruppen –, all diese Bevormundungsmächte sind schwache Instanzen geworden. Wir sind nicht mehr gewillt, ja nicht mehr gewöhnt, sie über unser Leben bestimmen zu lassen. Wir sind befreit, uns selbst überlassen, isoliert. Das Aufbegehren gegen Mächte, Konventionen oder Gesetze hat sich für den Einzelnen in ein Scheitern an sich selbst verwandelt. Nichts mehr zu delegieren. Wer mag, kann sein Leben von Anfang bis Ende unpolitisch leben. Kein Staat fährt einem in den Lebensweg, man wird nicht zwangsrekrutiert für irgendeinen Krieg, persönliche Entscheidungen müssen nicht verteidigt, sondern bloß geäußert werden, eine Liebe zerbricht statt an den Verhältnissen höchstens noch an der Blödigkeit oder dem Unwillen der Beteiligten. So stehen wir nur noch uns selbst und unserem eigenen Unvermögen gegenüber. Die Wände, die uns umgeben: nur noch die unseres eigenen Schädels oder Körpers. Unsere Schuldfragen: unweigerlich persönlicher Natur. Es ist, als würde Josef K. ewig in seinem Zimmer hocken und darauf warten, dass einer ihn verhaften kommt. 2. Es wäre nicht das Geringste, was ein Schriftsteller tun kann, von dieser Verwirrung zu sprechen, dieser Kraftlosigkeit. Seine Epoche damit kenntlich zu machen. Man wäre über das bloße Hinnehmen bereits hinaus. Denn noch immer – immer! – kann man dem Leser die Augen öffnen, das innere Auge, kann man ihm die Seele weiten. Die Weitung der Seele: Das letzte verbleibende

Julia Schoch

Ansinnen einer Kunst, die sich heute als widerständig begreift, die eine andere Zeitrechnung entwirft, die anderen Traditionslinien, eigenen Weltbildern, einer eigenen Sprache folgt. Die einzige Verantwortung, die ein Schriftsteller hat, ist die Verantwortung für die Wörter. Das sogenannte gesellschaftliche Engagement eines Schriftstellers lässt sich nicht an den Objekten, also den Themen messen, die er beschreibt, sondern an der Sprache, mit der er das tut. Das wissen längst alle. Formfragen sind Moralfragen. Wir wissen auch, dass es keine Zeit gibt, die das Schreiben von Büchern unmöglich oder überflüssig macht. Es gab sie nie, wird sie nie geben.

3. Mag sein, es hat Zeiten gegeben, da sich Schriftsteller befeuert fühlten, dazu angespornt, einzugreifen, Vorreiter zu sein. Für das Ego der Schriftsteller wundervolle Zeiten. Zum Beispiel, als es noch keine Fotografie und keine laufenden Bilder gab, die Literatur also die Hoheit übers Berichterstatten besaß. Da sie das einzige war, musste sie nicht fragen, was sie von anderen Medien unterschied. Sie war die Instanz, die in Frage kam, um zu erzählen. Emile Zolas Aufruf an die Künstler: „Kümmert euch endlich um die Wirklichkeit!“ machte die Autoren zu wichtigen Menschen. Welch herrliche Zeiten! Wir leben in genauso herrlichen: In einer Zeit, in der Zolas Aufruf ihren Sinn ganz und gar verloren hat, wenn es darum geht, sie dokumentarisch abzubilden und damit zu enthüllen, ist dem Autor sehr viel abgenommen. Eine Sternstunde für die Kunst. Der Schriftsteller als freies Wesen, das nur seiner ureigensten Stimme verpflichtet ist. Dann wird dieser Schriftsteller zu einer überaus wichtigen Instanz. Er muss nicht mehr die Wirklichkeit präsentieren, sondern ist einzig und allein der Möglichkeit verpflichtet, einer wundervollen Kategorie, die, wie mir scheint, nur noch in der Literatur ihren Platz hat. Imagination als Wert an sich, der das Leben lebenswert macht. Über den sich das Rätsel Mensch erzählen lässt. In einem solchen Moment wird der Schriftsteller nach dem suchen, was auf geheimnisvolle Weise ausschließlich er wissen kann. Nicht einen journalistisch enthüllenden Blick auf DIE Welt, sondern seine EIGENE Welt, seine ureigenste, wie es so schön im Deutschen heißt. 4. Ich erinnere mich an die große Angst meiner Kinderjahre: Ein neuer, mit Atomwaffen geführter Krieg. An diese Angst und das damit verbundene Szenario einer vollständig verlassenen, vom Menschen nicht mehr bewohnten Welt. Ihre mögliche Auslöschung – plötzlich und radikal – brannte sich als ewiges Bild in die Phantasie meiner Generation. Wie würde eine Welt sein, in der nur noch ein großer Wind über die verwaisten Plätze einer verschwundenen Zivilisation zöge: über die Wohnhäuser,

Ich, Arrière-Gardistin

Geschäftsstraßen, Äcker, Kinos, Autobahnen, Friedhöfe, Bibliotheken, Spielplätze, Museen, Sportanlagen, Bahngleise? Bekanntlich trat dieser tagtäglich heraufbeschworene Krieg nicht ein. Stattdessen passierten auf überaus herkömmliche Weise Ereignisse – Revolutionen, Umbrüche, gewisse technische Entwicklungen –, die den umgekehrten Fall geschehen ließen: Nicht die Menschen verschwanden von der Bildfläche, sondern die Dinge und Orte, die bis dahin unverbrüchlich zu ihrem Leben gehört hatten. Der übriggebliebene Mensch meiner Welt sieht sich darüber hinaus einem besonderen Schrecken gegenüber: Mit den Dingen und Orten, die verloren gingen, verflüchtigt sich auch seine Geschichte. Diese spezielle Form des Verschwindens ist unerbittlich, rasant, endgültig. Und so ist es, wenn er sich auf die Suche nach den Spuren seines Lebens macht, jedes Mal, als wären bereits tausende Jahre und nicht nur ein oder zwei Jahrzehnte vergangen. Die Zeit scheint in zwei ganz und gar voneinander abgewandte Hälften zerfallen: Vergangenheit und Gegenwart, und die Verbindung zwischen diesen beiden Zeiten für immer gekappt. Der unaufhaltsame Vorgang des Vergessens ist also nicht – wie stets phantasiert – von den Augen fremder, zukünftiger Wesen verfolgt worden, lange nach dem Untergang des Menschen, sondern der Mensch blickt plötzlich mit seinen eigenen Augen in das grenzenlose Universum des Vergessens, das Teil seines Lebens ist. Auf der Suche nach seiner Geschichte, die ihm nicht mehr zu gehören scheint.

5. Nein, die sanfte Vermählung der Gegenwart mit dem Gewesenen gibt es nicht. Wenn die Wände zwischen den Zeiten auf immer undurchlässig geworden sind, wird der Blick zurück zu einer Herausforderung. Die Erinnerung zu einem unsicheren Instrument. Wann hat es das zuletzt gegeben: Dass die Gegenwart vollkommen natürlich aus der Vergangenheit herausgewuchert ist – ein Gewächs, an dessen Wurzeln man sich mühelos in eine andere Zeit zurückhangeln konnte? In dem das Heute mit dem Gerade-noch-Gewesenen über hundert Fäden miteinander verbunden war? Stattdessen der Eindruck: Die Vergangenheit steckt in einzelnen Schachteln, in unzähligen, fest verschnürten Paketen, darin die Dinge, Stimmen und Bilder, die zu ihr gehören. Kisten und Kästchen, blind nebeneinander, jedes für sich ein verzurrtes Leben. Ich stelle mir eine Frau mittleren Alters vor, die eines Tages von einem Anruf aus ihrem Alltag herausgerissen wird. Während sie in der Küche ein Fertiggericht aufwärmt, klingelt das Telefon. Sie braucht ein paar Sekunden bis sie begreift, wer da spricht, obwohl der Mann am anderen Ende der Leitung sofort seinen Namen nennt. Vor ein paar Jahren hat sie zwei leidenschaftliche Nächte mit ihm verbracht, der Abschied danach war fröhlich und gelassen gewesen, ohne Fragen, ohne Versprechungen für die Zukunft. Sie hatten sich wie höfliche Fremde getrennt. Nun sagt der

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Mann am anderen Ende der Leitung, er sei auf der Durchreise und wolle sie sehen. In einer Stunde am Bahnhof. Dieser Satz klingt wie ein Befehl. Nicht nur ein Befehl, sich unverzüglich zu diesem Treffpunkt zu begeben, nein: Ein Befehl, sich zu erinnern. Eine Stunde. Auf der Suche nach einem passenden Kleid für dieses Wiedersehen fällt ihr im Schrank ein kleiner Karton in die Hände: Mitbringsel von Reisen, Notizzettel, Erinnerungsstücke. Hastig schüttet sie den Inhalt auf dem Fußboden aus. Gab es nicht auch etwas darin, das zu der Stimme des Mannes am Telefon gehörte, zu seinem Befehl? Sie schaut sich das Sammelsurium an, aber keine Aufschrift, keine Widmung, kein Datum helfen: Was hatte es mit dieser Serviette, diesem Abzeichen, diesem Sektkorken, dieser seltsam altmodischen Münze auf sich? Wo war das Erlebnis zu dieser Eintrittskarte? War das Haus, zu dem dieses Klingelschild gehörte, nicht längst abgerissen worden? Und dieser Stadtplan, war er nicht überflüssig inzwischen, da es eine solche Stadt nur noch im Traum gab? Sie könnte das Treffen absagen, ein einfaches Nein oder ein wortloses Abschalten des Telefons würden genügen, doch wie von Geisterhand geführt macht sie sich auf den Weg. Während sie sich noch immer die Bilder ihres Liebesrausches damals ins Gedächtnis zu rufen versucht, wird sie von tausend Hindernissen aufgehalten: Schon im Treppenhaus wird sie zurückgedrängt von neuen Mietern, die kantiges Mobiliar an ihr vorbeischleppen, auf der Straße staut eine Kundgebung die Menschen zusammen, dass kein Durchkommen ist, eine Kapelle spielt, Verkehrsumleitungen, dann endlich doch Richtung Bahnhof ein Bus, in dessen Tür sie sich den Mantel aufreißt, der Regenschirm, der als Spazierstock dient, verbogen, bis zuletzt auch die Schachtel mit der Vergangenheit herunterfällt und der Inhalt zwischen fremden Menschenbeinen verstreut liegt. Verzweifelt kriecht sie herum, um alles wieder einzusammeln: Gehörte diese Streichholzschachtel dazu? Und dieser gelbe Handschuh…? Die Zeit wurde knapp, am besten sie stieg wieder aus diesem Gefährt aus, das sich nur schleichend seinen Weg zum Treffpunkt bahnte, und lief zu Fuß. Mit wild klopfendem Herzen, die Schachtel gegen die Brust gepresst, überquert sie endlich den Bahnhofsvorplatz. Rechtzeitig, eben noch. Plötzlich dann: abruptes Stillstehen. Das Haar verklebt, schaut sie um sich, ein Urzeitmensch zwischen all den Passanten, die kreuz und quer über den Platz laufen. Wie eine Nadel stößt ihr der Gedanke ins Hirn: Nie im Leben wird sie den, der sie hierher bestellt hat, wiedererkennen. Er musste sich verändert haben, konnte es anders sein? Sie beginnt die Gesichter abzusuchen nach einem Hinweis, einem Gang, einer Geste, irgendetwas, das ihrer Erinnerung an ihn ähnlich war. Endlich: Jemand, dort drüben, der zu warten schien. Ein Mensch, abgewandt. Minutenlang starrt sie auf seinen Hinterkopf. Kein Schritt näher, sie wagt es nicht. Erschöpft setzt sie sich schließlich auf einen Straßenpoller. Vielleicht war es besser, einfach abzuwarten. Er würde sich schließlich umdrehen müssen. Und so war es auch. Sie sah schon, wie er sich in ihre Richtung

Ich, Arrière-Gardistin

wandte. Doch noch bevor er sich ganz umgedreht hatte, senkte sie den Kopf und schloss die Augen.

6. Wie das Gefühl der Trauer zur Zerstörung gehört, so entspricht die Melancholie der Erfahrung des Verschwindens. Damals, als sie sich so fröhlich auf diesen Mann eingelassen hatte, gab es nur eine Richtung der Zeit für sie: Die Zukunft, und jedes Ereignis in ihrem Leben war eine Sprosse auf der Leiter in diese Zukunft hinein. Jetzt hat sie nur noch eine diffuse Erinnerung an diese Zukunft. Und längst hat sie nicht mehr den Eindruck, auf einer Leiter zu stehen. Vielmehr befindet sie sich auf einer Art Geröllberg, über den viele verschlungene Wege laufen. Auf diesem Berg liegen die Einzelheiten der Vergangenheit verstreut: Episodisch, sinnlos, unwahrscheinlich, als hätte es diese andere Zeit nie gegeben. Ab und zu leuchtet etwas in dem Gewühl der Dinge auf – dem kurzen Aufflackern des Erinnerns ähnlich, das eine Kehrseite des Vergessens ist. Dass sie den Kopf senkt, heißt, sie hat im Dickicht der Gegenwart jeden Beweis für ihre Leidenschaft verloren. Es war unsinnig, ja unmöglich, eine Verbindung zu einem Mann wiederaufnehmen zu wollen, der längst ein Geist geworden war. Sie senkt ihn nicht obwohl, sondern weil sie ihn erkennt. Erst das mögliche Wiedersehen lässt sie die Vergeblichkeit dieser Unternehmung spüren. Was bedeutet es für einen Schriftsteller, in einer Welt zu leben, in der das Verbindungsseil zwischen Vergangenheit und Gegenwart immer fasriger wird? In der die Geschwindigkeit der Geschichte sich immer mehr erhöht und der träge Mensch unablässig von ihr überholt wird? In einer solchen Welt wird der Begriff der Avantgarde sinnlos. Wo die wesentliche Erfahrung die unaufhörliche Metamorphose allen Seins ist, lässt sich nur in eine Richtung sehen: zurück. In Kriegen sind Truppen, die am Ende einer Marschkolonne gehen die Arrière-Garde. Diese Nachhut soll dem von hinten angreifenden Feind das Herankommen unmöglich machen. Durch ihren rückwärtsgewandten Feuerschutz gibt sie dem Rest der Truppe Zeit, sich auf den Kampf einzustellen. Der von hinten angreifende Feind: das Vergessen. Gegen das Vergessen angehen – aber nicht wie ein Archivar oder Chronist, der sich im Aufschreiben eines vergangenen Geschehens erschöpft. Nein, das Vergessen schildern als das, was den Menschen ausmacht, ihn ans Vergessen erinnern, es ihm vorführen. Ihn mit seinen eigenen Augen in das Vergessen hineinblicken lassen (und ihn so retten). Die Bücher, die auf diese Weise, in einer solchen Welt entstehen: Der erinnerte Rest eines anderen, vielleicht umfassenderen Buches, das nicht mehr geschrieben

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werden kann. Fundstücke ohne Archiv, die als Spuren einer verschwundenen Zeit durch den unendlichen Raum der Gegenwart treiben.

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Tom Schulz

FOREVER YOUNG · Das Gedicht im 39. Jahrhundert Das ist alles so trostlos in unserem Deutschland. Weiß Gott, ich liebe Kaiser und Reich mit meinem ganzen Her

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zen, aber die Erbärmlichkeit der Deutschen, mit der sie

ihre

paar (gegen die Millionen schrecklicher Dilettanten)

wirklichen Dichter

behandeln, empört mich immer von

neuem. Immer nur die

Modedichter sind es, die gelesen

werden, diese saft- und kraftlosen Kerls.

Detlev von Liliencron

Noch ist es das Schweigen, das Quelle und Vorbedingung

von Lyrik wie Musik ist.

Michael Hamburger

1. In der zeitgenössischen deutschsprachigen Lyrik wurde in den letzten Jahren vieles gesichtet, gesammelt und emporgehoben, dass sich stringent mit dem Begriff der Jugend verband. Man hat vieles unter dem Etikett „jung und neu“ bewundert, junge Dichterinnen und Dichter, oft verwirrt ob der Dimensionen von Anspruch und Wirklichkeit. Oftmals waren uns jüngere Frauen, Jünglinge oder Adonisse lieber als dickbäuchige Herren mit Schnauzbart jenseits der 60 bzw. jene Damen des fortgeschrittenen Mittelalters. Warum eigentlich? Das Preisen des Adoleszenten entspricht den Standards einer Mediengesellschaft, die uns gern das Unverbrauchte zeigt, die frischen Gesichter, die sogenannten Entdeckungen, die noch nicht integrierten oder vereinnahmten Talente. Wie schön ist es, mag man denken, dass aus dem Jungsein immer wieder ein strahlender Entwurf, gemischt mit der Sehnsucht nach diesem und jenem, zu Tage tritt. Es ist so schön, dass ich mir wünsche, alle Menschen würden jung sterben, Dichterinnen und Dichter vor allen anderen. Und: Die wir bewundert haben, von den meisten von ihnen ist in gut einem Jahrzehnt beinah die ganze jugendliche Schönheit gewichen; geblieben ist ein Ähnlicherwerden mit einem Menschenalter, das von diesen und jenen Spuren gezeichnet ist: saturiert, verzweifelt oder einfach nur schmerzlich. Um all dieses Jungsein, das wir so gern stilisieren, ranken sich, was das lyrische Jetzt angeht, das sich nach und

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nach auflöst wie eine Alka Seltzer, Gedichte und Geschichten, die heute bereits so gut wie vergessen sind. Kann man das schlecht finden? In einem Kommen und Gehen, sind jene geblieben, die auf ihre Art tüchtig sind, geschäftstüchtig oder selbstsüchtig, und jene gegangen, die nach der Flamme der reinen Kunst griffen und sich die kleinen Finger verbrannt haben an einem schwach lodernden Docht. Natürlich hat sich vor allem das Mediokre manifestiert, denn Mediokrität bedeutet Ausdauer, Fleiß und Anpassungsfähigkeit. Eine Unfähigkeit und Unwilligkeit zur Kritik, die sich vielerorts breitgemacht hat, verweist auf eine Generation der manisch Kreativen, die alles erdulden, nur eines nicht: Widerspruch gegen ihr Tun und Lassen. Andererseits: Dichtung, die aus ihrer Zeit ragt in andere Jahrhunderte, hat kein Alter. Wie heißt es so treffend: Die Toten bleiben jung, und die Gedichte der früh Vollendeten am Leben. Was überdauert schon, könnte man fragen oder einwenden. Nichts oder wenig noch. Es hat sein Gutes, es wird makuliert und in den Papiermüll geworfen. Es wird Platz gemacht für immer wieder in kühlen Nächten Ungereimtes oder am hellen Tag herbei Gesprochenes. An das Ende muss man nicht sehen, es sei denn man heißt Wilhelm Busch. Es gibt kein Ende, es gibt in Reispapier Gewickeltes und Baumfrösche. Solange es Menschen gibt, die sich die Mühe machen, mit Worten etwas Unkonventionelles oder Verrücktes anzustellen, muss einem nicht bange sein um die lyrische Verwicklung der Süßkirsche mit dem Horseradish oder der Knallerbse mit dem Meister Floh. Bedenklich eher ist die Gesellschaft: Sie ist wie ein hoch betagtes Brot oder der Mond. Maliziös und mit einer harten Leber ausgestattet. Sie liebt weitaus eher den gepressten Dung, aus dem sie Geld spinnt, als die schöne Leier, die Lyra. Was soll ich noch singen, mag sich die Nachtigall denken, dann tanze ich eben! Wen kennt das Volk der Dichter: Podolski oder Hoffmannswaldau? Wie man hinein ruft, schallt es heraus: Schnauze! Der Dichter, jahrhundertelang ein Aussatz der Gesellschaft, heutzutage ist er im besten Falle ein ausgehaltener Sonderling, menschenscheu und immer im Zwiegespräch mit sich selbst. Er ist nicht Mitglied im Automobilclub, sondern in der Künstlersozialkasse; er erhält keine Vergünstigungen und Bonusmeilen, doch hofft er auf einen Ehrensold oder den Gnadenschuss. Manchmal hält man ihn für einen Parvenü oder einen Blender, oft zu Unrecht, denn der Dichter kauft seine Brötchen nicht an der Diesel-Jeanstankstelle. Lebensumstände hat er, die oft schwer zu fassen sind. Schwierige Zeiten liegen hinter ihm, er blinzelt in das Licht der Alpen, trotz allem will er es wagen, die Likörgläschen zum Klingen zu bringen! Gewiss er hat

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ein paar Freunde auf Lebensvermittlungsplattformen, denen er Fotos zeigt. Er wird getagged und ab und zu postet er ein Wort zum Wochentag. Das ist alles. Warum schreibe ich dies, was der Spatz all hier am ersten schon vom Dach pfeift, was die Taube über ihm längst weiß?

2. Immer wieder habe ich mich gegen jenen Satz wehren wollen, dem von den dümmsten Bauern und den größten Kartoffeln. Jetzt, nach soundso vielen Jahren bin ich ratlos deswegen, denn die Klügsten bestellen nur noch ein Feld für sich selbst. Dummheit kann man auf Kredit kaufen mit einem Zinssatz von Null auf Hundert. Die strahlenden Beispiele gegenwärtiger Dichterinnen und Dichter; von denen es weiß Gott einige gibt unter den vielen Ruderern der Armada; ihre Leuchtkraft beschränkt sich fast ausnahmslos auf ihr Profil und die Seitenansicht. Auch sie haben zumeist den Faden der Ariadne verloren oder ihn nicht aufgenommen; sie sind Einzelunternehmen mit keiner Haftung für irgendetwas. Ihre Kunstübungen sind von stupender Art, doch meistens ohne Ausrichtung, ohne die Idee einer wahrhaft humanen Kondition. Empfinden äußert sich vornehmlich in Ironie und Kühle; eine ethische, moralische oder politische Haltung gilt als verpönt. Anstelle einer rettenden Schönheit hat sich eine Form von coolem Ästhetizismus entwickelt wie ein Wurmfortsatz. Zum Glück ist dies wenig beklagenswert, und wenn ich es doch tue, dann eingedenk der Epochen deutschsprachiger Dichtung, die mir aus der Ferne erstrebenswert und ernst, um das Leben ringend und nicht dieses verhöhnend, vorkommen. Ich möchte mich von der Gegenwart abwenden, würde ich sie nicht selbst bevölkern; so bleibt mir kein Ausweg, als mit den Staren zu singen, ein Gesang, der zu nichts nutz ist und mir gefällt, betend zum Hanf und zu den Laternen, verbittert womöglich am Ende mit dem Gedanken an den verlorenen Stolz eines Volkes auf seine Dichterinnen und Dichter. Wir leben in der Armut der Empfindungen, was die Kunst betrifft; das wenige Schöne mildert unseren Schmerz an manchen Tagen. Doch vielleicht ist auch dies nur eine Placebowirkung. So wenig ist schön, doch dem Schönen gebührt alles.

3. Man wird jetzt Namen von mir hören wollen, Hoffnungsträger(innen), nämlich die der Erleuchteten und Umleuchteten. Die von einem Ablass versehenen, der von einer kleinen Riege gewährt wird, einem elitäreren Kreis, der sich gern gegenseitig

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versichert, zum Höchsten hiesiger Kunst und Kultur zu zählen. Der Teil eines ausgehöhlten Systems ist, das Karrieren vor allem aus Eigennutz fördert und aus Ignoranz vernichtet. Doch wen interessiert das, und mich selbst wohl am wenigsten, wenn ich es recht bedenke? Glücklich sind die, die zum Vergessen neigen, dass sie auf Kosten anderer leben, die nicht die Hand in etwas hatten, das dunkel war. Indes der Betrieb ist oft gehässig, kurzatmig und schaut auf den schnellen Erfolg: Fastfood geht über die solitäre Beere. Denk ich nachts an Verlage oder Anstalten, träume ich nicht länger: In meinen Träumen kommen keine Meistersinger vor, keine Denkmäler, kein rotes Sofa, keine Honoratioren. Sehe ich einen Teil der Dichter und Dichterinnen hierzulande, erschreckt mich zuweilen ihr Gleichmut. Sie leben wie Robinson auf einer Insel. Sie denken sich: Wenn Freitag doch endlich kommen möge. Es kommt Freitag und sie trinken Rotwein mit Cola. Dann fühlen sie eine Verspannung im Nacken, sie sind apolitisch und asexuell, Etepetete und steif. Dann gehen sie nach Hause und löschen das Licht. Nun, es wird doch erlaubt sein, die Hand auszuschlagen, die den Hund ernährt! Wer gehört nicht einer Maschinerie an, die das geistige Eigentum zur Ware erhoben hat? Die Literaturkritik, sofern es sie gibt, die Rudimente des Feuilletons, die künstlerischen Berater und Agenturen? Dieses System bedingungsloser Effizienz und barbarischer Ökonomie wird sich weiter verschleißen auf Kosten des Erbes einer langen Tradition, die darin bestand, dass Kunst etwas von Widerständigkeit besaß und besitzt, dass sie nicht um jeden Preis den herrschenden Institutionen und ihrer Vertreter gefallen will. Und: Die ihre schön geistige Traditionslinie verlassen haben, die einstmals darin bestand, ein Volk zur Menschlichkeit zu bilden durch Kunst und minimale Moralia, ihnen ist wohl kaum mehr zu helfen – ach was. Natürlich gibt es noch Nischen, hier und da, auf dem langen Flur und vor lauter Eigensinn könnte man behaupten, es sei dort etwas los; ja es ist etwas los: eine andere Form von (Selbst-)Ausbeutung und Illusionierung. Andererseits: Das nachmoderne Leben, es ist zu anstrengend geworden für kognitive Bereitschaft bei der Lektüre. Der permanente Leistungsdruck in allen Bereichen des Lebens, Arbeit Partnerschaft Familie Haushalt, hat dazu geführt, dass ein Erwachsener heutzutage durchschnittlich das Leseniveau eines 12-Jährigen besitzt. Statt klassischer Literatur liest der Erwachsene Krimis, Fantasy, Nackenbeißer, Schundromane aller Art, Lebensberichte von Politikern und Großindustriellen. Auf einhundert Tausend Bahnreisende, so habe ich in langen Studien ermittelt, kommt gerade noch ein potenzieller Proust-Leser!

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Von Poesie bzw. Gedichtbänden nicht zu reden. Den Tränen nahe, gestehe ich, den letzten Menschen mit einem Gedichtband habe ich auf einer Insel vor Neufundland gesehen… Es war ein Wilder, wie man früher gesagt hätte, und er hatte einen Bart wie Archimedes!

4. Vielleicht nützt es, sich Gedichte unter das Kopfkissen zu legen. In Nächten, in denen einzig der Mond einen anschaut. Gedichte von Gertrud Kolmar und Karoline von Günderrode, von Marianne Moore oder Elizabeth Bishop. Man sollte Bettine von Arnim nicht vergessen, Else Lasker, Anna Achmatowa. Oder die Droste, wenn der Mond feindselig werden sollte. Verse der Englischen Romantik könnten hilfreich sein, sogar Klopstock oder Brentano. Tröstlich sind die Verwandlungen von Ovid. Emily Dickinson hilft immer, wenn der Mond bereits im Zimmer ist, voll wie das kenternde Boot. Wenn der Mond anfangen sollte, die letzten Zigaretten, die man besitzt, aufzurauchen, greife man zum Barock. Der Mond hat ein Loch in den Boden geraucht. Sind dies bereits erste Halluzinationen? Einer der beiden Schlegel könnte Abhilfe schaffen, Freund Heine oder doch Oswald von Wolkenstein? Ich ziehe Mechthild von Magdeburg vor, höre ich den Mond sagen. Der Mond rollt durchs Zimmer, reißt die Schrankwand mit den Blümchentassen mit sich. Dylan Thomas, zur Rettung. Bitte. Ganze Jahrhunderte reißt der Mond mit sich aus den Regalen. Animus hilf ! Heiliger Mandelstam zu Hardenberg von Lohenstein! 5. Das Gedicht im 39. Jahrhundert wird eine Art Schlafbrille sein, ein heruntergeladener Lehrfilm sonniger Nächte. Gedichte wird man nicht mehr lesen, sondern sie als ein bewußtseinserweiterndes Programm auf einen Nebenspeicherplatz des Kopfes (unabgesicherter Modus) legen. Ein Hölderlin-Vers wird über Hirnströme übertragen werden und eine Fülle von Reizen auslösen. Reize wie ein Denken in den Maßen einer Sternenkarte aus Sehnsuchtsgründen. Empfindungen eingeflüsterter Worte, die dem Tanz der Delphine gleichen. Jugend, die allezeit ein Element der Poesie war, ist und sein wird, auf ihrer inneren Barrikade, einem Baum voll noch nicht ganz und gar legalisierter Früchte, soll etwas blühen, dass sich einem Establishment (der Bornierten und Satten) entgegenstellt. Etwas das, pathetisch ausgedrückt, brennen will oder sogar verbrennen. Es gilt, wieder einen Konsens zu finden, der Dichtung mit dem magischen Moment der Suche, des Aufbruchs verbindet. Eine Reise um alle möglichen Welten, vor allem den imaginären.

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Tom Schulz

Letztendlich geht es auch um einen Restfunken Subversion und zwar nicht allein aus ethischen und moralischen, sondern aus ästhetischen Gründen. Um Dichtung, voll verrücktem Pathos und einer Unbedingtheit, Wildheit und Zärtlichkeit, mit bunten Fischen, Korallen und Muschelbänken, mit lang gestreckten Dünen und Regenpfeifern. Einem Watt, auf dem der Meeresspargel wächst, die Essschalenalgen; wo Krebse und Schlangen züngeln, jene mit dem heilenden Biss. Dichtung, voll trauernder Lianen und Leguane, auch voller Sehnsucht nach einer Welt, die verloren ist. Die verloren schien. Auf der Suche nach dem versunkenen Kontinent, nach Atlantis. Auf der Suche nach dem achten Blau des Himmels, nach dem Grund zu leben. Den Wogen, den Wellen: Um ins Meer zu gehen. Um Meer zu sein.

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Jan Wagner

klatschmohn man kann sehr lange stehen, sich gedulden, sofern es klatschmohn gibt, seinen barocken überschwang und jene viergeteilten blüten zwischen weizen oder roggen, die uns am hellsten mittag plötzlich wecken, mit allen sinnen scharf durchatmen lassen, ein augensalmiak; kann auf den wegen sehr lange stehen und den schatten lauschen, kann die landschaft wie zum allerersten mal erfassen, bis alles schatten ist und juniwärme, nurmehr der mohn sich auf die felder legt, in leuchtkugeln herabbrennt (in der ferne die letzte amsel und das rattern, rattern der güterzüge), überm abend schwebt: hier unten sind wir. niemand muß uns retten.

Jan Wagner

an jona manchmal scheint es dir, als schlängle ein licht sich herab – die bartendämmerung weit oben –, und du hörst die hungerengel der möwen, bis ein schwung makrelen niederprasselt, schwärme von sardinen, hörst brandung, segel, jemanden, der ruft. gelegentlich ist da ein duft von pinien als die erinnerung an diesen duft. daß man ihr nie entrinnen kann, der schuld, ob man die stadt mit allen übeln und untergang abstraft oder sich davonstiehlt, von bord geht wie ein sack verfaulter zwiebeln. ein wetter spüren, kühles, diesiges, einen windhauch nur – nicht diese ranzige stille und jenes auge, größer als ein diskus, das sogar hier, durch eine dicke hülle von speck und tran mal spöttisch und mal streng auf dir zu ruhen scheint; die leselampen aus leuchtalgen markieren deine enge. verschwende keinen gedanken daran, daß du ein sohn bist, bruder, neffe, ob draußen juni ist, ob januar. denk nicht an tarsis oder ninive. nenn diesen walfisch deine heimat, jona.

muff

muff als er dir beim wühlen im schrank oder im wörterbuch entgegenfällt, denkst du an höhlenbär und riesenhirsch, an den geruch von mottenpulver, milben, längst ausgestorbenes in dioramen; muff, seine eine, pelzige silbe mit dem gewicht von russischen romanen, wo die prinzessin irgendetwas sagt, was dir entgeht, ihre kohlweißlingshände im warmen fell versteckt, während der schlitten über ländereien, durch die schneebedeckte tundra und taiga gleitet, seine schellen, ihr fröhliches tandaradei in der nacht verklingt und du allein zurückbleibst, nur mit werst um werst von dunkel, diesen rauhen winden und dem permafrost tief unten, wo die schweren mammuts ruhen.

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säge wer wüßte mehr von trennen und gelingen zugleich? die feinen zähne des piranha, der schlanke griff – und schimmernd wie die klinge, die zwischen sigurd und der keuschen brynhild ruhte, bis die morgensonne durchs fenster auf das betttuch rieselte. und plötzlich kehrt der duft der sägespäne zurück, jener moment im zirkuszelt, in dem die jungfrau lächelnd in zwei teilen sich wiederfand, der große zambonini den hut abnahm, um ihn just dort zu wedeln, wo beides wahr schien, zwischen rumpf und beinen im trommelschwellen, im wirbel des lichts nicht etwas da war, aber auch nicht nichts.

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„Es ist eben die Art, wie man den Stoff, wie man das Material organisiert.“ · Form, Gattung und Freiheit finden in der Gegenwart Ein Gespräch mit Julia Schoch, Tom Schulz, Jan Wagner und Kristina Maidt-Zinke1 Jan Röhnert: Nun haben wir alle Stimmen präsent, von Tom Schulz über Julia Schoch zu Jan Wagner. Erstaunlich ist für mich, bevor ich jetzt den Staffelstab gleich weiterreiche an Kristina Maidt-Zinke, wie sich diese Texte doch berühren, ohne dass wir das miteinander abgesprochen haben. Wie die Arbeit zum Gegenstand in Tom Schulz’ Gedicht „Tag der Arbeit“ wird, oder in dem Roulette in Julia Schochs Roman Selbstporträt mit Bonaparte die Urform des Spielens, der Würfel, erfunden wird, und dann findet sich beim Würfelspiel der Worte in der von Jan Wagner benutzten Sestinenform auch immer wieder dieses spielerische Element, der Versuch, die Wirklichkeit einzufangen mit dem Text und ästhetisch zu verfestigen oder zu generieren. Aber vielleicht sieht das auch aus der Brille der Kritikerin, liebe Frau Maidt-Zinke, ganz anders aus. Sie sind nun eine der Kritikerinnen, die in den letzten 15–20 Jahren immer wieder über Gegenwartsliteratur geschrieben haben und, wie ich finde, auch durch den breiten Horizont hervorstechen, weil Sie so viele verschiedene Einflüsse haben, zum Barock zum Beispiel, zur Oper, zu Italien – Sie leben nicht nur in München, sondern auch in Venedig –, zu anderen Künsten, zu Schweden … Nicht nur, dass Sie schwedische Literatur übersetzen, Sie haben zum Beispiel auch über Nils Holgerssons wunderbare Reise geschrieben, scheinbar ein Kinderbuch, aber vielleicht ja doch viel mehr, wenn man an die Imagination denkt, die in ihm steckt. Sie überblicken, glaube ich, die Gegenwartsliteratur wie kaum jemand von uns hier sonst. Gibt es denn für Sie überhaupt noch ästhetische Debatten? Kristina Maidt-Zinke: Zunächst einmal muss ich sagen, dass ich anscheinend immer an Orte gerufen werde, die eigentlich die falschen für mich sind – jedenfalls kommt es mir so vor. Das Thema Gegenwart ist etwas, mit dem ich mich eigentlich eher widerwillig befasse. Ich bin 1

Moderiert und editiert von Jan Röhnert. Dank an Monika Urbich für die Erstellung des Gesprächstranskripts.

Julia Schoch, Tom Schulz, Jan Wagner und Kristina Maidt-Zinke

ein Vergangenheitsmensch durch und durch, bin auch zum Beruf der Literaturkritikerin, der ja bedeutet, dass man sich zwangsweise mit der Literatur der Zeit, die jetzt produziert wird, vorwiegend auseinandersetzt, nicht durch eigenen Willen gekommen. Das hat sich eben so ergeben und ich würde, wenn es nach mir ginge, den Rest meines Lebens darauf verwenden, die Literatur zu lesen, die uns seit Jahrhunderten schon vorliegt und die ich immer noch nicht bewältigt habe, auch immer wieder neu lesen, aber das ist mein ganz persönliches Problem. Sie sagen es, aber eines dieser Dinge, die mir in dieser Zeit, in der ich lebe, fehlen und die ich vermisse, sind wirklich ästhetische Debatten, und zwar in einem Sinne, dass man sich gelegentlich verständigt auf Maßstäbe, nach denen man Kunstwerke beurteilt. Man ist ja als Kritiker ständig damit konfrontiert, dass man sich äußern soll, ein Urteil sprechen soll, man soll in Jurys über Preise befinden. Ich stelle genau das immer wieder fest, dass dieser Aspekt des sich Verständigens, des Redens über die Kriterien, die jeder einzelne in so einer Runde mit sich herumträgt und nach denen er Literatur bewertet und beurteilt, dass das also kaum jemals noch stattfindet und auch gar nicht mehr für nötig erachtet wird. Es gibt sicherlich noch ästhetische Debatten in der Gegenwart, aber die spielen sich nicht in Kritikerkreisen ab. Das einzige, was jeder tun kann, was jeder tun sollte, was aber nicht selbstverständlich ist, ist seine eigenen Maßstäbe, seine eigenen ästhetischen Kriterien möglichst offen zu legen, wenn er ein Werk rezensiert, beurteilt, bewertet. Und das ist natürlich oft sehr mühsam, weil man sich dann untereinander auch mit dem Leserpublikum oft nur sehr schwer verständigen kann, weil die einzelnen Referenzsysteme, die die produzierenden Autoren und auch die Rezensenten mit sich herumtragen, oft sehr unterschiedlich sind. Es gibt da sehr wenig, was man greifen kann, worüber man überhaupt noch reden kann. Sie wollten sich ja diesem Thema hier auch gerade deshalb widmen, weil hier eine Lücke sich aufzutun scheint.

Jan Röhnert: Was sind jetzt speziell Ihre Kriterien, wenn Sie Gegenwartsliteratur bewerten? Machen Sie sich vorher klar, wie Sie da herangehen, und was ist für Sie das Entscheidende dabei? Kristina Maidt-Zinke: Ich muss zugeben, dass ich sehr stark geprägt worden bin von sehr weit zurückliegenden ästhetischen Theorien, die ich irgenwann internalisiert habe und von denen ich glaube, dass sie sich auch nicht erledigt haben; das darf man ja heute schon fast gar nicht mehr sagen: Ich bin sehr stark geprägt worden von der ästhetischen Theorie Schillers, und ich habe festgestellt, dass sie auch heute noch ein sehr brauchbares Werkzeug ist, um mit ästhetischen Phänomenen umzugehen und um sie für sich persönlich fruchtbar werden zu lassen. Das ist natürlich etwas, was sich sehr schwer vermitteln lässt in der heutigen Zeit, aber ich glaube, dass auch ästhetische Debatten und ästhetische Theorien nicht einfach etwas sind, was mit dem Verlauf der Zeit in

„Es ist eben die Art, wie man den Stoff, wie man das Material organisiert.“

den Orkus hinabgeht. Es gibt Erkenntnisse, die einmal in bestimmten historischen und geistesgeschichtlichen Phasen erreicht und hervorgebracht worden sind, die dann durchaus weiterhin gültig bleiben. Deshalb empfinde ich als großen Vorteil, dass sich so etwas in meinem Bewusstsein, in meiner Wahrnehmung abgesetzt hat, und dass ich mich auch darauf verlassen kann. Das werde ich natürlich nicht dauernd formulieren oder etwa vor mir hertragen, aber es ist einfach da, und es ist sehr hilfreich!

Jan Röhnert: Was sind denn aus dieser Perspektive Ihre Fragen an die Autoren? Kristina Maidt-Zinke: Nun, es ist schwierig, daraus Fragen zu entwickeln, und ich bin ja in diesem Kreis hier zum Glück nicht dazu aufgefordert, etwas zu beurteilen. Ich könnte ja jeden einzelnen Autoren hier fragen: „Wie ist Ihre persönliche Ästhetik, wie machen Sie das?“ Aber das wäre ja sehr lehrerhaft, daher würde ich mich lieber einfach an der Diskussion beteiligen. Jan Röhnert: Wenn Sie Schiller und alle drei anwesenden Autoren auf das Spielen hin befragen und die literarische Arbeit, die dem Spiel gleichkommt, liegt ja die Parallele schon auf der Hand. Ich denke da an Schillers Ästhetik, an den Satz „Der Mensch ist nur da Mensch, wo er spielt“. Schiller scheint ja in diesem Sinn für die Autoren immer noch ganz gegenwärtig zu sein, und das ästhetische Konstrukt des Gedichtes, der Erzählung oder des literarischen Textes sucht sich noch immer seine Form. Kristina Maidt-Zinke: Beim Begriff des Spielens wird es schon gleich problematisch, weil man da sehr genau untersuchen muss, was Schiller meinte mit dem Spiel, welche anderen Begriffe es gibt vom Spiel. Für mich ist das genauso ein problematischer Begriff wie die ‚Gegenwart‘. Da muss man sich erst einmal verständigen: Was meine ich mit dem Spiel, was meinst du mit dem Spiel. Ein Schlüsselbegriff ist hier die ‚Freiheit‘, aber auch da bedarf es wieder einer Verständigung. Es geht um die innere Freiheit und um das, was ein Kunstwerk im Bewusstsein hervorbringen kann an Freiheit. Es geht für mich um ästhetische Wirkung. Ich fand das sehr schön, dass hier in allen Beiträgen dieser Aspekt zur Sprache kam. Es ging überall um die Wirkung, die man mit Sprache erzielen kann. Es ist nur die Frage, wie weit das reflektiert wird; Künstler müssen das ja nicht reflektieren. Autoren sind nicht dazu gezwungen, eine Poetik zu haben, nach der sie arbeiten. Sie können es, aber sie müssen es nicht. Aber der Kritiker, der sollte eine haben!

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Julia Schoch, Tom Schulz, Jan Wagner und Kristina Maidt-Zinke

Tom Schulz: Ist nicht die Poetik in den Texten aufspürbar? Ich kann bei Julia Schoch und bei Jan Wagner eine Poetik entdecken, von mir spreche ich jetzt nicht. Wieso hat denn ein Kritiker eine Poetik? Kristina Maidt-Zinke: Eine Poetik umfasst die verschiedenen Vorgehensweisen, nach denen Sie arbeiten, umfasst andererseits aber auch, aus Rezipientensicht gesehen, die Kriterien, wie man das, was Sie machen, wahrnimmt. Es gibt ja Schriftsteller, die eine sehr ausgefeilte Poetik haben, und die dann auch gerne vortragen, in Vorlesungen und so weiter, es gibt aber auch welche, die überhaupt nicht theoretisieren, was sie tun; aber das ist ja auch nicht nötig. Ich glaube, ein Kritiker ist da in einer anderen Position, der sollte genau reflektieren, nach welchen Maßstäben er arbeitet. Er muss offenlegen können, warum er so urteilt, was das Referenzsystem ist. Jan Wagner: Der Idee des Spiels können sich wohl viele anschließen, das ist ja etwas, was auch in zeitgenössischen Debatten immer wieder auftaucht, aber natürlich ist dann die Frage, welche Spielregeln hat man für sich selbst etabliert. Ich habe den Eindruck, dass durchaus seit zehn oder zwölf Jahren intensive Debatten stattfinden, zwar nicht im ganz großen Scheinwerferlicht, aber in Zeitschriften zum Beispiel. Da versucht man sich schon sehr genau mit dem eigenen Metier auseinanderzusetzen und zu bestimmen, wie die Spielregeln aussehen könnten. Und sich auch durchaus in die Haare kriegen kann über die Spielregeln, die man für das Gedicht möchte. Aber natürlich sind Poetologien auch deshalb immer so problematisch, weil man die Regeln immer erst hinterher festsetzt. Wenn man von einer Poetologie ausgeht und versucht, danach ein Gedicht zu schreiben, wird man unter Umständen etwas sehr Hölzernes zustande bringen. Und man kann dann nur rückblickend sagen: „Das scheinen die Regeln gewesen zu sein.“ Kristina Maidt-Zinke: Ich habe auch den Eindruck, dass die ästhetischen Debatten, sofern sie überhaupt stattfinden, sich in verschiedene Milieus verlagert haben, wo jeder um sein eigenes Metier herumkreist. Aber da, wo sie am dringendsten vonnöten wären, eben in meinem Beruf, da passiert nicht mehr so viel. Die Lyrikszene ist dafür bekannt, dass sie sehr solidarisch, aber auch sehr kontrovers ist, eben etwas ganz spezielles in unserer Literaturszene. Sie ist immer ein bisschen abseits und führt ein Eigendasein, aber es geht dort sehr lebendig zu. Darum wird die Lyrikszene auch oft beneidet. Andererseits findet dort wenig Kommunikation mit den anderen literarischen Sparten statt.

„Es ist eben die Art, wie man den Stoff, wie man das Material organisiert.“

Julia Schoch: Die Medien sind auch ganz unterschiedlich. Wir müssen, wenn wir über Debatten sprechen, ja auch über Medien sprechen. Ich habe mir die Frage gestellt, ob die jetzige gesellschaftliche Situation, die der grenzenlosen Freiheit, eine andere Literatur hervorbringt, oder ob die Dramaturgie der Literatur sich anders verhält als in Gesellschaften, wo es Disziplinarmächte und Konventionen gibt, die den Einzelnen einschränken. Ich habe einen Artikel geschrieben, der zunächst die Überschrift trug „Taugt der unbehelligte Held für die Literatur?“. Damit ist der Mensch gemeint, der unbehelligt ist von solchen Mächten wie der Kirche oder von Staatsmächten wie der Diktatur. Das schien mir in früheren Zeiten zentral für die Literatur gewesen zu sein, als Gegengewicht. Dieser Artikel ist in der ZEIT erschienen, und dort ist diese Überschrift herausgenommen worden, und eigenmächtig wurde dabei die ganze Fragestellung des Artikels verändert. Man hat versucht, das Ganze in eine Debattenhaftigkeit hinein zu bringen, die der Artikel dann selbst gar nicht einlösen konnte. Man hat das dann „Große Literatur entsteht nur in Zeiten der Repression“ genannt, was als Behauptung natürlich völlig absurd ist! Nicht nur diese Überschrift hat dieses ganze Thema ad absurdum geführt, sondern auch das Bild, das dazu herausgesucht wurde. Dieses Bild war noch zu DDR-Zeiten entstanden und zeigte das Brandenburger Tor vor 1989. Soldaten bewachen das Tor, und ein einzelner Mensch legt eine Blume dorthin, vor die Soldaten. Die DDR spielt in diesem Artikel überhaupt keine Rolle, aber man hat versucht, das zu dieser Überschrift irgendwie passend zu machen. Natürlich kann sich doch an so etwas gar keine Debatte anschließen! Das wäre dann eine Frage von vor 70 Jahren gewesen. In der gesamten Redaktion war hinterher niemand dafür verantwortlich. Für mich gehört dazu, wo sich eine Debatte lanciert. Wo beginnt das Spiel, wer nimmt daran teil? Ich kann auch nicht durchgeplant an einen Text herangehen, oder mich wie mit einem Über-Ich ständig selbst kontrollieren. Ich schreibe entweder Prosa oder ich denke darüber nach. Es muss eine gewisse Ungewissheit da sein, die alle Ratio überschreitet, und diese Ungewissheit muss einen bis zur letzten Seite treiben, und sie muss auch gehalten werden können. Kristina Maidt-Zinke: Mit diesem Begriff der ‚großen Literatur‘ wird in der Literaturkritik auch gerne operiert, ohne das in irgendeiner Form erläutert wird, was man eigentlich damit meint. Das ist ein Phänomen, das ich immer wieder beobachte, dass mit solchen Etiketten um sich geworfen wird. Und zu dem Verhältnis zwischen Reflektion und eigenproduktiver Arbeit fällt mir ein, dass es Autorinnen und Autoren gibt, die irgendwann zu Protokoll geben, was für sie große Literatur ist, woran sie sich orientieren, an welchen Instanzen sie sich messen, und da wird es dann gelegentlich schon sehr interessant, wenn jemand

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zum Beispiel immer wieder Kafka zum Zeugen aufruft. Manchmal finde ich dann auch, dieser Autor sollte doch lieber davon schweigen, wenn es um Vorbilder geht … Bei einigen wird es dann aber doch sehr deutlich, welchen Literaturbegriff sie haben, welche Maßstäbe sie sich setzen. Das setzt dann ja auch eine Selbstbefragung voraus. Dieses Zitat „Große Literatur entsteht nur in Zeiten der Repression“ stammt ja von Reich-Ranicki aus den sechziger Jahren. Er gehörte aber zumindest noch zu denen, die immer wieder erklärt haben, welche Kriterien sie anlegen; ob man dem dann folgte oder nicht. Er hat ja auch einige sehr plakative Urteile gefällt.

Jan Röhnert: Wie soll man denn den Begriff ‚Lyrikszene‘ verstehen? Warum dringen denn die Debatten, die dort geführt werden, nicht nach außen? Tom Schulz: Ich zähle mich eigentlich nicht zu einer ‚Szene‘. Debatten sind eben schwierig, weil sie schnell ausufern, weil man sich auf ein weites Terrain begibt. Und ich möchte dann auch keine solchen Debatten führen müssen, ich möchte einfach Texte schreiben. Jeder für sich muss schauen, was seine Textarbeit mit der Wirklichkeit zu tun hat. Das ist für mich das eigentlich Interessante daran. Jan Wagner: Das Gedicht ist ein Freiraum, der den Leser einlädt, die Welt frei wahrzunehmen, sie neu zu denken, herauszutreten aus seinem allzu starren Regelwerk. Große Dichter bleiben gegenwärtig, und ihre Gedichte sind immer wieder neu lesbar. Jan Röhnert: Ist das nicht auch ein Argument dafür, dass die Literatur auch subjektive Gegenwart stiften kann, wie ich das bei Jürgen Becker sehe? Jedesmal, wenn ich das Gedicht von der wiedervereinigten Landschaft, lese kommt es mir vor, als ob ich es zum ersten Mal läse.

Kristina Maidt-Zinke: Das Erstaunliche ist, dass diese subjektive Wahrnehmung letztlich den literarischen Kanon bildet. – Herr Wagner, ich habe neulich im Spiegel diese böse Polemik zu Ihrem Gedichtband gelesen, und ich habe festgestellt, dass der Kritiker überhaupt nichts mit der Lyrik anfangen konnte, und vor allem nicht mit Ihrer Lyrik. Es war wohl offensichtlich, dass er sich unter Gegenwartsliteratur etwas anderes vorstellt, aber er hat nicht angedeutet, was er eigentlich meinte.

„Es ist eben die Art, wie man den Stoff, wie man das Material organisiert.“

Jan Wagner: Ein Gedicht muss ja keinen Bezug zu aktuellem Geschehen nehmen, so wie es zum Beispiel ein Leitartikel tun muss. Ich verstehe mich durchaus als einen politschen Menschen, der das Geschehen um sich herum aufnimmt, auch durch die Zeitungen, durch Leitartikel. Wenn all die Scheußlichkeiten, die in der Welt passieren, sich hinterher nicht im Gedicht niederschlagen, heißt das nicht, dass es weniger ‚Zeit‘ enthält. Ich halte es für ein Missverständnis zu glauben, dass die Wahl des Themas eine Gegenwartsflucht bedeutet. Lyrik ist ein Medium, das von den meisten Leuten ja nicht gerade als ein ‚Hort der Gegenwart‘ empfunden wird. Im englischsprachigen Raum ist es kein Problem, die alten Formen des Gedichts, wie zum Beispiel die Sestine, mit Gegenwart zu füllen. Wenn man das spielerisch angeht und mit Respekt, wenn man zulässt, dass das Gedicht in neue Richtungen drängt, kann man auch die alte Form wieder neu aufleben lassen. Kristina Maidt-Zinke: Sie haben ja Ihre eigene Form gefunden, ebenso wie Jürgen Becker seine eigene Form gefunden hat, das ist ja etwas ganz Individuelles. Es ist eben die Art, wie man den Stoff, wie man das Material organisiert. Das ist bei Prosaautoren genauso ausschlaggebend, wenn auch sehr viel schwieriger. Julia Schoch: Jonathan Franzen kommt in seinem Aufsatz „Wozu der Aufwand?“ zu der These, dass die heutige Technik, wie zum Beispiel Smartphones, eigentlich der Grund dafür sei, dass sich der klassische Gesellschaftsroman so verändert habe. Die Menschen begegnen sich ja kaum noch, weil sie kaum noch vor die Tür gehen müssen. Sogar ihr Essen können sie sich nach Hause bestellen. Daher gibt es auch kaum noch Reibereien oder Konflikte, wie sie nun mal in einen Roman gehören. Jan Röhnert: Aufgrund der Kommunikationsmedien brauchen wir also kaum noch vor die Tür gehen, um miteinander zu streiten. Heißt das dann nicht auch im Umkehrschluss für ästhetische Debatten, dass sie mit dieser Vehemenz, die sie früher hatten, nicht mehr offen geführt werden müssen, und dass sie dann auch keine Konsequenzen mehr hinterlassen? Julia Schoch: Ja, das würde ich sofort unterschreiben. Ich fände es reizvoll, darüber in einem Roman zu schreiben. Das Schreiben eines Romans hat ja etwas sehr Schildkrötenhaftes. Man muss aber gegen das Vergessen anschreiben, dagegen, dass ständig etwas verschwindet.

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Julia Schoch, Tom Schulz, Jan Wagner und Kristina Maidt-Zinke

Nicht als Chronistin oder als Archivarin, sondern eben die Aufmerksamkeit auf den Prozess des Verschwindens richten.

Kristina Maidt-Zinke: Jürgen Becker ist für mich eine Art Gegenbeispiel. Er hebt sehr vieles auf in seinem Werk und bewahrt es damit vor dem Verschwinden. Julia Schoch: Da ist ja 1989 ein gutes Beispiel. Was ist es denn eigentlich, woran ich mich erinnere? Ist es das, was ich selbst erlebt habe oder sind es die vielen Bilder, die ich durch die Medien aufgenommen habe und von denen ich nun glaube, dass das meine eigenen Erinnerungen sind? Kristina Maidt-Zinke: Einerseits verschwindet ja alles, aber andererseits leben wir doch auch ständig mit der Vergangenheit. Der Roman, die Prosa, tritt ja irgendwie auf der Stelle, nur die Inhalte wandeln sich. Die Lyrik hingegen verändert sich, da kann man mehr wagen. Tom Schulz: Also, da weigere ich mich aber mitzugehen. Es gibt ja durchaus leuchtende Beispiele für die Veränderung im Roman. Kristina Maidt-Zinke: Nun, dann nennen Sie mir mal ein paar Beispiele, wo die deutschsprachige Prosa wieder mutiger wird. Sicher gibt es auch immer wieder Trends, vielleicht wird sie auch mal wieder politischer, aber es wird im Moment nichts Aufregendes, nichts Umreißendes mehr geschrieben. Es wird alles verarbeitet, irgendwie in einen Strom gesogen. In der Lyrik findet da vielleicht tatsächlich mehr Aufregendes statt. Jan Röhnert: Ist das nicht sehr allgemein gesehen? Marcel Beyer kultiviert alle Gattungen, die es so gibt, und firmiert wechselweise unter der Sparte ‚Lyrik‘ oder ‚Prosa‘, und bei Jürgen Becker ist es ganz ähnlich. Müssen wir nicht wegkommen von diesem Gattungsdenken, auch in der Literaturkritik? Kristina Maidt-Zinke: Lyriker bekommen ja heute Preise, die eigentlich für Prosaautoren vorbehalten sind. Die Leser finden jetzt in der Lyrik, was in der Prosa zu wünschen übrig bleibt. Marcel Beyer ist ein gutes Beispiel, denn er hat ja auch gerade den Belletristikpreis der Leipziger Buchmesse erhalten, was eine große Sensation war. Das ist doch ein

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Ausbruch aus dem Gattungsdenken und zeugt davon, dass in der Lyrik jetzt Dinge möglich sind, die wir uns von der Literatur wünschen.

Julia Schoch: Kann man sich denn von der Literatur etwas wünschen? Kristina Maidt-Zinke: Man kann sich ja bestimmte Wirkungen von ihr wünschen. Es geht doch um Wahrnehmung, um Bewusstsein, darum, was ein Gedicht mit einem Leser machen kann. Gibt es nicht auch eine Art vorauseilenden Gehorsam von Autoren, damit sie bei den Kritikern gut ankommen? Wir sind ja alle gewissen Mechanismen unterworfen – gewissen Marktkriterien. Das gehört eben auch mit zu dem Phänomen Gegenwart. Julia Schoch: Wir sollten uns von diesen Forderungen freimachen, unabhängig von diesen Aktualitätswünschen schreiben. Jan Röhnert: Vielen Dank, wir freuen uns auf die Fortsetzung der Diskussion.

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Literaturkolloquium III





Marcel Beyer

Das erste Gedicht, das ich lese, ist relativ streng nach einer Vorlage von Georg Trakl entstanden. Der Auslöser war die Einladung zu einer Anthologie anlässlich eines Trakl-Jubiläums beizutragen. Da hatte ich ein berühmtes Portrait von Georg Trakl vor Augen – ich glaube, es ist in Wien aufgenommen worden –, wo er mit einem sehr starren, etwas verbissenen Gesichtsausdruck, sehr ernst dasitzt. Dabei musste ich sofort an Eminem denken – wie er aussieht, wie er sich präsentiert – und habe dann, um diesen inneren Eindruck zu überprüfen, ein typisches Foto von Eminem aus dem Netz gezogen und den Trakl daneben gelegt und – das passte! Und dann kam ich noch darauf, wie Eminem in diesem einen Video, das eigentlich der einzig vernünftige Kommentar zu Osama Bin Laden war, als Osama Bin Laden verkleidet so albern durchs Zelt hüpft.

An die Vermummten I So der Wahnsinn Abbottabad, da sich alles an schwarzem Material überlagert: Asche von Türmen, nordpakistanische Nacht und auch dieser alte, auf hoher See bestattete Zottelbart. Großes Bunkergefühl heute. Samt Magengrollen. Ungefilmt bleibt der Nebenraum, wo man ein totes Kind verhört. R ASEND PEIT SCH T G O TTE S ZO RN den Heli übers Anwesen, Stroboleuchten erstasten zwei braune Augen, mehr nicht. Kohl, Kartoffeln und Haschisch im Hof. Dann gibt es nur noch eins. Blut. Man hört die vermummten Menschen, Flüche, RAUS, WAR TE , Metall, das Getöse. Kein Laut.

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II Oder was, Slim Shady vom Waagplatz, schaust du da, als Bartloser, aufgehübscht unterm Frotteeturban, an deinem Billig-TV, Slim Shady IM TRA U M ? Bist mir magischer Bruder. Weißt eisern zu schweigen. Wart ab, so wirst du dunklere Beute. Bleib unerschrocken. (Du sollst den Raum niemals sehn: Dort hat man ein totes Kind verhört.) Rasend peitscht (keine Geiseln) Gottes Zorn (und kein Purpur) des Besessenen (kein Heavy Metal) Stirne (kein Licht). Du hast nur ein Tütchen A U RO RA , ein Tütchen SARIN, und deinen fiebrigen Blick auf manchmal rosafarbene Moscheen, nervösere Haut.

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Das folgende Gedicht ist in einer Anthologie für Volker Braun erschienen1. Da bin ich zwar nicht streng, aber doch von einem Gedicht von ihm ausgegangen: Es geht um Vokabeln und Worte, die nur in der DDR und nicht in Westdeutschland existierten oder nur in der DDR eine bestimmte Bedeutung hatten.

Liedpostkarte Was für ein Ort, was für ein Land. Ich stehe da, im Nicki der Geschichte, und winke freundschaftlich über die Sprachbarriere hin. I N MEINEM DUNKL E N K OPF mein Playmobil stellt wirklichkeitsgetreu bis in die Platz-, die Plastikwunden den großen Nervenkrieg des zwanzigsten Jahrhunderts nach. Dort schwört man, daß die Welt erkennbar sei. Wer fällt, der fällt. Hier kratzt sich alle Nacht ein Kaskadeur den Schorf vom Knie – wer in die Schlacht ziehen will, muß schmerzempfindlich sein. Kein Satz bleibt unerwidert. Nichts bleibt unzerstört.

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Vgl. Michael Opitz/Erdmut Wizisla (Hg.): Was immer wird, es wühlt im Hier und Jetzt. Leipzig. Lehmstedt Verlag 2014.

Marcel Beyer

Keine Gefangenen. So geht’s hier zu. „Schwermut.“ „Heimat.“ „Druschba-Deutsch.“ Jedes Wort ein Diversant.



Dieses Gedicht entstand zuerst nicht als Gedicht, sondern als Text für eine SoloStimme. Seit zwölf Jahren arbeite ich mit dem Komponisten Enno Poppe zusammen und er gab mir den Auftrag ein Gedicht zu schreiben, in dem nicht so viele Worte mit so vielen Silben vorkommen. In den ersten Strophen halte ich mich daran, dann kommen von Strophe zu Strophe Worte mit mehreren Silben hinein … Ich habe mir erlaubt, ein fast durchgereimtes Gedicht zu schreiben: Wenn es nicht für eine fremde Stimme geschrieben worden wäre, hätte ich es mit viel mehr Brüchen versehen, aber ich wusste, die Brüche würden durch die Musik kommen. Und da wir hier über Gegenwart reden, noch eine Anmerkung zum ,Augenblick‘, (der an sich aber eine andere Sache ist!): Das Gedicht vorzulesen dauert ca. 35 bis 40 Sekunden, das daraus entstandene Lied 6 Minuten.

Wespe, komm Wespe, komm in meinem Mund, mach mir Sprache, innen, und außen mach mir was am Hals, zeigs dem Gaumen, zeig es uns. So ging das. So gingen die achtziger Jahre. Als wir jung Und im Westen waren. Sprache, mach die Zunge heiß, mach den ganzen Rachen wund, gib mir Farbe, kriech da rein. Zeig mir Wort- und Wespenfleiß, machs dem Deutsch am Zungengrund, innen muß die Sprache sein. Immer auf Nesquik, immer auf Kante. Das waren die Neunziger. Waren die Nuller. Jahre. Und: so geht das Auf dem Land. Halt die Außensprache Kalt, innen sei Insektendunst, mach Es mir, mach mich gesund, Wespe, komm in meinem Mund.

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Marcel Beyer

Das folgende Gedicht hängt für mich mit dem vorherigen zusammen. Es ist eine Sammlung und Montage von Sprachebenen und Sprachbildungen, die es nur mündlich gibt, die mich deshalb besonders faszinieren.

Ich muß Ich muß hinunter in die Dialekte steigen, ich bin WIE E IN PALAST VOM VOL K Z E RSPLITT ER T, ich bin der Hund, der sich vorm P L U S den Hals verdreht, ich bin S ENIOREN AUF DE R B E AUTYFARM, ein Rand-, ein Nebenwort, das wird sich zeigen, wenn ich unten bin. Die Dialekte, da muß ich hinein, der Wilthener, der Landsknecht, der Nordhäuser, der Ostpreußische Bärenfang, man muß sie auf Hufthöhe präsentieren, und ich, mit Traktoristenhänden, muß in die Knie, von meiner eigenen Niedlichkeit erdrückt. Ich schrieb, ich Beuteldeutscher schrieb ein Kilo Räusperware, ich muß zurück, ich schreibe K LEINE SPRACHE N hin.1

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Die vier Originaltexte nach: Marcel Beyer: Graphit. Gedichte. Berlin: Suhrkamp 2014, S. 154, 43, 125, 99.

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Kathrin Röggla

Eigentlich habe ich sehr viel gesucht zum Thema, wie sich die Literatur zur Frage der Grammatik der Zeit verhält. Nun, das ist eine neue Erzählung, die ich für einen Band geschrieben habe, der im nächsten Jahr erscheinen wird.1 Der Untertitel verweist darauf, dass das Ursprungsprojekt das Thema Dystopie war. Davon bin ich aber unterwegs abgekommen …

Tangente Ein paar Flugstunden davon entfernt hörte Lavinia Prerow schon die längste Zeit: „Keine Sorge, wir sind praktisch in der Nähe des Flughafens.“ D.h. sie glaubte es zu hören, sie sah aber keinen Flughafen. Sie konnte sich auch beim besten Willen nicht vorstellen, dass diese Straße zum Flughafen führte. So sehen keine Straßen aus, dachte sie sich, die zu Flughäfen führen, allenfalls Landstraßen, nein, was sagte sie da, Pisten. Doch sie befanden sich ja nicht in irgendeiner Landschaft, sondern in einer Stadt, einer Millionenstadt, was sagte sie da, einem Schwergewicht an Metropole. Da gab es schon gewisse Erwartungen, vor allem, was Flughafenstraßen anging: Sie müssen Zubringer sein, sie müssen Autobahncharakter annehmen, irgendwann, sie dürfen nicht nach links noch nach rechts gehen, sondern geradeaus auf das Hauptgebäude zusteuern. Flughafenstraßen, so wusste sie, dürfen nicht eng sein, eingekeilt von Häusern, Hongkong mochte da eine Ausnahme bilden, aber sie war nicht in Hongkong, und so musste es ein Highway sein mit riesigen Verkehrsschildern und Werbetafeln an der Seite, die an Kaufkraft gemahnten, an saubere neuwertige Produkte. Das hier fühlte sich mehr nach verhutzelter Seitenstraße an, so ganz war das in der Dunkelheit nicht zu erkennen – ja, die Straßenbeleuchtung fehlte, dabei sollten Straßen, die zu Flughäfen führten, hell erleuchtet sein, weil Flughäfen selbst hell erleuchtet waren, und ein beleuchtungstechnischer Kontrast zur Umgebung nicht erwünscht war. Taschkent mochte da eine Ausnahme bilden, aber sie waren nicht in Taschkent, weiß Gott nicht, man durfte sich mehr erwarten, zumindest freie Marktwirtschaft mit Beleuchtung. Dazu kam, es war hier an der Straße plötzlich menschenleer. Wo sie bis eben noch reges Geschäftstreiben wahrgenommen hatte, Menschen, die in der Dunkelheit miteinander sprachen, Waren anboten, Versammlungen abhielten 1

Es handelt sich hier um die Arbeitsfassung der Erzählung Tangente. Vgl. Katrin Röggla: Nachtsendung. Unheimliche Geschichten. Frankfurt/Main: S. Fischer 2016, S. 30–38.

Kathrin Röggla

– „waren das Sikhs, Ganesh? War das eine Wahlkampfveranstaltung?“ – herrschte jetzt völlige Totenstille. Nein, zu diesem Land passte keine Menschenleere, Menschenleeren waren etwas für Nordkasachstan, aber sie war nicht in Nordkasachstan, erinnerte Prerow sich, sie hatte die Einladung angenommen, kurzfristig, hatte sich aus Nordkasachstan raus bewegt, hatte auch Südkasachstan hinter sich gelassen und war über Wien zurückgeflogen in diese Region. Nur, um hier in dieser Düsternis zu landen. Vielleicht eine durchschnittliche Düsternis für Mumbai, aber mit Sicherheit keine durchschnittliche Menschenleere für die hiesige Region. Die Menschenleeren schauten hier anders aus, sie schauten nach Geschiebe und Gedränge aus. Ein Gedränge voller Handyklingeltöne, was sie zugegebenermaßen anfangs erstaunt hatte. Sie hatte sich gesagt, das ist doch nicht Westeuropa, aber hatte sich erinnert, dass selbst im ansonsten mittelalterlichen Jemen Handyklingeltöne zu hören waren, und von Indien war ja ohnehin eine Vervielfachung der Handyklingeltöne zu erwarten, eine Multiplizierung, wie aus dieser Region überhaupt nur Multiplizierungen kamen. Die Multiplikation hatte hier quasi ihr Basislager aufgeschlagen, was sich alleine an der Immobiliensituation im Dekkanhochland ablesen ließ. Ein paar Stunden früher hatte sie auf ihrer Fahrt die riesigen Bauvorhaben hunderte Kilometer entlang der Autobahn betrachten können, sie hatte den Hightechwillen, den Modernisierungsschub, der durch die ganze Hochebene ging, in ihr verständliche Zeichen übersetzt gefunden, eine Nachricht aus der Zukunft, die bis hin zur Autobahnraststätte am Fuße der Westghats ging, am Rand jenes berühmten zersiedelten Mumbaiküstenstreifens, der nicht mehr Nachricht von sich geben musste, sondern reine Gegenwart war. Nur nachts schien er vollends in Unverständlichkeiten und Unbetretbarkeiten zu zerfallen, ein Moloch, der alle Mobilität schluckte und Airportwahrscheinlichkeiten drastisch zu reduzieren verstand. Ja, überlegte Prerow sich weiter, man hatte es hier entweder mit dem Flughafen nicht sehr ernst gemeint und ihn so zugebaut oder etwas stimmte mit ihrem Fahrer nicht. „Hast Du die Kinder gesehen, Ganesh, die über den Zaun geklettert sind? Und was sollte der Metallschrott, dieser riesige Friedhof der Lastwägen und Busse mitten auf unserer Straße? Ich meine, was waren das für ausrangierte Fahrzeugruinen? Wer stellt die auf einer Stadttangente einfach so ab? Und hast Du die Wahlkampfveranstaltung gesehen, Ganesh, direkt an der Autobahn? Waren das Sikhs?“ Er antwortete nicht mehr. Sie hatte aber auch nicht „wirklich“ gefragt, wie sie hier selten etwas „wirklich“ fragte. Ging einfach nicht, die Antworten wären zu kompliziert, sie würden nur ablenken vom Geschehen. Denn äußerste Konzentration, so viel wusste sie, würde gebraucht für den Verkehr, den Millionenverkehr, den Aberwitz an Verkehr, der nur Kompromisse kennt und keine Regeln. Für europäische Autohände nichts, für europäische Autofüße nichts, die ganze europäische Autoausstattung brachte hier nichts. Die Konzentration wurde gebraucht für die Frage, ob dies die Straße zum Flughafen ist, denn das musste jetzt endgültig festgestellt werden, sonst

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kriegte sie es mit der Angst zu tun, „hörst Du Ganesh?“ Er hörte es nicht, sie hatte es auch nicht laut genug gesagt, denn wo kämen wir hin, wenn der Innenraum eines Autos sich anfüllte mit ängstlichem Vokabular? Dabei, erinnerte sie sich an ihre eigene Aussage vor zwei Stunden, sei Angst eine Möglichkeit der Landesberührung, und eine Landesberührung sei wünschenswert, man wolle ja wirklich da gewesen sein. Wollte man? Ihr Gegenüber lachte: „Na, man möchte jedenfalls einen Fuß auf den Boden gekriegt haben, auch wenn man ihn schnell wieder wegzieht.“ – „Richtig! Hast Du Angst, bist Du irgendwie angekommen oder etwas von Dir ist angekommen“, hatte sie sich noch vor zwei Stunden selbst äußern gehört, und jetzt war tatsächlich etwas angekommen, ein Teil, den sie nicht im Griff hatte, der sich gerade verselbstständigt hatte und jetzt aus dem Fenster sah, verzweifelt nach Hinweisschildern Ausschau hielt. Ein Teil, der unerbittlich den Rest nach sich zog. Ein Flughafen, so überlegte Prerow jetzt, war doch eigentlich immer das Hauptgeschehen einer Stadt und kein Nebenschauplatz, der langsam zuwuchs und zuwucherte, von Slums und Gebäudekomplexen besetzt wurde, die keiner verstand. Kein Terrain, das zurückerobert werden durfte von den Übriggebliebenen und dem Rest der Welt, der hier freie Platzwahl witterte. Am Ende streunten Hunde übers Gelände, und kleine Hütten versperrten den großen Maschinen die freie Fahrt aufs Rollfeld, die nach Europa wollten. Wollten sie noch nach Europa? Man sagt, so viel wusste Prerow, es gehe von hier aus hauptsächlich nach Asien, ins Fernöstliche, die Flugrichtungen hätten sich einfach geändert. Auch nach Amerika gehe es nur noch über den Pazifik mit Zwischenstopp in Hanoi oder Hongkong. China, Korea, Japan, Vietnam würden auf der Landkarte erscheinen, auf der Europa langsam verschwand, zum vergessenen Kontinent mutierte. Ach, wäre sie doch zurückgeblieben beim Abendessen in Pune, hätte sie ihnen doch einfach weiter zugesehen, den über einer Pizza aufatmenden Locals, über einem Bier aufatmenden Deutschen und Franzosen, die für einen Augenblick lang so taten, als wären sie zuhause. Da hatte sie es festgestellt: Sehr viel von ihr war noch nicht angekommen – Indien hielte sich ein paar Zentimeter auf Abstand, konnte sie aber auch nicht sagen, man hatte sie freundlich empfangen, und nie während der ganzen Woche hatte sie auch nur eine Sekunde lang das Gefühl einer Flughafenentfernung oder Flughafenenttäuschung, hatte auch immer Gesprächspartner zur Hand, die ihr was über Auftragslagen und Auftragszahlen erzählten, über Schulklassen mit Deutschunterricht und boomenden Geschäftszweigen, nachhaltiger Entwicklung und dem ganzen internationalen Brimborium. Jetzt wurde ihr auch noch übel. Warum war sie der Empfehlung ihrer Vorrednerin nicht gefolgt und hatte Himalayan Water oder Catch-Water gekauft, sondern stattdessen Package Water – also Wasser, dem man

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Kathrin Röggla

alles entzogen habe. Man bekomme Nierenschmerzen davon, hatte die Vorrednerin sie gewarnt, wenn man zu viel davon trank, aber da die hochschwanger war, hatte Prerow das nicht ganz ernst genommen. Schließlich hatte die ihr auch in einer Hektik von ihrer Organisationsarbeit erzählt, wie Prerow es in ihrer Branche zuvor nicht erlebt hatte. Im Moment sei sie dabei, Erleichterungen im Grenzverkehr einzurichten – ja, boarder management, antitrafficking – aber natürlich nicht hier, hatte sie ein wenig verhalten gelacht und dann anschlusslos weitergeredet von kambodschanischen Kontrollchipkarten, deren Demokratiefaktor sich schlagartig ändern würde, wären sie burmesische. Sie hatte von den libyschen Flüchtlingslagern gesprochen, die die EU aufmotzte, von dem UNHCR zu Gaddafis Zeiten, dessen Vertreter ganz schnell aus der Stadt draußen waren, bekamen sie einen Wink. In Windeseile hatte ihre Kollegin all die hübschen zynischen Anekdoten bereitgestellt, die man in ihrer Branche schon aus purer Höflichkeit bereithielt, und die sie von Veranstaltung zu Veranstaltung von neuem aufhäuften, bis die lange Nacht der Diktatorengespräche ausbrach, die immer etwas erstaunlich Übersichtliches hatte. Übersichtlicher als diese Form der Infrastruktur in jenem überdemokratischen Land – „Was ist da los, Ganesh? Was machen diese Menschen da? Sollen wir anhalten? Halten wir nicht an? Wieso halten wir nicht an?“ Sie fuhren sehr langsam an einer Engstelle vorbei, aber sie konnten nicht sehen, was da los war, „eine Wahlkampfveranstaltung? Waren das Sikhs, Ganesh?“ Ein paar Locals hatten ihr von dem lebhaften Wahlkampf erzählt, aber sie hatte schon nicht mehr recht zugehört, war mit den Gedanken schon bei ihrem Abflug nach Kairo oder bei der übernächsten Geberkonferenz in Tokio. Sie sah nach oben, um am nächtlichen Himmel Flugzeuge zu erspähen, die Hinweis auf einen Flughafen ergeben konnten. So ein Mumbaiflughafen musste doch einen Takt haben: Jede Minute eine Landung, jede Minute einen Start, und war man in Flughafennähe, müsste man doch dort oben riesige Maschinen sehen, es musste doch Flugschleifen geben, die lange Perlenschnur der anfliegenden und abfliegenden wie sie sie vom Frankfurter Flughafen her kannte. Aber sie waren nicht am Frankfurter Flughafen, weiß Gott, sie waren noch nicht einmal an irgendeinem Flughafen, der nächtliche Himmel blieb schwarz. Vielleicht aber stürzten die Flugzeuge hier schon gleich über der Innenstadt ab, wurden von der nächtlichen Metropole einfach verschluckt und wieder ausgeatmet, ein animalisch-technischer Fortsetzungsroman, zu dem sie jetzt vergeblich Zutritt suchte. Ein anachronistischer Irrläufer, der auch einmal dabei sein wollte bei der Zukunft des Reisens – ein Absturz ohne Nebengeräusche. Schon 500 Meter vom Einschlagsort entfernt hörte man nichts, weil der allgemeine Lärm der Stadt die Explosionsgeräusche unkenntlich machte, aber vielleicht waren sie auch gar nicht mehr in der Nähe der Stadt, nicht mehr im Großraum Mumbai, schließlich waren sie auf der Stadttangente stundenlang daran vorbeigefahren, und ihr Handy wurde alle fünf Minuten

Tangente

begrüßt: „Aircel welcomes you to Mumbai“. Jetzt begrüßte sie niemand mehr, ihr Handy blieb still, als wäre es aus allen Handyzonen rausgefallen. Aber sie sollte ja auch verabschiedet werden, vielleicht auf stumme Weise, die Welt um Lavinia Prerow herum wurde dunkler, stiller, und irgendwann war nichts mehr da, nur noch sie saß alleine auf einer Rückbank im Nichts, d.h. Ganesh drehte sich plötzlich um, um sie zu fragen, an welchem Terminal er halten sollte, sie wären jetzt da.

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aggregate (5) gedichte zeigen wenig neigung, sich von allein zu bilden. lyriker sagen: sie weisen diese neigung nur geringmaßig auf. es braucht sanften zwang. hier tipps aus dem gestaltzusammenhang: die geometrische anordnung der teilchen im gedicht heißt gitter. sind teilchen geladen, heißen sie seme. deren gitter nennen wir struktur. anziehende und abstoßende kräfte halten die seme in strukturellem wasser. starke bindung führt häufig zum bündel; kompakt gebundene bündel heißen begriff. begriffe sind ungerichtet. wörter sind loser geschnürt und wirken gleichmäßig nach allen seiten. metrische berechnungen haben ergeben, daß noch zwischen gebundensten bündeln platz ist für eine art zitternde lexikbewegung - rund um die tatsächliche ruhelage. die zahl 6 gibt an, wieviele nachbarschaften ein sem eingehen kann. andere sätze haben eine andere struktur. bei komplexen, „mächtigen“ lexemen wächst die zahl direkter nachbarn sehr schnell an. das wissen um den bau lyrischer gitter ermöglicht es, den begriff „satz“ folgendermaßen zu definieren: feste sätze bilden eng vergitterte texte. diese setzung gilt auch für ungeläufige struktur. erst in schmelze werden sie beweglich und können inhalte transportieren. strukturenergie nennen wir die energie, die aufgewendet werden muß, um ein wort in eine emotion zu überführen. die überführungsbilanz sollte im abgleich ausgeglichen sein. zur probe kürzt man thema durch lemma. bitte kein rest.1

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Das Gedicht wird im Herbst 2018 im Band fachsprachen XLI bei kookbooks-Verlag erscheinen. Wir danken dem Autor, der diesen Erstdruck genehmigt hat.

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es ist mile end (1) ganz ohne umschweif – wir steigen gleich voll ein: evan parker überquert den derek bailey place und sieht genau wie adolf endler aus. bei ungefähr drei ist auch dieser satz auf dem baum. er enthält deutlich zu viele glieder und überschreitet somit die nominelle schwelle. scheiße! logisch fast ohne belang, daß dieses in dalston geschah. nichtsdestotrotz ein auftakt nach maß. gefundener fraß. abgewichster rod stewart-typ schwört, er habe zur firmung die bow bells gehört. die wirtin zwinkert ihm zu. so ist es hier brauch. mir gefällt die wirtin übrigens auch. ganz gut. schnell raus. ins taube und pflug, auf einen eimer voll blut (4,5 %). die toten augen von clapton. stratfords abgestorbene hose. und whitechapel schließlich gleicht einem leichnam: gedeihlich, gedeihlich. das ist ein richtig schöner satz. nun freilich höchste zeit für doktor häußlers erstes erscheinen. wir sehen uns in den clubraum versetzt, wenn er sich räuspert und vernehmlich äußert, pulps „mile end“ sei leider nicht so besonders. ich wiederhole: nicht so besonders. zum gegenbeweis erklingen ein paar zeilen: „(ich) erlernte diesen ort in burdett road / die fünfzehnte etage / mit einem dicken brett vor tür / es roch, als sei jemand gestorben / und badezimmer missing komplett / ooooh / und stärkstens im fünften nach fisch / und ooooh / es hat dich niemand lieb / weil du nicht hier geboren bist / [refrain] es ist eine chaos in ordnung / es ist mile end …“

(2) bis hierher vielleicht. weils dicke reicht. ich sitze mittlerweile im 277er-bus richtung crossharbour, als sich eine

es ist mile end

hand auf meine schulter legt. das könnte neuerlich der doktor sein. nach genommenem augenschein: nein! dem doktor ähnlich, aber niemals wesensgleich. ich entziehe mich seinem dringlichen griff und springe kingsland high street raus. eine warme spätsommernacht am gillett square mit red stripe, maiskolben und schlegel. ganz sanft, wie von fern, weht dich schenkelpfanne an. evan parker durchschreitet die ashwin street, mit einem schwarzen koffer in der hand. dieser satz enthält verzinkte logische glieder. so stelle ich mir lyrik vor. und schreibe dementsprechend. und les im bancroft arms den beowulf komplett. die wirtin findet das, glaube ich, gut. sie mag mich ein bisschen und zwinkert mir zu. im palmenbaum trank man hingegen noch kürzlich geschlechtlich getrennt: links / rechts. ich wiederhole: links / rechts. der bierschaum ein traum. im sinne von: vorhanden kaum. im victoria, 110 grove road, zieht es wie hechtsuppe. heimlich schließe ich die tür zum hof. geht doch. wo aber tatsächlich die luft brennt, da spielt leyton orient. 1881 von theologen gegründet, schlossen sich sieben jahre später eisenbieger an. ich wiederhole: eisenbieger an. vierte liga unverdrossen. in der halbzeit reicht man cider und pastete. und sammelt pfund für prostata. wer gerne gibt, gibt doppelt. dieser satz enthält eine zwinge. ich sänge die zwänge elektrisch, wenn man mich ließe. aber die leute wollen es nicht.

(5) du zerbrichst meine eier, sagt der typ vom wettbüro. du bringst es fertig, daß mir die eier buchstäblich am boden schleifen. herzlichen glückwunsch! so kreiert man eine situation. man läßt sich jedenfalls nicht zweimal bitten und dekoriert ihm kurzerhand die leiste um. diese szene ist belegt und spielt in der william hillfiliale broadway market. quatsch, mischt sich da der doktor ein, das war im paddy power, aldgate east. du hättest ihn beinah entkartet dafür. wie auch immer: die erbauliche frau erhält gerade ihr

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drittes selleriestangengetränk, und ich, ich wage den trappisten. im hintergrund ganz leise throbbing gristle. dann, glaube ich, t. rex. ein leichter schwips um kurz nach fünf (gerechnet auf fiese greenwichzeit), und ich beginne noch schnell ein gedicht mit dem titel „150 gedichte, die ich in london gerne geschrieben hätte“. das lesen sie augenblicklich nicht. vom tresen her die klotzköpfe mit: „schlag mich mit dem iambusstock!“ ich denke mal, ich würde. im bancroft arms ein zeitgenössischer stich an der wand: „nahrungsausgabe im postfaktischen london 2016“, von einem unbekannten künstler, daneben, mit schärpe, der endlich geritterte rod. gibt es an dieser stelle des textes noch jemand, der sich an doktor häußlers gitter erinnert, an seinen ambigen beispielsatz: „im wespenbaum der knabe mit der palmentaille“? ja? dann ist es gut. und dies ist er erneut: „ich bin neuerdings in der lage, gedichtliches wissen zu messen. und anzugeben auf einer skala bis hundert. der für iain sinclair ermittelte wert beträgt 84, was wahnsinnig viel ist, vor allem, wenn man bedenkt, daß das hier vorliegende gedicht mit größter mühe auf 38 kommt.“ ende des häußler-zitats. beginn des erneuten umdekorierens.

(9) endlicher abschweif – wir brechen das runter auf weit unter hundert. vielleicht vertreibt uns dabei die folgende gratis-info ein wenig die zeit. here we go: der neue essay-band von doktor häußler heißt voraussichtlich „schmäußler“. ich begleite ihn noch bis zur liverpool street station, dann ist er für immer verschwunden. zum abschied ein brief, bitte erst zuhause öffnen, und darin ein einziger satz: wer immer das gedicht ins schulheft zwingt, braucht keinen semantischen bringdienst. man nennt das seitdem die „häußler-vermutung“. die lampe zeigt euch, ob er richtig lag. drei männer aus leytonstone besuchen margret thatchers grab, um etwas unerhörtes zu tun. das falsche ei im richtigen huhn. ich wiederhole: im richtigen huhn. der tote sun ra und sein gesamtes arkestra gegen butch dykes & the cockney sheiks. die east london mosque war rest-

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los ausverkauft. an allerseelen bingo im klatschmohn und das hundchen. mit anschlag: verfügt ihr bier über einen zu mächtigen kopf, geben sie einfach bescheid. wir zapfen wirklich gerne nach. ich wiederhole: wirklich gerne nach. im hintergrund die mothers mit dog breath, more or less. der dobermann aber, den ich in croydon in die höhe warf (1978), hat den boden nicht wieder berührt seitdem. jarvis cocker, von meinem fenster aus kann ich dein haus sehen. und die wintersonne wandert, von mile end bis hinters hunde-eiland. dies alles geschah wann? bevor der finale bingohallen-aufstand begann. ganz konsequent – es ist ja mile end. und dann? lief ich ein letztes mal die parker street entlang.1

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Die Gedichte sind Teil des Zyklus es ist mile end, der erst 2016 im „postfaktischen London“ entstand und ebenfalls im Herbst 2018 im Band fachsprachen XLI bei kookbooks-Verlag erscheinen wird. Wir danken dem Autor, der diesen Erstdruck genehmigt hat.

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Zeitgenossenschaft als Zeit- und Sprachkritik · Ein Gespräch mit Marcel Beyer, Kathrin Röggla, Ulf Stolterfoth und Thomas Geiger 1

Valentina Di Rosa: Erstmal vielen Dank an Marcel Beyer, Kathrin Röggla, Ulf Stolterfoth für die schöne Lesung. Dank der Auswahl der Texte, die Ihr jeweils auf unseren Diskussionszusammenhang bezogen habt, sind bereits Bilder, Motivkonstellationen, stilistische Chiffren im Raum präsent. Bevor wir nun zum Thema ‚Gegenwart‘ zu sprechen kommen, möchte ich nur kurz etwas über die Idee sagen, aus der die Komposition an diesem Tisch entstanden ist. So unterschiedlich Eure poetologischen Ansätze und Gattungsperspektiven – Lyrik, Roman, Theater, Essay – sind, sehe ich nämlich doch gewisse Affinitäten in der Grundeinstellung Eures Schreibens. Es geht nicht nur um eine manifest kritische Positionierung gegenüber der Gegenwart, sondern auch und vor allem um die sprachreflexive Geste des Schreibens, die, jeweils individuell markiert, damit einhergeht. Damit meine ich zum Beispiel das Interesse für Sachverhalte oder Wortmaterialien unterschiedlicher Provenienz, aber auch Strategien der Verfremdung, der Subversion von Sprach- und Diskurskodierungen, Verfahren der Intertextualität und der Intermedialität. Doch bevor Ihr drei selber zu Wort kommt, würde ich gerne Thomas Geiger den Auftakt überlassen, der von seinem Schreibtisch im Literarischen Colloquium Berlin aus eine eigene Beziehung zur Literaturlandschaft der letzten Jahrzehnte entwickelt hat. Als jüngste Projekte nenne ich die zwei Anthologien Laute Verse (2010), die sich auf die deutschsprachige Lyrik der Gegenwart konzentriert, und Luftsprünge (2015), die den Leser auf eine spannende „literarische Reise durch Europa“, wie der Untertitel lautet, mitnimmt. Auch mit Dir, Thomas, würde ich gerne vom Begriff ‚Gegenwart‘ ausgehen – und zwar nicht von einer abstrakten Definition, sondern von den konkreten Valenzen und Implikationen, die für Deine Arbeit relevant sind. Thomas Geiger: Wo Du das LCB erwähnst, möchte ich zunächst von einem Titel ausgehen, den ich – es ist nicht so lange her – für ein Schriftstellertreffen finden musste. Die Veranstaltungsreihe, um die es geht, besteht schon seit einigen Jahren und heißt Ein Tunnel über der Spree. Da werden Autoren eingeladen, die zu bestimmten Themen Ungedrucktes 1

Moderiert und editiert von Valentina Di Rosa. Dank an Adele Sorice und Luigia Tessitore für die Unterstützung bei der Erstellung des Gesprächstranskripts.

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vorlesen. Wir waren also auf der Suche nach Stichworten und die Vorschläge gingen zuerst in alle Richtungen: Der Eine wollte etwas zur Finanzkrise machen – das fand ich aber zu plakativ; der Andere zu einem genauso konkreten aktuellen Thema, der Dritte zu … ich weiß nicht mehr was. Zum Schluss einigten wir uns über meinen Titelvorschlag Die Gegenwart mitschreiben – aber ich wusste gar nicht, was daraus werden würde. Gleich am ersten Tag entfachte die Diskussion darüber, was denn Gegenwart überhaupt sei. Dabei hat Lukas Bärfuss die Gegenwärtigkeit der griechischen Mythen aufs Tablett gebracht und darauf verwiesen, wie die Gegenwart in die weiteste Vergangenheit zurückreicht. Und das stimmt auch für mich. Denn der andere Gedanke, den ich mit Literatur und Gegenwart gleich assoziiere, ist, dass Bücher eigentlich Zeitkapseln sind. Das heißt: Wenn wir heute Zola, Goethe oder Shakespeare lesen, unternehmen wir – ob bewusst oder nicht bewusst – eine Zeitreise. Das ist ein ganz wichtiger Aspekt der Literatur, der auch für mich als Leser gilt, nämlich dass Bücher Zeitgenossenschaften haben. ‚Zeitgenossenschaft‘ ist mir als Wort eigentlich lieber als ‚Gegenwart‘. Wenn Jürgen Becker mit seiner fünfzigjährigen Publikationsgeschichte da ist, ganz gegenwärtig ist, wie wir es gestern erlebt haben, so sind doch auch seine ersten Bücher da und damit auch die sechziger Jahre, als er anfing zu schreiben. Deswegen ist ‚Zeitgenossenschaft‘ für mich eben ein weiterführender Begriff als ‚Gegenwart‘, die an sich, wie wir alle wissen, allzu flüchtig ist …

Valentina Di Rosa: Wie ist es denn für Euch, Kathrin, Marcel, Ulf ? Kathrin Röggla: Ja, Du fragst nach den ästhetischen Strategien im Umgang mit der Gegenwart. Das ist an sich eine entscheidende Frage, wenn man sich nicht als ‚Augenblicksmitläufer‘ versteht. Im Grunde genommen geht es darum, wie sich die Literatur zur Frage der Grammatik der Zeit verhält. Im Theater, das eine nach wie vor wirksame Konvention darstellt, korrespondiert das ‚Hier und Jetzt‘ mit der Bühne. Sonst existiert das ‚Hier und Jetzt‘ meiner Meinung nach gar nicht mehr so einfach, auch nicht im politischen Sinne. Denn wir leben in einer Welt, die nicht mehr ganz wirklich ist. Medien verfälschen die Wirklichkeit, indem sie Wirklichkeit – und dabei auch Gegenwart – künstlich produzieren. Wir erleben eigentlich einen Moment, wo Gegenwart ein sehr eingespanntes Verhältnis zur Zukunft und zur Vergangenheit hat. Es war bis in den neunziger Jahre noch so, dass die Gegenwart, die literarische Gegenwart, ein sehr starkes Schuldverhältnis zur Vergangenheit hatte – da ging es noch um die Aufarbeitung des Nationalsozialismus: Wenn ich etwa an Autoren wie Heiner Müller denke, da steht immer dieser Koloss im Nacken. Seitdem ist aber etwas ganz Merkwürdiges passiert, die Situation hat sich auf eine ganz perfide Art umgedreht. Resultat: Wir haben jetzt ein Schuldverhältnis zur Zukunft. Es gibt kaum eine Gegenwart, die so

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wenig mit der Zukunft anfangen kann, wie unsere heutige. Und das ist ja erschreckend und erfordert literarische Gegenstrategien. Das Thema hatten wir heute schon in Zusammenhang mit Paulus Böhmer und seiner lyrischen Auseinandersetzung mit dem Tod. Hierzu fällt mir ein Statement von Alexander Kluge ein: „Die Gegenwart ist prahlerisch“, sie saugt alles auf, damit ist „der Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit“ gemeint. Gleichzeitig sind wir aber mit dem Phänomen konfrontiert, dass der Augenblick verschwindet: Als unaustauschbare Dimension der Zeit existiert er gar nicht mehr, er ist bereits in der nächsten Zeit eingespannt. Joseph Winklers Hyperrealismus – seine Natura Morta zum Beispiel – sehe ich als eine mögliche Strategie der Auseinandersetzung mit dieser Tatsache. Als zweiter Punkt: Jede Gegenwart hat ihre Gegenwartsgebote und ihre Selbstdefinitionen. Die fünfziger und sechziger Jahre befassten sich noch mit Zukunftsvorstellungen. Im Sozialismus war es eh klar, aber auch in der westlichen fordistischen Zeit. Damals hieß es: Wir sollen sparen, damit wir es später besser haben. Die heutige Zeit hat hingegen das Gebot der ständigen Aktualität, der vermeintlichen Authentizität, die aber keine überzeitliche Qualität besitzt. Eben darauf reagiert die Literatur. Ein dritter Punkt ist, dass die Literatur auf die Krise der Sprache reagiert, die mit einem zunehmenden Performanz-Gebot zu tun hat. Die Sprache verschwindet im Augenblick des Sprechens. Auf Festivals wird das oft als authentische Rede gefeiert. Im Theater ist es ja besonders auffallend: Der Augenblick des Texts tendiert im Augenblick des Sprechens zu verschwinden. Der lässt sich nicht festschreiben, insofern er sich jeden Abend ändert – das transformiert seine Funktion im Theater und das ist eine Dimension, die mich sehr beschäftigt. Die Frage ist: Was passiert, wenn der Speicher wegfällt, der dem Theater überzeitliche Qualität verleihen könnte. Das sind so erstmal einige Gedankengänge, die ich in den Raum werfen möchte …

Ulf Stolterfoth: Was mich betrifft, stehe ich Begriffen wie ‚Gegenwart‘ oder ‚Gegenwärtigkeit‘ eher skeptisch gegenüber. Um es zu erklären, muss ich allerdings einen etwas längeren Anlauf nehmen und bin mir dabei nicht ganz sicher, ob der Sprung zum Schluss tatsächlich auch stattfindet – aber ich probiere es mal! Mir hat heute Morgen der Vortrag von Jan Urbich besonders gut gefallen und viele Anregungen gegeben. Bei ihm war die Grenze noch vor Husserl, aber das Problem des „ich–jetzt–hier“ geht immer weiter, vielleicht nicht in der Ästhetik, aber zumindest im Positivismus: Im Wiener Kreis, in dieser positivistischen Gruppierung hat man sich in den zehner und zwanziger Jahren näher damit beschäftigt. Da gab es die sogenannte Protokollsatzdebatte, wo Sätze, die außerhalb der Logik stehen, auf ihre Wahrheitswertfähigkeit überprüft worden sind. Die Sätze funktionierten meistens so: „Ich, Rudolf Carnap, in Lissabon um 22.50 Uhr bei 36 ° C.“ Damit wollte man Sätze schaffen, die außerhalb des Bereichs der Logik ganz klare Wahrheitswerte besaßen, weil sie absolut überprüfbar

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waren. Wittgensteins Analyse hat es weiter getrieben, für ihn sind solche Sätze doch unsinnige Sätze, die genau das nicht leisten, was sie eigentlich leisten sollten. Und jetzt komme ich zum Punkt. Ich denke, in der amerikanischen Lyriktradition – vor allem in der New Yorker Schule, etwa bei Frank O’Hara oder Ted Berrigan – gibt es sehr häufig solche Beispiele: „Samstag 14:30 Uhr, Brooklyn so und so viele Street.“ Das ist großartig, ich lese es unheimlich gern. Das gibt es bei Paulus Böhmer nur manchmal, bei Brinkmann ganz oft, bei Jürgen Becker zum Teil auch: „Ich um 16:30 Uhr auf der Kölner Strasse so und so …“. Aber mir kommt es so vor, als seien solche Sätze in Gedichten – doch wahrscheinlich funktioniert es in der Prosa ähnlich – genau nicht das, was wir denken, was sie sind, sondern ganz deutliche rhetorische Gesten, die überhaupt nichts mit Gegenwärtigkeit zu tun haben. Was sie tun, ist fast das Gegenteil. Denn sie historisieren eigentlich: Sie sind zwar sehr kluge Sätze, die aber keine Gegenwart schaffen, sondern eine viel stärkere Fiktionalisierung bewirken. Andererseits kenne ich keine Methoden, die Gedichte gegenwärtig machen – und ich weiß auch nicht, wenn ich welche hätte, ob ich sie benutzen würde.

Marcel Beyer: In diesem Punkt stimme ich Ulf zu: Das sind Fälle, bei denen man eine Setzung vornimmt. Es geht dabei um eine Inszenierung, um einen rhetorischen Trick. Man installiert etwas, indem man eine Aussage trifft, die eigentlich unhinterfragbar, unhintergehbar ist. Im Grunde sagt einer: „Also, was ich hier mache, ist das und das …“. Allerdings kann sich auch diese, glaube ich, als eine etwas naive Vorstellung des genauen Festhaltens eines Moments herausstellen. Ganz anders ist, wenn im Gedicht ein Datum genannt wird, wenn noch ein Subjekt daran gebunden wird. Mein Lieblingsbeispiel mit Datum und Authentizität im Sinne eines rhetorischen Spiels ist der Beginn der Autobiographie von Stendhal. Er beginnt nämlich nicht mit „ich wurde dann und da geboren“ oder „meine Eltern waren der und der“, sondern er sagt: „Heute morgen, an dem und dem Datum stand ich noch im Rom am Gianicolo und schaute über die Stadt.“ Und doch schon das Datum ist eine Lüge! Das Tolle ist aber, dass es eben eine Autobiographie ist. Bereits im ersten Satz gibt es aber ein fiktives Element, das der Leser nicht erkennen kann. Erst der Herausgeber hat nämlich festgestellt, Stendhal hat ja gar nicht Mitte September, sondern Ende November angefangen zu schreiben … Kathrin Röggla: Ähnlich bei Kluge: Glaubwürdiges entsteht erst durch Erfundenes …

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Thomas Geiger: Aber ich will noch kurz auf Ulfs Statements zurück und nachfragen: Spielt denn Gegenwärtigkeit in Deiner Arbeit überhaupt keine Rolle? Bei Kathrin und bei Marcel scheint sie offensichtlicher und auslesbar zu sein, bei Dir ist es doch viel gebrochener. Ulf Stolterfoth: Das stimmt, das ist aber Teil eines größeren Problems, glaube ich. Ich bin im Zweifel, ob Literatur überhaupt in der Lage ist, etwas in intendierter Weise abzubilden. Über Authentizität oder über den Realismus-Begriff zu reden, würde uns jetzt zu weit führen, aber damit hat das alles auch zu tun. Denn, wenn ich die Geschichte der Erkenntnistheorie oder der Erkenntniskritik ernst nehme, kann ich mit Gedichten oder Texten überhaupt nichts erreichen, ich kann nicht mal Abbildungen erreichen. Warum soll dann noch ausgerechnet Gegenwärtigkeit eine Rolle spielen, wenn alles andere verabschiedet ist? Das ist mein Problem, glaube ich. Marcel Beyer: Um meine Vorstellung von Gegenwart zu beschreiben, würde ich von meiner Beschäftigung mit den Naturwissenschaften ausgehen. Was mich verblüfft – oder die Welt ja zweigeteilt hat –, war zu erfahren, dass Naturwissenschaften eigentlich keine Vergangenheit haben. Das, was gestern geforscht oder herausgefunden wurde, taugt bestenfalls als überholtes altes Wissen zur Anekdote und es wird an Wissenschaftshistoriker delegiert. Dabei geht es um eine merkwürdige Zeitvorstellung: Die Zeit ist nicht dreigeteilt, sondern nur zweigeteilt. Es gibt den Augenblick, in dem wir arbeiten – und das ist die Gegenwart. Dann gibt es die Zukunft – und das ist das, was wir noch nicht herausgefunden haben. „Es gibt noch viele offene Fragen“: Das bedeutet im Grunde, dass die Fragen doch endlich seien. Eine solche Formulierung ist sozusagen ‚drittmittelkonform‘. So bekommt man in der Tat Drittmittel in der Forschung: so und so viele Millionen, um in Namen einer gewissen Fortschrittsgläubigkeit zu irgendwelchen Ergebnissen zu kommen. Das heißt aber zugleich, dass das, was ich heute forsche, was mich rund um die Uhr beschäftigt, wo meine ganzen Energien hineingehen – dass eben das für den Forscher, der morgen forscht, bestenfalls Stoff für Anekdoten, also für Geschichten abgibt. Aber gerade das ist für Schriftsteller höchst interessant. Da unterscheidet sich die Kunst grundsätzlich von der Wissenschaft: Ich schreibe nämlich nicht für die Nachwelt, auch nicht für die Zukunft. Wenn ich den Satz höre, „Deine Bücher verkaufen sich so schlecht, aber denk doch an die kommenden Generationen“, dann weiß ich erst recht: Die kommenden Generationen interessieren mich überhaupt nicht! Ich arbeite hier und jetzt, in meiner Zeit. Wenn ich zum Beispiel Bücher lese aus den siebziger Jahren – das ist die Zeit, in der ich aufgewachsen bin, in der ich irgendwann selber angefangen habe zu lesen –, fällt es mir oft schwer, zu verstehen, was die Autoren damals geschrieben

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haben, welche Themen für spannende Debatten gesorgt haben oder im Gespräch waren, welche Bestseller warum zu solchen wurden … All das muss ich mir durch riesige historische Recherche erarbeiten. Wenn ich jetzt 40 Jahre zurückschaue, sehe ich, dass 90 % wirklich totes Material ist. Heinrich Böll kann man heute nicht mehr aufschlagen, anfangen zu lesen und überhaupt begreifen, was da passiert. Was fehlt, ist der Hintergrund der Zeit, in der er gelebt und geschrieben hat.

Valentina Di Rosa: Aber Du liest zum Beispiel Trakl … Marcel Beyer: Ja, das stimmt! Kleist lese ich auch. Aber das, was aus meiner eigenen Lebenszeit kommt – dafür brauche ich quasi ‚Prothesen‘ von außen, da müsste ich anfangen zu googeln. Und das ist mit ein Grund, weshalb das Spekulieren auf Nachwelt und Zukunft für mich wenig Bedeutung hat. Thomas Geiger: Ich kann selber eigentlich nur aus der anderen Position sprechen – als Leser, Vermittler, Vor-Leser. Das Ausgangsinteresse an der Gegenwartsliteratur, an jedem neuen Text ist immer die Sprache. Wenn die Sprache nicht irgendwie funkelt, wenn eine für mich nicht sichtbar bewusste künstlerische Absicht darin zum Vorschein tritt, dann ist der Text für mich keine Literatur – sondern ein Sachbuch, eine Reportage, ein Zeitungsartikel oder eben ein misslungener Text. Als Leser bin ich allerdings in einer doppelten Rolle: Als Subjekt Geiger, der seine Texte liest, und zugleich als Angestellter einer Institution, die dazu da ist, das gegenwärtige literarische Leben zu vermitteln. Beim ‚freien‘, ‚wilden‘ Lesen in Urlaub geht es mir wie Kristina MaidtZinke: Da neige ich eher zu den Klassikern – eine Art Korrektiv, wenn man bis zu den Knien in der Gegenwartsliteratur steckt! Es gibt aber viele weitere Möglichkeiten, wie ich mit Texten umgehen kann: Ich kann einen Abend zu einem Thema veranstalten oder Texte, die es sonst schwer haben – etwa experimentelle Texte, kurze Texte oder solche, die auf dem Markt keinen Verlag finden – in der Zeitschrift [Sprache in technischen Zeitalter] veröffentlichen. Ich kann junge Autoren mit ihrem Erstdruck einladen, oder Autoren, die bereits in den sechziger, siebziger oder achtziger Jahren publizierten, die aber mittlerweile vom Literaturmarkt verschwunden sind, nochmal einen Raum geben. Im Unterschied zu anderen Literaturhäusern bietet das LCB die Gelegenheit eines anderen Umgangs mit Texten und Autoren. Wir können zum Beispiel Autoren und Übersetzer aus Deutschland oder anderen Ländern einladen, damit sie zwei, drei, vier Monate bei uns im Haus zum Schreiben verbringen. Daraus entstehen Kontakte, manchmal auch Freundschaften, wo man sich über verschiedene Formen der Literaturvermittlung austauschen kann. Darin besteht die eigentliche

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Aufgabe, die wir haben. Zu dieser Tätigkeit gehören noch weitere Dinge: Nehmen wir zum Beispiel den Fall von zwei jungen Lyrikern, die einen ersten oder zweiten Band veröffentlicht haben – zu ihrer Lesung kommen aber meistens nur 18 oder 22 Leute, von denen 16 Freunde der beiden sind oder irgendwie zu ihrem Bekanntenkreis gehören. Da muss man versuchen, ein Umfeld zu schaffen, um diese jungen Dichter tatsächlich vor einem breiteren Publikum auftreten zu lassen – dafür ist etwa die Messe für kleine Verlage gedacht, wo im Durchschnitt 800 bis 1000 Leute zu uns kommen. Denn es ist viel vernünftiger, wenn die beiden vor 200 Leuten lesen! Jan Röhnert hat mich vorhin als ‚Literaturmanager‘ vorgestellt, was nicht stimmt, – und nicht nur weil ich mich nicht als solcher verstehe. Das einzige, was stimmt, ist, dass ich an verschiedenen Schnittpunkten zwischen den staatlichen Institutionen und den Künstlern sitze. Wir sind eine Instanz, die Brücke baut: So verstehe ich meine Arbeit. Und was dabei auch stimmt, ist, dass der Ausgangspunkt von allen diesen verschiedenen Aktivitäten die immer noch anwesende Leseleidenschaft ist, mit der ich irgendwann angefangen habe, in diese Richtung zu gehen, ohne je Autor sein zu wollen. Deswegen bin ich ein bisschen verkehrt hier – einerseits. Andererseits auch nicht, weil ich das unglaublich interessant finde, was wir in diesen Tagen an diesem Tisch machen!

Valentina Di Rosa: Ein anderer Aspekt, der mich in diesem Zusammenhang interessiert, ist das Verhältnis zwischen Schreiben und ‚Recherchieren‘, das, wie es mir schient, für die ästhetische Praxis von Marcel Beyer, Kathrin Röggla und Ulf Stolterfoth prägend ist, so heterogen die jeweiligen Motivationen und Interessenfelder doch sind – ganz zu schweigen von den individuellen Stilprägungen. Im Hinblick auf dieses Gespräch habe ich mir als Stichwort ‚das Wissen der Literatur‘ notiert. Intendiert ist dabei die vertiefende Beschäftigung mit den verschiedensten Quellen, Materialien oder gar ‚Realia‘ – ob historisch oder gegenwärtig –, die später in die literarische Arbeit hineinfließt. Entscheidend ist allerdings jeweils die Relation zwischen diesen sachlich fundierten Erkundungen und der Ebene der Fiktionalisierung bzw. der literarischen Formfindung. Marcel Beyer: Die Frage der Auseinandersetzung mit anderen Wissensgebieten beschäftigt mich in der Tat sehr – und in vielerlei Hinsicht. Es ist allerdings nicht so, dass ich quasi religiös behaupten könnte, Ahnung von Wissenschaft zu haben, nur weil ich mich mit Naturwissenschaftlern gerne unterhalte! Das Thema Wissenschaft hat vielmehr mit meinem Interesse zu tun, mit Welterfahrungen und -beobachtungen sprachlich umzugehen. Es geht um Formen der erzählerischen Weltaneignung. Das ist auch der Grund, weshalb mich Fachbegriffe und Jargons aus den unterschiedlichsten Bereichen besonders faszinieren. Sie haben was Anschauliches, Geheimnisvolles, gehen

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historisch fast immer von einem regionalen Rahmen aus – an Wörtern hängt immer Kulturgeschichte heran. Die gibt es aber heute in der international ausgerichteten Naturwissenschaft nicht mehr. Da hat längst zum einen eine Anglifizierung der Wissenschaft, zum anderen eine Mathematisierung der Sprache stattgefunden, die übrigens mit der falschen Vorstellung verbunden ist, dass Zahlen keine Konnotationen haben. Das führt dazu, dass heute zoologische Aufsätze zum Beispiel aus lauter Diagrammen und Formeln bestehen. Als Quellen faszinieren mich hingegen eher die angewandten Wissenschaften, die Laienwissenschaften, ihr assoziationsreiches Vokabular, mit dem man versucht, sich aus bestimmten Dingen einen Reim zu machen.

Kathrin Röggla: Ich würde Valentina auf jeden Fall zustimmen. Ich betrachte meine Arbeit als Forschung, natürlich nicht im Sinne einer akademischen, sondern im Sinne einer künstlerischen Forschung – denn das hat mit Didaktik nichts zu tun! Da interessieren mich konkrete Aspekte der Wirklichkeit – und damit meine ich der Gegenwart: Ökonomie, Machtstrukturen. Mit ausgedachten Fiktionen kann ich wenig anfangen. Meine Texte entstehen im Umgang mit Sprache, die ich erstmal als dokumentarisches Material durch Recherchearbeiten, Gespräche, Interviews sammele und dann betrachte: Die Aussagen verweisen auf die jeweiligen Sprecher, die dahinter stehen – und da lernt man ja vieles wider Willen … Indem ich mich in Situationen hineingebe, da gibt es noch einen Moment des Performativen, der einen mündlichen Duktus im Schreiben produziert, der wiederum auf die konkrete, gegenwärtige Situation zurückverweist, in denen die Gespräche verankert sind. Das ist mir ein besonders Anliegen. Literatur entsteht eben nicht nur aus Distanz, sondern auch aus dem Engagement, sich in Situationen hineinzugeben. Dann kommt die Arbeit am Text, die einen Umgang mit mehreren Zeitstrukturen und verschiedenen Geschwindigkeiten erfordert. Da ermöglicht die Kunst eben verschiedene Formen in der Verhandlung mit Realität. Wirklichkeitsproduktionen geschehen durch Narrationen, dagegen kann die Literatur auf Distanz gehen und mit eigenen Mitteln operieren, sich die sprachlichen Verhandlungsprozesse anschauen, Gespräche beobachten. Denn die öffentliche Sprache ist oftmals nur Schein, Ornament. Ulf Stolterfoth: Ich sammele Materialien und Quellen, einfach weil ich selbst keine Ideen habe, und auch keine Phantasie – und eben sehr viel Material brauche. Dieses Sammeln dient aber nicht dazu, Wissen zu vermitteln oder an die sogenannten werten Lesen weitergeben zu wollen. Mir käme es anmaßend vor, mit eigener Stimme zu sprechen. Das fällt mir richtig schwer. Das fremde Material sprechen zu lassen, zeugt irgendwie von einer gewissen Bescheidenheit. Man kann es natürlich umdrehen und das Gegenteil behaupten! Aber mir fällt es tatsächlich schwer, mich hinzusetzen und mit der

Zeitgenossenschaft als Zeit- und Sprachkritik

Autorenstimme umzugehen. Es ist mir viel sympathischer, mit fremdem Material zu arbeiten, einfach weil ich mich selber weitgehend draußen lassen kann. Das Interessanteste dabei ist, dass man fremden Stimmen Sachen sagen lassen darf, die man sich selbst niemals trauen würde. Da kann auf einmal jemand auftreten, der zum Beispiel ganz schamlos über sexuelle Dinge redet, was ich mir – meiner Stimme im Gedicht – immer verbieten würde! …Das verbiete ich mir sogar im persönlichen Gespräch!

Valentina Di Rosa: Welche Rolle spielen bei Eurer Recherche- bzw. Beobachtungsarbeit die Medien? Meine Frage bezieht sich hier nicht nur auf Sprache und Gesten, die durch die mediale Kommunikation kodiert werden, sondern auch auf Eure individuellen, generationsspezifischen Erfahrungen. Marcel Beyer: Ich würde fast schon sagen, dass, um Gegenwartsliteratur zu definieren, viel fruchtbarer ist, nicht Bücher oder literarische Texte miteinander zu vergleichen, sondern Bücher mit anderen Medien zu vergleichen. Ich meine, dass das, was wir als Gegenwartsliteratur bezeichnen – hier beziehe ich mich erstmal auf die deutschsprachige Literatur –, beginnt ungefähr da, wo in Deutschland das Privatfernsehen eingeführt wurde. Ich könnte jetzt aus meiner These keine Doktorarbeit machen, aber ich behaupte es! Seit Mitte/Ende der achtziger Jahre zeigt Literatur sehr viel Medienbewusstheit. Durch die mediale Konkurrenz haben sich zum Beispiel die Präsentationsformen von Literatur sehr rasch extrem verändert. Bis dahin hatte man noch mehr oder weniger zwei Fernsehprogramme – man hat im Grunde entweder ARD oder ZDF geguckt und darüber hat man sich unterhalten. Dann gab es auf einmal RTL, dann konnte man MTV empfangen und so weiter… es kam zu einem regelrechten Gründerzeitfieber. Meine persönliche Geschichte sieht eher anders aus. Ich habe selber seit 20 Jahren sowieso kein Fernsehen mehr. Und doch vorgestern, bevor ich hierhergekommen bin, haben bei uns irgendwelche Arbeiter die Hausantennen abgemacht. Also für mich, obwohl ich kein Fernsehen gucke, ist das Fernsehzeitalter damit symbolisch zu Ende gegangen – und damit beginnt eine neue Gegenwart! Fernsehen ist jetzt endgültig vorbei, ja mausetot, so sehr über Fernsehen gesprochen wurde … Kathrin Röggla: … Ja, dann kam mit dem Internet die digitale Revolution. Das habe ich in den neunziger Jahren bewusst erlebt. Es begann, als ich in Salzburg studierte, da kamen zum Beispiel Florian Rötzers Bände über den Cyberspace raus, die wir mit großem Interesse gelesen haben. Dieser rasche Prozess der Digitalisierung hat mit der Gegenwartsliteratur sehr viel zu tun. Denn auch das Diktat der Medien sorgt für neue Gegenwartsgebote. Man muss immer up-to-date sein, immer da sein. Das ist eine ganz heftige Sache,

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Marcel Beyer, Katrhin Röggla, Ulf Stolterfoth, Thomas Geiger

über die wir nicht so einfach lächeln können. Diese Technikbeherrschung ist Fakt und bestimmt unsere Leben – da kommt man nicht drum herum. Die Ökonomie, die wirtschaftlichen Verhältnisse werden dadurch definiert und natürlich die Politik. Es geht dauernd um Management, dauernd muss was gemanagt werden, dauernd muss man sich überlegen, wie man zum Optimum kommt. Der Druck der Anpassung ist enorm. Die Frage ist ja, wie man damit umgeht. Was ich total schockierend finde, ist, dass wir nicht mehr die Zeit haben, um einen Artikel in Ruhe zu lesen. Auch Argumentationsstrukturen verändern sich durch die Medienkultur und den Medienrhythmus, einige gehen einfach verloren – besonders bei den Social Media ist es der Fall, und das finde ich sehr bedrohlich.

Marcel Beyer: Hier bin ich eigentlich ganz anderer Meinung. Ich würde gar nicht sagen, dass die Bedrohung aus den Medien kommt. Genauso oder ähnlich hat man früher in den fünfziger Jahren behauptet, mit dem Fernsehen kommt die Apokalypse oder es ist schlecht, wenn Kinder Comics lesen. So wie ich auch nicht mit der Grundannahme einverstanden bin, dass wir unter einem Diktat leben würden, dass wir keine positive Utopie für die Zukunft haben, dass deshalb die Gegenwart absolut bedrohlich und das Leben eine Hölle sein soll … Kathrin Röggla: Trotzdem müssen wir damit umgehen, Gegenstrategien entwickeln. Denn das Ganze hat Auswirkungen auf unsere Leben und wir können nicht so schnell reagieren, wie wir reagieren sollten! Zugleich kann ich aber auch nicht voluntaristisch eine Utopie entwerfen. Sie kann – wenn überhaupt – erst gesellschaftlich entstehen. Marcel Beyer: Keine Frage: Man braucht eigentlich nicht mehr als 40 Sekunden, um ein finsteres Bedrohungsszenario auszumalen. Ich frage mich aber, ob das, was Du, Kathrin, gerade tust, doch nicht als Folge des von Dir beklagten Zustands zu betrachten ist. So wie Du die Lage jetzt geschildert hast – Dein Akzent auf dem Diktat: Ist es nicht gerade das, was die Talk-Shows tagtäglich inszenieren? Wenn überhaupt, werde ich höchst skeptisch, wenn ich fernsehe. Das weiß nämlich jeder von uns – jeder, der da sitzt, hat ein Slot von höchstens ein paar Minuten, um etwas zu sagen … und zack! sofort findet sich da ein Wirtschaftstyp, der sagt: Morgen ist der Euro kaputt! Kathrin Röggla: Das sehe ich auch so. Ich glaube aber, man muss sich erstmal genau angucken, was passiert. Dabei argumentiere ich mit Richard Sennett aber auch mit Alexander Kluge. Und Kluge ist der letzte, der sagen würde: „Ich mahle den Weltuntergang an

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der Wand.“ Trotzdem – mit diesen Strukturen muss man umgehen. Das heißt auch mit der Zeitnot, die nicht zuletzt bestimmt, wie politische Entscheidungen gefallen werden, wie sie getaktet sind. Ich behaupte nicht, dass dieser Zustand oder dieses Diktat unumstößlich ist – um Gottes Willen! –, aber man muss sich eben ein klares Bild machen, von dem, was da abgeht.

Marcel Beyer: Da wiederum stimme ich Dir zu. Man muss sich die Dinge zuerst ganz genau anschauen. Und zwar noch bevor man für sich entscheidet, ich finde alles schlimm oder ich finde es doch gut. Die innere Taktung eines Politikeralltags finde ich zum Beispiel an sich enorm interessant und nicht a priori ein Signal dafür, dass alles ganz schlimm ist. Valentina Di Rosa: Wie ist es für Dich, Ulf ? Wo die Rede von Gegenstrategien im Umgang mit den Medien ist, denke ich an Dein Experiment Timber!, das im Netz unter dem Stichwort „kollektive Poetologie“ und dem symbolischen Bild einer Axt dokumentiert ist: „ein Weiterhacken am selben Stamm.“ Das betrachte ich schon als einen Versuch, neue Wege des Engagements – oder gar des „Widerstands“, wie man auf der Webseite liest, – zu erproben: sich mit anderen Dichterkollegen zusammen tun, um auf ein gemeinsames, nicht nur ästhetisch, sondern auch explizit politisch konnotiertes Projekt hin zu arbeiten. Ulf Stolterfoth: Naja, was ich in diesem Fall zu berichten habe, ist nur die Bilanz eines komplett gescheiterten Projekts! Mit Timber! hat es konkret so angefangen: Ich habe vom Berliner Senat Geld bekommen, um ein Projekt durchzuführen und habe zwölf Autorinnen und Autoren nach Berlin ins Literaturhaus eingeladen, um eben darüber zu sprechen, ob es nicht vielleicht eine Möglichkeit gäbe, an einer experimentellen, engagierten oder politisch orientieren Literatur wieder anzuknüpfen. Ergebnis: gar keine Möglichkeit! Und es ist doch kein Witz … Der Auslöser für dieses Projekt war die Enttarnung von Oskar Pastior als Informant der Securitate. Dabei hat Richard Wagner, der Ex-Mann von Herta Müller, einen Artikel – ich weiß nicht mehr, ob in der FAZ oder im Tagespiegel – veröffentlicht, in dem er sinngemäß schrieb, das wundere ihn überhaupt nicht, denn experimentelle Literatur sei moralisch immer auf Sand gebaut. Dass es für ihn keine Überraschung sei, war für mich eben der Auslöser: Ich wollte „Nein!“ schreien, „Es stimmt überhaupt nicht!“, „Wir sind auch ‚lieb‘ und moralisch usw.“ Das Gefühl des Scheiterns kam aber spätestens zu dem Zeitpunkt auf, als der österreichische Lyriker Michael Donhauser seinen Aufsatz, den er extra für dieses dezidiert politische Projekt geschrieben hatte, vorgetragen hat. Es

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ging um die „Pietà“, das Thema war also komplett verfehlt! Andererseits kam mir der Aufsatz in seiner Verweigerungshaltung irgendwie doch subversiver vor – also irgendwie politischer – als die ganze Veranstaltung. Da fühlte ich mich wieder auf den Stand von 1985 zurückgeworfen, als ich sagte: „Gut, experimentelle Literatur und Politik wollen wir zwar in unseren Gedichten verbinden, aber nicht, wie andere Leute es in den siebziger Jahren getan haben.“ Aber eine weitere Lösung haben wir nicht gefunden. Früher war die Haltung der Experimentellen, wer immer sie denn waren, folgende: Allein die Tatsache, dass man ein unverständliches oder schwer verständliches Gedicht schreibt, ist ein politischer Akt. Jan Wagner hat es gestern in diesem Sinne für die Gesamtheit aller Gedichte behauptet und ich glaube, man darf es mit demselben Recht auch tun – nur ich bin mir nicht sicher, ob es wirklich so stimmt. So weit bin ich doch nicht ‚zurückgekommen‘! Ich denke zum Beispiel an Ernst Jandls späte Gedichte, in denen er sich ganz schutzlos ausspricht, oder an Heißenbüttels späte Texte, Gedichte über Phantasie, die in irgendeiner Weise autobiographisch gedeckt sind. Diese Subjekt-Perspektive, diese Äußerungsmöglichkeit finde ich in höchstem Maß attraktiv – sie ist stimmig, sonst würde sie nicht so wirken. Ich wünschte mir, ich könnte im hohen Alter auch solche Texte schreiben – so weit bin ich aber noch nicht gekommen, beide Sachen prallen für mich immer noch aufeinander. Andererseits weiß ich, dass das Modell, das ich mir zurechtgelegt habe, an mehreren Punkten nicht ganz ‚wasserdicht‘ ist. So schaue ich weiter, was aus diesem reinströmenden Wasser noch kommt …

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Angaben zu den Autoren

Daniela Allocca, Dr. phil., geb. 1980 in Neapel. 2010 Promotion an der Universität von Salerno mit einer Arbeit über Raumwahrnehmung in der transnationalen Literatur der Gegenwart. Titel der Dissertation: BerlinoGrafie. Lo spazio nella letteratura transnazionale di lingua tedesca. Due percorsi: Emine Sevgi Özdamar e Terézia Mora. Derzeit ist sie Post-Doc-Stipendiatin an der Universität „L’Orientale“ Neapel und arbeitet parallel als freie Autorin und Kunstkuratorin. Forschungsschwerpunkte: Ecocriticism; Übersetzungstheorie; Relational Aesthetics (Walking Praktiken). Zuletzt erschienen: Berlinografie. Letteratura nomade e spazi urbani. I percorsi di Emine Sevgi Özdamar e Terézia Mora, Milano: LED 2016; Vorläufige Kartographien. Grenzüberschreitungen bei Marica Bodrožić. In: Ulrich Fröschle/Giusi Zanasi (Hg.), Grenzenrisiken? Europäische ‚Grenzregionen‘ als dynamische Semiosphären. Dresden: Thelem Verlag 2016. Jürgen Becker, geb. 1932 in Köln, freier Schriftsteller und Hörspielautor. Zuletzt erschienen: Wie es weiterging. Ein Durchgang – Prosa aus fünf Jahrzehnten. Berlin: Suhrkamp 2012; Jetzt die Gegend damals. Journalroman. Berlin: Suhrkamp 2015; Graugänse über Toronto. Journalgedicht. Berlin: Suhrkamp 2017. 2013 Günter-Eich-Preis, 2014 Georg-Büchner-Preis. Marcel Beyer, geb. 1965 in Tailfingen, lebt als freier Schriftsteller in Dresden. Zuletzt erschienen: Graphit. Gedichte. Berlin: Suhrkamp 2014; XX. Lichtenberg-Poetikvorlesungen. Göttingen: Wallstein 2015; Das blindgeweinte Jahrhundert. Berlin: Suhrkamp 2017. 2016 Düsseldorfer Literaturpreis sowie Georg-Büchner-Preis. Enza Dammiano, Dr. phil., geb. 1985 in Santa Maria Capua Vetere (Caserta). 2015 Promotion an der Universität „L’Orientale“ Neapel mit einer Arbeit über die Rezeption bzw. Nachdichtung russischer Lyrik in der DDR-Literatur der 60er und 70er Jahre. Titel der Dissertation: Ricezione e traduzione della poesia russa del ’900 nella DDR tra gli anni ’60 e ’70. Derzeit arbeitet sie als Lehrerin für Deutsch als Fremdsprache in einer Fachoberschule für Tourismus (Caserta). Forschungsschwerpunkte: Russische Lyrik der Moderne; Deutsche Lyrik der Nachkriegszeit; Übersetzungspraxis in der DDR-Literatur; deutschsprachige Gegenwartsliteratur. Zuletzt auf Deutsch erschienen: „Zwischen dem Nicht-mehr und dem Noch-nicht-dort“. Ingo Schulzes Orte. In: Ulrich Froeschle/Giusi Zanasi (Hg.): Grenzrisiken? Europäische ‚Grenzregionen‘ als dynamische Semiosphären. Dresden: Thelem Verlag 2016.

Angaben zu den Autoren

Valentina Di Rosa, Dr. phil. habil, geb. 1964 in Neapel, seit 2001 Professorin für Neuere und Neueste Deutsche Literatur sowie seit 2004 für Theorie und Poetik der literarischen Übersetzung an der Universität „L’Orientale“ Neapel. Ausgewählte Forschungsschwerpunkte: Künstlerische Avantgarden um 1900; Deutsches Judentum; Exilliteratur; Ostdeutsche Literatur vor und nach 1989; Ost- und mitteleuropäische Kulturräume; Prosa und Lyrik der Gegenwart; Theorie und Praxis der literarischen Übersetzung. Zuletzt auf Deutsch erschienen (Auswahl): Der „Friedrichshagener Kreis“ und die „Neue Gemeinschaft“. Experiment und Krise zweier Künstlerkolonien der frühen Moderne. In: Charlotte Woodford/Godula Weiss-Sussex (Hg.): Protest and Reform in German Literary and Visual Culture 1870–1914. München: Judicium 2015; Ein deutscher Mensch. Goethes Profil aus Walter Benjamins Exilperspektive, (Cultura tedesca 47/48, 2015); „zu gast in der rinde“. Lutz Seilers Gratwanderungen zwischen Natur- und Dinggedicht. (Sprache im technischen Zeitalter 55/223, 2017). Zahlreiche Übertragungen aus dem Deutschen (u.a. Texte von Christoph Hein, Hartmut Lange, Heiner Müller, Lukas Bärfuß, Durs Grünbein, Raoul Schrott, Ingo Schulze, Lutz Seiler, Jan Wagner). DAAD-Alumna, seit 2009 Leiterin des Foschungskolloquiums zur Gegenwartsliteratur „scrittureletturetedesche“ in Kooperation mit dem Goethe-Institut und dem Literarischen Colloquium Berlin. Thomas Geiger, geb. 1960 in Sulzbach-Rosenberg, Mitherausgeber der Zeitschrift Sprache im technischen Zeitalter, Programmkurator im Literarischen Colloquium Berlin sowie Organisator des Autorenspecials der Leipziger Buchmesse. Zuletzt erschienen: (Hg.) Laute Verse. Gedichte aus der Gegenwart. München: dtv 2009; (Hg.) Luftsprünge. Eine literarische Reise durch Europa. München: dtv 2015. Robert Hain, geb. 1992 in Wolfenbüttel, Studium der Literaturwissenschaft, Linguistik und Geschichtswissenschaft an der Technischen Universität Braunschweig. Dies ist seine erste Veröffentlichung. Lorenzo Licciardi, Dr. phil., geboren 1982 in Neapel. 2015 Promotion an der Universität von Salerno mit einer Arbeit über die Großstadtliteratur der Gegenwart. Titel der Dissertation: Urbanità globale, confini digitali. Inquadrature e miniature di Berlino nel romanzo „Teil der Lösung“ (2007) di Ulrich Peltzer. Seit 2016 Dozentur für Neuere deutsche Literatur an der Universität „L’Orientale“ Neapel. Publikationen zu Franz Kafka, Wolfgang Hildesheimer, Ulrich Peltzer, Katrin Röggla. Zuletzt auf Deutsch erschienen: Zeitparadoxen und das ‚Schweigen der Welt‘: Deklinationen des Absurden im Theater Wolfgang Hildesheimers. In: Günter Häntzschel/Ulrike Leuschner et al. (Hg.): treibhaus. Jahrbuch für die Literatur der fünfziger Jahre – Band 12: Wolfgang Hildesheimer. Ed. Text+Kritik: München 2016. Urbane Grenzziehungen. Digitale Überwachung und Ausschlussmechanismen in Ulrich Peltzers „Sony Center“. In: Ulrich Fröschle/Giusi

Angaben zu den Autoren

Zanasi (Hg.): Grenzrisiken? Europäische ‚Grenzregionen‘ als dynamische Semiosphären. Dresden: Thelem Verlag 2016. Romina Nikolić, M.A., geb. 1985 in Suhl, angestrebte Promotion zur Lyrik Paulus Böhmers. Zuletzt erschienen: hemma (Gedichte, 2010, Literarische Gesellschaft Thüringen); (Hg. Mit Jan Röhnert) Dem Meister des langen Atems. Paulus Böhmer zu Ehren. Frankfurt/Main: Edition Faust 2016. Steffen Richter, Dr. phil. habil, geb. 1969 in Freiberg, Wissenschaftlicher Mitarbeiter im DFG-Projekt Ästhetische Eigenzeiten an der Freien Universität Berlin sowie Herausgeber der Zeitschrift Dritte Natur. Technik – Kapital – Umwelt. Forschungsschwerpunkte: Gegenwartsliteratur, Literaturbetrieb und Literaturkritik in unterschiedlichen Medien, Literatur im Anthropozän. Zuletzt erschienen: Der Literaturbetrieb. Eine Einführung. Texte – Märkte – Medien. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2011; Infrastruktur. Ein Schlüsselkonzept der Moderne und die deutsche Literatur 1848–1914. Berlin: Matthes & Seitz 2018; Natur bauen. Hermann Sörgels Atlantropa-Projekt in John Knittels Roman Amadeus (1939). In: Hartmut Hombrecher et al. (Hg.): Fortschritt und Kultur. Literarische Verhandlungen von Technik im 20. und 21. Jahrhundert. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2018. Carsten Rohde, Dr. phil. habil, geb. 1971 in Bremen, Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Projekt Text und Rahmen: Präsentationsmodi kanonischer Werke im Forschungsverbund Marbach Weimar Wolfenbüttel. Forschungsschwerpunkte: Literatur und Kultur vom 18. bis zum 21. Jahrhundert, Lyrik der Moderne, Literatur- und Kulturtheorie. Zuletzt erschienen: Doppelte Vernunft. Lessings reflexive Moderne. Hannover: Wehrhahn 2013; (Hg. Mit Christiane Heibach) Ästhetik und Materialität. Paderborn: Wilhelm Fink Verlag 2015; (Hg. mit Philipp Ajouri, Ursula Kundert) Rahmungen. Präsentationen und Kanoneffekte. Berlin: Erich Schmidt Verlag 2017. Kathrin Röggla, geb. 1971 in Salzburg, lebt als freie Schriftstellerin, Hörspielautorin und Dramatikerin in Berlin. Seit 2015 Vizepräsidentin der Akademie der Künste. Zuletzt erschienen: Besser wäre: keine. Frankfurt/Main: S. Fischer 2013; Die falsche Frage. Theater, Politik und die Kunst, das Fürchten nicht zu verlernen. Berlin: Theater der Zeit Verlag 2015; Nachtsendung: Unheimliche Geschichten. Frankfurt/M.: S. Fischer 2016. 2014 Saarbrücker Poetikdozentur für Dramatik, 2017 Poetik-Professur an der Universität Bamberg. Jan Röhnert, geb. 1976 in Gera, Dr. phil. habil., Professor für Neuere und neueste deutsche Literatur in der technisch-wissenschaftlichen Welt an der Technischen Universität Braunschweig. Forschungsschwerpunkte: Gegenwartsliteratur, Autobiographie,

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Angaben zu den Autoren

Reiseliteratur, Lyrik, Internationale Kultur- und Literaturgeschichte seit 1800, Literatur und Film, Naturwissenschaften als ästhetisch-literarischer Impulsgeber, Technik und Mobilität in der ästhetischen Reflexion, Genderdimensionen der Literatur, Geopoetiken.Zuletzt erschienen: (Hg.) Technische Beschleunigung – ästhetische Verlangsamung? Mobile Inszenierung in Literatur, Film, Musik, Alltag und Politik. Köln/ Weimar/Wien: Böhlau 2015; (Hg. mit Cord Berghahn und Jörg Paulus) Geschichtsgefühl und Gestaltungskraft Fiktionalisierungsverfahren, Gattungspoetik und Autoreflexion bei Ricarda Huch. Heidelberg: C. Winter 2016; (Hg. mit Juliette Wedl) Annette Pehnt – Vorlesungen der Ricarda Huch Poetikdozentur 2016. Hannover: Wehrhahn 2017. Julia Schoch, geb. 1974 in Bad Saarow, freie Schriftstellerin und Übersetzerin. Zuletzt erschienen: Mit der Geschwindigkeit des Sommers (München: Piper Verlag 2009), Selbstporträt mit Bonaparte (München: Piper Verlag 2012) und Schöne Seelen und Komplizen (München: Piper Verlag 2017). 2011 Aufenthaltsstipendiatin in der Casa Baldi sowie André-Gide-Preis für ihre Literaturübersetzungen aus dem Französischen. Tom Schulz, geb. 1970 in Großröhrsdorf, lebt in Berlin als Dichter und Übersetzer. Zuletzt erschienen: Lichtveränderung (Berlin: Hanser 2015), Das Wunder der Sadagora. Eine Polnisch-Ukrainische Reise (Dresden: Edition Azur 2016), Die Verlegung der Stolpersteine Berlin: Hanser 2017). 2016 Stipendiat der Villa Rosenthal sowie Lichtenstein-Preis für Lyrik. Christian Stein, Dr. phil, geb. 1981 in Gifhorn, derzeit an der Humboldt-Universität zu Berlin im Projekt Architekturen des Wissens tätig. Forschungsschwerpunkte: Terminologiemanagement und Fachsprachenmodellierung im Grenzbereich von Linguistik, Informatik und Ingenieurwissenschaften. Zuletzt erschienen: Alte Narretei, neue Narrative – Zeit- und Raummanipulation im transmedialen Storytelling. In: Jan Röhnert (Hg.): Technische Beschleunigung – Ästhetische Verlangsamung. Mobile Inszenierung in Literatur, Film, Musik, Alltag und Politik. Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2015; Schöne Madonna. Dangholsheimer Mutter Gottes. In: Exzellenzcluster „Bild Wissen Gestaltung. Ein interdisziplinäres Labor“ (Hg.): Das Präparat ist nicht sichtbar etikettiert. – Bildbeschreibungen aus der Veranstaltung „Lernen mit Horst Bredekamp“. Berlin: BWG 2015; Conceptualizing Screen Practices: How Head-Mounted Displays Transform Action and Perception. In: Media Tropes 6/1 (2016). (Hg. zusammen mit Michael Friedman, Kathrin Friedrich et al.). Ulf Stolterfoht, geb. 1963 in Stuttgart, Dichter, Übersetzer und seit 2015 Verleger (Brüterich Press). Zuletzt erschienen: wider die Wiesel. Ostheim/Rhön: Peter Engstler Verlag 2013; neu-jerusalem. Berlin: kookbooks 2015; Wurlitzer Jukebox Lyrik FL – Über

Angaben zu den Autoren

Musik, Euphorie und schwierige Gedichte. München: Stiftung Lyrik Kabinett 2015. 2015 London-Stipendium des Deutschen Literaturfonds, 2016 Preis der Literaturhäuser. Stephan Turowski, geb. 1972 in Bremen, freier Schriftsteller, Musikkritiker und Dramatiker. Zuletzt erschienen: Und jetzt bist du nackt (Dresden: Edition Azur 2006), Glückwunsch zur Wunde (Dresden: Edition Azur 2010). 2005 Stipendium der Kunststiftung Baden-Württemberg. Jan Urbich, Dr. phil, geb. 1978, gegenwärtig Feodor-Lynen-Fellow der Alexander von Humboldt-Stiftung an der Universität Leipzig. Ausgewählte Forschungsschwerpunkte: Verbindungen von Literatur und Philosophie (besonders im Bereich „Kunst und Erkenntnis“), Ästhetik und Literaturtheorie, Geschichte der Lyrik, Geschichte und Systematik der Metaphysik und Ontologie, Deutscher Idealismus, Kritische Theorie. Zuletzt erschienen: (Hg. mit Jörg Zimmer) Handbuch Ontologie. Stuttgart: Metzler 2019; Benjamin and Hegel. A Constellation in Metaphysics. Walter-Benjamin-Lectures at the „Càtedra Walter Benjamin“. Girona: University Press 2015; (Hg. mit Helmut Hühn und Uwe Steiner) Benjamins Wahlverwandtschaften. Zur Kritik einer programmatischen Interpretation. Berlin: Suhrkamp 2015. Elisabetta Villano, Dr. phil., geb. 1982 in Roccapiemonte (Salerno). 2014 Promotion an der Universität „L’Orientale“ Neapel. Titel der Dissertation: Peter Stein inszeniert Botho Strauß. Zur Theaterästhetik der Berliner Schaubühne (1971–1974). Derzeit Übersetzerin und Deutschlehrerin am Neusprachlichem Gymnasium „De Liguori“ (Salerno). Forschungsschwerpunkte: Modernes und postdramatisches Theater (Peter Stein, Botho Strauß, Elfriede Jelinek); Literatur- und Fachübersetzung. Zuletzt erschienen: Der Park (Il parco) di Botho Strauß (Roma: Edizioni Ponte Sisto 2015); Su tracce di teoria teatrale nel pensiero di Roman Ingarden. Una proposta critica ovvero un tentativo di ricostruzione. (Fogli Campostrini 4, Verona: 2012); Als Übersetzerin (zusammen mit Valentina Di Rosa): Heiner Müller: Guerra senza battaglia. Una vita sotto due dittature. A cura di Valentina Di Rosa. Postfazione di Durs Grünbein. Rovereto: Zandonai 2010. [Originaltitel: Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen. Köln: Kiepenhauer & Witsch 1992]. Jan Wagner, geb. 1971 in Hamburg, Dichter, Übersetzer, Literaturkritiker und bis 2003 Mitherausgeber der internationalen „Literaturschachtel“ Die Aussenseite des Elementes. Zuletzt erschienen: Regentonnenvariationen . Berlin: Hanser 2014, Selbstportrait mit Bienenschwarm. Ausgewählte Gedichte 2001–2015 (Berlin: Hanser Berlin 2016), Der verschlossene Raum. Beiläufige Prosa (Hanser Berlin 2017). 2015 Preis der Leipziger Buchmesse für seinen Gedichtband Regentonnenvariationen. 2017 Georg Büchner-Preis.

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VOM EREIGNISRAUM DER GEGENWART ZUM KRITISCH BEÄUGTEN KONTINENT DER MODERNE

Nicolas Detering Krise und Kontinent Die Entstehung der deutschen Europa-Literatur in der Frühen Neuzeit 2017. 626 Seiten, 17 s/w-Abb., 17 Illustration(en), schwarz-weiß, gebunden € 90,00 D / € 93,00 A ISBN 978-3-412-50719-0

Die Erfahrung einer kontinentalen Krise führte in der Frühen Neuzeit zu einem neuen Verständnis von Europa. Das vorliegende Buch zeigt auf breiter Quellengrundlage, wie die Kommunikationsrevolution des Nachrichtenwesens um 1600 ein Bewusstsein europäischer Zeitgenossenschaft erzeugte, das in den Europa-Schauspielen, -Gedichten und -Romanen des 17. und frühen 18. Jahrhunderts an Kontur gewinnt. Im Spiegel der Literatur wandelt Europa sich vom Ereignisraum der Gegenwart zum kritisch beäugten Kontinent der Moderne.

EIN BLICK AUF DIE LANDSCHAFTEN DER „WÄSSERIGEN, WEITSCHWEIFIGEN, NULLEN EPOCHE“ (GOETHE)

Wolfram Malte Fues Die annullierte Literatur Nachrichten aus der Romanlücke der deutschen Aufklärung 2017. 398 Seiten, gebunden € 55,00 D / € 57,00 A ISBN 978-3-412-50738-1

Die Untersuchung nimmt die in der Literaturwissenschaft immer wieder statuierte ›Romanlücke‹ in der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts, etwa vom Ende des Barockromans bis zum Erscheinen von Wielands »Agathon« in den Blick. Nach einem eingehenden geschichts-, sozial- und kulturphilosophischen sowie literaturgeschichtlich kritischen Vorbericht folgt die Analyse ausgewählter deutscher Original-Romane zwischen 1740 und 1790 aus literaturtheoretischer, literaturwissenschaftlicher, sozial- und kulturwissenschaftlicher Perspektive mit derselben Eindringlichkeit, die man sonst den klassischen Werken des Kanons zu widmen pflegt.