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German Pages 239 [240] Year 2015
Jörg Schönert Kriminalität erzählen Juristische Zeitgeschichte Abteilung 6, Band 42
Juristische Zeitgeschichte Hrsg. von Prof. Dr. Dr. Thomas Vormbaum (FernUniversität Hagen)
Abteilung 6: Recht in der Kunst – Kunst im Recht Mithrsg. Prof. Dr. Gunter Reiß (Universität Münster) Band 42 Redaktion: Christoph Hagemann, Katharina Kühne
De Gruyter
Jörg Schönert
Kriminalität erzählen Studien zu Kriminalität in der deutschsprachigen Literatur (1570 – 1920)
De Gruyter
ISBN 978-3-11-043806-2 e-ISBN (PDF) 978-3-11-042886-5 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-042893-3
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2015 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Abbildung auf dem Schutzumschlag: Aus: Feuerbach, Paul Anselm: Merkwürdige Verbrechen. Herausgegeben von Rainer Schrage mit zeitgenössischen Illustrationen. Insel Verlag 1981 Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Vorwort Den Anstoß zu dieser Publikation gab Gunter Reiß, mein ehemaliger Studienkollege an der Universität München. Ihm und Thomas Vorbaum danke ich für Aufnahme dieses Bandes in die von ihnen herausgegebene Reihe, Anne Gipperich für Einrichtung der Druckvorlage sowie Michael Kempe für deren Vorbereitung und die Digitalisierung der älteren Buch- und Zeitschriftenbeiträge. Ich habe diese Texte durchgesehen und in Details bearbeitet, in der Sache aber nicht verändert und somit auch auf Aktualisierung des Forschungsstandes verzichtet. Wie engagiert in den letzten Jahren der hier eröffnete Gegenstandsbereich erschlossen wird, zeigen neben zahlreichen Buch- und Zeitschriftenpublikationen u.a. auch zwei Foren im WWW: , . Hier zusammengestellt sind Beiträge zu ‘Kriminalität und Literatur’, die im Zeitraum von 1983 bis 2007 publiziert wurden. Ergänzt werden sie durch den bislang ungedruckten Text zum „Tagebuch des Meister Franz“. 2011 habe ich in „Hans Fallada. Autor und Werk im Literatursystem der Moderne“, herausgegeben von Patricia Fritsch-Lange und Lutz Hagestedt, veröffentlicht: „Krisen, Kriminalität und Katastrophen. Falladas Lebensläufe nach abfallender Linie“; 2014 erschien „Die Literarisierung einer Fallgeschichte: ‘Das verlorene Kind’ von Rahel Sanzara“ im Themenheft „Kriminalfallgeschichten“ von „text+kritik“, der Herausgeber ist Alexander Košenina. Der erste Beitrag dieser Publikation gibt ein Fazit der Projektarbeit in der Münchner DFG-Forschergruppe zur Sozialgeschichte der Literatur im Zeitraum von 1979 bis 1985. Bestimmend für den erreichten Erfolg war die intensive Kooperation mit Joachim Linder, der am 12. Januar 2012 gestorben ist. Seinem Andenken ist dieser Band gewidmet. Hamburg, im August 2014
Jörg Schönert
Inhaltsverzeichnis Vorwort ............................................................................................................. V Erzählte Kriminalität. Zur Konstitution des Gegenstandsbereichs und zu interdisziplinären Perspektiven .................................................................... 1 ‘Erzählungen’ als Konstitutionsbereich für das Geschehen ‘Kriminalität’ ...................................................................... 1 Möglichkeiten für interdisziplinäre Perspektiven ...................................... 13 Zur historiographischen Markierung des Gegenstandsbereiches .............. 20 Der Zeitraum 1770–1830 ..................................................................... 25 Der Zeitraum 1830–1880 ..................................................................... 32 Der Zeitraum 1880–1920 ..................................................................... 36 Scharfrichter-Erzählungen? Von einer Berufspflichten-Statistik (1573–1616) zum „Tagebuch des Meister Franz, Scharfrichter zu Nürnberg“ (gedruckt 1801).................................................. 49 Scharfrichter Franz und sein „Blutregister“ .............................................. 49 Entstehung, Überlieferung und Edition ............................................... 49 Kulturhistorischer Kontext .................................................................. 52 Register-Einträge und Ansätze zum Erzählen ........................................... 54 Zum Genre der Scharfrichter-Erzählungen ............................................... 61 Zur Ausdifferenzierung des Genres ‘Kriminalgeschichten’ in der deutschen Literatur vom Ende des 18. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts ... 65 Leitende Perspektiven und typologische Übersicht ................................... 65 1770–1820/30: Trennung von ‘gesetzlicher und moralischer Zurechnung’ .............................................. 77 1820/30–1850: ‘Aktenmäßige Darstellung’ und ‘Kriminalnovelle’.......... 80 1850–1880/90: Kriminalgeschichten im Zeichen der Rechtssicherheit? ... 88 1880/90–1920: Kriminalliteratur auf dem Weg zur Justizkritik? .............. 94 Kriminalität und Devianz in den „Berliner Abendblättern“ ........................... 99 Wahrnehmung und Darstellung von Kriminalität im Schrifttum um 1800............................................................................ 100
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Inhaltsverzeichnis
Kriminalität und Devianz in den „Berliner Abendblättern“ .................... 102 Strategien zur Bearbeitung der Polizei-Rapporte in den „Berliner Abendblättern“......................................................................... 104 Kriminalgeschichten (1815–1830) im Spektrum von der „aktenmäßigen Darstellung“ bis zur „historisch-romantischen Manier“ ............................. 115 Struktur des Genre-Spektrums ‘Kriminalität erzählen’ ........................... 118 Zwei kontrastierende Textbeispiele: Müllner und v. Train ..................... 124 Die Begleitstimme der ‘schönen Literatur’ zur Strafrechtsentwicklung ....... 133 Bilder vom ‘Verbrechermenschen’ im Spiegelkabinett der rechtskulturellen Diskurse um 1900 ....................................................... 155 ‘Bilder’ und ‘Diskurse’? .......................................................................... 155 Kriminologie und ‘schöne Literatur’ um 1900 ........................................ 158 ‘Verbrechermenschen’ bei Karl E. Franzos: Das sittlich freie Individuum und das ‘Tier im Menschen’ ..................... 168 Die „Ausflüge“ des Schriftstellers Paul Lindau „ins Kriminalistische“ ..... 172 Erich Wulffen: Kriminalpsychologie und Kriminalromane .................... 183 „Der Irre“ von Georg Heym. Verbrechen und Wahnsinn in der Literatur des Expressionismus ............................................................ 195 Nachweise ..................................................................................................... 211 Personenregister ........................................................................................... 213
Erzählte Kriminalität. Zur Konstitution des Gegenstandsbereichs und zu interdisziplinären Perspektiven1 ‘Erzählungen’ als Konstitutionsbereich für das Geschehen ‘Kriminalität’ Kleists Lustspiel „Der zerbrochne Krug“ hat als szenischen Ort die Gerichtsstube eines niederländischen Dorfes bei Utrecht. Zur Verhandlung kommt kein ‘aktenkundiger’ Kriminalfall; doch wird auf der Ebene des sprachlichen Geschehens vorgeführt, wie ‘Schuld’ und ‘Recht’ zu Realitäten werden, die von den Amtsträgern der Justiz definiert sind. Diese Definitionen sind abhängig von den Darstellungen der Prozeßbeteiligten – und so fordern der schlechte ebenso wie der gute Richter die Klägerin, den Beklagten und die Zeugen wiederholt zu Erzählungen auf. Dabei wird die Aufmerksamkeit des Zuschauers nicht auf historisch-lokale Konstellationen des Strafverfahrens gelenkt, sondern auf das ‘Funktionieren’ von Justiz in einem Rollenspiel, das grundlegende Machtverhältnisse als ein ‘Drama’ sprachlicher Handlungen herausstellt. Die beiden Juristen lenken das Erzählen, sie verhindern Erzählungen oder lassen den Erzählenden freien Lauf.2 Die Zuschreibungen von ‘Schuld’ und ‘Unschuld’ sind das Ergebnis juristisch bewerteter Erzählungen – und die justizkritische Pointe des grotesken Gerichtsspiels ist, daß derjenige, der zum kriminalisierenden Erzählen veranlaßt, der Dorfrichter Adam, sich als der eigentliche Schuldige erweist.
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In dem STSL 27-Band „Erzählte Kriminalität“ hatte dieses einleitende Kapitel den Titel „Zur Einführung in den Gegenstandsbereich und zum interdisziplinären Vorgehen“; es schloß auch Beiträge von Konstantin Imm und Wolfgang Naucke ein. Für den jetzt vorgenommenen Neudruck des Textes habe ich die Titelei zugunsten des Zuschnitts der aktuellen Publikation geringfügig geändert und auf die ‘Fremdbeiträge’ aus konzeptionellen (keineswegs aber aus sachlichen und ergebnisorientierten) Gründen verzichtet. Vgl. dazu Stephens: Zur Bedeutung der Erzählvorgänge, S. 301 f. Hier wird auf das „Variant“ der langen Erzählung Eves hingewiesen, die Kleist in die Buchfassung des Lustspiels aufnahm und in dem der Gerichtsrat Walter Eve zum ausführlichen Erzählen auffordert: „Wenn Jungfer Eve will, / Daß wir an ihre Unschuld glauben sollen: / So wird Sie, wie der Krug zerbrochen worden, / Umständlich nach dem Hergang uns berichten.“ (Heinrich v. Kleist: Sämtliche Werke und Briefe. Hg. von Helmut Sembdner. 4. Aufl. München 1965. Bd. 1, S. 840).
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Daß Rechtserkenntnis und Rechtsdurchsetzung in der modernen Gesellschaft von den sprachlichen Handlungen der Beteiligten des Rechtsgeschehens abhängig sind, wird in rechtstheoretischen und rechtskritischen Darstellungen durchaus angesprochen.3 Erörtert wird jedoch vor allem das sprachliche Grundproblem im Sinne einer regulierten Trennung von Alltags- und Fachsprache, die desto schärfer wird, je höhere Instanzen der Rechtsprechung erreicht werden. Auch die Notwendigkeit und die mißlichen Folgen der juristischen Sondersprache sind Gegenstände in der professionellen Ausbildung der Juristen. Dabei stehen die Regeln zur Sprachverwendung und Argumentation im Vordergrund.4 Kaum beachtet wird, daß in vielen Praxisformen des Strafrechts – um das es im Folgenden gehen soll – Beobachtungen, Aussagen, Wissenselemente und Wertungen zu den Zwecken rechtlicher Beurteilung von Ereignissen und Handlungen in ‘Geschichten’ zu bestimmten ‘Bedeutungen’ verbunden werden. Im Verhörprotokoll, in den Reden vor Gericht, den juristischen Schriftsätzen sind in unterschiedlichen Anteilen narrative Passagen enthalten. An diese rechtlich geordneten Erzählungen schließen sich im Umkreis des Rechtsgeschehens (bis hin zu literarischen Verarbeitungen) eine Reihe weiterer – anders geordneter, zu anderen Zwecken bestimmter – Erzählungen an (z.B. Prozeßberichte, Broschüren, aktenmäßige Darstellungen, Fallgeschichten), die – unter ihren jeweiligen Vermittlungsbedingungen – auf die besonderen Konstellationen juristischer Narrativik reagieren. Daß durch die Formen narrativer Organisation (z.B. Auswahl, Verknüpfungen, Perspektivierungen) mit ihren Verbindungen zur Alltagserzählung und zum literarischen Erzählen die ‘juristische Logik’ der Darstellung überlagert oder gestört werden könnte, scheint in rechtstheoretischen Überlegungen kein zentrales, wohl nicht einmal ein peripheres Problem zu sein. Fragen, wie juristisch akzeptable Erzählungen in Auswahl und Verknüpfung ihrer Elemente konstituiert werden, kommen selten in den Blick der Rechtswissenschaft und der Überlegungen zur Rechtspraxis. In der Ausbildung werden die Regeln zur fachlichen Sprachverwendung und ‘Sachverhaltsnarrativik’ weithin unreflektiert eingeübt.5 So wird kaum erkannt, daß die juristische Rede über Straftaten und Straftäter – im Bereich der wissenschaftlichen Argumentation ebenso 3 4 5
Vgl. etwa Hassemer: Grundlagen des Strafrechts, 3. Buch, §§ 15 u. 16, sowie Lüderssen u. Seibert (Hg.): Autor und Täter, S. 86. Als weiterführende Untersuchungen Seibert: Aktenanalysen; Hoffmann: Kommunikation vor Gericht. Vgl. etwa Kroschel u. Meyer-Gossner: Urteile in Strafsachen, S. 88: „Die Straftat des Angeklagten ist so zu schildern, als hätte sie der Urteilsverfasser miterlebt und erzählt sie als Augenzeuge. Freilich als ein Augenzeuge, der weiß, worauf es ankommt, und der nur das mitteilt, was Beziehung auf den Tatbestand und die Rechtsfolgen hat.“
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wie in der strafrechtlichen Praxis – mit Bewertungen befrachtet ist, die aus dem Bereich nicht-juristischer Verständigungen stammen. Dennoch ist Juristen geläufig, daß erst sprachliches Handeln über Kriminalität entsprechende Ereignisse und Vorgänge als ‘gesellschaftliche Wirklichkeit’ konstruiert und daß erzählende Darstellungen zu Kommentar und Beurteilung hinführen.6 Die Regeln zum Erzählen der Sachverhalte sind abhängig von den Ordnungen des Straf- und Strafverfahrensrechtes. Doch ergeben sich im strukturellabstrahierenden Vergleich von rechtlich geordneten Erzählungen bei Gericht und – unter ganz anderen Bedingungen entwickelten – literarischen Erzählungen überraschende Gemeinsamkeiten. So könnte der Ablauf des Strafprozesses als ein weithin geregeltes ‘Erzählspiel’ verstanden werden, in dem der Vorsitzende – als Vollzugsinstanz der rechtlichen Vorschriften – den Beteiligten die Erzählhaltungen vorgibt, sodann die unterschiedlichen Perspektiven gewichtet und einander zuordnet, während die Plädoyers und die Urteilsbegründungen als Texte ‘auktorialer Erzähler’ die verschiedenen Entwürfe zu Sachverhaltsschilderungen und die perspektivengebundenen Berichte zu einer Erzählung zusammenfügen und ordnen.7 Eine solche Erzählung kann durchaus ‘mehrstimmig’ bzw. ‘mehrperspektivisch’ angelegt sein; der rechtlich konstituierte ‘Kriminalfall’ kann konkurrierende Bewertungen einschließen. Diese Konkurrenz wird freilich formal durch das Urteil entschieden; zugleich ist für die Aufnahme des abgeschlossenen Kriminalfalles damit die entscheidende ‘Rezeptionsvorgabe’ angelegt. Als Folge von Kriminalfällen nehmen wir in der Regel im Alltag Kriminalität und die Arbeit der Strafverfolgungsbehörden wahr. Der Kriminalfall ist das Ergebnis regelgeleiteter Prozesse sprachlichen Handelns; er konstituiert sich nicht nur aus den Ereignissen, die als Verstöße gegen das Gesetz definiert werden, sondern auch aus den Einstellungen und Handlungen derjenigen Personen und Gruppen, die sich mit Tat und Täter unter rechtlichen Perspektiven befassen. Über die besonderen Bedingungen der Versprachlichung von Erfahrungen und Beurteilungen werden rechtliche Vorgänge abgegrenzt und zugleich in die Prozesse gesellschaftlicher Verständigung einbezogen. Die sprachliche Rekonstruktion und Verbindung der Ereignisse zu einer ‘Geschichte’ – als wiederkehrender Substanz des Kriminalfalles in den verschiedenen Vermittlungsbereichen – ermöglicht den Anschluß dieser Geschichte an andere ‘Geschichten’ durch Bestätigung, Modifikation oder Kritik der jeweils geltenden Wahrnehmungsformen und Deutungsmuster für Kriminalität. Sie 6 7
Vgl. Müller-Dietz: Literatur und Kriminalität, S. 706. Vgl. Kroschel u. Meyer-Gossner: Urteile in Strafsachen, S. 87: Die Sachverhaltsschilderung soll „vor allen Dingen eine geschlossene Darstellung – aus einem Guß – sein“.
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sind abhängig von historischen und sozialen Konstellationen; sie werden in ihrer sprachlichen Organisation an bestimmte Muster der sprachlichen Kommunikation – und damit auch des Erzählens – gebunden. Die ‘Geschichten’ dienen – in ihren unterschiedlichen Regeln des Erzählens – als ‘Transportwege’ für die gesellschaftlichen Konstruktionen und Deutungen von Kriminalität in der Rechtspraxis, in der wissenschaftlichen Reflexion, in der publizistischen Diskussion, in der literarischen Gestaltung und in den Verständigungsformen des Alltags.8 Nur in interdisziplinär angelegten Untersuchungen werden die ‘Wanderungen’ der Geschichten und ihre Folgen für die gesellschaftlich relevanten Vorstellungen und Deutungen von Kriminalität darzustellen sein. Die Beiträge zu „Erzählte Kriminalität“, in denen solche ‘Wanderungen’ verfolgt werden (insbesondere H.-J. Lüsebrink zur Brigantenliteratur und Räuberromantik, J. Linder zur Pitavalgeschichte; K. Imm zum Fall Chorinsky / Ebergenyi) machen deutlich, daß nicht so sehr die Themen und Gegenstände abgrenzbare ‘Diskurse’ bestimmen, sondern die spezifischen medialen Vermittlungen, institutionellen Regelungen und Publikumsbezüge. Solche Analysen können von der juristischen Regelung der rechtsfähigen Erzählungen ausgehen – und der erste Teil des Bandes skizziert in Überlegungen des Strafrechtswissenschaftlers und Richters am OLG W. Naucke, des praktizierenden Juristen Th.-M. Seibert und des Linguisten L. Hoffmann diesen Ausgangspunkt. Anzusetzen ist bei der ‘Narrativik’ der Geschichtserzählung und Sachverhaltsschilderung.9 Die vielen möglichen Geschichten zu einem Ereignis ‘kriminelles Handeln’ werden in der strafrechtlichen Praxis des Recherchierens und Befragens auf wenige Geschichten reduziert, die dann nach der gerichtlichen Hauptverhandlung – gebunden an die „Sprache der Akten“ und die „Selektivität ihrer Mitteilungen“10 – zu einer faktengetreuen, kohärenten und beurteilungsfähigen Geschichte,11 der ‘Sachdarstellung’, verbunden werden sollen. Sie ist ‘tatbestandsmäßig’ aufgearbeitet. Die ‘Eindeutigkeit’ des 8
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Vgl. auch Smaus: Strafrecht und Kriminalität, S. 1: Definitionen von Kriminalität und Legitimationen der Strafrechtspflege sind Leistungen der „öffentlichen Meinung“; sie sind von der ‘Rechtskultur’ einer Gesellschaft abhängig. – Zum Verfahren der intrakulturellen Analyse beispielsweise Honegger: Kulturelle Deutungsmuster; Link: Elementare Literatur. Vgl. Kroschel u. Meyer-Goßner: Urteile in Strafsachen, S. 86 f. Hassemer: Grundlagen des Strafrechts, S. 73. – Beim ‘Weg durch die Instanzen’ (Voruntersuchung – Gerichtsverfahren – Revision) wird der Spielraum für konkurrierende ‘Erzählungen’ fortschreitend eingeengt und das Gebot der strikten ‘Tatsachenfeststellung’ immer entschiedener. Vgl. Kroschel u. Meyer-Gossner: Urteile in Strafsachen, S. 87: „Die Sachverhaltsschilderung soll ein geschlossenes Ganzes bilden“, in dem sich „die Merkmale einer Straftat finden.“
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Falles ist das Ergebnis einer formalen Prozedur zu bestimmten Zwecken der Rechtsanwendung. W. Hassemer charakterisiert die Anweisungen des materiellen Strafrechts für die Suche nach den Fakten, die den „Strafbarkeitsfall“ ausmachen, als „knapp, vollständig und künstlich“, während sie für den „Strafzumessungsfall“ als „weitläufig, unabgeschlossen und lebensnah“ erscheinen.12 Die Beschreibung der verschiedenen Regeln für rechtsfähiges Erzählen sind mit Überlegungen zur „strafrechtlichen Hermeneutik“ zu verbinden; W. Hassemer arbeitet dabei mit den Kategorien „Lebensvorgang“, „Sachverhalt“ und „Tatbestand“: Aus dem Lebensvorgang wird in Auswahl und Verknüpfung der Sachverhaltsmerkmale „der Sachverhalt generalisierend abstrahiert“13 (wobei bereits der Blick auf die Tatbestandsmäßigkeit der Sachverhaltsschilderung gerichtet ist); „der Lebensvorgang“ wird „am Tatbestand zum Sachverhalt“.14 Die ‘transjuristischen’ Darstellungen eines Kriminalfalles – die diskutierende Aufarbeitung in ‘aktenmäßigen Darstellungen’ und Pitavalgeschichten, die Gerichtsberichterstattung, die Alltagserzählung, die literarische Verarbeitung – heben die kontinuierliche Formalisierung der juristischen Darstellung von „Lebensvorgängen“ wieder auf;15 sie unterwerfen ihre Erzählungen anderen Zwecken und anderen Regeln für Auswahl und Verknüpfung der zu Geschichten verbundenen Ereignisse.16 Die nicht zur (Rechts-)Sache gehörenden 12
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Hassemer: Grundlagen des Strafrechts, S. 159. – Um 1800 werden zwei Typen von ‘Geschichtserzählungen’ noch unter rhetorischem Aspekt voneinander abgegrenzt – vgl. Mereau: Anleitung zu practischen Arbeiten, S. 94–98: die appellierenden und argumentierenden Parteien wählen die „ausgeführte Geschichtserzählung“, der urteilende Richter benützt die „trockene Geschichtserzählung“; vgl. dazu auch Meyer-Krentler: „Geschichtserzählungen“. Hassemer: Tatbestand und Typus, S. 103 f. Ebd., S. 107. Die strafrechtliche Abstraktion von der Individualität und Singularität von Lebensvorgängen ist Voraussetzung dafür, daß der Rechtsgrundsatz ‘Gleichheit vor dem Gesetz’ zumindest als Postulat erhoben werden kann. Unter der Perspektive der ‘Fülle’ der Lebensvorgänge wird die Konstruktion des Kriminalfalles stets als ‘verkümmertes Leben’ erscheinen. Die populären Pitavalgeschichten und die belletristischen Kriminalgeschichten sind vielfach darauf angelegt, diese ‘Verkümmerung’ – zumindest partiell – wieder aufzuheben, das Strafrechtsgeschehen aus den schmalen fachlichen Geleisen zu führen, vgl. zur ‘Verfachlichung’ auch Naucke: Sachverhaltsschilderungen; Rückert: Verfachlichung. – Damit ist allerdings noch keine Aussage darüber getroffen, ob eine solche Darstellung ‘die Sache’, die kriminalisierte Handlung, im Sinne eines fachübergreifenden ‘Rechtsgefühls’ besser zu erfassen vermag. Die Unterschiede in Auswahl und Verknüpfung möglicher Elemente aus Lebensgeschichten und Tatgeschehen lassen sich sowohl in den ‘Erzählungen’ von – mit Kriminalität befaßten – ‘Experten’ (Juristen, Medizinern, Psychologen) wie in der Konkurrenz von Zeugenaussagen und Selbstdarstellung des Angeschuldigten verfolgen bei dem
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Geschichten werden wieder aufgenommen oder neue Geschichten erfunden: es wird mehr und anders erzählt17 – zu rechtspolitischen, belehrenden, moralisierenden, unterhaltenden und anderen Zwecken. Wo in der Belletristik von Kriminalität und Rechtsprechung gehandelt wird, sind die Darstellungen (in ihren Gegenständen und in der Erzählweise) auf das kriminologische Wissen, die juristischen Regelungen und institutionellen Abläufe bezogen, wenn sie beispielsweise das ‘Rechtsgefühl’ ausbilden, die Vorstellung von Rechtssicherheit veranschaulichen oder justizkritisch wirken sollen.18 Der Vorgang des Erzählens und die damit verbundenen Bewertungen strafrechtlich relevanten Geschehens können jedoch auch die Bezüge zur Realität des Rechts ausblenden und einer eigenen Regularität folgen. Die Verschiebungen und Unterschiede zwischen den einzelnen Verfahren, Zielen und Funktionen der Erzählungen ließen sich etwa unter dem biographischen Aspekt diskutieren.19 Wieviel ‘Täter-Biographie’ geht in die Sachverhaltsbeschreibung ein, welche Anteile finden sich in einer Pitavalgeschichte, wie wird die Lebensgeschichte eines Kriminellen in romanhafter Form geschrieben? Für die strafrechtliche Beurteilung wird die Biographie des Angeschuldigten der Geschichte der kriminellen Handlung untergeordnet,20 während in anderen narrativen Darstellungen Lebensgeschichten dazu dienen,
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ausführlich dokumentierten ‘Fall Rivière’; dazu Foucault: Fall Rivière, S. 259–278: Philippe Riot: Das Doppelleben des Pierre Rivière, insbesondere die Tabelle zu den einzelnen Elementen aus Rivières Biographie (S. 265). Vgl. Imm u. Linder: Verdächtige und Täter, S.25; ferner Smaus: Strafrecht und Kriminalität, S. 58. Vgl. Smaus: Strafrecht und Kriminalität, S. 84. – In diesen Konstellationen haben literarische Darstellungen strafrechtlicher Vorgänge die Möglichkeit, die vor- und transjuristischen Wahrnehmungsformen und Bewertungen ‘juristischer Rede’ aufzudecken und zu verdeutlichen, daß die ‘Versprachlichung’ des Rechtsgeschehens sich nicht nur innerhalb der Grenzen juristischer Zumessungen von Tatbestand, Schuld und Strafe bewegt. Vgl. die Dokumentation zum ‘Fall Rivière’, in der das „Erzählen von Verbrechen“ (Foucault: Fall Rivière, S. 12) in den ‘Diskursen’ von Justiz, Medizin, Presse, Bürokratie, Polizei und Alltagswelt am Beispiel des 1835 verhafteten Verwandtenmörders Pierre Rivière – als ‘diskursanalytisches’ Exempel – dargestellt wird. Für unsere – eher sozialgeschichtlich und wissenssoziologisch angelegten – Fragen sind von besonderem Interesse die Beiträge von Philippe Riot (S. 259–278) und Robert Castel (S. 279–296), während Foucaults Aufsatz „Der Mord, den man erzählt“ (S.231–241) sehr kursorisch vorgeht und nicht zur detaillierten Analyse der ‘narrativen Muster’ führt. Vgl. die unterschiedlichen Typen der institutionellen Zuordnungen von Person und Tat in Geständnis, Sachverhaltsschilderung und Urteilsspruch; dazu auch Hahn: Soziologie der Beichte, S. 416 u. 427.
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die Identität der Person zu konstruieren.21 Doch selbst alltagsweltliches biographisches Erzählen ist an die Erwartungen derjenigen gebunden, die an der Erzählung teilhaben; es folgt ebenfalls bestimmten Regeln.22 Das narrative Ergebnis, die ‘Lebensgeschichte’, wäre wiederum in Teilgeschichten – Familiengeschichten, Bildungsgeschichten, Karrieregeschichten, Liebesgeschichten, Krankheitsgeschichten usf. – aufzulösen, die im literarischen Bereich abgrenzbare Genres des Erzählens konstituieren können. In Analogie zur Lebensgeschichte läßt sich der ‘Kriminalfall’ – befreit von den institutionellen Einbindungen in Tatbestand und Urteil – in verschiedene Teilgeschichten zerlegen, die in der Pitavalgeschichte, in der Gerichtsreportage und in der Belletristik unterschiedlich gewichtet, angeordnet und ausgedehnt werden können: die Biographie des Täters bis zur Tat, die Geschichte der Tat, die Ermittlung des Täters, die Voruntersuchungs- und Prozeßgeschichte, die Geschichte der Strafe und – gegebenenfalls – die Lebensgeschichte nach der Strafe. Fragen nach den Anteilen und der Kombination dieser Teilgeschichten können zur Beschreibung und Diskussion unterschiedlicher historischer Konstellationen im ‘Erzählen über Kriminalität’ eine erste und nützliche Typologie erschließen, um Prozesse des Formen- und Funktionenwandels darzustellen. Die Frage nach der Bedeutung der möglichen Teilgeschichten ist auch zur Abgrenzung der „kommunikativen Gattungen“, der geschichtlich entwickelten und gesellschaftlich „festgelegten Grundmuster des Redens“23 über Kriminalität und Strafrechtspflege von Nutzen.24 Als ‘narrative Grundmuster’ werden in „Erzählte Kriminalität“ vorgestellt und diskutiert: die Geschichtserzählung bzw. Sachverhaltsschilderung, die ‘aktenmäßige Darstellung’ eines Kriminalfalls, die Pitavalgeschichte, die Verbrecherbiographie, die Gerichtsreportage und die Kriminalgeschichten der ‘schönen Literatur’. Als historisch wichtiger Übergangsbereich zwischen ‘aktenmäßiger Darstellung’ und literarischer Gestaltung eines Kriminalfalls erweist sich die Pitavalgeschichte.25 Die Pitavalgeschichten geben nicht nur der Lebensgeschichte des Täters und dem 21 22 23 24 25
Vgl. Sartre: Der Ekel, S. 58: „Der Mensch ist ein Geschichtenerzähler, er lebt, umgeben von seinen und den Geschichten anderer, durch sie hindurch sieht er alles, was ihm zustößt.“ Vgl. zur Biographie-Forschung Kohli u. Robert: Biographie und soziale Wirklichkeit; Michel: Biographisches Erzählen. Luckmann: Kommunikative Gattungen, S. 203. Sie läßt sich weiter detaillieren, wenn auch Ausdehnung und Funktion einzelner Beschreibungssequenzen (beispielsweise zu Personen, Räumlichkeiten, Topographien, Naturzuständen usf.) analysiert werden. Dazu Linder: Pitavalgeschichten.
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sozialen Umfeld der Tat mehr Raum als die Sachverhaltsschilderungen; sie orientieren sich auch in der erzählenden Darstellung stärker an Sprachverwendungen und Verknüpfungsverfahren der schönen Literatur;26 sie erweitern das rein juristische Interesse an einer rechtlichen Beurteilung der Tat zugunsten der überzeugenden Verbindung von Tat, Täter und Strafe. Gegenüber den Gerichtsakten und Prozeßberichten, die in der Regel als stoffliche Grundlage benutzt werden, zeichnet die Pitavalgeschichte – mit spezifischen Funktionen im ‘öffentlichen Reden über Kriminalität’ – eine eigene Struktur der Darstellung und Logik der rechtlichen Argumentation aus, während sich die Autoren von Kriminalgeschichten, die auf authentische Fälle zurückgehen, die Freiheit nehmen, das juristische Material auf ihre Weise zu lesen, aus der Sachverhaltsschilderung eine andere Geschichte zu konstruieren und – zur Plausibilität dieser Konstruktion – zusätzliches Material heranzuziehen oder Teilgeschichten zu erfinden. Diese theoretischen Überlegungen und historischen Erfahrungen führen zu der vorläufigen Bilanz, daß die verschiedenen Organisationsformen des öffentlichen Erzählens über Kriminalität nicht nach dem Schema ‘Authentizität und Erfindung’, ‘facts und fiction’ geordnet werden können. Fiktive und dokumentarische Verschriftlichungen eines Kriminalfalles unterscheiden sich in der Konstruktion ihrer ‘Geschichten’ nicht ‘eo ipso’. Auch juristische Texte enthalten im „routinemäßigen Akt der Sachverhaltserfassung“27 Konstrukte, die sie mit nicht-fachlichen Darstellungen teilen; sie sind von alltagsweltlichen und literarischen Deutungsformen beeinflußt und überzogen. Zu Sachverhaltsschilderungen gehören „einerseits eine Raffung und Verkürzung, andererseits eine fingierende, lückenfüllende Ergänzung der zugrunde liegenden Realität“.28 Auswahl, Gewichtung und Verknüpfung der Ereignisse, Teilgeschichten und Kommentare zu einem ‘Kriminalfall’ folgen in den jeweiligen ‘kommunikativen Gattungen’ eigenen Regeln der Plausibilität und ‘Wohlgeformtheit’ der Darstellung. Die uneingeschränkte Faktentreue strafrechtlicher Erzählungen über Kriminalität ist von unterschiedlichen Blickpunkten aus in Frage gestellt worden. 1932 kommentiert der Psychiater Theodor Reik:
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Aber auch in den juristischen Aufzeichnungen des Geschehens ‘Kriminalität’ gehen (vor allem in den unteren Instanzen) Wahrnehmungs- und Darstellungsformen ein, die aus der alltagsweltlichen und literarischen Rede über Kriminalität stammen, vgl. ebd., S. 330 f. Seibert: Aktenanalysen, S. 11. Luhmann: Organisation und Entscheidung, S. 34.
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Richter und Geschworene, Staatsanwälte und Sachverständige fühlen die Versuchung, die Lücken in dem ihnen vorliegenden Material, das sich auf die Wahrheitsfindung bezieht [...] auszufüllen. Auch sie unterliegen dem psychologischen Zwang, den Ablauf der Ereignisse folgerichtig zu verstehen und sich selbst eine ‘vernünftige’ Erklärung zu geben.29
In einer neueren Untersuchung zu Konstellationen des ausgehenden 18. Jahrhunderts bemerkt der Literaturhistoriker Eckhardt Meyer-Krentler: Auch schon die historischen Entscheidungs- und Beurteilungsprozesse selbst setzen [wie die juristische Kasus- und Decisionesliteratur] das geschehene soziale Handeln in den jeweiligen zeitgenössischen Bezugsrahmen. Was auf diese Weise entsteht, ist vor allem Bewußtseinswirklichkeit – und damit prinzipiell nichts ande30 res als das, was auch literarische Texte herstellen und beim Leser befördern.
Nicht von grundsätzlicher Geschiedenheit juristischer und nichtjuristischer ‘Narrationen’ ist auszugehen, sondern von den spezifischen Normen der Produktion, Vermittlung und Rezeption der Texte, von ihren unterschiedlichen Funktionszusammenhängen.31 Nicht so wichtig ist, was erzählt wird, als vielmehr wie erzählt wird; das heißt welche Regeln müssen befolgt werden, damit eine ‘Geschichte’ im jeweiligen Bezugs- und Vermittlungszusammenhang als plausibel gilt und akzeptiert wird? Diese Regeln werden bereichsspezifisch ausgebildet und tradiert; ihre Geschichte wäre Teil der ‘Innengeschichte’ einer wissenschaftlichen Disziplin, der ihr zugeordneten Praxis und der öffentlichen Darstellung dieser Bereiche. In der Literatur kommen dazu Kunst-Konventionen: Sie ordnen die freien Bezüge zu unterschiedlichen Wissens- und Deutungshorizonten in einem beträchtlichen Spielraum für die Verknüpfung dieser Elemente und die Souveränität des Lesers in der Sinndeutung des Texte. Vorbedingung dieser Souveränität sind die eingeschränkte Wirklichkeitsreferenz der literarischen 29
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Reik: Der unbekannte Mörder, S. 216. Die strenge ‘Rationalisierung’ des Rechtsgeschehens (beispielsweise in der – vom Besonderen abstrahierenden – Rekonstruktion des Kriminalfalls) ist als ‘Leistung’ moderner Justiz verbunden mit den ‘Kosten’ der vernachlässigten Reflexion der jeweils relevanten Wahrnehmungsformen, Sprachverwendungen und Deutungsmuster. Diese summarische Feststellung wäre im Rahmen der aktuellen Debatten zu den ‘Erzählleistungen’ der Geisteswissenschaften im allgemeinen und in Abgrenzung zu Fiktionalität im Bereich der Historiographie weiter zu verfolgen; vgl. dazu als erneuten Anstoß Hayden White: Auch Klio dichtet oder Die Fiktion des Faktischen. Studien zur Tropologie des historischen Diskurses. [Engl. 1973]. Stuttgart 1986. Meyer-Krentler: „Die verkaufte Braut“, S. 114. Vgl. Arnold: Wicked Lives, S. 16 f.: Für die sozialen Funktionen von Erzählungen über Kriminalität ist der substantielle Status (‘facts’ oder ‘fiction’) von untergeordneter Bedeutung. Wichtiger für die Wirkungsweisen sind die Präsentation, die Vermittlungswege und die Rezeptionsvorgaben der Texte.
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Erzählung und die kategorielle Trennung zwischen dem (externen) Autor eines solchen Textes und der (internen) Erzählinstanz.32 Der Wahrheitsanspruch einer ‘Pitavalgeschichte’ beispielsweise ist in der Behauptung der Aktenmäßigkeit begründet; für sie bürgt der Autor, er ist häufig aktiver Jurist oder steht in besonderer Nähe zum Geschehen vor Gericht. Seine Glaubwürdigkeit und Fachkompetenz wird jedoch nicht nur postuliert, sie wird auch nachgewiesen durch fachliche Kommentare und Exkurse, vor allem durch umfangreiche Darstellung des Gerichtsverfahrens und durch Aktenzitate. Es ist jedoch immer der Autor als Person, der spricht, kommentiert und deutet und mit seinem Ruf für den Text einsteht; eine besondere textinterne Erzählinstanz wird nicht aufgebaut. Der Autor literarischer Kriminalgeschichten befreit sich dagegen – auch wenn er Akten und Prozeßberichte verarbeitet – von den Regeln juristisch relevanter Rede. Die Frage nach der ‘Wirklichkeitsreferenz’ des Textes oder einzelner Passagen ist nur eines der möglichen Kriterien für die Plausibilität der erzählten Geschichte. Selbst wenn der Autor des Textes Jurist ist, hat er die Freiheit, seine ‘Kriminalgeschichte’ unter Blickpunkten zu erzählen, die nicht solche der ‘Sachverhaltsschilderung’ und ‘Tatbestandsmäßigkeit’ sind. Ob die Erzählung dem Leser als ‘akzeptabel’ erscheint, wird nicht an der juristischen Kompetenz des Autors gemessen, sondern an der narrativen Organisation der Geschichte und ihrer Verknüpfbarkeit mit dem Erfahrungshorizont und den emotionalen Bedürfnissen des Lesers. An diesem Punkt der Argumentation läßt sich eine abschließende Vorüberlegung zu den Kategorien ‘narrativ’, ‘Narration’ und ‘Narrativik’ einbringen. Wir haben die fremdsprachlichen Bezeichnungen immer dann für ‘Erzählung’ und ‘Erzählmuster bzw. Regeln des Erzählens’ eingesetzt, wenn mit dem 32
Von den ‘Schriftstücken’ der Kriminalgeschichten und Pitavalgeschichten, die jeweils an eine (wenn auch unterschiedlich angelegte) Zentralinstanz gebunden sind, von der aus die Erzählung organisiert ist, wäre das szenische Prozeßgeschehen abzugrenzen: Dort bieten die einzelnen Beteiligten jeweils eigene ‘Erzählungen’, für die sie verantwortlich sind. Sie orientieren sich an dem Relevanzbereich, der vom Gericht gesetzt wird – doch unter ihrer eigenen Perspektive und ihren Interessen als Angeklagter, Zeuge, Anwalt usf. Letztlich sind diese Einzelerzählungen aber ‘unvollständige Geschichten’, die erst in der privilegierten Geschichte des Urteils vervollständigt werden. Im Bewußtsein der Beteiligten und im Wissen der Öffentlichkeit wäre der so abgeschlossene ‘Kriminalfall’ wiederum an eine Erzählinstanz gebunden, die von Auswahl-, Relevanz- und Konsistenzprinzipien der strafrechtlichen Bezüge bestimmt ist. Ihre Beurteilungs- und Deutungsperspektiven lenken schließlich die Rezeption des Kriminalfalles und weisen den ‘Teilgeschichten’ begrenzte Bedeutungen zu. Vgl. als rechtswissenschaftliche Studie zu diesen Grundproblemen von ‘Geschichten’ im Strafprozeß Grasnick: Schuld, Strafe und Sprache, S. 180–249.
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Begriff ‘Erzählen’ nicht nur der Vorstellungsbereich von ‘ungeordnet, willkürlich, alltäglich’ oder ‘Fiktion’ zu verbinden war. Der heuristische Wert von ‘narrativ’ besteht unseres Erachtens darin, daß damit auf bestimmte Grundmuster der öffentlichen Rede (insbesondere ihrer Verschriftlichung) und zugeordnete Strukturen ‘mentaler Organisation’33 verwiesen wird, die – in unterschiedlichen Ausformungen und Anwendungen – sowohl in fachlichen als auch in publizistischen und literarischen ‘Diskursen’ eine Rolle spielen. In den Diskussionen des Kolloquiums, das in „Erzählte Kriminalität“ dokumentiert wurde, hat insbesondere Wolfgang Naucke darauf hingewiesen, daß vor Gericht nicht ‘erzählt’, sondern ‘festgestellt’ wird, daß die formalen Vorgaben für Reden vor Gericht so streng sind, die Rede so weitgehend stilisieren, daß ihre Ergebnisse mit dem alltagsweltlichen oder literarischen Erzählen kaum etwas gemeinsam haben. Von der Gegenposition wurde eingewandt, daß es heuristisch wichtig wäre wahrzunehmen, daß in der Geschichte der Fachbegriffe aus dem generalisierenden Begriff der ‘Geschichtserzählung’ die Termini der ‘Sachverhaltsschilderung’ und ‘Tatsachenfeststellung’ im Zuge der Professionalisierungsvorgänge des 19. Jahrhunderts ausdifferenziert wurden, daß damit begrifflich ein Anspruch auf Zweifelsfreiheit und Sicherheit in der juristischen Rekonstruktion eines Geschehens erhoben wird, der praktisch nur in Annäherung eingelöst werden kann. Mit Blick auf die Abläufe von Ermittlung, Voruntersuchung, Anklage und Hauptverhandlung kann die Beschreibungskategorie ‘narrativ’ darauf verweisen, daß auch den professionellen und ‘gelungenen’ Tatsachenfeststellungen ‘Erzählungen’ vorangehen, daß Geschichten erzählt werden, die erst zur Sachverhaltsschilderung umgeformt werden müssen. Wenn hier mit ‘narrativ’ operiert wird, dann soll die fachlich-kunstvolle Trennung zwischen ‘Erzählung’ und ‘Tatsachenfeststellung’ zugunsten der funktionalen Perspektive aufgehoben werden, die spezifische Verwendungsweisen durch Abgrenzungen in einem gemeinsamen Zusammenhang beschreibt. Der Komplex der ‘narrativen Rede- und Schreibweisen’ steht dabei dem Komplex des Argumentierens und Kommentierens gegenüber. In dem einen Bereich werden erzählend Geschichten (vom Sachverhalt bis zum Kriminalroman) geformt und daraus Sinnbildungen entwickelt, im anderen Bereich geht es – redend und schreibend – um Trennen und Unterscheiden, um abgrenzende Wertungen und Entscheidungen zwischen Sinnangeboten.34 33 34
Dazu Hoffmann: Vom Ereignis zum Fall. Es wird deutlich geworden sein, daß unser Bezug auf ‘Narration’ und ‘Narrativik’ nicht an literaturwissenschaftlich-strukturalistische (‘narratologische’) Versuche anschließen will, denen es um die Beschreibung generativer Modelle des Erzählens geht, sondern
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Nicht alle Beiträge in „Erzählte Kriminalität“ verfolgen die unterschiedlichen narrativen Konstitutionen von Kriminalität in detaillierten Zusammenhängen. Abgesehen vom grundlegenden Teil I sind an den Bedingungen, Wechselwirkungen und Folgen der ‘erzählten Kriminalität’ vor allem interessiert: im Teil II E. Meyer-Krentler, W. Schild und H.-J. Lüsebrink; im Teil III J. Rückert, J. Linder, J. Hennig und K. Imm; im Teil IV M. Frommel und J. Schönert. Obwohl sich die heuristische Perspektive, erzählende Konstitutionen von Kriminalität in unterschiedlich regulierten ‘Diskursen’ zu verfolgen, in der Zusammenschau disziplinär getrennter Entwicklungen durchaus als nützlich erwies, wurden auch Gefahren dieses Vorgehens sichtbar: In der Suche nach gemeinsamen oder ausgetauschten Mustern der Wahrnehmung, Darstellung und Bewertung von Kriminalität können die Spezifika der jeweiligen institutionellen Bedingungen für das Reden und Schreiben zum Gegenstand vernachlässigt werden. Die andere Gruppe der Autoren legt mehr Gewicht auf die Thematisierungen rechtlicher Zusammenhänge in der ‘schönen Literatur’ und die methodischen Probleme hei dem Versuch, die Analyse literarischer Konstellationen mit Erfahrungen und Entwicklungen im Rechtswesen zu verbinden.35 Damit sind die Möglichkeiten und Grenzen einer interdisziplinären Zusammenarbeit von Literaturwissenschaft und Literaturgeschichte, (Straf-)Rechtswissenschaft und (Straf-)Rechtsgeschichte angesprochen. Sie bildeten den zweiten Schwerpunkt der Diskussionen und wurden explizit thematisiert (vgl. die Beiträge von H.-U. Mohr, M. Titzmann, K. Lüderssen und R. Merkel) oder für einzelne Genres oder Autoren exemplarisch entwickelt (vgl. bei H. Dainat, R. Schröder und H. Müller-Dietz). Im Schlußteil erörtert J. Rückert unter der Perspektive der ‘Verfachlichung’ ein Erklärungsmuster, mit dessen Hilfe Entwicklungen im Rechtswesen mit Konstellationen und Veränderungen in der literarischen Thematisierung von Kriminalität und Strafrechtspflege sich aufeinander beziehen lassen.
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hier kommunikations- und wissenssoziologische sowie funktionsgeschichtliche (im weiteren Sinne ‘diskursanalytische’) Perspektiven dominieren. Schwerpunkte im methodischen Vorgehen werden zum einen durch linguistischsprachkritische Interessen gesetzt (die sprachabhängigen Rechtshandlungen können im sprachreflexiven Medium der Literatur thematisiert und kritisiert werden); zum zweiten durch denkgeschichtliche und wissenssoziologische Perspektiven (in den Texten, die im Handlungssystem ‘Recht’ produziert werden, sind Wertungsmuster, Denkformen und Sinnangebote vermittelt, mit denen die ‘Symbolwelten’ literarischer Texte in unterschiedlicher Weise korreliert sind) und schließlich durch handlungs- und kommunikationstheoretische Interessen, die den Abgrenzungen und Austauschbeziehungen der Handlungs- und Verständigungssysteme ‘Recht’ und ‘Literatur’ nachgehen.
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Möglichkeiten für interdisziplinäre Perspektiven Als „Reparaturphänomen“ sah Jürgen Mittelstraß 1986 die aktuelle Tendenz, bei wissenschaftlichen Unternehmungen interdisziplinäre Aspekte herauszustellen: Interdisziplinarität sei „zur großen Organisationsformel“ des Wissenschaftsbetriebs geworden.36 Wo die Grenzen fortschreitend spezialisierter Disziplinen zu Erkenntnisgrenzen zu werden drohen, könne Interdisziplinarität dazu helfen, die „wissenschaftliche Wahrnehmungsfähigkeit“ in den einzelnen Fächern zu stärken, zu differenzieren oder gar zurückzugewinnen. Mittelstraß markiert das wünschenswerte Vorgehen mit dem Begriff der „Transdisziplinarität“; interdisziplinäre Forschung schwebe nicht – abstrahierend oder synthetisierend – gleichsam über den Disziplinen, sondern ausgehend von den besonderen Erkenntniszielen und Erkenntnisproblemen der einzelnen Wissenschaftsbereiche, werden Fragen entwickelt, die geschichtlich gewachsene ‘Disziplinierungen’ der Disziplinen mit der Neugier für Bedürfnisse, Verfahren und Ergebnisse in anderen Fächern durchbrechen – ohne damit die eigene Disziplin aufzugeben. In erster Linie zielt Interdisziplinarität darauf ab, durch ‘Grenzüberschreitungen’ den Problemen des jeweiligen Faches zu entgehen, durch Aktionen ‘zwischen den Disziplinen’ Mangelerfahrungen im angestammten Terrain zu kompensieren oder interdisziplinäre ‘Hilfstruppen’ für wissenschaftspolitische Auseinandersetzungen im ‘eigenen Fach’ zu mobilisieren. Interdisziplinäre Forschungen können durchaus dazu führen, daß man trotz gemeinsamer Interessen an einem ‘transdisziplinären’ Gegenstand – wie eben dem der ‘narrativen Konstitution von Kriminalität’ – unterschiedliche Verfahren anwendet und zu kontroversen Ergebnissen kommt. So sollte auch das Unternehmen des Hamburger Kolloquiums verstanden werden – und Wolfgang Naucke hat in seinem Beitrag „Philologen und Juristen: Notizen zum Problem der Interdisziplinarität“37 das interdisziplinäre Gespräch des Kolloquiums charakterisiert, das in der Hauptsache von den Philologen und Rechtswissenschaftlern getragen wurde. Als heuristisches Experiment bewährt – aber eben nicht im eigentlichen Sinne ‘transdisziplinär’ – ist das Verfahren, daß beispielsweise Rechtswissenschaftler als Leser von Belletristik verfolgen, wie die Literatur sich mit dem Gegenstand der Juristen auseinandersetzt.38 Die traditionelle ‘Ideengeschichte’ kann 36 37 38
So Mittelstraß: Reparaturphänomen. Schönert: Erzählte Kriminalität, S. 29–31. Vgl. etwa 1985 Bohnert: Positivität des Rechts; Bohnert will Kleists Werk als Jurist lesen. Nicht hier, aber oft bleibt bei Lektüre mit ‘juristischer Logik’ die besondere ‘Logik der Literatur’ auf der Strecke. Ebenso werden Möglichkeiten einer differenzierten
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dabei – in nützlicher Weise – zur ‘Mentalitätsgeschichte’ erweitert werden: wenn nämlich nicht nur den übernommenen ‘Inhalten’ nachgegangen wird, sondern etwa die sozialpsychologischen Bedingungen und Folgen sowie die kulturellen Muster solcher Verarbeitungen analysiert werden,39 wenn nicht nur Literatur auf Recht oder Recht auf Literatur bezogen wird.40 Lasen in der Vergangenheit Juristen ‘schöne Literatur’, dann vollzog sich diese Lektüre – was nur beschreibend, nicht wertend gemeint ist – in den Bahnen eines gebildeten Literaturverständnisses, nicht aber im Anschluß an die literaturwissenschaftlichen Verfahren der ‘Interpretation’ oder ‘Textanalyse’. Daß sich heute einiges verändert hat, daß Rechtswissenschaftler ‘philologisch lesen’ und dabei ihre rechtsgeschichtlichen oder kriminologischen Erfahrungen ‘transdisziplinär’ umsetzen können, möge an den entsprechenden Beiträgen dieses Bandes (insbesondere bei R. Schröder, K. Lüderssen, H. Müller-Dietz und R. Merkel) überprüft werden – und ebenso, ob es den Literaturwissenschaftlern, die in der Regel extreme ‘juristische Dilettanten’ waren, gelungen ist, ihre Kategorien des reflektierten Textverstehens in Kenntnis der juristischen Besonderheiten auf Texte aus dem Umkreis der Strafrechtspflege anzuwenden. ‘Interdisziplinarität’ wurde im Kolloquium immer dann erreicht, wenn es gelang, die
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historischen Analyse verschenkt, wenn Juristen feststellen, daß Verbrechen und Verbrecher schon immer ein Thema der ‘schönen Literatur’ (von Sophokles bis Handke) bildeten oder viele Juristen auch ‘Dichter’ waren – vgl. dazu beispielsweise Kilian: Literatur und Jurisprudenz. Vgl. Voßkamps Hinweis auf das Interesse an der „Geschichte der Verteilung und Transformation sozialen Wissens“ (Voßkamp: Von der wissenschaftlichen Spezialisierung, S. 457); unser Kolloquium diskutierte die Verteilungen und Veränderungen gesellschaftlich relevanter Vorstellungen von Kriminalität in öffentlichen Erzählprozessen. Vgl. auch die leitende Frage („wie das Wissen über Kriminalität in der Gesellschaft verteilt ist“) in Smaus: Strafrecht und Kriminalität, S. 8: Heute bilden die Massenmedien „die wichtigste Quelle des gesellschaftlich notwendigen Wissensvorrates“, im 19, Jahrhundert waren es die populärwissenschaftlichen Zeitschriften und Sammlungen, die Gerichtszeitungen und die ‘schöne Literatur’. Für beide historische Konstellationen des öffentlichen Gesprächs über Kriminalität gilt: Das Geschehen zu Verbrechen und Strafrechtspflege „wird aber nicht nur dargestellt, sondern auch erklärt, bewertet und gerechtfertigt“ (ebd. S. 13). – Vgl. für die historische Dimension auch das Themaheft „Kriminalität und Geschichte“ der „Beiträge zur historischen Sozialkunde 11“ (1981) H. 1. In der Regel wandert der Blick vom Recht zur Literatur, wobei weiterführende, zu interdisziplinären Fragen anregende Ergebnisse besonders dann erreicht werden, wenn Ungleichzeitigkeiten festgestellt werden (wenn die Literatur Rechtsvorstellungen oder Elemente kriminologischen Wissens integriert oder formuliert, die der jeweils ‘herrschenden Meinung’ nicht entsprechen). Nicht minder aufschlußreich wäre zu verfolgen, inwieweit in juristischen Texten beispielsweise ein Literaturbegriff eingesetzt ist, der dem Literaten oder Literaturwissenschaftler der jeweiligen zeitlichen Konstellation als ‘anachronistisch’ erscheint.
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Sicherheit einer juristischen oder philologischen Hermeneutik in der gegenseitigen Herausforderung zu einer veränderten und differenzierten ‘transdisziplinären’ wissenschaftlichen Wahrnehmungsfähigkeit aufzubrechen. Veränderte Fragen und Verfahren bringen auch Gegenstände in das Blickfeld des interdisziplinären Interesses, die in der einen wie in der anderen Disziplin nur am Rande oder gar nicht wahrgenommen werden. Hierzu hat das Kolloquium beispielsweise für den Texttyp der ‘Fallgeschichten’ (insbesondere der Pitavalgeschichten) Pionierarbeit geleistet. Durch die ‘Wiederentdeckung’ solcher ‘missing links’ werden die komplexen geschichtlichen Konstellationen rekonstruierbar, die von der fachwissenschaftlichen Parzellierung des Gegenstandsbereiches ‘öffentliche Thematisierungen von Kriminalität und Strafrechtspflege’ aufgehoben worden waren. Ebenso wichtig ist es, in der interdisziplinären Diskussion auf die primären Veröffentlichungsorte der Texte zurückzugehen; rechtspolitische Aufsätze also nicht nur in der Werkausgabe eines Rechtswissenschaftlers, sondern in der Erstpublikation einer Zeitschrift zu lesen und dabei den historischen Kontext der nicht-juristischen Texte zu berücksichtigen (so verfährt etwa J. Linder in „Erzählte Kriminalität“ in seinem Beitrag zur Zeitschrift „März“). Unter dem Aspekt der aktuellen methodischen Diskussionen wäre zu verfolgen, inwieweit sozialwissenschaftliche und sozialgeschichtliche Orientierungen in Strafrechtswissenschaft, Kriminologie und Rechtsgeschichte in Auseinandersetzung mit mentalitätsgeschichtlichen, diskursanalytischen oder struktur- und funktionsgeschichtlichen Verfahren der Sprach- und Literaturwissenschaft an Selbstbestimmtheit und Überzeugungskraft gewinnen. Diese Prüfungen und Konsolidierungsvorgänge können in gleicher Weise von rechtswissenschaftlichen Ausgangspunkten auf methodische Positionen in den Philologien bezogen werden. Dabei ergaben sich – im engeren Sinn der Probleme und Verfahren – folgende gemeinsame und interdisziplinäre Perspektiven: Zunächst lassen sich Fragen einer historischen Semantik auf Begriffe projizieren, die sowohl in rechtlichen wie in literarischen Verständigungshandlungen eine wichtige Rolle spielen (vgl. etwa Verbrechen und Strafe, Schuld und Sühne, Recht und Gerechtigkeit). Wo dann mit diesen Begriffen die Zusammenhänge von gesellschaftlich bedingten Wahrnehmungs- und Denkformen verbunden und die institutionellen Regelungen des Begriffsgebrauchs untersucht werden, entwickeln sich sowohl in juristischen wie philologischen Analysen gemeinsame sozialgeschichtliche Interessen.41 Mit diesem trans- und 41
Vgl. für ein – im engeren Sinne – bedeutungsgeschichtliches Verfahren beispielsweise Zach: ‘Poetic Justice’; Krüger: „Le crime merveilleux“; Zelle: Strafen und Schrecken.
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interdisziplinären Vorgehen verträgt sich durchaus das Ergebnis, daß trotz mehrfacher ‘Austauschbeziehungen’ zwischen den gesellschaftlich organisierten Verständigungshandlungen über Verbrechen und Strafe im Rechtswesen und in der Literatur zuverlässige Aussagen über historische Konstellationen nur erreicht werden können, wenn man die unterschiedlichen Wahrnehmungsund Verarbeitungsformen für die gleichen Wertvorstellungen und Wissensbereiche in den juristischen und literarischen Texten (und ‘Diskursen’) berücksichtigt.42 In „Erzählte Kriminalität“ folgen beispielsweise die Untersuchungen der Rechtswissenschaftlerin M. Frommel und der Philologen H.-J. Lüsebrink und M. Titzmann solchen Absichten, wobei Titzmann denk- und kulturgeschichtliche Fragen mit Verfahren der strukturalen Textanalyse verbindet, während Lüsebrink von diskursanalytischen und gesellschaftgeschichtlichen Interessen ausgeht.43 Dieser Ansatz läßt sich wiederum zu interdisziplinär angelegten funktionsgeschichtlichen Vorgehensweisen erweitern.44 So fragt R. Merkel danach, wie die sozialen Funktionen literarischer (insbesondere satirischer) Schreibweisen über Kriminalität zu denen der juristisch geregelten Rede stehen. Eine letzte Erweiterung der interdisziplinären Perspektive läßt sich bei institutionengeschichtlichen Untersuchungen vollziehen, wenn es um die Ausbildung und Entwicklung von Institutionen geht, die an der Versprachlichung der gesellschaftlichen Handlungen im Umgang mit Kriminalität teilhaben, die juristische und literarische Handlungen beeinflussen, steuern und wiederum von ihnen abhängig sind. W. Siemann hat jüngst zwei umfangreiche Untersuchungen zur Geschichte der politischen Polizei in Deutschland vorgelegt,45 die sowohl für rechtsgeschichtliche als auch literarhistorische Interessen unter sozialgeschichtlicher Perspektive neues Material zur Verfügung stellen. Blickt man zurück auf die eben skizzierten Möglichkeiten interdisziplinärer Forschung (dazu kamen im Kolloquium noch die linguistisch und argumentationstheoretisch orientierten Beiträge von L. Hoffmann und Th.-M. Seibert), dann stellt sich die Frage, auf welchen Ebenen die gemeinsamen Bezugspunkte des transdisziplinären Vorgehens gesucht werden sollen: sind es die exemplarischen mikroanalytischen Textanalysen (wie etwa im Beitrag von L. Hoffmann), sind es die einer mittleren Generalisierung (wie in der Untersuchung 42 43 44 45
Dazu – als jüngst erschienene Arbeiten – Reuchlein: Zurechnungsfähigkeit; Ders.: Bürgerliche Gesellschaft; Kolkenbrock-Netz: Wahnsinn der Vernunft; Auhuber: In einem fernen dunklen Spiegel. Dazu ausführlich Lüsebrink: Kriminalität und Literatur. Vgl. etwa Arnold: Wicked Lives. Siemann: Der ‘Polizeiverein’ deutscher Staaten; Ders.: „Deutschlands Ruhe, Sicherheit und Ordnung“.
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M. Titzmanns oder den diskursgeschichtlichen Darstellungen H.-J. Lüsebrinks) oder sind die Fluchtlinien einer weitreichenden Abstraktion anzuvisieren, die H.-U. Mohr in seinem handlungssoziologisch und systemtheoretisch fundierten Vortrag zu Literatur und Rechtswesen in England um 1800 zog?46 Als ein Ergebnis des Hamburger Kolloquiums wäre festzuhalten, daß rechtsund literaturwissenschaftliche Interessen am besten auf der Ebene mittlerer Abstraktionen (generalisierender Aussagen über Textkomplexe, Diskurstypen und Funktionsbezüge) zu verbinden waren. In diesem Zusammenhang soll abschließend zum Problembereich ‘Interdisziplinarität’ der synthetisierende Begriff der ‘Rechtskultur’ reflektiert werden.47 Ausgangspunkt ist dabei, daß die Definitionsleistungen und Handlungen des ‘Sozialsystems Recht’48 von sozialkulturellen Aktionen der Sinnverständigung und ‘Symbolproduktion’ begleitet (legitimiert und kritisiert) werden und auf diese Handlungen und ‘symbolischen Formen’ (wie Texte, Bilder usf.) einwirken.49 Das „kulturell produzierte Wissen“50 wird zwar in Theorie und Praxis des Rechtswesens von dem ‘Fachwissen’ geschieden; es ist jedoch in der gesellschaftlichen Konstruktion von ‘Kriminalität’ in den sog. „inoffiziellen Situationen“51 wirksam – weniger im Sinne einer genau zu beschreibenden pragmatischen Handlungskette, sondern eben symbolisch verstärkend, modifizierend, herausfordernd.52 Der ‘Rechtskultur’-Bereich von Austauschvorgän46 47
48 49
50 51 52
Vgl. Voßkamp: Von der wissenschaftlichen Spezialisierung, S. 454: „Drei Angebote werden heute vornehmlich diskutiert: das des Strukturalismus [...], des Funktionalismus und der allgemeinen Systemtheorie“. Vernachlässigt werden hier die möglichen Diskussionen zum Vergleich der (soziologisch konstituierten) Kategorie ‘Rechtskultur’ mit der (sozialpsychologisch zu begründenden) Kategorie ‘Rechtsgefühl’. Zur neueren wissenschaftlichen Diskussion des Kultur-Begriffs vgl. Baumhauer: Kulturwandel; Neidhart: Kultur und Gesellschaft. In einem weiteren definitorischen Schritt wären die Austauschsysteme ‘Rechtspolitik’ und ‘Rechtskultur’ voneinander abzugrenzen. Vgl. dazu Schönert: Literatur und Kriminalität, Kap. 2. Vgl. Stolleis: Neuere Rechtsgeschichte, S. 259: Eine ‘moderne’ Strafrechtsgeschichte „müßte das Strafrecht einbetten in eine Entwicklungsgeschichte dessen, was die jeweiligen maßgebenden Stimmen ‘Verbrechen’ genannt haben, d.h. in eine allgemeine Kulturgeschichte des abweichenden Verhaltens“. Smaus: Strafrecht und Kriminalität, S. 9. Ebd., S. 4. Am Beispiel von Wilhelm Raabes Erzählung „Horacker“ wird ein Typ solcher rechtskultureller Austauschvorgänge mit Hilfe der Literatur erläutert bei Imm u. Linder: Verdächtige und Täter, S. 88: „Raabe stellt auch hier wieder die Verbindung zwischen alltäglich wirksamen Vorstellungen von Kriminalität und Verbrechensverfolgung und der einschlägigen Literatur her. In der literarischen Darstellung wird Alltagswissen verfestigt, mit Begründungen versehen und in exemplarischen Fällen erfahrbar gemacht.
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gen zwischen sozialintegrativen Handlungen des Alltagslebens, den Aktionen im ‘Sozialsystem Recht’ und im ‘Sozialsystem Literatur’ (das in diesem Zusammenhang für andere sozialkulturelle Systeme steht) unterliegt in Struktur und Funktion der wechselseitigen Bezüge geschichtlichen Wandlungen, die hier vernachlässigt werden.53 Als Ergebnis der Handlungsabläufe und als Ausgangsbereich weiterer Handlungen können bestimmte ‘Symbolsysteme’ beschrieben werden, die – vereinfachend – als Vorstellungen der Alltagskriminalität, der fachwissenschaftlich und rechtspraktisch konstituierten Kriminalität und der Phantasiekriminalität der Literatur benannt werden sollen. Die Abgrenzung dieser ‘Symbolsysteme’ hat lediglich heuristischen Wert, für die Beschreibung historischer Konstellationen müssen – im Sinne eines wechselseitigen Austausches – Übertragungen und Überlagerungen beachtet werden. Die nachstehende Skizze veranschaulicht diesen Zusammenhang, wobei die genauer auszuarbeitende systemtheoretische Grundlegung zugunsten einer ‘vor-theoretischen Beschreibung’ vernachlässigt wird.54 Die ‘Bestände’ in den einzelnen Bereichen und die Austauschbeziehungen werden im historischen Prozeß verändert; in bestimmten Konstellationen sind Austauschvorgänge mit weiteren wichtigen Bereichen gesellschaftlich relevanten Wissens zu berück-
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Damit wird es mit erhöhter Autorität versehen und wirkt produktiv in den Alltag zurück“. Zu heuristischem Zweck wären drei geschichtliche Prozesse voneinander abzugrenzen: Wandel im Rechtssystem, im Literatursystem und im rechtskulturellen Austauschsystem. Hierzu wäre insbesondere zu verweisen auf Münch: Struktur der Moderne (des weiteren auf die 1986 erschienene umfangreiche Studie des Verfassers „Die Kultur der Moderne“). R. Münch unterscheidet – T. Parsons explizierend – zwischen kulturellen (Symbol-) Systemen auf der Ebene des allgemeinen Handlungssystems und sozialkulturellen Subsystemen des Handlungssystems ‘Gesellschaft’. Münch bestimmt innerhalb des Sozial-(Sub-)systems ‘Politik’ das Sozialsystem ‘Recht’ in der Systemfunktion ‘gesellschaftliche Integration’; im Funktionszusammenhang dieses Sozialsystems wird ‘Rechtskultur’ in der Funktion von ‘sozial verbindlichen Symbolkonstruktionen’ gesehen, die ‘latente Strukturen bewahren’ (vgl. S. 430). Dieses Subsystem ‘Rechtskultur’ kann funktional weiter differenziert werden in die Subsysteme ‘Rechtspraxis, Rechtswissenschaft, Rechtsdogmatik und rechtliche Steuerung der Kulturhandlungen’. – Was wir ‘Rechtskultur’ genannt haben, ist als Handlungsbereich ein ‘Austauschsystem’, das Münchs Subsystem ‘Rechtskultur’ (im Sozialsystem ‘Recht’) mit den Subsystemen anderer Sozialsysteme verbindet und ‘Symbole’ für das allgemeine Kultursystem (als Umwelt zum Handlungssystem ‘Gesellschaft’) produziert. Im Gegensatz zu Münchs streng klassifikatorischem – an T. Parsons geschultem – Vorgehen ließe sich für das interdisziplinäre Interesse eine wirkungsvollere Heuristik wohl erarbeiten in Anlehnung an Überlegungen in Bühl: Kultur als System. Elemente eines Kultursystems reichen für Bühl „von Symbolen und Sinndeutungen über symbolisch definierte Gegenstände und freie soziale Interaktionen bis zu einem konditionierten (institutionalisierten) und genetisch programmierten Verhalten“ (S. 131).
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sichtigen (beispielsweise mit religiösen oder moralphilosophischen Bezügen). Zudem sind die konkreten Umsetzungen der ‘rechtskulturellen’ Bezüge abhängig von den Einstellungen der jeweiligen Aktoren und sozialen Gruppen.
In der geschichtlichen Perspektive werden ‘rechtskulturelle Konstellationen’ im deutschen Sprachgebrauch erstmals im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts – gleichzeitig zur Erfahrung sich neu abgrenzender Fachwissenschaften – öffentlich thematisiert. So will beispielsweise der Jurist und Schriftsteller Justus Möser mit seinen „Patriotischen Phantasien“, die er in den siebziger Jahren in der Wochenschrift „Osnabrückische Intelligenzblätter“ veröffentlichte, zur allgemeinen Verbreitung der Gesetze und ihres ‘Geistes’ beitragen,55 also ein ‘transdisziplinäres’ Bewußtsein von Recht und Rechtlichkeit ausbilden 55
Vgl. dazu – als ein lohnendes Forschungsgebiet – die Rechtsartikel in den „Patriotischen Phantasien“ (Justus Möser: Sämtliche Werke. Histor.-krit. Ausgabe. Abtlg. II, Bd. 4–7. Oldenburg u.a. 1943 ff.).
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und fördern.56 Etwa eine Generation später fragt F. C. v. Savigny, wie eine aufgeklärte, fachlich organisierte und ausgearbeitete Rechtswissenschaft mit einer leistungsfähigen Fachsprache der Nation ‘gemein’ werden kann.57 Es geht ihm nicht mehr nur um ein verständliches und volksnahes Recht (wie den Reformgruppen des ausgehenden 18.Jahrhunderts), sondern um Vermittlungen zwischen den fachlichen und nicht-fachlichen Erfahrungsbereichen. Im Rahmen solcher ‘rechtskulturellen’ Vermittlungen erhält die ‘schöne Literatur’ (für die Thematisierungen von Kriminalität und Strafrechtspflege) in der sich funktional differenzierenden modernen Gesellschaft die Aufgabe, durch literarische Verarbeitungen von fachlichem Wissen und Wahrnehmungsformen diese professionell ausgegrenzten Bereiche wieder an Alltagserfahrungen anzuschließen. In den literarischen Entwürfen können so schwer überschaubare Differenzierungen aufgehoben und Widersprüche zwischen institutionalisierter Sinnvermittlung zum Problem ‘Verbrechen und Strafe’ mit subjektiven Sinnbedürfnissen im Bereich der Fiktionen und generalisierenden Symbolkomplexe überbrückt werden. Im symbolischen Raum der Literatur wird im Laufe des 19. Jahrhunderts die ‘soziale Phantasie’ zur Allgegenwart des Verbrechens aktiviert und zugleich in Vorstellungen gelenkt, die sich mit einer erfolgreichen informellen und staatlich institutionalisierten Kontrolle der Kriminalität verbinden lassen.
Zur historiographischen Markierung des Gegenstandsbereiches Eine geschichtliche Darstellung der ‘Austauschbeziehungen’ zwischen den Handlungs- und Erfahrungsbereichen von ‘Recht’ und ‘schöner Literatur’ wird von einer spezifischen Konstellation ausgehen können: von der Abgrenzbarkeit relativ autonomer ‘Sozialsysteme’ seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts. Im Handlungsbereich ‘Literatur’ wird mit unterschiedlichen Institutionalisierungen literarischer Sinnverständigung auf bestimmte Bedürfnisse in der öffentlichen Thematisierung von Kriminalität und Strafrechtspflege geantwortet. So etablieren sich im ausgehenden 18. Jahrhundert beispielsweise die 56
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Vgl. zu diesem Aspekt auch die wissenschaftsgeschichtlichen Untersuchungen von W. Lepenies, der die „Trennung der Wissenschaften von der Literatur“ als Entwicklung des 19. Jahrhunderts ansieht (Lepenies: Der Wissenschaftler als Autor, S. 129). Wenn – vereinfachend gesagt – im 18. Jahrhundert noch Wissenschaft und Kunst gemeinsame Erkenntnis- und Vermittlungsleistungen vollziehen, wird den Künsten im 19. Jahrhundert gegenüber den Wissenschaften nur noch eine „kompensatorische Funktion“ (ebd., S. 130) zugestanden: sie unterstützen Ansprüche der Wissenschaft oder ‘heilen’ Folgen wissenschaftlicher Praxis. Dazu Rückert: v. Savigny.
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Genres der Pitavalgeschichte, der Kriminalgeschichte, der Verbrecherbiographie, des Räuberromans.58 Sie werden nicht nur von rechtspolitischen Interessen bestimmt. Befriedigt wird vor allem die Sensationslust der Leser, die Neugier an der ‘ungeheuerlichen Tat’, der ‘merkwürdigen Geschichte’, der ‘unerhörten Begebenheit’ (vgl. beispielsweise Erzählungen von A. G. Meißner oder H. v. Kleist). Dieses Interesse läßt sich in eine anthropologische Frage umlenken und gleichsam sublimieren: Was ist das Böse im Menschen, woher kommt es (wenn nicht mehr die religiösen Erklärungen gelten), wie ist es zu regulieren (vgl. dazu Texte von Schiller und Kleist)?59 Und schließlich lassen sich solche Fragen mit grundsätzlichen rechtstheoretischen und gesellschaftspolitischen Perspektiven verbinden: Was ist ‘Schuld’, was ist ‘Recht’, lassen sich Schuld und Strafe einander zuverlässig zuordnen, wer setzt die Regeln dieser Zuordnung? Mit solchen Überlegungen wird deutlich, daß die ‘schöne Literatur’ nicht nur aufnimmt, was aus dem Bereich von juristischer Theorie und Praxis ‘abgegeben’ wird. Literarische Darstellungen des Verbrechens überschreiten seit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts entschlossen die Perspektiven, die im tatorientierten Ermittlungs- und Strafverfahren gesetzt sind. So können in nichtfachlichen ‘Erzählungen’ über Kriminalität Diskussionen und Ergebnisse der Kriminalanthropologie, der Kriminalpsychologie, der Psychiatrie und Kriminalsoziologie Gewicht erhalten, ehe sie juristische Relevanz gewinnen. Die neuen Erfahrungen von komplexen Bedingungen für die Entstehung und Zuschreibung von Kriminalität werden literarisch – in unterschiedlicher Weise – mit der weithin dominierenden Annahme vom selbstverantwortlich handelnden Kriminellen verbunden und auf die vom Staat beanspruchte Strafgewalt bezogen. Für die kritische Analyse historischer Konstellationen und Prozesse ist stets zu bedenken, daß auch die juristischen Darstellungen und Beurteilungen des Geschehens ‘Kriminalität’ nur ein Bild der Wirklichkeit geben, nicht aber die Wirklichkeit repräsentieren. Literarische ‘Geschichten’ sind also nicht an den 58 59
Dazu Schönert: Kriminalgeschichten. Vgl. Strasser: Verbrechermenschen, S. 167–172. Als Ergebnis kultureller Prozesse seit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts nennt Strasser als Voraussetzungen für eine literarisch akzeptable Darstellung der Kriminalität: die Ästhetisierung des Bösen zur Angstabwehr („Chaosbannung und Angstsublimierung“), die Rationalisierung des Bösen in Sinnkonstruktionen, die Humanisierung des Bösen (Verstehen und Mitleiden) oder die Dehumanisierung (Ausgrenzungen, die sozial – „Außenseiter der Gesellschaft“ – oder biologisch – „Bestien“ oder „Degenerierte“ – vollzogen werden). Der Impuls, literarisch „das Böse zu bannen“, kann zum einen den Weg zu angstentlasteter Analyse und Erkenntnis öffnen, zum anderen aber auch neue „Mythen“ produzieren (ebd., S. 176).
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juristischen Narrationen zu messen und auf ihre eingeschränkte oder höhere Wahrheit hin zu beurteilen, sondern es ist danach zu fragen, in welchen funktionalen Zusammenhängen die jeweiligen Darstellungen stehen, wie literarische Darstellungen juristische Konstitutionen von Kriminalität übernehmen und stützen oder ob sie – juristisch nicht akzeptable Konstruktionen einbeziehend – eine eigene Wirklichkeit von Verbrechen und Strafgeschehen entwerfen. Für das Hamburger Kolloquium sollte ein Prozeß diskutiert werden, der von 1770 bis etwa 1920 begrenzt war.60 Er reicht von dem Zeitraum der neu zu definierenden Konstellationen für die literarische ‘Veröffentlichung’ des Strafrechtsgeschehens (im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts) über Entwicklungen zur weitreichenden ‘Selbstregulierung’ juristischen und literarischen Handelns im Laufe des 19. Jahrhunderts bis zu einer Phase erneuter und nachhaltiger ‘Eingriffe’ der Literatur in die kriminologischen und strafrechtspolitischen Diskussionen, die zum Ausgang des 19. und zum Beginn des 20. Jahrhunderts das ‘verfachlichte’ Rechtshandeln solchen ‘Einmischungen von außen’ öffnen.61 Es versteht sich, daß die rechts- und literaturgeschichtlichen Vorgänge in übergreifende politische und sozialgeschichtliche Prozesse eingebunden und dadurch bestimmt sind. Dieser Aspekt wird in den einzelnen Beiträgen in „Erzählte Kriminalität“ in Rechnung gestellt, jedoch mit unterschiedlicher Intensität verfolgt. Das vordringliche Interesse galt den jeweils besonderen Veränderungen in den Bereichen von Rechtsgeschehen und literarischer Sinnverständigung sowie ihren Wechselbeziehungen. Solche Wechselbeziehungen lassen sich in den historischen Konstellationen beispielsweise unter den nachstehenden Aspekten verfolgen und beschreiben: (1) Für die literarisch entwickelten Erklärungsmuster zum Entstehen von Kriminalität; sie sind mit den jeweils geltenden juristischen – und im engeren Sinne kriminologischen – Theoremen zu vergleichen.
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Im Vergleich zum Münchner Kolloquium 1981 (vgl. Schönert: Literatur und Kriminalität) wurde zum einen das gesamte Spektrum der juristischen, publizistischen und literarischen Erzählungen über Kriminalität und Strafrechtspflege aufgenommen, zum anderen der vergleichsweise ‘entwicklungsarme’ Zeitraum der Beziehungen zwischen literatur-und rechtsgeschichtlichen Konstellationen von 1850 bis 1880 für ‘entwicklungsreichere’ Phasen erweitert. Verzichtet wurde auf die Vergleiche zwischen den nationalliterarischen Entwicklungen. Vgl. Rückert: Das „gesunde Volksempfinden“, S. 246; Rückert weist hin auf die „Ethisierung der Rechtswissenschaft, Rechtspolitik und Rechtspraxis seit ca. 1880“. Damit sind auch neue Anschlußmöglichkeiten für nicht-fachliche, beispielsweise literarisch entwickelte Sinnangebote gegeben.
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(2) Für die literarische Auswahl der Delikttypen und die Verbindung von Delikten sowie für die Zuordnungen von Tätern und Opfern im Vergleich mit den Auswahlbedingungen und Ergebnissen der Kriminalstatistik. Hierbei sind nicht nur die Interessen und Wahrnehmungsmöglichkeiten der Autoren wichtig, sondern auch die vorhandenen oder produzierten Ängste, Schutzbedürfnisse und Aggressionen der Leser. (3) Für die literarisch bevorzugten Rechtskontrollen und Träger von Sanktionen (wie Familie oder Nachbarschaft, Kirchengemeinde, Patrimonium, staatliche Instanzen) im Vergleich zu den strafrechtlichen Vorgaben und Praxisformen. (4) Für das literarisch vermittelte Wissen zu gesetzlichen und verfahrensrechtlichen Bestimmungen, zu Polizei- und Gerichtsbarkeit, zum Strafvollzug, zur Rechtswissenschaft und zur Rechtspolitik. (5) Für die literarisch ausgearbeiteten Legitimationen zum Verhältnis von Theorie und Praxis im Rechtswesen, zum Strafanspruch des Staates, zur Handlungsfreiheit und rechtlichen Verantwortlichkeit des Individuums im Vergleich mit den jeweils geltenden rechtstheoretischen und rechtsphilosophischen Konzepten. Zur zuverlässigen und detaillierten Beschreibung der Wechselwirkungen zwischen geschichtlichen Prozessen im (Straf-)Rechtswesen und in der Literatur, für die Analyse ihrer Bedingungen und Folgen wäre also ein Materialbereich heranzuziehen, der noch weithin unerschlossen oder nur in einzelnen Konstellationen gesichert ist. Für die Beiträge und Diskussionen des Kolloquiums hatten wir deshalb den Zeitraum von 1770 bis 1920 in drei Phasen gegliedert: 1770–1830, 1830–1880 und 1880–1920.62 Sie schienen uns dafür geeignet, signifikante Vorgänge des Wandels in der Strafrechtsgeschichte mit solchen in der Literaturgeschichte in Verbindung zu setzen. Dabei sind wir davon ausgegangen, daß in der erstgenannten Phase – im Zuge der ‘Modernisierung’ gesellschaftlicher Zusammenhänge – die Reform des Strafrechts im deutschsprachigen Raum die wichtigsten Impulse erhält, daß juristische Praxis und wissenschaftliche Diskussion – über das Zurückdrängen der Fachsprache ‘Latein’ hinaus – stärker an den öffentlichen Meinungsaustausch angeschlossen werden und damit auch publizistische Vermittlungen und literarische Verarbeitungen eine neue Bedeutung erhalten. In diesem Zeitpunkt werden die vielfältigen Genres der literarischen Thematisierung von Verbrechen entwickelt; zwischen den Handlungs- und Erfahrungsbereichen von ‘Recht’ und 62
Vgl. für die beiden ersten Phasen Veröffentlichungen aus unserem DFG-Projekt – Schönert: Die Begleitstimme der ‘schönen Literatur’ [für 1789–1849]; Ders.: Literatur und Kriminalität [für 1850–1880].
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‘Literatur’ kommt es zu einem vergleichsweise intensiven Austausch. Am Beispiel des breiten Textkorpus der ‘Fallgeschichten’ hat J. Rückert untersucht, wie in der Jurisprudenz – abgelesen an den Fachbibliographien und Rezensionen – auf die neuen Konstellationen reagiert wird, und die entsprechenden Entwicklungen bis in die 1890er Jahre nachgezeichnet.63 Der Zeitraum 1830–1880 ist durch die wachsende ‘Verfachlichung’ des Rechtswesens bestimmt;64 die wichtigsten Reformen eines ‘modernisierten’ Strafrechts und Strafprozeßrechtes werden durchgesetzt, die Organisationsformen der Polizei ausgebildet. Mit den Fallgeschichten des „Neuen Pitaval“ und der Gerichtsberichterstattung entwickelt sich ein besonderer Vermittlungsbereich zwischen der Fachlichkeit des Rechtsgeschehens, der Literatur, der Publizistik und dem Alltagsleben. Kriminalgeschichten und Sensationsromane gehören nun zum ständigen Angebot der Familienblätter, Romanzeitschriften und Leihbibliotheken. Nach 1880 sorgen die Reformbewegungen im Strafrecht, die Ausbildung der Kriminologie als Fachwissenschaft (mit kriminalbiologischen, kriminalpsychologischen und kriminalsoziologischen Erweiterungen) und das öffentliche Interesse an spektakulären Prozessen (vgl. etwa die Dreyfus-Affäre) für die partielle Öffnung der Fachgrenzen. Für Publizisten und Schriftsteller ergeben sich neue Möglichkeiten, in die juristischen Diskussionen einzugreifen. Der Ausbau einer umfassenden ‘Medienöffentlichkeit’ der Tageszeitungen, Zeitschriften, Broschüren und Bücher, der beschleunigte Umschlag von Informationen (durch die technischen Entwicklungen im Nachrichtenwesen und der Druckindustrie) führen zu einer nachhaltigen Differenzierung in der Typenreihe publizistischer und literarischer Thematisierungen von Kriminalität und Strafrechtspflege. Sie reicht im Bereich der ‘schönen Literatur’ von der ‘Phantasiekriminalität’ der Kolportageliteratur über die ‘Rätselspiele’ mit LehnstuhlDetektiven bis hin zum justizkritischen Kriminalroman. Mit den neuen politischen Verhältnissen und der veränderten Medienöffentlichkeit der Weimarer Republik (Film, Rundfunk) ergeben sich für die Austauschbeziehungen zwi63 64
Dazu Rückert: Fallgeschichte. Wir gehen davon aus, daß im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts die Berufsrolle des Juristen mit einem – gegenüber früheren Konstellationen – erheblich erweiterten Spektrum von Wissensgebieten, Kompetenzen und Handlungsmöglichkeiten verbunden werden muß. Neue Profile und Karrieren des Juristenberufs werden ‘experimentierend’ in den Bereichen von Rechts- und Staatsphilosophie, Rechtsgeschichte, allgemeiner Geschichte, politischer Praxis, Verwaltung, Publizistik und Belletristik erschlossen. Wohl erst ab 1820/30 werden die Möglichkeiten, zwischen diesen Handlungsbereichen zu wechseln oder sie zu verbinden, deutlich eingeschränkt – vgl. dazu Rückert: Verfachlichung.
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schen Strafrechtsgeschehen und Literatur neue Konstellationen, die jenseits des Gegenstandsbereiches des Kolloquiums liegen.
Der Zeitraum 1770–1830 Die grobe Verlaufsskizze soll – zum Abschluß dieser Einführung – nun für die einzelnen Phasen unter dem Gesichtspunkt der unterschiedlichen ‘narrativen Konstitutionen von Kriminalität’ erläutert werden. Im Hamburger Kolloquium galt unser Interesse den im Untersuchungszeitraum entwickelten und etablierten Typen literarischer, paraliterarischer oder publizistischer Darstellung und Deutung sowie ihren Wechselbeziehungen mit den Verfahren der Sachverhaltsschilderung (wie sie für die Strafrechtspflege eingeübt und durchgesetzt werden) und ihrer Stellung in der juristischen Argumentation.65 Bis in die 1780er Jahre sind die literarischen Konstellationen rechts- und kriminalitätsbezogenen Erzählens im deutschen Sprachraum wenig erforscht. Zunächst wären die Lieder und Berichte zu nennen, die anläßlich öffentlicher Hinrichtungen von dem Leben und den Untaten der Delinquenten erzählen,66 Geständnis und Urteil überliefern und die Exekution schildern. Unter den Stichworten ‘Galgenerzählungen’ und ‘Bänkelsang’ sind die mündlichen und schriftlichen Wege der Vermittlung dieser Texte zu verfolgen.67 Einen weiteren Genrebereich bilden die Diebs- und Gaunergeschichten,68 die jedoch als ‘Verbrechensdarstellungen’ keinen markanten Texttyp darstellen, sondern mit der Facetienliteratur, den Schwänken, Schelmengeschichten und pikaresken Romanen ihre
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Dieser Aspekt wurde bereits verfolgt in Schönert: Literatur und Kriminalität, S. 239– 359; es ging dabei – am Beispiel des Giftmord-Falles Ruthardt – insbesondere um den Austausch von Deutungsmustern, der nicht nur von den juristischen ‘Interpretationsregeln’ zum Giftmord her die literarischen und paraliterarischen Deutungen bestimmt, sondern wechselseitig verläuft. So findet sich das alltägliche Erschrecken vor der Giftmischerin in den Diskursen der Juristen und Kriminologen wieder: in der Wortwahl und der narrativen Verknüpfung der Sachverhaltsschilderungen. Fragen zum geschichtlichen Prozeß der ‘Verfachlichung’ in der Strafrechtspflege müssen beispielsweise überprüfen, ob die alltäglichen Vorstellungen und Einschätzungen bestimmter Formen von Kriminalität ganz oder teilweise zurückgedrängt oder vielleicht auch nur anders formuliert werden. Rüping: Strafrechtsgeschichte, S. 82, zitiert das „Novum Corpus Constitutionem Prussico-Brandenburgensium“ (1801 hg. v. Mylius, Bd. 10, Sp. 3073, § 2), das 1800 verbietet „Druck und Verkauf von Lebensbeschreibungen des Delinquenten, von Liedern und anderen Blättern, welche auf eine bevorstehende Hinrichtung Bezug haben“: Dazu Petzoldt: Bänkelsang; als gut kommentierte Sammlung ist jüngst erschienen Braungart: Bänkelsang. Vgl. Moser-Rath: „Lustige Gesellschaft“, S. 247–261.
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Stoffe und Erzählverfahren teilen. Von dem Thema ‘Kriminalität’ erwarten die Leser Sensationen und Unterhaltung.69 In der anspruchsvollen Bellestristik richtet sich das Interesse jedoch weniger auf die Untaten und die Täter, sondern auf Erzählungen zu ‘Gerichtshändeln’, insbesondere auf das Verhalten der Richter und Prozeßbeteiligten.70 M. Abele und G. Ph. Harsdörffer sind wichtige Autoren der sog. Casus-Literatur,71 die als Verbrechens- und Prozeßgeschichten oder als Gerichtsanekdoten angelegt sein können. Sie folgen zumeist einem strengen Aufbauschema von Rede, Gegenrede, Urteil und Belehrung und orientieren sich am Ablauf des Prozeßgeschehens. Doch geht es in der Regel weniger um juristische Aspekte, sondern um das Merkwürdige und ‘Curieuse’ oder die moralische Unterweisung. Die belustigenden Effekte dominieren gegenüber den Momenten des Erschreckenden und Bedrohlichen. So werden beispielsweise in Harsdörffers „Mordgeschichten“ nicht nur Kapitalverbrechen behandelt.72 In den ‘historiae’ zu Gerichtsvorgängen sind die Tendenzen zum Anekdotischen und Schwankhaften noch verstärkt. Für die Autoren von Kriminalgeschichten des späten 18. Jahrhunderts bieten die Texte der ‘casus’ und ‘historiae’ einen reichen Vorrat attraktiver Stoffe und Motive; dieser Zusammenhang wäre vor allem für A. G. Meißner zu rekonstruieren. Einen wichtigen, aber kaum erforschten Vermittlungsbereich für Erzählungen zu Kriminalfällen dürften die frühen Zeitungen des 17. und 18. Jahrhunderts darstellen. Unlängst wurden Exemplare des Wochenblattes „Stolbergische Sammlung Neuer und Merckwürdiger Welt-Geschichte“ entdeckt, das von 1731 bis etwa 1744 erschien und von J. G. Schnabel, dem Autor der „Insel Felsenburg“ herausgegeben wurde.73 In der Rubrik ‘Sonderbare Neuigkeiten’ spielen die Verbrechensgeschichten und Berichte von Hinrichtungen eine wichtige Rolle; sie können als Vorläufer der ‘Polizeinachrichten’ angesehen werden, die beispielsweise Kleists „Berliner Abendblätter“ (1810/11) einen großen Leserkreis verschafften. Allem Anschein nach war im deutschsprachigen Raum der Text-Typus der ausführlichen Verbrecherbiographie vor 1770/1790 nicht so deutlich ausgeprägt und verbreitet wie in Frankreich und England (allerdings übersetzt 69 70 71 72 73
Ebd., S. 255. Vgl. ebd., S. 182–190 zur Literatur des 17. Jahrhunderts. Dazu Meyer-Krentler: „Geschichtserzählungen“. Vgl. Woeller: Kriminalliteratur, S. 23–26. Über die Entdeckung des Bremer Zeitungswissenschaftlers Welke berichtete die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ am 22.10.1985.
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beispielsweise Johann Leonhardt Rost schon 1720 die 1714 erstmals erschienene Biographien-Sammlung von Alexander Smith ins Deutsche: „Leben und Taten der berühmtesten Straßenräuber, Mörder und Spitzbuben“, vgl. die Ausgabe im Münchner Beck-Verlag, 1987).74 Kurzformen finden sich in der sog. Schafottliteratur: Im (erzählten) Geständnis des Verurteilten werden Tat und Täter so aufeinander bezogen, daß die Lebensgeschichte des Delinquenten (die mehr oder weniger fragmentarisch berichtet wird) ‘abschreckend’ wirkt und den Lesern verdeutlicht, welche schlimmen Folgen aus ‘abweichendem Verhalten’ resultieren. Erst Sammlungen wie „Thaten und Feinheiten renommirter Kraft- und Kniffgenies“ (1790/91 veröffentlicht von Friedrich E. Rambach) begründen den Typus der Geschichten einer ‘kriminellen Karriere’, die vorgeben, bessernd und belehrend zu wirken, im wesentlichen jedoch den sensationellen Anlaß des Verbrechens ausschreiben. In England wird dagegen schon im 17. Jahrhundert „ein eigenständiges literarisches Genre [...], die Verbrecherbiographie“ entwickelt.75 Die Lebensbeschreibungen sind an die öffentlichen Ereignisse „der halbjährlichen, in London sechswöchentlich stattfindenden Hinrichtungen“ gebunden.76 Gegen Ende des 17. Jahrhunderts hat sich die Abfolge von Hinrichtung und literarischer Legitimation (durch Veröffentlichung der Verbrecherbiographie) verfestigt; die Gefängnisgeistlichen erhalten das Privileg, am Tag der Hinrichtung ihre Aufzeichnungen aus den Gesprächen mit den Delinquenten zu veröffentlichen. Die Wirkungen solcher (Dokumentation und Fiktion mischender) Publikationen – nämlich ‘normales’ Verhalten gegenüber dem ‘abweichenden’ zu bezeichnen und zu bestätigen – werden im Laufe des 18. Jahrhunderts in England auch auf andere literarische Thematisierungen des Verbrechens übertragen.77 Bereits in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wird das Genre der moralisierenden Verbrecherbiographie in seinen publikumswirksamen stofflichen Elementen zugunsten anderer Fiktionstypen geplündert oder als ‘moralisches Exemplum’ ironisiert und parodiert.78
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Freilich sind Sonderfälle – wie die anthropologisch-sozialpsychologisch orientierte „Sammlung und Erklärung merkwürdiger Erscheinungen“ (2 Bde., 1787) von Jakob Friedrich Abel – als wichtige Impulse für weitere Entwicklungen zu berücksichtigen. Arnold: Wicked Lives, S. 12. Ebd., S. 20. Ebd., S. 21 – Das Umfeld des Genres ist durch die schwankhafte Lebensgeschichte, das moralische ‘Exemplum’ und die Predigtliteratur bezeichnet, vgl. ebd., S. 23. Vgl. ebd., S. 259 f.; Arnold verweist auf Defoe („Moll Flanders“) und – vor allem – auf Fielding („Jonathan Wild“).
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Für die französische Literatur des 18. Jahrhunderts hat H.-J. Lüsebrink die Rolle der publizistischen, paraliterarischen und literarischen Verbrecherbiographien untersucht und dargestellt, wie die Bindung an praktische Funktionen (moralische Unterweisung oder rechtspolitische Verpflichtung) zugunsten ästhetischer ‘Entfunktionalisierungen’ aufgehoben werden kann.79 Im 18. Jahrhundert lassen sich in Frankreich literarische und paraliterarische Thematisierungen von Kriminalität und Strafrechtspflege im wesentlichen vier Funktionsbereichen zuordnen: (1) den ‘complaintes’ (oder Schafott-Berichten), die in zeitlicher und örtlicher Nähe zum Hinrichtungsgeschehen veröffentlicht werden; (2) den erzählerischen Erweiterungen solcher Berichte im Rahmen der belehrend-sensationellen Verbrecherbiographien; (3) den rechtspolitischen Zwecken der Erzählungen (zugunsten von Justizkritik und Justizreform); (4) den Fallgeschichten nach dem ‘Pitaval’-Muster (seit 1734). Die Pitavalgeschichten, die ihre Geltung den besonderen Konstellationen von Gesellschaft und Öffentlichkeit in Frankreich zwischen 1735 und 1789 verdanken, stellen die wichtigste Verbindung zwischen dem Rechtsgeschehen und seinen literarischen Verarbeitungen dar. Der zum Ende des Jahrhunderts steigenden Tendenz zur publizistischen und literarischen ‘Veröffentlichung’ der Rechtsvorgänge, der wachsenden Zahl von ‘Erzählungen’ über Verbrechen und Verbrechensbekämpfung stehen die rechtsreformerischen Bestrebungen entgegen. Die revidierten Gesetzestexte verdrängen die narrativen Passagen, die – wie im vorneuzeitlichen Recht – gesetzliche Bestimmungen am Beispiel erläuterten.80 Das ‘neue’ formalisierte Recht muß in der rechtskulturellen Vermittlung um so mehr durch Erzählungen von Kriminalfällen veranschaulicht werden. In den deutschsprachigen Staaten gewinnen die Unternehmungen zur Reform des überkommenen Strafrechts und Strafverfahrens erst nach 1789 an Durchsetzungskraft (die ‘Josephina’ 1787 in Österreich, das ALR 1794 in Preußen, das neue Strafgesetzbuch 1813 in Bayern). Die wichtigsten Elemente sind: Abschaffung der Folter, vernünftige Fassung der Straftheorie, Gesetzgebungstechnik, Reform des Inquisitionsverfahrens.81 Es ist davon auszugehen, daß die Reformdiskussionen in die breitere Öffentlichkeit der ‘Gebildeten’ gewirkt haben. Sicher sind es nicht die fachjuristischen Aspekte, die in die öffentliche Diskussion drangen; es sind eher bestimmte Problemkreise, die auch in literarischen Texten dieses Zeitraums wiedererkannt werden: Es geht um die Straf79 80 81
Vgl. Lüsebrink: Kriminalität und Literatur. Vgl. Rüping: Strafrechtsgeschichte, S. 67. Dazu Naucke in Schönert: Literatur und Kriminalität, S. 83.
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zwecke (Abschreckung oder Vergeltung), um freies und determiniertes Handeln, um die Abschaffung der Todesstrafe bzw. bestimmter Verschärfungen dieser schwersten Strafe oder um die Reform des Gefängniswesens. Wichtiger als die Impulse aus der ‘schönen Literatur’ sind jedoch in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die publizistischen und populärwissenschaftlichen Schriften mit kritischen und reformerischen Inhalten. Zu fragen wäre, an welches Publikum sich diese Veröffentlichungen richten. H.-J. Lüsebrink hat den außerordentlich breiten Wissenstransfer in Frankreich vor dem Hintergrund der Legitimitätskrise des Ancien Régime im Frankreich des 18. Jahrhunderts analysiert.82 Eine volksbezogene Narrativik ist Teil des „Straftheaters“ (M. Foucault), der öffentlichen Bestrafungen und Hinrichtungen. Bereits auf der Ebene der Volks- und Kolportageliteratur kommt es (bei vergleichsweise geringen Bezügen zu juristischem Wissen) zu einer im Ansatz kritischen Darstellung der Strafrechtspflege; die Biographien ‘berüchtigter Räuber und Mörder’ lassen Gestalten wie Mandrin und Cartouche ausführlich zu Wort kommen und stellen sie als menschliche Wesen in einer Umgebung der Armut und Rechtlosigkeit dar.83 Der wichtigste Wissensvorrat zu Kriminalität und Strafrechtspflege wird für die mittelständischen und großbürgerlichen Schichten von den PitavalSammlungen bereitgestellt (zwischen 1734 und 1789 erscheinen 19 verschiedene Ausgaben von „Causes Célèbres“ mit insgesamt 253 Einzelbänden). Auf dieser Basis bauen kritische und radikale Angriffe gegen das französische Rechts- und Strafensystem auf. Daran sind vor allem unzufriedene Juristen, aber auch Literaten, Kaufleute und Priester beteiligt.84 Diese Diskussion wurde im wesentlichen von den Akademien der französischen Provinz organisiert. Zu vergleichbaren Konstellationen kommt es im deutschen Sprachraum nicht. Zwar wurden einzelne Preisfragen auch hier aufgenommen (Berner Preisfrage, Preisfrage zum Kindsmord); die Diskussion scheint aber bei weitem nicht so breit und auch nicht so kritisch gewesen zu sein.85 Ab 1810/15 läßt sich für den deutschen Sprachraum feststellen, daß sich ein abgrenzbares juristisches Fachgespräch entwickelt; es integriert und ‘verfachlicht’ das rechtsreformerische Engagement von Aktoren der gebildeten Öffent82 83 84 85
Vgl. Lüsebrink: Kriminalität und Literatur. Dazu Lüsebrink: Brigantenliteratur. Vgl. aus der Sicht des Rechtshistorikers dazu Haber: Strafgerichtliche Öffentlichkeit. Vgl. Haber: Strafprozeßgeschichte im Vormärz, S. 598. Haber sieht im prinzipiellen Nachhinken der deutschen Diskussion und Reformgesetzgebung hinter Frankreich ein „Anzeichen der unterschiedlichen Entwicklungshöhe von französischem und deutschem Bürgertum“.
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lichkeit. Diesem Prozeß der Ausdifferenzierung korrespondiert im Bereich der anspruchsvollen Belletristik das Autonomie-Postulat der klassischromantischen Ästhetik. Mit solchen Abgrenzungen sind freilich nur prinzipielle Tendenzen bezeichnet; bis etwa 1850 kommt es im Zusammenhang politischer Ereignisse und sozio-ökonomischer Entwicklungen (vgl. etwa die Demagogenverfolgung oder die Erfahrungen des Pauperismus in den 1830er Jahren) zu wiederholten ‘Einmischungen’ der ‘schönen Literatur’ in die öffentliche Justizkritik und in die rechtsreformerischen Diskussionen. Gleichzeitig bleibt – jenseits der unmittelbaren rechtskritischen Bezüge – die Konstellation erhalten, daß Fallgeschichten sowie anspruchsvolle Kriminalerzählungen und Kriminalnovellen die mehr oder weniger impliziten theoretischen Annahmen dieses Genres zu Rechtsgeschehen und Rechtsreflexion thematisieren (vor allem in ihren anthropologischen und moralphilosophischen Konzepten)86 oder Wissenselemente einbeziehen, die in der Rechtswissenschaft noch keine theoriekonforme Verarbeitung gefunden haben (etwa psychologische und psychiatrische Probleme).87 Rechtliche Perspektiven wären den literarischen oder paraliterarischen Darstellungen zumeist in den Zurechnungen von Schuld und Strafe abzugewinnen, ohne daß dabei die rechtlichformalen Regelungen solcher Bezüge zugrundegelegt sind. Unter diesem Aspekt unterscheiden sich die ‘Kriminalgeschichten’ (die vielfach authentisches Material verarbeiten) und die ‘Fallgeschichten’ – die außerhalb der juristischen Spruch- und Fallsammlungen88 von Theologen, Ärzten und Pädagogen aufgeschrieben und veröffentlicht werden (vgl. etwa das „Magazin zur Erfahrungsseelenkunde“, 1783–1793) – von der juristischkompetenten Darstellung von Kriminalfällen für ein gebildetes Publikum (vgl. dazu die berühmteste Sammlung, nämlich Feuerbachs „Merkwürdige CriminalRechtsfälle“, 1808/11, sowie ihre Bearbeitung und Erweiterung, die „Aktenmäßige Darstellung merkwürdiger Verbrechen“, 1828/29).89 86 87
88 89
Dazu Dainat: Kriminalgeschichten. Dazu Reuchlein: Problem der Zurechnungsfähigkeit; Ders.: Bürgerliche Gesellschaft; Kolkenbrock-Netz: Wahnsinn der Vernunft. – In der (in Leipzig erscheinenden, von Friedrich Nasse herausgegebenen) „Zeitschrift für die Anthropologie“ – also außerhalb der akademischen Institutionen – sind in den 1820er Jahren Beiträge der etablierten Disziplinen Theologie, Philosophie, Jurisprudenz und Medizin mit Aufsätzen zu psychologischen, psychiatrischen und ethnologischen Fragen verbunden. Dazu aus literarhistorischer Sicht Meyer-Krentler: „Die verkaufte Braut“, sowie ausführlich Rückert: Fallgeschichte, S. 285–311. Auch wenn Fallgeschichten der juristischen Praxis in einen ‘literarischen Wahrnehmungszusammenhang’ gestellt werden oder in Textsammlungen im Verein mit ‘Kriminalerzählungen’ erscheinen, werden sie anderen Regeln und Konventionen des
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Im deutschen Territorialbereich gibt es wegen der nicht-öffentlichen Strafverfahren in diesem Zeitraum keine kontinuierliche, aktuelle und umfassende Kriminal- und Gerichtsberichterstattung; nur wo – im Zuge französischer Besetzung – französisches Recht gilt, finden sich Vorformen aktueller Prozeßberichte (vgl. etwa die Veröffentlichungen zum spektakulären SchinderhannesProzeß); journalistische Versuche eines regelmäßigen Polizeiberichts in Kleists „Berliner Abendblätter“ (1810/11) scheiterten nach kurzer Zeit am Widerstand der Behörde. Vorstellungen einer – durch (journalistische oder wissenschaftliche) Berichte sowie (literarische) Erzählungen herzustellenden – Öffentlichkeit des Rechtsgeschehens blieben im Bereich der ‘Ideen’ (vgl. dazu etwa K. Ph. Moritzens „Ideal einer vollkommenen Zeitung“, 1784). Für die weitere Entwicklung der literarischen Darstellungen von Kriminalität und Strafrechtspflege haben sich im Zeitraum 1770–1830 – unter dem Aspekt der möglichen Anschließbarkeit an das Rechtsgeschehen – drei prinzipielle Tendenzen des Erzählens herausgebildet: (1) die ‘aktenmäßige’ und ‘authentische’ Erzählung; sie folgt weithin dem institutionalisierten Gang der Strafrechtspflege und ist in den berichteten ‘Fakten’ mit der juristischen Fallgeschichte koordinierbar,90 ohne aber damit in allen Elementen der Tat- und Bestrafungsgeschichte und in allen Perspektiven der Beurteilung vergleichbar zu sein; (2) die ‘Kriminalerzählung’ (als ‘pragmatische Geschichtserzählung’ und ‘wahre Geschichte’), die in der Auswahl, Verknüpfung und Bewertung von Vorgeschichte der Tat, Tat, Entdeckung, Verfolgung und Verurteilung freier operiert, aber mit den Wissensbeständen der zeitgenössischen ‘Rechtskultur’ korrelierbar bleibt. Sie entwickelt aus dem besonderen Rechtsfall die Implikationen des ‘Allgemeinen’ im Blick auf die Natur des Menschen, das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft usf. (ein Musterbeispiel wäre Schillers „Verbrecher aus Infamie. Eine wahre Geschichte“, 1786);91 (3) die Texte der ‘Phantasiekriminalität’, die von den sensationellen und erbaulichen Verbrecherbiographien bis hin zu den Räuber- und Schauerromanen reichen.92 Aus allen drei Kategorien bezieht um 1800 das ‘gebildete Publikum’ seine Lektüre; bildungs- und schichtenmäßige
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Textverstehens unterworfen; vgl. etwa J. M. F. von Endters „Sammlung merkwürdiger Rechtsfälle aus dem Gebiete des peinlichen Rechts. Ein Lesebuch für Juristen und Nichtjuristen“ (Nürnberg 1794), die mit Schillers „Verbrecher aus Infamie“ eröffnet wird. Dazu Schild: Relationen. Vgl. dazu aus der umfangreichen germanistischen Literatur insbesondere Oettinger: „Der Verbrecher aus Infamie“; Fink: Le Conte Moral; des weiteren die Materialien und Literaturangaben in der Edition der Reihe „Wagenbachs Taschenbücherei“ (WAT 117), die Horst Brandstätter 1984 besorgte. Vgl. zum englischen Schauerroman Mohr: Literatur und Rechtswesen.
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Differenzierungen, die in den Urteilen der Literaturkritik oder den besonderen Distributionswegen sichtbar werden, sind Folgeerscheinungen.
Der Zeitraum 1830–1880 In den Entwicklungen der Phase 1830–1880 bleiben die Darstellungen der ‘schönen Literatur’ weithin noch in den Bezügen, die um 1800 zum Strafrecht ausgebildet waren. In den Texten dominierten die ‘dramatischen Verbrechen’ (und ihre ebenso ‘dramatischen Strafen’), die vor den Strafrechtsreformen vor allem von rechtlichen Regulierungen erfaßt wurden, aber zahlenmäßig im Laufe des 19. Jahrhunderts nur einen geringen Anteil der institutionalisierten Strafrechtsvorgänge ausmachten. Dieses Beharren auf der Dramatik des Strafrechts steht im Gegensatz zu den Verfachlichungsvorgängen im Recht, die durchgreifende Formalisierungen von Gesetzen und Prozeßordnungen mit der Entemotionalisierung der Rechtsvorgänge (und der ihnen zugeordneten Erzählungen) verbinden. Wo nach 1830 literarische Verarbeitungen von Verbrechen und Verbrechensbekämpfung sich unmittelbar (und kritisch) auf die geltenden rechtlichen Regelungen beziehen wollen, wird dieser Anspruch unter rechts- oder sozialpolitischen Aspekten formuliert (vgl. etwa die ‘Sozialreportagen’ von Ernst Dronke); nach 1850 wird in der deutschsprachigen Literatur auch dieser kritisch-politische Bezug zurückgenommen. Darin ist wohl eine Folge des ‘Rechtsfriedens’ zu sehen, der sich um 1855 zwischen den Regierungen und den bürgerlichen Liberalen einstellt. Abgesehen von der Umlenkung der Energien auf die wirtschaftliche Expansion sind auch wichtige Verfahrensreformen im Prozeßrecht erreicht. Zugleich stellen sich im öffentlichen Bewußtsein die Grenzen zwischen juristischem Fachwissen und dem Alltagswissen über Rechtsvorgänge nun als undurchlässiger dar. Die rechtsreformerisch durchgesetzte Öffnung der Strafverfahren führte nicht zur ‘Öffentlichkeit’ des Rechtsgeschehens, denn die gleichzeitigen Formalisierungen der Strafprozeßordnungen lassen das Strafverfahren wie ein ‘Rollenspiel’ erscheinen, das hochkomplizierten Regeln folgt. Wo sich Strafverfahren und Öffentlichkeit begegnen – in der öffentlichen Hauptverhandlung – nimmt der Zuschauer, sofern er Laie ist, nicht mehr als die Außenseite des Geschehens wahr. Der entscheidende Bezugsbereich für literarische Darstellungen von Kriminalität und Strafverfolgung wird das – rechtskulturell organisierte – Alltagswissen über Tatbestände, Polizeiarbeit, Schuld-Strafe-Zuordnungen, Strafvollzug etc. Wo sich dieses Wissen mit der begrenzten Sicht des juristischen Laien auf Verbrechen und Verbrechensbekämpfung so verbindet, daß Kriminalität durch
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informelle und formelle Kontrolle ‘beherrschbar’ erscheint,93 entsprechen solche Bewußtseinsstrukturen der Rechtspolitik nach der Jahrhundertmitte. Sie entwirft das Bild einer effektiven Verwaltung des Rechts und einer allgemeinen Rechtssicherheit, die durch tüchtige ‘Polizeiarbeit’ und kompetente Rechtsprechung garantiert wird.94 Als wichtigstes ‘narratives Medium’ zur Organisation des Wissens und der Einstellungen des ‘gebildeten Lesepublikums’ zur Kriminalität ist die erfolgreiche Reihe des „Neuen Pitaval“ (1842–1890) anzusehen.95 Mit diesem Prototyp der Sammlungen von authentischen Kriminalfällen aus Geschichte und Gegenwart wird die – am gemeinsamen Interesse von Juristen und Laien – ausgerichtete ‘Fallgeschichte’ unter dem Markenzeichen der ‘Pitavalgeschichte’ endgültig vom Bereich der ‘relationes’ des Rechtsgeschehens und der ‘Übungsfälle’ der Rechtsausbildung abgegrenzt.96 Die täterorientierte Darstellung der Pitavalgeschichte verbindet – in der Nachfolge der anthropologischmoralisch interessierten ‘Kriminalgeschichte’ um 1800 – vielfach ‘Erzählungen’ über die kriminogenen Zusammenhänge der Charakterentwicklung mit psychischen und sozialen Determinanten. Da die dominierenden Fallgeschichten des „Neuen Pitaval“ solche Erzählungen in der Regel nur ergänzend und legitimierend zur rechtlichen ‘Lösung’ des Falles einsetzen, bleiben diese Erkundungen in ‘Randbereiche’ der institutionalisierten Strafrechtstheorie und Strafrechtspraxis folgenlos für das ‘Rechtssystem’. Versuche, in dem Typus der Pitavalgeschichte an die Programme rechtskritisch-eingreifender Literatur des Vormärz anzuknüpfen, haben in der Traditionsbildung des Genres keinen Erfolg. Auf der Ebene der informierenden Leistungen für die ‘Rechtskultur’ des gebildeten Bürgertums treffen sich Pitavalgeschichten mit ‘realistischen’ Kriminalerzählungen und Kriminalnovellen, die vom narrativen Status und den medialen Vermittlungen her unter den Aspekten von ‘facts’ und ‘fiction’, von ‘authentisch’ / ‘aktenmäßig’ und ‘dichterischer Wahrheit’ nun deutlicher geschieden werden. Bis in die 1870er Jahre hinein konkurrieren Pitavalgeschichte und Kriminalerzählung (in den Familienblättern, Romanzeitschriften, Feuilletons und Erzählungssammlungen) auf dem literarischen Markt, dann übernehmen die aktuelleren Gerichtsberichte ebenso Funktionen der Pitavalge93 94 95 96
Dazu Meyer: Kriminalgeschichten der „Gartenlaube“. Vgl. für die daraus resultierenden Bezüge zur Kriminalerzählung insbesondere Hügel: Untersuchungsrichter. Dazu Linder: Pitavalgeschichten. Dazu Rückert: Fallgeschichte.
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schichten97 wie die – nun breiter – differenzierten literarischen Darstellungen zur Kriminalität in Erzählungen, Novellen und Romanen. Zu ihnen treten um 1900 noch die Seriengeschichten der neuen Detektivliteratur angelsächsischer Vorbilder. Die Erzählungen der ‘schönen Literatur’ sind überwiegend täterorientiert; Verbrechen erscheint in der Phase 1850–1880 zumeist als individuelle Verschuldung. Die Entdeckungs- und Bestrafungsleistungen familiar-nachbarschaftlicher (informeller) und staatlich organisierter (formeller) Kontrolle sind korrespondierend und subsidiär aufeinander bezogen. Das literaturspezifische Instrument der ‘poetischen Gerechtigkeit’ baut sich aus dem Alltagswissen zur Entstehung von Schuld und der Notwendigkeit von Strafe auf.98 Obwohl es eher allgemein-ethischen als fachlich-rechtlichen Prinzipien folgt, konkurriert es nicht mit der dargestellten oder einzubringenden juristischen Beurteilung. Rechtshandlungen werden weithin als persönlich verantwortete Entscheidungen erzählt; die fachlichen Fähigkeiten und die moralische Integrität der Entscheidungsträger (der Gerichtsherren, Richter, Polizeibeamten usf.) garantieren die Rechtlichkeit des Geschehens.99 Diese personenbezogene Perspektive verhindert die Darstellung und Analyse institutioneller und machtgestützter Zusammenhänge. Wo die Instanzen des gesetzten Rechts nicht in Erscheinung treten, sorgt das Gewissen der Protagonisten, der ‘innere Gerichtshof’, für die Durchsetzung des Ausgleichs von ‘Schuld und Sühne’. Diese (ungeschriebenen) Regeln des Genres ‘Kriminalerzählung’ gelten nach der Jahrhundertmitte im Zusammenspiel der Vorstellungen der Schriftsteller, der Interessen der Verleger, der Urteile der Kritiker und der Erwartungen des Publikums so uneingeschränkt, daß selbst Autoren mit Erfahrungen juristischer Kollegs (wie Auerbach oder Spielhagen) und gar mit juristischer Praxis (wie Temme und Storm) sich nur durch Zuverlässigkeit und Ausdehnung des rechtlichen Details im Erzählten auszeichnen, nicht aber mit ihren literarischen Texten in Vorgänge der aktuellen Reflexion und Praxis strafrechtlichen Geschehens eingreifen wollen. Die relative ‘Autonomie’ des Rechtssystems wird in den deutschsprachigen Staaten durch die Entwicklung der Gerichtsberichterstattung nicht beeinträch97
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Die Pitavalgeschichten werden allerdings durch die Gerichtsreportagen nicht verdrängt; sie erfüllen nun vielfach Aufgaben der Sekundärinformation: Sie fassen Gerichtsberichte zusammen, pointieren und kommentieren aus örtlicher und zeitlicher Distanz zum Gerichtsgeschehen. Vgl. beispielsweise zu F. Spielhagen Schröder: Hegels Rechtsphilosophie. Vgl. etwa Ernst A. Willkomm: Am grünen Tische. Vier Criminalgeschichten. 2 Bde. Leipzig 1862.
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tigt.100 Im Zuge der neuen Verfahrensordnungen (öffentliche Hauptverhandlung, Geschworenengerichte) wird nach 1850 im wachsenden Maße in Zeitungen und speziellen Gerichtszeitschriften101 allgemein relevantes Wissen über Rechtsvorgänge (insbesondere über Vorgehensweisen der Strafverfolgung und Verfahrensgrundsätze) vermittelt, vor allem aber werden die ‘rechtskulturellen’ Deutungsmuster zur Verbrechensentstehung und Verbrechensbekämpfung angesprochen und bestätigt (vgl. insbesondere die „Berliner Gerichts-Zeitung“, 1853 ff.).102 Gerichtsberichte bieten zudem Material für Pitavalgeschichten und die Kriminalerzählungen der ‘schönen Literatur’, die solche Prozeß-Erzählungen nach den jeweils geltenden Genre-Regeln ‘verarbeiten’. Lassen sich die spezifischen Konstruktionen des Strafrechtsgeschehens in Gerichtsreportagen, Pitavalgeschichten und Kriminalerzählungen noch in unterschiedlichen Vermittlungen mit der zeitgenössischen Strafrechtspraxis in Verbindung setzen, so werden die Texte des Kolportageromans (mit den wichtigsten Motivbereichen ‘Verbrechen, Abenteuer und Liebe’) vorwiegend aus der ‘Phantasiekriminalität’ des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts konstruiert103 und durch Elemente der Kriminalerzählungen des Zeitraums 1850–1880 angereichert. Die literarische Karriere des Kolportageromans beginnt in den 1860er Jahren; knapp dreißig Jahre später schätzt man das Publikum für Kolportageliteratur in Deutschland auf 20 Millionen Leser.104 Dieser Textbereich bleibt in den Beiträgen von „Erzählte Kriminalität“ ebenso unberücksichtigt wie die Serienproduktion der populären Detektivgeschichten, da beide Genres sich mit strafrechtsgeschichtlichen Vorgängen nur über mehrfache Vermittlungen verbinden lassen. Zudem hat ihr Leserkreis kaum Anteil an der Öffentlichkeit, die rechtliche Entwicklungen mit Folgen für den rechtskulturellen Wandel wahrnimmt.
100 In den Anfängen der Gerichtsberichterstattung gilt vielfach noch ihre Pranger-Wirkung für den Angeklagten. Kritik an den gerichtlich handelnden Juristen gewinnt erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts Raum. Zu anderen – justizkritischen und kontrollierenden – Konstellationen in Frankreich (vor der Jahrhundertmitte) vgl. Haber: Strafprozeßgeschichte im Vormärz. 101 Dazu Imm: Chorinsky / Ebergenyi; Hennig: Gerichtsberichterstattung; Marxen: Strafrecht und Gerichtsberichterstattung. 102 Dazu Imm u. Linder: Verdächtige und Täter. 103 Dazu Plaul: Trivialliteratur. 104 Vgl. Schuster: Forsthaus am Rhein, S. 20.
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Der Zeitraum 1880–1920 Mit dem Reichsstrafgesetzbuch von 1871 wird die (um 1800 begonnene) Kodifizierung eines ‘modernen’ Rechts vorerst abgeschlossen. In den wissenschaftlichen und rechtspolitischen Diskussionen zeigen sich jedoch bereits ein Jahrzehnt später vielschichtige Reformbewegungen,105 gegenüber denen sich in den gleichzeitigen literarisch-innovativen Programmen (insbesondere im Naturalismus) neue Konstellationen für die Thematisierung von Kriminalität in Recht und Literatur entwickeln. Vor allem in den Fragen der Entstehung von Kriminalität (ihrer endogenen und exogenen Ursachen), der ‘Anthropologie des Verbrechers’ und der (spezialpräventiven) Verbrechensbekämpfung greifen Schriftsteller für eine natur- und sozialwissenschaftliche ‘Grundlegung der Poesie’ auf die Konzepte vom ‘kriminellen Menschen’ (vgl. Lombroso, Ferri, Kurella) zurück, die auch in den juristischen Reformbewegungen eine wichtige Rolle spielen. Für die deutsche Rechtswissenschaft begründet v. Liszt die sogenannte ‘moderne Schule’, die kriminelle Handlungen von psychischen Determinanten und sozialen Faktoren bestimmt sieht. Ebenfalls auf dieses Theorem bezieht sich das Menschenbild des literarischen Naturalismus; desgleichen werden Konzepte der Vererbungslehre und des Sozialdarwinismus integriert. Auch mit Wissenschaften, die sich zunächst noch an der Peripherie der juristischen Fachdiskussion bewegen (wie forensische Psychiatrie und Kriminalpsychologie), teilt die ‘schöne Literatur’ nach 1880 bestimmte Annahmen zur Ätiologie des Verbrechens und zur Schuldfähigkeit des Individuums.106 Der traditionelle Begriff einer selbst zu verantwortenden Schuld des sittlich autonomen Individuums wird aufgegeben; gerade in der Frage nach der Zurechnungsfähigkeit des Täters finden sich in juristischen Reformdiskussionen und literarischen Konstruktionen vergleichbare Prämissen und Strukturen der Argumentation. Doch begegnet man in der ‘schönen Literatur’ (in ihren traditionsbrechenden Richtungen) durchaus nicht allen wichtigen Interessen und Konzepten der juristischen Reformdiskussion. So wird beispielsweise das Prinzip der Zweckstrafe ignoriert. Die grundsätzliche Differenz zwischen der tatorientierten Perspektive der Juristen und der täterorientierten Darstellung der Belletristen wird durch die neue juristische Perspektive der Spezialprävention nicht aufgehoben; auch das System der Verbrechensbekämpfung (und damit auch der ‘Apparat’ der Justiz) steht vor 1900 nicht im Zentrum des literarischen Interesses.
105 Dazu Frommel: Reformbewegung. 106 Dazu Schönert: „Verbrechermenschen“.
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Von der Position der Rechtswissenschaftler (insbesondere derjenigen, die sich in den Randzonen des Faches bewegen) und Rechtspolitiker aus werden die Kriminalitätsdarstellungen der ‘schönen Literatur’ (und nicht nur die zeitgenössischer Autoren) nun in neuer Weise wahrgenommen. In einer ‘empirischen’ – kriminal-anthropologischen und kriminalpsychologischen – Richtung geht es um die besondere Beobachtungs- und Darstellungsfähigkeit der Schriftsteller für die ‘Natur’ des Verbrechers und das daraus resultierende literarische Spezialwissen,107 in den rechtsphilosophischen Diskussionen um die literarischen Modelle (und die Metaphysik) von Schuld und Strafe, vom Wesen des Rechts. Die Nähe solcher – wissenschaftlich nicht durchweg etablierten – Perspektiven von Kriminologie und Straftheorie zu Positionen der ‘schönen Literatur’ wurde von den Zeitgenossen im wesentlichen unter zwei Aspekten erörtert: Zum einen soll der Gültigkeitsanspruch neuer Theorien mit dem Verweis auf die ‘Wahrheit der Dichtung’ gestützt werden, zum anderen wird gerade im Blick auf die Übereinstimmung von ‘neuen’ Theorien und literarischen Darstellungen auf die wissenschaftliche Unhaltbarkeit dieser Theorien geschlossen. Wie auch immer der Befund gedeutet wurde, daß literarische Texte ‘juristisches Wissen’ durchaus nicht nur in begrenzter und vereinfachter Form aufnehmen108 – festzuhalten ist, daß durch das juristische Interesse am ‘Recht in der Literatur’ und am kriminologischen Erkenntniswert der Verbrechensliteratur auch deutlich wird, wie selbst in Erzählungen, die noch dem Literaturprogramm des ‘Poetischen Realismus’ (in einer Spätphase) verbunden sind, die etablierten Deutungen von Kriminalität im persönlich zu verantwortenden Schuld- und Strafe-Prinzip aufgebrochen und wie – dieses Prinzip störende – psychopathologische und gesellschaftskritische Perspektiven eingebracht werden, so daß ‘Verbrechen’ (bzw. abweichendes Verhalten) als Ergebnis von kriminalisierenden Zuschreibungen erscheint (beispielsweise in Th. Fontanes „Unterm Birnbaum“ von 1885109 oder in W. Raabes „Horacker“ von 1876 und in „Stopfkuchen“ von 1891).110
107 Vgl. Kosewähr: Kriminologie und „Schöne Literatur“, S. 147: Noch heute gelte für wissenschaftlich arbeitende Juristen, daß „Belletristik eine Erkenntnisquelle für die Kriminologie sein kann.“ Dazu als aktuelle Bilanz Müller-Dietz: Kriminologie und Literatur. 108 Vgl. für die Konstellationen zwischen 1770 und 1830 Titzmann: Erzählliteratur der Goethezeit. 109 Dazu Lüderssen: Kriminologische Bemerkungen. 110 Vgl. Imm u. Linder: Verdächtige und Täter.
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Was in solchen Texten – die reduktiv auch nach den üblichen Genre-Mustern zu lesen wären – auf verdeckte und gleichsam stille Weise als Widerspruch zu fachlich und rechtskulturell geltenden Wahrnehmungsformen und Deutungsmustern dargestellt ist, wird ab 1885/90 im Bereich der journalistischen Berichte und Kommentare lauthals und effektvoll als publizistische Herausforderung der – durch Verfachlichungsvorgänge und Machtgewinne – etablierten Autorität juristischer Argumentation und staatlicher Rechtsverwaltung vorgebracht. Der immer rascher expandierende Markt der Informationsvermittlung und Sinnverständigung durch Zeitungen, Zeitschriften und Belletristik verschafft der ‘schreibenden Zunft’ (zumindest ihren bekanntesten Repräsentanten) den Anspruch, als Sprachrohr der öffentlichen Meinung zu gelten. Unter diesem Aspekt – und angesichts von Erfolgen literarischer Einmischung in spektakuläre Rechtsfälle wie dem Dreyfus-Prozeß – wird vor allem in der Publizistik (weniger in der ‘schönen Literatur’) eine justizkritische Position auf- und ausgebaut, die ihren beredten Protagonisten schließlich in Karl Kraus findet.111 Freilich dürfen auch von angriffslustigen und sprachmächtigen Journalisten und Schriftstellern nicht allzu viele Wirkungen bei einer bürokratisch befestigten und wissenschaftlich konsolidierten Justiz erwartet werden. Auch Kraus attackiert vielfach nur die ‘Medienrealität’ von Verbrechen und Strafrechtspflege (also die Polizei- und Gerichtsberichte der Presse). Je deutlicher jedoch Publizistik und Literatur Strategien der ‘Einmischung’ in das Rechtsgeschehen (und seine ‘Veröffentlichungen’) entwickeln, um so eher können auch kritische und reformerische Positionen innerhalb der Jurisprudenz sich aus strategischen und rechtspolitischen Gründen auf ‘Außerfachliches’ beziehen. Obwohl sich bereits nach 1900 neue (und justizkritische) Tendenzen in der Gerichtsberichterstattung abzeichnen, werden Prozeßreportagen erst in der Weimarer Republik (etwa bei Paul Schlesinger und Gabriele Tergit) zu einem Forum der öffentlichen Kontrolle des Strafrechtsgeschehens. Bis zum Ersten Weltkrieg erscheinen auch weiterhin Sammlungen von Pitavalgeschichten; sie entwickeln sich in ihrer Mehrzahl zum Argumentationsfeld der praktischen Juristen, die Ermittlungs- und Verfahrensberichte so aufbereiten, daß sie auch dem Laien einsichtig sind, sich aber auf diese – für die Stabilisierung der Rechtskultur wichtige – Informationsarbeit beschränken (vgl. beispielsweise den „Pitaval der Gegenwart“, 1904 ff.). Dieser Narrationstyp wird erst 1924/25 mit der – für Belletristen konzipierten – Fallgeschichten-
111 Dazu Müller-Dietz: „Fackel“; Merkel: Karl Kraus.
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Sammlung „Außenseiter der Gesellschaft“ (hg. v. Rudolf Leonhard) in einen neuen Status überführt.112 Insgesamt gesehen gilt für die Phase 1880–1920, daß nach der vergleichsweise stabilen Konstellation der weitgehenden ‘Autonomie’ von (Straf-)Rechtsgeschehen und literarischer Sinnverständigung zwischen 1830 und 1880 nun vielfache Austauschbewegungen in Gang gekommen sind und veränderte Verhältnisse die etablierten Zuordnungen und Abgrenzungen überlagern. Nach 1900 sind die gesellschaftlich relevanten Wahrnehmungs-, Darstellungs- und Bewertungsmuster zu ‘Verbrechen und Strafe’ in überaus vielfältigen Verschränkungen von fachwissenschaftlichen, rand- und populärwissenschaftlichen, publizistischen, biographischen und belletristischen Veröffentlichungen entwickelt, bestätigt und verändert worden.113 Daß dabei die ‘schöne Literatur’ nicht nur auf die Wertorientierungen und Wissensbestände der fach- und populärwissenschaftlichen Veröffentlichungen sowie auf die publizistischen Darstellungen reagiert (und entsprechende Materialien verarbeitete), sondern selbst gesellschaftlich relevante Muster der Wahrnehmung, Darstellung und Bewertung ausbildet, markiert das Verhältnis zwischen Rechts- und Literatursystem in diesem Zeitraum.114 Neue Impulse zur weiteren Ausgestaltung und Veränderung dieses Verhältnisses ergeben sich zwischen 1910 und 1920 aus der Literaturbewegung des Expressionismus. In der expressionistischen Erzählprosa115 werden bei Darstellungen von Verbrechen (und den weitgehend reduzierten Strafverfolgungen) die geltenden juristischen Bewertungsschemata in der Regel ausgeblendet. Kriminalität erscheint dann nicht mehr als ‘abweichendes Verhalten’, sondern als – existenziell und gesellschaftlich bedingte – ‘conditio humana’ (als Handlungsraum von Gegengewalt, Protest, Rebellion). Diese Perspektive wird auch dadurch verstärkt, daß sich die Autoren als ‘Außenseiter der Gesellschaft’ stilisieren und ihre ‘Verbündeten’ in den kriminalisierten und ausgegrenzten Gruppen der Gesellschaft sehen.116
112 Dazu Linder: Justizkritik. 113 Dazu Claßen: Kriminalität 1900 bis 1930. 114 Vgl. dazu als perspektivenreiche Studie Müller-Seidel: Deportation des Menschen (zu Kafkas Erzählung „In der Strafkolonie“). 115 Vgl. etwa die Sammlung, die Fritz Martini unter dem Titel „Prosa des Expressionismus“ im Reclam-Verlag Stuttgart 1970 herausgegeben hat. 116 Vgl. Ludwig Rubiner: Der Dichter greift in die Politik. In: Die Aktion 2 (1912), Sp. 645–652, 709–715.
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Der Versuch einer historiographischen Skizze zu den Beziehungen zwischen Entwicklungen im Struktur- und Funktionszusammenhang der literarischen Sinnverständigung über Verbrechen und Strafe und den strafrechtsgeschichtlichen Prozessen hat gezeigt, daß diese Vorgänge des Wandels nicht einfach unter dem Gesichtspunkt einer fortschreitenden Ausdifferenzierung (der ‘Verfachlichung des Rechts’)117 und der wachsenden ästhetischen Autonomisierung der Literatur beschrieben werden können. Im Zentrum der Leistungen der ‘schönen Literatur’ für den gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang steht, daß literarische Erzählungen von Kriminalität und Strafrechtspflege so angelegt und eingesetzt werden, daß sie zwischen den fachlich bestimmten Wissensbeständen und den Alltagserfahrungen der Individuen und Gruppen zugunsten von rechtskulturellen Deutungen vermitteln. Dabei können die Widersprüche zwischen ‘etabliertem Wissen’ und subjektiven Erfahrungen zum einen verdrängt, zum anderen auch angesprochen und im Zusammenhang der literarischen Konstruktionen formiert und verstärkt oder abgebaut werden. Zu fragen bleibt, ob eine solche Reduktion von „Identitätsbelastungen“118 über den Vorgang der Lektüre hinaus lebenspraktische Funktionen hatte. Die Fragen nach den konkreten Folgen der Lektüre von ‘Kriminalgeschichten’ verweisen auf die Grenzen der vorwiegend textorientierten Analysen dieses Bandes – und zudem auf die begrenzten Möglichkeiten einer Text- und Kontextbezüge rekonstruierenden ‘ungenauen’ Wissenschaft, in deren Zeichen (und unter deren Anspruch geschichtlichen Verstehens) sich Vertreter der Sprachwissenschaft und der Literaturgeschichte mit Juristen und Rechtshistorikern zum Kolloquium „Erzählte Kriminalität“ versammelten. Ob solche ‘Ungenauigkeiten’ nicht als Belastung, sondern als Herausforderung zu einem einfallsreichen, komplexen und gar interdisziplinären Forschungsprogramm verstanden werden können, möge in der Diskussion des vorgelegten Bandes überprüft werden.
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Scharfrichter-Erzählungen? Von einer BerufspflichtenStatistik (1573–1616) zum „Tagebuch des Meister Franz, Scharfrichter zu Nürnberg“ (gedruckt 1801)1 Scharfrichter Franz und sein „Blutregister“2 Entstehung, Überlieferung und Edition Für den Zeitraum zwischen 1573 und 1616 hat Scharfrichter Franz Schmidt Aufzeichnungen zu seiner Berufserfahrungen niedergeschrieben und dabei auch Einzelheiten zu den Taten und Lebensumständen der Delinquenten aufgenommen und kommentiert.3 Bis 1578 war er in Bamberg, danach in Nürnberg tätig (S. [227])4 – also im Geltungsbereich der Peinlichen Gerichtsordnung Karls V. von 1532 (der sog. Carolina), die Gewaltkriminalität mit blutiger Vergeltungs- und Abschreckungsjustiz bestrafen will. Die Scharfrichter waren in diese Praxis als lokale Amtsträger oder als lokal angeforderte ‘Fachkäfte’ eingebunden, die nach jeweils vorgegebenen Gebührenordnungen für die ausgeführten Tätigkeiten und ggf. für Aufwendungen wie Reise- und Übernachtungskosten bezahlt wurden. Zur Abrechnung dieser Kosten war
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Für das Kolloquium „Wissen und Literatur in Mittelalter und Früher Neuzeit. Friedrich Vollhardt zum 50. Geburtstag“ (Bühler Höhe, 26.–29.10. 2006) wurde als Vortrag die Ausgangsfassung dieses Beitrags erstellt; die hier vorgelegte (erheblich überarbeitete) Fassung bildete die Grundlage für einen Vortrag an der Universität München in der Vorlesungsreihe „Erzählen in der Vormoderne“ des IDK „Textualität in der Vormoderne“ (am 2.12.2009). – Für hilfreiche Hinweise zum Verständnis der frühneuhochdeutschen Texte bedanke ich mich bei meinem Hamburger Mediävistik-Kollegen Michael Baldzuhn. Diese Bezeichnung verwendet J. M. F. v. Endter, der Herausgeber der Edition von 1801, in seiner „Vorerinnerung“ zum Abdruck des sog. Tagebuchs. Ich benutze die Faksimile-Ausgabe der Edition von 1801 in der Reihe „Die bibliophilen Taschenbücher“ des Harenberg-Verlags Dortmund; sie erschien 1980 unter dem Titel „Das Tagebuch des Meister Franz, Scharfrichter zu Nürnberg“ und schließt einen Kommentar von Jürgen Carl Jacobs und Heinz Rölleke (S. [205]–[240]) ein. Die Ausgabe wird im fortlaufenden Text mit der Seitenzahl zitiert; die Seitenzahlen des Kommentars stehen in [...]. Unter diesem lokalem Aspekt ergeben sich Bezüge zum Nürnberger Stadtrichter Georg Philipp Harsdörffer (1607–1658) und seiner entschieden narrativ angelegten und literarisierenden Publikation „Der große Schau-Platz jämmerlicher Mord-Geschichte. Hamburg 1656“ (ND Hildesheim 1975) – vgl. dazu jüngst Schwerhoff: Kriminalitätsgeschichte, S. 317–321; Fn. 65 verweist auf Forschungsbeiträge zur literarhistorischen Einordnung.
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‘Buch zu führen’;5 so entstanden private Malefiz-Register6 (als Parallelaktionen zu den amtlichen ‘Malefiz-Chroniken’ sowie den Statistiken zu Verurteilungen und Strafen).7 Die Aufzeichnungen von Meister Franz sind allerdings nicht als fortlaufendes Protokoll seiner Berufstätigkeit zu verstehen, sie wurden nach dem Ausscheiden aus dem Nürnberger Scharfrichteramt ausgeführt8 – wobei der Scharfrichter durchaus seine vorausgegangene regelmäßige ‘Buchführung’ oder amtliche Akten genutzt haben kann. Ziel der Aufzeichnung ist primär also eine chronikalische Beschreibung zu den auftragsgemäß erfüllten Berufspflichten. Es ist davon auszugehen, daß ähnliche Aufzeichnungen auch andernorts von Scharfrichtern vorgenommen wurden,9 doch waren sie nicht in eine so viel beachtete Print-Edition wie im Falle von Meister Franzens „Tagebuch“ (1801) überführt worden; zudem waren sie „meistens jüngeren Datums und zeichneten sich nicht durch die Ausführlichkeit der Nürnberger Quelle aus.“10 Das Autograph von Franz Schmidt ist nicht überliefert; es liegen allerdings „mehrere Abschriften und Kompilationen“ aus dem 17. Jahrhundert und der Folgezeit vor.11 Eine dieser Abschriften entdeckte Johann Martin Friedrich von Endter (1764– 1800), promovierter Jurist im Dienste seiner Heimatstadt Nürnberg, in den Nürnberger Archiven und legte sie seiner (posthum) 1801 veröffentlichten Edition zugrunde.12 Dieses publizistische Projekt im Übergangsbereich von der 5
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Ich stütze mich mit diesen Angaben auf Nowosadtko: Scharfrichtermotiv, S. 232. Die Historikerin untersucht „den Entstehungskontext und die Inhalte der Quelle selbst“, „die Umstände, unter denen das Scharfrichtertagebuch entdeckt“ wurde, und „welche Absichten“ zu der Veröffentlichung von 1801 führten sowie „die Rezeptionsgeschichte des publizierten Textes“ (S. 231). Ebd., S. 235. Vgl. zur spätmittelalterlichen Praxis dieses Vorgehens in Nürnberg Martin: Verbrechen und Strafen. – In Nürnberg werden, beginnend mit dem Jahr 1600, von Juristen geführte Verzeichnisse der ergangenen „Malefiz-Urteile“ angelegt, vgl. Nowosadtko: Scharfrichtermotiv, S. 234 f. Vgl. ebd., S. 233; der genaue Zeitpunkt der Niederschrift ist ungewiß (S. 234). Nach 43 Jahren legte Meister Franz 1617 sein – vom Vater übernommenes – Amt nieder (und rückte damit heraus aus dem Sozialmilieu der ‘Unehrlichen’); er starb hochbetagt und wurde 1635 zu Grabe getragen (S. [210]). Er hatte im Verein mit gleichgesinnten Geistlichen für Nürnberg die Praxis durchgesetzt, daß Kindsmörderinnen nicht mehr gesäckt und ertränkt, sondern enthauptet wurden (S. [212]). Vgl. u.a. . Nowosadtko: Scharfrichtermotiv, S. 230, insbes. Fn. 36. Ebd., S. 231. Vgl. zur Person des Herausgebers und seinen Intentionen ebd., S. 237–240. J. M. F. v. Endter ist mir zunächst begegnet mit seiner „Sammlung merkwürdiger Rechtsfälle aus dem Gebiete des peinlichen Rechts. Ein Lesebuch für Juristen und Nichtjuristen“
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Frühen Neuzeit zur Moderne steht im Zusammenhang der aufklärerischen Diskussionen zur Strafrechtsreform mit der entschiedenen Kritik an nur wenig modifizierten Umsetzungen der Carolina von 1532. Meister Franz, der pflichtentreue Exekutor, wird von Endter gleichsam als Kronzeuge für die Anklage der blutigen Praxis des ‘peinlichen Gerichts’ aufgerufen.13 In der „Vorerinnerung“ der Edition blickt Endter zurück auf die Zeit um 1600 – aus der Perspektive einer aufgeklärten Jurisprudenz und Strafrechtspraxis, die sich mehr dem Bessern als dem vergeltenden Strafen verschreiben soll. Meister Franz habe – so Endter – ein „Blutregister“ angelegt, doch handelte er nur seiner Pflicht, seinem Berufe gemäß. In der Sicht des Nürnberger Scharfrichters führt der (durch die Carolina vorgegebene) zeitgenössische Umgang mit Verbrechen und Strafe zu geordneten gesellschaftlichen Verhältnissen; in der Sicht des Editors seiner Aufzeichnungen erscheint dagegen das ‘Henkergeschäft’ als Beleg für einen zu überwindenden Zustand der Strafrechtspraxis.14 Der Originaltitel der Berufspflichten-Chronik in der Print-Edition von 1801 lautete: Meister Frantzen Nachrichter [Scharfrichter] alhier in Nürnberg, all sein Richten, am Leben, so wohl seine Leibs Straffen, so Er ver Richt, alles hierin Ordentlich beschrieben, aus seinem selbst eigenen Buch abgeschrieben worden. Genau nach dem Manuscript abgedruckt und herausgegeben von J. M. F. v. Endter. Dr. und Consulent. Nürnberg in Commission bey J. L. S. Lechner, Dissertationshändler. 1801.
Und in der Tat hat Meister Franz penibel und nüchtern (also ordentlich) sein Register zur blutigen Berufspflicht geführt.15 Doch ist „Tage-Buch“ eine irreführende modernistische Etikettierung des Herausgebers in seiner „Vorerinnerung“ zum Abdruck des historischen Textes: Die Aufzeichnungen des Meister Franz sind keine autobiographische Darstellung im Sinne eines Selbstzeugnisses (eines Ego-Dokuments),16 sondern ein Rapport zur Umsetzung von
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(Nürnberg 1794). Diese Sammlung authentischer und literarisch bearbeiteter Rechtsfälle wird – ohne den Autor zu nennen – mit Schillers fiktionalem Text „Verbrecher aus Infamie“ eröffnet. Vgl. ebd., S. 239. Vgl. ebd., S. 237. Scharfrichter waren – so auch Meister Franz – an Verhören und Foltern von Delinquenten beteiligt. Da sie Verfügungsrecht über den Leichnam der hingerichteten Personen hatten und anatomische Aktionen vornehmen konnten (vgl. S. [213]), erwarben sie sich auch medizinische Kenntnisse. Solches Wissen hat Meister Franz nicht in seine Aufzeichnungen einbezogen; er notiert allerdings, wenn er Leichen der Hingerichteten sezierte. Vgl. Nowosadtko: Scharfrichtermotiv, S. 232.
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Berufspflichten, der allerdings in gelegentlichen narrativen Erweiterungen oder kritischen Kommentaren erste Hinweise auf eine individuelle oder erzählenswerte Wahrnehmung dieser Berufspraxis gibt. Im frühen 19. Jahrhundert ist v. Endters Ausgabe zum Scharfrichter-Tagebuch auch in Literatenkreisen bekannt geworden: u.a. wurde das Buch für die Privatbibliothek von Clemens Brentano nachgewiesen (S. [224]). In Brentanos „Geschichte vom braven Kasperl und schönen Annerl“ (1817) heißt der Scharfrichter, der Annerl wegen ihres Kindsmords hinrichtet, Meister Franz. In v. Endters ‘Scharfrichterbuch’ wird unter Nr. 82 das Unzuchtdelikt einer Annela Moser verzeichnet, die sich allerdings nicht mit einem ‘braven Kaspar’ begnügte, sondern sich mit 21 Ehemännern und jungen Gesellen sexuell eingelassen hatte und füglich enthauptet wurde (S. 22). Auch Achim v. Arnim war die Scharfrichter-Publikation von 1801 bekannt (vgl. S. [224] u. [226]): Entsprechende Bezüge finden sich in „Die Appelmänner“, seinem Puppenspiel von 1813. In diesem Zusammenhang weist Jutta Nowosadtko darauf hin, daß „die Belletristik das [Scharfrichter-]Thema lange vor der Kulturgeschichte entdeckte und vielfach variierte“17 – insbesondere in der Sensationsliteratur des späten 19. Jahrhunderts. Wenn dabei die Aufzeichnungen des Meister Franz (in der Edition von 1801) genutzt werden, erscheinen sie als „Projektionsfläche für Imaginationen aller Art“.18
Kulturhistorischer Kontext Meister Franzens „Blutregister“ hat (in der Edition von 1801) wissenschaftliches Interesse zunächst in der Volkskunde, dann in der Sozial-, Kultur- und Regionalgeschichte gefunden:19 als Quelle für die Alltagsgeschichte des abweichenden Verhaltens und die Berufspraxis des Scharfrichters (mit ihrem ‘unehrlichen Status’) im Straftheater der Frühen Neuzeit.20 In einem strafrechtsund literaturgeschichtlich zu erschließenden Zusammenhang erscheinen die Aufzeichnungen von Meister Franz im Diskurse-Korpus der geistlichen und obrigkeitsbezogenen Schafott-Literatur; die ‘Schafottdiskurse’ (sensu M. Fou17 18 19 20
Ebd., S. 224. Ebd., S. 241. Zum sozial- und berufsgeschichtlichen Kontext sowie zu den biographischen Fakten für Franz Schmidt vgl. ebd., S. 232–237. Exemplarisch steht dafür der sehr gut dokumentierte Artikel der Historikerin Jutta Nowosadtko. Zunächst ist es allerdings irreführend, daß sie für ihre Studie vom „Scharfrichtermotiv“ ausgehen will, eher geht es um die Bewertung der Scharfrichterpflichten im Strafrechtsgeschehen; zu Recht verweist die Verfasserin in der Zusammenfassung ihres Beitrags darauf, daß die Aufzeichnungen von Meister Franz die „geordnete Einrichtung der Nürnberger Kriminaljustiz“ um 1600 dokumentieren sollen (S. 223).
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cault) erwachsen aus der Hinrichtungspraxis als einem besonders produktiven Ansatzpunkt zur ‘Texterzeugung’.21 Schafottdiskurse sind allerdings auf die Öffentlichkeit des ‘Straftheaters’ angelegt, während sich die Aufzeichnungen des Meisters Franz vermutlich zunächst nur auf einen Familienzusammenhang oder die begrenzte Nürnberger Stadt-Öffentlichkeit beziehen lassen. In der wissenschaftlichen Diskussion haben in jüngster Zeit Kriminalitätsdarstellungen in der Frühen Neuzeit – neben den Urgichten und Arme-SünderLiedern – in (illustrierten) Flugblättern und Flugschriften, in frühen periodischen Zeitungen sowie in literarischen bzw. literaturnahen Erzählungen verstärkt Aufmerksamkeit für die dort intensiv vollzogene Repräsentation von Verbrechen und Strafpraxis gefunden.22 In diesen Textgruppen sind bereits unterschiedliche narrative Verfahren zu erkennen und zu analysieren.23 Ergänzend zu einem solchen Medien-Komplex sind insbesondere die MalefizChroniken, städtische Annalen, Gerichtsakten und Gerichtsbücher zu berücksichtigen, die vielfach als Materialfundus für Bearbeitungen in Veröffentlichungen unterschiedlicher Art genutzt werden.24 Aus literatur- und mediengeschichtlicher Sicht untersucht Alexander Košenina 2005 „Frühneuzeitliche Verbrechensdarstellung zwischen Dokumentation und Unterhaltung“; er konzentriert sich dabei auf den Zeitraum ab frühem 18. Jahrhundert.25 Bereits gut erforscht sind für den Themenbereich von Verbrechen und Strafe die illustrierten Flugblätter des späten 16. und frühen 17. Jahrhunderts;26 sie nutzen den Aktualitäts- und Authentizitätsanspruch zur Rechtfertigung des Sensationellen und konzentrieren ihre Darstellungen auf das äußere Geschehen im Tathergang und die brutalen Strafrituale.27 In Abgrenzung dazu entsteht im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts in der deutschsprachigen Literatur die Kriminalerzählung der Moderne; darin ist der Tathergang zumeist der ‘inneren Geschichte’ des Verbrechers und der Entstehung des Verbrechens nachgeordnet. Für kausalpsychologische Motivierungen wird dabei zum einen der Wissensfundus der sich gleichzeitig entwickelnden empirischen Anthropologie
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Vgl. – mit dem Schwerpunkt für das 18. Jahrhundert – Dainat: Räuber, S. 347–354. Vgl. Nowosadtko; Scharfrichtermotiv, S. 224, Fn. 6 u. 7 sowie S. 227, Fn. 23. Vgl. Schwerhoff: Kriminalitätsgeschichte, S. 314; Wiltenburg: Sensationalismus. Vgl. zu diesem ‘Medienverbund’ Schwerhoff: Kriminalitätsgeschichte, S. 306–309. Für das 17. Jahrhundert verweist Košenina auf Halisch: Kriminalgeschichtensammlungen; Landfester: Recht des Erzählers; Niefanger: Gewalt im 17. Jahrhundert. Dazu Peil: Strafe und Ritual. Vgl. Košenina: Frühneuzeitliche Verbrechensdarstellung, S. 29.
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und Erfahrungsseelenkunde genutzt, zum anderen werden diese Wissensansprüche literarisch bestätigt und erweitert. Im strafrechtlichen Aktenverfahren der Frühen Neuzeit begründen die ‘relationes’ als nüchternes Fakten-Protokoll (‘res factae’) in einer strikt geregelten Form zum Herausarbeiten des juristisch relevanten Sachverhalts die Urteile;28 erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ergeben sich Veränderungen durch erste Tendenzen zur ergänzenden Rekonstruktion der ‘inneren Geschichte’ des Verbrechens und der Person des Verbrechers,29 um das zu findende Urteil überzeugend begründen zu können. Eine solche Perspektive hat keinen Ort in der Wahrnehmungswelt eines Scharfrichters, dessen Berufspflicht allein auf die sachgemäße Mitwirkung bei der ‘peinlichen Befragung’, der Folter von Delinquenten, und auf die Vollstreckung eines ergangenen Urteils ausgerichtet ist. Textzeugnisse der Scharfrichtertätigkeit wurden deshalb in der wissenschaftlichen Auswertung vor allem zu faktischen Informationen über die Bedingungen und Praxisformen des ‘Scharfrichtergeschäfts’ genutzt.30 Als Literaturwissenschaftler will ich dagegen das sog. Tagebuch des Meister Franz im Blick auf die Darstellungsverfahren und etwaige Ansatzpunkte zu narrativen Mustern prüfen, da fortschreitend im 17. und 18. Jahrhundert ‘Erzählen’ zur bevorzugten Organisationsform im Spektrum der faktualen und fiktionalen öffentlichen Vermittlung von Kriminalität wird.
Register-Einträge und Ansätze zum Erzählen Nach Ansätzen zum Erzählen in diesem privaten Malefiz-Register zu suchen, erscheint mir nicht zuletzt deshalb als sinnvoll, weil es sich in den Aufzeichnungen von Meister Franz weithin um eine ‘post festum’ erstellte Zusammenfassung handelt, in der das registerhafte Grundmuster, Verbrechen sowie Todesart (und gegebenenfalls auch die Qualität der scharfrichterlichen Handwerksleistung) zu verzeichnen, hin zum Ende des Gesamttextes immer häufiger durch narrative und kommentierende Ergänzungen erweitert wird31 – vermutlich auch aus der Quelle frischer Erinnerungen. Narrative Tendenzen im Sinne eines Ego-Dokuments sind allerdings in diesen expandierenden Passagen nicht zu erkennen; im Zentrum bleibt die äußere Geschichte von Verbre28 29 30 31
Vgl. Meyer-Krentler: „Geschichtserzählungen“, S. 118. Vgl. Košenina: Frühneuzeitliche Verbrechensdarstellung, S. 36 f. Vgl. Nowosadtko; Scharfrichtermotiv, 225 f. Vgl. allerdings ebd., S. 234: „persönliche Kommentare und Ergänzungen zu einzelnen Hinrichtungen“ seien nur „im Ausnahmefall“ zu finden.
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chen und Strafe als Folge von unerhörten Begebenheiten und blutigen Ereignissen (vgl. [S. 231]). Selten wird verknüpfend erzählt; eher werden Daten, Personen32 und Aktionen registriert zugunsten eines durchnummerierten Verzeichnisses zu den Pflichten des Scharfrichters mit Datum der Berufsausübung, Name des Delinquenten, Typus des Verbrechens und Art der Hinrichtung. Hier ein Beispiel für einen solchen ‘Minimaltext’ (S. 7 f.): Anfang des 1578. Jahrs [Nr. 25] Den 6. Marti. Appolonia Näglin, von Lehrberg, ein Kindermörderin die ein Kind heimblich in ihres Bauern haus gebohren, dasselbige umbbracht, zu Lichtenau mit den Wasser gericht.
Dazu ein Beispiel für die tatbezogen-narrative und die strafbezogenkommentierende Erweiterung eines Minimaltextes; sie läßt sich dem im 16. Jahrhundert vielfach zu verfolgenden Muster der narrativen Anreicherungen von (unterschiedlich angelegten) ‘Listen’ zurechnen: Anfang des 1580. Jahrs [Nr. 43] Den 26. Januarij. Margaretha Dörfflerin, von Ebermansstatt, Elisabeth Ernstin von Anspach, Agnes Lengin von Amberg, 3. [dreimal] Kindtsmörderin[nen], die dörfflerin, als sie ihr Kindt in einem Garten hinter der Vesten geborn, also lebendig in Schnee ligen lassen, dass es auff der Erden angefrohren, und gestorben, die Ernstin, als sie Ihr Kindt lebendig Im herrn Beheimbs hauß gebohrn, demselben sie das hirnschädelein eingedrukt, und in ein truhen gesperret. Die Lengin aber, als sie ihr Kindt, bei einem Rothschmidt lebendig gebohren, demselben sie das Genikhlein eingedrukht, und in ein Spänhauffen vergraben, alle drey als Mörderin mit den Schwerdt gricht, die häupter auff das hoch gericht genagelt, dann, vor niemahls kein Weibsbild zu Nürnberg mit den Schwerdt gericht worden, welches ich und die zween Priester, nemblich herr Linhardt Krieg, und herr ucharius zu wegen bracht, dann die Brukhen schon auf gemacht, das man sie alle 3 hatt ertränkhen sollen (S. 11 f.).33
Bei den Aufzeichnungen zu den Kriminalfällen mit Todesstrafe ergeben sich anschwellende Berichte durch die Häufung von Untaten wie Hurerei, Töten der Hurenkinder oder Raubüberfällen mit Todesfolgen. So haben sich beispielsweise zwei Spießgesellen – sie heißen Georg Hörnlein und Jobst Knau (S. 32–35) – eine Folge von Einbruchdiebstähle zuschulden kommen lassen; Meister Franz kommentiert: „In Summa es were noch ein halbs blat zu schreiben, was sie alles angriffen haben“ (S. 34). Hier zeigt sich das Erschrecken des Berichterstatters über die kriminelle Energie der beiden Missetäter, die schließlich 1588 vom Scharfrichter verstümmelt und auf das Rad geflochten werden; andernorts wird in den Aufzeichnungen von Meister Franz so etwas 32
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Die Namen der beteiligten Personen (Delinquenten, Geschädigte, Zeugen u.a.) sind im reproduzierten Frakturschrift-Text in der Regel ‘fett’ gesetzt; in den hier daraus übernommenen Zitaten sind sie unterstrichen. Hervorhebungen lateinischer Begriffe stehen in lateinischer Schrift; sie werden hier in den Zitaten kursiviert. Vgl. hierzu Anm. 8.
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wie ein proto-anthropologisches Interesse an Kriminellen im Zusammenhang ihrer Untaten und ihres Verhaltens in der Bestrafungssituation deutlich. Auffällig ist, daß dieses Interesse nicht durch theologisch bestimmte Vorgaben (etwa zur existenziellen Sündhaftigkeit des Menschen oder zu Einwirkungen des Teufels) gelenkt oder gerechtfertigt wird. Narrativ-detailliertere Schilderung der Verbrechen sind vor allem begründet durch sensationelle Aspekte, im Sinne von ‘unerhörten Begebenheiten’; dieser Aspekt des Sensationellen gilt auch für ein ausführlicheres Schildern des Strafvorgangs im Hinblick auf das Verhalten des Delinquenten: weil er aber nit ausbrechen können, hat er sich in den Linken Arm, die Leber Ader entzwey bissen, als er geheilet, den letzten tag, als man Ihn hinaus führen sollen, sich wider in den rechten Arm ein Stük heraus bissen, eines Patzen gros, und eines Zolls tieff, vermeint sich also zu verbluten, deswegen als ein Mördter, Rauber und Landtzwinger und dieb, so hin und wider viel gestolen, mit dem Rath, erstlich die 4 Glieder abgestossen, nachmals danach gericht, letzlich als ein falscher Müntzer den Cörper verbrendt, hat sich gestelt als könne er auf kein Fueß tretten, also das man Ihn hinaus tragen müssen, hat gar nicht gebetet, die Priester still schweigen heissen, er weis vor wol, er mög es nicht hören, machen ihn den Kopff toll, wie er gestorben, das weis Gott wol (S. 75).
Ein Ausnahmefall zeigt sich im Jahr 1584; Meister Franz bricht in der Aufzeichnung zum 7. Juli aus dem chronikalischen Vorgehen aus und beklagt sich – kommentierend – über die fehlende Konsequenz in der Rechtsprechung. Er ist beim Kriminalfall der verheirateten Anna Peyelstainen („Moser Annela genannt“), die ehebrecherisch mit „21 Ehemännern und Jungen Gesellen Unzucht getrieben“ (S. 22) nicht damit zufrieden, dass die Delinquentin mit dem Schwert hingerichtet wird, sondern fordert diese Strafe auch für ihren Ehemann und Sohn, die kupplerisch tätig waren, sowie für weitere „Kuplern“, die an diesen gehäuften Vergehen beteiligt waren: „Kayser und König will ich in Jetzner Welt [frei übersetzt: im Hier und Jetzt] anruffen und verklagen, dass kein Iusticia nicht geschehen. Ich armer Man unschuldig darzu komm. Ade zu gutter Nacht“ (S. 22). Tendenziell, nicht aber prinzipiell werden die Berichte im Jahresfortgang der Aufzeichnungen von Meister Franz ausführlicher; dazu hier einige Beispiele. Anfang des 1585. Jahrs [Nr. 90] Den 18. Febr. Hans Meller, von Gostenhoff, tachtekher [=Dachdecker], sonst der Reutter henßla genandt, ein dieb und falscher Spieler, so auch drey Weiber genommen, zu Nürnberg mit dem Strang gericht. Hat vor Gericht zu den Schöpffen gesagt, Behütt Euch Gott, wie ihr jetzund mit mir handelt, also werdet Ihr ein mahl, ein Schwarzer Teuffel sehen müssen, und [erg.: im] hinaus führen sich allerley Hohmuts erzeigt, doch bey dem Galgen hat er zwey Lieder gesungen. Wann mein Stündlein vorhanden ist. Und das, Was mein Gott
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will das gescheh allzeit, die erste nacht ist Ihm ein Roth gestriktes baar Strimpff angezogen worden, am Galgen als er gehangen (S. 24 f.). Anfang des 1593. Jahrs [Nr. 148] Den 21 dies. [Juni] Steffan Rebeller, von Maschstall, in Saphoien ein Krämer und dieb, so Junge Diebsbuben zum Beutel abschneiden gehalten, und einen die Wochen 1 thaler und die Kost zu lohn geben, heinrich hauß man von Kalekha 14 meil unter Cöllen, Georg Müller von dornitz, ein Kreidt [vermutlich keine Berufs-, sondern eine Herkunftsbezeichnung: aus Kreuth in Oberbayern oder (Vestenbergs)Greuth in Mittelfranken], sonst der dürr Georg genandt, dieb, Räuber, Mördter, der heinrich und dürr Georg, bey dem einfall zu Niderndorf gewesen, wie sie den Juden umb bracht, als Ihn der heinrich geschossen, hette Ihn der dürr Georg mit der wehr über den Kopff gehauen, das er über die Bank gefallen und liegen blieben, und alles hinweg geraubt, des gleichen der heinrich sonsten noch vier einfähl mit andern gesellen helffen begehen, der dürr Georg aber, neben seinen gesellen ein Krämmer so auch ihr gesell, der Schedel genand, bey Summersfeld ermordet, das seinige genommen, des andern tags desselben Schedel Weib, zwischen Rohr und Allersberg, in einem höltzlein, mit einem stauchen [Tuch] den sein weib Ihr um den halß geworfen, und erstekt, auch Ihr geldt und Kleider abgeraubt, weiter hat der Georg zu Obern Reuth, ein meil unter Bamberg, neben seinen Geselln, einen alten Man zu nachts in sein hauß helffen überfallen, die Drossel abgeschnitten und ermördet, wider hat er zum loch ober Snayda, neben seinen gesellen, ein einfall, helffen thun, seiner gesellen einer desselben Bauern Sohn, welcher unter einen Offen gestekt, in dem Schenkehl gestochen und viel abgeraubt, des Bauern Sohn über acht tag gestorben, und sonsten noch viel einfähl und dieberey helffen begehen, deswegen den Steffan Rebeller, erstlich als ein dieb mit den Strang gericht, den heinrich hausman und dürr Georgen, beede Mördter mit den Rath gericht, den Georgen erstlich 2 glieder abgestossen. Folgen Georgen Müllners Gesellen [zahlreiche Namen, zumeist auch mit dem Rufoder Spitznamen] (S. 51–54).
Eine ähnlich ausführliche und reihende Beschreibung der einzelnen Vergehen und der Nennung der davon betroffenen Personen gilt dem Betrüger und Dieb Gabriel Wolff (S. 56–58), der am 11. Oktober 1593 hingerichtet wurde. Im nachstehend zitierten Eintrag geht Meister Franz in Detailbeschreibungen und Erklärungen der Tatumstände und des Tathergangs. Dabei ergibt sich ein seltener Typus von narrativer Erweiterung, die sich auf die Entdeckung der Untaten bezieht. Es sind Zufälle (wie Buddeleien von Hunden) oder die Aufmerksamkeit der Nachbarn, durch die Delinquenten schließlich überführt werden. Von systematisch verfolgter Detektionsarbeit ist allerdings bei Meister Franz nie die Rede. Anfang des 1597. Jahrs [Nr. 178] Den 15. dis. [März] Hans Haylandt, von Stadt hilpoltsein, ein Bader im Mark Hammark in Frankenland am Mayn, wohnhafft und Veronica Köllin, von golb Cronach ein Bauern Maget, beede den Haylandt, das er einen Jungen von Rottenfelß, so bey einem herrn zu Frankfurth gewesen, so mit ihme und seinen Gesellen Kilian Ayrer alda ausgegangen, und als sie umb 12 Uhr zu nacht, zu Aschenburg bey dem Brunnen kommen und getrunken, er ein Ingber
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Scharfrichter-Erzählungen? [vermutlich: ein Ingwer-Präparat34] begehrt, der Jung ihm ein geben, und sich der Jung mit ein Kamb gebutzt, hätte der Ayrer ihme mit sein bey sich habenden Spieß, daran er sich gesteuert, als wann er für Schwachheit nicht stehen könnte, für den Kopff geschlagen, das er gefallen, und Auweh gesagt, der haylandt aber auff des Jungen Messer gefallen, und Ihn den hals abgeschnitten, 200 fl. an geldt genommen, welches geldt bey ihme bewust, auch sein herr, sie beede bethen, den Jungen mit zunehmen, damit er sicher mit dem gelt gen Rottenfels kommen möcht weil er sie beede gekant, und nur ein meil von hammarkh gewohnet, solchen Mördlichen anschlag, hatten sie beede zu Frankfurth gemacht, ehe sie aus gangen, und als sie den Mordt by den Brunnen verricht, haben sie ein Stein, an seine leibgärtell gebunden, und daselbsten in den Mayn geworffen, solche thatt, ist an den andern tag offenbar, und gefunden wurden, durch die hundt, die das verscharret blut widerumb auff gescharret, und der herr zu Aschenburg, den Stein so sie Ihm von seinen Wein garten, der Mauern gerissen, gesucht, den Cörper in Wasser gefunden, und als sie das gelt getheilet, were der Bader nach Nürnberg verreiset, des ermördten Jungen Vatter ihm nach gezogen, und alhie ein ziehen lassen, die Köllin als dieselbig mit einem Bauern knecht ein kind erzeugt, dasselbig bey ihren Bruder, hans Kolen auffen Weyer haus geboren, welches ein Maydlein, und ein wenig gequekt, vermeint Ihrs Bruders weib, welche in der Kuchen gewesen, möcht solches hören, hette sie ihme mit 2 fingern das maul zu gehalten, welches sie ihn die Finger hinweg thun, und noch 2 geberlein gethan, und also ersteket, als sie zu Morgens früh solches eingraben, hat es ein Weschin [eine Wäscherin] gesehen, und offenbar worden, beede aus gnaden mit den Schwerdt gericht, den haylandt auff das Rath gelegt, der Kollin Kopff auff den galgen gehefft. (S. 68–70)
1598 enthauptete Meister Franz die Elisabeth Auerholt, eine betrügerische Schatzgräberin, die sich auch die „Gründlerin“ nannte. Sie gaukelte den Leuten, Bauern wie Hochgestellten, vor, dass sie vergrabene Schätze aufspüren und ausgraben könne. Für ihre betrügerische Schatzgräberei hatte sich die umherziehende einbeinige „Gründlerin“ gut bezahlen lassen. Wie sie schließlich überführt und dingfest gemacht werden konnte, wird nicht berichtet. Anfang des 1598. Jahrs [Nr. 182] Den 9. Febr. Elisabeth Auerholtin, von Vielsekh, so sich die Gründlerin genandt, welche sich unterstanden, die Leuth zu betriegen, als wan sie die schätz beschweren und graben könte, wie sie dan solches mit teuffels beschwerung und Ceremonien bey dem Gipinkel gethan, auch bey einer Ainspennigerin und bey der Rattgebherren Fischerin, und bey einem dekweber auch bey den Fritz Huebner, Wölffla Metzger, auch bey hans Beken tochter, Item auff der alten vesten zu Feucht, bey einen Bauern zu Culmbach alda sie gefangen gelegen, wie sie den herrn hoffmeister einen graben wollen, auch zu wirsburg und zur Siegelburg, bey denselben Edelman, zu Ottensos, letzlich zu Kirchsippenbach, alda sie einen schatz graben wollen, auch einen Bauern knecht, einer Magdt auff ihr begehrn auffen Bok holen lassen, Ihren betrug also bestettigt, wie sie in ein haus kommen, und einen zu betriegen begehrt, so ist sie nieder gefallen, als wan sie krank oder verzukt were, nach mals für geben, es were ihr ein weise Adern in ihr 34
Bereits im Mittelalter war in Mitteleuropa die Ingwer-Wurzel als Heilmittel sowie u.a. als Mittel zur Stärkung der Manneskraft eingeführt.
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bein vertheilet, daher könnte sie wissen, und zu künftig ding offenbaren, und die verborgene Schätz zu entdeken, wie ihr dann die Adern, wo sie in ein hauß kommen, und einen zu beten keinen fried habe, oder lasse, bis sie es anzeige, so thue es sich dann das Erdtreich auff, das sie in das golt und Silber sehe, wie in ein Feuer, und so man ein Zweiffel gehabt, so hatt sie begehrt ein Nacht in hauß zu liegen, so könte sie mit den Geist des schatzes Reden, so es dan geschehen, so hatt sie sich zu nacht gestellt, mit wischbern, mit reden und antwort, als ob iemandt mit Ihr rede, darnach für geben, es sey ein arme verlorne Seel, die könne nit seelig werden, man habe dan den schatz gegraben, darauff sich die Leuth über Reden lassen, und Ihr solches glaubt, auff Ihr höhstes grausammes schweren und verpfänden, und den schatz graben lassen, und so sie graben, hat sie gesehen, das ein alten haffen mit Kolen in das Loch geschleicht, und fürgeben, als ob sie denselben hett heraus graben, darnach befohlen, man soll Ihn 3 wochen in ein truhen sperren, und nit anrühren so werde lauter golt daraus, der Zeit sie sich von dannen Salvirte, so sey es doch Kolen blieben, und so Ihr einstheil Leuth nit traunen wollen, so hatt sie auch wol fürgeben sie habe den herrn Endtres Im hoff, ein golt Brunnen geschöpfft, auch ein gulden schatz graben, da sie nichts anderst dan lauter guldene Götzen graben und gefunden, auch der Herr Baumgärtner und Finold, werden ihres Kindts vormundt, hette auch 4.000 fl. in der Losung stuben [Bezeichnung für die Städt. Finanzkammer der Stadt Nürnberg35], des wegen ihrer bettiegerey [Betrügerei] mit den Schwerdt gericht, hat nur 1 Bain gehabt, also das man sie hat naus tragen müssen (S. 71–73).
Ausführlicher dargestellt wird 1605 der Fall eines vermeintlich ehrbaren Juristen, des Dr. Niclaus von Gilgen, der sein Amt in unredlicher Weise ausgeübt hat und in vielen Rechtshändeln, wie es heißt, „zwei Parteien gedient“ habe und darüber hinaus auch mit kleineren Geldbeträgen betrogen hatte. Zudem verführte er eine Magd mit Geldgeschenken zur Unzucht und verheiratete sie – der Camouflage halber – mit seinem Schreiber. Aus der Unzucht mit der Magd gingen fünf Kinder hervor; zumeist wurden die ‘Früchte der Unzucht’ unter Mithilfe des Erzeugers abgetrieben. Zudem wurde der Jurist beschuldigt, an den heranwachsenden Töchtern seines Bruders Notzucht versucht zu haben, auch Töchtern von Amtskollegen galten die sexuellen Übergriffe des Juristen. So sagte eine dieser jungen Frauen aus, daß sie vor und nach ihrer Verheiratung oftmals Unzucht mit Herrn von Gilgen getrieben habe aus Furcht vor angedrohtem Zwang und verleitet durch viele Geschenke (vgl. S. 101). Aufgeführt wird zudem die lange Liste seiner Unredlichkeiten und Fälschunggen im juristischen Amt. Anfang des 1605. Jahrs [Nr. 236] Den 23. Dec. An ein Montag, herr Doctor Niclaus von Gilgen, so eines Erbaren Raths, mit Aydtspflichten, verschrieben, nicht 35
Womöglich war in der Städt. Finanzkammer für die Betrügerin ein ‘Depot’ für die stattliche Summe von 4.000 fl. angelegt worden.
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Scharfrichter-Erzählungen? gehalten, das in vielen sachen zweyen Partheyen gedienet, geschrieben, und gerathen, von geltswegen, auch wol in den sachen zeugnus geben auch in Rathschlegen und Urthel gesessen, auch meinen Herrn das Ungelt an bier und wein abgestolen, solches heimblicher weis durch sein gesindt einlegen lassen, desgleichen mit seiner Dienerin so er mit von Trier heraufgeführt und gebraucht, welcher er seinen Schreiber Philip Tümpler zu einen Weib geben, die vor ihrer hochzeit, mit verheisung fl. 50. und grossen geschenken zur Unzucht und seinen willen bracht, mit der er nach ihrer aussag 5. Kinder erzeugt, 3. So ihr allewegen, durch heben, schreken in der 12 Wochen abgangen, die 2. ein bub und Mägdlein, noch im Leben, den Buben er aus der Tauff erhoben, auch sein unter Magdt vor einem Jahr gleicher weis mit solcher verheisung zu seinen Willen bracht, dergleichen seines Bruders 2 töchter auch zu seinem willen bereden wollen, und mit Gewalt die Doctor Wurffbaumi zwingen, aber dieselbig sein widersetzt, aber die ander, so Doctor Caroli hatt seinen willen, vor Ihrer Ehe, und nachher offtmals mit Ihme gepflogen, auch ihrer aussag aus forcht und zwangnus, und mit versprechung viel geschenks und heyraths guet, aber er hat solches nicht gestehen wollen, das er sie genöttiget, habs auch nit glaubt, das ers zwungen. Letzlich hatt er auch den Fürsten von Sulzbach dessen Advocat er gewesen, auch zwischen den Nürnbergischen Geschlechten Parteyisch gedienet, auch zwischen denen von Adel, deme von Leschwitz und Redwitz, Ihnen in einer sachen allen beeden geschrieben und gerathen, dergleichen dem Welschen Carl Alberto Mello, und andere Welschen mehr, wider meine herrn gerathen, auch einen Erbaren Rath, die Rathschläg aus der Cantzlei gestolen, dieselbe wider die Parthei gebraucht, und sonderlichen in den hallerischen sachen, den Strutzi gerathen, geschrieben. Auch im Welschlandt zu Padua, ein falsch Testimonium machen lassen, als er da Docterirt het mit einen falschen Siegel, da er doch lang hernach zu Pasel, erst ist Doctor worden (S. 100 f.).
Mit dem Herrn von Gilgen, „welcher seiner bösen Sachen halber, 38 Wochen auffen Lugis Land und Loch gelegen“ (S. 101), wird bei seiner Hinrichtung nachsichtig verfahren: aus gnaden am Montag, in ein Langen Mandel ausgeführt, mit ein schwartzen Sammeten binden, die Arm und Händ bunden, und an einer binden hinausgeführt, und ein schwartz tuch über den Sessel gebrait, als er mit dem Schwerdt gericht worden, ist er alsbalden, in das tuch gewickelt worden, und zusammen in ein hültzern Sark gelegt, und Vernagelt worden, und hernach zu S: Peter getragen worden, durch die Bettelrichter [die Gehilfen des Scharfrichters], aber zu nachts auff einen Karren herüber, zu S. Johannes bey dem thürlein so auff dem Schießplatz gehet, an die mauern auff den Kirchhoff begraben worden (S. 101 f.).
Die narrativen Erweiterungen im Register der Berufspflichten von Meister Franz resultieren also vor allem aus dem Interesse an den Untaten, die weniger um des sensationellen Effekts willen aufgezeichnet werden; viel mehr ist das Erschrecken darüber zu erkennen, zu welchen Gewalt- und Missetaten Menschen fähig sind. Ein weiterer Typus von narrativen Erweiterungen betrifft die Umstände der Hinrichtung und das dabei gezeigte Verhalten der Delinquenten – insbesondere dann, wenn sie sich nicht (wie von ihnen erwartet wurde) als
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reuige Sünder erwiesen und sich etwa dem geistlichen Beistand widersetzten (vgl. S. 75). Erzählungen zur Detektion, zum Aufspüren und Entdecken eines Täters, werden selten einbezogen; auch über Vernehmungen und Verhöre wird nur gelegentlich und kurz berichtet – etwa durch Hinweise auf Folterungen, die der Scharfrichter zum Erzwingen eines Geständnisses vorzunehmen hatte. Meister Franz hat für seine Statistik in jedem Jahr addiert, wie viele Personen er vom Leben zum Tod brachte: in 43 Jahren wurden insgesamt 361 Delinquenten hingerichtet. In einem zweiten Teil des Tagebuches werden die „Leibstrafen“ für mindere Delikte verzeichnet, für die keine Todesstrafen vorgesehen waren (S. 127–184). Es sind relativ kurze Beschreibungen von Missetat und Strafe; die Beschreibungen werden im Laufe der Berufspraxis von Meister Franz etwas umfangreicher. Innerhalb von 37 Jahren (1578–1615) hatte der Scharfrichter „Leibstrafen“ an 345 Personen zu vollziehen. Allem Anschein nach war Meister Franz seinen Berufspflichten voll gerecht geworden; nie ist die Rede von den hinlänglich bekannten Problemen, die sich bei Vollzug des Scharfrichter-Amtes ergeben.
Zum Genre der Scharfrichter-Erzählungen Das sog. Tagebuch des Meister Franz markiert für deutschsprachige Texte einen wichtigen Ausgangspunkt in der Tradition der Scharfrichtererzählungen.36 In diesem Texte-Korpus ist die bekannteste Publikation „Henri Sanson: Sept Générations d’Exécuteurs, 1688–1847. Mémoires des Sansons, mis en ordre, rédigés et publiés par H. Sanson“;37 die sechsbändige Originalausgabe wurde 1862/63 in Paris veröffentlicht, auf sie beziehen eine Reihe von deutschen Übersetzungen und Bearbeitungen38 – unter anderen die stark kürzende Übersetzung und Bearbeitung von Karl v. Mosettig: „Die Henker von Paris. Aus den Memoiren der Scharfrichter-Familie Sanson (1685–1847)“, sie erschien erstmals 1892 in Leipzig. Die Sanson-Memoiren partizipieren entschieden an der Tradition der literarischen Ausarbeitung von Kriminalfällen sowie des Familien- und Abenteuerromans im 19. Jahrhundert; sie sind narrativ organisiert und zielen auf die ethische Verpflichtung zur Abschaffung der Todesstrafe. Die Autorschaft von 36 37 38
Vgl. ; vgl. ferner Nowosadtko: Scharfrichtermotiv, S. 223, Fn, 2.; S. 230 f., Fn. 36. So ebd., S. 230 f., Fn. 36. Vgl. .
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Henri Sanson ist Fiktion; allerdings wurde das historische Familienarchiv der Sansons genutzt. Die Publikation begründet die Konjunktur der zahlreichen (weitgehend fiktionalen) Scharfrichter- und Henker-Memoiren sowie Scharfrichter-Romane um 1900 (vgl. S. [228]); es sind nicht mehr die dürren Register der ausgeführten Berufspflichten, sondern ausführliche Erzählungen, die sich zumeist den Anschein geben, daß sie aus den regelmäßig geführten Memoiren einer Scharfrichterfamilie herrühren. Nur kurz soll hier eingegangen werden auf die oben genannte Übersetzung „Die Henker von Paris“.39 Henri Sanson, der am 18. März 1847 in Paris seine Entlassung als Scharfrichter erhielt, erzählt – so die Fiktion – im Rückblick die Familiengeschichte seiner Scharfrichter-Dynastie. Im Vordergrund steht zunächst in ausführlicher Weise die Familiengeschichte der Sansons, in die dann im Fortschreiten der Zeitläufte historische und auf Sensationseffekte abgestellte Kriminalfälle einbezogen werden40 – zunächst auch solche, an denen die Mitglieder der Scharfrichterfamilie außerhalb ihrer eigentlichen Berufspflicht beteiligt waren. Verhöre, Folterungen und Hinrichtungen werden ausführlich im grellen Licht des Außergewöhnlichen erzählt (vgl. etwa zur Folterung von François Damiens, S. 204 ff.). Abschließend (S. 403 ff.) rekurriert der letzte Henker der Familie Sanson auf die Geschichte der ersten von ihm vollzogenen Hinrichtung aus dem Jahr 1819. Der Scharfrichter leidet bereits vor der Hinrichtung Gewissensqualen (vgl. S. 410), das Hinrichtungsgeschäft selbst bringt ihn einer Ohnmacht nahe und er beschließt, fortan für die Abschaffung der Todesstrafe zu kämpfen. Nicht das Vermitteln von Wissen zur historischen Berufspraxis des Scharfrichterhandwerks oder von Wissen zu den in die Erzählungen eingebundenen historischen Kriminalfällen ist das Ziel dieses Erzählwerks, sondern das literarisch-grelle Ausarbeiten von Extremsituationen unter der Camouflage einer Erübrigung des Scharfrichtertums nach Abschaffung der Todesstrafe. So ergeben sich nach rund 250 Jahren im Fortgang der Geschichte von Strafrecht und Scharfrichter-Narrationen erhebliche Differenzen zu den Aufzeichnungen des „alten, ehrlichen Franz“ (so v. Endter, der Herausgeber des Malefiz-Registers, in seiner „Vorerinnerung“ zum Abdruck von 1801).
39 40
Verweise auf den Text der Publikation (in einer Ausgabe der Schreiterschen Verlagsbuchhandlung Berlin o.J.) stehen in Klammern. Vgl. u.a. zu Cartouche (S. 181–188), zu Damiens (S. 188–212), zur Halsbandaffäre (S. 212–228).
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Zur Ausdifferenzierung des Genres ‘Kriminalgeschichten’ in der deutschen Literatur vom Ende des 18. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts Leitende Perspektiven und typologische Übersicht Dieser Aufriß stützt sich auf die problemorientierten Überlegungen in Kapitel 1 des von mir (unter Mitarbeit von Joachim Linder) herausgegebenen Bandes „Literatur und Kriminalität“ (1983) sowie die Vorgaben des Untersuchungsmodells, das dort in Kapitel 2 entwickelt wurde und hier nur in einigen Aspekten verfolgt werden kann. Mit ‘Kriminalgeschichten’ ist der Komplex erzählender Darstellungen zu dem Erfahrungsbereich ‘Kriminalität und Strafrechtspflege’ bezeichnet. Die hier zu beschreibende Abgrenzung und Entwicklung des Genres ist als Teil einer Geschichte der literarischen Institutionalisierungen anzusehen.1 Ebenso wie die abstrahierenden Texttypen (als Bezugspunkte von weithin geregelten Situationen literarischer Verständigung über Kriminalität) wäre der Ausdifferenzierungsvorgang, den ich hier für die deutsche Literatur darstelle, für Konstellationen und Prozesse etwa in der englischen oder französischen Literatur zu beschreiben. Die Skizze einer Funktionsgeschichte des Genres wird durch drei Perspektiven bestimmt; sie gelten (1) den Prozessen innerhalb des ‘Sozialsystems Literatur’ in den verschiedenen Kommunikationsräumen und Teilsystemen, die vor allem durch die Reichweite bestimmter Institutionen und Normen für Schreiben, Verteilen und Lesen von Literatur geprägt sind; (2) den Korrelationen dieser Prozesse im Zusammenhang mit Entwicklungen und Tendenzen im Sozialsystem ‘Recht’ (hierbei ist vor allem zu fragen nach den Bezügen zwischen den Erfahrungsmustern und Deutungsmodellen für Verbrechen und Verbrechensbekämpfung, nach der Vergleichbarkeit von realer und literarisch dargestellter Normdurchsetzung, nach den Verbindungen 1
Der Begriff ‘Genre’ wird hier für den Bereich ‘Kriminalgeschichten’ – das sind Texte der Erzählprosa, die Kriminalität thematisieren – eingesetzt, um damit Diskussionen zu vermeiden, ob von einer ‘Gattung Kriminalliteratur’ (oder ‘Detektivliteratur’ usf.) zu reden sei. ‘Genre’ meint einen gattungsmäßigen Zusammenhang in dem Sinne, daß die dort zugeordneten Texte bestimmten Erwartungen, Bedürfnissen und Funktionen genügen, die sich im historischen Kontext mit der literarischen Verständigung über Kriminalität verbinden. Vgl. zur ‘literarischen Institutionalisierung’ Voßkamp: Romansoziologie, S. 31–35.
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zwischen der Institutionengeschichte im Rechtssystem und den gesellschaftlichen Funktionen der einzelnen Typen von literarischer Verständigung über Kriminalität); (3) den Beziehungen zwischen den Sozialsystemen ‘Recht’ und ‘Literatur’ im Hinblick auf ihre Stellung in der Gesamtgesellschaft (zu beachten sind unter anderem die Gründe für das Interesse oder den Widerstand gegenüber der Kriminalliteratur und die möglichen Veränderungen im literarischen Prozeß – als Folgen der Tendenz zur Verfachlichung des Rechts und zur verstärkten Institutionalisierung der Verbrechensbekämpfung – sowie die sozialpsychologischen Aspekte in der Rezeption von Kriminalliteratur). Erst im Blick auf gesamtgesellschaftliche Konstellationen können Erscheinungen des literarischen Prozesses mit Bezug auf Entwicklungen im Sozialsystem ‘Recht’ hinreichend interpretiert werden. Wird noch in bestimmten Typen der Kriminalliteratur um 1800 und im Vormärz mit der Darstellung von Kriminalität (als einem Phänomen sozialer Devianz) ein verschwiegenes Potential an Sozialprotest sichtbar gemacht,2 so ist in der Literatur nach 1850 das Thema ‘Verbrechen’ durchaus nicht seltener geworden; der Verbrecher erscheint aber nun eindeutig als gefährlicher Außenseiter, den es vom gesunden Kern der Gesellschaft abzudrängen gilt. Unter diesem Aspekt wäre beispielsweise vom ‘Selbstgericht’ vieler Straftäter in den Erzählungen nach 1850 nicht etwa auf ein gründliches Mißtrauen in die Kompetenz der Justizorgane und damit auf Gesellschaftskritik zu schließen. Tatsächlich ist hier wohl eher ein umfassender Vorgang der Sozialdisziplinierung anzusetzen, der im Rechtsbereich durch Ausbau des Polizeiwesens markiert wird,3 im Bereich der persönlichen Moral jedoch durch Selbstkontrolle des Individuums. Die historische Skizze umfaßt in etwa den Zeitraum von 1770 bis 1920. Der Zeitraum wird in vier Phasen gegliedert, die durch Funktionsverschiebungen und Ausbildung neuer Typen im Genre abgegrenzt sind.4
2 3 4
Vgl. Blasius: Kriminalität und Alltag, S. 16. Dazu Siemann: Polizei in Deutschland. In unserem DFG-Projekt sind wir zunächst von der Annahme ausgegangen, daß sich mit der ‘Nachmärz’-Situation (dem Jahrzehnt nach 1849) auch wichtige Veränderungen in der literarischen Verständigung über Kriminalität ergeben. Deshalb wurde der Untersuchungszeitraum mit 1850–1880 angesetzt. Die weiteren Überlegungen haben jedoch dazu geführt, daß es sinnvoller wäre, die Entwicklung des Genres in zwei größere Phasen zu gliedern: 1770 bis etwa 1830, 1830 bis etwa 1890. Innerhalb der zweiten Phase bedeutet ‘der Nachmärz’ keine Zäsur, aber eine wichtige Erfahrung – wie etwa die Abgrenzung des Genres ‘Kriminalgeschichten’ im ausgehenden 18. Jahrhundert, die Differenzierung in ‘Fallgeschichten’ und ‘Kriminalnovellen’ im Laufe der 1820er Jahre
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In der ersten Phase von 1770 bis 1820/30 steht die Verständigung über Kriminalität im Bereich der populären Literatur noch weithin unter dem Gesetz der undifferenzierten erbaulichen und sensationellen Wirkungen von Literatur; im Bereich der hochgewerteten Literatur (von Meißner über Schiller zu E. T. A. Hoffmann) ist das Interesse an krimineller Devianz vor allem der Frage „Was ist die Natur des Menschen?“ zuzuordnen, von dort her ergeben sich dann auch Aspekte zu einer ‘Seelengeschichte’ des Verbrechers. Die zweite Phase von 1820/30 bis 1850 ist gekennzeichnet durch die Ausbildung des eigenständigen Genres ‘Kriminalgeschichten’: Bestimmte Elemente der literarischen Tradition werden – vermittelt durch Strukturen und Funktionen im Literatursystem und bezogen auf aktuelle Erfahrungen mit Kriminalität – in typischen Kommunikationshandlungen so organisiert, daß sich das Genre gegenüber anderen Genres der Erzählprosa abgrenzen läßt und als Erwartungsmuster für diesen Bereich literarischer Verständigung institutionalisiert werden kann. Die dritte Phase von 1850 bis 1880/90 ist durch eine veränderte Korrelation des Genres (bzw. seiner Genretypen) mit der Rechtspraxis charakterisiert; sie läßt sich auf die sozialpolitischen Ziele des ‘bürgerlichen Mittelstandes’ beziehen. Im differenzierten Verbund verschiedener medialer Vermittlungen ist die literarische Verständigung über Kriminalität weithin darauf angelegt, dem Leser Kenntnisse und Erfahrungen über Verbrechen und Verbrechensbekämpfung zu vermitteln, die ihn im Hinblick auf die Entwicklungen in Kriminalität und Strafverfolgung beruhigen. Die vierte Phase von 1880/90 bis 1920 läßt sich durch eine verstärkte Abgrenzung verschiedener Kommunikationsräume und die Stabilisierung der Teilsysteme kennzeichen. Dabei ergibt sich im Bereich der ästhetisch hochgewerteten Literatur ein intensiverer Bezug zu Entwicklungen in der Rechtspraxis und zu und die Dominanz der Detektiverzählungen ab 1890; vgl. dazu auch Schönert: Kriminalgeschichten. Diese neueren Ergebnisse unserer Projektarbeit modifizieren die ursprüngliche Skizze, ihre Grundlagen gelten jedoch weiterhin. Gerade der Zeitraum von 1830 bis 1890 ist – abgesehen von H.-O. Hügels Untersuchung – in der bisherigen Forschung vernachlässigt worden. Das liegt zum einen am dominierenden gattungstypologischen Interesse, das den Unterscheidungen und Beschreibungen von Detektivroman/geschichte und Kriminalroman/-geschichte gilt; ideologiekritische Analysen haben angesichts der Probleme empirischer Leserforschung nicht weit geführt, sozialpsychologische und sozialgeschichtliche Ansätze sind in der Minderzahl. Zum anderen wird die Forschung behindert durch ein eingeschränktes Verständnis von Kriminalität (gemessen am Stand der fachwissenschaftlichen Diskussion). Es reicht in vielen Fällen nicht über das ‘Wissen’ und die Einstellungen der zu behandelnden Autoren hinaus, so daß die historischen Einordnungen undifferenziert bleiben.
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den fachlichen Differenzierungen in der Rechtswissenschaft. Dieser Zeitraum ist zugleich bestimmt durch die nachhaltige Aufnahme von Verfahrensmustern der Kriminalromane und Kriminalerzählungen aus der französischen und angelsächsischen Literatur. Eines der Ergebnisse des Münchner interdisziplinären Kolloquiums vom 15./16. Januar 1981 war, daß diese Phasenabgrenzung mit Abstrichen auch für die englische und französische Literatur gilt, obwohl beispielsweise die Verhältnisse in Gerichtspraxis, Polizeiwesen oder Strafvollzug deutliche Unterschiede zeigen. Ab der Jahrhundertmitte sind jedoch mehr Gemeinsamkeiten in den Profilen der Institutionen sowie in den Problemen mit Verbrechen und Verbrechensbekämpfung zu erkennen. Folgende Fragen wären für einen genaueren Vergleich der Entwicklungen zu stellen: (1) Warum werden etwa zwischen 1820 und 1860 die Muster der literarischen Verständigung über Kriminalität und Strafrechtspflege in einem differenzierten Verständigungszusammenhang festgelegt?5 (2) Welche Bedeutung hat die wachsende Beliebtheit des Genres für die Alltagserfahrung von Verbrechen und Verbrechensbekämpfung? (3) Warum nimmt sich die Geschichte der Kriminalliteratur in der deutschen Literatur und in der germanistischen Forschung – etwa im Vergleich zur angelsächsischen Tradition – so bescheiden aus? Daß auch im deutschen Sprachraum die erzählende Kriminalliteratur in der Verlagsproduktion und in dem Interesse der Leser ab etwa 1820/30 beachtlichen Raum erhält, hat HansOtto Hügel in seiner Arbeit zur Untersuchungsrichter-, Polizei- und Detektivgeschichte überzeugend nachgewiesen. (4) Welchen Stellenwert hat der Prozeß der Ausbildung und Differenzierung des Genres ‘Kriminalgeschichten’ innerhalb der gesamtliterarischen Entwicklung? Bei dem Gegenstandsbereich ‘Literatur und Kriminalität’, bei der Darstellung gesellschaftlich relevanter Devianz, stellt sich mit besonderer Dringlichkeit die Frage, inwieweit allgemeine und vermittelte gesellschaftliche Normen die literarische Verständigung über den Gegenstand leiten und inwieweit dabei historische Konstellationen in den Systemen ‘Gesellschaftspolitik’ und ‘Recht’ zu entscheidenden Bedingungen werden. Wie auch immer Absichten der Autoren und Erwartungen der Leser angelegt sind: Darstellung und Deutung von Kriminalität und Strafrechtspflege in der Literatur haben wichtige gesellschaftliche Folgen. Nachdem der Prozeß für die Differenzierung des Genres durch erste Hinweise gegliedert ist, muß für die spezifischen Konstellationen der jeweiligen Phase 5
Die Ausdifferenzierung des Genres gilt auch für die englische Literatur; die ‘Vorherrschaft’ der Detektiverzählungen setzt erst um 1890 ein – so Symons: Mord, S. 9–13. Die unterschiedlichen Entwicklungen und Erscheinungsbilder der Kriminalliteratur vor 1890 können nicht auf ‘einen Begriff’ gebracht werden.
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geklärt werden, in welchem Zusammenhang verfügbares Wissen und politische Interessen, Vorgaben der literarischen Tradition und Regelungen der Literaturkritik auf Verhältnisse im Rechtssystem und auf die gesamtgesellschaftliche Situation bezogen werden können. Dabei ist die Verteilung der Genretypen auf verschiedene Kommunikationsräume sowie Teilsysteme zu berücksichtigen – und damit auch die unterschiedliche Zuständigkeit der expliziten ästhetischen Normierungen (z.B. in der Literaturkritik), der literarischen Traditionen und der Institutionen der Literaturvermittlung. Um die Folgen der literarischen Aufmerksamkeit für Kriminalität in den Intentionen der Autoren und Erwartungen der Leser beschreiben zu können, sei zunächst – im kursorischen Überblick zum Zeitraum von 1770 bis 1920 – ein vorläufiges Schema der sich ausdifferenzierenden Typen im Genre ‘Kriminalgeschichten’ entworfen. Dabei bleiben die literarischen Verständigungen über Kriminalität im Gattungsbereich von Drama und Lyrik unberücksichtigt, weil sich dort sowohl unter den Bedingungen der literarischen Tradition als auch in der Beziehung zur Rechtspraxis spezifische Konstellationen ergeben.6 Die Bewertung des abweichenden Verhaltens ist im Drama – bedingt durch entsprechende ästhetische Normen – erheblich anders angelegt als in der Erzählprosa. Die Aufnahme des Gegenstandes ‘Kriminalität’ vollzieht sich beispielsweise im Zusammenhang der sog. klassischen Tragödie (von Shakespeare bis Hebbel) in einer größeren Distanz zur Alltagswelt als in der Erzählprosa. Die Größe oder Schicksalhaftigkeit des Verbrechens ist eine entscheidende Voraussetzung für die literarische Gestaltung und Wirkungsabsicht, nicht so sehr die Vorgeschichte des Verbrechens und seine Bekämpfung. Auch der Lyrik zugeordnete Texte sind – auf unterschiedliche Gebrauchspraxis bezogen – mit der Verständigung über Kriminalität befaßt. Sie sind häufig als ‘Rollengedichte’ in der Täterperspektive angelegt, oder aber ihre Verfasser gelten 6
Dramentexte hier einzubeziehen, würde eine eigene Untersuchungsreihe erfordern, da sich die Funktionen des Dramas im Zeitraum von 1770 bis 1890 (also der Geltung des ‘klassischen Dramas’) erheblich von denen der Erzählprosa unterscheiden (vgl. etwa Schillers Diktum, daß die Gerichtsbarkeit der Bühne dort beginne, wo die Gerichtsbarkeit der gesellschaftlichen Welt aufhört). Grundsätzlich ist auch für das Publikum des Dramas mit einem überschaubareren Rezipientenkreis zu rechnen. In einer derart ‘beschränkten Offentlichkeit’ der literarischen Verständigung können bestimmte Kenntnisse und Einsichten vorausgesetzt, kann – zumal am Ende des 18. Jahrhunderts – ein subtiler Anspielungszusammenhang entwickelt werden – vgl. dazu Meyer-Krentler: Erdichtete Verwandtschaft (mit einer Interpretation der „Geschwister“ als Komödie des Juristen Goethe für juristisch gebildete Zuschauer). Für unseren Gegenstandsbereich der Erzählprosa ergeben sich allerdings dort besondere Probleme, wo Motive und Verfahren aus dem Bereich des Dramas eingesetzt werden – vgl. beispielsweise für Otto Ludwigs „Zwischen Himmel und Erde“ die Nähe zur Schicksalstragödie (im Hinblick auf Zacharias Werners „24. Oktober“) oder C. F. Meyers Novelle „Die Richterin“.
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selbst als Kriminelle bzw. bewegen sich im kriminogenen Milieu (vgl. beispielsweise die Ostwaldsche Sammlung der „Rinnsteinlieder“ von 1904). Rechnet man dem diffusen Gattungsbereich ‘Lyrik’ das erzählende Genre der Ballade (von der Moritat bis zur Kunstballade) nicht zu, dann fehlt zumeist die Möglichkeit, in der Sprechsituation des Textes eine personale oder instanzenbezogene Konkurrenz zwischen den Ansprüchen des normgerechten und den Äußerungen des abweichenden Verhaltens aufzubauen. In der Erzählprosa muß hingegen zumeist mit einer übergeordneten Instanz des beurteilenden Erzählers gerechnet werden. Auch unter diesem Aspekt empfiehlt sich für Lyriktexte eine eigene Untersuchungsreihe, z.B. zu Rollengedichten wie Goethes „Vor Gericht“, Schillers „Die Kindsmörderin“ oder Chamissos „Die Giftmischerin“. Vor der Beschreibung der einzelnen Typen des Genres ‘Kriminalgeschichten’ sei nochmals die hier getroffene Abgrenzung des Gegenstands in Erinnerung gerufen: Sie betrifft Texte der Erzählprosa, in denen Kriminalität zur Konstruktion oder Entfaltung des zentralen Konflikts dient, also Kriminalgeschichten und Kriminalromane im weiteren Sinne. Unser Augenmerk richtet sich insbesondere auf Texte, in denen Entstehung und Bekämpfung von Kriminalität auf die zeitgenössischen Erfahrungen mit den Institutionen der Strafrechtspflege und die Diskussion kriminologischen Wissens bezogen werden. Mögliche Einheiten der Erzählung sind die ‘Geschichte des Verbrechers’, die ‘Geschichte eines Verbrechens’ sowie die ‘Geschichte zur Aufklärung, Überführung und Verurteilung des Täters’. Nicht alle diese Einheiten müssen in den hier zu behandelnden Texten aufzufinden sein. ‘Kriminalgeschichten’ sind also in diesem Zusammenhang sowohl die Fallgeschichten wie auch die Detektionsgeschichten oder die Verbrecherbiographien.7 Wir verfolgen die Geschichte des Genres als Geschichte sich verändernder und sich stabilisierender Muster der literarischen Verständigung über Kriminalität und Strafrechtspflege. Vernachlässigt werden die Texte, in denen ‘Kriminalität’ nur einen Konflikt verschärfen soll, übergreifende thematische Aspekte ergänzt oder erbauliche, sensationelle, moralisierende, informierende oder sozialkritische Wirkungen mitträgt. Für unsere Typologie gehen wir von der Annahme aus, daß zum Ende des 18. Jahrhunderts die hier zu beschreibende Entwicklung einsetzt: nämlich die Verständigung über Kriminalität in der Literatur im Rahmen eines spezifischen Genrezusammenhangs zu organisieren, das heißt in bestimmten Selektionen und Kombinationen aus der literari7
Wir gehen damit über den Gegenstandsbereich hinaus, der bestimmt ist in Hügel: Untersuchungsrichter, S. 20.
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schen Tradition, den Wissensbereichen und den sozialen Erfahrungen Erwartungsmuster anzulegen. Diese Entwicklung ist etwa um 1890 abgeschlossen; danach wird auf den vorgegebenen Stand in unterschiedlicher Weise reagiert. Zur Beschreibung des sich ausdifferenzierenden Genres ist von sechs Grundtypen auszugehen,8 die in verschiedenen Stadien des historischen Prozesses ausgebildet werden, sich weiter differenzieren oder verändern und sich gegenseitig überlagern können. Unter dem dominierenden kommunikativen Aspekt des ‘genußvollen’ Lektüre-Erlebnisses steht die Typenreihe von ‘affektgesättigten Darstellungen’ mit Typ 1, der sensationellen Darstellung eines Verbrechens; Typ 2, der erbaulichen Darstellung eines Verbrechens bzw. einer ‘kriminellen Karriere’; Typ 3, der Darstellung eines ‘merkwürdigen’ Verbrechens bzw. Verbrechers. In den genannten Typen kann der Gegenstand ‘Verbrechen’ durch andere Gegenstände (z.B. ‘Liebe’) ersetzt werden, ohne daß sich die qualifizierenden Funktionen ändern. Daraus ergeben sich dann analoge Typenreihen außerhalb unserer Fragestellung. Typ 1 und Typ 2 haben als Träger prinzipieller Literaturfunktionen im Kommunikationsraum der populären und unspezifischen Literaturvermittlung eine lange Geschichte (vgl. Moritat und Urgicht). Sie werden im Verlauf des 18. Jahrhunderts in die nun besonders ausgewiesene Verständigung im Rahmen ‘literarischer Erzählprosa’ einbezogen. Der Typ 1 wird vertreten im Räuberund Schauerroman, der Typ 2 in ‘Verfehlungsgeschichten’, wie beispielsweise in Ch. H. Spieß’s „Wanderungen durch die Höhlen des Unglücks und Jammers“. Der Typ 3 nimmt zwischen Typ 1 und 2 gleichsam eine mittlere Position ein: in kurzen Geschichten, Anekdoten und Skizzen wird die ‘Merkwürdigkeit’ eines kriminellen Geschehens oder einer kriminellen Laufbahn herausgestellt. In der englischen Literatur hat H. Fielding diesen Typ ‘literaturfähig’ gemacht, in der deutschen Literatur hat ihn A. G. Meißner in Orientierung an Fielding aufgenommen und in der ‘Affekterregung’ zugunsten der Diskussion moralischer und anthropologischer Fragen eingeschränkt. Für alle drei Typen gilt, daß sie kaum aktuelle Probleme aus dem Rechtssystem behandeln (Meißner bildet dabei eine Ausnahme), daß weithin ein einfacher Schuld-Sühne-Zusammenhang die literarische Konstruktion bestimmt und daß ein ‘lustvolles Interesse’ an außergewöhnlichen Ereignissen und Verhaltensweisen dominiert. Der Bezug zur konkreten Erfahrungswirklichkeit steht hingegen bei den anderen drei Grundtypen im Vordergrund, den ‘wissensgesättigten Darstellun8
Vgl. auch die Typologie bei Lüderssen u. Seibert: Autor und Täter, S. 11 f.; sie ist weniger auf historische Entwicklungen bezogen.
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gen’ mit vorwiegend kognitiven und moralreflexiven Funktionenen: so Typ 4, die Fall- und Prozeßgeschichte in Anlehnung an dokumentarisches Material; Typ 5, die Darstellung eines Verbrechens bzw. einer kriminellen Karriere in anthropologischen, psychologischen und sozialen Zusammenhängen; Typ 6, die Geschichte einer Detektion oder Täterjagd. Diese Typenreihe ist durch die Fähigkeit charakterisiert, Wissen und Probleme aus der Rechtspraxis intensiv aufnehmen zu können; die Überprüfbarkeit des Erzählten an der ‘Realität’ nimmt dabei von Typ 4 bis Typ 6 deutlich ab. Varianten des Typ 6 führen zum artistisch angelegten ‘Erzählspiel’, in dem es nur noch um das Durchspielen eines Rätselgeschehens, um den ‘Genuß’ in der Rekonstruktion möglicher Geschichten zu Entstehung und Aufklärung eines Verbrechens geht. Die Typen gewinnen ein besseres Erscheinungsbild, wenn man sie in ihren historischen Realisationen und Differenzierungen verfolgt. Typ 1 mit Schauerroman, Geheimnisroman und Abenteuerroman; Typ 2 mit erbaulicher Biographie / Autobiographie sowie erbaulicher Schuld-Sühne-Geschichte; Typ 3 mit Kriminal-Anekdote und Kurzgeschichte; Typ 4 mit Pitavalgeschichte, RichterMemoiren, Gerichtsfeuilleton und Gerichtsreportage; Typ 5 mit biographischen, autobiographischen und fiktiven Erzählungen krimineller Karrieren sowie sozialkritischen Polizei-, Detektiv-, Richter- und Prozeßgeschichten und ‘Knastberichten’; Typ 6 mit Arbeitsleistungen der Täterjagd (als eines sensationellen Geschehens) oder der Detektion (als Rätselspiel) und der Überführung des Täters. Im Typ 1 ist um 1800 der Schauerroman als Konstrukt einer selbständigen literarischen Wirklichkeit anzusehen – mit deutlichen Funktionsabgrenzungen gegenüber der ‘realistischeren’ Kriminalgeschichte des Typs 3, die auch diskursive und reflexive Akzente erhalten kann. In der ‘Lust’ an den ‘künstlichen Welten’ der Ruinen, unterirdischen Gänge, Verliese und schauerlichen Landschaften haben Schauerroman und ‘romantischer’ Räuberroman ebenso Gemeinsamkeiten wie in ihren ‘Schreckensvarianten’: in der Steigerung des Unheimlichen zum Schrecklichen und in den Lebensbeschreibungen der ‘menschlichen Teufel’, der Räuber, Mordbrenner und Mörder. Hier verbinden sich – wie etwa bei Spieß – die Wirkungen des Sensationellen und Erbaulichen in einem komplizierteren Zusammenhang als beispielsweise in der Moritat. Nach dem zunehmenden Prestigeverlust des Schauerromans nach 1830 werden im Typ 1 neue Varianten ausgebildet, die sich dem Typ 6 annähern: der Abenteuer- und Geheimnisroman. Als exemplarische Autoren gelten Dumas père und Sue in der französischen, Gerstäcker in der deutschen Literatur. Als ein Vorläufer wäre im deutschen Sprachraum Schillers „Geisterseher“ anzuse-
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hen; wichtiger ist jedoch hier die Sue-Rezeption um die Jahrhundertmitte, deren Wirkungen bis in die spätere Kolportageliteratur reichen. Der Typ 2 wird im 19. Jahrhundert in den volkstümlichen Kalendergeschichten weitergeführt und beispielsweise bei Hebel humoristisch gebrochen. Brentanos artistisch-naive Erzählung vom „Braven Kasperl und dem schönen Annerl“ steht in dieser Tradition, die für das ‘gebildete Lesepublikum’ noch wirksam ist und weitergeführt wird in den moralisierenden Kriminalerzählungen, wie sie etwa Ernst Fritze (d. i. Luise Reinhardt) schrieb. Durch die wachsende Beliebtheit der Polizeinachrichten in den Zeitungen (vgl. z.B. Kleists „Berliner Abendblätter“)9 und der später einsetzenden Gerichtsberichterstattung sowie durch den Erfolg der Fallgeschichten verliert der Typ 3 im Laufe der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts an Bedeutung. Typ 4 wird mit vorwiegend juristischen Aspekten zunächst vertreten durch die „Causes célèbres et interessantes“ des F. Gayot de Pitaval. 1782–1792 erschien die deutsche Übersetzung von C. W. Franz. Für die von F. Schiller und F. I. Niethammer besorgte Auswahl (1792–1795) schrieb Schiller seine vielzitierte Vorrede. Die Fallgeschichte wird dann von P. J. A. Feuerbach durch sein ausgeprägtes Interesse an der ‘inneren Geschichte des Verbrechens’ in einer Richtung vertieft, die F. Gayot de Pitaval eröffnet und Schiller besonders herausgestellt hatte. Neben den juristischen Erörterungen steht das Rätsel um die Person des Verbrechers, nicht jedoch das Rätsel um Tat und Täter. Die Erzählung selbst setzt den Tatbestand und zumeist auch das Urteil voraus. Die Fallsammlung des „Neuen Pitaval“ (1842 begonnen von Häring und Hitzig) wird in der deutschen Literatur zum ‘Prototyp’ für eine bis heute wirkende literarische Tradition, die sich im Funktionenspektrum von der juristischen Beispielsammlung über justiz- und sozialkritische Gerichtsreportagen bis hin zum sensationell angelegten Panoptikum zu ‘Abartigem’ organisiert. Typ 5 hat für die deutsche Literatur in der anthropologisch-psychologisch orientierten Variante seit Schillers „Verbrecher aus Infamie“ besonderes Gewicht. Feuerbach nimmt explizit auf Schiller Bezug und begründet so eine spezifisch deutsche Tradition des seelenkundlichen Interesses am Verbrecher und am Verbrechen im Bereich von ‘Literatur und Kriminalität’.10 Die sozial9 10
Dazu im vorliegenden Band S. 99–114. Die Entstehung einer differenzierten Kriminalliteratur seit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts muß wohl auch im Zusammenhang gesehen werden mit den zeitgenössischen Diskussionen in der Strafrechtstheorie (und den nachfolgenden Reformprogrammen). Es wird wichtig, juristische Klarheit über Tatbestand und Möglichkeiten zur Wiederherstellung des verletzten Rechtsgutes zu schaffen. Die Person des Täters rückt
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kritische Variante dieses Typs wird in Ansätzen schon bei Schiller ausgebildet, zeigt sich aber deutlich erst in E. Dronkes „Polizei-Geschichten“ oder in H. Kurz’ „Sonnenwirt“. Am Beispiel der „Judenbuche“ wird deutlich, wie bei abstrahierender Typenbildung für die einzelnen Texte mit Überlagerungen gerechnet werden muß. A. v. Droste-Hülshoff verbindet Elemente des Typ 2 mit der sozialkritischen Variante von Typ 5 und einer verkürzten Detektionsgeschichte aus dem Typbereich 6. Der Typ 6 wird nach 1820 in der englischen, französischen und deutschen Literatur mit unterschiedlicher Abgrenzbarkeit als Spitzel-, Polizei-, Untersuchungsrichter-, Diebsfänger- und Detektivgeschichte ausgebildet. Die RätselDetektion nach Poe’schem Muster spielt noch eine unbedeutende Rolle gegenüber der Darstellung von Detektion und Täterjagd als Arbeitsleistung. Erst nach 1880 wird der Prototyp der Detektivgeschichte vorwiegend als ‘Puzzle’ angelegt – als Rätselgeschichte, die wenig mit den realen Aufklärungs- und Überführungsverfahren der Rechtspraxis zu tun hat. Aber auch hier ist die Grenze zwischen den Varianten nicht deutlich zu ziehen. Der Typ 6 läßt sich gegenüber dem Geheimnis- und Abenteuerroman kennzeichnen durch die Konzentration auf die Arbeits- und Erkenntnisleistungen, die aufgrund professioneller Vorgaben zustande kommen. Es ist zwar ein effizientes Tun, das hier geschildert wird, aber kein heroisches Verhalten wie etwa im ordnungstiftenden Handeln der Helden des Abenteuerromans. Im Verlauf der geschichtlichen Entwicklung im 19. Jahrhundert können sich die Typen durch Überlagerungen und Funktionsübernahmen gegeneinander in wechselnden Konstellationen verschieben (vgl. die Pfeile in der untenstehenden Skizze). Sie werden in verschiedenen Medien vermittelt und von den dominierenden Geschmacksträgern in unterschiedlicher Weise bewertet.
dabei an den Rand des Interesses – vgl. Kleinheyer: Delinquentenbild. – In der Literatur wird gleichsam eine Perspektive festgehalten, die in der Fachpraxis vernachlässigt ist.
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Typ 1: Räuberromane, Schauerromane, Geheimnisromane, Abenteuerromane; Typ 2: Flugschriften der ‘Galgenliteratur’, Broschüren der Schafott-Diskurse, Moritaten / Bänkellieder, erbauliche Biographien / Autobiographien, erbauliche Schuld-SühneGeschichten; Typ 3: Kriminal-Anekdoten, ‘ Skizzen’, Kurzgeschichten / Kriminalerzählungen; Typ 4: Pitavalgeschichten, Richter-Memoiren, Gerichtsberichterstattung (Entwicklung nach 1850), Gerichtsfeuilleton (Entwicklung nach 1880); Typ 5: Biographische, autobiographische und fiktive Erzählungen krimineller Karrieren, sozialkritische Polizei-, Detektiv-, Richter- und Prozeßgeschichten, Knastberichte (Entwicklungen nach 1900); Typ 6: Detektion und Überführung sowie Täterjagd als Arbeitsleistung, Täterjagd als sensationelles Geschehen, Detektion als Rätselspiel (Entwicklung nach 1880).
Im allgemeinen eignen sich die Typen 1, 5 und 6 für eine ausgeweitete Darstellung im Sinne des Romans, während Typ 2, 3 oder 4 auch in kürzeren Erzählformen realisiert werden kann. Bei Typ 1 spielen Vorgeschichte und Motivation zur Tat zumeist eine Nebenrolle, ebenso die Detektion des Täters. Wichtig sind die ‘ungeheuere Tat’ und der Akt der ‘schrecklichen Bestrafung’ (gegebenenfalls in einer ausgedehnten Täterjagd) sowie die Momente des Außergewöhnlichen, Unbekannten, Exotischen und Übernatürlichen. Ähnlich – in der Affektbezogenheit freilich zurückhaltender – ist die Kombination der Einheiten im Typ 2 angelegt: Strafe wird mehr in Richtung von Buße und Sühne interpretiert. Typ 3 behandelt Einzelmomente des kriminellen Geschehens oder der kriminellen Karriere unter dem Aspekt des ‘Interessierenden’. Typ 4 und 5 verbinden in der Regel eine Vielzahl von Einheiten aus Vorgeschichte und Motivation der Tat, Tathergang, Entdeckung, Ergreifung und Überführung des Täters, Urteil, Strafvollzug, Resozialisierung und sekundärer Devianz. Typ 6 stellt die Entdeckung, Ergreifung und Überführung des Täters in den Mittelpunkt des Erzählens. Insgesamt gesehen ergibt sich also für das 19. Jahrhundert ein breites Spektrum für die paraliterarische und literarische Darstellung von Kriminalität: von realitätsgesättigten Fallgeschichten, die sich der Dokumentation annähern, bis hin zu höchst literarischen Konstrukten, die sich auf die Erfüllung vorgegebener literarischer Schemata beschränken. Dabei kann literarische Verständigung über Verbrechen und Verbrechensbekämpfung ein differenziertes Spektrum von Funktionen ansprechen: Sie erregt im Affektbereich Furcht, Schrecken und Schauer (möglicherweise unter dem Aspekt der gefahrlosen Affektregulierung); sie führt zu erbaulichen Distanzierungen gegenüber krimineller Devianz und bestätigt erfolgreich vollzogene Selbstdisziplinierung; sie spielt ungesicherte Wertungs- und Deutungsmuster durch, um persönliche Identität zu
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befestigen; sie informiert über Rechtsverhältnisse, Rechtsvorgänge und Abläufe in den Institutionen; sie stützt, modelliert oder erschüttert ein kollektives ‘Rechtssicherheitsgefühl’; sie vermittelt unterdrückte Informationen zu Vorgängen in der Verbrechensbekämpfung. Nicht alle Erzählmuster und Funktionen, die zur Typologie beitragen, werden in dem hier folgenden Entwurf zum Prozeß der Ausdifferenzierung des Genres angesprochen. Daß diese Skizze nur eine vorläufige sein kann, muß betont werden – auch mit dem Hinweis, daß die Beschreibung des Prozesses zumeist nur das verfügbare literarhistorische Wissen aufnimmt und es in der Regel in der Sicht des Untersuchungsmodells in veränderten Zusammenhängen organisiert. Für eine genauere Analyse der Vorgänge und Konstellationen in den beiden Sozialsystemen ‘Literatur’ und ‘Recht’ ist die Materialgrundlage im Projekt noch unzureichend ausgebaut. Diese vorläufigen Annahmen wären durch besser fundierte Kapitel einer Sozialgeschichte von ‘Literatur und Kriminalität’ zu ersetzen. Die einzelnen Phasen der Skizze werden in einer schematischen Abfolge charakterisiert: zunächst in der Verteilung und Bedeutung der Typen für die umfassenden Kommunikationsräume und Teilsysteme im Bereich ‘Literatur’, dann in den Verbindungen zwischen den Systemen ‘Literatur’ und ‘Recht’ und schließlich für die Funktion dieser Beziehungen im Hinblick auf das Gesamtsystem ‘Gesellschaft’.
1770–1820/30: Trennung von ‘gesetzlicher und moralischer Zurechnung’ In dieser Phase erhält sowohl das ‘Sozialsystem bürgerliche Literatur’ seine spezifischen Konturen eines relativ selbständigen Handlungssystems in der Gesellschaft als auch das Rechtssystem.11 Die dabei vollzogene ‘Abkoppelung’ der fachjuristischen Entscheidungskompetenz vom moralischen Urteil erweist sich als ein Vorgang, den man in der literarischen Verständigung über Kriminalität berücksichtigt, aber auch immer wieder in Frage stellt.12 Das moralische Gericht wird den Aktionen der Justiz bestätigend oder korrigierend übergeordnet. Freilich gilt auch in der juristischen Praxis, zumal auf der Ebene der Untergerichte, nicht die scharfe Trennung von Moralität und Legalität, wie sie durch die Rechtsdogmatik in diesem Zeitraum gesetzt wird. Aspekte des Alltags- und Naturrechts beeinflussen die Entscheidungen des Richters, die er 11 12
Dazu Luhmann: Ausdifferenzierung des Rechts. Vgl. Schönert: Kriminalgeschichten, S. 49–51.
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in persönlicher Verantwortung vor dem Gesetz zu treffen hat. In den Schriftsätzen steht dann rechtliche neben außerrechtlicher Argumentation, und die geforderten Abgrenzungen für die Urteilsbildung werden nicht durchweg vollzogen. An dieser Situation hat sich bis heute – ‘cum grano salis’ gesprochen – nichts Entscheidendes verändert. Doch – und dies als Hypothese – ist die Entstehung der wichtigsten Typen im breiten Genre ‘Kriminalgeschichten’ mit dem Vorgang verbunden, der juristisches Entscheidungshandeln von moralischer Beurteilung und literarischer Sinnverständigung abtrennt. In der ‘Kriminalgeschichte’ – diesen Begriff verwendet Meißner 1783 zum ersten Mal literarisch – suchen Autoren und ‘gebildete’ Leser die ‘pragmatische’ oder gar ‘authentische’ Nähe zum Rechtsgeschehen. Im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts wird die bis dahin geltende Leitfunktion der Schauer- und Schreckensromane (bzw. entsprechender Erzählungen) durch ein weitgefächertes Interesse an Kriminalität abgelöst.13 Zunächst erhält sich jedoch im Bereich der vergleichsweise ‘wahllosen Lektüre’ die Vorherrschaft der erbaulichen und sensationellen Darstellungen im Zusammenhang von Verbrechensmotiven. Für das ‘sensationslüsterne’ Erzählen ist eine Sammlung charakteristisch, die 1805 in Leipzig erschien: das „Magazin schrecklicher Ereignisse und fürchterlicher Geschichten“. Davon ist der Schauer- und Schreckensroman abzusetzen. Er wird um 1770 auf einer höheren Ebene konstituiert, jedoch rasch schematisiert und zur beliebten Leihbibliothekslektüre. Abweichend von den meist auflösbaren Verwirrungen der Schauerliteratur sind die Geheimnisgeschichten angelegt, die – selbst wenn das ‘Geheimnis’ geklärt wird – auf eine rätselhafte Wirklichkeit oder Störungen der gewohnten Erfahrung von Wirklichkeit hinweisen. E. T. A. Hoffmanns Romane und Erzählungen geben dazu Material. Für die Mittellage der Affekte bieten sich nur wenige Texte an: die Fallgeschichten in der Art des Pitaval oder die kurzen Darstellungen einer ungewöhnlichen Geschichte oder eines merkwürdigen Ereignisses, wie sie beispielsweise in Meißners „Skizzen“ vertreten sind.14 Die neueren kontextbezogenen Darstellungen (Typ 5) sind vor allem im Sinne einer psychologischen Rekonstruktion des Täterverhalten ausgeprägt, die sich freilich an allgemeinen ‘seelenkundlichen’ und anthropologischen Interessen, nicht an spezifisch kriminologischen Fragen orientiert. Diese Darstellungen werden in ihrer ‘Nützlichkeit’ von der Literaturkritik gegen den Schauerroman gestellt. Schillers Argumentation in der Vorrede zur Pitaval-Übersetzung ist hierbei der wichtigste Bezugspunkt; aus der heutigen Sicht wären aber auch Meißner und 13 14
Vgl. Schönert: Behaglicher Schauer, S. 88–91. Zu Meißner vgl. Bauer: Zwischen Galgen und Moral.
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K. Ph. Moritzens „Magazin zur Erfahrungsseelenkunde“ (1783–1793) zu beachten. Im Ganzen gesehen – so hat es den Anschein – tritt bis zur Veröffentlichung der Fallgeschichten Feuerbachs (1808–1811) die zeitgenössische Rechtspraxis in der Literatur, die sich mit Verbrechen befaßt, ungeachtet entsprechender Anregungen von Meißner oder Schiller nur wenig in Erscheinung. Das mag Gründe in einem besonders angespannten Verhältnis von ‘Justiz und Öffentlichkeit’ haben.15 Gesetzes- und verfahrenskritische Argumente werden nur zögernd eingesetzt oder zugunsten des übergeordneten Interesses an ‘Menschenkunde’ und ‘moralischer Wahrheit’ zurückgestellt. Obwohl Meißner öffentlich die Juristen gebeten hatte, ihm Aktenmaterial und Berichte für weitere ‘nützliche’, weil authentische Kriminalgeschichten zur Verfügung zu stellen, war der Erfolg gering: „Aber ein sonderbarer Hang zum Geheimnißvollen am unrechten Orte herrscht in dieser Rücksicht noch über viele deutsche Gerichtshöfe. Nur äußerst wenigen, durch ihr Amt dazu bevollmächtigten Personen steht die Einsicht in Criminal-Acten offen.“16 Mögliche Zensurmaßnahmen aufgrund der „jetzigen Preßfreyheit“ abwägend, entschließt Meißner sich zur Selbstzensur und verzichtet auf das geplante Projekt einer eigenständigen Ausgabe seiner Kriminalgeschichten. Zugleich beschränkt er den „räsonnierenden Theil“ der Erzählung, weil dort auch „einige Zweifel“ an juristischen Verfahrensweisen deutlich werden und konzentriert sich auf die Darstellung der Tatumstände oder der ‘kriminellen Karriere’. Damit wird die affektgesättigte Lektüre der Texte unter den Aspekten von Spannung und Unterhaltung erleichtert. Die aufklärerische Absicht tritt in den Hintergrund; die Geschichten scheinen ‘sich selbst zu genügen’. In diesem ‘autonomliterarischen’ Status werden sie jedoch zum Spekulationsobjekt des Marktes. 1796 wird in Wien als Auswahl aus den „Skizzen“ ein unrechtmäßiger Nachdruck mit dem Titel „Kriminalgeschichten“ besorgt.17 1802–1804 erscheinen in Leipzig die „Criminalgeschichten voller Abentheuer und Wunder und doch streng der Wahrheit getreu“, die dem populären Erfolgsautor Ch. H. Spieß zugeschrieben werden. Die überwiegende Mehrzahl der Geschichten ist durch geographische oder zeitliche Distanzierung von der aktuellen Rechtspraxis im deutschen Territorialbereich abgelöst. Das Publikumsinteresse am Merkwürdigen und Unterhaltenden, das die rechtspraktische Bedeutung der Erzählungen geringschätzt, deckt sich mit den Wünschen der Verleger, unbehelligt von Zensurmaßnahmen zu bleiben, und mit den Tendenzen im Rechtsbereich, sich 15 16 17
Vgl. Wesel: Aufklärungen über Recht, S. 87–100. Meißner: Skizzen, o. S. Vgl. den Neudruck Hildesheim 1977, den Hans-Friedrich Foltin betreut hat.
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auf fachinterne Selbstreflexion zu beschränken. Die daraus erwachsende ‘Hypostasierung’ einer sozialen Sonderstellung des Rechtswesens hat – so Luhmann – für den Begriff einer ‘bürgerlichen Gesellschaft’ konstituierende Funktion.18 So spielt auch in der Literatur dieser Phase die ‘Rechtsfindung’ eine untergeordnete Rolle. Entscheidend ist das Interesse an der ungeheuerlichen Tat und einer entsprechenden Bestrafung; dazu kommen – weniger häufig – Fragen nach ‘menschenkundlichen’ Erklärungen für die Zuordnung von Tat und Täter. In Abweichung von der zunächst geltenden Regel, daß Darstellung von Kriminalität das Bild von einer geordneten Welt im literarischen Schuld-SühneAusgleich bestätigen soll, kann im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts dem Verbrecher auch die Qualität eines ‘Sozialrebellen’ zugeschrieben und Verbrechen als sozialer Protest interpretiert werden.19 Das Individuum findet im vorgegebenen sozialen Rahmen nicht mehr seine Identität. Aus dem Zwiespalt erwächst das ‘erhabene Verbrechen’: bedeutende Pläne stoßen an die Grenzen einer beschränkten oder feindlichen Umwelt; kriminelles Verhalten folgt – so Schiller – aus der fehlgeleiteten großen menschlichen Kraft. Unter diesen Aspekten wird das Verbrechen heroisiert, jedoch moralisch nicht gebilligt. Literarisch dargestellte Kriminalität wird zum Sinnbild eines gestörten Verhältnisses von Individuum und Umwelt. Demgegenüber steht ein erbaulich gewendetes Verständnis von Verbrechen in der literarischen Konstruktion von der Alltäglichkeit krimineller Handlungen als Folge eines verwerflichen ersten Schrittes vom Weg, der immer weiter in schuldhafte Verstrickungen führt. In der ‘modernen’ kontextbezogenen Darstellung (Typ 5) entfaltet sich dagegen anthropologische Neugier: literarische Verständigung über Verbrechen bedeutet eine Expedition in die ‘Abgründe’ der menschlichen Natur. Die verstörenden Erfahrungen, die dabei gewonnen werden, können dann die Figur des genialischen Verbrechers entstehen lassen, der – vom Schicksal gezeichnet – die Welt anders wahrnimmt und beurteilt als seine ‘normalen’ Zeitgenossen (vgl. beispielsweise E. T. A. Hoffmann).
1820/30–1850: ‘Aktenmäßige Darstellung’ und ‘Kriminalnovelle’ In die oben skizzierte erste Phase der Ausdifferenzierung des Genres gehören noch Feuerbachs „Merkwürdige Criminal-Rechtsfälle“, die 1808–1811 erschienen. Die zweite erweiterte Ausgabe hat den Titel „Aktenmäßige Darstel18 19
Dazu Luhmann: Ausdifferenzierung des Rechts, S. 43. Vgl. Hobsbawm: Sozialrebellen; Ders.: Banditen, S. 10–26 u. passim (zum „Sozialbanditen“).
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lung merkwürdiger Verbrechen“; sie wird zumeist zitiert und prägt bis zur Jahrhundertmitte die Vorstellungen von ‘authentischen’ Kriminalgeschichten. In der Geschichte des Genres nimmt P. J. A. Feuerbach somit eine Übergangsstellung ein, die auch auf die Phasengrenze 1820/30 bezogen werden kann. Die Vorbilder des Autors sind der Jurist Gayot de Pitaval und zugleich Schiller, der ‘Dichter’. In seiner Stellung als Jurist mit literarischem Ehrgeiz, als ‘aufklärender’ Schriftsteller und Gesetzesreformer im Auftrag der ‘Obrigkeit’ vertritt Feuerbach eine Verbindung von Rollen, die mit divergierenden Aufgaben angelegt sind. Mit seinen gelehrten und zugleich spannenden Fallgeschichten schafft er ein Gegengewicht zu den nur erbaulichen und sensationellen Darstellungen des Verbrechens. Es sind Fälle aus dem bürgerlichen Alltag, mit denen sich Feuerbach als Vortragender im Rahmen des Begnadigungsverfahrens besonders intensiv beschäftigt hatte.20 Sie waren juristisch zu behandeln, aber im Vortrag beim bayerischen König galt es weniger den Fachmann als ‘den Menschen’ anzusprechen. Diese Aspekte aus der Vortragspraxis werden im Zuge der Veröffentlichung der Fälle (nach Abschluß des Begnadigungsverfahrens) noch verstärkt durch persönliche Interessen und Einstellungen Feuerbachs, der die innere Geschichte des Verbrechens und die Person des Verbrechers erkunden will. Neben der Darlegung der juristischen Tatbestände und Probleme in der Urteilsfindung, neben der Beschreibung der Tatumstände, des Tathergangs und der Überführung des Täters stehen die Rekonstruktion einer ‘inneren Geschichte’, Charakterskizzen der Verurteilten und Bemerkungen zur sozialen Situation von Täter und Opfer. Das alles hat keinen Platz in den Gerichtsakten. ‘Aktenmäßig’ verweist also vor allem auf die Authentizität des Falles, auf das dabei vermittelte juristische Problemmaterial; die Darstellung selbst wirkt aber durchaus nicht ‘aktenmäßig’. Sie ist weithin getragen von einer leidenschaftlichen forensischen Rhetorik und auch in der juristischen Argumentation sowie in der seelenkundlichen Analyse geprägt von der erzählerischen Begabung des Autors. Feuerbach, der – bei allem beruflichen Erfolg – in seiner Rolle als Jurist nicht ganz glücklich gewesen zu sein scheint, trägt seinen Gegenstand nicht einfach vor und tritt dabei hinter ihm zurück, sondern sucht und findet ‘eigene Identität’ im Schreiben. Er ist Jurist und Literat zur selben Zeit. In einem – für das goethezeitliche Denken typischen – Ganzheitskonzept verbindet Feuerbach durch sein persönliches Engagement traditionelle Typen und Funktionen des Kriminalgenres: die sensationsträchtige Beschreibung der ungeheueren Tat, die erbauliche Reflexion, die Informationen zur Rechtspraxis 20
Vgl. Schrage: Nachwort, S. 375 f. u. 377; vgl. auch Naucke: Psychologische Zwangstheorie; Ders.: Einfluß Kants.
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(Täterermittlung, Überführung, Urteil, Strafvollzug) und die Reflexion über den moralischen und sozialen Kontext des Verbrechens. Bereits in vielen der meist zweigliedrigen Titel der Fallgeschichten wird der doppelte Aspekt von aktenmäßig-juristischem Referat und literarischer Darstellung des Merkwürdigen und psychologisch Besonderen signalisiert: z.B. „Franz Salesius Riembauer oder Tartüffe als Mörder“. In der Darstellung können die beiden Aspekte gegeneinander abgesetzt sein (also aktenmäßiger Bericht des Tatbestandes, der Ermittlung und Überführung des Täters, juristische Diskussion des Urteils und dann Entwurf eines Psychogramms und moralische Bewertung) oder ineinander übergehen – wie auch später vielfach beim „Neuen Pitaval“. Für Feuerbach sind Handlungen der Rechtspraxis und literarisches Agieren in dem Entwurf seiner Fallgeschichten noch zu verbinden. Gerade diese ‘unzeitgemäße’ Einheit von Juristen- und Literatenrolle mag dazu beigetragen haben, daß Feuerbachs Fallgeschichten im Laufe des 19. Jahrhundert immer mehr in den Bereich der ‘schönen Literatur’ rückten. Der Erfolg außerhalb der Fachgrenzen ist wohl auch dadurch begründet, daß Feuerbach die Rechtspraxis des Alltags als Justizbeamter nie kennengelernt hat. Sein Bild von diesem Bereich des Rechtshandelns ist auf rechtstheoretischen und rechtsdogmatischen Interessen aufgebaut; es ist ein ‘künstliches Bild’ und eröffnet so den ebenfalls ‘künstlichen’, wenn auch anders begründeten Vorstellungen des lesenden Publikums Anschlußmöglichkeiten.21 Nach 1850 ist dann das Rechtswesen weitgehend verfachlicht; die literarische Praxis wird durch abgehobene ästhetische Normen und die Erwartungen des ‘Literaturbetriebs’ geregelt. Die offenkundige Diskrepanz zwischen beiden Bereichen ist im Bewußtsein des Einzelnen oft nicht aufzuheben. Schriftstellernde Juristen wie Temme handeln dann in einer Doppelrolle, in der das literarisch vermittelte Wissen von der Strafrechtspraxis nicht an die tatsächlichen Verhältnisse und Probleme heranreicht. In Feuerbachs Ausarbeitungen von aktuellen Kriminalfällen dagegen wird der geltenden Rechtspraxis vielfach kritisch ein ‘gesundes Rechtsgefühl’ des Volkes gegenübergestellt. Diese Konstellation ist vor 1850 auch bei akzentuiert literarischen Darstellungen (vgl. beispielsweise Immermanns Oberhof-Geschichte) noch häufiger anzutreffen: der reformbedürftigen institutionalisierten Strafrechtspflege wird eine alternative Rechtspraxis in Familie oder Patrimonium entgegengesetzt oder auf
21
Vgl. die Einleitung von C. J. A. Mittermaier zur 3. Auflage von Feuerbachs „Aktenmäßige Darstellung merkwürdiger Verbrechen“ (Frankfurt a.M. 1849, S. 3 f.).
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das natürliche Rechtsempfinden der juristischen Laien verwiesen.22 Feuerbach verbindet sein fachliches und rechtspolitisches Interesse an Kriminalfällen mit der Frage, wie sich Menschen in dieser Zeit verhalten können. Die Antwort darauf kann und will er nicht nur juristisch formulieren. Feuerbachs Fallgeschichten sind Beiträge zur Rechts- und Menschenkunde. Die individuelle Schuldfähigkeit des Verbrechers setzt Feuerbach voraus. Das Urteil des Juristen ist jedoch verbunden mit dem Erschrecken des aufgeklärten Zeitgenossen vor dem Bösen in der Natur des Menschen. 1831, kurz nach dem aufsehenerregenden Bremer Giftmordfall der Gesche Gottfried, erscheint in der Hansestadt der umfangreiche Fall- und Prozeßbericht aus der Feder des Verteidigers F. L. Voget, als ‘Lebensgeschichte’ angelegt. Ähnlich wie in den kürzeren Fallgeschichten Feuerbachs wird in Vogets Buch neben den Prozeßbericht (im zweiten Teil, erster bis dritter Abschnitt) die Geschichte der kriminellen Karriere gestellt (im ersten Teil bis zur Entdeckung und Verurteilung, im zweiten Teil – vierter bis sechster Abschnitt – als Bericht über die Gefangenschaft der Gesche Gottfried bis zum Abschluß von Revisions- und Begnadigungsverfahren, also bis zur Hinrichtung). Die längere Bekanntschaft des Defensors mit der Straftäterin kann das literarische Feuer und Engagement, das man aus Feuerbachs Fallgeschichten kennt, nicht ersetzen. Auch Voget ist an der inneren Geschichte des Verbrechens interessiert, an Motiven und Seelenzuständen; er beschreibt die Ereignisse und Umstände mitunter minutiös, zitiert ausführlich aus den Briefen der Gesche Gottfried, zieht sich aber immer wieder in eine (erbaulich gewendete) Distanz zu dieser ‘schrecklichen Frau’ zurück – betroffen darüber, wie weit sich Menschen von Gott entfernen können.23 Das Motto seiner Darstellung lautet: „Wer Sünde tut, der ist der Sünde Knecht.“ Doch ordnet der Autor selbst diese erbauliche Komponente einer höherwertigen unter, die im reflek22
23
Eine wichtige Instanz für das Rechtsbewußtsein und die Kontrolle von rechtmäßigem und unrechtmäßigem Handeln ergibt sich gerade für die Frühphase der ‘bürgerlichen Gesellschaft’ (im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts) in den Interaktionsbereichen von Familie, Nachbarschaft, Gemeinde und Gewerbe. Diese informelle Kontrolle steht in literarischen Darstellungen aus dieser Zeit vielfach in Konkurrenz zu der Kontrolle durch die Rechtsbehörden, die nun mehr institutionalisiert und formalisiert wird. (Vgl. beispielsweise die Rolle der Vaterfiguren im Drama und in Erzählungen des 18. Jahrhunderts; im Laufe der literarischen Entwicklung der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird diese Rechtsautorität der Väter vielfach erschüttert oder abgebaut – beispielsweise in Otto Ludwigs „Zwischen Himmel und Erde“. An ihre Stelle tritt die moralische Selbstkontrolle des Einzelnen, die dann bis zum ‘Selbstgericht’ führen kann.) Im Vergleich von Feuerbach, Voget und der Droste wären unter diesem Aspekt wichtige zeittypische Konstellationen in der literarischen Verständigung über das Verbrechen zu beschreiben.
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tierenden Erzählen in der Tradition des aufklärerischen Literaturprogramms verwirklicht wird. Er versucht die Entschleierung des Innern eines menschlichen Wesens, welches mit tausend anderen von einem und demselben Anfangspunkt beginnend, auch äußerlich mit Tausenden eine gleiche Bahn weitergehend, vor unseren Augen zu der furchtbarsten Verruchtheit herabsinkt – jedoch so, daß wir den Keim zu gleichem oder ähnlichem Verfall in unserem eigenen Herzen wahrnehmen. – Wenn bei einer solchen Entwicklung die Taten eines außerordentlichen Verbrechers, welche man sonst als psychologische Rätsel leicht abzufertigen geneigt ist, am Ende unter den gegebenen Verhältnissen nur als das notwendige Produkt des ganzen inneren Lebens dastehen, so beruht hierin das höhere, das edle Interesse an Kriminalgeschichten, und jene Aufgabe erscheint gelöst. So willkommen nun aber jeder Wunsch zur Lösung dieser Aufgabe sein mag, so moralisch verderblich ist dagegen freilich die Bekanntmachung ruchloser Greueltaten ohne psychologische Aufklärung der nach und nach entstandenen inneren Triebfedern. In diesem Fall bewirkt die Geschichte das gerade Gegenteil, den beschönigenden Selbstbetrug, und zwar um so unfehlbarer, je mehr sie etwa mit schönklingenden Sittensprüchen oder moralischen Gemeinplätzen ausgeschmückt ist, wonach jeder, dem ihre Richtigkeit einleuchtet, nun auch handeln zu können wähnt.24
In Vogets Reflexion des genremäßigen Erzählens und der Funktion von ‘Kriminalgeschichten’ werden die traditionellen und populären Grundtypen, die nur sensationelle und die nur erbauliche Darstellung, ausdrücklich abgelehnt.25 Auf das Neue in der Anlage der Fallgeschichte nach dem Feuerbachschen Vorbild ist hingewiesen. Voget wendet sich an ein gemischtes Publikum (vgl. auch den Publikumsbezug des „Neuen Pitaval“): an die Gebildeten und an das „Volk“, er gibt – zum besseren Verständnis der Darstellung – Hinweise für „nicht juristische Leser“.26 Interessant ist die Veränderung der Rolle des Juristen Voget, wenn er als Autor der Lebensgeschichte ‘erzählt’ und literarisch konstruiert; er kann sich in diesem Kontext der literarischen Verständigung viel eher als in der juristischen Praxis einer veränderten Beurteilung der Täterin annähern. In seiner Verteidigungsschrift zieht er mehr ‘pflichtgemäß’ neue Argumente der sich ausbildenden forensischen Medizin heran, die Gesche Gottfried entlasten könnten. Das Rätsel um ihre Person, ihre Beweggründe und ihr Vorgehen hei der ungeheuerlichen Giftmordserie erscheint dem schriftstellernden Juristen nur lösbar, wenn man in der Täterin eine Kranke, eine ‘hysterische Person’ sieht. Ihr Verstand ist also nicht – wie bei Geisteskranken – zerrüttet; sie verhält sich vor, bei und nach der Tat verstandesmäßig, 24 25 26
Voget: Gesche Gottfried, S. 7 f. Vgl. ebd., S. 10. Ebd., S. 367, Anm. 11.
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wird jedoch zu ihren Verbrechen durch krankhafte Hysterie getrieben und könnte deshalb als eingeschränkt zurechnungsfähig gelten. Voget bezieht sich dabei auf Diskussionen, die um diese Zeit in Frankreich zum Problem der Zurechnungsfähigkeit geführt wurden. Die Ursache der schrecklichen Taten der Gesche Gottfried wäre in dieser Perspektive eine „giftmordsüchtige Monomanie“.27 Doch lehnt Voget als Jurist und als Christenmensch eigentlich die strafmildernden Folgen ab, die sich bei eingeschränkter Zurechnungsfähigkeit für die Giftmörderin ergeben würden – die gemäße Sühne solcher Verbrechen kann nur der Tod sein. Vogets Buch wäre eine genauere Analyse wert – im Hinblick auf die Diskrepanz zwischen juristischen Argumenten und literarischer Konstruktion des Falles, zumal auch noch das rechtspolitische Problem der Todesstrafe angesprochen ist. Die Schilderung der letzten Stunden der Gesche Gottfried, ihrer Angst und ihres vermeintlichen Hochmuts im ‘Schauspiel’ der öffentlichen Hinrichtung verdeutlicht – trotz der erbaulich-warnenden Pointierung – wiederum auf literarischer Ebene das Unbehagen des Verfassers, der einen ‘Mitmenschen’ den Weg zum Tode durch den bestallten Scharfrichter gehen sieht – ein Ende, das er in seiner Rolle als Jurist allerdings wünschen muß.28 Das Buch von Voget spielt jedoch in der Rezeption der Zeitgenossen bei weitem nicht die Rolle der – ohne Zweifel glanzvoller geschriebenen – Fallgeschichten Feuerbachs, der auch als Jurist und Fachgelehrter eine ganz andere Statur und mehr öffentliche Wirksamkeit hatte als der Bremer Advokat. Im Kielwasser von Feuerbachs Erfolgen setzen sich die aktenmäßigen Fallgeschichten und authentischen Darstellungen krimineller Karrieren weiter durch. Die Authentizität wird freilich häufig nur als Deckmantel benutzt für das mehr und mehr abgewertete sensationelle Interesse am Verbrechen.29 Zugleich verliert auch die religiöse Beurteilung von Kriminalität in der Literatur an Bedeutung; die erbauliche Belehrung wird zurückgedrängt durch die Überlagerung mit Familien- und Liebesgeschichten, die den Kriminalfall gleichsam ‘in Watte packen’ (so beispielsweise bei Laun).30 Kriminelle werden zum normalen bürgerlichen Leben bekehrt und so für die Familie bzw. den präsumptiven Ehepartner wiedergewonnen, oder sie erscheinen als Repräsentanten des Bösen 27 28
29 30
Oehlenschläger: Nachwort, S. 383. Ein interessanter Vergleichspunkt ergibt sich für die erzählerische Verarbeitung der Todesstrafen-Problematik aus der Sicht beteiligter Juristen zu der fiktiven Geschichte „Auf Leben und Tod (Erinnerungen eines Richters)“ in Auerbachs „Deutscher VolksKalender auf das Jahr 1867“, S. 1–47. Vgl. Schönert: Schauer- und Verbrechensliteratur. S. 166 f. Vgl. Schönert: Behaglicher Schauer, S. 68–75.
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und werden zum Schutze der Familie abgedrängt und ausgestoßen. Im Teilsystem der anspruchsvolleren Lektüre-Erwartungen werden vor allem authentische Fallgeschichten (Typ 4) und Erzählungen nach dem Muster der ‘merkwürdigen Geschichte’ (Typ 3) gelesen, die nun zumeist ‘Kriminalgeschichte’ oder ‘Kriminalnovelle’ genannt werden.31 „Die Judenbuche“, zunächst im Untertitel als „Kriminalgeschichte“ ausgewiesen, zeigt deutlich, wie populäre Funktionen in der Darstellung von Kriminalität zwar aufgegriffen werden (das Erbauliche, das Sensationelle und das Rätselhafte), aber doch veränderten Perspektiven in der Wahrnehmung von Kriminalität und weiterreichenden Deutungsmustern untergeordnet sind. In der ‘anspruchsvollen Literatur’, die nun häufiger und differenzierter den Gegenstand ‘Kriminalität’ behandelt, scheinen sich die Entwicklungen des Genres vor allem durch wirkungsvolle Varianten der bis dahin ausgebildeten Typen und den Erfolg einzelner Autoren fortzusetzen. Erwartungen des Buchmarktes spielen keine entscheidende Rolle. In der Darstellung von Kriminalität soll eher gezeigt werden, daß man sich dem Schematismus der Romane aus der ‘Romanfabrik’ des Schauer- und Schreckentyps zu entziehen vermag. Das Etikett ‘aktenmäßig’ oder der Verweis auf sichere Quellen und Urkunden sind Signale für die Tendenz zugunsten der ‘wahrhaftigen’ Kriminalgeschichte oder ‘authentischen’ Falldarstellung. Die Durchsetzungskraft dieses Trends zeigt die Tatsache, daß bis in die 1840er Jahre hinein unter der ‘falschen Flagge’ solcher Elemente im Titel weiterhin nach alten Mustern geschrieben wurde. Der Status der Romane ist zumeist an den hyperbolischen Titeln abzulesen, vgl. beispielsweise „Verbrechen auf Verbrechen oder Auswürflinge der Menschheit. Gallerie tragischer Ereignisse, ausgezeichneter Bösewichter, Tyrannen, Mörder, Giftmischer, Brandstifter, Diebe, Betrüger, theils nach dem Leben, theils nach alten Chroniken und Criminal-Acten bearbeitet“ (von Lohmar-Freihold).32 Für das gehobene literarische Interesse sind allerdings nur Fallgeschichten im Stile Feuerbachs oder authentische Erfahrungsberichte akzeptabel, die in der Regel Fachwissen und Probleme aus der Rechtspraxis aufnehmen. Ab 1842 erscheinen dann die ersten Bände in der Sammlung des „Neuen Pitaval“. Bei Autoren wie Müllner und Kruse zeigen sich dagegen Ansätze zur Orientierung 31 32
Zur Rolle der Leihbibliotheken in der Konstitution von literarischen Kommunikationsräumen im 19. Jahrhundert vgl. Jäger u. Schönert: Leihbibliothek, insbesondere den einleitenden Aufriß. Vgl. Schönert: Schauer- und Verbrechensliteratur, S. 172 f. Schauerromane werden freilich bis in die 1840er Jahre hinein weiter geschrieben und in Leihbibliotheken eingestellt; der Trend zur ‘Kriminalgeschichte’ ist jedoch deutlich.
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am Detektionstyp (Typ 6).33 Zu Verschiebungen innerhalb der Konstellation des Genres kommt es – vom Literaturangebot der besseren Leihbibliotheken ausgehend – durch den schnell popularisierend genutzten Erfolg der Abenteuer- und Geheimnisromane (als Varianten von Typ 1). Im Wechselspiel von der Orientierung an Dumas und Sue mit Reaktionen auf die politische Situation sowie unter dem Eindruck der Reformdiskussionen zu Strafgesetzgebung, Strafprozeßordnung und Strafvollzug gewinnt nach 1840 der Typ 4, die kontextbezogene Darstellung von Verbrechen, in ihrer sozialkritischen Variante an Gewicht. Kriminalliteratur wird Tendenzliteratur. Doch wird diese Entwicklung mit dem Schlaglicht „Die Nachtseiten der Gesellschaft“ in der deutschen Literatur rasch wieder ins Sensationelle und Erbauliche umgewendet. Als engagiert sozialkritische Texte lassen sich vor allem Willkomms Romane oder Dronkes „Polizei-Geschichten“ einordnen. In die Zeit des Vormärz gehören auch die ersten Entwürfe von H. Kurz zu seinem „Sonnenwirt“ mit einer ausgeprägt sozialkritischen Perspektive, die über vergleichbare Ansätze bei Schiller und Feuerbach hinausführt. Schillers Deutung der Motivation zu kriminellen Handlungen – wie beim Verbrechen „aus verlorener Ehre“ – wird abgelöst durch die Darstellung von Verbrechen als Folge verlorenen Besitzes oder politischer Diskriminierung (vgl. dazu vor allem Dronkes „PolizeiGeschichten“). Hinter der Beschäftigung mit dem Kriminellen, der zum Verbrechen getrieben wird, steht nicht mehr nur eine verdeckte Geste des sozialen Protests. Hier werden nun die sozialen Bedingungen für Kriminalität angesprochen oder – wie in Auerbachs Erzählung „Sträflinge“ (1845) – Probleme der Resozialisierung dargestellt.34 Im Bereich der mindergewerteten literarischen Kommunikation – bestimmt durch das Romanangebot der ‘schlechten’ Leihbibliotheken, das sog. Leihbibliotheksfutter – ist auch in der Phase von 1820/30 bis 1850 keine unmittelbare Korrelation zwischen den Handlungen in den Sozialsystemen ‘Literatur’ und ‘Recht’ festzustellen. Für den Umgang mit höher gewerteter Literatur wird jedoch unter dem Einfluß Feuerbachs ein Austausch in Gang gesetzt: fachlich noch nicht relevantes Wissen (beispielsweise zur ‘Kriminalpsychologie’) wird literarisch entfaltet, literarisierende Konstruktionen und Deutungen von Kriminalität sollen Diskussionen zum Strafrecht beeinflussen und begleiten, dem
33 34
Vgl. Hügel: Untersuchungsrichter, S. 114–116 u. 126–129. Die gelungene Resozialisierung von Straffälligen, die Auerbach in „Sträflinge“ (1845) und „Das Nest an der Bahn“ (1876) beschreibt, erscheint gleichsam als optimistisches Gegenstück zum „Sonnenwirt“ – vgl. auch Th. Storms Novelle „Ein Doppelgänger“ (1886).
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kodifizierten Recht und seinen bestimmenden Prinzipien werden konkurrierende Auffassungen entgegengehalten. Die Literatur der Leihbibliotheken minderen Anspruchs bildet keine Herausforderung für die geltenden gesellschaftlichen Normen. In den aktuellen Abenteuer- und Geheimnisromanen, den Fallgeschichten und den kontextbezogenen Kriminalerzählungen wird dagegen durch Vermittlung bestimmter Wissenselemente (psychische und soziale Determination, Kriminalität des Alltags und der Unterschichten, Strafvollzug, Probleme der Resozialisierung) ein Kritikpotential erschlossen. Es kann durch das Verstärken der sensationellen, erbaulichen oder abenteuerlichen Momente (bzw. durch Überlagerung mit den entsprechenden Genretypen) erneut verdeckt, aber auch unter dem Zeichen politisch engagierter Literatur ausgenutzt werden. Die affektgesättigte Schilderung der „Nachtseiten der Gesellschaft“ wird jedoch nur selten zur Diagnose einer kranken Gesellschaft ausgeweitet. Auch haben die dabei verwendeten Kategorien zumeist generalisierenden Charakter: die kriminogenen Aspekte von Armut, Elend und familiärer Zerrüttung führen zum philanthropischen Appell.35 Ansätze zur systematischen Analyse des Zusammenhangs von Armut und Kriminalität, von Politik und Verbrechen sind nach 1850 zumeist in der Darstellung pittoresken Elends und reizvoller Unmoral aufgelöst, sie verengen sich auf die Schlüssellochperspektive der Enthüllungen aus den Salons und Kabinetten oder werden verkaufsträchtig gewendet in der Verbindung von Sexualität und Kriminalität.
1850–1880/90: Kriminalgeschichten im Zeichen der Rechtssicherheit? Die dritte Phase (1850–1880/90) ist in ihrem Beginn vor allem gekennzeichnet durch die veränderten sozialpolitischen Tendenzen im bürgerlichen Mittelstand, aus dem sich der Großteil des Publikums für Erzählprosa rekrutiert. Zugleich beginnt die Literaturkritik, die sich vor 1848 wenig um den Gegenstandsbereich ‘Kriminalität’ kümmerte, nun deutliche Maßgaben für die Beschäftigung mit diesem ‘unschönen’ Objekt zu setzen – insbesondere im Rahmen des realidealistischen Literaturprogramms des Nachmärz. Im Laufe der 1850er und 1860er Jahre verändert der Buch- und Zeitschriftenmarkt sein Profil im Vermitteln von Erzählprosa erheblich. Ursachen sind die Krise der kommerziellen Leihbibliotheken, die Differenzierung des Zeitungs- und Zeitschriftenangebots – mit dem Schwerpunkt der Familienzeitschriften und der populär-enzyklopädischen Fachzeitschriften – sowie die neuen Möglich35
Vgl. Edler: Anfänge des sozialen Romans, S. 92–161.
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keiten in Buchherstellung und Vertrieb (billige Romanserien, Kolportageliteratur). In der Verbrechensbekämpfung stehen für diesen Zeitraum in den deutschen Ländern wichtige Reformen in Gesetzen und Verordnungen an, gleichzeitig wird das Polizeiwesen verstärkt ausgebaut. In der literarischen Verständigung über Kriminalität gilt allgemein das Deutungsmuster der ‘poetischen Gerechtigkeit’, das als spezifisch literarisches Konstrukt ‘Charakterschuld’ und ‘Tatschuld’, defekte Moral und kriminelle Handlungen gleichsetzt.36 Damit ist ein wichtiger Unterschied zwischen rechtlicher und literarischer Behandlung von Kriminalität, den Feuerbach noch strikt beachtet, nunmehr aufgehoben.37 Im Sinne des realistischen Literaturprogramms im Nachmärz soll das Teilsystem eines breit angelegten ‘mittleren’ literarischen Interesses erheblich erweitert werden – in der Distanz zur Elite-Literatur und in Abwehr der ästhetisch minderwertigen (der nur affektbezogenen und ‘unschönen’) Literatur. Bezugspunkt der Integration ist dabei die gelungene Verbindung von Unterhaltung und Information. Für die ‘Kriminalgeschichten’ führt diese Tendenz sowohl zur Abgrenzung gegenüber den nur sensationellen und nur erbaulichen Texten als auch gegenüber sozialkritischen und wissensgesättigten Darstellungen. Die Momente des Sensationellen, Erbaulichen, Moralischen und Informativen sollen im vernünftigen Ausgleich der kognitiven und affektiven Wirkungen von Literatur verbunden werden. Die erbauliche Funktion wird dabei säkularisiert als moralischer Appell an die Sittlichkeit des sich selbst verantwortlichen Individuums. Sensationelle Aspekte werden nur im Zusammenhang von authentischen Fallgeschichten und Memoiren gebilligt. Die geheimnisbezogene und abenteuerliche Darstellung wird in ethnographisch und geographisch informative Erzählungen eingebracht oder geht Verbindungen mit dem Zeitund Gesellschaftsroman ein (beispielsweise bei König, Levitschnigg), wobei die sozialkritischen Tendenzen des Vormärz abgeschwächt sind. In Erklärung und Bewertung der Zusammenhänge des kriminellen Verhaltens bestehen zwischen Autoren wie Theodor Fontane und Ernst Fritze keine großen Unterschiede. Wo die breite Mittellage – kontrolliert durch das ausgebreitete literarische Gespräch – nicht erreicht wird, werden die sensationellen und abenteuerlichen Darstellungen der mindergewerteten Literatur und den schlechten Leihbibliotheken zugewiesen. In Ablösung der dorthin abgedrängten Schauerliteratur ergeben sich mit dem fortschreitenden Funktionsverlust der kommerziellen Leihbibliotheken nach 1870 neue Aspekte für die Ver36 37
Vgl. Schönert: Otto Ludwig, S. 163. Vgl. Schrage: Nachwort, S. 391 f.
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triebsform der Kolportage. In der Mittellage des literarischen Spektrums sind die kontextbezogenen Darstellungen von Kriminalität und die Untersuchungsrichter-, Polizei- und Detektivgeschichten weithin darauf eingestellt, das Verbrechen aus dem Charakter des Täters abzuleiten und die Arbeitsleistung bei der Ermittlung und Überführung des Täters zu würdigen. Kriminalätiologische Aspekte der sozialen Determination, Probleme der Täter-Opfer-Beziehungen, der Straftheorie und des Strafvollzuges werden selten aufgegriffen. Die Literaturkritik des Nachmärz – mit einer Reichweite bis zum Ende der 1860er Jahre – bejaht ausdrücklich die Unterhaltungsfunktion der von ihr ‘kontrollierten’ Literatur des mittleren Bereichs in der Erzählprosa; sie beobachtet jedoch den häßlichen Gegenstand ‘Kriminalität’ mit Mißtrauen – wohl auch deswegen, weil das Bild einer kriminogenen Gesellschaft den Wunschtraum vom sozialen Frieden stören könnte. Unabhängig vom institutionalisierten Literaturgespräch scheint sich der Typus der ‘Detektivgeschichte’ in dieser Phase gefestigt zu haben. Detektivgeschichte ist dabei – Hans-Otto Hügel folgend – nicht allein auf die Rätselgeschichte festzulegen, sondern schließt die Darstellung von Detektion als routinemäßiger und mühevoller Polizeiarbeit ein. Der wachsende Erfolg der Detektionsgeschichten läßt auf legitimierende Funktionen der Kriminalliteratur für sozialgeschichtliche und institutionelle Entwicklungen schließen. Die Delegation der Verbrechensbekämpfung an bestimmte Institutionen und deren Beauftragte steht im Bezug zur fortschreitenden Arbeitsteiligkeit der Gesellschaft und zum Vorgang der Professionalisierung. Beide Aspekte werden in der Literatur zumeist positiv entwickelt: Detektive und Polizisten finden ihre soziale Identität in der perfekten Erfüllung ihrer Berufsrolle. Zugleich übernehmen diese Leitfiguren der Erzählung mehr und mehr kompensatorische Funktionen: individuelle Fähigkeiten und Arbeitsleistungen werden in der literarischen Darstellung heroisiert. Solche Konstruktionen stehen im Gegensatz zur Erfahrung des mehr und mehr begrenzten Spielraums persönlichen Handelns. Desgleichen verdrängt der vielfache literarische Tribut an die Macht der Indizien – als ‘technischer’ Beweismittel – die Probleme, die eine verstärkte Technisierung des Alltags und der Anspruch des naturwissenschaftlichen Weltbildes schaffen. Solche globalen Perspektiven geraten freilich rasch zu Spekulationen. So seien zunächst die konkreten Beziehungen zwischen den Sozialsystemen ‘Literatur’ und ‘Recht’ herausgestellt. Ab etwa 1860 setzen sich die Polizei- und Detektivgeschichten in der deutschen Literatur durch und markieren deutlich den Typ 6 der hier vorgelegten Skizze. Bis 1890 nehmen sie jedoch nur einen vergleichsweise begrenzten Sektor im Bereich der Darstellungen von Kriminalität und Strafrechtspflege ein. Gegenüber dem vorwiegend moralisierenden
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Bezug zum Verbrechen in der Kriminalgeschichte des Nachmärz ‘technisiert’ die Detektivgeschichte die Wahrnehmung von Kriminalität.38 Sie informiert im wesentlichen über die Vorgänge bei Detektion und Überführung des Täters sowie über verfahrenstechnische Abläufe in den Institutionen der Strafrechtspflege. Insgesamt gesehen haben jedoch die Reformen der Landesstrafgesetze, die Durchsetzung des öffentlichen Gerichtsverfahrens und die verstärkte öffentliche Wahrnehmung von Kriminalität (vgl. beispielsweise die Rolle der Kriminalstatistik) in der Literatur nur eine sehr begrenzte Vermittlung von fachlichen Informationen und Problemen zur Folge. Literarische Verständigung über Kriminalität ist zwar darauf angelegt, das öffentliche Bewußtsein von funktionierender Strafrechtspflege zu stützen; im Ganzen jedoch wird der Austausch zwischen Literatur- und Rechtssystem in der Phase von 1850 bis 1880/90 unterbrochen oder begrenzt.39 Das hat unterschiedliche, aber wohl auch korrelierbare Ursachen. Sie liegen in der stärker verfolgten Aufgabenteilung von Literatur und Wissenschaft; das Fachwissen wird von populärwissenschaftlicher und literarischer Vermittlung abgekoppelt, und die Literatur soll auf ihre eigentlichen Aufgaben zurückgeführt werden. Dazu kommt, daß die literarischen Gegenstände aus Gründen des politischen Wohlverhaltens Einschränkungen erfahren – so werden beispielsweise die Entwicklungen im Bereich des Polizeiwesens nach 1850 in der Literatur kaum aufgenommen, geschweige denn problematisiert. Die intensive und kontroverse Diskussion zu Straftheorien, die beginnende Organisation der Kriminologie als wissenschaftlicher Disziplin treten in der Literatur nicht in Erscheinung. So stellt Walter Müller-Seidel zu Fontanes „Ellernklipp“ fest: „Dennoch bleibt am Ende die Sühne im Recht, als habe sich im Rechtsdenken der Zeit wenig geändert.“40 Die verstärkte Fixierung der Verständigungsmuster im Genre ‘Kriminalgeschichte’, die Institutionalisierung der Typen und ihrer Varianten in den Erwartungshaltungen führt nach 1850 insgesamt gesehen zu einer eingeschränkten Aufnahme von aktuellen Entwicklungen im Rechtssystem. Die literarische Thematisierung von Verbrechen und Verbrechensbekämpfung unterstützt die kontroversen Diskussionen im Rechtssystem nicht. Dieser Befund ist mit rechts- und sozialpolitischen Tendenzen zu verbinden, die auf normenkonforme Reglementierung und Einschränkung des Allgemeinwissens von Kriminalität und Strafrechtspflege zielen. So wird kriminelles Handeln in der literarischen Darstellung zumeist auf Elementarängste in der Bedrohung von Leben und Eigentum projiziert und erscheint in den Delikten von Mord 38 39 40
Vgl. Hügel: Untersuchungsrichter, S. 164. Hier in Abweichung zum Befund von Hügel: Untersuchungsrichter, S. 18. Müller-Seidel: Fontane, S. 216.
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und Raub. Nach 1870 kommt das Moment der Wirtschaftskriminalität stärker in den Blick, doch wird auch hier in der Regel kriminelles Verhalten als sittlicher Defekt dem vom Zeitgeist verführten und maßlosen Individuum angelastet. Die gesellschaftliche und ökonomische Ordnung soll in der literarischen Verständigung moralisierend vermittelt werden. Zu diesem Zweck wird die mehr und mehr differenzierte Bestimmung von Kriminalität im Rahmen des Rechtssystems in der Literatur in deutlich reduzierter Komplexität aufgenommen. Zudem werden neue Konstellationen – wie das Ansteigen der Gewaltverbrechen als Folge von demütigenden Erfahrungen im Berufsleben oder die Rolle der Zuhälter in der Prostitution – literarisch nicht berücksichtigt. Zugespitzt formuliert bedeutet dieser Befund: durch die literarische Auswahl von Informationen über bestimmte Teilbereiche und Teilerfahrungen in Kriminalität und Strafrechtspflege41 werden wichtige Probleme und neue Entwicklungen im Rechtssystem literarisch nicht verarbeitet; sie sind verdrängt oder sogar verdeckt. Dieses ‘Defizit’ zeigt sich auch bei Autoren, die selbst Juristen sind oder über Ehepartner und Freunde Zugang zum juristischen Bereich haben. Sogar in heute hochgewerteter Literatur (beispielsweise im Werk Theodor Storms) geben die juristischen Erfahrungen des Autors wenig neue Impulse für die literarische Darstellung von Verbrechen und Verbrechensbekämpfung. Für Temme läßt sich dieses Problem in einem extremen Fall darstellen. Temme gehört zu den wichtigen Vertretern der rechtspolitischen Diskussion vor und nach 1849, er wird politisch verfolgt, verliert Amt und Einkommen und versucht, als freier Schriftsteller seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Dabei unterwirft er sich ab Mitte der 1850er Jahre immer mehr den Forderungen des literarischen Marktes: seine Kriminalgeschichten unterscheiden sich kaum von denen juristisch uninformierter Autoren. In Abweichung von Hügels These, daß die Kriminalliteratur nach 1850 ein öffentliches Rechtsbewußtsein fördert und in ihrer aufklärenden Information über die Verfahren und Institutionen der Strafrechtspflege liberalen Grundsätzen verpflichtet ist, komme ich vorerst zu einem anderen Befund. Die von Hügel herausgestellte Tendenz trifft wohl nur für eine kleine Gruppe von Autoren zu. Sie verlieren in den 1860er Jahren an Einfluß. In der Regel werden Polizei und Gerichte als effizient und moralisch integer geschildert, so daß die staatliche Rechtsgewalt literarisch abgesichert ist. Darüber hinaus wird in literarischen Darstellungen nach 1850 sogar die allzu liberale Praxis der neuen Strafgesetze kritisiert und eine rigide Bekämpfung des sittlichen Verfalls gefordert. Selbst dann, wenn die staatliche Verbrechenskontrolle versagt oder 41
Vgl. Hügel: Untersuchungsrichter, S. 200.
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die Polizei nur Teilerfolge erzielt, werden solche Mängel in der Literatur häufig durch den Zufall als Werkzeug einer höheren Gerechtigkeit oder durch die im Privaten wirkende Kraft individuell erfahrener Sittlichkeit ausgeglichen: Kriminalität ist so der ‘unzeitgemäßen’ Primärkontrolle durch Familie, Nachbarn und Freunde überantwortet. Damit wird eine aktuelle Auseinandersetzung mit den Institutionen der Strafrechtspflege weithin ausgespart. Sozialpolitisch gesehen stellt die Erfahrung einer allgegenwärtigen Kriminalität den Anspruch in Frage, daß die gesellschaftlich-nationale Regeneration aus der Sittlichkeit des bürgerlichen Individuums erwachsen könnte. Literarisch wird deshalb kriminelles Handeln vielfach in Unterschichten und Randgruppen (beispielsweise bei den Juden) oder in moralisch suspekten aristokratischen Kreisen angesiedelt. Damit erscheint Kriminalität durchaus im Alltagsbereich; dem gesunden Kern der Gesellschaft, dem Bürger, bleibt sie jedoch fremd.42 Verbrechen ist etwas, was der Gesellschaft von außen angetan wird und nicht aus ihr selbst hervorbricht. Im Sinne der literarischen Selbstvergewisserung, Selbstbehauptung und Selbstreinigung ‘des Bürgerlichen’ wird deshalb Kriminalität ausgewiesen als ein zu bewältigendes soziales Randphänomen oder als abzudrängende Manifestation des Bösen.43 Die literarische Darstellung von Kriminalität verfolgt den Zweck, Randbezirke der Erfahrungswirklichkeit aufzunehmen und in ihrer Deutung so auf das Bild der Alltagsrealität zu beziehen, daß diese als geordnet und stabilisierbar erscheint. Sozialpsychologisch gesehen stützt die literarische Verarbeitung des kriminellen Verhaltens beim bürgerlichen Lesepublikum die geforderte Normenkonformität. Verbrechen gibt nicht mehr – wie etwa in literarischen Darstellungen um 1800 – den Anstoß dazu, sich Gedanken über die Komplexität menschlicher Natur zu machen, sondern ist Anlaß, sich gegenüber allem Außenseitertum abzugrenzen. Die mögliche individuelle und soziale Verstörung durch Kriminalität wird literarisch zwar aufgenommen, aber sogleich wieder aufgehoben: in der gelingenden Arbeit der Verbrechensbekämpfung und in der moralisierenden Isolierung des Sonderfalls. Sobald der Täter ermittelt und bestraft ist, gilt das soziale Problem der Kriminalität als gelöst.
42 43
Vgl. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 370. Vgl. Schönert: Kriminalgeschichten, S. 63–66.
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1880/90–1920: Kriminalliteratur auf dem Weg zur Justizkritik? Diese letzte der hier darzustellenden Phasen kann nur knapp beschrieben werden. Sie ist aufgrund der beschleunigten und differenzierenden Entwicklung im Literatursystem von besonderer Bedeutung; sie gewinnt ihre Konturen jedoch erst im Vergleich mit der skizzierten statischen Situation nach 1850. Im Teilsystem der mindergewerteten Literatur beginnt das Regiment der Kolportage, deren Texte literarische Versatzstücke zu einer eigenen ‘Wirklichkeit’ zusammensetzen. Auf der Grundlage dieser besonderen Entwürfe von ‘Wunschträumen’, die von aktuellen sozialen Problemen ausgehen und deren Elemente einbeziehen, erreicht der Kolportageroman in der Darstellung von Verbrechen und Verbrechensbekämpfung (beispielsweise bei Karl May) neue Funktionen im Spektrum von Sozialkritik und wunschträumender Kompensation von ‘Defiziterfahrungen’. Im Gegensatz zu den ‘überprüfbaren’ Arbeitsleistungen der Detektive in Detektionsgeschichten der 1860er Jahre haben die Rettungsaktionen des ‘Superhelden’ in der Kolportage ihre eigene phantastische Logik. Der ‘Superheld’ besorgt nicht nur die Aufklärung von Verbrechen, er rettet auch Unschuldige vor dem Verderben. Trotz aller sozial- und justizkritischen Implikationen (vgl. auch den Bezugspunkt ‘Geheimnisroman’, vor allem Sue) ist die affektgesättigte und sensationelle Darstellung die entscheidende Funktion der Kolportage. Bei der Kolportage wird in der Regel auf das Legitimationsmoment ‘authentische Geschichte’ verzichtet, denn die etablierte Literaturkritik sieht – vor allem mit dem Beginn der Schmutz- und SchundKampagne um 1900 – in der vorgespiegelten oder mißbrauchten Authentizität ein Charakteristikum ‘schlechter’ Literatur. Die Detektiverzählung gewinnt nach 1880 an Geltung und wird mehr und mehr als Paradigma der Kriminalgeschichte angesehen.44 In der deutschen Literatur verliert sie in fortschreitender Orientierung an angelsächsischen Serien ihre Realitätsbezüge und die ohnehin geringe kritische Substanz. Im übernommenen literarischen Schema sind die Vorgaben für die Kriminalisierung einer Handlung und die Bestrafung des Täters ohne Bedeutung. Die Konsequenzen stehen von vornherein fest. Es ist ein Verbrechen geschehen, der Täter muß ermittelt und bestraft werden. Die Detektivgeschichte wird so zur folgenlosen Unterhaltungslektüre ‘par excellence’; sie wird von der Literaturkritik nicht mehr weiter verfolgt und dem Markt überantwortet. In der verengten mittleren Lage der literarischen Kommunikation halten sich noch die kontextbezogenen Darstellungen (Typ 5) und die Fallgeschichten 44
Vgl. Hügel: Untersuchungsrichter, S. 174.
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nach dem Pitaval-Muster, die sich nun verstärkt den Erfahrungen und Problemen der Strafrechtspflege öffnen (vgl. die ab 1906 von R. Frank, G. Roscher und H. Schmidt herausgegebene Reihe „Der Pitaval der Gegenwart. Almanach interessanter Straffälle“). In den Familienblättern dagegen treten die Artikel zur Rechtspraxis und die Kriminalgeschichten zurück. Im Bereich der EliteLiteratur wird jedoch – in Distanz zur Detektivgeschichte – der Typus der moral- und sozialreflexiven Darstellung eines Verbrechens ausgebaut und differenziert. In den Vordergrund rücken die komplexen Determinanten kriminellen Verhaltens: Bezüge zwischen Verbrechen, Wahnsinn und sozialer Deklassierung. Der Verbrecher erscheint als Opfer der Gesellschaft und als Figuration des sozialen Zustandes. Die literarisch anspruchsvolle Reihe „Außenseiter der Gesellschaft. Die Verbrechen der Gegenwart“ (1924/25 erschienen) faßt in ihren Fallgeschichten und Erzählungen von kriminellen Karrieren viele dieser Aspekte zusammen, die nun intensiver aufgenommen werden. In der weiteren Entwicklung der 1920er Jahre erhält dann das Verbrechen – beispielsweise in den Romanen von Döblin oder Musil – einen neuen Verweisungszusammenhang. Ebenso untersuchenswert ist die zunehmende Literarisierung der Gerichtsberichterstattung in Gerichtsreportagen (beispielsweise bei Sling) oder Gerichtsfeuilletons. Vor allem im Bereich der Literaturen ‘avantgardistischer’ Eliten (Naturalisten und Expressionisten) ergibt sich nach 1880 ein intensiver Austausch zwischen den Sozialsystemen ‘Literatur’ und ‘Rechtspraxis’. Literarische Darstellungen werden als Quellen für kriminologisches Wissen interpretiert, literarische Deutungen von Kriminalität flankieren die Grundsatzdebatten in der Strafrechtsdiskussion: Literatur vermittelt Rechtskritik. F. v. Liszts Diktum vom Verbrechen als sozialer Erscheinung und der Strafe als sozialer Notwendigkeit hat in diesem Bereich des literarischen Handelns besonderes Gewicht. Hier nutzen Autoren kritisch ihre Doppelkompetenz als Jurist und Literat. In der populären literarischen Darstellung von Kriminalität ist die integrierende Verbindung von Information und Unterhaltung erheblich eingeschränkt. Funktionen der kompensierenden Lektüre und der sozialen Disziplinierung rücken in den Vordergrund. Im pointierten Gegensatz dazu stehen literarische Darstellungen von Kriminalität und Strafrechtspflege, die unter den Aspekten von Gesellschaftskritik und provokativer Verarbeitung neuen Wissens sich der literarischen Innovation verschreiben. Sowohl in der realitätsfernen Sensations- und Unterhaltungsliteratur als auch in der Literatur der kritischen Elite wird trotz unterschiedlicher Ausgangspositionen die literarische Legitimation staatlicher Autorität in der Strafrechtspflege gleichermaßen relativiert.
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In grober Schematisierung wäre eine Konstellation zu fixieren, die sich als Ergebnis im Prozeß der Ausdifferenzierung des Genres ergibt und – mit Einschränkungen – bis heute bestimmend ist. Im Teilsystem der literarischen Eliten wird der Gegenstand ‘Verbrechen und Verbrechensbekämpfung’ nur in der kontextbezogenen Darstellung (Typ 5) akzeptiert – in der Rekonstruktion einer ‘inneren Geschichte’ der kriminellen Karriere und verbrecherischen Handlung sowie (bzw. oder) in der Reflexion der moralischen und sozialen Normen, die Devianz festlegen und so die Vorgänge der Kriminalisierung, der Bestrafung und Resozialisierung bestimmen. Literatur- und Rechtssystem sind in den kognitiven und normen-reflexiven Funktionen der Literatur aufeinander bezogen. Im Kommunikationsraum mit vorherrschendem Interesse an Unterhaltung und Belehrung werden die bis heute produktiven Muster der Fall- und Prozeßgeschichten und die Varianten des Typs 6 (Täterjagd und Detektion) bevorzugt. Sie erheben den Anspruch, an der aktuellen Realität von Polizeiarbeit und Gerichtspraxis kontrolliert werden zu können. Literatur- und Rechtssystem sind hier über begrenzte Informationsvermittlung verbunden. Vor allem gilt im literarischen Spektrum für Kriminalliteratur das Prinzip der Reizstimulation; die Lektüre bleibt ohne Folgen für die Lebenspraxis des Rezipienten. Diese Funktion dominiert schließlich im dritten und wichtigen Teilsystem, in dem in der Regel der Typ 1 (sensationelle Darstellungen) und entsprechende Varianten des Typ 6 bevorzugt werden. Die Bezüge zur Realität der Rechtspraxis sind sowohl auf der Ebene der kognitiven wie auf der Ebene der reflexiven Funktionen kaum besetzt. Die einzelnen Kommunikationszusammenhänge wären noch genauer zu beschreiben für die Teilhabe der Aktoren an den verschiedenen Verständigungshandlungen in bestimmten Medien und im Blick auf die dort konstruierten Wirklichkeiten von Verbrechen und Verbrechensbekämpfung (beispielsweise in Fachliteratur, Tagespresse, Magazinen, Buch, Romanheft). Die Notwendigkeit solcher weiterführenden Beschreibungen verweist wiederum auf die Vorläufigkeit dieser Skizze.
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Kriminalität und Devianz in den „Berliner Abendblättern“ Heinrich v. Kleist hat in seine Texte, die der ‘schönen Literatur’ zugerechnet werden, in vielfältiger Weise Erscheinungsformen des ‘abweichenden Verhaltens’ einbezogen – er stützt sich dabei ebenso auf historische wie auf aktuelle Quellen und gestaltet Verhaltensweisen, Ereignisse und Geschichten aus einer Imagination, die sich in der Darstellung von ‘Devianz’ auf besonders produktive Weise entzündet. Wie aber geht Kleist vor, wenn er sich als ‘Berichterstatter’ zum Alltagsgeschehen in Berlin an das Aktenmaterial von täglichen „Polizei-Rapporten“ und an die Informationsbedürfnisse der Abonnenten seiner „Berliner Abendblätter“ (BA) bindet? Welchen Ort nimmt sein ‘journalistischer Umgang’ mit Verbrechen und Vergehen im Spektrum der (vorzugsweise literarischen) Publikationen ein, die um 1800 diesem Themenbereich gelten? Wie sind in den „Berliner Abendblättern“ die Grenzen zwischen ‘Faktum’ und ‘Fiktion’ gezogen,1 die für das Thema ‘Kriminalität’ in den Texten dieses Zeitraums mit vielen Versuchen zur terminologischen Markierung und zu Vorgaben für die Organisation der Darstellung angelegt und zugleich wiederholt in Frage gestellt werden? Um Antworten auf diese Fragen zu finden, sollen in den beiden ersten Teilen meines Beitrags zunächst Typen der Wahrnehmung und Darstellung von Kriminalität (als einem exemplarischen Muster des ‘abweichenden Verhaltens’) im Schrifttum um 1800 und in der besonderen Konstellation der „Berliner Abendblätter“ kurz beschrieben werden.2 Im ausführlichen dritten Teil skizziere ich eine typologisierende Bilanz zur Organisation und Funktion der Berichterstattung zu Kriminalität und Devianz in den „Berliner Abendblättern“.
1 2
Vgl. dazu Peters: „Berliner Abendblätter“. Vgl. dazu Schönert: Kriminalgeschichten (1815–1830). Fragen zum Stellenwert von ‘Devianz’ im literarischen Werk Kleists klammere ich aus; ebenso das Problem, wie der ‘Abweichungseffekt’ der „Berliner Abendblätter“ im Vergleich zu den anderen Zeitungen Berlins oder zu den zeitgenössischen Zeitschriften und Sammlungen (den „Magazinen“ und „Museen“) zu beschreiben wäre.
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Wahrnehmung und Darstellung von Kriminalität im Schrifttum um 1800 In der strafrechtlichen Praxis war Kriminalität seit jeher das Ergebnis von Texten – das Produkt von entsprechenden Zuschreibungen in Steckbriefen, Polizeiberichten, Verhörprotokollen, Relationen, von schriftlichen Plädoyers und von Urteilen, die in Schriftform ergehen.3 Diese Textualität des Erfahrungszusammenhangs von Kriminalität wird in einem Fachbegriff verdeutlicht, dem in den kriminologischen Diskussionen der letzten 30 Jahre eine wichtige Rolle zukommt. Es ist der Begriff ‘Zuschreibung’: Verbrechen und Schuld werden von den Institutionen der Strafrechtspflege und ihren Akteuren einzelnen Personen zugeschrieben; sie werden mit deren Existenz durch Schreibakte, durch Textualisierungen von Ereignissen und Handlungsfolgen verbunden. Die Vermittlung solcher Zuschreibungen in eine Öffentlichkeit, die über die Rechtsinstitutionen hinausreicht, vollzog sich bis in das frühe 19. Jahrhundert im ritualisierten Geschehen des Straftheaters. Aber auch diese Aktionen zur Demonstration der Strafmacht staatlicher und kirchlicher Instanzen (mit dem Ziel, die staatliche Ordnung aufrechtzuerhalten) waren begleitet von Texten: der sog. Schafott-Literatur und den nachfolgenden Bänkelliedern und Moritaten, den Schuldbekenntnissen der Delinquenten, den Berichten über ihr Ende und die ihm vorausgegangene ‘kriminellen Karriere’ oder den Darstellungen zum Bandenwesen.4 Im Zuge der Strafrechtsreformen, die im ausgehenden 18. Jahrhundert einsetzten, und im Zusammenwirken mit der sog. Ersten LeseRevolution im letzten Drittel des Jahrhunderts werden die öffentlichen Aktionen des Straftheaters eingeschränkt und die Textualisierungen des strafrechtlichen Geschehens ausgeweitet.5 Verbrechens- und Prozeßberichte in den Zeitungen, kommentierte Veröffentlichungen von Strafprozeßakten, Fallgeschichten für Experten und Laien nach dem Muster des „Pitaval“6 oder der „Merkwürdigen Criminal-Rechtsfälle“ von Feuerbach (1808–1811 erschienen), die neu entstehenden Genres der Kriminalgeschichten,7 die auf ‘Authen3 4 5 6 7
Vgl. Schönert: Erzählte Kriminalität, S. 11–20; Scheerer: Vorwort. Dazu Arnold: Wicked Lives; Lüsebrink: Kriminalität und Literatur; Lüsebrink: Brigantenliteratur; Dainat: Abaellino. Vgl. für Frankreich Lüsebrink: Kriminalität und Literatur; für England Drexel: Detektivroman, insbes. S. 79–83; für den deutschen Territorialbereich Dainat: Abaellino, insbes. S. 147–195. Auch Pfister mit seinen „Aktenmäßigen Geschichten der Räuberbanden“ (1812) wendet sich an Experten und Laien zugleich – vgl. Schönert: Kriminalgeschichten (1815–1830), S. 152, Fn. 11. Vgl. Schönert: Kriminalgeschichten (1815–1830), S. 154, Fn. 15.
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tizität’ setzen, und die Räuberromane, die durch Abenteuer und Sensationen bestimmt sind – alle diese Texttypen und Genres bilden die ‘Textwelt’ für Verbrechen und Devianz,8 in der sich Grenzen zwischen ‘fiction’ und ‘nonfiction’ nur schwer ziehen lassen. Zwischen authentischem Bericht und Aktenmäßigkeit auf der einen Seite sowie erfindungsreicher Fortschreibung des Authentischen und phantasievoller Weiterverarbeitung von bereits vorliegenden Texten, Stoffen und Motiv-Traditionen auf der anderen Seite entfaltet sich ein breites Spektrum von Texten,9 die den Wahrnehmungs- und Deutungszusammenhang ‘Kriminalität’ öffentlich gestalten und vermitteln. Genau dieser Befund kennzeichnet auch die „Berliner Abendblätter“. In der Regel sind um 1800 die Publikationen zu Kriminalität den einzelnen Sektoren der umrissenen Textwelt zuzuordnen, wobei auch innerhalb der vielen Sammelwerke – wie in den zahlreichen „Museen“ und „Magazinen“10 – die Unterscheidungen zwischen ‘fiction’ und ‘non-fiction’ nicht markiert werden. Ein signifikantes Beispiel bietet v. Endters „Sammlung merkwürdiger Rechtsfälle aus dem Gebiet des peinlichen Rechts. Ein Lesebuch für Juristen und Nichtjuristen“, 1794 in Nürnberg veröffentlicht. Endter eröffnet die Sammlung mit Schillers „Verbrecher aus Infamie“; er stellt die Erzählung neben die Bearbeitung von Gerichtsakten und nimmt zudem Kriminalgeschichten von Meißner und Müchler auf.11 Charakteristisch für einen Großteil der hier angesprochenen Texte ist, daß sie die Darstellung des Verbrechens (als eines punktuellen Geschehens) mit dem Bericht über die vorausliegende oder die nachfolgende Phase (oder mit beiden Phasen) verbinden.12 Zu ergründen und darzustellen war, wie und warum es zur Abweichung von der ‘Normalität’ und zur Untat kam. Zum anderen war darzulegen, wie die kriminelle Störung der Ordnung einem Individuum, dem Täter oder der Täterin, zugerechnet werden konnte und wie im ‘gerechten Ausgleich’ zwischen Schuld und Strafe die Ordnung wiederherzustellen war. Für diesen Ausgleich konnten in den Textualisierungen solcher Handlungszusammenhänge der reuige Täter selbst (mit Geständnis und Annahme der Strafe) oder der Zufall oder die metaphysische Instanz des Schicksals sorgen. Die ‘Ordnungen’ vermittelnden Diskurse für Darstellungen der Phase, die dem 8 9 10 11 12
Vgl. ebd. das Schaubild S. 151 und die Aufstellung S. 152. Dazu die Sammlungen von Dainat: Kriminalgeschichten; Linder: Kriminalgeschichten. Vgl. Schönert: Kriminalgeschichten (1815–1830), S. 154, Fn. 15; vgl. zum „Magazin zur Erfahrungsseelenkunde“ Dainat: Der unglückliche Mörder. Vgl. zu Müchler Schönert: Kriminalgeschichten (1815–1830), S. 156. Vgl. Schönert: Kriminalgeschichten (1815–1830), S. 147.
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Verbrechen vorauslag, werden insbesondere im Bereich der Moralphilosophie, der Anthropologie und der Erfahrungsseelenkunde ausgebildet; für die Phase, die dem Verbrechen folgte, ist die populärwissenschaftliche Rechtsliteratur (mit Pitaval-Erzählungen und Fallgeschichten) zuständig.
Kriminalität und Devianz in den „Berliner Abendblättern“ In den „Berliner Abendblättern“ sind die Polizei-Mitteilungen und viele weitere Texte, die sich auf Kriminalität beziehen, dadurch gekennzeichnet, daß sie sich auf das Faktum der Tat beschränken. Dabei vermittelt die Auswertung der amtlichen Berliner Polizei-Rapporte, die Kleist in Auszügen vorlagen, Kriminalität in ‘professioneller’ Weise; sie orientieren das Erzählen am ‘Tatbestand’. Dagegen werden in den „Berliner Abendblättern“ die kurzen Erzählungen und Anekdoten zu Kriminalität und Devianz am Leser-Interesse für das Merkwürdige, Überraschende, Unerhörte und Außerordentliche ausgerichtet.13 In diesem Bereich wird nur im eingeschränkten Maße der Wahrnehmungs- und Deutungskompetenz von Moralphilosophie, Anthropologie und Erfahrungsseelenkunde zugearbeitet und noch weniger dem Wissen über Polizei-Arbeit und Strafrechtspflege. Vor allem auf spektakuläre Aktionen (und die dadurch ausgelösten Affekte) beziehen sich – so erscheint es mir – diese Texttypen der Darstellung von Kriminalität. Ein solches (in den „Berliner Abendblättern“ weithin geltendes Interesse) an der Performanz des Geschehens kennzeichnet Kleists ‘journalistischen Blick’ auf Kriminalität.14 In den Erklärungen des Redakteurs zu den Mitteilungen aus den PolizeiRapporten wird auf die Leitbegriffe in der zeitgenössischen Unterscheidung von Diskursen im Sinne des Authentischen und Abenteuerlichen rekurriert. „Merkwürdiges und Interessantes“ (also nicht Sensationelles und Abenteuerliches)15 solle ‘ausführlich und glaubwürdig’ (vgl. BA I, S. 5) und zugleich ‘unterhaltend’ (vgl. BA I, S. 18) vermittelt werden.16 Dem Gerücht und der sensationell aufgebauschten Information werde durch aktuelle und authentische Berichte begegnet – durch Berichte, die ihre Authentizität aus der Nähe des Textes zum professionellen Handeln in der Bekämpfung des Verbrechens herleiten (vgl. BA I, S. 18). Dadurch war den Bürgern Berlins zu vermitteln, 13 14 15 16
Vgl. ebd., S. 160. Vgl. für diese Konstellation Peters: „Berliner Abendblätter“. Vgl. zur Antithetik Schönert: Kriminalgeschichten (1815–1830), S. 159. Ich zitiere im fortlaufenden Text (mit Sigle ‘BA’ und Seitenzahlen in Klammern) die Faksimile-Ausgabe, die Helmut Sembner besorgt hat.
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daß ihre Sicherheit gerade wegen der Risiken des Lebens in einer sich modernisierenden Großstadt den Behörden als schutzwürdig gilt; darüber hinaus sollten sie durch gezielte Informationen und Erweiterungen ihres Wissens über Verbrechen und Verbrechensbekämpfung selbst dazu beitragen, Verbrechen zu verhindern oder zu verfolgen (vgl. BA I, S. 18). Diese Funktionen gelten jedoch nur für den Textbereich der Polizei-Rapporte. Sie rechtfertigen, daß die Berichte der Polizei-Verwaltung Berlins an ‘die Regierung der königlichen Majestät’ in den „Berliner Abendblättern“ veröffentlicht werden – wenn auch nur in Auszügen und unter besonderen Perspektiven ihrer öffentlichen und insbesondere sozialpolitischen Wirksamkeit. Die Berliner Polizei erscheint im Lichte der veröffentlichen Auszüge aus den Rapporten nicht als Überwachungs- und Kontrollorgan für die Bürger der Stadt, sondern (‘neudeutsch’ formuliert) als Kompagnon einer ‘Sicherheitspartnerschaft’ zugunsten des Gemeinwohls.17 Für eine genauere Beschreibung der Auswahlstrategien wären die jeweiligen Auszüge in den „Berliner Abendblätter“ mit den noch erhaltenen vollständigen Rapporten der Tages- und Wochenberichte zu vergleichen; zudem wäre eine Text- und Funktionen-Analyse für die Gesamtheit der Polizei-Rapporte zu leisten und ihre Rolle in der Polizeigeschichte Preußens und der deutschsprachigen Staaten zu bestimmen; auch ein Vergleich mit den Berichten anderer Polizei-Präsidien wäre – so weit ich es sehen kann – noch auszuführen. Erst vor diesem Hintergrund lassen sich die Auswahlentscheidungen für die „Berliner Abendblätter“ genauer erörtern – sowohl in Hinsicht auf die Auswahl, die der Polizeipräsident v. Gruner bei der Weitergabe an die „Berliner Abendblätter“ trifft, als auch im Blick auf die Bearbeitung, die Kleist bei den erhaltenen Texten vornimmt. Eine weitere Perspektive ließe sich eröffnen, wenn man das häufigere Verfahren der Freigabe und Bearbeitung von Prozeß-Akten für Veröffentlichungen nach dem Texttyp der „Kriminalfälle“ vergleichend untersuchte. Gegenüber dem Umgang mit den Gerichtsakten ergibt sich für die Darstellung von Kriminalität in den Polizei-Mitteilungen vielfach eine wichtige Differenz: Im Gegensatz zum abgeschlossenen Kriminalfall sind die fortlaufenden Polizeiberichte durch die ‘offene Situation’ gekennzeichnet – durch Kontingenz gegenüber der Struktur, die durch die juristisch geregelte Bearbeitung der ‘relationes’ entsteht; es dominieren gleichsam die Signifikanten gegenüber den Signifikaten, die Ereignisse gegenüber der (sinnbesetzten) Organisation einer Fallgeschichte. Die Leser der „Berliner Abendblätter“ werden – auch durch 17
Vgl. BA I, S. 285: „Gemeinwohl und öffentliche Sicherheit“ als Zielsetzung. – Auch in den Buchpublikationen zu Kriminalität in diesem Zeitraum findet sich kaum Kritik an Polizei und Justiz – vgl. Schönert: Kriminalgeschichten (1815–1830), S. 154, Fn. 17.
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ihre räumliche und zeitliche Nähe zum Geschehen – zu ‘gleichberechtigten Mitspielern’ im Wahrnehmen und Bewerten der Devianz.18
Strategien zur Bearbeitung der Polizei-Rapporte in den „Berliner Abendblättern“ Auf die Polizei-Rapporte der „Berliner Abendblätter“ konzentriere ich mich nun im ausführlicheren Teil meines Beitrags. Zunächst kurz zur Konzeption der regelmäßigen Berichte des Polizei-Präsidiums.19 Sie sind unterzeichnet vom Polizeipräsidenten,20 der sich auf die Protokolle und Auskünfte seiner Mitarbeiter stützte. Zu unterscheiden sind die Tagesberichte und die zusammenfassenden Wochenberichte. Die täglichen Protokolle haben im wesentlichen folgende Rubriken: Unglücksfälle – Verbrechen – Exzesse – Arrestanten – Getreide- und Marktverkehr (dabei werden insbesondere die verwendeten Maße und Gewichte überprüft, zudem Produkte – vor allem Brote – nachgewogen) – Notifikation der Reisenden, die in Berlin ankommen oder Berlin verlassen, ferner die abschließende Rubrik „Besonders zu vermerken“. Nicht alle diese Rubriken sind in jedem Tagesbericht ausgeführt. In den Forschungen zu den „Berliner Abendblättern“ gilt, daß Kleist die Protokolle nur in Auszügen erhielt, daß also die Behörde die Menge und Art der Informationen, die zu veröffentlich waren, steuern konnte (so findet sich auch bei der Durchsicht der noch erhaltenen Rapporte manches Material, das Kleist wohl gerne genutzt hätte). Das mehrfach bemerkte Banalisieren und schließliche Versiegen der polizeilichen Informationen im Verlauf der kurzen Geschichte der „Berliner Abendblätter“21 äußert sich darin, daß mehr und mehr die Meldungen zu Unglücksfällen, Bränden (aber nicht zu Brandstiftungen), zu Vagabondage, Diebstählen und betrügerischer Marktpraxis (zu falschen Maßen und unzureichendem Gewicht) dominieren, also nur der Alltag von Unglücksfällen und Kleinkriminalität sichtbar wird. Im Polizeipräsidium werden die Tagesberichte dann zu wöchentlichen Rapporten zu18 19
20 21
Dazu Marquardt: Zeitungsleser. Ich danke Roland Reuß und Peter Staengle, die mir ihre Transkriptionen der PolizeiRapporte zur Verfügung stellten. Für den Zeitraum der „Berliner Abendblätter“ sind die Rapporte vom 1.09. bis 31.12.1810 erhalten; vgl. nun: Brandenburger Kleist-Blätter 11 (1997), S. 41–353. Justus v. Gruner, 1777–1820, seit 1809 Polizeipräsident von Berlin, trat 1811 als Geheimer Staatsrat an die Spitze der Höheren Polizei Preußens und nahm 1812 seinen Abschied aus dem Polizeidienst. Vgl. zum Forschungsstand den Kommentar von Müller-Salget in Bd. 3 der KleistAusgabe des Deutschen Klassiker Verlags (1990), hier S. 1093.
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sammengefaßt, bearbeitet und ergänzt. Dort finden sich folgende Rubriken: (I) Witterungsberichte – (II) Wasserstände der Spree – (III) Bevölkerungsstatistik (Geburten / Sterbefälle und Aussagen zum Gesundheitszustand der Bevölkerung) – (IV) „Feuers Gefahr“ (Brände) – (V) Verbrechen – (VI) Exzesse – (VII) Arrestanten – (VIII) Getreide- und Lebensmittelpreise – (IX) „Schauspiel“ (Vorkommnisse bei öffentlichen Theateraufführungen) – (X) Reisende (Zu- und Abgänge in Berlin) – (XI) Staatspapiere / Anleihen – (XII) Besondere Ereignisse. Wie Kleist bei seiner Redaktion der Texte und weiteren Bearbeitungen im einzelnen vorging, hat Roland Reuß 1997 dargestellt. Hier sei nur eine generalisierende Beschreibung dem Erörtern einzelner Textgruppen und Textfolgen vorausgeschickt. Am Wortlaut der Behörden-Texte ändert Kleist in der Regel nur wenig. Deshalb sollte besondere Aufmerksamkeit der Auswahl aus den vorgelegten Texten und dem Arrangement der Berichte gelten. In diesem Sinne konzentriere ich meine Ausführungen auf Beispiele zur Verknüpfung von Meldungen und Erzählungen sowie auf den Verweisungzusammenhang von Themen und Motiven (in Quer-, Voraus- und Rückverweisen).22 Zunächst komme ich zum Arrangement des Brandstiftungsfalles, zu dem erste Berichte im Extrablatt zur Nr. 1 der „Berliner Abendblätter“ gebracht werden. Kleist dramatisiert das Geschehen im Verlauf der Fortsetzungen als „Mordbrennerei“ (BA I, S. 26), doch ist von Mord und Totschlag von Menschen nicht die Rede. Die Brände wurden gelegt, um die Situation der Löscharbeiten für Diebstähle auszunutzen; hierauf konzentrierte sich das gut organisierte Zusammenspiel der Bande. In der Nummernfolge der „Berliner Abendblätter“ werden die Informationen in der Weise mitgeteilt, daß sich der Verbrechens- und Bedrohungszusammenhang ‘organisierte Brandstiftung’ erst nach und nach erweist. Die Neugier und die Beunruhigung der Leser werden durch die ‘zerstreuten’ Meldungen gleichsam an unterschiedlichen Stellen des öffentlichen Interesses angezündet, bis dann – durch diese ‘(Informations-)Brandstifterei’ – alles in einem ‘großen Feuer’ von Verunsicherung und Angst ‘in Flammen steht’. Weniger bildlich gesprochen und mit den Kategorien des Dramas formuliert: Die Spannung wird in drei Schritten der Information so aufgebaut, daß sich die Informationsvergabe gleichsam in ‘drei Aufzüge’ gliedern läßt. (I) Am 1. Oktober 1810 wird auf Ereignisse der vorausgegangenen Tage zurückgeblickt: Brand in Steglitz am 28. September, Brand in der Dresdener Straße am 29. September, Brände im Dorf Alt-Schönberg am 30. September; 22
Solche ‘Vernetzungen’ im Gesamttext der „Berliner Abendblätter“ sind ein Beispiel für die vielfachen Verweisungen, die herausgestellt wurden in Rohrwasser: Bombenpost.
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erst die letzte Information wird mit der Vermutung ‘Brandstiftung’ abgeschlossen. Damit ist der Informationsstand des Erscheinungstages erreicht – in der räumlichen und zeitlichen Nähe zum Berichteten. Das kriminelle Geschehen und seine ‘Textualisierung’ sind nahezu synchronisiert: In der zurückliegenden Nacht habe es noch zwei Male gebrannt – innerhalb der Stadt Berlin (in der neuen Königstraße) und außerhalb („angeblich“, wie es heißt, in Friedrichsfelde). Und dann folgt – aus Gruners Rapport übernommen – die dramatische Zuspitzung: Bei der Niederschrift des Tagesberichts um 10 Uhr brenne „in diesem Augenblick“ in Lichtenberg ein Bauernhof (BA I, S. 6). Dazu tritt die weitere Information, daß außerhalb der Zuständigkeit der Berliner Polizei, aber im Blickfeld der Wachhabenden auf den Stadttürmen, drei Brände in verschiedenen Gegenden gesichtet worden seien. In die beunruhigende Wirkung dieser Berichte wird – schon von Gruner – zugleich die beschwichtigende Meldung von ersten Erfolgen der Polizei-Arbeit einbezogen. Wie sich der Polizeipräsident mit Hinweis auf die Effizienz der Institution an seinen Dienstherrn und König wendet, so dämpft auch Kleist als Redakteur mit einem Klammerzusatz zum behördlichen Text die Beunruhigung seiner Leserschaft: Sobald die Redaktion von der Polizei unterrichtet würde, daß man den Brandstiftern auf der Spur sei, werde die Nachricht an die Leser weitergegeben.23 (II) Im ‘2. Akt’ des Feuer-Dramas, im Polizei-Rapport vom 2. Oktober 1810, wird der Verdacht auf Brandstiftung erhärtet, werden erste Indizien für das Vorgehen der Brandstifter präsentiert. Beruhigend wirkt, daß durch die Mitarbeit der Bürger Berlins (beim Entdecken eines leicht entzündlichen Präparats) ein weiterer Brand an der Ecke Junker- und Lindenstraße verhindert wurde. (III) Der ‘3. Akt’ der Informationspolitik der „Berliner Abendblätter“ vom 3. Oktober 1810 steigert die Bedrohung für die Bürger Berlins und reduziert zugleich die Beunruhigung durch den Hinweis auf die effektive Arbeit der Polizei. Nach einem aufgefundenen Brief sollte Berlin binnen kurzem an acht Stellen der Stadt angezündet werden. Doch wird dadurch die Wachsamkeit der Polizei nur noch mehr herausgefordert – und die Festnahme, die bereits zwei Tage zuvor (am 1. Oktober) gemeldet worden war, verspricht in der Untersuchung gegen den Verdächtigen Erkenntnisse, die zur Beruhigung ‘des Publicums’ führen können (vgl. BA I, S. 14). Diesem dreiaktigen Informationen-Drama mit Spiel und Gegenspiel, Beunruhigung und Beschwichtigung, folgt nun ein dreigliedriger ‘Epilog’, bis der Sonntag die tägliche Erscheinungsfolge der „Berliner Abendblätter“ unter23
Vgl. für den Zusammenhang von Beunruhigung und Beschwichtigung, von Kriminalfall und erfolgreicher Aktion der Polizei auch BA I, S. 74 u. 78.
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bricht. Am 4. Oktober 1810 wird die kolportierte Äußerung eines Deserteurs – „er sei auf eine Bande Mordbrenner“ gestoßen (BA I, S. 17) – als Erfindung enthüllt; die Erfahrung gesteigerter Bedrohung wird erst einmal suspendiert. Tags darauf, am 5. Oktober 1810, liefern die „Berliner Abendblätter“ unter „Tagesbegebenheiten“ ein Nachspiel zum Brand in Lichtenberg am 1. Oktober: die Nachricht zu einem Diebstahl, der den Transport eines Löschgeräts beeinträchtigte. Der dritte Teil des Epilogs vom 6. Oktober 1810 trägt dann die Züge eines Possenspiels und schließt zugleich, ganz nebenbei, eine wichtige Information ein: Der zuvor mehrmals erwähnte Verhaftete sei wegen Mordbrennerei angeschuldigt und nenne sich Schwarz (sein eigentlicher Name ist freilich – so erfährt man später – Horst). Im Mittelpunkt der Nachricht steht das Gerücht, daß sich dieser Verdächtige in der Haft erhängt habe; ein Schulmeister schlägt vor, den Leichnam des nunmehr ungefährlichen Banditen gegen Geld zur Schau zu stellen, um die Einnahmen den von der Brandstiftung Geschädigten in Schönberg und Steglitz zukommen zu lassen. Mit Beginn der neuen Woche, am 8. Oktober 1810, wird in einem Extrablatt zur Nr. 7 der „Berliner Abendblätter“ unter „Polizeiliche Tages-Mittheilungen“ die vorausgegangene dramatisch vergegenwärtigende Strategie der Information durch die ‘narratio’ eines vieles wissenden Erzählers abgelöst: Er verfügt – wie der Polizeipräsident – über die Informationen zu den Begleitumständen bei der polizeilichen Untersuchung gegen den „Delinquenten Schwarz“ und über die Ergebnisse der Ermittlungen gegen die „Mordbrenner-Bande“ (BA I, S. 30a). Nun wird im Stil der Aufklärung über das Vorgehen von Räuberbanden berichtet – so wie in den zahlreichen Veröffentlichungen um 1800 (man denke an Abels Bericht über Friedrich Schwan und seine Komplicen von 1787, an die Veröffentlichungen zum Schinderhannes-Prozeß im „Frankfurter StaatsRistretto“ 1802 oder an Pfisters „Aktenmäßige Geschichten der Räuberbanden“ von 1812). Die Gefährlichkeit der wohlorganisierten Brandstifter- und Räuberbanden wird nachdrücklich herausgestellt, doch gilt mit dem Ergreifen des angeblichen Schwarz ihre Aktivität als gebrochen – zumal auch die Arbeit der Polizei immer mehr Erfolge bringt. In einem Klammerzusatz zu diesem umfassenden Bericht kündigt Kleist weitere Informationen an zu der „Rotte“ der Brandstifter, Diebe und Gewalttäter (BA I, S. 30b), doch hat er solche publikumswirksamen Mitteilungen von Gruner wohl nicht mehr erhalten.24 Die dichte Vernetzung der Nachrichten zur 24
Die zweifache Erwähnung des Geh. Commerzienrates Paul in Zusammenhang mit der Geschichte vom tollen Hund (BA I, S. 33 f.) soll zu Interventionen des Genannten bei
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Brandstiftung in und um Berlin wird aufgelöst; es folgen nur noch versprengte Informationen – zumeist ohne die Autorität der Polizei-Rapporte. Der erste Nachtrag bezieht sich am Folgetag, dem 9. Oktober 1810, unter der Rubrik „Stadt-Gerücht“ auf die Räuberbraut Louise – auf eine der abenteuerlichen Frauenfiguren, die in den Berichten zu den Banden von Schwan bis Schinderhannes eine besondere Rolle spielten. Es handelt sich um Christine Delitz, die 1813 mit Horst (alias Schwarz) in Berlin auf den Scheiterhaufen hingerichtet wurde. Am 15. Oktober 1810 ist nun nicht mehr vom Brandstifter Schwarz, sondern von Horst die Rede, der einen Verdächtigen nicht als Mitglied seiner Bande erkannte. Am 20. Oktober 1810 erfahren die Leser der „Berliner Abendblätter“, daß Mitarbeiter der Berliner Polizei außerhalb der Stadt ermitteln und einen „mutmaßlichen Komplicen“ von Horst samt seiner Geliebten nach Berlin haben transportieren lassen (BA I, S. 74). Die folgende Ausgabe vom 22. Oktober 1810 bestätigt den Verdacht: Horst habe den Mann identifiziert. Am 27. Oktober 1810 wird unter „Miscellen“ noch einmal auf vermutliche Brandstiftungen und neue Aktivitäten von Brandstiftern hingewiesen (vgl. BA I, S. 98). Mit diesen verstreuten Meldungen reißt die Berichterstattung zur sog. Mordbrenner-Bande ab,25 daran wird erst unter verändertem Vorzeichen im zweiten Quartal der „Berliner Abendblätter“ wieder angeknüpft (vgl. BA II, S. 23 f.): in der kurzen Erzählung zu einem Kriminalfall, der weit weniger Aktualität und räumliche Nähe beanspruchen kann und vom ‘guten Ende’ her geordnet ist. Am Kriminalgericht Rouen wurde 1808 die Todesstrafe gegen einen Mann verhängt, der sich – so die Überschrift – „unerhörter Mordbrennerei“ schuldig gemacht hatte und Brände mit einer selbst erfundenen Zündmaschine legte. Der Sonderfall ‘Bedrohung durch organisierte Brandstiftung’ wird im Fortgang der „Berliner Abendblätter“ ersetzt durch die alltäglichen Bedrohungen der Kleinkriminalität und der Betrügereien im Warenverkehr;26 Diebstahl und
25 26
Gruner und zur Drosselung der spektakulären Informationen geführt haben – vgl. den Kommentar von Müller-Salget in Bd. 3 der Kleist-Ausgabe des Deutschen Klassiker Verlags (1990), hier S. 1093. Doch bleibt das Thema unterschiedlicher Brandstiftungen durchaus präsent in den erzählenden Texten der „Berliner Abendblätter“, vgl. u.a. „Das Bettelweib von Locarno“ (BA I, S. 39–42). Die regelmäßige Rubrik der amtlichen Polizei-Rapporte zu „Exzessen“, d.h. zu Schlägereien und anderen Gewalttätigkeiten, zu unsittlichem Betragen und Prostitution, wird mit ihren Informationen wohl deshalb nicht an Kleist weitergegeben, weil den „Exzessen“ weniger als der Kriminalität durch gezielte Maßnahmen der Polizei zu begegnen war.
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Gaunerei erscheinen dabei als charakteristische Delikte für die Angehörigen der Unterschichten, insbesondere die Dienstboten. Eine zeitspezifische Bedrohung der persönlichen Sicherheit und körperlichen Unversehrtheit haben wohl die Ausweitung und Beschleunigung des Kutschenverkehrs in Berlin dargestellt. Hierzu hat Kleist offenkundig die Informationen aus den amtlichen Mitteilungen erhalten. Opfer der Unfälle, die durch Unachtsamkeit oder zu schnelles Fahren verursacht wurden, sind Erwachsene ebenso wie Kinder. Dabei bewähren sich – so wird durch die Berichterstattung nahegelegt – die Aufmerksamkeit und Hilfeleistung der Berliner Bürger für die Opfer solcher Verkehrsunfälle, die – wie ein Jahrhundert später die Auto-Unfälle – als Tribut an die Modernisierung des Verkehrswesens anzusehen sind. Herausgehoben wird, wenn Ärzte oder Soldaten, die zufällig am Unfallort anwesend waren, die Unfallopfer versorgen oder ihnen beistehen. Solche Handlungen, die aus der Sicht der Polizei als beispielhaft gelten, stellt Kleist jedoch mit ironischer Erweiterung einer Unfall-Nachricht in Frage. In der 7. Ausgabe der „Berliner Abendblätter“ vom 8. Oktober 1810 wird berichtet, daß ein Arbeitsmann, dessen Name noch nicht „angezeigt ist“ (BA I, S. 30), von dem Kutscher eines Mediziners, des Professors Grapengießer, überfahren wurde, doch bestehe keine Lebensgefahr. Zum Ende der Woche, im Blatt vom 13. Oktober 1810, wird dann der Name des Unfallopfers – Beyer heißt der Überfahrene – genannt und von seiner Untersuchung in der Charité berichtet. Der Verfasser des Textes („Charité-Vorfall“, BA I, S. 49) habe – so wird erklärt – daran selbst teilgenommen. Dabei habe sich ergeben, daß der Arbeitsmann innerhalb von 14 Jahren bereits zum vierten Mal von der Kutsche eines Mediziners überfahren und verstümmelt wurde. Der körperliche Zustand des mehrfachen Unfallopfers wird in einem grotesken Erscheinungsbild beschrieben, und seine Erzählungen von der wiederholten Verstümmelung durch Mediziner-Kutschen lassen ob ihrer Spaßhaftigkeit sogar die todkranken Mit-Patienten lachen. Mit einer Pointe schließt „der Berichterstatter“: Der Zustand des Überfahrenen bessere sich durch die medizinische Versorgung in der Charité, und wenn Beyer sich auf den Straßen Berlins vor den Doktoren in acht nehme, könne er noch lange leben.27 Was in diesem Weiterführen der polizeilichen Nachricht als Strategie der Komisierung charakterisiert werden kann, hat in der Anordnung des vielfach heterogenen Materials der Polizei-Mitteilungen ein Gegenstück. Erst aus der Erfahrung mit dem Reihungsstil und der Simultanperspektive expressionistischer Großstadt-Lyrik im Stil von Alfred Lichtenstein oder Jakob van Hoddis 27
Die ironisch pointierte und wohl frei erfundene Erzählung wird Kleist zugeschrieben.
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wird der grotesk-komische Zusammenhang deutlich. Die „Polizeilichen Tagesmitteilungen“ vom 18. Oktober 1810 mögen als Beispiel dienen:28 Ein Kaufmanns-Lehrling hat sich, nachdem er auf den Namen seines Prinzipals in einem anderen Comtoir 100 Thlr. aufgenommen, heimlich aus dessen Dienst entfernt. Eine Tagelöhnerfrau hat bei einer Wittwe durch Eröffnung eines VorhängeSchlosses verschiedene Wäsche gestohlen. Auf dem Neuen Markt ist einem fremden Obsthändler ein abgenutztes Gemäß zernichtet, und ein ungestempeltes mit Einbeziehung der gesetzlichen Strafe von 2 Thlr. in Beschlag genommen. Ein Weinhändler ist gestern früh in seinem Keller erhenkt gefunden. (BA I, S. 66).
Etwa so ließe sich Kleists Polizei-Rapport im Simultanstil ‘expressionistisch verfremden’: Berliner Oktober Ein junger Mensch betrügt mit List den reichen Herrn, die Frau des Arbeitsmanns zieht Linnen aus erbroch’nem Schrank, der Polizist zerschlägt ein falsches Maß dem Markt, im Keller seines Weins erhenkt sich der Patron.
Kleists ‘Montage’ der vorgefertigten Polizei-Nachrichten erinnert auch deshalb an die Struktur expressionistischer Lyrik, weil nur die Tatbestände festgehalten werden, die persönlichen Umstände und die Motivation der Handelnden jedoch keine Rolle spielen; hierfür ist nicht die Polizei, sondern das Gericht zuständig. Lediglich bei den wiederholt berichteten Selbstmorden wird lakonisch mitgeteilt, was die Ursache solcher ‘Devianz’ gewesen sein könnte (beispielsweise Melancholie und Depression oder finanzielle Not). Nur in wenigen Fällen führt Kleist die berichteten Kriminalfälle weiter bis zur gerichtlichen Verhandlung und Bestrafung, um damit dem Muster der Fallgeschichten zu folgen, die in den Sammlungen für Juristen und Laien seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert ein starkes Publikumsinteresse fanden. Zu solchen Ausnahmen gehört die Meldung über den Ulan, der den Soldaten, der 28
Vgl. auch BA I, S. 26 oder I, S. 86. Kleist entnimmt die Nachrichten den PolizeiRapporten vom 17. und (für die letzte Meldung) vom 18.10.1810; die Namen werden anonymisiert. Über die inhaltliche Heterogenität der Polizei-Rapporte hinaus ist auch die exemplarische Heterogenität der einzelnen Ausgaben der „Berliner Abendblätter“ zu beachten. Sie wird in der Erscheinungsfolge jedoch durch Wiederkehr der Rubriken, Themen, Motive und Personen bzw. Personentypen in ein (wenn auch lose geknüpftes) Netzwerk überführt. – dazu Staengle: „Berliner Abendblätter“, der auf den Unterschied zwischen Wahrnehmungs- und Rezeptionsweisen der zeitgenössischen (Zeitungs-)Leser der „Berliner Abendblätter“ und der literaturwissenschaftlichen Sicht auf die „Berliner Abendblätter“ als ‘Großtext’ hinweist.
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ihn arretieren sollte, durch Schüsse aus seiner Pistole tötete. Der nüchternen Meldung im Extrablatt Nr. 14 der „Berliner Abendblätter“ folgt im 33. Blatt am 7. November 1810 – also drei Wochen später – der dramatische Bericht über den Vorfall in Verbindung mit der Nachricht über die Hinrichtung (vgl. BA I, S. 133 f.). Auf die Anweisung des Königs wurde mit dem Urteil nicht gesäumt und die Tat wider Recht und militärische Ordnung mit dem grausamen Tod auf dem Rad gesühnt.29 Einen anderen Typus der Bearbeitung von Mitteilungen der Polizei-Rapporte stellt die Erweiterung der Meldung zur pointierenden Erzählung der Anekdote dar. Charakteristisch für dieses Verfahren ist die kurze Erzählung, die sich unter der Rubrik „Tagesbegebenheiten“ bereits im 2. Blatt vom 2. Oktober 1810 findet. Der Polizei-Rapport vom 30. September 1810 hatte gemeldet, daß der Arbeitsmann Brietz, der beim Gewitter unter einem Baum Schutz gesucht hatte, von einem Blitz erschlagen wurde. Kleist ergänzt – aus welcher Quelle auch immer informiert –, daß das impertinente Auftreten des Arbeiters gegenüber einem Offizier, dem Captain v. Bürger, jenem das Leben rettete, weil Brietz ihn aus dem Schutz des Baumes, den er sich gewählt hatte, verwies (vgl. BA I, S. 10).30 Solchen pointierten Berichten stehen am Ende des Jahres 1810 „Polizeiliche Tagesmittheilungen“ gegenüber, die sich auf die amtlichen Aufzeichnungen beziehen, indem sie einem Vorfall unverhältnismäßig viel Raum geben (vgl. beispielsweise BA I, S. 198; I, S. 222 – fortgesetzt I, S. 238; I, S. 270). Es handelt sich hierbei um ein bloßes Erweitern der Information, nicht jedoch um eine besondere formale Organisation oder thematische Akzentuierung der Nachricht. Insgesamt gesehen finden sich Kriminalität und Devianz in den unterschiedlichen Rubriken und Zuordnungen von Polizei-Rapport und Polizeilichen Tagesmitteilungen, Tragischen Vorfällen, Tagesbegebenheiten, Gerüchten, Stadt-Gerüchten, Miszellen, Anekdoten, Geschichten und – selten – im „Bulletin öffentlicher Blätter“. Am 25. Januar 1811 erschienen die letzten Veröffentlichungen aus den Mitteilungen der Polizei; sie waren im 2. Quartal der „Berliner Abendblätter“ vom 29
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Vgl. dazu Reuß: Geflügelte Worte. Beim Textvergleich zwischen Vorlage und „Berliner Abendblättern“ zeigt sich, daß Kleist den Soldaten nicht nur ‘in seinem Blute liegen’, sondern darin „schwimmen“ läßt, während er aus dem Text des Polizei-Rapports überraschenderweise nicht übernimmt, was sich so ‘kleistisch’ liest: „und zerschmetterte ihm durch einen zweiten Schuß den ganzen Kopf, daß das Gehirn an die Decke spritzte.“ Vgl. Schuller: Un anedotto; ferner Aretz: Heinrich von Kleist, S. 264 ff. – Ein weiteres Beispiel ist „Böses Gewissen“, BA II, S. 228.
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Ende des Blattes an seine Spitze gerückt. Damit war Kleists Projekt einer Berichterstattung, die sich zeitlich und räumlich nahe zum Berichteten bewegt, war sein Versuch einer ‘modern’-aktuellen Textualisierung des Geschehens von Kriminalität und Devianz gescheitert. Die Darstellung dieser Gegenstände folgt danach ausschließlich den Mustern, die im ausgehenden 18. Jahrhundert entwickelt wurden: in Orientierung am Merkwürdigen und Sensationellen, am Unerhörten und Wunderbaren. Sie bedienen damit Leser-Interessen, die sich noch vor ‘aufklärend-wissensvermittelnden’ Projekten formiert haben, wie es etwa das „Museum des Wundervollen oder Magazin des Außerordentlichen in der Natur, der Kunst und im Menschenleben“ darstellt,31 das Kleist unter anderen Quellenwerken benutzte. Bei der Bearbeitung von Vorlagen aus dem Publikationen, die im 2. Quartal der „Berliner Abendblätter“ hauptsächlich für den Gegenstandsbereich ‘Kriminalität und Devianz’ herangezogen werden, kommt es noch zu bemerkenswerten Entscheidungen und Gestaltungen Kleists – beispielsweise in der kurzen Erzählung zu außergewöhnlicher „Mutterliebe“ (BA II, S. 27), die zu einem ‘Zweikampf’ von Mensch und Tier führt: Eine Mutter, der ein tollwütiger Hund ihre Kinder getötet hatte, rächt sich an dem Tier, indem sie es umklammert und erdrosselt, dabei aber selbst – von den Bissen des Tieres zerfleischt – zusammenbricht und an Tollwut stirbt. Als literarisch-journalistisches Experiment im Vorgriff auf eigene Handlungen ließe sich auch Kleists wiederholtes Interesse an der Darstellung der Selbsttötung zweier Liebender verstehen (vgl. BA I, S. 154 unter „Miscellen“, II, S. 18 unter „Mord aus Liebe“). Andere Bearbeitungen fremder Vorlagen unter den Gesichtspunkten von Merkwürdigem, Unerhörtem und Wunderbarem32 folgen tradierten Organisationsformen – wie etwa „Das weibliche Ungeheuer“ (BA II S. 130–132), „Gaunerstreich“ (BA II, S. 179 f., ferner „Gaunerei“, II, S. 208 u. 212) oder „Räubergeschichte“ (BA II, S. 96). Als weitere Option im Spektrum der publikumswirksamen Genres werden die Gespenstergeschichten bzw. die Erzählungen einer Geistererscheinung genutzt (vgl. beispielsweise BA II, S. 250–252, 259 f. u. 264).33 Zusammenfassend bleibt festzuhalten: Im Sinne versäumter oder vereitelter Möglichkeiten zu einer frühen ‘Modernisierung’ publizistischer Konstruktion von ‘Öffentlichkeit’ im Umgang mit Kriminalität mag man es bedauern, daß 31 32 33
Es wurde 1803–1815 herausgegeben von Johann Adam Bergk und Friedrich Gotthelf Baumgärtner. Vgl. dazu Aretz: Heinrich von Kleist, S. 285. Vgl. zu den Spuk- und Gruselgeschichten ebd. S. 284.
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sich Kleists Projekt der „Berliner Abendblätter“ um 1810 nicht durchzusetzen vermochte. Erst gut dreißig Jahre später (1842 ff.) konnten E. Hitzig und W. Alexis mit ihrem „Neuen Pitaval“ ein ganz anders angelegtes Unternehmen als höchst erfolgreiche Publikation etablieren. Als Ironie des ‘literarischen Schicksals’ kann dabei gelten, daß Hitzig, der sich Ende 1810 mit Kleist wegen der „Berliner Abendblätter“ überworfen hatte, mit einem Konzept des Erzählens von abgeschlossenen Kriminalfällen (vielfach aus zeitlicher und räumlicher Distanz) Erfolg hatte,34 das Kleist mit seinen Vorgaben für die „Berliner Abendblätter“ zunächst verwarf und durch ‘Aktualität’ und ‘Präsenz am Ort des Geschehens’ ersetzte.
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34
Vgl. für die Zusammenarbeit von Kleist und Hitzig Dorsch: Hitzig.
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LÜSEBRINK, Hans-Jürgen: Kriminalität und Literatur im Frankreich des 18. Jahrhunderts. Literarische Formen, soziale Funktionen und Wissenskonstituenten im Zeitalter der Aufklärung. München u. Wien 1983. LÜSEBRINK, Hans-Jürgen: Französische Brigantenliteratur versus deutsche Räuberromantik? Skizze einer Funktionsgeschichte der deutschen und französischen Brigantenliteratur des 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts. In: Jörg Schönert (Hg.): Erzählte Kriminalität. (STSL 27). Tübingen 1991, S. 177–191. MARQUARDT, Jochen: Der mündige Zeitungsleser – Anmerkungen zur Kommunikationsstruktur der „Berliner Abendblätter“. In: Beiträge zur Kleist-Forschung. Frankfurt a.O. 1986, S. 7–36. MUSEUM DES WUNDERVOLLEN oder Magazin des Außerordentlichen. Wiederentdeckt und hg. von Karl Riha. Köln 1984. PETERS, Sibylle: I „Berliner Abendblätter“ come „agencement“: calcolare con il caso. In: Fausto Cercignani u.a. (Hg.): Studia theodisca. Dal giornale al testo poetico. I „Berliner Abendblätter“ di Heinrich von Kleist. Mailand 2001, S. 31–53. REUß, Roland: Geflügelte Worte. Zwei Notizen zur Redaktion und Konstellation von Artikeln der „Berliner Abendblätter“. In: Brandenburger Kleist-Blätter 11 (1997), S. 3–9. ROHRWASSER, Michael: Eine Bombenpost. Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Schreiben. In: Text+Kritik, Sonderheft „H. v. Kleist“. 1983, S. 151– 162. SCHEERER, Sebastian: Vorwort. In: Stefan Andriopoulos: Unfall und Verbrechen. Konfigurationen zwischen juristischem und literarischem Diskurs um 1900. Pfaffenweiler 1996, S. III–V. SCHÖNERT, Jörg (Hg.): Erzählte Kriminalität. Zur Typologie und Funktion von narrativen Darstellungen in Strafrechtspflege, Publizistik und Literatur zwischen 1770 und 1920. (STSL 27). Tübingen 1991, [Auszüge zu S. 11–55 sowie zu S. 497–523; 527– 531 im vorliegenden Band, S. 1–47 sowie S. 155–194]. SCHÖNERT, Jörg: Kriminalgeschichten (1815–1830) im Spektrum von der „aktenmäßigen Darstellung“ bis zur „historisch-romantischen Manier“. In: Rainer Schöwerling u. Hartmut Steinecke (Hg.): Die Fürstliche Bibliothek Corvey. Ihre Bedeutung für eine neue Sicht der Literatur des frühen 19. Jahrhunderts. München 1992, S. 147–162 [im vorliegenden Band, S. 115–131]. SCHULLER, Marianne: Un aneddoto di Kleist pubblicato nel suo giornale. In: Fausto Cercignani u.a. (Hg.): Studia theodisca. Dal giornale al testo poetico. I „Berliner Abendblätter“ di Heinrich von Kleist. Mailand 2001, S. 215–228. STAENGLE, Peter: „Una specie di precursore di giornali“. Sul resoconto politico nei „Berliner Abendblätter“ di Kleist. In: Fausto Cercignani u.a. (Hg.): Studia theodisca. Dal giornale al testo poetico. I „Berliner Abendblätter“ di Heinrich von Kleist. Mailand 2001, S. 55–68. Deutsche Originalfassung von: Criminialità e devianza nei „Berliner Abendblätter“. In: Fausto Cercignani u.a. (Hg.): Studia theodisca. Dal giornale al testo poetico. I „Berliner Abendblätter“ di Heinrich von Kleist. Mailand 2001, S. 13–29.
Kriminalgeschichten (1815–1830) im Spektrum von der „aktenmäßigen Darstellung“ bis zur „historisch-romantischen Manier“ Fragen nach der Organisation des Erzählens über Verbrechen und Verbrechensbekämpfung im frühen 19. Jahrhundert hätten in der Germanistik bis Mitte der 1970er Jahre unweigerlich in die Einbahnstraße der Forschungen zur Geschichte der Kriminalnovelle und der Detektiverzählung geführt; sie wären von Schiller ausgegangen und hätten eine Wegstrecke mit dem Ziel ‘Storm, Fontane, Hauptmann’ angelegt.1 Seit Hans-Otto Hügels Dissertation zu Theorie und Geschichte der deutschen Detektiverzählung im 19. Jahrhundert – die Buchveröffentlichung erschien 1978 – ist ein weitaus größeres und vielschichtiges Textkorpus in den Blick gekommen, doch bleibt auch dieser Blick noch auf die kriminalistische Aktivität von „Untersuchungsrichtern, Diebsfängern, Detektiven“ als Bezugspunkt des Erzählens fixiert. Daß das Erzählen über Kriminalität und Kriminalitätsverhinderung nicht nur auf Ermittlung und Verfolgung des oder der Delinquenten durch Gericht und Polizei beschränkt ist, sondern Elemente der Vorgeschichte des Verbrechens, der Tatgeschichte, der Entdeckungs- und Bestrafungsgeschichte und gegebenenfalls auch der Resozialisierungsgeschichte in zahlreichen Varianten gewichtet und verbunden sein können, daß sich seit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts ein differenziertes Genre-Spektrum ausbildet und zudem ‘Verbrechen’, ‘Verbrechensentdeckung’ und ‘Bestrafung’ wichtige Motivkomplexe im historischen2 und im sozialkritischen Roman des 19. Jahrhunderts, im Geheimnis- und Bundroman, im Abenteuer- und Reiseroman oder im ‘sensationsorientierten’ Familien- und Liebesroman darstellen – all das sind Perspektiven, die erst im letzten Jahrzehnt den Forschungsdiskussionen ein verändertes Profil gegeben haben. „Untersuchungen zur Vorgeschichte des [...] Detektivromans“3 eröffnen ein weites Panorama, in dem subliterarische, paraliterarische und literarische Texte in einer Vielzahl von Problemstellungen einander zugeordnet werden 1 2
3
Vgl. z.B. Marsch: Kriminalerzählung; Freund: Kriminalnovelle. Vgl. Plaul: Trivialliteratur, S. 214, für Verweise auf Titel wie: J. Satori [d. i. Johanna Neumann]: Das enthüllte Verbrechen, oder der vereitelte Königsmord Ludwig[s] XVII. 1827; J. Albini: Der Verurtheilte und sein Richter, oder seltsame Begebenheiten eines Findlings und seiner Aeltern; eine merkwürdige Kriminalbegebenheit aus dem Zeitalter Ludwig[s] XIV. 1829. So – bezogen auf die englische Literatur – der Untertitel der wichtigen Studie von Peter Drexler aus dem Jahr 1991.
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können. Nicht nur unterschiedliche Wahrnehmungen des ‘Kriminalitätsgeschehens’ und die Orientierung an differenzierten Adressaten-Gruppen sind als charakterisierende Merkmale einzusetzen, sondern auch Beschreibungen zu den verschiedenartigen Einbindungen der Texte in literarische, sozial- und rechtspolitische, „rechtsbegleitende“4 und juristische Diskurse. Dabei ist auch nach der unterschiedlichen Intensität der textimmanenten Reflexion auf diese Zusammenhänge zu fragen, nach Signalen zum Anspruch auf ‘Literarizität’, nach Hinweisen zu Einmischungen in die rechts- und sozialpolitischen Diskussionen. Zudem ist zu beachten, daß in dem (etwa einhundert Jahre umfassenden) Zeitraum der ‘Vorgeschichte des Detektivromans’ in zahlreichen Varianten, in prototypischen Ausarbeitungen und in prägenden Erzähltraditionen ‘narrative Strategien’ entwickelt werden, um die Vielfalt von Möglichkeiten zu nutzen, die Erzählung aus der Perspektive der Verdächtigen und Täter, der Opfer und der ihnen nahestehenden Personen, der Vertreter von Institutionen der kriminalistischen Ermittlung, der Rechtsprechung und des Strafvollzugs anzulegen und sich dabei unterschiedlicher Organisationsformen des Erzählens zu bedienen. Selbst dort, wo der Blick auf dieses Panorama verengt wird zugunsten der ‘Kriminalerzählung’ (mit einer textlichen Ausdehnung von etwa zehn bis einhundert Seiten, vielfach einsträngig angelegt und konzentriert auf den Zusammenhang von Tat, Ermittlung, Urteil und Bestrafung), haben wir es mit einem – unter den oben genannten Aspekten – mehrfach variierten Textzusammenhang zu tun. Dafür bieten die 1987 und 1990 erschienenen Sammlungen von Kriminalgeschichten des 18. Jahrhunderts (herausgegeben von Holger Dainat) und des 19. Jahrhunderts (herausgegeben von Joachim Linder) eine kennzeichnende Bilanz. Zugleich lassen sich an den Begleittexten der Herausgeber der beiden Bände die Verschiebungen in der Forschungsdiskussion ablesen: die Erweiterung des dominierenden gattungsgeschichtlichen Interesses zu diskurs-, institutionen- und (im übergreifenden Sinne) sozialgeschichtlichen Perspektiven.5 4 5
Vgl. zur Erläuterung des Begriffes Drexler: Literatur, Recht, Kriminalität (Kap. 3). Zu diesen Veränderungen haben auch die Unternehmungen eines Forschungsprojektes im Rahmen der Münchner Forschergruppe zur ‘Sozialgeschichte der Literatur’ beigetragen. Es ging von Untersuchungen zur Darstellung von Kriminalität in der deutschen Erzählprosa des Zeitraums 1850–1880 aus (und wurde von der DFG gefördert). Ich habe es zusammen mit Joachim Linder begonnen, dann hat auch Konstantin Imm die Arbeit mitgetragen. Ein Kolloquium in München (1981) zur literaturvergleichenden Bilanz der Entwicklungen in Deutschland, England und Frankreich und ein Kolloquium in Hamburg (1985) zur Typologie und Funktion von narrativen Darstellungen in Strafrechtspflege, Publizistik und Literatur organisierten das interdisziplinäre Gespräch zum
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Hier kann dieses Forschungsprogramm nur auf einer ‘Schwundstufe’ in Gang gesetzt werden. Ich beschränke mich darauf, den Zustand des GenreSpektrums zum fiktionsorientierten Erzählen über Kriminalität im Zeitraum von etwa 1810 bis um 1840 (mit der Kernzone 1815–1830) zu beschreiben.6 Unter ‘Genre’ verstehe ich ein relativ konstantes Modell zur literarischen Organisation von gesellschaftlich relevanten Erfahrungs- und Problemzusammenhängen (also hier zu den Erfahrungen ‘des Verbrechens’, den Problemen der Entstehung und Bekämpfung von Kriminalität usf.). Was ich ‘GenreSpektrum’ nenne, ließe sich mit einem aktuellen, aber arg strapazierten Terminus auch als ‘literarischer Diskurs zu Verbrechen und Verbrechensbekämpfung’ beschreiben;7 einzelne Genres (wie Räuberroman, Kriminalgeschichte, Pitavalgeschichte usf.) markieren dann bestimmte, historisch relevante Konstellationen des literarischen Diskurses und sind zugleich als ‘Schnittstellen’ dieses Diskurses mit anderen institutionell organisierten Rede- und Reflexionsformen zu ‘Kriminalität und Strafrechtspflege’ anzusehen – also etwa mit den ‘Relationen’ und ‘Fallgeschichten’ der Juristen, mit Pathographien der Mediziner, mit Texten der strafrechtspolitischen Diskussionen.8 Doch genug dieses leichtfüßigen Ausschreitens meines Untersuchungsfeldes. Ein geordneter Gang möglicher Untersuchungen bleibt im Horizont der Darstellung: An die Bestandsaufnahme zur Ausdifferenzierung und Geltung der Genres zwischen 1815 und 1830 ließen sich Untersuchungen zu strukturellen und funktionalen Bezügen im gesellschaftlichen Handlungsbereich ‘Sinnverständigung durch Literatur’ anschließen, das heißt zu den sozialpsychologischen, kognitiven, ökonomischen oder politischen Bedingungen dieser Sinnverständigungen. Korrelationen von literarischen und außerliterarischen Prozessen des Wandels wäre primär unter funktionsgeschichtlichen Aspekten nachzugehen: beispielsweise im Blick auf die legitimierenden oder kritischen Leistungen literarischer Darstellungen für Entwicklungen im Rechtssystem,
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Thema ‘Literatur und Kriminalität’, dazu Schönert: Literatur und Kriminalität; Ders.: Erzählte Kriminalität. Im Sinne der Phasengliederungen, die in der historiographischen Arbeit des Münchner Projektes entworfen wurden, handelt es sich – im Bereich der deutschsprachigen Literatur – um einen entwicklungsarmen Übergangsbereich zwischen den ‘Großphasen’ 1770–1830 und 1830–1880, vgl. dazu Schönert: Erzählte Kriminalität, S. 38–47. Zum Gebrauch des Begriffes ‘Diskurs’ vgl. Schönert: Erzählte Kriminalität, S. 497– 531, insbes. S. 497 f. Auch wenn die Texte im Korpus ‘Erzählen über Kriminalität’ nicht mit dem literaturgeschichtlichen Status der Texte im Spektrum des ‘Bildungsromans’ verglichen werden können, sind die Forschungsinteressen und Forschungswege ähnlich angelegt, wie sie Wilhelm Voßkamp in seinem Forschungsprogramm zum Bildungsroman organisiert, vgl. u.a. Voßkamp: „Bildungsbücher“.
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auf die literarisch beförderten Erweiterungen und Gewichtungen von Wissensbeständen in Erfahrungsseelenkunde, Anthropologie und Moralphilosophie oder – generalisierend formuliert – auf die Funktionen solcher Konstellationen im ‘literarischen und literaturbezogenen Diskurs zur Kriminalität’ für die Prozesse zur Bestätigung und Veränderung der Normen gesellschaftlichen Verhaltens oder für die Modellierung soziopsychischer Dispositionen in bestimmten gesellschaftlichen Milieus.9
Struktur des Genre-Spektrums ‘Kriminalität erzählen’ Sollte – ausgehend von den Erkundungen zum Genre-Spektrum des Erzählens über Kriminalität – eine Aussage zur literaturgeschichtlichen Charakteristik des Zeitraums 1815–1830 formuliert werden, so wären die Prägungen durch Entwicklungen und Konstellationen des ausgehenden 18. Jahrhunderts zu betonen, wären Überlegungen zur Relevanz von Kategorien wie ‘Literatur der Spätaufklärung’ sowie zum zeitlichen, sozialen und regionalen Geltungsbereich eines solchen Literaturverständnisses anzuschließen. Für die wenig variierte Kontinuität im Wechselspiel von Wirkungsabsichten der Autoren und Publikumserwartungen soll hier nur der Verweis auf zwei wichtige Sammlungen von prototypischen Texten des Genre-Spektrums stehen, die um 1830 erschienen. Nach rund 30 Jahren veröffentlicht Karl Müchler seine „Kriminalgeschichten aus gerichtlichen Akten gezogen“ (1792) in bearbeiteter und erweiterter Form in vier Bänden als „Kriminalgeschichten. Ein Beitrag zur Erfahrungsseelenkunde“ (1828–33). Auch Feuerbach bearbeitete seine Sammlung von Kriminalrechtsfällen (aus der Gnadenpraxis) von 1808–11 für die erneute Publikation 1828–29 (vgl. Anhang 1). Wollte man ein literaturgeschichtliches Kennzeichen für die Phase von 1810 bis 1840 hervorheben, so wäre es die ausgeprägte ‘Entwicklungsarmut’ des Genre-Spektrums. Dieser Befund soll durch ein Schaubild zur Konstellation um 1800 gestützt werden;10 sie verändert sich in den folgenden drei Jahrzehnten nicht entscheidend.
9 10
Siehe zu den Möglichkeiten und Ergebnissen solcher Forschungsaspekte die – unterschiedlich akzentuierten – Studien von Lüsebrink: Kriminalität und Literatur; Hügel: Untersuchungsrichter; Drexler: Literatur, Recht, Kriminalität. Mit kleineren Änderungen nach Schönert: Literatur und Kriminalität, S. 105, dazu erläuternd S. 102 f.
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Die ‘Ausdifferenzierung des literarischen Diskurses zu Kriminalität’ setzt im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts ein und führt bis etwa 1815 zu abgrenzbaren Darstellungs- und Funktionszusammenhängen, die ich mit den Typen 1–6 markiere. Die Konstellation ist durch Koexistenz dieser Typen gekennzeichnet. Erst nach 1840 zeichnet sich eine deutlichere Distanzierung von ‘aktenmäßig-authentischen’ Darstellungen gegenüber ‘erzählerischer Fiktion’ ab:11 Es wird nun deutlicher unterschieden zwischen der authentischen ‘Fallgeschichte’ oder – nach dem Erfolg des „Neuen Pitaval“ (1842 begonnen von W. Häring und E. Hitzig) – der ‘Pitavalgeschichte’ und der ‘Kriminalnovelle’ oder ‘Kriminalerzählung’.12 Der ‘Kriminalroman’ – der Begriff ist um 1850 noch nicht eingeführt – wird zunächst im erweiterten Themen- und Handlungszusammenhang von den Geheimnisromanen nach dem Muster E. Sues repräsentiert. Im Zuge dieser Oppositionsbildung verlieren auch die Schauerund Räuberromane (Ritter-, Räuber-, Kloster- und Gespenstergeschichten) als literarische Umsetzung der ‘Phantasiekriminalität’ deutlich an Akzeptanz beim gebildeten Lesepublikum; so werden sie von den besseren Leihbibliotheken abgestoßen und von den Verlagen zu Rabattpreisen angeboten.13 Der Verweis auf die authentischen Quellen von Verbrecherbiographien und Erzählungen zu Kriminalfällen reicht nicht mehr aus, um – wie noch bei Endter (vgl. Fn. 11) – Texte aus belletristischen und juristischen Publikationszusammenhängen in Nachbarschaft zu bringen. Gerade die ‘medialen Orte’ für Ankündigungen von Neuerscheinungen oder für die Publikation in Zeitschriften und Sammlungen (mit unterschiedlichen Adressaten-Gruppen) markieren abgegrenzte Kommunikationskreise und institutionelle Zuordnungen. Die Ausdifferenzierung von bestimmten Typen ‘medialer Orte’ für bestimmte Lektürebedürfnisse (etwa zur Erweiterung des juristischen Wissens, zur rechtspolitischen Argumentation versus ‘Menschenkunde’ sowie zu ‘Enthüllungen’ über den moralischen Zustand der Gesellschaft) ist nach 1830/40 von entscheidender Bedeutung für 11
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Eine Publikation wie Ludwig Pfisters „Aktenmäßige Geschichten der Räuberbanden an beiden Ufern des Mains, im Spessart und im Odenwaldes [ ..]“ (Heidelberg 1812) wendet sich an Juristen und Nicht-Juristen. Vgl. auch J. M. F. v. Endters „Sammlung merkwürdiger Rechtsfälle aus dem Gebiete des peinlichen Rechts. Ein Lesebuch für Juristen und Nichtjuristen“ (Nürnberg 1794); der (anonyme) Herausgeber versammelt „wahre und actenmäßige Geschichten“ (so in der Vorrede) aus umfangreichen Publikationen, aus Zeitschriften und Magazinen. Er eröffnet die Sammlung mit Schillers „Verbrecher aus Infamie“ und reflektiert durchaus den literarischen Status des Textes, der nicht „actenmäßig“ erzählt sei. Ebenso sind Kriminalgeschichten von Meißner und Müchler aufgenommen – zugleich aber auch Fallgeschichten aus dem „Magazin zur Erfahrungsseelenkunde“ und aus juristischen Zeitschriften (z.B. aus Kleins „Annalen“). Dazu Rückert: Fallgeschichte. Dazu Jäger: Leihbibliotheken.
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weitere Entwicklungen von Konstellationen des Genre-Spektrums, das sich in den vorausgegangenen 60 Jahren ausgebildet hatte.14 Daß sich in diesem Zeitraum der Stoff- und Motivkomplex ‘Kriminalität und Strafverfolgung’ als abgrenzbarer Genrebereich in den Angeboten der Verlage15 und in den Katalogen der Leihbibliotheken findet und nach 1850 auch ‘Sparten’ in den Familienzeitschriften, in der Tages- und Wochenpresse sowie den Spezialzeitschriften zugeordnet wird16 oder bestimmte Typen von Verlagspublikationen ausbildet (die Sammlungen der „Gemälde“ aus dem Verbrechermilieu in „Gallerien“, die „sozialen Schattenbilder“), ist gewiß nicht nur als Ergebnis innerliterarischer Prozesse zu sehen, sondern auch bedingt durch korrelierbare Entwicklungen im gesellschaftlichen Handlungsbereich ‘Strafrecht’, durch institutionelle Veränderungen im Strafprozeß und in der Organisation der staatlichen Polizeiorgane.17 Der Ausdifferenzierungsprozeß, der um 1840 die Konstellationen des GenreSpektrums prägt, ist weniger durch die unterschiedlichen Gewichtungen von Wissensbezügen und Wirkungsweisen bestimmt (wie in der obenstehenden 14
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Vorbildlich für Differenzierung der ‘medialen Orte’ in der Vorgeschichte des englischen Detektivromans ist Drexler: Literatur, Recht, Kriminalität, S. 14, ausführlich dann in Kap. 4: Die Magazine nach dem ‘miscellany’-Typus des „Blackwood’s Edinburgh Magazine“ werden nach 1830 zum bevorzugten Publikationsort der ‘Kriminalerzählung’, die von der späteren ‘Detektivgeschichte’ durch die konkreten Bezüge zum zeitgenössischen Alltag von Verbrechen und Verbrechensbekämpfung, durch Authentizitätsansprüche, erzählerische Perspektivierung und ein bestimmtes Arsenal narrativer Formen zu unterscheiden ist. Für die deutsche Literatur wären Aufschlüsse von den Forschungsarbeiten von Reinhart Meyer zu erwarten – dazu noch wenig einschlägig der 1. Band von „Novelle und Journal“ zu „Titel und Normen“ (Wiesbaden u. Stuttgart 1987.) Neben den Journalen sind auch die Almanache und Taschenbücher heranzuziehen; damit ergeben sich notwendige Ergänzungen zur Roman-Perspektive des ‘CorveyProjekts’. So plante beispielsweise der Quedlinburger Verleger Basse ein „Neuestes Räuber-, Diebs- und Gauner-Archiv“, vgl. Plaul: Trivialliteratur, S. 214. – Der Untertitel „Kriminalgeschichten“ grenzt im Verlagsangebot seit Müchler (1792), Meißner (1796) und dem ‘Pseudo-Spieß’ (1802–1804) – vgl. hier den Anhang 1 – ein zunächst undifferenziertes Textangebot von kürzeren Texten ab, die zumeist in einsträngigen Tat- und Entdeckungshandlungen angelegt sind. Vgl. ferner als frühes Beispiel für ein ‘Spezialmagazin’ das Leipziger „Magazin schrecklicher Ereignisse und fürchterlicher Geschichten“ (1805). Dazu Hennig: Gerichtsberichterstattung. Diese sozialgeschichtlichen Aspekte können hier nur angesprochen werden; vgl. etwa für Bezüge zu rechts- und polizeigeschichtlichen Entwicklungen Hügel: Untersuchungsrichter; zum Aufbau der landespolizeilichen Organe Siemann: Polizei. – Kritik an den juristischen Institutionen und an der Arbeit der Sicherheitspolizei findet sich in den Texten des Zeitraums 1815–1830 nur im geringen Maße und selbst dort nicht verstärkt, wo durch Hinweise auf die juristische Kompetenz des Autors oder die Herkunft des Stoffes die Nähe zum strafrechtlichen Geschehen markiert ist.
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Typologie für die Konstellation um 1800 entwickelt wurde), sondern durch abgrenzbare Diskurse, die nach Maßgaben von ‘fachwissenschaftlich relevant’ und ‘fachwissenschaftlich irrelevant’ (das bedeutet ‘Phantasiekriminalität’) unterschieden werden können. Dazu ein zweites Schaubild, das in der oberen Hälfte die Ausgangskonstellation um 1800 schematisiert und in der unteren Hälfte die differenzierte Konstelllation um 1840.
(J.M.F. v. Endter): Sammlung merkwürdiger Rechtsfälle aus dem Gebiete des peinlichen Rechts. Ein Lesebuch für Juristen und Nichtjuristen. Nürnberg 1794
Spruch- und PitavalgeFallsammlung für schichten / 18 merkwürdige Juristen Kriminalrechtsfälle für ein ‘gebildetes’ (Juristen einschließendes) Publi19
kum
18 19 20
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(Ch. H. Spieß zugeschrieben): Criminalgeschichten voller Abentheuer und Wunder und doch streng der Wahrheit getreu. Leipzig 1802–1804
Verbrecherbiogra- Kriminalerzähphien (mit unter- lungen mit/ohne schiedlichem Status Wahrheitsversides Authentischen) cherung (z.B. für das allgemeine Aktenbezug, Lesepublikum Zeugnis, Mitteilungen) für das allgemeine
Räuberromane („historisch-romantisch“) für ‘Romanleser’
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Lesepublikum
Dazu Rückert: Fallgeschichte. Dazu Linder: Der neue Pitaval; Ders.: Pitavalgeschichten. Dazu Dainat: Mörder. – Die Kriminalgeschichten werden um 1830 zur Deklaration des primären Status ‘Literatur’ vielfach als ‘Kriminalnovellen’ (auch als ‘Kriminalerzählungen’) ausgewiesen, vgl. etwa Karl Häberlins „Der arme Joseph. Novelle nach den Mitteilungen eines Kriminalbeamten erzählt“ von 1834. Zur Repräsentation dieses Typus können auch Texte bekannterer Autoren dienen, vgl. etwa Wilhelm Hauffs „Die Sängerin“ von 1827; Eduard Mörikes „Miß Jenny Harrower“ von 1834 (in der 2. Fassung „Lucie Gelmroth“, 1839). Charakteristika sind die ‘Realitätszitate’ zum Rechtsgeschehen und die Ausarbeitung der Narration nach literarischen Mustern (erzählerische Perspektivierung, variierte Gestaltung des Zeitkontinuums, Affektstimulation usf.). Dazu Dainat: Abaellino.
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Die wachsende Relevanz der öffentlichen Verständigung über Verbrechen und Verbrechensbekämpfung, über die Ausgrenzungen ‘abweichenden Verhaltens’ stabilisiert nach 1840 die diskursspezifische Differenzierung des GenreSpektrums und begünstigt beim ‘gebildeten Lesepublikum’ die ‘wirklichkeitsbezogenen’ Darstellungen. Diese Texte sind geprägt durch eine argumentierend-entwickelnde, wissensorientierte Rhetorik des Erzählens, die in deutlicher Opposition steht zu den affektbezogenen, reizstimulierenden Darstellungsweisen der literarischen ‘Phantasiekriminalität’. Am Beispiel von Amandus G. A. Müllner „Der Kaliber. Aus den Papieren eines Criminalbeamten“ (1828) will ich weiter unten auf dieses Verfahren eingehen. Zugleich wird aber in Veröffentlichungen und Rezensionen von Juristen die Distanz zu solchen Darstellungen von Rechtsfällen betont, die nicht den fachspezifischen Perspektiven und Schreibmustern folgen.22 Das wird insbesondere an Kritiken zu Feuerbachs überarbeiteter Sammlung von Rechtsfällen aus der Begnadigungspraxis deutlich; sie erschien 1828–29 in zwei Bänden. Obwohl mit der Änderung des Titels – von „Merkwürdige Criminal-Rechtsfälle“ (1808–11) zu „Aktenmäßige Darstellung merkwürdiger Verbrechen“ – gerade die Referenz zum strafrechtlichen Verfahren betont wird, wenden sich die Fachkollegen des Autors gegen ‘roman- und novellenhafte’ Elemente und Verfahrensweisen in Feuerbachs Darstellung; im Laufe des 19. Jahrhunderts wird die Sammlung immer entschiedener der Belletristik zugerechnet, so zum Beispiel in der Einleitung von Wilhelm v. Scholz zu der zweibändigen Ausgabe, die er 1912 bei Georg Müller (München und Leipzig) besorgte. Im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts ist – anders als etwa in den justizkritischen Kriminalerzählungen im zeitlichen Umfeld des Ersten Weltkriegs – der Wirklichkeitsbezug des Erzählten vor allem durch die Relevanz für Erfahrungs- und Wissensgebiete hergestellt, die nur mittelbar mit dem strafrechtlichen Geschehen in Verbindung stehen. Seit dem „Magazin zur Erfahrungsseelenkunde“ (1783–1793) wird der Wert von Fallgeschichten und Lebensläufen insbesondere für die Sammlung und Bewertung von Erkenntnissen zu psychischen Konstellationen und Entwicklungen im ‘abweichenden Verhalten’, in der Pathologie von Seele und Moralität, hervorgehoben (vgl. Karl Müchlers „Kriminalgeschichten“) und in der sich neu formierenden Disziplin der forensischen Medizin weiter entwickelt. Die einleitenden Passagen in Schillers „Verbrecher aus Infamie“ (1786) begründen zudem die Verbindung von Kriminalgeschichten und Anthropologie. Voraussetzung für solche Zusammenhänge der Erweiterung und Interpretation von neuen Wissensbestän22
Dazu Rückert: Fallgeschichte.
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den ist die Zuverlässigkeit des Erzählens, der Bezug auf verbürgte Quellen – etwa auf Akten oder auf Mitteilungen von Juristen, Medizinern oder Theologen. Schon seit Meißner konnten jedoch solche Nachweise einer „wahren Geschichte“ nur fingiert sein, so daß die entsprechenden Elemente im Titel erst befestigt wurden durch die Ausbildung einer ‘narrativen Rhetorik der Wahrhaftigkeit’, die sich vom ‘historisch-romantischen’ Erzählen der Räuberromane abgrenzen läßt. Dafür gibt im Zeitraum 1815–1830 Müllners Kriminalnovelle „Der Kaliber“ ein charakteristisches Beispiel.23
Zwei kontrastierende Textbeispiele: Müllner und v. Train Kennzeichnend für den Typus der ‘Kriminalerzählung mit Wahrheitsversicherung’ ist der Anspruch auf ‘Authentizität des Erzählens’ und auf juristische Kompetenz. Amandus Gottfried Adolph Müllner (1774–1829), selbst Advokat in Weißenfels, konstruiert einen Ich-Erzähler, der als ermittelnder und untersuchungsleitender Kriminalrichter ‘vor Ort’ den Kriminalfall nicht aus Rückschau und Erinnerung, sondern aus der Fiktion unmittelbarer Erfahrung des Geschehens berichtet. Immer wieder wird die Erzählung in szenische Wechselrede überführt oder der Leser hineingezogen in die Erwägungen und Vermutungen des Kriminalrichters, der nicht mit Hinweisen zu den juristischen Regeln von Ermittlung, Voruntersuchung und Verhandlung nach Aktenlage spart und zugleich herausstellt, daß er „gesetzmäßig“ (S. 149), „rechtsförmlich“ und „ordnungsmäßig“ (S. 152) vorgeht. Fachliche Details der Deliktabgrenzung (und der daraus resultierenden Strafzumessungen) werden im Gespräch der Figuren erörtert – es geht um das Problem ‘Totschlag ohne willentlichen Vorsatz’ (S. 193) oder ‘Mord’. Kritik am ‘geheimen (Akten-) Verfahren’ und das Plädoyer für die Öffentlichkeit eines Geschworenengerichts werden vom Ich-Erzähler emphatisch formuliert: „Er muß schriftlich verteidigt werden, auf der toten, weißen Fläche, vor ausgetrockneten Gemütern, vor eiskalten Aktenrichtern“ (S. 194). Doch gehört diese Kritik an der ‘rückständigen’ deutschen Gerichtsbarkeit in Kriminalerzählungen aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts durchaus zum Repertoire; für ein Eingreifen in die rechtspolitische Diskussion mit Hilfe der ‘schönen Literatur’ müßten die justizkritischen Bezüge allerdings weiter ausgearbeitet sein. Auch wenn in der Erzählung in parodistischer Weise längere Passagen aus dem Urteil der Spruchkammer zitiert werden (S. 197–199), beschränkt sich Müllners Attacke 23
Ich zitiere (mit den Seitenzahlen in Klammern) nach der Ausgabe „Bibliothek wertvoller Novellen und Erzählungen“ (hg. von Prof. Dr. Hellinghaus, Freiburg i. Br. 1913), Bd. 14, S. 143–223. Vgl. zur weiteren Diskussion auch Hügel: Untersuchungsrichter, S. 124–129.
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auf die ‘Lebensferne’ des Gerichts und die verzopfte „Henkersprache“ (S. 199) in der Ausfertigung des Urteils. Tüchtige Juristen wie der Kriminalrichter und der von ihm vorgeschlagene Verteidiger sorgen für die „Auflösung des Rätsels“ (S. 213). In ihrer Konstruktion folgt die Erzählung dem ‘Whodunit’-Muster. Ein Kaufmann, unterwegs in einem Geldgeschäft, ist in einem Waldstück erschossen worden. Er war auf seiner Geschäftsreise von seinem Bruder Ferdinand begleitet worden, der zunächst als der einzige Tatzeuge erscheint, dann sich selbst des Brudermordes bezichtigt und schließlich durch einen Indizienbeweis entlastet wird: die todbringende Kugel stimmte nicht zum „Kaliber“ (vgl. den Titel der Erzählung) seiner Waffe; per Zufall wird der Täter – ein Wild- und Viehdieb, zuvor Mitglied einer berüchtigten „überrheinischen Räuberbande“ (S. 211) – gefaßt und von einem aufmerksamen Kollegen des Kriminalrichters mit dem ‘Brudermord im Scheidewald’ in Verbindung gebracht. Kennzeichnend für die ‘Literarisierung’ der Geschichte aus der Erfahrungswelt eines Untersuchungsrichters ist zum einen die Verknüpfung der ‘Mordgeschichte’ mit einer Liebeshandlung, die als ‘herzrührende’ und schwierige Verbindung zwischen dem vermeintlichen Brudermörder und der Tochter seines Dienstherrn angelegt ist. Der Anziehungskraft der aparten, klugen und tatkräftigen Marianne kann sich auch der Kriminalrichter, der Ich-Erzähler, nicht entziehen. Zum anderen bezieht sich die Erzählung, die im Untertitel und in der Nachschrift des Autors als „Novelle“ (S. 223) gekennzeichnet ist, wiederholt auf ‘schöne Literatur’. Zum Eingang der Geschichte wünscht sich der Ich-Erzähler, der über den Akten zum Bandenunwesen im Scheidewald brütet, eine Mordtat der Bande, um in der Reaktion auf ein solches Kapitalverbrechen die Verfolgung der Kriminellen im Grenzwald mit den Beamten und den Grenzsoldaten des großen Nachbarstaates koordinieren zu können. Die Einbildungskraft des Erzählers – wie die seiner Leser durch entsprechende Lektüre geschult – produziert Bilder von Greueltaten im Stile der „Spiegelberge Schillers“ (S. 144), „ohne dabei etwas anderes zu empfinden, als was etwa ein Schriftsteller empfinden mag, der eben an der blutigsten Szene eines Räuberromans eines neuen großen Banditen arbeitet“ (S. 144 f.). Müllner legt seinen Lesern aber keinen Räuberroman, sondern eben eine ‘authentische Kriminalerzählung’ vor, von deren Fiktionalität man freilich ausgehen konnte, denn der Autor treibt in der Erzählung Werbung für die eigene schriftstellerische Produktion. Das Geständnis des vermeintlichen Brudermords wird durch ein Theatererlebnis von Ferdinand ausgelöst. Die
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Aufführung einer Bruderzwist-Tragödie mit dem Titel „Die Schuld“ ist als erschütterndes Ereignis dafür verantwortlich. Der Autor dieser Tragödie – „damals nicht mehr ganz neu auf der deutschen Bühne“ (S. 191) – wird im Text nicht genannt; der kundige Leser weiß jedoch Bescheid: es ist Müllner; das Drama wurde 1816 gedruckt. Auf ein weiteres Trauerspiel aus der Müllnerschen Produktion, auf „Albana“ („Die Albaneserin“, 1820), wird zum Beschluß der Erzählung verwiesen. Die Doppelperspektive im Wiedererkennen von Elementen der ‘Rechtsförmlichkeit’ in der erzählten Geschichte der kriminalrichterlichen Untersuchung und der Wahrnehmung ihrer ‘Literarizität’ ist kennzeichnend für diesen Typus der ‘Kriminalerzählungen’ in der Tradition von Meißner bis hin zu Temme. Als Beispiel für den Bereich der literarisch elaborierten Phantasiekriminalität beziehe ich mich auf die Schriften von Joseph Karl von Train, die in verschiedenen Verlagen in rascher Folge in den Jahren zwischen 1831 und 1835 erschienen sind (vgl. Anhang 2). Im Gegensatz zu dem Juristen, Schriftsteller und Journalisten Müllner geriet der ehemalige Offizier und ‘Vielschreiber’ J. K. v. Train (1787 geboren) bald in Vergessenheit. Im ‘Goedeke’ (Bd. VI, S. 418) – mit dem Erscheinungsjahr 1858 – ist kein exaktes Todesjahr angegeben („nach 1850“); in den meisten der nachfolgenden Schriftstellerlexika wird v. Train ignoriert. Er gilt als ‘Trivialautor’. Auch wo er – wie in „Zuchthaus und Rabenstein“ – aus „Criminalakten und den sichersten Quellen“ schöpft, wird der Text durch die narrative Rhetorik des ‘Historisch-Romantischen’ – vgl. den Untertitel zu „Die schwarze Garde oder Lips Tullian“ – dem Bereich der pragmatisch erzählten, wissensorientierten Kriminalgeschichte entzogen. Ungeachtet seiner prinzipiellen Erzählhaltung, die auf Sensation, Reizstimulation und moralische Entrüstung gerichtet ist, verwendet Train jedoch wiederholt die Genre-Bezeichnungen der ‘Kriminalgeschichte’ oder der ‘Kriminalerzählung’. Ziel seines Erzählens ist aber nicht die Erweiterung oder Diskussion des rechtlichen, seelenkundlichen oder anthropologischen Wissens, sondern die Rechtfertigung der strafenden Ausgrenzung des Kriminellen aus der ‘guten Gesellschaft’, die mitunter allerdings auch als mitschuldig an der Entstehung des Verbrechens erscheint (vgl. „Lips Tullian“). Im ausführlichen Bericht der ‘gerechten Strafe’ folgen Trains Verbrecherbiographien und Kriminalgeschichten Traditionen des mittleren 18. Jahrhunderts, die literarische Darstellungen von Verbrechen in das öffentlich inszenierte ‘Straftheater’ einbeziehen. Solche Distanzierungs- und Ausgrenzungsstrategien stützen sich auf Erregung von Schrecken, Entrüstung und Abscheu, wobei gleichzeitig die Lust der Leser an den Sensationen bedient wird; dieses wirkungsästhetische Programm ist wirksam bis hinein in die Konstruktion entsprechend verheißungsvoller Titel wie Lohmar-Freiholds „Verbrechen auf Verbrechen oder
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Auswürflinge der Menschheit. Gallerie tragischer Ereignisse, ausgezeichneter Bösewichter, Tyrannen, Räuber, Mörder, Giftmischer, Brandstifter, Diebe, Betrüger u.s.w. theils aus dem Leben, theils nach alten Chroniken und Criminal-Acten bearbeitet von [...]“ (1833). Die Differenzkategorie zum Sensationellen ist das ‘Merkwürdige’, dem eine Rhetorik des Erzählens zugeordnet ist, die vom Sich-Wundern, SichErschrecken oder Sich-Entrüsten in das Räsonieren überführen will; sie kommt in den Kriminalerzählungen und Kriminalnovellen sowie in den Pitavalgeschichten zum Tragen: „merkwürdig“24 sind eben auch die Kriminalfälle, die der Strafrechtsreformer Feuerbach Lesern aus allen Ständen, Juristen und Nicht-Juristen, vorlegt (vgl. Anhang 1). Bevorzugter publizistischer Ort dieses öffentlichen Räsonnements über Verbrechen, Verbrechensentstehung und Bestrafung sind bis 1830/1840 die Magazine, Zeitschriften und Sammlungen für das neue Publikum der Gelehrten und Gebildeten, der Leser „aus allen Ständen“. Vom ‘medialen Ort’ des moralphilosophischen, erfahrungsseelenkundlichen oder anthropologischen Räsonnements der Zeitschriften und Magazine, von den Sammlungen der Fallgeschichten und Kriminalerzählungen / Kriminalnovellen sind die Buchproduktionen der Schauer-, Ritter- und Räuberromane seit 1830 deutlich abgesetzt.25 Lebens- und Verbrechensgeschichten berühmtberüchtigter Räuber wurden in England, Frankreich und im deutschsprachigen Raum zwischen 1720 und 1790 in großer Zahl und mit variierenden Wirkungsabsichten veröffentlicht.26 Diesen – im weitesten Sinne – historiographischen Schriften folgen in einer zweiten Phase (ab 1790 bis etwa 1810) insbesondere in Deutschland die romantischen Räuberromane nach dem Muster von Vulpius, Zschokke und anderen. Mit einer zweiten Autorengeneration, gleichsam den Söhnen und Schülern der Verfasser des „Rinaldo Rinaldini“ und „Abaellino“, kommt es zu einer erneuten ‘Konjunktur’ des Räuberromans zwischen 1820 und 1840,27 wobei vielfach in freien, ‘romantischen’ Bearbeitungen aus der Position historischer Distanz auf die Räuberbiographien des 18. Jahrhunderts zurückgegriffen wird (Lips Tullian, Nickel List, Mathias Klostermayer, Schinderhannes). Autoren wie Bartels, Böckel / Barda, Gleich, 24 25 26 27
Die Kategorie des ‘Merkwürdigen’ eröffnet ein nicht genau abzugrenzendes Bedeutungsfeld: von der Bestandsaufnahme noch auszuwertenden Materials bis hin zum kennzeichnenden Beleg für verfügbares Wissen. Diesem Textkorpus muß man sich von den Konstellationen um 1800 herkommend nähern; dazu informativ und grundlegend Dainat: Abaellino. Dazu für Frankreich Lüsebrink: Kriminalität und Literatur; Ders.: Brigantenliteratur. Vgl. Dainat: Abaellino, S. 61.
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Gräber, Leibrock, Otto, Schöpfer u.a. stehen für diese Generation der Vielund Geschwindschreiber; die Verleger Kollmann (Leipzig), Basse (Quedlinburg), Fürst (Nordhausen), Goedsche (Meißen) u.a. ermöglichen und fördern diese Mode, die sich nach 1840 rasch erschöpft;28 der ‘romantische Räuberroman’ ist 1840/50 ‘out of mode’; die Geheimnis-Romane à la Sue nehmen seinen Platz ein.29 Dieser Abwertungs- und Verdrängungsprozeß wird befördert durch die Urteile der sich professionalisierenden Literaturkritik und Literaturgeschichtsschreibung, die den Gipfelleistungen von deutscher Klassik und Romantik dichotomisch die Modewaren der Räuber- und Schauerromantik konfrontierten.30 Als Schlußpunkt meiner kursorischen Bilanz zum Erzählen über Kriminalität im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts setze ich knappe Bemerkungen zu Trains dreibändigem Räuberroman „Die schwarze Garde oder Lips Tullian mit seinen Raub- und Blutgesellen. Historisch-romantische Criminalerzählung“, 1834 bei Goedsche in Meißen verlegt – einem Roman, der sich in den meisten der bislang ausgewerteten Leihbibliothekskatalogen dieser Zeit verzeichnet findet. Train bearbeitet in „historisch-romantischer“ Manier das Räuberleben von Lips Tullian, für das es bereits 1716 eine Buchveröffentlichung gab.31 Die kriminelle Karriere des berüchtigt-berühmten Räubers erscheint in Trains Sicht auch als Folge von Ungerechtigkeiten und Zurücksetzungen, die Lips Tullian durch Höhergestelltere und Mächtigere erleidet. Doch wird er nicht zum ‘edlen Räuber’ oder ‘Unglücklichen’ stilisiert. Seine Untaten und – verstärkend – die seiner „Raub- und Blutgesellen“ sind erschreckende Abweichungen von der ‘bürgerlichen Normalität’, was auch in der sexuellen Zügellosigkeit der Räuber markiert ist. Ihnen wird durch staatlich verfügte Strafmaßnahmen begegnet. Obwohl Notwendigkeit und Anspruch der staatlichen Instanzen der Rechtspflege nicht in Frage gestellt sind, kommt es zu punktueller Kritik an Beauftragten dieser Instanzen (z.B. am Oberprofoß), deren ‘Herrschaftsansprüche’ mit den ständischen Machtpositionen der Aristokratie in Verbindung gebracht werden. Den Ausgrenzungen derjenigen, die – wie die Räuber – aus der bürgerlichen Normalität ausbrechen, korrespondiert die Distanzierung zum standesbedingten ‘abweichenden Verhalten’ in den Machtpositionen der Aristokratie. Die Elemente erbaulicher Darstellung (insbesondere die Liebes28 29 30 31
Vgl. ebd., S. 40 f. Zu ‘Regenerationen’ kommt es in der Kolportageliteratur nach 1870, vgl. Schönert: Behaglicher Schauer, S. 91 f. Dazu Dainat: Abaellino. Des bekannten Diebes, Mörders und Räubers Lips Tullians und seiner Complicen Leben und Übelthaten [...]. Dresden 1716; vgl. Plaul: Trivialliteratur, S. 207 f.
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geschichten der Räuber) zielen dagegen auf Bestätigung ‘bürgerlicher Moralität’; die narrative Erregung von Entrüstung, Erschrecken und Entsetzen (vor allem bezogen auf die „Raub- und Blutgesellen“) korrespondiert der Stabilisierung dieses Werte- und Normen-Kanons. Seine Unangreifbarkeit ist nicht zuletzt dadurch bedingt, daß Train die Verbrecherbiographien nicht mit Wissensbezügen zu Rechtsordnungen oder zu moralphilosophischen, anthropologischen und psychologischen Debatten verbindet und sich damit der Überführung des entrüstungs- und erbauungserregenden Erzählens in das Räsonnement verschließt. Für die Jahre 1831–1834 sind heute noch zehn Veröffentlichungen ‘aus der Feder’ des Vielschreibers nachgewiesen, die sich dem Genre-Spektrum der Kriminalgeschichten zuordnen ließen. Danach verschwindet der Autorenname ‘Train’ aus den Verlagskatalogen, obwohl der schriftstellernde ehemalige Offizier noch bis in die 1850er Jahre gelebt haben soll. Mit der ‘historischromantischen Manier’ wird erst in der Kolportageliteratur der 1870er Jahre wieder Boden zu gewinnen sein.32
Anhang 1 Prototypische Publikationen für die Tradition der Kriminalgeschichten: Karl Müchler: Kriminalgeschichten. Aus gerichtlichen Akten gezogen. Berlin 1792. August G. Meißner: Kriminal-Geschichten. Wien 1796. [Christian H. Spieß zugeschrieben]: Kriminalgeschichten voller Abentheuer und Wunder und doch streng der Wahrheit getreu. Leipzig 1801–04. Paul J. A. Feuerbach: Merkwürdige Criminal-Rechtsfälle. Gießen 1808–11. Paul J. A. Feuerbach: Aktenmäßige Darstellung merkwürdiger Verbrechen. Gießen 1828–29. Karl Müchler: Kriminalgeschichten. Ein Beitrag zur Erfahrungsseelenkunde. 4 Bde. Berlin 1828–33.
Anhang 2 Schauerromane, Verbrecher- und Räuber-Biographien (,romantisiert’), Klosterund Mönchsromane, Pathographien, Kriminalgeschichten von Joseph Karl v. Train: – 32
Erzählungen aus dem Gebiete [...] des Abentheuerlichen. Nürnberg 1831.
Auch für diesen Beitrag zum Thema ‘Kriminalität und Literatur’ verdanke ich Joachim Linder wichtige Hinweise und die kritische Lektüre der (hier überarbeiteten) Vortragsfassung.
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Grauenvolle Wanderung durch die unterirdischen Gefängnisse der Bergwerke Kronstein. Nürnberg 1831.
–
Der Brief aus der Armesünderstube. Kriminalgeschichte nach urschriftlichen Geständnissen des Verbrechers bearbeitet. Nordhausen 1832.
–
Chochemer Loschen. Regensburg 1832.
–
Die blutende Nonne, oder [...]. Nordhausen 1832.
–
Zuchthaus und Rabenstein. Eine Gallerie merkwürdiger Verbrechen aus Criminalakten und den sichersten Quellen aufgestellt. Ilmenau 1832.
–
Guiseppe Balsamo der berüchtigte Abenteurer und Betrüger seines Zeitalters, oder der entlarvte Graf Alexander von Cagliostro. Kriminalgeschichte. 1833.
–
Gemälde aus dem Mönchs- und Nonnenleben [. . .]. Ilmenau 1833.
–
Die Schauergruft in der Waldkapelle, oder die Opfer des Verhängnisses, der Leidenschaften und Verbrechen. Meißen 1833.
–
Neueste Biographien der Wahnsinnigen. Meißen 1833.
–
Die schwarze Garde oder Lips Tullian mit seinen Raub- und Blutgesellen. Historisch-romantische Criminalerzählung. 3 Bde. Meißen 1834.
–
Wenzel Rüll und Wasensepp. Criminalerzählung. Meißen 1834.
– Die schwarze Mappe des grauen Waldbruders. Meißen 1835. Quellen: Leopold Hirschberg: Der Taschengoedeke. Bd. 2. München 1970 (=dtv 4031); Hainer Plaul: Illustrierte Geschichte der Trivialliteratur. Hildesheim 1984.
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lung von Kriminalfällen für das ‘gebildete Publikum’. Magisterarbeit, Univ. München 1982. LINDER, Joachim: Deutsche Pitavalgeschichten in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Konkurrierende Formen der Wissensvermittlung und Verbrechensdeutung. In: Jörg Schönert (Hg.): Erzählte Kriminalität. (STSL 27). Tübingen 1991, S. 313–348. LÜSEBRINK, Hans-Jürgen: Kriminalität und Literatur im Frankreich des 18. Jahrhunderts. Literarische Formen, soziale Funktionen und Wissenskonstituenten von Kriminalitätsdarstellung im Zeitalter der Aufklärung. München u. Wien 1983. LÜSEBRINK, Hans-Jürgen: Französische Brigantenliteratur versus deutsche Räuberromantik? Skizze einer Funktionsgeschichte der deutschen und französischen Brigantenliteratur des 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts. In: Jörg Schönert (Hg.): Erzählte Kriminalität. (STSL 27). Tübingen 1991, S. 177–191. MARSCH, Edgar: Die Kriminalerzählung. Theorie – Geschichte – Analyse. München 1972. PLAUL, Hainer: Illustrierte Geschichte der Trivialliteratur. Hildesheim 1984. RÜCKERT, Joachim: Zur Rolle der Fallgeschichte in Juristenausbildung und juristischer Praxis zwischen 1790 und 1880. In: Jörg Schönert (Hg.): Erzählte Kriminalität. (STSL 27). Tübingen 1991, S. 285–311. SCHÖNERT, Jörg: Behaglicher Schauer und distanzierter Schrecken. Zur Situation von Schauerroman und Schauererzählung im literarischen Leben der Biedermeierzeit. In: Alberto Martino u.a. (Hg.): Literatur in der sozialen Bewegung. Tübingen 1977, S. 27–92. SCHÖNERT, Jörg (Hg.): Literatur und Kriminalität. Die gesellschaftliche Erfahrung von Verbrechen und Strafverfolgung als Gegenstand des Erzählens. Deutschland, England und Frankreich 1850–1880. (STSL 8). Tübingen 1983, [Auszüge zu S. 96–125 im vorliegenden Band, S. 65–98]. SCHÖNERT, Jörg: Erzählte Kriminalität. Zur Typologie und Funktion von narrativen Darstellungen in Strafrechtspflege, Publizistik und Literatur zwischen 1770 und 1920. (STSL 27). Tübingen 1991, [Auszüge zu S. 11–55 sowie zu S. 497–523; 527– 531 im vorliegenden Band, S. 1–47 sowie S. 155–194]. SIEMANN, Wolfram: Polizei in Deutschland im 19. Jahrhundert. In: Jörg Schönert (Hg.): Erzählte Kriminalität. (STSL 27). Tübingen 1991, S. 63–95. VOßKAMP, Wilhelm: „Bildungsbücher“: Zur Entstehung und Funktion des deutschen Bildungsromans. In: Rainer Schöwerling u. Hartmut Steinecke (Hg.): Die Fürstliche Bibliothek Corvey. Ihre Bedeutung für eine neue Sicht der Literatur des frühen 19. Jahrhunderts. München 1992, S. 134–146.
Die Begleitstimme der ‘schönen Literatur’ zur Strafrechtsentwicklung I. 1907, im „März“, der Halbmonatsschrift für deutsche Kultur, zieht Franz von Liszt Bilanz für die Situation der Strafrechtsgeschichte um 1900; er stellt fest, „daß bisher eine Geschichte des Verbrechens und eine wirkliche Geschichte der Strafe fehlt; daß Juristen und Philologen, daß Historiker und Archäologen das reiche Material bisher nicht gesammelt, geordnet und kritisch beleuchtet haben.“1 Dazu aufgerufen, an dem Aufbau und Ausbau der Strafrechtsgeschichte mitzuwirken, waren also auch die Philologen. Vor allem für den Bereich des germanischen und mittelalterlichen Rechts hat sich die Rechtsgeschichte auf die quellensichernde und quellenkommentierende Mitarbeit der germanistischen Philologie stützen können. Auf solche Hilfsdienste ist die Strafrechtsgeschichte für den hier zu diskutierenden Zeitraum (1789–1848) nicht angewiesen, zumal die Wissenschaft von der Neueren deutschen Literatur sich vor allem die ‘schöne Literatur’ angelegen sein läßt. Diese wiederum hält sich seit 200 Jahren ihre ‘Autonomie’ zugute: die Freiheit literarischer Gestaltung der Erfahrungswelt, zu der auch die strafrechtliche Theorie und Praxis gehören. So haben in der Vergangenheit Literaturhistoriker vor allem die ‘Bilder’ nachgezeichnet, die in der Literatur zu Verbrechen und Verbrechern, zu Gerichtsgeschehen und Strafvollzug entworfen werden,2 während Juristen die ‘schöne’ Literatur unter ideengeschichtlichen und rechtsphilosophischen Aspekten zu lesen pflegen.3 Erst in den letzten Jahren hat sich die Auffassung entwickelt, daß die Belletristik in besonderer Weise das kulturelle Rechtsverständnis und die öffentliche 1 2 3
Liszt: Kulturfortschritt, S. 73 f.; vgl. dazu Linder: Justizkritik im „März“. Dazu etwa Emmel: Das Gericht; Barsch: Der Verbrecher; Bennholdt-Thomsen u. Guzzoni: Der Asoziale. Dazu etwa Wolf: Wesen des Rechts; Bockelmann: Kriminalstrafe; ferner die Themenhefte „Literatur und Recht“ der „Neuen Juristischen Wochenschrift“ (1982, H. 12; 1983, H. 21; 1984, H. 19; 1985, H. 28; 1986, H. 19); vgl. auch Müller-Dietz: Literatur und Kriminalität; Ders.: Kriminologie und Literatur, S. 76–87. – Lediglich die Fachvertreter der täterorientierten Kriminologie oder der Kriminalpolitik sahen – vor allem in der Phase der Durchsetzung ihres Wissenschaftsanspruches (1880–1930) – in der ‘schönen Literatur’ einen Bereich, aus dem (bei quasi-empirischem Vorgehen) besondere Erfahrungen und Einsichten sowie Argumente für wissenschafts- und gesellschaftspolitische Programme gewonnen werden konnten.
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Begleitstimme der ‘schönen Literatur’ zur Strafrechtsentwicklung
Zugänglichkeit der Rechtspraxis dokumentiert.4 In der wissenschaftlichen Diskussion kommt dabei rechtshistorischen und rechtspolitischen Interessen entgegen, daß die Literaturwissenschaft – insbesondere in neuerer sozialgeschichtlicher Orientierung – ihren Gegenstandsbereich erheblich erweitert hat, daß neben der Literatur des ‘literarischen Höhenkamms’ auch die Topographie der Unterhaltungs- und Trivialliteratur vermessen wird und daß darüber hinaus solche Texte einbezogen sind, in denen sich ‘facts’ und ‘fiction’ in unterschiedlicher Weise vermischen,5 – ja, daß sogar in Texten juristischer Praxis literarische Strategien der Wirklichkeitskonstruktion erkannt und mit literaturwissenschaftlichen Mitteln beschrieben werden.6 Wo die Strafrechtsgeschichte in ihren Forschungen sozialwissenschaftliche und sozialgeschichtliche Perspektiven erschließt, wo sie nicht nur Theorienund Dogmengeschichte betreibt, sondern auch die Geschichte der Strafdurchsetzungen verfolgt, wo sie Begründung, Vollzug und Erfolg des staatlichen Strafanspruchs, das öffentliche Ansehen und die Legitimation der Justiz und ihrer Amtsträger im Blick hat, da ergeben sich Fragestellungen, die eine Sozialgeschichte der Literatur (in Verbindung mit Mentalitätsgeschichte, Psychohistorie und Wissenssoziologie) deshalb aufnehmen kann, weil sie nach den gesellschaftlichen Funktionen literarischer Sinnverständigung fragt (für die unterschiedlichen sozialen Schichten und Gruppen). Denn die ‘schöne Literatur’ ist durchaus beteiligt an den sozialen Prozessen der Vermittlung, Festigung und Modifikation von Werten, Normen, Denkmustern, Rollenbildern und Einstellungen, die – im rechtskulturellen Orientierungsraum7 – Vorgänge
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Dann ist zu fragen, „wie Recht, Rechtsanwendung, Rechtserleben und Rechtsdenken in belletristischen Werken beschrieben, analysiert und reflektiert werden“ – so MüllerDietz: Kriminologie und Literatur, S. 61 (entsprechende Literaturverweise in Fn. 12). Vgl. ebd., S. 63 f. Dazu Schönert: Erzählte Kriminalität, S. 17–20. Vgl. zum Begriff der ‘Rechtskultur’ die soziologischen Festlegungen und Diskussionen, etwa bei Münch: Struktur der Moderne; Eder: Zivilisierung; ferner: Zs. für Rechtssoziologie 7 (1986) H. 1. – In strukturfunktionalistischer Sicht der Soziologen steht ‘Rechtskultur’ für den Bereich wertbindender und legitimierender ‘Diskurse’ im Rechtssystem. In einer (allgemeineren) sozialgeschichtlichen Perspektive könnte ‘Rechtskultur’ den Zusammenhang der Austauschbeziehungen zwischen dem ‘Rechtssystem’ und den ‘Kultursystemen’ (im engeren Sinne – wie etwa Religion, Moralphilosophie oder ‘schöne Literatur’) bezeichnen. Dieser Zusammenhang läßt sich seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts rekonstruieren. Seither war das gesetzte Recht im ‘öffentlichen Gespräch’ der ‘Gebildeten aller Stände’ zu reflektieren, zu legitimieren oder zu kritisieren – vgl. etwa Möser: Patriotische Phantasien; der Jurist und Schriftsteller veröffentlichte in der Wochenschrift „Osnabrückische Intelligenzblätter“ kurze Abhandlungen und erzählende Skizzen, um zur allgemeinen Verbreitung der Gesetze
Die Begleitstimme der ‘schönen Literatur’ zur Strafrechtsentwicklung 135 der Strafrechtspflege stützen, hemmen oder umlenken.8 Zudem: Je mehr das Strafrecht seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert zu einem begrifflichen System wird9 und die juristischen Texte auch in ihrer Deutschsprachlichkeit besondere Sprachverwendungen entwickeln (vgl. etwa den ‘Sprachweg’ vom ALR zum Bayerischen Strafgesetzbuch), desto wichtiger werden die literarisch vollzogene Veranschaulichung und Verankerung der Rechtsnormen im Alltagsbewußtsein, die ‘Ent-Fachlichung’ und die ‘Ver-Öffentlichung’ rechtspolitischer Kämpfe. Um solche Funktionen beschreiben zu können, wird man zunächst von den jeweils geltenden strafrechtlichen Verfahren, Regelungen und Debatten ausgehen. Zu fragen wäre dann, welche Bereiche der Strafrechtsgeschichte in der Literatur besonders angesprochen werden; welche rechtlichen Probleme und welche Verfahren der Problemlösung werden in der Literatur aufgenommen; wie werden sie dargestellt, kommentiert oder modifiziert? Auf die ‘Begleitstimme’ der schönen Literatur zu hören, ermöglicht zudem, das besondere historische Gedächtnis der Literatur zu befragen. Literarische Darstellungen von Ideen, Erfahrungen, Wünschen und Ängsten verweisen auch auf Konstellationen der Vergangenheit, die jenseits jener gesellschaftlich dominierenden Bedürfnisse, Interessen, Entscheidungen und Ereignisse liegen, die Strafrechtsgeschichte gemacht haben.10 Somit kann der ‘fremde’ literaturgeschichtliche Blick auf die Strafrechtsgeschichte vielleicht Probleme und Fragen erschließen, die sonst nicht gesehen oder gestellt werden. Dazu formuliere ich – in stark verkürzter Form – erste Hinweise auf historisch signifikante Konstellationen und komme abschließend noch einmal auf grundsätzliche
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und ihres ‘Geistes’ beizutragen, Rechtsgeschichtliches zu erarbeiten und in die rechtspolitischen Diskussionen der Zeit einzugreifen. Dazu Stolleis: Rechtsgeschichte, S. 259: Eine ‘moderne’ Strafrechtsgeschichte „müßte das Strafrecht einbetten in eine Entwicklungsgeschichte dessen, was die jeweiligen maßgebenden Stimmen ‘Verbrechen’ genannt haben, d.h. in eine allgemeine Kulturgeschichte des abweichenden Verhaltens.“ Vgl. Damm: Norm und Faktum, S. 218. Sie bezeichnen auch Hoffnungen, die ihrer Einlösung im Gang der Geschichte harren, vgl. etwa zu Kleists „Prinz von Homburg“ Lüderssen: Recht als Verständigung, S. 66: In Kleists Dramen finden „Verständigungsprozesse über Rechtsfragen“ statt, „die auf das Bekenntnis zu einem Begriff des Rechts schließen lassen, dessen Geltung im wesentlichen auf Anerkennung und nicht auf Zwang beruht“ (dazu auch S. 78: zur prospektiven Qualität von Literatur). So kann die Auseinandersetzung mit literarischen Zeugnissen aus dem. Zeitraum 1789–1848 dazu beitragen, die im Gang der Geschichte reduzierte Kontingenz für gesellschaftliches Handeln zu rekonstruieren und dabei wenig beachtete oder diskontinuierliche Entwicklungen in der Sozial- und Kulturgeschichte von ‘abweichendem Verhalten’ und ‘Sozialdisziplinierung’ zu beleuchten.
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Begleitstimme der ‘schönen Literatur’ zur Strafrechtsentwicklung
Beziehungen zwischen Rechts- und Literaturgeschichte zurück. Die bilanzierende Übersicht zu einem heterogenen Textbereich und einem komplexen Entwicklungsvorgang kann die jeweils besonderen Konstellationen von Autor, Text, Kontext, Publikum und Wirkung nur auf der Ebene weitgehender, nahezu unzulässiger Verallgemeinerungen erfassen. Dieses Verfahren ist jedoch dem hier zu verfolgenden Zweck angemessener als es etwa die detaillierte Diskussion einzelner Texte wäre.
II. Aus den – für unseren Zeitraum (1789–1848) relevanten – Konstellationen von gesellschaftlichem Rechtshandeln und entsprechenden literarischen Sinnverständigungen ergeben sich als wichtigste rechtskulturelle Funktionen der literarischen Darstellungen: (1) Die ‘schöne Literatur’ bewahrt noch weithin die ‘Metaphysik des Rechts’11 gegenüber den sich nach 1800 durchsetzenden rechtspositivistischen Begründungen der Strafe und der dominierenden ‘Physik’ der rechtlichen Regelungen.12 Beispielsweise ist ‘Schuld’ literarisch eher ein offener alltagsweltlicher als ein fachlich gestützter Begriff. Die literarischen Darstellungen unseres Zeitraums nehmen kaum Bezug auf die Rechtsdiskussionen zu gestuftem und individualisiertem Strafen, sie halten an pauschalen ‘Vergeltungen’ fest. (Noch genauer zu untersuchen wäre, welchen Stellenwert die Diskussionen über Strafzwecke in der Entwicklung der Strafrechtsgeschichte haben, wo und wie nachhaltig in der Literatur daran angeknüpft wird.) Wo die Individualgeschichte von Tat und Täter literarisch entwickelt wird, geht es mehr um kriminologisches Wissen und kriminalpolitische Zwecke als um die Möglichkeit, Tat und Strafe einander unter den besonderen Umständen des jeweiligen Falles zuzuordnen. Literarisch wird in unserem Zeitraum im allgemeinen am Dogma vom ‘freien Willen’ festgehalten;13 mit ihm verbindet sich zum einen die Vorstellung einer natürlichen Sittlichkeit des Menschen, zum anderen die Annahme einer abschreckend-erzieherischen Wirkung der Strafe. In der schönen Literatur wird immer wieder der säkularisierte Kampf von ‘Gut und Böse’ inszeniert: das innere Drama zwischen begehrlicher Sinnlichkeit und widerstrebender 11
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Vgl. (mit Bezug auf Goethe) bereits Schmidt: Strafrechtspflege, S. 229. Orientiert man sich jedoch nicht nur an den großen Namen der Literaturgeschichte, so finden sich – beispielsweise schon in August G. Meißners „Kriminal-Geschichten“ (1796) – durchaus auch Darstellungen zeitgenössischer Strafrechtspraxis. Dazu Naucke: Polizeigedanke. Willensfreiheit, Verstandesfreiheit und Subjektstatus des Täters gelten als Voraussetzungen einer Strafe, die abschreckend-erzieherisch wirken soll.
Die Begleitstimme der ‘schönen Literatur’ zur Strafrechtsentwicklung 137 Moral bzw. – das ist seltener – angstvoller Antizipation von Strafe.14 Von besonderem literarischen Interesse sind dabei die Situationen eingeschränkter Entscheidungsfähigkeit (wie etwa Leidenschaft, Wahnsinn, Geburtsvorgang).15 (2) In der schönen Literatur wird weithin das formelle Strafrecht akzeptiert.16 An der Notwendigkeit staatlich organisierter Rechtsdurchsetzung wird in der Regel nicht gezweifelt,17 nur die institutionellen Wege der Durchsetzung unterliegen der literarischen Kritik. Vor allem nach 1848 gewinnen Polizistenund Detektivgeschichten Kontur und Beliebtheit. Auch hier wird die Handlung zumeist nur hingeführt bis zu Prozeß und Strafvollstreckung (als den normativ zentralen Bereichen des Rechtsgeschehens).18 Zu fragen wäre, inwieweit eine 14
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Vgl. dazu P. J. A. Feuerbachs rechtstheoretischen Standpunkt; für die strafrechtliche Praxis eines „Dichterjuristen“ ist von Interesse E. T. A. Hoffmanns Gutachten über die Mordtat des Tabaks-Spinnergesellen Daniel Schmolling, siehe Hoffmann: Juristische Arbeiten, S. 83–120. Die Problembereiche von Strafnotwendigkeit, Strafzwecken und Straffolgen werden literarisch nur selten angesprochen; erst ab etwa 1880 ist die sog. Gefängnisliteratur breiter repräsentiert; vgl. etwa Weigel: Schreiben im Gefängnis. – Rechtstheoretische Probleme sind um 1800 vor allem im Drama (vgl. beispielsweise Bohnert: Positivität des Rechts; Lüderssen: Recht als Verständigung), kriminologische Aspekte in der Erzählprosa behandelt; das dramatisch zugespitzte Rechtsgeschehen des Kriminalfalls wird in der – kriminelles Handeln begründenden – Täterbiographie oft entdramatisiert. Die rechtstheoretischen Diskussionen unseres Zeitraumes, die sich um eine eindeutige Definition von ‘Verbrechen’ bemühen, haben kaum literarische Folgen. Weithin erscheint Kriminalität als Abweichen von einer abstrakt konzipierten Normalität, die auch vom Leser vertreten wird. Auf die dargestellte ‘Abweichung’ folgt die literarisch inszenierte Trauer oder Empörung über die Tat, gelegentlich aber auch die Identifikation des Autors mit dem Außenseiter. Allerdings entstammen oft die literarisch aufgenommenen theoretisch-philosophischen Begründungen des staatlichen Strafanspruchs nicht den zeitgenössischen Diskussionen. Vgl. etwa Berthold Auerbachs „Sträflinge“ (1845), dagegen wäre Jeremias Gotthelfs „Erlebnisse eines Schuldenbauers“ (1854) zu stellen. Literatur steht seit Ausgang des 18. Jahrhunderts zum strafrechtlichen Geschehen in einer beweglichen Position, von der aus sich (weithin) legitimierende, aber ebenso auch herausfordernd-kritische Tendenzen entwickeln. Im Zeitraum bis 1848 kommt es beispielsweise – freilich nicht auf breiter Front – zur Kritik am Inquisitionsprozeß (vgl. etwa E. T. A. Hoffmanns „Meister Floh“), wobei literarisch weniger die allgemein prozeßrechtlichen Probleme, sondern persönlich zu verantwortende Willkürmaßnahmen und Rechtsirrtümer herausgehoben werden. Im Blick auf die literarische Themenwahl nach 1850 hat es den Anschein, als ob in diesem Bereich rechtskultureller Verständigung die Reformen der StPO als hinreichend gelten. Die literarische Kritik am Prozeßgeschehen wird erst wieder ab 1880/1890 intensiviert. Der Erfahrungsraum ‘Strafprozeß’ ist zwischen 1850 und 1890 im wesentlichen durch Zeitungsberichte und Fallgeschichten erfaßt. Dem sich dann verstärkenden literarischen Interesse am Gerichtsprozeß als Kern des Strafrechtsgeschehens (vgl. Texte wie Ricarda Huchs „Der Fall Deruga“, 1917 erschienen) steht nach 1880/1890 der Publikumserfolg der ‘prozeßfernen’ Detektivliteratur gegenüber, wobei die Prozeß- und
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Begleitstimme der ‘schönen Literatur’ zur Strafrechtsentwicklung
solche Perspektivierung durchaus der zeitgenössischen Realität der entscheidenden kriminalisierenden Zuschreibungen entspricht. (3) Die Präsenz der verbrechensverfolgenden Polizei im Rechtsgeschehen wird in den literarischen Darstellungen bis 1848 (mit Ausnahme von Ernst Dronkes „Polizei-Geschichten“ von 1846) nicht nachhaltig in Frage gestellt; wichtiger ist jedoch der Bereich der informellen Kontrolle in Familie, Nachbarschaft und öffentlichem Gerede. Dadurch kommen literarisch nur selten die Funktionsund Organisationsformen der im Aufbau befindlichen Kriminalpolizei in den Blick. Die Vorgänge bei den Spruchfakultäten und deren rechtliche Bedeutung werden zumeist nur angedeutet. Literarisch entwickeltes Rechtsgeschehen ist nicht auf Institutionen, sondern auf Personen bezogen.19 (4) Die differenzierten juristischen Diskussionen zu prinzipiellen Fragen der ‘Rechtsstaatlichkeit’ werden bis 1848 in der ‘schönen Literatur’ kaum aufgenommen; eher wird pauschal das gute alte, ethisch gestützte Recht gegen das formalisierte, ‘seelenlose’ moderne Recht gekehrt (vor allem bei Jeremias Gotthelf); bevorzugt werden ‘nahe’, vertraute und überschaubare Vorgänge der Rechtsdurchsetzung; die Patrimonialgerichtsbarkeit ist literarisch breit repräsentiert (vgl. z.B. Annette v. Droste-Hülshoffs „Die Judenbuche“ oder Fritz Reuters „Kein Hüsung“; zur Rolle des ‘alten’ Rechts ist die Oberhof-Geschichte in Immermanns „Münchhausen“ von besonderem Interesse). Dabei gilt zumeist, daß in Kriminalgeschichten diese ‘wildwuchernde’ Praxis von informellen Kontrollen, Verdächtigungen und Verfolgungen das Rechtsgeschehen auslöst, das dann ostentativ formell sowie institutionell (rechtsstaatlich) geordnet und zu Ende geführt wird. (5) In der ‘schönen Literatur’ unseres Zeitraums (1789–1848) ist das nicht kodifizierte Prozeßverfahren des ‘inneren Gerichts’ (vs. ‘äußeres Gericht’)20 entscheidend, d.h. auf der Gewissensinstanz des (zu Moral und Selbstverantwortung fähigen) Täters werden (im Bezug auf die internalisierten Prinzipien von Recht und Unrecht) nicht nur die Taten, sondern – wie in den Moralvorgaben der christlichen Religion – schon Gesinnungen und Absichten beurteilt. Das ‘innere Gericht’ wird durch das staatlich organisierte Strafen nur noch
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Fallgeschichten auf eine rechtlich informierte, gesellschaftlich aktive Leserschaft zielen. Dazu: Aspekte der Gesellschafts- und Rechtsgeschichte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Ein Fachgespräch unter Mitwirkung von Sten Gagner, Wolfgang Naucke, Joachim Rückert, Horst Schüler-Springorum sowie Beiträge von Otto Dann und Wolfgang Naucke. In: Schönert: Literatur und Kriminalität, S. 47–67. Dazu Bergk: Vorwort zu „Des Marchese Beccaria’s Abhandlung über Verbrechen und Strafe“; ferner Hügel: Untersuchungsrichter, S. 89 f. (zu A. G. Meißner).
Die Begleitstimme der ‘schönen Literatur’ zur Strafrechtsentwicklung 139 bestätigt.21 Durch die literarisch entwickelte Bedeutung des inneren Gerichtshofs ‘Gewissen’ wird das reale strafrechtliche Geschehen verdeckt bzw. in seiner Bedeutung reduziert; dadurch ist auch Strafrechtsdurchsetzung nicht erkennbar als Geschichte von Machtansprüchen und Sozialdisziplinierungen mit den Stationen ‘Gesetzgebung – Verordnung – Polizeiaufträge – Gerichtsprozeß – Strafvollzug’. (6) In literarischen Darstellungen gelten besondere Regelungen für die Abgrenzungen der Motivationen kriminellen Verhaltens (mit der vielfach wirksamen Tendenz, die Motivationen trotz aller Erklärungsversuche im Bereich des ‘Rätsels’ zu belassen) sowie für die Verdachtsmomente für mögliche Täter.22 (7) Weil das freie ‘innere Gericht’ in seiner ‘Gerechtigkeit’ gegenüber den gesetzten staatlichen Strafen als überlegen dargestellt wird, kommt es zu einer – religiös oder sozialethisch motivierten – Bekräftigung des Zusammenhangs von Moral und Recht, den die Strafrechtsentwicklung nach 1800 neu ordnen will. Bei der Verschiebung der juristischen Beurteilung des Verbrechens in der literarischen Darstellung wird die „Tatschuld [...] zur Lebensführungs- und Charakterschuld“.23 Je mehr das Strafgeschehen an Öffentlichkeit verliert, desto wichtiger wird – im Rahmen der Sozialdisziplinierung – der literarisch zu entwickelnde Vorgang des inneren Gerichts (Internalisierung der Rechtsnormen, Aspekte der ‘Seelenstrafe’): statt Teilhabe am öffentlichen ‘äußeren Gericht’ wird der Leser nun auf dem Weg der Imagination zum Mitspieler des ‘inneren Gerichts’. Mit dem Abbau des ‘öffentlichen Straftheaters’24 wächst 21
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Vgl. Eder: Zivilisierung, S. 233: „Die Ablösung des autoritär gesetzten Strafrechts durch ein an Lernprozesse in der Rechtskultur gebundenes positiviertes Strafrecht ist das zentrale Entwicklungsproblem für die Modernisierung des Strafrechts“. – In diesem Zusammenhang wäre u.U. auch Feuerbachs Theorie vom ‘inneren Zwang’ zu diskutieren. Als weiteres Stichwort für Entwicklungen um 1800 wäre auf M. Foucaults Schlagwort von der Ablösung der Tortur durch die „Seelenfolter“ zu verweisen und dabei weniger an den Strafvollzug als an das vorprozeßliche Geschehen zu denken. In der schönen Literatur tritt die – Wahrheit befördernde – Gewissensqual des ‘Kriminellen’ vielfach an die Stelle der Tortur alten ‘peinlichen Rechts’. Vgl. Imm u. Linder: Verdächtige und Täter. Ebd. S. 26. Dazu Foucault: Überwachen und Strafen. Bei den öffentlichen Hinrichtungen im 17./18. Jahrhundert dienten – beispielsweise in England, Frankreich und Deutschland – die Herausgabe von Verbrecherbiographien, Geständnissen und Erklärungen (auch als mündliche Aktionen bei der Hinrichtung) sowie die Veröffentlichung des Urteils dazu, den konkret-anschaulichen Strafvorgang mit ‘literalen Sinnproduktionen’ zu verbinden – vgl. etwa Arnold: Wicked Lives, S. 254. Die Vorgänge des ‘inneren Gerichts’ (vielfach in der Obhut oder Anleitung der Gefängnisgeistlichen, was vor allem zu Newgate erforscht ist) sind eingebunden in das Geschehen des ‘äußeren Gerichts’. Die ‘schöne
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Begleitstimme der ‘schönen Literatur’ zur Strafrechtsentwicklung
also die Bedeutung der literarisch inszenierten Bestrafungen und ihrer Implikationen von Notwendigkeit, Rechtmäßigkeit und Regelmäßigkeit der Strafe. Die Details des Strafvorgangs werden freilich zumeist ausgeblendet. (8) In den literarischen Darstellungen unseres Zeitraums (1789–1848) spielt ab etwa 1810 auch die Information über Konstellationen des reformierten Inquisitionsprozesses eine Rolle,25 wobei Kritik vor allem dann formuliert wird, wenn der Untersuchungsrichter seinem als ‘souverän’ idealisierten Amt in Charakter und Fähigkeit nicht gewachsen ist.
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Literatur’ (bis hin zu den Moritaten) übernimmt bei dem allmählichen Abbau des öffentlichen Straftheaters vielfach die Funktionen der von den Theologen vollzogenen Sinngebung und allgemein-erzieherischen Applikation des Strafereignisses (dazu Dülmen: Schauspiel des Todes, S. 243); die symbolischen Aktionen des Straftheaters müssen dabei mehr und mehr ‘versprachlicht’ werden. Im Prozeß eines weiteren ‘Zivilisationsgewinns’ wird in der ‘schönen Literatur’ seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert der Leser freigesetzt von den vorgegebenen Abläufen der Teilhabe am ‘äußeren Gericht’ und stattdessen im Raum der literarisch stimulierten Einbildungskraft zum Mitspieler des ‘inneren Gerichts’, das der ‘Verbrecher’ über sich selbst hält (vgl. beispielsweise Schillers Kriminalerzählung „Verbrecher aus Infamie“). Dabei wird die Strafmacht der Idee der Sittlichkeit bzw. dem Gebot eines ‘normalen’, d.h. rechtskonformen Verhaltens zugeschrieben (und dadurch auch ‘Normalität’ definiert bzw. diese Definition gesichert), während die Strafgewalt des Staates in den Hintergrund tritt. Dieser Vorgang wäre wiederum in Verbindung zum rechtstheoretischen Programm des generalpräventiven psychischen Zwangs zu setzen. Allerdings läßt sich kaum nachweisen, daß die literarisch vermittelte Gewißheit von Entdeckung und Bestrafung kriminalitätshemmend wirkt. Unter den Perspektiven der psychologischen Generalprävention würde sich (neben den besonderen ‘Sensationswirkungen’) die nahezu ausschließliche Konzentration der Literatur auf Kapitalverbrechen erklären – vgl. Naucke: Feuerbachs Straftatbegriff, S. 481: „die psychologische Zwangstheorie“ verlangt „auf der Straftatseite schwere Schuld“. Wichtiger als die individualpsychologisch-rechtstheoretische Implikation literarischer Darstellungen zu Verbrechen und Strafrechtspflege dürfte die sozialpsychologische und gesellschaftspolitische Perspektive sein. Die Ausbreitung und Differenzierung literarischer Verbrechensdarstellungen nach 1770 dient dazu, die allgegenwärtige Präsenz des Verbrechens in der sozialen Welt zu bestätigen (vgl. auch die Wirkungen bei der Einführung der Kriminalstatistik in Preußen) und die Notwendigkeit der Arbeit von Justiz und Polizei literarisch zu legitimieren (wobei in der Regel diese Arbeit als zuverlässig und erfolgreich dargestellt wird, um das Gefühl der Rechtssicherheit zu vermitteln). Vgl. Hügel: Untersuchungsrichter, S. 17. Der Anteil strafprozeßrechtlicher Informationen ist jedoch vor 1848 gering (vgl. ebd., S. 113, zu Laurids Kruses „Der krystallene Dolch“ von 1823) – im Vergleich etwa zu den Informationen, die vor allem Temme in seinen Kriminalgeschichten nach 1850 über die bereits historische Prozeßform des Inquisitionsprozesses gibt. Hügels wichtige Studie zur Geschichte der Detektiverzählung bezieht allzu rasch die Entwicklungen im Strafprozeßrecht (vom reformierten Inquisitionsprozeß zum Geschworenengericht) und den Aufbau des Polizeiwesens auf die Entwicklung des Kriminal-Genres in der deutschen Literatur.
Die Begleitstimme der ‘schönen Literatur’ zur Strafrechtsentwicklung 141 (9) Kriminalpsychologisches Wissen26 – wie es entfachlichte Falldarstellungen und belletristische Kriminalgeschichten vermitteln oder zu vermitteln beanspruchen – wird nach Abschaffung der Folter für den Inquisitionsprozeß wichtig: über den Erfahrungsraum der ‘schönen Literatur’ kann sich der Inquirent (kriminaltaktische) psychologische Kenntnisse verschaffen, die er in der dramatischen Auseinandersetzung mit dem Inquisiten einsetzt,27 um den Angeschuldigten zu überführen. (10) In den literarischen Darstellungen sind durch den Rekurs auf Lebensführungs- und Charakterschuld zumeist die individuellen und ereignishaften Aspekte von Täter und Tat (siehe auch die Wirkungsaspekte des Merkwürdigen und Sensationellen) mit (literaturspezifischen) normativen Perspektiven verbunden.28 26
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Vgl. Engelhardt: Kriminalität, S. 264: für die ‘frühe Kriminalpsychologie’ wird insbesondere verwiesen auf v. Eckartshausen (1791), Schaumann (1792), Münch (1799) und Hofbauer (1808). – In der schönen Literatur werden nur in begrenzter Form Informationen zu den Vorgängen der Rechtsdurchsetzung – von der Ermittlungsarbeit bis zum Prozeßgeschehen – vermittelt (die Konstellationen, die J. Bohnerts Beitrag im „KleistJahrbuch“ von 1985 beschreibt, stellen eher eine Ausnahme dar); nachhaltiges Interesse besteht dagegen an der lebensgeschichtlichen (weniger der sozialen, mehr der psychologischen) Entwicklung des Täters. Literarisch werden aus den ‘Tatstrafen’ die ‘Täterstrafen’, wobei die Position der Literatur durchaus nicht von vorneherein mit ‘fortschrittlich’ oder ‘liberal’ gleichzusetzen ist, vgl. Reuchlein: Zurechnungsfähigkeit, S. 2 f. Wo die ‘Rechtsaufklärung’ um 1800 zwischen Tätern unterscheidet, die noch zu bessern sind und deshalb ‘human’ gestraft werden, und unverbesserlichen Tätern, die ‘ausgestoßen’ werden, wird in der Literatur zwischen leichtsinnigen, leidenschaftlichen, unglücklichen Tätern auf der einen Seite und lasterhaften Bösewichten auf der anderen Seite geschieden. Die literarische Explikation der Tätergeschichte soll nicht dazu führen, das adäquate Strafmaß zu finden (vgl. dazu Beccaria und Feuerbach) oder zu begründen, sondern steht im Dienst sozial- und kriminalpolitischer Interessen – vgl. zu den pädagogischen, psychologischen und soziologischen Aspekten in der Kriminalpolitik des späten 18. Jahrhunderts Neusüß: Gesunde Vernunft, u.a. S. 99. Neusüß verweist darauf, daß zu diesen Zwecken auf Erfahrungswissen aus unterschiedlichen Bereichen zurückgegriffen wird (ebd., S. 117). Eine ‘Erfahrungsquelle’ bildet um 1800 eben auch die ‘schöne Literatur’. Vgl. Hügel: Untersuchungsrichter, S. 91 f.: zum Drama zwischen Inquirent und Inquisit. Die (nach 1810) wachsende Bedeutung des Indizienbeweises ist in der schönen Literatur erst ab 1850 deutlich wahrnehmbar. Dabei halten literarische Darstellungen zeitgenössischer Rechtspraxis vielfach auch dann noch am besonderen Wahrheitswert des Geständnisses fest, als in der Strafrechtspraxis schon längst das geständnisbezogene Inquisitionsverfahren durch den Indizienprozeß ersetzt werden konnte – vgl. Imm u. Linder: Verdächtige und Täter, S. 89 f. Vgl. z.B. Schillers Einleitung zu der von ihm und Niethammer 1792 besorgten deutschen Ausgabe der „Causes célèbres“ von F. Gayor de Pitaval oder die ersten Abschnitte in seiner Erzählung „Verbrecher aus Infamie“ (1786). In der Entwicklung des Strafrechts zu liberal-rechtsstaatlichen Prinzipien seit Feuerbach (so Schmidt: Strafrechtspflege,
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Begleitstimme der ‘schönen Literatur’ zur Strafrechtsentwicklung
(11) In der ‘schönen Literatur’ werden häufig Formen ‘vormoderner’ (z.B. Feme) und ‘informeller’ Gerichtsbarkeit bewahrt oder reaktiviert, die das aktuell geltende – das moderne und formelle – Recht in seinem Anspruch auf Liberalität und Wirksamkeit in Frage stellen.29 Die literarische Geltung ‘antiquierter’ Vorstellungen zu Verbrechen und Strafe (z.B. Verbrechen primär als Verstoß gegen die Gebote Gottes, nicht als Schädigung des Gemeinwohls) dürfte die ‘rechtspraktische’ Situation um 1800 eher verdeutlichen als die strafrechtsgeschichtliche Rekonstruktion aus den elaborierten rechtstheoretischen Diskussionen der Zeit.30 (12) Besonders wichtig ist das – historisch unterschiedlich genutzte – Postulat der Literatur, verschiedene ‘Fachdiskurse’ (z.B. der Rechtstheorie, der Kriminologie, der Medizin, der Pädagogik)31 thematisieren und vermitteln zu können, um eine – sonst nicht zu erreichende – ‘ganzheitliche Wahrheit’ darzustellen (vgl. beispielsweise für die Jahre vor 1800 die Kindsmord-Debatten). Dabei übernimmt oder stützt die ‘schöne Literatur’ auch Wissensbestände und Sichtweisen, die in der Fachwissenschaft umstritten sind, so daß ‘literarischer Geleitschutz’ für die wissenschaftliche ‘Einbürgerung’ gegeben oder eine spätere fachliche Integration ermöglicht wird.32 So dienen literarische Thema-
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S. 365) wurde Verbrechen „nicht als reales Ereignis des individuellen und sozialen Seins“ aufgefaßt, sondern als normatives Phänomen beurteilt. Dagegen bleibt in der schönen Literatur (aber auch in den Fallgeschichten des „Neuen Pitaval“) eine jeweils zu bestimmende Verbindung von Normativität und empirischer Diversifizierung des Besonderen präsent; zu fragen ist, inwieweit über eine solche rechtskulturelle Konstellation Entwicklungen der Strafrechtsgeschichte beeinflußt werden. Zumindest kehren die Diskussionen im ausgehenden 19. Jahrhundert (vor allem im Bereich von Kriminologie und Kriminalpolitik) – vielfach auch aus Legitimationsgründen – auf diese literarisch erhaltene Sichtweise zurück – vgl. zu Liszt etwa Schmidt: Strafrechtspflege, S. 366: Verbrechen und Strafe erscheinen „als höchst reale Geschehnisse im Leben des Einzelnen wie des Staates“. Literatur wird für die Kriminologen zum Quellenbereich, um an den fiktiven Figuren quasi-empirisch die ‘Natur des Verbrechens’ zu studieren. Dazu Hahl: Gotthelf. – In den literarischen Darstellungen zu Verbrechen und Strafrechtspflege findet sich zwischen 1830 und 1890 zum einen ‘fortschrittsfrohe’ Kritik an den unterschiedlichen historischen Formen der Rechtsdurchsetzung (von Kirchenbußen und Hexenverfolgung, patrimonialer Gerichtsbarkeit und staatlichem Strafanspruch), zum anderen die ‘konservative’ Distanz zur verwissenschaftlichten, bürokratisierten und politisierten Justiz des ‘modernisierten’ Staatswesens. Vgl. Kleinheyer: Delinquentenbild, S. 233: in der Strafrechtspraxis ist die Ausschließung des Vergeltungszweckes durchaus nicht durchgesetzt. Dazu etwa Reuchlein: Zurechnungsfähigkeit; Kolkenbrock-Netz: Wahnsinn der Vernunft; Auhuber: E. T. A. Hoffmann. Vgl. Lepenies: Status der Soziologie, S. 484: „Die im Zuge eines Disziplinierungsprozesses aus den Wissenschaften verbannten Traditionsbestände verschwinden nicht einfach; manchmal werden sie in der Literatur gespeichert und kehren anschließend auf
Die Begleitstimme der ‘schönen Literatur’ zur Strafrechtsentwicklung 143 tisierungen der Strafrechtspflege in unserem Zeitraum vielfach dazu, bestimmten fachlich-dogmatischen Positionen eine ideelle und kulturelle Legitimation zu geben oder Einfluß auf rechtspolitische Diskussionen zu nehmen. (13) Dabei wurden vor allem folgende strafrechtliche Probleme aufgenommen und diskutiert: das Problem der Todesstrafe;33 die Verbrechen aus Leidenschaft (mit besonderen Konstellationen in Frankreich und in der französischen Literatur); die Frage der Zurechnungsfähigkeit, des geistigen und moralischen Wahnsinns;34 Aspekte der Kriminalätiologie als Problem der richtigen moralischen, psychischen und sozialen Entwicklung (auch verbunden mit der Frage des freien Willens).35 Bevorzugte Delikte sind: Kindsmord, Bandenkriminalität (Räuber, Schmuggler), Wilddiebstahl, Giftmord. (14) Einen besonders wichtigen Untersuchungsgegenstand in unserem Zeitraum stellen die sog. Dichterjuristen dar.36 Vor allem um 1800 wird der Ver-
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Umwegen in die Wissenschaften zurück“; vgl. auch Reuchlein: Zurechnungsfähigkeit. Nach 1800 verstärkt sich die kulturelle Tendenz, die ‘Wahrheit’ der Literatur unter völlig anderen Kriterien zu bestimmen als die ‘Wahrheit’ wissenschaftlicher Erkenntnis. Dieser gesellschaftliche Vorgang der Ausdifferenzierung unterschiedlicher ‘Wertsphären’ hat auch Folgen für das Verhältnis von literarischer und juristischer Darstellung der Kriminalität und Strafrechtspflege. Für unseren Zeitraum gilt ab etwa 1830 – pauschal formuliert – für eine anspruchsvolle Leserschaft: der Wahrheitswert literarischer Darstellungen ist vielfach der ‘Authentizität’ des realen Rechtsgeschehens nachgeordnet (in der Bindung literarischer Fiktionen an tatsächliche oder imaginierte Aktenlage). Im Gegensatz zur Konstellation um 1900 werden in ‘juristischen Diskursen’ unseres Zeitraums selten die literarischen Darstellungen des Verbrechens herangezogen, während die Literatur durchaus juristische Perspektiven und Beurteilungen einbezieht. Vgl. dazu beispielsweise Müller-Seidel: Todesarten. Vgl. dazu vor allem die juristischen und literarischen Arbeiten von E. T. A. Hoffmann; dazu Kolckenbrock-Netz: Wahnsinn der Vernunft; Reuchlein: Zurechnungsfähigkeit; Auhuber: E.T.A. Hoffmann; zudem G. Büchners juristisch-medizinisches Material für „Woyzeck“, aber auch das Interesse ‘gebildeter Leser aller Stände’ an der ‘hysterischen’ Giftmörderin Gesche Gottfried. Die Fragen nach der moralischen, psychischen und sozialen Entwicklung des ‘Kriminellen’ erschließen in der Literatur ein breites ‘ätiologisches Spektrum’, wobei fast ausschließlich Probleme der Sozialisation, nicht jedoch der Sozialstruktur dargestellt und verfolgt werden, vgl. auch Hegel: Wer denkt abstrakt? – Schon bei A. G. Meißner und F. Schiller werden kriminalätiologische Aspekte für rechtspolitische Argumentationen genutzt. Vgl. zum Begriff und zu den Personen als jüngste Veröffentlichung Kilian: Literatur und Jurisprudenz. – Im 18. und 19. Jahrhundert sichert das Jura-Studium (abgesehen von den konjunkturellen Schwankungen bei Staatseinstellungen) eine finanzielle Versorgung; die Juristenlaufbahn bringt für ‘Schöngeister’ aber auch Probleme (verstärkt ab Beginn des 20. Jahrhunderts im Zusammenhang der vielfach literarisch artikulierten Justizkritik); ebenso liebäugeln Juristen (aus einer ‘bildungsbürgerlichen Sozialisation’) oft mit dem praktischen Ausstieg in den Beruf des Schriftstellers oder mit einem philo-
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Begleitstimme der ‘schönen Literatur’ zur Strafrechtsentwicklung
haltens- und Rollenkonflikt zwischen den – in einer Person erfahrenen – Verpflichtungen des Schriftstellers und Juristen thematisiert.37 Für die Diskussion des literarischen und juristischen Handelns von Dichterjuristen wäre zunächst nach den unterschiedlichen Regeln des ästhetischen und rechtlichen Systems zu fragen;38 nur in besonderen Konstellationen – wie etwa bei J. D. H. Temme – ist es sinnvoll, von der Einheit von Person und Gesinnung auszugehen.39
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logischen Ausflug in die ‘schöne Literatur’. Die Spannung zwischen dem juristischen und belletristischen Engagement ist auch abhängig von dem jeweiligen Stand der kulturellen Differenzierung. So wechselt z.B. P. J. A. Feuerbach (der mit seinem Kaspar Hauser-Buch quasi ‘einen Roman’ schreibt) mehr oder weniger problemlos zwischen den Bereichen des Fachlichen und Schöngeistigen; F. v. Liszt dagegen kann mit seinem fachlichen Engagement nur noch kulturpolitische Aktivitäten verbinden; das Belletristische bleibt ihm als Aktionsbereich verschlossen. Ein Jurist wie E. Wulffen wird belletristisch nur auf ‘niederem Niveau’ tätig, während Dr. jur. K. Tucholsky das Gebiet der juristischen Probleme und Ereignisse literarisch insbesondere auf satirische Weise bearbeitet. Vgl. etwa den Brief Nr. 20 (aus dem Zeitraum Nov./Dez. 1792) in Wackenroder: Briefwechsel mit Ludwig Tieck, S.138: Wackenroders „Empfindsamkeit“ wird ihm als Juristen „wenn ich je einer werden sollte [...] eine wahre Bürde sein.“ Die Freiheit des Juristen sei durch positive Gesetze eingeschränkt. Die problematische Situation des Juristen bestünde darin, nach den normativen Gegebenheiten unter Absehung der individuellen urteilen zu müssen: „daß ich meinen kalten Verstand brauchen soll, wo die Herzen gegeneinander stoßen; daß ich das Feuer der Leidenschaft mit Wasser ersticken, – den Knoten des mannigfaltig verschlungenen Interesses so vieler zerhauen, – einen Vorfall, über den ich, wenn ich ihn auf der Bühne dargestellt sähe, von dem innigsten Mitleid durchdrungen, in Tränen zerflösse, einen solchen Vorfall – wie eine Variante einer gemeinen Lesart ansehen, und überlegen, ausrechnen soll“. Vgl. zu diesem Thema auch die Probleme, die Juristen und Philologen mit Goethes Auffassungen vom Strafrecht und seiner strafrechtlichen Praxis als Mitglied des Weimarer Kabinetts hatten. Als irritierend für das Verständnis vom ‘humanistischen Dichter’ (und Gestalter der ‘Gretchen-Tragödie’) erschien besonders Goethes rigoroses Verhalten im Falle der Kindsmörderin Johanna Höhn, die vom Jenenser Schöppenstuhl 1783 zum Tode verurteilt wurde. Das Kabinett – Goethe eingeschlossen („auch ich“) – lehnte eine Umwandlung der Strafe ab; dazu Wieruszowski: Goethe und die Todesstrafe, S. 844. Vgl. z.B. das persönlich-rhetorische Engagement des Journalisten und Schriftstellers J. A. Bergk in seiner Beccaria-Übersetzung. Sein rechtspolitisches Programm (Abschaffung der Todesstrafe, Einrichtung von Geschworenengerichten, Aufhebung der entehrenden Strafen) korrespondiert in der rhetorisch-emphatischen Formulierung mit seiner Position in der ‘schönen Literatur’: als Schriftsteller sieht er die nachhaltige Strafe in der Entscheidung des ‘inneren Gerichts’ (vgl. Anm. 20), des Gerichtshofes des Gewissens, der mit dem äußeren Gericht (den Abläufen von Vernehmung, Prozeß, Urteil) in Verbindung zu setzen ist. Sittlichkeit und Tugend sind für Bergk – den NichtFachjuristen – die entscheidenden Instanzen, denen das gesetzte und gemachte Recht unterzuordnen ist; doch verkennt er durchaus nicht die prinzipielle Verschiedenheit einer ‘Tugendlehre’ von der Rechtslehre.
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III. Der skizzierende Überblick zu den Konstellationen des Gesamtzeitraums (1789–1848) soll noch kurz ergänzt werden mit Hinweisen auf wichtige literarische Prozesse.40 (1) Zwischen 1780 und 1820 und dann ab 1840 wird der Raum für die Darstellung von Verbrechen und Strafgeschehen erheblich erweitert. Literarische Darstellungen im weitesten Sinne41 begleiten im rechtskulturellen Zusammenhang die strafrechtlichen Diskussionen und institutionellen Entwicklungen. Wenn die ‘schöne Literatur’ um 1800 die Allgegenwärtigkeit des Verbrechens betont und herausstellt, daß jeder Mensch zum Verbrecher werden kann,42 falls er seinen sinnlichen Triebkräften zu viel Spielraum gibt, dann ist damit im Alltagsbewußtsein der Boden bereitet für den umfassenden Anspruch und die Macht staatlicher Rechtsordnungen.43 Eine solche Entwicklung wird dadurch ermöglicht, daß die ‘schöne Literatur’ nach 1770 neue kulturelle Aufgaben einer öffentlichen Sinnorientierung in unübersichtlichen denk-, gesellschaftsund wirtschaftsgeschichtlichen Prozessen erhält, daß sich die ästhetischen Normen für den heiklen Bereich der Darstellung von Häßlichem, Schreckli40
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In dem hier zu verfolgenden Zusammenhang können die nicht-rechtskulturellen Aspekte literarischer Verbrechensdarstellungen (der Materialwert des Außergewöhnlich-Sensationellen, die Vorgänge der Affektstimulation, der Entlastung des Aggressionstriebs usf.) unberücksichtigt bleiben. Dazu Lüsebrink: Kriminalität und Literatur. Vgl. zum obwaltenden anthropologischen Interesse etwa Schings: Der anthropologische Roman. – Verbrechen wird als Gegenstand der ‘nützlichen’ Belletristik in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts akzeptabel, weil man sich nicht nur mit dem Schrecklichen des Geschehens begnügt, sondern pragmatische ‘Geschichtsschreibung’ betreibt, d.h. materielle und psychische Ursachen angibt: ‘Kausalnexus’ als ästhetische Qualität korrespondiert mit Interessen der Jurisprudenz zur Entstehung von Verbrechen (Generalprävention). Wer die Ursachen kennt, kann den Verbrechen wehren – im Gegensatz zu Konstellationen, in denen Verbrechen als Folge des Sündenfalls, des Urbösen in der Welt gesehen wird; vgl. dazu Lüsebrink: Kriminalität und Literatur; Krüger: „Le crime merveilleux“. – Die Ästhetik-Diskussion nach 1750 ist in Frankreich so angelegt, daß Verbrechen zum akzeptablen Kunstgegenstand wird (insbesondere bei de Sade). Zu beachten ist Schillers Auffassung, der Verbrechensdarstellungen als lehrreich ansieht, aber nur besondere Verbrechen (große Leidenschaften) für ästhetisch akzeptabel hält. Der Aufschwung der Verbrechensliteratur um 1800 ist somit bedingt durch das neu entdeckte anthropologische Wissenspotential der ‘schönen Literatur’ und die Veränderung der ästhetischen Normen. Nach 1850 dienen Verbrechensdarstellungen in der schönen Literatur weithin dazu, die gesellschaftliche Ausgrenzung der Außenseiter zu stützen oder sie kritisieren – wie bei Wilhelm Raabe oder Theodor Storm – gerade dieses Ausgrenzungsgebot. In der expressionistischen Literatur nach 1910 stellen sich die Autoren vielfach an die Seite der Ausgegrenzten.
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chem und Abstoßendem ändern und daß die Forderungen nach öffentlicher Zugänglichkeit der strafrechtlichen Diskussionen und des rechtspraktischen Geschehens verstärkt werden. (2) Nicht nur in der Doppelrolle von ‘Jurist und Dichter’ werden in unserem Zeitraum Verbindungen zwischen dem Rechts- und Literaturbereich hergestellt, sondern auch über die besondere Sprachlichkeit des Handelns in den beiden Bereichen. Um 1800 ist die Sprache der Literatur noch stark von rhetorischen und philosophischen Traditionen geformt, die auch die Sprache der Juristen prägen.44 Das Konzept anspruchsvoller Zeitschriften mit juristischen Themen (etwa Klein / Kleinschrod’s „Archiv des Kriminalrechts“ oder noch in den 1820er Jahren die „Zeitschrift für die Anthropologie“) verweist auf eine weithin homogene Rechtskultur der ‘gebildeten Stände’.45 Nach 1806 setzt die Professionalisierung des stark bürokratisch gebundenen Juristenstandes ein,46 ebenso die philosophisch begründete Dogmatisierung des Strafrechts; die angestammte Rechtskultur wird dabei in unterschiedliche Funktionssysteme (Rechtsdogmatik / Rechtsphilosophie, Gesetzes- und Prozeßordnungskenntnis, Rechtspolitik, populärwissenschaftliche Vermittlungen, Alltagswissen, Phantasiekriminalität) aufgebrochen. Dabei sind die ‘Belletristen’ zunächst aus den rechtsphilosophischen und rechtspolitischen Debatten ausgegrenzt; nicht zuletzt dadurch kann die ‘schöne Literatur’ – frei von den Fesseln der Fachlichkeit – zum Experimentierfeld für Vorstellungen, Konzepte und Standpunkte werden, die fachlich außerhalb der Akzeptanzgrenzen liegen (wie etwa im Bereich der Kriminologie).47 (3) Durchaus nicht parallel zur antinomischen Stellung der Literatur zum Rechtsgeschehen (nämlich zwischen Legitimation und Kritik) bilden sich seit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts die beiden Grundtypen der literarischen Thematisierung von Verbrechen und Strafe heraus: die rechtsnahen Kriminal44
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Der Rückzug von der lateinischen Fachsprache schafft um 1800 besondere Konstellationen, die durch die Ausbildung einer deutschen juristischen Fachsprache im Laufe der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wieder eingeschränkt werden, während vor allem viele rechtspolitische und rechtstheoretische Schriften in der Tradition des späten 18. Jahrhunderts um Allgemeinverständlichkeit für ein gebildetes Publikum und Anschaulichkeit bemüht sind, vgl. etwa J. A. Bergks Beccaria-Ubersetzung (mit Beigaben) oder P. J. A. Feuerbachs Fallgeschichten. Gemeint ist ‘Homogenität’ in Wissensbeständen, Anspielungsbereichen, Wertmustern und Sprachformen. Die 1842 begonnene Reihe des „Neuen Pitaval“ dürfte noch in dieser Tradition stehen. Dazu Rückert: Friedrich Carl von Savigny. Vgl. vor allem den ‘Dichterjuristen’ E. T. A. Hoffmann, dazu Kolkenbrock-Netz: Wahnsinn der Vernunft; Auhuber: E. T. A. Hoffmann.
Die Begleitstimme der ‘schönen Literatur’ zur Strafrechtsentwicklung 147 geschichten und Falldarstellungen und die unterschiedlichen Genres der ‘Phantasiekriminalität’. Im untersuchten Zeitraum von 1789 bis 1848 ist die Position der rechtstheoretisch informierten und rechtspraktisch orientierten fiktiven Kriminalgeschichten zahlen- und wirkungsmäßig schwach ausgebildet, während Kriminalmotive dagegen vielfach in die breit repräsentierten Familien- und Liebesromane einbezogen sind. Bei ‘gebildeten Lesern’ dominieren die pitavalgemäßen Bearbeitungen von Rechtsfällen (mit Verschiebungen von der tatbestandsmäßigen Sachverhaltsschilderung zur Tätergeschichte),48 während die Phantasiekriminalität (Räuber-, Schauer- und Sensationsromane) eine starke Resonanz bei einem breiten Lesepublikum hat.49 (4) Abschließend seien noch einige Hypothesen zum Wandel der rechtskulturellen Funktionen literarischer Darstellungen von Verbrechen und Strafrechtspflege formuliert:50 Um 1800 dominiert die anthropologische Perspektive: kriminelles Verhalten wird als eine mögliche Form menschlichen Verhaltens gesehen; sein Studium vertieft die Menschenkenntnis (vgl. Schiller); es wird danach gefragt, inwieweit – jenseits theologischer Erklärungen – ‘das Böse’ Teil der menschlichen Natur ist, wie der Mensch zum Bösen bzw. zum Rechtsbruch kommt, ob und wie der Rechtsbrecher wieder in die menschliche Gemeinschaft zurückgeführt werden kann. Im Blick auf die anthropologischen Erkenntnisse wird kein wesentlicher Unterschied zwischen den Fallgeschichten (nach dem PitavalMuster) und den ‘pragmatisch’ erzählten Kriminalgeschichten der ‘schönen Literatur’ gemacht: beide führen zur besseren Kenntnis des Menschen. 48
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Die Grenzen zwischen ‘Literatur’ und ‘Nicht-Literatur’ sind dabei um 1800 nicht strikt gezogen – vgl. etwa die prominente Einleitungsposition von Schillers „Verbrecher aus Infamie“ in J. M. F. von Endters „Sammlung merkwürdiger Rechtsfälle aus dem Gebiete des peinlichen Rechts. Ein Lesebuch für Juristen und Nichtjuristen“ (Nürnberg 1794). Nach 1850 kommt es – vor allem durch die Familienzeitschriften – zum Ausbau der Kriminalgeschichten; die ‘schöne Literatur’ und (die neu entwickelte) Gerichtsberichterstattung vermitteln den Eindruck einer rechtlich geregelten Welt und statten ihre Leser mit einem Grundwissen zu strafrechtlichen, prozeßrechtlichen und kriminologischen Kenntnissen aus. Dabei wird das Bild einer funktionierenden Polizei- und Gerichtsarbeit vermittelt, die – wo Polizei und Gericht nicht zum notwendigen Erfolg kommen – durch das Walten einer höheren Gerechtigkeit oder die Wirksamkeit des ‘inneren Gerichts’ unterstützt und ergänzt wird; dazu Imm u. Linder: Verdächtige und Täter, S. 57. Dieses Funktionenspektrum wird exemplarisch verdeutlicht durch die Gerichtsberichte und Kriminalgeschichten (im Feuilleton) der „Berliner Gerichts-Zeitung“ (1852–1898). Sie vermittelt Gesetzeswissen, Informationen über das Kriminalgeschehen sowie Unterhaltung und verbindet populärwissenschaftlich-rechtliche Erörterungen mit Polizeiund Prozeßberichten sowie (fiktiven) Kriminalgeschichten, vgl. ebd. S. 33–48. Vgl. auch Schönert: Kriminalgeschichten.
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Nach 1820/30, verstärkt nach 1850, setzt sich die staatliche Rechtsmacht legitimierende Sicht gegen obrigkeitskritische Tendenzen (vgl. etwa E. T. A. Hoffmann oder Ernst Dronke) durch. Die Trennung zwischen (rechtskonformen) ‘aktenmäßigen’ Darstellungen und explizit fiktiven Geschichten (mit beweglichen Positionen zum Rechtsgeschehen) wird deutlicher. Nach 1850 wird diese Abgrenzung verstärkt: die schöne Literatur thematisiert ‘nach den Regeln der Kunst’ Verbrechen und Strafvorgänge; die Fallgeschichten (nach dem Typus des „Neuen Pitaval“) haben einen eigenen Sektor innerhalb der rechtskulturellen Verständigung über Kriminalität und Strafrechtspflege. Nach 1880 wird in den dichterischen Verbrechensdarstellungen ein erfahrungs- und wissensbezogener Wert insbesondere für die Kriminologie, Kriminalpsychologie und Kriminalsoziologie gesehen. Die Öffentlichkeitsbereiche der schönen Literatur und ihres kulturellen Umfeldes werden zu rechtspolitischen Zwecken genutzt.51 Nach 1900 verstärken sich auch im literarischen Bereich die justizkritischen Tendenzen.
IV. Trotz der sozialgeschichtlich gestützten Bezüge zwischen Rechts- und Literaturgeschichte52 sind die prinzipiellen Unterschiede in der Darstellung des strafrechtlichen Geschehens, seiner Bedingungen und Wirkungen nicht zu übersehen: (1) Die literarischen Darstellungen erfassen das Strafrechtsgeschehen nur in bestimmten Aspekten und Instanzen; sie entwickeln besondere Problemformulierungen und Problemlösungen für die geschichtlich relevanten Konstellationen. Die ‘schöne Literatur’ hat ihr eigenes System der Delikte (sowohl in Beschreibung und Zuordnung der Delikte als auch in der – von der Kriminalstatistik abweichenden – Häufigkeitsverteilung) sowie der Strafen und Strafzumessungen; sie operiert nach dem Prinzip einer (jeweils zu bestimmenden, historisch variablen) ‘poetischen Gerechtigkeit’,53 die oft als ‘Hilfsjustiz’, seltener als ‘Gegenjustiz’ eingesetzt ist.54 51 52 53 54
Dazu Linder: Justizkritik. Vgl. (neben Imm u. Linder: Verdächtige und Täter; Lüsebrink: Kriminalität und Literatur) Meyer-Krentler: „Die verkaufte Braut“; Ders.: Willkomm und Abschied; Meyer: Deutungsmuster von Kriminalität. Vgl. zum Begrifsgebrauch Zach: ‘Poetic Justice’. Diese Perspektive wäre im Zusammenhang der Naturrecht-Diskussion des 18. Jahrhunderts genauer zu verfolgen, vgl. etwa Ilting: Naturrecht und Sittlichkeit. – Die ‘schöne Literatur’ folgt nicht den Strafproportionen des gesetzten Rechts; ‘literarisch’ wird oft viel härter gestraft. Die rechtsreformerischen Überlegungen zur Proportionalität von
Die Begleitstimme der ‘schönen Literatur’ zur Strafrechtsentwicklung 149 (2) Die täter- wie auch die tatorientierte Perspektive literarischer Verbrechensdarstellungen folgen in Auswahl und Verbindung von verbrechensbezogenen Ereignissen und Geschichten nicht den juristisch formalisierten Regeln von Sachverhaltsschilderung und Tatbestandsermittlung. Literatur dimensioniert und erzählt den Rechtsvorgang auf eigene Weise. (3) Im Inquisitionsprozeß hat nirgendwo der Inquisit Stimme, stets sprechen Juristen für ihn. Im ‘Gerichtsverfahren’ der Literatur (vgl. Schiller) erhält dagegen der Angeschuldigte Stimme und persönliches Erscheinungsbild (bis hin zur heutigen ‘Täterliteratur’: bekannte Schriftsteller übernehmen die Herausgeber- oder Patronatsfunktion für ‘straffällige’ Autoren).55 (4) Auf der Ebene von ‘Wahrheit und Fiktion’ lassen sich – zumindest im Blick auf die historischen Konstellationen im letzten Drittel des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts – keine durchgehenden Unterscheidungen zwischen den juristischen Sachverhaltsschilderungen und aktenmäßigen ‘Kriminalgeschichten’ festlegen. Mit Eckhardt Meyer-Krentler ist festzuhalten: Vielfach entwirft rechtliches ‘Erzählen’ auch nur ‘Vorstellungen’, mehrfach bedingte Bilder von Wirklichkeit;56 es wählt aus der Gesamtheit der möglichen Fakten und füllt die Lücken zwischen dem Rekonstruierbaren mit Konstruktionen einer fachlich geschulten Einbildungskraft. Mit einer solchen zugespitzten Formulierung will ich schließen. Wer freilich von einem Literaturhistoriker erwartet, daß er prominente literarische Texte unter rechtshistorischen Aspekten interpretiert, sei auf drei exemplarische Konstellationen (von literarischen und literaturbezogenen Texten) für die Verbindungen zwischen Strafrecht und Literatur verwiesen: mit strafrechtstheoretischem Bezug auf die Thematisierung von Kindsmord als
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Tat und Strafe, die um 1800 Geltung gewinnen, haben kaum Folgen. Zudem werden detailliertere Kenntnisse des positiven Rechts in der Regel in unserem Zeitraum (1789– 1848) weder bei den Lesern vorausgesetzt noch vermittelt. Ein direkter Vergleich zwischen juristischer Theorie und strafrechtlicher Praxis auf der einen Seite und literarischen ‘Bildern’ des strafrechtlichen Geschehens auf der anderen Seite bringt wenig; zunächst wären Verbindungslinien im Bezug auf die rechtskulturellen Einstellungen und die gruppenspezifischen Mentalitäten zu ziehen. Auch ist der Anerkennungs- und Geltungsrahmen für literarische Darstellungen von Strafrechtsgeschehen ein anderer als der für die Rechtspraxis des staatlichen Strafens (formal-abstrakter, festgelegter Geltungsanspruch des kodifizierten Rechts versus sinnlich-konkrete, in pragmatischen Bezügen bewegliche Geltung der Literatur). Lediglich auf der Ebene der Letztbegründungen für die Zusammenhänge von Schuld und Strafe ergeben sich Schnittpunkte für die ideellen und metaphysischen Fluchtlinien der rechtlichen und literarischen Wertsetzungen. Dazu Lüderssen u. Seibert: Autor und Täter. Vgl. Meyer-Krentler: „Die verkaufte Braut“, S. 114.
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‘Schlüsseldelikt’ der Reformdiskussionen der ‘Rechtsaufklärung’ im ausgehenden 18. Jahrhundert;57 mit kriminologischen Aspekten und zum Problem der ‘Dichterjuristen’ auf P. J. A. Feuerbachs „Aktenmäßige Darstellungen merkwürdiger Verbrechen“ (1808–11, 1827–29) und des Kammergerichtsrates E. T. A. Hoffmanns Erzählung „Das Fräulein von Scuderi“ (1819) im Vergleich mit seinem Gutachten „Über die Mordtat des Tabaks-Spinnergesellen Daniel Schmolling“;58 mit institutionen- und gesellschaftskritischem Aspekt59 auf Auerbachs Dorfgeschichte „Sträflinge“ und des Dr. jur. Ernst Dronke großstädtische „Polizei-Geschichten“60 aus der ‘Vormärz’-Zeit61. 57 58 59
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Dazu Wächtershäuser: Verbrechen des Kindesmordes; Weber: Kindsmörderin. In Hoffmann: Juristische Arbeiten, S. 83–120. Kriminalerzählungen und Fallgeschichten des 18./19. Jahrhunderts sind in den letzten zehn Jahren vielfach neu ediert worden, vgl. u.a.: Herbert Greiner-Mai u. Hans Joachim Kruse (Hg.): Die deutsche Kriminalerzählung von Schiller bis zur Gegenwart. 3 Bde. Berlin (DDR) 1967–69; Dies. (Hg.): Amtsbericht des Pfarrers zu Eichengrün. Deutsche Kriminalerzählungen. Berlin (DDR) 1983; Dies. (Hg.): Die Heirat des Herrn Stäudl. Österreichische Kriminalgeschichten. Berlin (DDR) 1985; Werner M. Bauer (Hg.): Zwischen Rad und Galgen. Kriminalgeschichten zwischen Spätaufklärung und Biedermeier. Salzburg u. München 1980; Volker Ladenthin (Hg.): Deutsche Criminalgeschichten. Frankfurt a.M. 1984; François Gayot de Pitaval: Unerhörte Kriminalfälle. Hg. von Rudolf Marx. Bremen 1980; August G. Meißner: Kriminal-Geschichten. [1796]. Mit einem Nachwort von Hans-Friedrich Foltin. Neudruck Bremen 1980; Ders.: Kriminal-Geschichten. Geschichten vom Unstern und Aberwitz. Hg. von Hanne Kulessa. Darmstadt u. Neuwied 1984; Paul J. A. Feuerbach: Merkwürdige Verbrechen. Hg. von Reiner Schrage. Frankfurt a.M. 1981; Ders.: Merkwürdige Verbrechen. Hg., bearb. u. komm. von Cay Brockdorff. 4. Aufl. Berlin 1983; Julius E. Hitzig u. Wilhelm Häring (Hg.): Der neue Pitaval. Eine Sammlung der interessantesten Kriminalgeschichten. 1. Teil. [1842]. Neudruck Frankfurt a.M. 1986; Willibald Alexis u. Julius E. Hitzig (Hg.): Das Gelöbnis der drei Diebe. Kriminalfälle des neuen Pitaval. Ausgew. u. hg. von Werner Liersch. 3. Aufl. Berlin (DDR) 1984; Hans-Otto Hügel (Hg.): Die Leiche auf der Eisenbahn. Detektivgeschichten aus deutschen Familienzeitschriften [des 19. Jahrhunderts]. Darmstadt u. Neuwied 1981; Leomare Qualtinger (Hg.): Die berühmtesten Kriminalfälle aus dem alten Österreich. Wien u. München 1986. – Einzelausgaben von Kriminalgeschichten und Kriminalromanen vor 1900 finden sich im DDR-Verlag „Das Neue Berlin“ (u.a. zu Anzengruber, Auerbach, Bosshart, Paul Lindau, Meinhold, Theden und Temme) sowie in der Herderbücherei Freiburg i. Br. (u.a. zu Franzos, v. Holtei und Temme). Auerbach war ein Semester lang für Rechtswissenschaft immatrikuliert. Als Neuausgaben liegen u.a. vor: Sträflinge. [1845]. In: Berthold Auerbach: Schwarzwälder Dorfgeschichten. Hg. von Jürgen Hein. Stuttgart 1984; Ernst Dronke: Polizei-Geschichten sowie der Prozeß gegen denselben vor dem Zuchtpolizeigericht zu Koblenz (1847). Hg. u. mit einem Nachwort versehen von Detlev Wagner. Berlin o.J. [ca. 1974]; Ders.: Aus dem Volk & Polizei-Geschichten. Frühsozialistische Novellen [...] 1846. Hg. u. mit einem Nachwort von Bodo Rollka. Köln 1981. Für kritische Lektüre des Entwurfs der Vortragsfassung und hilfreiche Hinweise danke ich Monika Frommel, Wolfgang Naucke und Joachim Linder.
Die Begleitstimme der ‘schönen Literatur’ zur Strafrechtsentwicklung 151
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Begleitstimme der ‘schönen Literatur’ zur Strafrechtsentwicklung
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Bilder vom ‘Verbrechermenschen’ im Spiegelkabinett der rechtskulturellen Diskurse um 1900 ‘Bilder’ und ‘Diskurse’? Mit Recht wird ein Leser, dem es um die Treffsicherheit der Begriffe zu tun ist, bei einem Titel, wie er hier gewählt wurde, erst einmal protestieren. Freilich kann dem zitierenden Verweis auf Peter Strassers Studie „Verbrechermenschen“ rasch nachgegangen werden,1 und der Begriff ‘Rechtskultur’ ist in der Einleitung des Sammelwerks „Erzählte Kriminalität“ umrissen worden – was aber ist mit „Bilder“ gemeint, wie wird der viel strapazierte Diskurs-Begriff gebraucht?2 Das sind Fragen, die man wohl nur in Kauf nimmt, wenn als erste Antwort der Titel präsentiert würde, den die knappere, aber unpräzise Formulierung verdrängt hat: Es geht um ‘die auf unterschiedliche Weise erzeugten, geordneten und vermittelten Vorstellungen von Verbrechen und Verbrechern im wechselseitigen Bestätigungs- und Modifikationszusammenhang der institutionell geregelten Denk- und Redeweisen zu Kriminalität und Strafrechtspflege zwischen 1880 und 1920’. Die Wendung von den ‘institutionell geregelten Denk- und Redeweisen’ verweist darauf, daß die wissenschaftlichen, rechtspraktischen, journalistischen oder literarischen Verständigungshandlungen über Kriminalität jeweils durch besondere Vorgaben und Erwartungen organisiert werden. Damit sind erste Festlegungen für den Gebrauch des Begriffes ‘Diskurs’ getroffen. Ich verwende ihn nicht in dem normativen ‘diskursethischen’ Zusammenhang, mit dem er bei Habermas eingesetzt wird, um die argumentativen Verfahren zum öffentlichen Aushandeln von Geltungsansprüchen souveräner Subjekte zu kennzeichnen.3 Ich will ihn aber auch nicht mit dem ‘begriffsmythischen’ Hintergrund besetzen, den er bei Foucault in „Die Ordnung des Diskurses“ im Kampf zwischen ‘Macht’ und ‘Begehren’ erhält: in jeder Gesellschaft sei „die Produktion des Diskurses zugleich kontrolliert, selektiert, organisiert und kanalisiert“ (als Folge institutionalisierter Macht), um „die Gefahren des Diskurses zu bändigen“ (sie erwachsen aus dem Begehren, die Möglichkeiten der Sprache 1 2 3
Strassers Buch hat als Untertitel „Zur kriminalwissenschaftlichen Erzeugung des Bösen“; es ist 1984 erschienen. Vgl. etwa die „Einführung“ zu „Der Fall Rivière“ (S. 7–13), wo der Herausgeber Michel Foucault mehr dazu beiträgt, den Begriff zu verwischen als ihn festzulegen. Vgl. etwa Habermas: Moral und Sittlichkeit.
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zu nutzen, die Welt zu erfahren, sich selbst darzustellen).4 ‘Diskurs’ soll hier als historisch variabler Regelzusammenhang gelten, der sich als das Ergebnis von Rekonstruktionsversuchen herstellt, die auf einer von den einzelnen Texten abstrahierenden Ebene die Ordnungen für das Denken, Reden und Handeln von gesellschaftlichen Gruppen verfolgen. ‘Diskurse’ wären also zwischen den jeweiligen Regelsystemen der Sprachen und den Ordnungszusammenhängen in den Denksystemen der einzelnen Wissenschaften oder den Verhaltensregeln der gesellschaftlichen Praxisbereiche einzuschalten. Dabei geht es um symbolische Ordnungen für das Denken, Reden und Handeln von Kollektiven; gefragt wird also nicht nach den Intentionen der beteiligten Subjekte oder den Besonderheiten der jeweiligen Äußerungen, nach dem ‘auszulegenden’ Sinn des einzelnen literarischen Werkes, sondern nach zeit-, gruppen- und situationsspezifischen Regularitäten.5 Der so verwendete Diskurs-Begriff eröffnet (als analytische Größe) eine Doppelperspektive, die Untersuchungen sowohl für den Bereich der gesellschaftlichen Handlungssysteme (‘Sozialsysteme’) als auch für den Bereich der kulturellen symbolischen Ordnungen (‘Kultursysteme’) verlangt6 und die Zusammenhänge zwischen Denken, Reden und Handeln (oder Wissen, Sprache und gesellschaftlicher Praxis) erfaßt.7 Als entscheidende Bezugsgröße gelten dann die institutionell organisierten Erfahrungs- und Handlungszusammenhänge (als ausdifferenzierte Felder der gesellschaftlichen Praxis mit bestimmten Rollenmustern, Einstellungen, Verhaltensnormen und Wissenselementen), die Diskurse hervorbringen und zugleich mit Hilfe dieser Diskurse konstituiert werden. Ich spreche also vom kriminologischen und psychiatrischen Diskurs oder dem Diskurs der gerichtsprozeßlichen Straf4
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Foucault: Ordnung des Diskurses, S. 7. – Im Verweis auf die eigentlich notwendige Freisetzung solchen Begehrens im ‘wahren Diskurs’ werden auch bei Foucault normative Implikationen deutlich, die gegen das – in die Zusammenhänge von Macht und Wissen verstrickte – gesellschaftlich organisierte Denken und Reden gesetzt werden. In diesem Sinne wäre Foucaults Beschreibung, das „System der Strafjustiz“ bestehe aus einer „Gruppe von gebieterischen Praktiken und Diskursen“ (Ordnung des Diskurses, S. 43) zu verstehen. Dem Attribut ‘gebieterisch’ wären für die Analyse der historischen Zusammenhänge zunächst die Konnotationen eines ‘Macht- und Gewalt-Dramas’ zu nehmen; der sozialwissenschaftliche Begriff der ‘Regulierungen’ könnte für einen ersten Versuch der Beschreibung eingesetzt werden. Vgl. für die hier angesprochenen methodischen Voraussetzungen eines systemtheoretisch fundierten sozialgeschichtlichen Verfahrens die „Einleitung“ zu v. Heydebrand: Sozialgeschichte der Literatur. Vgl. für die literaturwissenschaftliche Adaption und Brauchbarkeit des Diskursbegriffes u.a. Fohrmann: Abenteuer und Bürgertum, S. 171–175, sowie Müller: Literaturgeschichtsschreibung, S. 31.
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rechtspraxis sowie vom literarischen Diskurs (als vereinheitlichender Abstraktion für die unterschiedlichen Typen literarischer Sinnverständigung). Der literarische Diskurs ist – wie auch die anderen Diskurse – in ‘Spezialdiskurse’ zu differenzieren; zudem bildet er mit anderen Diskursen bestimmte ‘Diskurszusammenhänge’ und schließlich werden Diskurse in dem besonderen ‘Interdiskurs’ der Literatur thematisiert und verbunden.8 Diskurse sollen hier nicht primär – wie es sich vielfach eingebürgert hat – durch beliebige ‘Gegenstände’ bestimmt sein (‘Diskurs der Kriminalität’),9 sondern dem Gegenstand ‘Verbrechen und Verbrecher’ in einem – erst noch zu beschreibenden – Diskurszusammenhang von verschiedenen Spezialdiskursen und Interdiskursen zugeordnet werden.10 In jedem Diskurs werden bestimmte (‘diskursspezifische’) Wahrnehmungs-, Darstellungs- und Deutungsmuster ausgebildet; dafür ist hier der zusammenfassende Begriff ‘Bilder’ eingesetzt. Werden Diskurszusammenhänge oder ‘Interdiskurse’ betrachtet, können sich die ‘Bilder’ bestätigen, verstärken, modifizieren, ergänzen, überlagern oder zu neuen ‘Bildern’ verbinden. Mein Interesse gilt der Frage, welche typisierten Bilder vom ‘Verbrecher’ in literarischen, paraliterarischen, journalistischen, populärwissenschaftlichen und fachlichen Darstellungen um 1900 entworfen werden, wie sie zueinander stehen und ‘rechtskulturell’ wirksam werden. Vernachlässigt sind dabei die literarischen und publizistischen Auseinandersetzungen mit der Justiz als Institution (vgl. dazu den Beitrag von J. Linder in „Erzählte Kriminalität“, S. 533–570). Daß gerade um 1900 die Konstellationen der Strafrechtspraxis eine besondere ‘Stabilität’ aufweisen, während die Diskurse des anwendungsbezogenen (z.B. kriminalätiologischen) Wissens – nicht aber der dogmatischen Elemente des Strafrechts – ‘dynamisiert’ werden, rechtfertigt auch rechtsgeschichtlich diese Trennung der Perspektiven. 8
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Vgl. dazu vor allem die literaturwissenschaftlichen Arbeiten von Jürgen Link und die Zeitschrift „KultuRRevolution“ (insbesondere Heft 11, 1986). Im Sinne Links wären als historische Ausprägungen des literarischen Diskurses zur Kriminalität etwa die ‘Spezialdiskurse’ der ‘Phantasiekriminalität’ oder des strafrechtsbezogenen Erzählens in Prozeßberichten und Fallgeschichten zu verfolgen. Diese ‘Spezialdiskurse’ sind – wie alle Diskurse – bestimmt durch typische Konfigurationen in der Auswahl aus den Möglichkeiten zur Darstellung des gemeinsamen Gegenstandes sowie durch Regeln zur Kombination und besonderen Kohärenz solcher ‘Diskurselemente’. Im Sinne Foucaults konstituieren die Diskurse erst die gesellschaftlich relevanten Gegebenheiten der Objekte. Der Objektbereich ‘Verbrechermenschen’, den P. Strasser für die Diskussionen um 1900 skizziert hat, wäre in Foucaults Terminologie ein (historisch relevantes) Teil des ‘Dispositivs Kriminalität’ (vgl. dazu das „Kleine Begriffslexikon“ in der ‘Diskurse’Nummer der Zeitschrift „KultuRRevolution“, 1986, S. 70 f.).
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Kriminologie und ‘schöne Literatur’ um 1900 „Der Strafprozeß, ein Kunstwerk der Zukunft“, so lautete der Titel eines Vortrags, den der Staatsanwalt, Richter und nachmalige Ministerialdirektor im sächsischen Justizministerium Erich Wulffen erstmals 1908 in Stuttgart hielt und in der Folgezeit noch neunmal in verschiedenen Orten wiederholte.11 Wulffen forderte „die Verinnerlichung des Richtertums zur künstlerischen Rechtsprechung“: wie der Künstler in der Figurenwelt seines Werks aufgehe, so solle sich auch der Richter in die Seele des Angeklagten versenken.12 Nun handelt es sich bei Wulffen nicht um eine zentrale Figur der juristischen Reformdiskussion um 1900, aber immerhin um einen erfolgreichen Autor von Fachliteratur, Reformschriften und Handbüchern „für Juristen, Ärzte, Pädagogen und Gebildete aller Stände“ – so im Untertitel seiner „Psychologie des Verbrechers“ von 1908. Er spielte zudem eine wichtige Rolle als populärwissenschaftlicher Vermittler der Kriminologie und war – vom Elternhaus her – ‘den schönen Künsten’ zugeneigt. Schon mit knapp 18 Jahren veröffentlichte Wulffen seinen ersten Gedichtband, dem dann zahlreiche Dramen und Romane (insbesondere Kriminalromane) folgten (vgl. Anhang C). In Wulffens Publikationen kreuzen sich – wie bei keinem anderen Autor dieses Zeitraums – literarische und (populär-)wissenschaftliche Diskurse zur Kriminalität. In der Kriminologie, die im Zuge der Reformdiskussion im Bereich der juristischen Fachdiskurse institutionalisiert werden sollte,13 sind es vor allem die verschiedenen kriminalpsychologischen Ansätze,14 die dem Literaturwissenschaftler einen Zugang zur Peripherie der juristischen Fachdiskussion eröffnen. Sie erschließen zugleich ein zeittypisches kulturelles Wissen, zu dessen Konstitution und Verbreitung literarische Texte in vielfältiger Weise beitrugen. Daß uns dieser Zugang ‘Kriminalpsychologie’ nicht zu den Schaltstellen in der
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Vgl. Dingeldey: Erich Wulffen, S. 22. – Zur Person und schriftstellerischen Aktivität Wulffens vgl. Anhang (C) sowie M. Frommel in Schönert: Erzählte Kriminalität, S. 487–489. Vgl. dazu Wulffens kriminalpsychologische Schriften im Anhang (C). Ferner – für die Konstellation um 1890 – Conradi: Wilhelm II., S. 47: „Es ist gewiß: nirgends urteilen die Richter unpsychologischer, nirgends sind sie paragraphenklaubriger als in Deutschland – nirgends ist das Urteilsprechen mehr Geschäft als in Deutschland“; zudem S. 49: „Deutsche Juristen“ hätten „kein psychologisches Feingefühl“, keine „das Leben mit warmer, innerer, künstlerischer Teilnahme musternde Weltanschauung“, weil ihr JuraStudium sie ‘geistig-künstlerisch’ verarmen läßt. Zur Geschichte der Kriminologie vgl. Hering: Weg der Kriminologie. Vgl. zum Fachgebietsspektrum der Kriminologie um 1900 das Schema von Hanns Gross, ebd. S. 193.
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Fachgeschichte der Jurisprudenz führt, zeigen die rechtsgeschichtlichen Beiträge in „Erzählte Kriminalität“. Anders sieht es aus, wenn der Wandel der ‘rechtskulturell’ wirksamen ‘Bilder’ von Verbrecher und Verbrechen, von der Institution ‘Justiz’ und ihren Aktoren den Untersuchungsgegenstand ausmacht15 oder wenn übergreifende wissenschafts- und kulturgeschichtliche Probleme – wie die Integration der erfahrungswissenschaftlichen Perspektive in den Bereich der Humaniora16 – die untersuchungsleitende Perspektive bilden. Unter rechtsreformerischem und rechtspolitischem Gesichtspunkt lenkt die Frage, ob es Vorstellungs- und Erfahrungsbereiche gibt, die der Jurisprudenz neu erschlossen werden müssen (oder die dazu dienen, fachinterne Entwicklungen zu bestätigen und zu stützen), das Interesse auch auf die ‘fachfremden’ literarischen Diskurse, zumal das Programm des literarischen Naturalismus eine besondere (und innovatorische) Nähe zwischen Literatur und (Natur-)Wissenschaft signalisierte. Die Vertreter der Reformbewegungen – von Liszt bis Radbruch – verweisen auf den heuristischen17 oder hilfswissenschaftlichen Wert: Die Literatur bringe ‘das Subjekt’ in die objektivierten Sachbezüge, in die Technik des juristischen Handelns;18 sie habe vor allem im Bereich der Kriminalpsychologie19 und 15 16
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Vgl. Mannheim: Rechtsgefühl, S. 253, zum „ungeheuren Wert der Dichtung als einer Fundgrube rechtspsychologischer Erkenntnis“. Vgl. zur ‘empirischen Wende’ der Kriminalpsychologie u.a. Goll: Shakespeare, S. 13: „durchdrungen von der Mangelhaftigkeit unseres heutigen Wissens beginnen die Kriminalisten überall in der Welt mit dem Sammeln merkwürdiger Verbrecherschicksale, interessanter Kriminalfälle, ärztlicher Untersuchungen von Verbrechern, durchstöbern Gerichtsakten und verhören Gefängnisangestellte, um auf diese Weise subjektive und objektive Bilde [!] von Verbrecherindividualitäten zu schaffen. Verbrecher selbst schreiben ihre Biographien, die mit derselben Gründlichkeit studiert werden wie Quellenschriften über historische Ereignisse. Und alle, die in ihrer Lebensstellung mit Verbrechern zu tun haben, Richter und Polizei- und Gefängnisbeamte, erfreuen sich in unseren Tagen grösserer Anerkennung durch zuverlässige Berichte über Charakteristik von Verbrechern, mit denen sie in Berührung gekommen sind, als durch wissenschaftliche Untersuchungen darüber, wie Verbrecher im allgemeinen zu behandeln sind, oder durch juristische Debatten über ihre Taten. Diese Studien haben über vieles Klarheit geschaffen, was früher dunkel war. Sie haben der Gesellschaft gezeigt, wie kurzsichtig sie früher war, indem sie alle Verbrecher über einen Kamm schor; sie haben nachgewiesen, dass die alten Einteilungen nach Verbrechen nur armselige Durchschnittsregeln waren, und dass der Nachdruck bei diesen Einteilungen auf die Verbrecher zu legen ist“. Vgl. Stern: Dichterische Behandlung des Verbrechens, S. 157 u. 168; Kurella: Naturgeschichte des Verbrechers, S. 160 f. Vgl. Müller-Dietz: Kriminologie und Literatur, S. 86 (wichtig ist der Bezug auf die Argumentation von G. Radbruch). Vgl. Stern: Dichterische Behandlung des Verbrechens, S. 169.
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Kriminalätiologie20 Gewicht – als Ort des gedeuteten (vorfachlichen) Erfahrungswissens und der dafür aktivierten Erklärungswege: Es wäre eine der schönsten und lohnendsten Aufgaben für den Kriminalisten oder den kriminalistisch geschulten Literaturhistoriker, durch die verschiedenen Entwicklungsstufen des menschlichen Denkens hindurch die Behandlung zu verfolgen, die das Problem der Kriminalität in der Dichtung gefunden hat. Wie aus der naiven, nicht reflektierenden Schilderung des Verbrechens in den Mythen und Volksepen die Frage nach der Ursache des Verbrechens sich allmählich losringt; wie die individual-psychologische Erklärung auftaucht und bis zur Vollendung durchgebildet wird; wie die viel tiefer bohrende Frage nach der Ursache der Ursache, nach den Wurzeln der individuellen Eigenart, immer schärfer gestellt wird, von dem Gedanken der Vererbung und der Völkerpsychologie angefangen bis herab zum sozialen Roman der Gegenwart. Diese Aufgabe ist bisher nicht gelöst, ja nicht einmal ernstlich in Angriff genommen worden.21
Wenn Rechtswissenschaftler und juristische Praktiker um 1900 nun Literatur vor das „Forum der Jurisprudenz“22 zitieren, so geht es nicht mehr um die rechtsgeschichtlichen und rechtsmetaphysischen Fragestellungen (wie ‘das Recht bei Shakespeare’, ‘Schuld und Sühne bei Schiller’),23 sondern die Texte der ‘schönen Literatur’ im engeren Sinne – nicht etwa nur die Pitavalgeschichten – werden als quasi-empirisches Material zum Beleg der kriminologischen Theorien verwendet, die auf fachliche Anerkennung drängen. Wo phänomenologisch argumentiert wird, lassen sich wissenschaftlich angelegte Klassifikationen und Typenbildungen durch literarische Tradition erhärten, wird auf ‘höhere Wahrheit’ der schönen Literatur, auf die genialische Vorläuferschaft der Dichter,24 auf den Wert künstlerischer und wissenschaftlicher Intuition angesichts des Diktats naturwissenschaftlicher Empirie verwiesen. Wulffen bilanziert 1926: „Meisterwerke kriminalpsychologischer Analysen haben bisher in Wahrheit [...] nur die Dichter geschaffen“;25 die bloße Empirie führe zur toten Wissenschaft, lebendig erhalte sie erst die Kraft der Intuition, wie sie die Dichtung auszeichnet. Dadurch sei die besondere 20 21 22 23 24 25
Vgl. v. Liszt: Strafrechtswissenschaft, S.289: „Die Dichter aller Zeiten haben sich bemüht, die Wurzeln des Verbrechens in der Seele des Täters bloßzulegen“. v. Liszt: Vorwort, I f. Vgl. für die Konstellation der 1880er Jahre Josef Kohlers Studie „Shakespeare vor dem Forum der Jurisprudenz“ (1903). Vgl. v. Liszt: Zurechnungsfähigkeit, S. 229: „Die Begriffe ‘Schuld und Sühne’ mögen in den Schöpfungen unserer Dichter weiterleben wie bisher, strenger Kritik der geläuterten wissenschaftlichen Erkenntnis vermögen sie nicht stand zu halten“. Vgl. Stern: Dichterische Behandlung des Verbrechens, S. 157, sowie Wulffen: Schillers „Die Räuber“, S. 7: Schiller sei der „Vorläufer der modernen Kriminalistenschule“. Wulffen: Kriminalpsychologie, S. 23.
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Nähe zur Kriminalpsychologie bestimmt, die von der Intuition lebt.26 Mit der meta-empirischen Wahrheit der Literatur können – so Wulffen – die Praktiker der Kriminalistik die immer wieder auftretenden Lücken in der Reihe der Fakten schließen.27 Durch die Bezüge auf literarische Darstellungen von Verbrechern und Verbrechen wird das noch unfertige empirische Gebäude der Kriminologie abgestützt, werden die Mängel in der theoretischen Grundlegung kaschiert. Und vor allem vertreten – so insbesondere in der Verfahrensweise des Kriminalpsychologen Wulffen – literarische Texte das schwer zu beschaffende empirische Material.28 Wulffen bezieht sich gleichermaßen auf Pitavalgeschichten, Berichte der Gerichtspresse und literarische Typisierungen von kriminellen Verhaltensweisen. Er will durch Veröffentlichung und Verbreitung des kriminologischen Wissens die Sensationswirkungen, die vom Verbrechen ausgehen, weitgehend abbauen; er will versachlichen und ‘entdramatisieren’, obwohl gerade in der populärwissenschaftlichen und publizistischen Vermittlung kriminellen Geschehens auf diese Effekte gesetzt wird. Selbst in den kriminologischen Zeitschriften der Reformbewegungen (vgl. etwa das „Archiv für Kriminal-Anthropologie und Kriminalistik“ oder das „Archiv für Kriminalpsychologie“) spielen spektakuläre historische und aktuelle Fallgeschichten eine wichtige Rolle;29 auch Juristen scheinen den Sensations- und Spannungswert solcher Fälle besonders zu schätzen. Pauschal gesagt wird durch die Integration dieses – zunächst häretischen, dann randständigen – kriminologischen Diskurses in den institutionalisierten Be-
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Vgl. ebd., S. 19–22. Vgl. Wulffen: Psychologie des Verbrechers. Bd. 2, S. 419: Mit Hilfe literarischer Verfahren werden die fehlenden Fakten zur kriminologischen Erklärung interpoliert. Vgl. zu entsprechenden Programmen bei E. Ferri Engelhardt: Sittlichkeitsverbrechen, S. 160. Als Beispiel für die spektakulären Fallgeschichten (im Stile des „Neuen Pitaval“) vgl. beispielsweise J. U. C. Gustav Pscholka: Der Herzfresser von Kindberg. In: Archiv für Kriminal-Anthropologie und Kriminalistik 48 (1912), S. 62–73; ferner Alfred Amschl: Ein Mord am eigenen Kind unter mildernden Umständen. In: ebd. 10 (1902), S. 70–82: Der Verfasser nimmt eingangs zum Wert der Fallgeschichten für die rechtswissenschaftliche Diskussion Stellung und wendet sich gegen die Einordnung dieses Texttypus in den Bereich der „Kriminalnovellen“. Die literarisierende Darstellungsweise der Fallgeschichten sei dafür kein hinreichendes Kriterium, doch plädiert Amschl dafür, daß in die Fallgeschichten nicht der ‘trockene Ton’ der klassifizierenden Juristensprache Einzug halten dürfe, weil mehr als ein Fachpublikum angesprochen wird: „Die Darstellung soll fesseln, soll anregen. Wir sollen hier keine Kriminalnovellen bringen, aber auch keine bureaukratisch-docirenden Relationen, nicht Dichtung, sondern Wahrheit“ (S. 71), „die Realien“ des Lebens sollten mit der juristischen „Schulweisheit zu einem Ganzen“ vereinigt werden (S. 73).
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reich der Fachwissenschaft30 der Anteil der Narration gegenüber der Argumentation (als Kernbereich juristischen Verständigungshandelns) erweitert.31 Dabei wird der Forderung nach Einbezug erfahrungswissenschaftlicher Perspektiven in die Jurisprudenz durch die ‘Empirisierung’ der literarischen oder literaturnahen Erzählungen (der Fallgeschichten, der charakterologischen Skizze, der Milieuschilderung) in einer für die Humaniora verträglichen Form nachgekommen (vgl. dagegen die Rolle der Statistik, der Reihenuntersuchung usf. in der Kriminalsoziologie der Zeit32). Monika Frommel hat diese fachgeschichtliche Konstellation pointiert: Selbst von prominenten Vertretern des Faches wie v. Liszt werden die Verfahren von Biologie, Psychologie und Soziologie nur laienhaft aufgegriffen und behandelt.33 Weil diese unvollkommene und dilettantische Adaption naturwissenschaftlicher Verfahren auch in der zeitgenössischen Literatur (beispielsweise des Naturalismus) vollzogen wird und weil in der literarischen Tradition Erkenntnisperspektiven und ‘vorwissenschaftliche’ Wissensbestände der Kriminologie gleichsam aufbewahrt sind, die im Prozeß der ‘Verfachlichung’ der Strafrechtswissenschaft ausgegrenzt wurden und erst über die Reformdiskussionen des späten 19. Jahrhunderts integrierbar werden, entsteht um 1900 im Randbereich der juristischen Fachdiskurse im Austausch mit den literarischen ‘Bildern’ von Kriminalität ein zirkulärer Verweisungs- und Bestätigungszusammenhang. So kritisiert F. v. Liszt 1892 die Kriminalanthropologie in der Schule Lombrosos, die nichts anderes behaupte, „als was unsere modernen Dichter in ihren Dramen uns täglich vorführen, von Zola und Ibsen angefangen bis herab auf Richard Voss und Gerhart Hauptmann“.34 Auf diese Weise ist mit (fragwürdigen) kriminologischen Theorien der vermeintliche empirische Wert literarischer Texte bestimmt – wie etwa in Wulffens Theorem von der latenten Kriminalität in jedem Menschen und der besonderen kriminellen Gefährdung vieler Dichter, die in ihren Schriften
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Vgl. Lepenies: „Schön und korrekt“: für das Paradigma der Tiefenpsychologie Freuds und der Nationalökonomie von Karl Marx. Damit verringert sich auch die Diskrepanz zwischen den Diskursen der ‘Fakten’ und den Diskursen des ‘Fiktiven’. Diese Konstellation ist charakteristisch für die Jahrhundertwende; U. Link-Heer hat sie 1983 als „Anteil der Fiktionalität an der Psychopathologie des 19. Jahrhunderts“ für einen Teilaspekt beschrieben; vgl. zudem für die Psychoanalyse Obermeit: Wirklichkeit des Fiktiven. Vgl. etwa die kriminalsoziologischen Studien von Ferdinand Tönnies. Vgl. Frommel: Franz von Liszt, S. 45. v. Liszt: Zukunft des Strafrechts, S. 10.
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sublimiert und produktiv umgewendet wird.35 Die Texte der – von Kriminalität bedrohten – Autoren können also Auskunft über das ‘Wesen’ vom Verbrechen und die Psyche des Verbrechers geben.36 Wichtiger als diese schwerlich zu belegende These ist die – von Kriminalpsychologie und Kriminalanthropologie hergestellte – Verbindung der Kriminalität thematisierenden Literatur um 1800 mit den ‘Bildern’ des „Verbrechermenschen“, die um 1900 entwickelt werden. Die anthropologischen, psychologischen und soziologischen Aspekte, die um 1800 noch zum juristischen Diskurs (im weitesten Sinne) gehören, dann in der wissenschaftlichen Institutionalisierung des Faches ausgegrenzt werden, bleiben in nicht-fachlichen und literarischen Diskursen präsent;37 sie werden Bestandteil des speziellen Alltagswissens der ‘Gebildeten aller Stände’ – ohne im Sinne einer Theorie organisiert zu sein.38 Im publizistischen Markt markieren sie genau den Sektor, den die Pitaval-Sammlungen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ebenso ansprechen wie die enzyklopädischen Handbücher und die allgemeinbildenden Veröffentlichungen und Vortragsreihen zu strafrechtlichen und kriminologischen Themen.39 Es ist der Bildungsraum, aus dem 35 36
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Vgl. Wulffen: Kriminalpsychologie, S.261 u. 368; vgl. ferner zur identischen psychischen Konstitution von Hochstaplern und Dichtern Wulffen: Kunst und Verbrechen, S. 271 ff. Das Postulat, daß ‘Kunst’ ein besonderer Weg sei, um Wissen zu bewahren, zu organisieren oder gar neu zu schaffen, wird heute – unter veränderten wissens- und erkenntniskritischen Bedingungen – wieder diskutiert (vgl. Koepp: Wie die Literatur Wissen schafft). War um 1900 davon auszugehen, daß literarisch Erfahrungsbereiche angesprochen wurden, die für die Wissenschaft noch hinter Tabu-Schranken lagen und daß Literatur aufgrund ihrer spezifischen Möglichkeiten, das Besondere und Allgemeine zu verbinden, die Reichweite wissenschaftlicher Erkenntis übertrifft, so wird heute vielfach argumentiert, daß Wissenschaft ebensowenig ‘wahr’ sei wie Literatur. Vgl. zur ‘Speicher-Wirkung’ der ‘schönen Literatur’ für innovative Wissensbestände in Naturgeschichte, Psychologie und Soziologie Lepenies: Der Wissenschaftler als Autor; Ders.: Transformation and Storage; Ders.: „Krieg der Wissenschaften und der Literatur“. Unter diesem Aspekt sind auch Wanderungen von Texten des Typus ‘Fallgeschichte’ zwischen dem ‘Fachdiskurs’ und dem Interesse der gebildeten Öffentlichkeit aufschlußreich. Feuerbachs Fallgeschichten – zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch strafrechtliches Diskussionsmaterial – werden 1912 von Wilhelm v. Scholz in einer ‘wohlfeilen’ Ausgabe im Verlag Langen-Müller (München) als Belletristik ediert. Doch erzählt noch Gustav Radbruch in seinem Sammelband „Elegantiae criminalis. Sieben Studien zur Geschichte des Strafrechts“ (Basel u. Leipzig 1938) die Fallgeschichte „Peter Günther – Narr und Held. Ein Lübecker Kriminalfall aus dem Zeitalter der Orthodoxie“ (S. 50–60) im Stile Feuerbachs. Vgl. etwa das 323. Bändchen der Reihe „Aus Natur und Geisteswelt“, einer „Sammlung wissenschaftlich-gemeinverständlicher Darstellungen“: Paul Pollitz: Strafe und Verbrechen. Geschichte und Organisation des Gefängniswesens. Leipzig 1910, oder in der „Urania-Bücherei“, einer „Sammlung leicht verständlicher Einzeldarstellungen aus
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auch ein Großteil der juristischen Praktiker und Wissenschaftler kommt; in unterschiedlichen Konstellationen bleibt er mit ihren beruflichen Aktionen verbunden – als der rechtskulturelle Bereich, in dem juristisches Handeln dem gesamtgesellschaftlichen Interesse vermittelt wird. Um 1900 werden Wissensbestände und Deutungsmuster aus diesem Bereich umgesetzt in Impulse zu Neuorganisationen des Faches; ‘Bilder des Verbrechermenschen’ aus populärwissenschaftlichen und literarischen Diskursen werden in Kriminalanthropologie und Kriminalpsychologie aufgenommen oder stützen die dort entwickelten Wahrnehmungs-, Argumentations- und Deutungsmuster. In dem – ausgangs des 19. Jahrhunderts entwickelten – Kulturtyp, in dem die Erfahrungswissenschaften ein hohes Prestige genießen, zugleich aber die integrierenden Leistungen geisteswissenschaftlicher ‘Sinnstiftungen’ beansprucht werden, wird aus diesem wechselseitigen Verweisungszusammenhang von ‘empirischer’ Kriminologie mit dem Wissen und der Wahrheit der ‘schönen Literatur’ ein neues Erkenntnisparadigma aufgebaut. Es ist jedoch – um mit Peter Strasser zu sprechen – nach der Struktur des Mythos konstruiert.40 In Wulffens Diktion: „Kunst und Wissenschaft schließen sich nicht mehr, wie wir früher glaubten, einander aus. Kunst und Wissenschaft [...] suchen sich in unserer Zeit einander auf und durchdringen sich gegenseitig auf das innigste. Sie schließen in der modernen Kultur einen Bund und geben ihr neue Segnungen.“41 Im Zuge der Reformdiskussion in der Strafrechtswissenschaft, noch mehr aber im Prozeß der rechtspolitischen Reformbewegungen konnte dieser Prozeß der Umorganisation und Aneignung vorfachlichen Wissens zu strategischen Zwecken genutzt werden – zumal dann, wenn die Öffentlichkeit durch Berichte und Kritik zur Praxis der Strafrechtspflege (insbesondere in Zeitungen und Zeitschriften) anders als im ‘Verfachlichungsprozeß’ des 19. Jahrhunderts an der Selbstvergewisserung und an Veränderungen im Bereich juristischen Handelns beteiligt war. Die ‘schöne Literatur’ wird dabei nicht etwa zu einem Motor der Reformbewegungen; sie trägt nur zur Modifikation der rechtskulturellen Bedingungen bei, von deren Strukturen Stabilität und Dynamik des Sozialsystems ‘Recht’ abhängig sind. Für eine gründliche Untersuchung dieser Veränderungen (die sich im Deutschen Reich in den 1880er Jahren vollziehen, bis in die Weimarer Republik reichen und erst mit der Errichtung einer nationalsozialistischen Justiz unter-
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den verschiedensten Zweigen des Wissens und Schaffens“ den 6. Band: Erich Wulffen: Psychologie des Giftmords. Wien 1917. Vgl. Strasser: Verbrechermenschen, S. 84–87. Wulffen: Hauptmanns Dramen, S. 11.
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brochen werden) wäre dem Funktionszusammenhang der Festlegungen und Deutungen von Kriminalität in den Verständigungsbereichen von Rechtswissenschaft, juristischer Praxis, populärwissenschaftlicher Vermittlung, Gerichtsberichterstattung und Belletristik nachzugehen. Hier können dazu nur erste Hinweise gegeben werden. Ich formuliere Hypothesen, nenne Schwierigkeiten und wechsele aus der generalisierenden kulturgeschichtlichen Sicht in die Beschreibung der Zusammenhänge aus der partikularisierenden literaturhistorischen Perspektive. Der Ausgangspunkt für meine Beobachtungen und Überlegungen kann – im Anschluß an die bisherige Skizze – thesenhaft markiert werden. (1) Im Bereich der literarischen Darstellung und Sinnbildung zum Verbrechen und zur Verbrechensbekämpfung werden – auf einer vortheoretischen oder theoretisch entlasteten Ebene und in deutlicher Distanz zur zeitgenössischen Strafrechtspraxis – kriminalanthropologische, kriminalpsychologische und kriminalsoziologische Aspekte aufgenommen; dabei ist der Kriminalätiologie besonderes Gewicht gegeben. So wird in den Strukturen literarischer Verständigung über Kriminalität so etwas wie das Modell einer ‘gesamten Strafrechtswissenschaft’ sichtbar und dem Trauma einer Zersplitterung dieser Wissenschaft in Spezialdiskurse begegnet. Diese Konstellation kann nicht umgestaltend auf strafrechtliche Theorie und Praxis bezogen werden; sie bietet jedoch den Beteiligten der Reformdiskussion ideelle Impulse und emotionale Entlastungen. (2) Das mehrfach vermittelte Austauschverhältnis zwischen den Systemen von ‘Kunst’ und ‘Recht’ kann jedoch dann, wenn die besonderen Funktionen der literarischen ‘Sinn-Bilder’ zu Verbrecher und Verbrechen vernachlässigt werden, auch dazu dienen, Literatur als empirische oder empirienahe Materialquelle für die Kriminologie zu beanspruchen. Dieser ‘empirische Reichtum’ der literarischen Darstellungen von Kriminalität und Strafrechtspflege resultiert auch aus dem Umstand, daß die ‘freier’ erzählende Literatur mehr Beobachtungen integrieren kann als die geregelt-auswählende Sicht der juristischen Sachverhalts- und Tatbestandsschilderungen. (3) Dieser Vorgang ist durch Entwicklungen im literarischen Prozeß begünstigt. Waren zwischen 1850 und 1880 – vor allem im Modell des realistischen Erzählens über Kriminalität – nur auf einer weitgehend abstrahierenden Ebene des Schuld- und Sühne-Ausgleichs strafrechtliche Vergeltungstheorien mit literarischen Deutungen von Kriminalität zu verbinden oder komplexe literarische Funktionen zur Legitimation und Immunisierung staatlicher Rechtspraxis zu beschreiben (vgl. „Erzählte Kriminalität“, S. 44–47), so werden nach 1880
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diese indirekten Vermittlungen durch das Aufbrechen des realistischen (an der moralischen Verantwortung des Individuums orientierten) Erzählmodells und die Integration naturalistisch-deterministischer Verbrechenstheorien verändert.42 Durch die Verweise auf den Erkenntniswert der „dichterischen Behandlung des Verbrechens“43 im kriminologischen Diskurs, durch den Einbezug aktueller kriminalanthropologischer Theorien in die zeitgenössische Literatur (vgl. etwa Lombroso bei Zola) werden immer mehr konkrete und direkte Beziehungen zwischen den literarischen und den ‘wissenschaftlich’ entwickelten Bildern vom Verbrecher und vom Verbrechen hergestellt; es wird ein Spiegelkabinett der wechselseitigen Verweisungen installiert – im Organisationsraum eines veränderten Medienmarktes, der literarische, paraliterarische, randständige und zentrale wissenschaftliche Diskurse in neuen Austauschbeziehungen und Funktionszusammenhängen einander zuordnet.44 (4) Erst in den 1890er Jahren wird das – bis dahin dominierende – juristische Interesse an literarischen Aussagen zum ‘Wesen des Rechts’ abgelöst durch Fragen nach bestimmten Wissensbeständen (vgl. Anhang B). Dabei geht vielfach das Bewußtsein für die ‘literaturspezifische Verarbeitung’ solcher Elemente nicht-literarischer Diskurse verloren. Hingegen versucht – als einer der wenigen, die weiterfragen – Gustav Radbruch 1911 der emphatischen Behauptung, „nur Dichter können die Wahrheit sagen“, Argumente anzuschließen, die nicht nur auf die Differenz des Wissens in literarischen und juristischen Texten bezogen sind, sondern auch auf die unterschiedliche Sprachverwendung: Nur dem Dichter eigne „die Fähigkeit, das Polygon unserer diskontinuierlichen Begriffssprache bis zu so unendlicher Vielseitigkeit zu nuancieren, daß wir in ihm den kontinuierlichen Kreislauf des Lebens wiedererkennen“.45 (5) Wenn hier von ‘dem literarischen Diskurs’ über Kriminalität gesprochen wird, so ist diese Wendung eine radikale analytische Simplifikation eines breiten Spektrums von Erzähl- und Vermittlungsformen (vgl. Anhang A) zugunsten einer überschaubaren Argumentationslinie: Zum einen beschränke 42 43 44
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Vgl. Strasser: Verbrechermenschen, S. 14–19. So Stern: Über den Wert. Diese Veränderungen können hier nur genannt werden, vgl. ausführlich dazu für den Zeitraum 1900–1930 Claßen: Kriminalität in der deutschen Literatur, Presse und Wissenschaft. – Signifikant für die besondere Konstellation um 1900 ist, daß sich Wulffen (als – in juristischen Fachkreisen nicht voll anerkannter – Kriminalpsychologe) in psychopathologischen Fragen auf den fachlich ebenso ‘randständigen’ R. v. Krafft-Ebing beruft – vgl. Wulffen: Schillers „Räuber“, S. 31. Radbruch: Gefangenschaft, S. 140.
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ich mich hier auf Texte der Erzählprosa, die sich mit den kriminologischen ‘Erzählungen’ zu Kriminalfällen einfacher vergleichen lassen als etwa dramatische Gestaltungen des Themas ‘Verbrechen’; zum anderen konzentriere ich mich auf Texte, die im zeitgenössischen Kontext der anspruchsvolleren Literatur angesiedelt sind. Wenn ich zudem mit Einordnungen wie realistisches oder nach-realistisches Erzählmodell arbeite, dann sei damit nicht eine Entwicklungsfolge nahegelegt, die etwa nach dem Ablauf des wissenschaftsgeschichtlichen Wandels konstruiert ist, in dem das jeweils erfolgreichere (oder fortschrittlichere) Paradigma die widerlegten oder überholten Konzepte ablöst. Solchen Kontinuitäten steht die Diskontinuität des literarischen Prozesses gegenüber, in dem Altes und Neues konkurrieren und weithin die Gleichzeitigkeit des Ungleichartigen das vorherrschende Prinzip ist. Diese zuletzt genannte Konstellation ermöglicht es der Kriminologie, die um die Anerkennung ihrer Leistungen zur Erklärung des Verbrechens kämpft, wiederholt auf kriminologisch interpretierbare literarische Darstellungen zu Kriminalität zu verweisen, weil dort entweder überkommene Wissensbestände der ‘Rechtskultur’ in verträglicher Form ‘modernisiert’ sind46 oder ein modernes wissenschaftliches Paradigma auf vertraute überzeitliche Konstanten im ‘Wesen’ von Verbrechern und Verbrechen zurückgeführt wird.47 Dabei bleibt die Tradition literarischer Deutungsmuster zur Kriminalität folgenreicher als die Aufnahme aktuellen kriminologischen Wissens oder der Bezug auf neuere strafrechtstheoretische Positionen. Die pauschale Vergeltung von Schuld und Strafe (vgl. etwa den Titel „Quitt“ zu Fontanes Kriminalerzählung), die im realistischen Erzählmodell dominiert, bei der Charakterschuld ansetzt und die ‘Wirklichkeit’ von Strafverfolgung und Strafvollzug vernachlässigt, wird nicht durch Aspekte der Spezialprävention verändert. Auch Ende des 19. Jahrhunderts spielen in der literarischen Sinnverständigung weder individuelle Quantifizierungen noch allgemeine Abschreckungswirkungen von Strafen eine wichtige Rolle. Ausgeweitet und differenziert werden nur – im Rahmen des vorgegebenen Modells – die kriminalätiologischen Begründungen und die Fragen der Schuldfähigkeit; in diesem Bereich sind – traditionale Konstrukte absichernd und ergänzend – Elemente der neuen kriminologischen Theorien angeeignet. Unter den Schlagworten vom ‘geborenen’ oder ‘gesellschaftlich 46 47
Zu vergleichbaren Konstellationen in der Kriminologie um 1900 siehe Strasser: Verbrechermenschen, S. 104: Die Theorien von Lombroso propagieren „zu einem wesentlichen Teil die der modernen Mentalität verträgliche Wiederkehr des Alten“. Vgl. etwa die sexologische Argumentation von Kriminologen unseres Zeitraums, die sich in Bezügen auf Shakespeares Dramenfiguren absichert – etwa Erich Wulffen: Shakespeares Hamlet: ein Sexualproblem. Berlin 1913.
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produzierten’ Verbrecher verändern sich auch die Leistungen der ‘schönen Literatur’ für Alltagswissen und Rechtskultur der ‘Gebildeten aller Stände’. Diese Behauptungen lassen sich an zwei Erzählungen von Karl Emil Franzos („Der Stumme mit dem bösen Blick“ und „Leib Weihnachtskuchen und sein Kind“) kurz erläutern.
‘Verbrechermenschen’ bei Karl E. Franzos: Das sittlich freie Individuum und das ‘Tier im Menschen’ Die Geschichte von dem Stummen (S. 5–95),48 1886 erschienen, folgt weithin dem realistischen Erzählmodell. In dem Bericht eines Studenten über seine Fußwanderung in den östlichen Karpaten ist die eigentliche ‘Verbrechergeschichte’ eingeschlossen. Geächtet und ausgegrenzt lebt der alte Matko, der Stumme mit dem ‘bösen Blick’, in den Bergen. Er trägt – eine juristisch nicht genau zu definierende – Schuld am gewaltsamen Tod seines Bruders Hawrilo, der seine Frau Tiana entführt hatte; Tiana sühnte ihre Untreue durch Selbstmord (S. 92 f.). Matko, der durchaus nicht stumm ist, sondern nur ostentativ 40 Jahre lang den Kontakt mit der Umwelt unterbrochen hatte, um niemanden mit seinem ‘bösen Blick’ zu gefährden, erzählt dem jungen Ich-Erzähler, der ihn nicht – wie die Einheimischen – meidet, seine Geschichte (S. 40–93). Sie ist nach dem Muster der feindlichen Brüder konstruiert, die um dieselbe Frau werben. Der ‘häßliche’, finster blickende Matko, der Erstgeborene, wird von den ersten Lebenstagen an mißachtet und isoliert; der unheilvolle ‘böse Blick’ wird ihm gleichsam zugeschrieben. Der physiognomisch gezeichnete ‘Mißmensch’ wird so zu einem sozialen Außenseiter; allein über die von ihm geliebte Tiana bleibt eine Verbindung zur Umwelt erhalten. Der wohlgestaltete und lebenslustige Bruder scheint zunächst der ‘richtige Partner’ für Tiana zu sein, ehe er ihr eine reiche Frau vorzieht. Tiana heiratet – ihre eingewurzelte Scheu vor dem ‘bösen Blick’ Matkos nur mühsam überwindend – den älteren Bruder, der in nahezu krankhafter Leidenschaft sich ihr verbunden sieht (S. 70), aber – selbst in seinen Rachegedanken gegenüber dem Bruder – nie als Psychopath, sondern als ‘sittlich autonome Person’ dargestellt ist (vgl. S. 81). Das unglückselige Ende für die Personen des ‘Dreiecks’ ist determiniert durch das ‘biologische Schick48
Ich zitiere im fortlaufenden Text mit Angabe der Seitenzahlen (in Klammern) die Ausgabe Karl E. Franzos: Galizische Erzählungen. Berlin u. Weimar 1980 (= bb 449). – Franzos (1848–1904) studierte in Wien und Graz Jurisprudenz, Philosophie und Geschichte, vgl. auch seinen historisch-politischen Roman „Ein Kampf ums Recht“ (1882), dazu Sendler: Franzos.
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sal’, das Milieu und die charakterologischen Bedingungen der Konstellation. Den Fluch des sterbenden Bruders büßt Matko mit seiner Existenz als ‘Stummer’ (vgl. S. 37 u. 93). Als er ein Kind vom Ertrinken rettet, erkrankt er und wird mit dem Tod von seiner Leidensgeschichte als ‘Ausgegrenzter’ erlöst. Im Schuld-und-Sühne-Schema endet die Geschichte versöhnlich. Durch die Rahmenerzählung und die Beurteilungsperspektive des Ich-Erzählers im Rahmengeschehen wird die dramatische Geschichte von Untat und Buße distanziert; der Leser kann so nach Sinnlinien suchen, die das Geschehen deuten. Obwohl Matko sein Leben weitgehend selbst erzählt, trägt dieser Bericht einer verkümmerten Existenz die Zeichen der freiwilligen Anerkennung der gesetzten Moral. Die Möglichkeit, in dem Verbannten und Verstummten weniger den ‘Kriminellen’ als das Opfer von Aberglauben, väterlicher Gewalt und fehlender familiärer Solidarität zu sehen, ist zwar angelegt, sie wird jedoch nicht konsequent entwickelt oder gar zu einem neuen Verständnis von Verbrechensentstehung geführt, unter dem dann das Mißverhältnis von Schuld und Strafe im Fall des Stummen deutlich würde. Kriminologische Theorien vom „Mißmenschen“,49 vom Zusammenspiel physischer, psychischer und moralischer Degeneration, könnten zwar bestimmte Aspekte von Matkos Weg zum Verbrechen erklären, sie sind jedoch von den literarischen Konstruktionen des Unschuldig-Schuldigseins überlagert und durchbrochen. Durch den Aberglauben der Land- und Waldbevölkerung in den östlichen Karpaten werden dem finsteren Matko der ‘böse Blick’ und die aggressive Haltung gegenüber seiner Umwelt eher zugeschrieben als daß Mißtrauen und Gewalttätigkeit ihm angeboren wären. Seine Liebe zu Tiana ist nicht durch sexuelles Begehren gekennzeichnet, sondern erwächst aus Matkos Bedürfnis, dem Käfig der Zuschreibungen zu entkommen und als vollwertiger Mensch anerkannt zu werden. Die Informationen zu Lebensgewohnheiten, Einstellungen und Sozialverhältnissen in Matkos Lebenswelt wirken für den mitteleuropäischen Leser nicht als Bausteine zu einer milieubezogenen Ätiologie des Verbrechens, sondern als ethnographische Information. Zugleich kann die exotische Dorf- und Verbrechensgeschichte an die westliche Kulturwelt auf der ethischen Ebene des Schuld-Sühne-Ausgleichs angeschlossen werden. Wie häufig im realistischen Erzählmodell ist die ‘Strafverfolgung’ nicht an das Handeln einer staatlichen Rechtsinstitution gebunden; hier ist es die Dorfgemeinschaft, die den ‘Brudermörder’ Matko ausstößt. Diese ‘archaische’ Sanktion des Milieus wird jedoch nicht problematisiert, sondern mit der ‘modernen’ Konstellation ver49
Vgl. Wulffen: Schillers „Räuber“, S. 34.
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bunden, in der sich ein willensfreies Subjekt dem Vergeltungsprinzip, der Notwendigkeit von Sühne, unterwirft. Schuld und Strafe bilden als ethisches Gesetz das Sinnzentrum des Geschehens, das sich im Regelwerk einer rechtsfernen ‘poetischen Gerechtigkeit’ ordnen läßt. Die Lebensgeschichte wird auf das Ungeheuerliche des Brudermords (bzw. des Mordanschlags) hin erzählt; dem schuldbeladenen Weg zum ‘dramatisch-abweichenden Verhalten’ korrespondiert der sühnebesetzte Rückweg in Normalität und Gemeinschaft. Die juristischen Erfahrungen des Autors sind nahezu völlig ausgeblendet; sein psychologisches und soziokulturelles Interesse äußert sich nicht in der erzählerischen Integration aktuellen Wissens, sondern im Sinne der innovativen und interessanten Gestaltung traditionaler literarischer Muster. Wo jedoch der letzte Schritt zur kriminellen Handlung erklärt werden müßte, setzt Franzos nur das literarische Bild (hier das Bild von der ‘gequälten Kreatur’) ein, die mit einem Mal gegen ihre Peiniger aufbegehrt.50 Die Geschichte des jüdischen Schenkenpächters Leib Weihnachtskuchen (S. 96–269) von 1896 ist anders konzipiert. Die lange Erzählung ist über die Eifersuchtsgeschichte und die Erfahrung des – wegen seiner abstoßenden äußeren Erscheinung (S. 97 f.) – zurückgewiesenen Liebhabers Janko mit Motiven aus dem „Stummen“ verbunden, zugleich aber komplex angelegt und durchaus nicht mehr konsequent am realistischen Erzählmodell orientiert. Die Geschichte wird nicht von einem Versöhnung eröffnenden Ende her erzählt, sondern mit den Ereignissen entwickelt, die in Mord und Sterben enden. Dabei wird keine vorgegebene Ordnung bestätigt, sondern das Chaos der Verhältnisse sichtbar gemacht. Die Handlung ist in einem ostgalizischen Dorf angesiedelt. Zunächst geht es um die Selbstbehauptung des galizischen Bauern Janko Wygoda, der sich weitere Probleme durch seine Liebe zum Kind des vielfach geschundenen jüdischen Schenkenpächters Weihnachtskuchen einhandelt. Die Ehe zwischen Christ und Jude darf und soll nicht sein; das junge Mädchen wird – per Kaufund Ehevertrag – einem steinalten Juden zugeführt, ohne daß Miriam entschieden gegen den Willen ihrer Eltern aufbegehrt. Janko hatte ihr angedroht, daß die Ehe mit einem anderen ihren und seinen Tod bedeuten würde (S. 181). So finden „die Neuvermählten“, das ungleiche Paar, und Janko gemeinsam ihren Tod im Wasser; Janko hat ihn als Steuermann des Braut- (und Lethe-)Schiffes verursacht (S. 268). Miriams Mutter war schon vor der – von ihr geplanten – 50
Vgl. zu diesem literarischen Muster auch Jakob J. Davids Dorfgeschichte „Ruzena Capek“, die auf einen authentischen Kriminalfall zurückgeht, sowie „Das Verbrechen der Lea R.“ von K. E. Franzos, Sacher-Masochs Erzählung „Matrena“ oder Rilkes Kindermordgeschichte „Frau Blahas Magd“.
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Hochzeit gestorben; der Vater überlebte den Wassertod des Kindes nicht, der – aus der Sicht des ‘Mörders’ Janko – ein Liebestod ist (vgl. G. Kellers „Romeo und Julia auf dem Dorfe“), während Miriam den Janko (ähnlich wie Tiana den Matko) nicht eigentlich liebt und für sie der Gehorsam gegenüber den Geboten der Eltern (vor allem der sterbenden Mutter, S. 240 u. 263) mehr zählt als die Neigung zu Janko. Über den ‘Kriminalfall’ hinausgehend, entwirft die Erzählung differenziert die Bedingungen für das Leben, die permanente „Drangsal“ (S. 111) der jüdischen Bevölkerungsminderheit. In dieser Perspektive ist von besonderem Interesse, wie die Verzweiflungstat Jankos (der als Christ auch in seinem Verhältnis zu ‘den Juden’ determiniert ist) als Äußerungsform ‘unzivilisierter’ Aggressivität, des ‘Tieres im Menschen’, beschrieben wird (S. 123). Das ‘chaotische Ende’ ist jedoch nicht zwangsläufig zu erwarten; es sind genug Wege zu einem versöhnenden Ausgang angelegt, doch setzt der ‘blinde Zufall’ die entscheidenden Akzente in einem Ereigniszusammenhang, der sich nicht mehr im sinngebenden Konstruktionsmuster der ‘poetischen Gerechtigkeit’ verstehen läßt. Die Erzählung ist im eigentlichen Sinne keine Verbrechens- oder Verbrechergeschichte; sie wird vor allem aus der Perspektive des ‘Opfers’ Leib Weihnachtskuchen erzählt; er hat – freilich nicht im juristischen Sinne – viele Mörder, wenn auch Jankos Tat seinen Tod auslöst. Jankos Mord der Tochter Leibs und ihres Bräutigams ist eine Tat, die nicht – wie bei Matko – spontan zustandekommt, sondern im vorhinein angekündigt ist. Auch die ethischen Aspekte, die Matkos Verhalten vor und nach dem Mordgeschehen bestimmen, spielen bei Janko nicht die entscheidende Rolle. Er wird eher als besinnungslos Handelnder beschrieben, als besessen von der ‘fixen Idee’, Miriam zu besitzen. Sie gilt ihm (der wie Matko als ‘Mißmensch’ und Außenseiter gezeichnet ist) aber nicht nur als Faustpfand der möglichen menschlichen Gemeinschaft, sondern erscheint als Objekt sexueller Begierde. Bei Janko bricht das ‘Tier im Menschen’ durch, und vor dieser Bestie erschrickt sein Freund Leib, bei aller Sympathie und Solidarität mit Janko, der – obwohl kein Jude – auch zu den Ausgestoßenen zählt. Die Verbindung von ‘Tier’ und ‘Mensch’ im Zeichen von Aggression und Verbrechen ist allerdings nicht auf das kriminalanthropologische Theorem vom ‘vertierten’ Menschen, vom geborenen Verbrecher zurückzuführen. In dieser Dorfgeschichte sind es die sozialen Verhältnisse und die daraus abzuleitenden psychischen Konstellationen im Leben der Zurückgesetzten und Ausgegrenzten, die Anlage und Ausgang der Erzählung bestimmen. Der Kriminalfall ist jedoch nur ein Teil des Ganzen, nicht das Sinnzentrum. So wird der Ausgleich von Schuld und Strafe nicht zum Prob-
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lem; Janko stirbt mit seinen Opfern einen ‘Liebestod’. Dieses Element des realistischen Erzählmodells ist jedoch gerade in seinen versöhnlichen Sinnbezügen zerbrochen: Nur im Bewußtsein des Liebhabers vollzieht sich dieser Liebestod; für Leib Weihnachtskuchen und sein Kind ist es Mord. Am Ende des Geschehens steht nicht – wie im „Stummen“ – das Bild einer geretteten Familie und bestätigten Gemeinschaft, sondern die Katastrophe ihrer Zerstörung. Und doch ist es gerade das (hier nachhaltig erschütterte) Ordnungsmodell von Familie und Dorfgemeinschaft, das den Blick auf – die Tat übergreifende – soziale Zusammenhänge eröffnet und so die literarische Konstitution einer ‘Täterbestie’ im Sinne Lombrosos verhindert. Auch Janko ist wie Miriam, wie Leib Weihnachtskuchen und seine Frau, wie Reb David ein Opfer. Daß er Miriam ‘besitzen’ will, daß er sie keinem anderen gönnt, daß er ihr Leben und das Leben anderer aus dieser ‘Besitzgier’ zerstört, ist nicht die Folge einer (‘angeborenen’) moralischen Degeneration, sondern letzte Station auf dem Leidensweg der Zurücksetzung. Dennoch ist in der Figur Janko – anders als im Fall von Matko – die Möglichkeit eines ursprünglich ‘Bösen’ im Menschen angelegt, so daß sich die Konstruktion eines sittlich autonomen Individuums nicht mehr aufrecht erhalten läßt.
Die „Ausflüge“ des Schriftstellers Paul Lindau „ins Kriminalistische“ Außerhalb des Genres der ‘schönen Literatur’ ist die Abkehr von einem etablierten rechtskulturellen Deutungsmuster in der Regel problemloser zu vollziehen, weil sich dieses Element nicht mit anderen Motiven und Mustern zu einem mehr oder weniger ‘autonomen’ Modell fügt, sondern stärkere Referenzen zu anderen ‘Diskursen’ entwickelt und seine Stabilität mehr durch diese Bezüge bestimmt ist. Paul Lindaus „Ausflüge ins Kriminalistische“ (1909) markieren bereits im Titel die Orientierung des Schriftstellers am kriminologischen Diskurs.51 Sie sind den Freunden und Justizräten Max Bernstein (München) und Hugo Horrwitz (Berlin) gewidmet. Daß Lindau dennoch von den literarischen Mustern – und wohl auch von den Erwartungshaltungen seines Publikums – in der Auswahl des Materials, in dem Aufbau 51
Vgl. als frühere Publikationen Lindaus in diesem Gebiet „Interessante Fälle. Criminalprozesse aus neuester Zeit“ (Breslau 1888, darin u.a. „Der Prozeß Graef“) und „Der Mörder der Frau Marie Ziethen“ (Breslau 1892). Neben Gerichtsreportagen, justizkritischen Feuilletons und Fall- bzw. Prozeßgeschichten veröffentlichte Lindau auch eine Reihe von Kriminalerzählungen (z.B. „Was der Schusterfriedel auf dem Sterbebette berichtete“); Kriminalität gehört zudem zu den wichtigsten Motivkomplexen der drei BerlinRomane Lindaus, vgl. insbesondere „Spitzen“ (1888), den letzten Roman der Trilogie.
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narrativer Kohärenz und in der Sinngebung geleitet wird, will ich am „Mörder“-Kapitel zu zeigen versuchen. Im Mittelpunkt soll dabei die Eifersuchtstat Berthold Rauschers stehen; es ist ein authentischer Kriminalfall, der von Lindau jedoch nach dem Modell einer Dorfgeschichte (er nennt es eine „Pfingstgeschichte vom Lande“) unter dem ironischen Titel „Und es geschah ein Brausen“ erzählt wird. Die Zwangsvorstellung, die hier – im Sinne kriminologischer Theorie – zur Erklärung der Mordtat eingesetzt wird, ist in dieser literarischen Konstruktion auf der Ebene des Rätselhaft-Wunderbaren mit der Semantik des biblischen Pfingstgeschehens verbunden. Daß sich bei Lindau (1839–1919) weder besonders originelle kriminalistische Überlegungen, noch literarisch-eindrucksvolle Gestaltung finden, sollen die nachstehenden Zusammenfassungen und die wenigen Textauszüge zu belegen versuchen.52 Die „Ausflüge ins Kriminalistische“ haben folgende Teile: Mörder – Indizien – Grete Beier – Das Drama von Allenstein – Der Hauptmann von Köpenick. Auch die Fallgeschichten (Grete Beier / Schuster Voigt) sind eher feuilletonistisch als ‘Kriminalskizzen’ angelegt, weniger im Sinne einer Gerichtsreportage oder einer Tribunalerzählung. Der Autor spielt als Beobachter, Kommentator oder ‘Weiter-Erzähler’ / ‘Zu-Erfinder’ eine wichtige Rolle; wiederholt gibt er „Stimmungsberichte“ (S. 270). Alle Teile stützen sich auf authentisches Material (oder Erzählungen von Gewährsleuten), das jedoch vielfach vom Verfasser nach literarischen Mustern umgeformt oder aufbereitet wird (vgl. z.B. „Das Drama von Allenstein“: Grundlage ist der Fall Hugo von Groeben / Toni von Schönebeck; der Verfasser erzählt ihn aus der Rückschau des arretierten ‘Totschlägers’ v. Groeben; das authentische Material wird in einer „zusammenhängenden Erzählung“ dargestellt, in der Lücken durch Erfindungen ausgefüllt sind – vgl. auch S. 78 und 102 zu „Indizien“). Die Geschichten, die ‘das Leben’ präsentiert, vergleicht der Verfasser wiederholt mit Literatur; so den „erschütternden Ausgang der Allensteiner Tragödie, die in ihrer grausigen Trias [von] Wahnsinn, Mord und Selbstmord stofflich an die schlimmste Hintertreppenliteratur gemahnt“ (S. 172); den germanistischen Leser erinnert die „reizende Frau Toni, die als siebzehnjähriges Kind vom Rittmeister geheiratet wurde“ (S. 199) vielfach an Fontanes Effi Briest, in ihrer psychopathologischen Hysterie an Cécile. Die ‘Wirklichkeit’ der Kriminalfälle (auch im Falle von Voigt) wird Lindau, dem – literarisch versierten – Betrachter oder Mit-Erlebenden, mehr oder weniger ‘unwillkürlich’ zur ‘Literatur’; sie wird in 52
Ich zitiere im fortlaufenden Text mit Angabe der Seitenzahl (in Klammern) die 1909 im Verlag A. Langen erschienene Ausgabe.
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literarisch erworbenen Darstellungs- und Deutungsmustern erfaßt. Und Lindau versäumt auch nicht darauf hinzuweisen, daß der Verantwortliche für die „tollste, unwahrscheinlichste Militärburleske“ (S. 241) der jüngsten Zeit, der Schuster Voigt, viele und gute Bücher gelesen hat (S. 258). Der Themenbereich „Mörder“ (S. 9–74) umfaßt etwa ein Viertel des Seitenumfangs dieses Bandes. Zunächst betrachtet werden „Emile Zolas Modelle“. Lindau markiert das „pathologisch-psychiatrische“ Thema in Zolas Roman „Die Bestie im Menschen“ (1890), den er als Kriminalroman bezeichnet.53 Für den Stoff verweist Lindau auf Lombroso sowie auf eine „Kriminalgeschichte“, die in den 1870er Jahren in den Zeitungen, dann auch im „Neuen Pitaval“ stand, auf den Fall Eusebius Pieydagnelle (als Beispiel für pathologischen Mordtrieb). Als zweiten Bezugsfall wählt Lindau den „irren Mordgesellen“ Thouviot, den der Psychiater Legrand du Salle in seinem Werk über Epilepsie ebenso erwähnt wie Lombroso (Lindau zitiert die Übersetzung von Fränkel, 1887). Als weitere Quelle und authentisches Material zieht er Macés „Mon Musée criminel“ heran – Lindau sieht als bewiesen an, daß „ein angeborener, durch Vererbung überkommener Mordtrieb in Wahrheit vorhanden ist“; er selbst hätte in der Dalldorfer Irrenanstalt „mehrere von diesem Mordwahnsinn befallene verbrecherische Irrsinnige kennen gelernt“ (S. 17). In einem zweiten Komplex wird die Aufmerksamkeit gerichtet auf „Andere: Ernst Sobbe – Eichinger – Berthold Rauscher“. Die Reihe der „Mordwahnsinnigen“ wird durch authentische Fälle erweitert und variiert. Ausgangspunkt des Interesses ist das „psychologische Rätsel“; Lindau stützt sich auf Berichte von Gewährsleuten oder eigene Begegnungen mit Kriminellen. Diese Erfahrungen werden immer wieder als ‘Geschichten’ erzählt: Ganz denselben Eindruck habe ich auch von meiner Begegnung und Unterredung mit Sobbe gewonnen. Wenn man diesen jungen hübschen, etwas über mittelgroßen Mann mit seinen treuen guten Augen, seinem kleinen koketten Schnurrbart, seinem gepflegten Äußern, vor sich sah und ihn hörte, wie er sich mit einem leichten Anfluge Harzer Dialekts in der Sprache der Gebildeten einfach und klar ausdrückte, so mußte es jedermann vollkommen unfaßbar erscheinen, wie dieser ruhige stille Mensch eines so fürchterlichen Verbrechens sich hatte schuldig machen können. Von seinen Anverwandten, von seinen Freunden, von allen, die mit ihm in Verkehr getreten sind, ist denn auch ausgesagt worden, daß Sobbe sich niemals irgendwelche Rohheit oder Gefühllosigkeit habe zuschulden kommen lassen. Er war seines freundlichen Wesens wegen allgemein beliebt. Und auf einmal taucht in diesem Manne der Mordgedanke auf! 53
Vgl. auch P. Lindau: Ueber Mord in der Dichtung und in Wahrheit. Gelegentlich des Romans „La Bête humaine“ von Emile Zola. In: Nord und Süd 53 (1890), S. 343–404, dort auch zum ‘Mörder Schunicht’ (siehe hier dazu weiter unten).
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Sobbe besaß den begreiflichen Ehrgeiz, seinem kleinen Kolportagebuchhandel größere Verhältnisse zu geben. Aber dies natürliche Verlangen war keineswegs übertrieben. Niemals hatte er Klage darüber geführt, daß es ihm schlecht ginge, und niemals das Verlangen nach einer glänzenden Stellung in ungestümer oder auch nur auffälliger Weise geäußert... Eines Abends fährt Sobbe mit einem Stoß Bücher, die er auf der Messe abzusetzen hofft, von Magdeburg nach Braunschweig. Um die Zeit der langweiligen Fahrt zu kürzen, nimmt er ein Zeitungsblatt, in das einige Bücher eingeschlagen waren, zur Hand und liest darin. Es war zufällig eine alte Nummer der „Neuen Freien Presse“ mit den ersten ausführlichen Berichten über den Briefträgermörder Francesconi. „Da auf einmal, ganz plötzlich, schoß mir der Gedanke auf: Du mußt einen Briefträger ermorden! Mit dem Gelde, das du ihm abnimmst, kannst du dir eine große, selbständige Stellung schaffen!“ Er liest die Geschichte noch einmal (S. 20 f.).
Rätselhaft bleibt, wie auf „einmal das Gehirn das Ungeheuer des Mordgedankens gebiert“, „alle von den Sittlichkeitsbegriffen aufgerichteten Schranken“ niederreißt und die „bête humaine“ alles verschlingt („wie das aus dem Käfig entsprungene Raubtier“), „was sich ihr in den Weg stellt“ (S. 25). Dieses Rätsel ist auch durch die naturwissenschaftliche Methode (Vererbung, Phrenologie, Epilepsie-Bezüge) nicht zu lösen. Das Erklärungsmuster der „fixen Idee“ zu töten wird mit dem Beispiel des Mörders Eichinger (Wien 1895) bestätigt. Den beiden, Sobbe und Eichinger, die von Hause aus keineswegs schlecht geartet, sogar von sympathischen Charaktereigenschaften ausgestattet, anscheinend jeder Rohheit und Gewalttätigkeit unfähig, sich des rohesten und gewalttätigsten Verbrechens schuldig machen, reiht sich ein Dritter an: Berthold Rauscher aus Rauenstein. Nur für die Darstellung dieser „Pfingstgeschichte vom Lande“, der ich den Titel „Und es geschah ein Brausen“ gegeben, habe ich die freiere Form der Erzählung gewählt. An der Sache habe ich nicht das geringste geändert. Ich hab’ der Verhandlung vor den Meininger Geschworenen beigewohnt. Am 26. Oktober 1898.
*** In dem kleinen Häuschen unten am Berge wohnten arme Leute. Zwei Familien: Kranichs und Rauschers. Rauschers waren die ärmeren. Denn der alte Rauscher, den sie vorigen Frühling begraben hatten, hatte eine lange Krankheit durchgemacht. Und langsam sterben kostet noch mehr, als lange leben. Die Mutter, eine kleine gebrechliche Frau, hatte niemals viel verdienen können. Sie war froh, wenn sie für einen gelegentlichen Aushilfedienst oben von der Herrschaft in der Fabrik mit ein paar Mark entlohnt wurde. Das kam aber selten vor. Aber sie war eine ordentliche, sparsame Frau, die jeden Groschen dreimal herumdrehte, ehe sie ihn ausgab. Und solange ihr Mann lebte und tüchtig arbeiten konnte, ging es zur Not (S. 29 f.).
e.
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Nach dem Tod des Familienvaters müssen Schulden gemacht werden; der schwächliche Sohn Berthold kann nicht richtig arbeiten, zudem hinkt er, hat einen Sprachfehler und steht durchaus nicht ‘vital’ im Leben: Die Konstellationen des Kriminalfalles werden in den Schemata der ‘schönen Literatur’ geordnet – in ‘modernen’ (naturalistischen) Bildern sozialen Elends und in den ‘traditionalen’ der Liebesillusionen und Enttäuschungen. Den Kranichs, die im oberen Stockwerk wohnten, ging es viel besser. Die Mutter hatte schon ein paar hundert Taler mit in die Ehe gebracht, der Vater war ein gut bezahlter Arbeiter in der Fabrik, der Sohn selbständig und aus dem Hause; und seit ihrem fünfzehnten Jahre verdiente auch die einzige Tochter: Milda. Zwischen den beiden Familien herrschte vollkommene Eintracht. Schon in früher Kindheit hatte Berthold eine sehr innige Zuneigung zu dem lustigen, blühenden, hübschen Nachbarskinde gefaßt. Und auch sie war ihm gut. Sie verstand ihn wohl besser als die anderen; er tat ihr leid. Holder nannte sie ihn. Berthold war froh, wenn er in ihrer Nähe sein konnte, und sie duldete ihn gern wie einen alten, treuen Hund, – wenn er ihr manchmal auch ein bißchen unbequem war (S. 32).
Milda entwickelte sich zu einer üppigen „Dorfschönheit“, die viel umschwärmt ist, „während Berthold von schlechtem Blut, von klein auf kümmerlich genährt, in gewohnheitsmäßiger Entbehrung aufgewachsen, engbrüstig und siech, abseits im Schatten stand“ (S. 34). Sein ‘Werben’ um Milda läßt nicht nach; sie treffen für Pfingsten eine – aus der Sicht Mildas – vage Verabredung; Berthold wartet und sieht Milda mit einem anderen weggehen. Gegen Mitternacht verstummte die Musik, und es wurde nun auf kurze Zeit lebendiger im stillen Dorfe. Nun zogen auch verschiedene Pärchen bei ihm vorüber – gewiß auch Milda mit ihrem Kutscher. Im Dunkel der Nacht konnte er die einzelnen nicht erkennen. Aber er hörte ein Lachen, das er kannte. Schon lichtete sich der Himmel im Osten; schon wurden da milchige Flocken sichtbar, die sich bald zitronengelb färbten, dann in ein zartes duftiges Rosa übergingen und endlich im blendenden Brande flüssigen Goldes erstrahlten. Die Sonne ging auf. Berthold erhob sich mühselig von seinem Stuhle, auf dem er lange, lange Stunden unbeweglich gesessen hatte. Er fühlte sich wie zerschlagen. Er warf den Kopf nach hinten, reckte die kümmerliche, schmale Brust vor und machte mit den Armen einige Male ruckhafte Bewegungen. Dann streckte er den Kopf in das Waschbecken, das er mit kaltem Wasser gefüllt hatte, und rieb sich mit dem rauhen Handtuch tüchtig ab. Er fühlte sich jetzt etwas frischer (S. 39 f.).
In der Fabrik trifft Milda auf Berthold, der ihr eine beschriebene Papptafel übergibt: „Lies es laut!“ Sie las: „Liebe Milda. Jetzt ist die letzte Stunde unseres Lebens. Du weißt, wie gut wir uns in der Schule waren. Jetzt behängst du dich mit anderen Kerlen, schäme dich in dein Herz hinein. Wenn du nicht sagst, daß du mich magst, kann ich’s län-
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ger nicht mit ansehen. Sei vernünftig wie ein Mensch. Sagst du nein, so werden ich und du zwei Leichen.“ Er stand ihr gegenüber und hatte einen großen schweren eisernen Schraubenschlüssel ergriffen. Und während sie las, klopfte er drohend in langsamen Schlägen auf eine leere Kiste. Die ahnungslose Milda hielt das alles für einen Scherz, und bei den letzten Worten „zwei Leichen“ lachte sie hell auf. Da hörte er es wieder ... das pfingstliche Brausen als eines gewaltigen Windes. Er erhob den eisernen Schraubenschlüssel und schlug sie mitten auf den Kopf. Sie stürzte blutend und ohnmächtig zu seinen Füßen, ohne einen Schrei zu tun. Noch einmal erhob er den Arm. Da hörte er ganz deutlich eine Stimme, die ihm schrecklich mahnend zurief: „Was will das werden?“ Er ließ den Schlüssel fallen. Er riß die Tür zum Nebenraume auf und lallte Unverständliches (S. 41 f.). [...]. Die Verhandlung vor den Geschworenen verlief ohne besondere Zwischenfälle. Die Sache lag ja auch so einfach. Der Angeklagte war geständig, er beantwortete die Fragen des Vorsitzenden, die er bisweilen das erste Mal nicht recht verstand, ruhig mit „Ja“ und mit „Nein“. Das Zeugenverhör stellte nur schon Bekanntes fest. Der Staatsanwalt schilderte Berthold Rauscher als einen ganz gemeinen, heimtückischen, viehisch rohen Menschen, der mit kühlster Überlegung und schaudernerregender Ruhe das blühende Leben eines lieben, heiteren Kindes, das die Freude und der Stolz der Eltern und der Liebling des ganzen Dorfes sei, habe vernichten wollen. Nur durch ein Wunder sei Milda ihrem Schicksal entronnen. Also Mordversuch. Er beantragte acht Jahre Zuchthaus. Der Verteidiger konnte den Versuch der beabsichtigten und überlegten Tötung angesichts der schriftlichen Todesandrohung und des Geständnisses nicht in Abrede stellen. Er bat nur um eine etwas mildere Strafe. Die Geschworenen bejahten die Schuldfrage, und nach kurzer Beratung verkündete der Gerichtshof das Urteil, das auf sieben Jahre Zuchthaus lautete. Die Sache lag ganz einfach. Milda weinte bitterlich. Rauscher folgte ohne ein Zeichen von Teilnahme dem Wärter in die Zelle; am andern Morgen wurde er ins Zuchthaus abgeliefert. Als die Geschworenen zu früherer Stunde, als sie hätten erwarten dürfen, den Sitzungssaal verließen, sagte der eine zu einem anderen: „Von der heutigen Sache hatte ich mir eigentlich mehr versprochen“ (S. 44 f.).
Lindau hatte der Meininger Verhandlung im Oktober 1898 beigewohnt und sich Aufzeichnungen gemacht, an die er nun – im August 1909 – wieder anknüpft. Als er die Notizen zur Hand nimmt, traten mir die Bilder, die mir allmählich nur noch in verschwommenen Umrissen und verblaßten Farben vorschwebten und sich schließlich vollkommen verflüchtigt hatten, mit merkwürdiger Schärfe der Zeichnung und des Kolorits wieder ganz deutlich vor das geistige Auge. Ich sah sie alle vor mir, die an diesem Prozeß Beteiligten: den hohen Gerichtshof, der kein „besonderes Interesse zur Sache“ zu ha-
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Bilder vom ‘Verbrechermenschen’ ben schien, den vehementen Vertreter der Anklage, den unfreudigen Verteidiger, den die Erkenntnis, für eine verlorene Sache zu fechten, ermattet haben mochte, und die von der Länge der, eines jeden auffrischenden Zwischenfalls baren Sitzung abgespannten Gesichter der Geschworenen. Alles das im trüben Licht eines grauen Herbsttages (S. 45 f.). [...]. Und ich sah am schärfsten und deutlichsten den Angeklagten selbst: schmalschulterig, eine Mückenbrust, schlaff herabbaumelnde Arme, wackelig auf den mißgestalteten Füßen, ungelenk in seinen Bewegungen, das Gesicht aschgrau, krankhaft fahl mit dunkeln klagenden Augen. Er hatte offenbar Mühe, den Verhandlungen zu folgen, und verstand oft gar nicht, um wen und was es sich eigentlich handelte. Wenn der Vorsitzende in seiner schroffen Weise unversehens eine Frage an ihn richtete, so fuhr er jedesmal erschrocken zusammen, zitterte heftig und mußte sich die Frage gewöhnlich wiederholen lassen, ehe er nach längerem Besinnen deren Sinn erfaßte. Dann gab er nach sichtlicher Anstrengung schwerfällig und bisweilen kaum verständlich eine unbeholfene Antwort. Der Vorsitzende verlor zumeist, während Rauscher mit dem Ausdruck noch rang, die Geduld und fuhr mit der barschen Abfertigung: „Schon gut! Setzen Sie sich!“ in den Verhandlungen fort ... . Die alle sah ich leibhaftig wieder vor mir. Aber vergeblich war mein Bemühen, mir den sachverständigen Arzt zu vergegenwärtigen. Und ich kannte doch alle Meininger Ärzte, die etwa in Betracht kommen konnten. Sollte ein psychiatrischer Sachverständiger überhaupt nicht hinzugezogen worden sein? ... (S. 47). [...]. Nicht ohne ein Gefühl von Beschämung machte ich nun – nach zehn Jahren – die Wahrnehmung, daß ich an den verkrüppelten Othello des Thüringer Nestes kaum noch gedacht hatte, daß mir sogar sein schöner, wie für den Ritterroman-Helden in einem Familienblatt erfundener Name entfallen war: Berthold, genannt Holder Rauscher von Rauenstein! ... . Was mochte aus ihm geworden sein? (S. 48). [...]. Berthold Rauscher war nicht gestorben, wohl aber – sofern Tatsachen sprechen – verdorben, gründlich verdorben! Der körper- und geistesschwache Krüppel, der bis auf den, in sinnverwirrender Eifersucht verübten mörderischen Überfall seiner Geliebten Milda keinem Menschen ein Härchen gekrümmt hatte, war eines abermaligen Mordversuchs an einem Mitsträfling angeklagt, schuldig befunden und am 1. Juli 1903, unter Ausschluß der Öffentlichkeit, zu einer weiteren Zuchthausstrafe von acht Jahren verurteilt worden! „... Es horcht Der Alte die Lieder Und schüttelt das Haupt ...“
***
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Über die Szene, die sich am 28. März 1903 gegen 2 Uhr nachmittags im Meiningenschen Zuchthause zu Unter-Maßfeld abgespielt hat, wird die objektive Wahrheit wohl kaum jemals festzustellen sein. Von einer „Feststellung“ des Tatbestandes auf Grund glaubwürdiger Aussagen kann eben nicht die Rede sein. Die Beteiligten, Rauscher und Trautmann, sind wegen schwerer Verbrechen bestrafte Zuchthäusle (S. 49).
Bertholds Gegenspieler wurde wegen Muttermordes bestraft; er hat – so wird vermutet – Berthold zu homosexuellen Handlungen „verleiten wollen“ (S. 51). Berthold wehrte sich gegen den Mithäftling, der ihn mit einem Messer bedrängte. Die Staatsanwaltschaft hielt die Angabe des Rauscher, daß bei dem geheimen Zusammentreffen der beiden im Korblager das Homosexuelle mitgewirkt habe, für wahrscheinlich. Dagegen wollte sie Rauschers weiterer Darstellung, die darauf hinauslief, daß er im Zustande der Notwehr zugeschlagen habe, keinen Glauben beimessen. Sie nahm vielmehr an, daß das Motiv zu dieser mörderischen Rauferei eine Art von Analogon zu seinem früheren Verbrechen bilde: Mordversuch aus Eifersucht. – Es könne als notorisch angesehen werden, daß sich bei Rauscher im Zuchthause ein perverser Geschlechtstrieb entwickelt, und es sei in hohem Grade wahrscheinlich, daß zwischen ihm und dem Trautmann ein widerwärtiger Verkehr stattgefunden habe. Rauscher sei nun auf den Trautmann, der zu anderen Sträflingen in ähnlichen Beziehungen gestanden habe, eifersüchtig geworden und habe ihn deshalb töten wollen – wie ehedem seine Milda (S. 51 f.).
In einem dritten Komplex „Der typische Mörder. Heinrich Schunicht“ bezieht sich Lindau explizit auf Lombroso und Zola („La Bête humaine“), es geht um einen Fall von Mordtrieb durch ‘epileptischen Wahnsinn’ und erbliche Belastung. Die „Liebesleidenschaft“ erscheint als Auslöser der Krankheit: sie „öffnet den Käfig, um das wilde Tier loszulassen. Wollust und Mord hausen im Wahnsinn in grausiger Nachbarschaft dicht beieinander“ (S. 56). Nun folgt der Bericht über einen ‘typischen Gewaltverbrecher’ in der „widrigen Mißgestalt des Mörders“ (S.62): zur Raub-Mordtat des Heinrich Schunicht, der 1886 in Berlin hingerichtet wurde. Das Panoptikum der historischen und fiktiven Mörder, die mehr oder weniger von einer ‘fixen Idee’ zur Tat veranlaßt wurden (so sehen es die Gerichte und Lindau), wird mit einem zusammenfassenden Kommentar beschlossen: Solchen Erscheinungen gegenüber ist man nur allzu geneigt, das Unbegreifliche mit Wahnsinn, fixer Idee und dergleichen erklären zu wollen. Und Lombroso hat dieser bequemen und laienhaften Auffassung eine wissenschaftliche Unterlage untergeschoben, welche die meisten Verbrecher dem Arme der strafenden Gerechtigkeit entziehen würde. Dies Bestreben, die schlimmsten Missetäter zu beklagenswerten Kranken herauszustaffieren, deren sorgsame Pflege eine Pflicht der Barmherzigkeit für unsere Gesellschaft wäre, erscheint indessen überaus bedenklich und berührt eigentlich schon die krankhaften Nietzscheschen Aufstellungen der Umwertung unserer moralischen Werte.
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Bilder vom ‘Verbrechermenschen’ Mörder, wie die hier aufgeführten, sind sicherlich nach allgemeiner Schätzung keine normalen Geschöpfe. Aber daraus folgt keineswegs, daß die von ihnen geschädigte Gesellschaft sich ihre Untaten gefallen lassen müsse. Die Gesellschaft hat vielmehr das Recht und die Pflicht, sich ihrer Haut zu wehren und diejenigen, die sich an ihr versündigen, zur Rechenschaft zu ziehen und zu strafen. Spieler und Trinker sind auch keine normalen Menschen. Sie üben Untaten an sich selbst und strafen sich selbst. Die Gesellschaft, die als solche nicht unter ihnen zu leiden hat, empfindet daher auch nicht die Notwendigkeit, sich mit ihnen zu befassen. Sie beansprucht eben nur das Recht, Angriffe, die gegen sie selbst gerichtet sind, zurückzuweisen und den Frevler, der sie an Gut und Blut schädigt, zu strafen. Die Motive zu diesen gesellschaftfeindlichen Angriffen bleiben freilich in vielen Fällen unaufgeklärte Rätsel, deren Lösung man auch durch die Aufführung von gleichartigen und gleich merkwürdigen Fällen kaum einen Schritt näher rückt. Man wird vielmehr angesichts dieser betrübenden Probleme mit Friedrich Elbogen, dem hervorragenden Verteidiger Eichingers, kleinmütig, ja verzagt an das „ignorabimus“ erinnern müssen – die wissenschaftliche Variante des unvergänglichen Paulinerwortes: „Unser Wissen ist Stückwerk“ (S. 73 f.).
Lindaus Texte wurden von einem breiten Publikum der Gebildeten gerade in ihrer Mischung aus Information über neues Wissen (im Anschluß an die Zentralbegriffe der vieldiskutierten kriminologischen Theorien), in der Vermittlung des Sensationellen und in der Einbindung beider Aspekte in geläufige literarische Schemata geschätzt. Ein Vergleich mit den Mörder-Kapiteln in Wulffens enzyklopädischem Handbuch der Kriminalpsychologie von 1926 kann diese Hypothese in einem ersten Schritt absichern. Bei Wulffen ergibt sich ein anderes Verhältnis von Argumentation und Narration, von Empirie und Intuition, doch unterscheiden sich die daraus entstehenden Beschreibungen und Deutungen kriminellen Verhaltens nicht wesentlich von Lindaus ‘Bildern des Verbrechermenschen’. Sie erscheinen so als Produkte einander widerspiegelnder, sich stützender und schließlich ineinander verzahnter Diskurse in den Grenzbereichen von Literatur und Wissenschaft. In Lindaus assoziativ verknüpfter Folge von charakterologischen Porträts und kurzen Fallgeschichten zu Mördertypen, die aktuellen kriminologischen Theorien zugeordnet werden können, geht die kriminalpsychologisch akzentuierte Rekonstruktion authentischen Geschehens mehr oder weniger bruchlos in literarische Ausgestaltung und kriminologische Diskussion fiktiver Gestaltungen über. Es sind Bilder ‘krimineller Karrieren’, die auf verschiedenen Wegen gewonnen werden, in ihren Deutungen einander aber so ähnlich sind, daß sie als Resultat einer konsistenten Empirie erscheinen. Ein zeitgenössischer Titel aus dem Literaturverzeichnis von Hans-Otto Hügels Studie „Untersuchungsrichter, Diebsfänger, Detektive“ zeigt einen solchen Verweisungs- und Austauschzusammenhang zwischen faktischem (sensationsbesetzten) Rechtsgeschehen und Fiktion: C. Dressel: Die Vergelterin. Kriminal-Roman. Ein
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sensationeller Prozeß. Kriminal-Novelle aus dem Leben. Neuweißenfels: Bartels o.J. [1905].54 In literarischen Darstellungen werden die ‘neuen Theorien’ der Kriminalanthropologie und Kriminalpsychologie weithin dazu benutzt, traditionelle Perspektiven und Verfahren zu variieren und zu verändern; in den ‘parawissenschaftlichen’ Erörterungen unterstützen die literarischen Wahrnehmungen und Konstruktionen von Verbrechern und Verbrechen dagegen den Erklärungsanspruch der kriminologischen Theorien. Der florierende Medienmarkt zwischen Gründerzeit und Erstem Weltkrieg mit seinen vielfältigen Verflechtungen von Zeitungen, Zeitschriften und Buchpublikationen sorgt für ein differenziertes Angebot; er stimuliert die Nachfrage für ‘Kriminalitätsstoffe’ in den journalistischen, literarischen, paraliterarischen und populärwissenschaftlichen Verarbeitungen und ermöglicht die ‘Mehrfachverwertung’ einzelner Texte in Buchreihen und Sammlungen (vgl. Anhang A).55 So wird der intensive Austausch zwischen den verschiedenen medialen Orten ebenso begünstigt wie die rasche Schematisierung selbst neuer Erfahrungsweisen und Wissenselemente in der Darstellung. Inwieweit solche Schemata auch die realen Handlungen der Leser prägen, läßt sich nicht zuverlässig belegen. Lindau stellt in der Fallgeschichte des Kolportagehändlers und Mörders Sobbe die vermeintlich motivierende Wirkung eines Zeitungsberichts heraus;56 für die ‘Gattenmörderin’ Grete Beier hat man ermittelt, daß sie in ihren Lektürestoffen den Weg von der Mädchenliteratur über die Gesellschaftsromane zu den Kriminalromanen ging,57 und besonders Wulffen weist mehrfach auf die tatprägende Wirkung von Kriminallektüre hin.58 Otto Lindekorn ist diesem Problem in seiner Untersuchung „Die Lektüre der modernen Verbrecher“ (ca. 1920) nachgegangen. 54 55
56 57 58
Vgl. Hügel: Untersuchungsrichter, S. 308. Vgl. Schäfer: Schriftsteller, S. 88: Der Autor beklagt die ausführlichen „Skandalprozeßberichte“ in den großen Zeitungen und das darauf bezogene Publikumsinteresse. – Daß die Prozeßberichte nicht nur der öffentlichen Kontrolle der Justiz dienten, sondern auch viel Unheil in den Köpfen der Leser anrichteten, stellt Richard Dehmel in seiner Erzählung „Der Werwolf“ (zuerst in „Die Neue Rundschau“ von 1907) dar: Das Sicherheitsverlangen und ‘Rechtsbedürfnis’ einer Öffentlichkeit, die sich aus den Zeitungen ihre Vorstellungen von Verbrechen und Verbrechern holt, treibt einen Unschuldigen vor Gericht und schließlich zum Selbstmord. Auch der „Totschläger aus verletzter Ehre“ im „Pitaval der Gegenwart, Bd. 3“ (1906), S. 187–204, ist ein eifriger Leser der Kolportageliteratur. Vgl. Wulffen: Kriminalpsychologie, S. 256. Ebd., S. 256: Der Raubmörder Karl Koppius soll u.a. Paul Lindaus Berlin-Romane mit ihren Kriminalhandlungen gelesen haben.
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Lindaus „Ausflüge ins Kriminalistische“ sparen durchaus nicht mit Sensationswirkungen, wie man sie aus dem Fiktionsbereich kennt; verbunden damit ist jedoch das Interesse an dem kriminologisch wie literarisch ebenso interessanten ‘Rätsel’, wie mehr oder weniger normale Menschen ‘plötzlich’ vom Mordtrieb ergriffen werden und als „Mordwahnsinnige“ ihre Tat ausführen. Nur auf der imagologischen Ebene der Bestie, die in jedem Menschen schlummere, um schließlich – durch die Umstände begünstigt – aus ihrem Käfig zu brechen, kommt Lindau der Lösung seines Rätsels näher. Am Beispiel der Geschichte des ‘Mißmenschen’ Berthold Rauscher, der die umschwärmte Dorfschönheit Milda aus Eifersucht beinahe erschlägt, wird jedoch deutlich, wie wenig Lindau an einer überprüfbaren Lösung des Rätsels gelegen ist, wie ihm der ‘rätselhafte Fall’ eher als auslösendes Moment dazu dient, eine Geschichte in den literarischen Stereotypen der Zeit zu konstruieren. In ähnlich schematischen Wendungen wird die Kritik an der ‘stumpfen’ Justiz und am brutalisierenden (durchaus nicht resozialisierenden) Strafvollzug angeschlossen.59 Berthold Rauscher erhält keinen Prozeß, der im Sinne von Wulffen als ein „Kunstwerk der Zukunft“ gelten könnte. Aus der Sicht des Schriftstellers wird Einspruch formuliert, aber dieser Einspruch erscheint als formaler Akt einer bereits eingefahrenen Aufgabenverteilung; er bleibt in dieser rekapitulierenden Form folgenlos für das Rechtssystem und dient mehr dazu, die Position des Autors als Anwalt kritischer Öffentlichkeit zu beglaubigen.60 Lindau hatte während seiner journalistischen Laufbahn seit 1862 in deutschen Zeitungen zahlreiche Gerichtsreportagen veröffentlicht, kritisch über Schwurgerichtsprozesse berichtet und seine Artikel für entsprechende Buchveröffentlichungen ausgearbeitet, die H. J. Kruse als besonderen Typ von dokumentarischer Literatur, als zeit- und kulturgeschichtlich wertvolle „Kriminalstudien“ charakterisiert.61 Die Berechtigung solcher journalistisch-literarischer Auseinandersetzungen mit dem Strafrechtsgeschehen bekräftigt Lindau:
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Vgl. in den „Ausflügen ins Kriminalistische“ (S. 104 f.) auch den Lobpreis von Zolas „La Bête humaine“ als brilliante Kritik des französischen ‘Justiztheaters’. – Für die Fälle, die Lindau behandelt, ist Justizkritik vor allem in der Sache des Schusters Voigt formuliert, der von der strafenden Staatsgewalt gleichsam verkrüppelt und bei seinem Versuch einer ‘Revitalisierung’ drakonisch bestraft wurde. Vgl. zu den Auseinandersetzungen der Presse mit der Justiz des Kaiserreiches um 1900 etwa M. Hardens Zeitschrift „Die Zukunft“ oder beispielsweise Jeanott E. Grotthuss: Aus deutscher Dämmerung. Schattenbilder einer Übergangskultur. 2. Aufl. Stuttgart 1909 (u.a. die Kapitel „Klassenjustiz oder nicht?“, „Rechts- oder Polizeistaat“, „Unabhängige Richter“). Vgl. Kruse: Nachwort, S. 328.
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Die Zeiten sind vorüber, da der Rechtsgelehrte sich mit dem stolzen Bewußtsein seiner fachgebildeten Überlegenheit und Unnahbarkeit zurückziehen durfte. Der Wert des unbefangenen Urteils, wie es der gesunde Sinn des gewissenhaften Laien fällt, hat in den wichtigsten Institutionen unserer Rechtsprechung die feierliche Anerkennung gefunden. Wir haben Schöffen und Geschworene.62
‘Und wir haben Journalisten und Schriftsteller, die das Prozeßgeschehen der Öffentlichkeit erschließen’ – so wäre im Sinne Lindaus zu ergänzen. Wenige Jahre vor Veröffentlichung der „Ausflüge ins Kriminalistische“ allerdings hatte Lindau in dem spektakulären Prozeß des Rechtsanwaltes Hau ausführlich und heftig gegen die – seiner Meinung nach – zu Unrecht erfolgte Verurteilung des Angeklagten öffentlich Stellung genommen und sich dabei selbst ‘strafrechtliche Verfolgung’ eingehandelt.63 Die Tendenz der „Ausflüge ins Kriminalistische“, das Rechtsgeschehen ‘aus Distanz’ zu beurteilen, bestätigt sich auch darin, daß Lindau die Darstellung und Bewertung der Ereignisse wiederholt in ‘zeitlose’ literarische Repertoires einbindet: Berthold erscheint als verkrüppelter Othello; sein Name prädestiniert ihn als Helden für einen trivialen Ritterroman („Berthold, genannt Holder Rauscher von Rauenstein“) und sein weiteres Geschick tritt mit den „Iphigenie“Versen – überdimensioniert – in das Licht eines antiken Schicksalsmythos. Lindaus (das Mörderkapitel abschließende) Bemerkung vom StückwerkCharakter allen Wissens läuft implizit auf die Aufwertung literarisch vermittelter Wahrheiten hinaus. Seine „Ausflüge ins Kriminalistische“ lenken den Blick zurück zur höheren Wahrheit künstlerischer Erkenntnis.
Erich Wulffen: Kriminalpsychologie und Kriminalromane Zu diesem Fluchtpunkt hin lassen sich auch die Publikationen und Argumentationen des Fachjuristen Erich Wulffen (1862–1936) verlängern, wobei jedoch die Bedeutung seiner Strategie nicht zu verkennen ist, mit Hilfe der Verweise auf die höhere Wahrheit der Literatur die Kriminologie und insbesondere die Kriminalpsychologie gegen die Kritik aus der ‘harten’ erfahrungswissenschaftlichen Schule zu immunisieren und die Bedeutung der „sogenannten empirischen Psychologie“64 zu erschüttern. Am Beispiel von Wulffens sexualbiologischer Deutung von Shakespeares Othello als Eifersuchtstäter ließe sich im 62 63 64
Zitiert nach ebd., S. 322. Vgl. Lindau: Karl Hau und die Ermordung der Frau Josefine Molitor. 6. November 1906. Berlin 1907, sowie für den weiteren Umkreis das Kapitel „Hau“ in Claßen: Kriminalität. Wulffen: Shakespeares große Verbrecher, S. 9.
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Vergleich mit den Mordgeschichten eifersüchtiger Liebhaber bei Franzos und Lindau darstellen, daß im ‘kriminologischen Diskurs’ an der Oberfläche der Texte zwar eine differenzierte Argumentation entwickelt wird, das konstitutive Modell jedoch keine deutliche Differenz zeigt. So überrascht es nicht, daß gerade in den charakterologisch-klassifizierenden Kapiteln 6 und 7 von Wulffens „Kriminalpsychologie“ (1926) die illustrierenden Fallgeschichten – mit vielen Entlehnungen aus dem „Pitaval der Gegenwart“, dem „Archiv für Kriminalanthropologie und Kriminalistik“ oder der Gerichtsberichterstattung und mit Verweisen auf die ‘schöne Literatur’ – eine wichtige Rolle spielen, so daß sich einzelne sensationelle Prozesse oder (in ihrer prekären Beurteilung) aktuelle Fälle zu eigenständigen Erzählungen auswachsen.65 Wulffen sieht „kriminalpsychologische Forschung und Dichten“ einander verwandt, weil sie ihre Beobachtungen und Deutungen des Lebens auf übergreifende Zusammenhänge beziehen: wissenschaftliches und künstlerisches Schaffen seien nicht als getrennte Bereiche zu betrachten.66 Diese Zusammenschau ist auch ‘pro domo’ formuliert, denn Wulffen verfolgte nicht nur eine Karriere als Jurist, sondern war auch als Schriftsteller (vor allem als Autor von Kriminalromanen) erfolgreich beim breiten Publikum, nicht aber bei der literarischen Kritik (vgl. Anhang C). Wulffens Vater war Buchdruckereibesitzer und Verlagsbuchhändler in Dresden. Wulffen wollte ursprünglich Literatur bzw. Germanistik studieren. Mit 19 Jahren veröffentlichte er seine ersten Gedichte; während seines juristischen Studiums in Freiburg i. Br. und Leipzig nahm er Schauspielunterricht; 1888 arbeitete er vorübergehend als Volontär am Leipziger Stadttheater. Im selben Jahr folgte die Promotion zum Dr. jur.; im Winter 1888/89 war Wulffen als Schauspieler am Stralsunder Stadttheater engagiert. 1890 trat er in den Referendardienst ein. 1899 wurde am Hamburger ThaliaTheater Wulffens Goethe-Drama Tasso in Darmstadt im Rahmen der GoetheEhrungen (zum 150. Geburtstag) aufgeführt. 1899–1913 war er als Staatsanwalt in Dresden tätig. 1901 begannen seine intensiven kriminalistischen Studien (beeinflußt von Liszt, Aschrott und Aschaffenburg). Neben den kriminalistischen Arbeiten, Vorträgen und Publikationen erfolgten Untersuchungen zu kriminalistischen Fragen in der Belletristik. Dabei bestimmte 65
66
Vgl. Wulffen: Kriminalpsychologie, S.405–412, zu Haarmann; ferner die (vergleichsweise kurzen) klinischen Fallgeschichten in Richard von Krafft-Ebing: Psychopathia sexualis. [1886]. ND München 1984. In der Anlage und Akzentuierung der Berichte ist die Nähe zu psychopathologischen Erzählungen und Novellen um 1900 zu beachten. Vgl. Wulffen: Kriminalpsychologie, S. 22 f.
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Nietzsches Formulierung von der latenten Nachbarschaft der großen Dichter zum Verbrechen weithin Wulffens Deutungen: künstlerische Produktivität galt ihm als Umlenkung asozialer Triebe und Aggressionen. Wulffens Engagement für Reformen in Strafrecht, Strafprozeß, Strafvollzug und Juristenausbildung wurde literarisch umgesetzt in dem satirisch akzentuierten Roman „Frau Justitias Walpurgisnacht“ (1913). Im selben Jahr wurde Wulffen als Zivilrichter nach Zwickau (straf-?)versetzt; in der Folgezeit veröffentlichte er mehrere Kriminalromane (oft unter Verwendung authentischen Materials), die auch verfilmt wurden. 1919 wurde Wulffen zum Landgerichtsdirektor in Dresden ernannt; er war Abgeordneter der Demokratischen Partei im Sächsischen Landtag. 1923 avancierte er zum Ministerialdirektor im Justizministerium; als Mitglied der Kommission für die Zweite juristische Staatsprüfung legte er besonderen Wert auf die literarische Allgemeinbildung der Kandidaten. 1926 hielt Wulffen einen Vortrag über „Kunst und Verbrechen“ im Nietzsche-Archiv Weimar, die Jahreszahl markiert auch das Erscheinen seines ‘Lebenswerkes’ in der Reihe „Enzyklopädie der modernen Kriminalistik“, der „Kriminalpsychologie“. Sein Ansatz wendet sich gegen Lombroso: Es gibt keine Spezies der geborenen Verbrecher, sondern in jedem Menschen ist latent kriminelles Verhalten angelegt. 1928 trat Wulffen in den Ruhestand; 1929 erschien „Irrwege des Eros“ (mit Charakterbildern von Frauen, die im Mittelpunkt von Sensationsprozessen standen). Wulffens Kriminalromane lösen in der Konzeption von Handlung und kriminellen Figuren sowie in der Figuren-Rede ein, was die ‘kriminologischen Analysen’ der Dichtung nachgewiesen hatten: daß sich die ‘schöne Literatur’ als Erfahrungsschatz für Kriminalanthropologie und Kriminalpsychologie nutzen lasse. Nur ist Wulffen eben kein Belletrist, der ‘intuitiv’ zu Erkenntnissen kommt, die sich auf das Wissen der Kriminologen beziehen lassen. Er verwertet sein kriminologisches Wissen als Schriftsteller und erfüllt im Raum der Fiktionen zugleich die Erfolgsversprechen der Kriminologie (insbesondere der Kriminalpsychologie) für die Bekämpfung des Verbrechens.67 Seine Texte sind weithin den Effekten der ‘großen Gefühle’ von Liebe, Eifersucht und Machtstreben verpflichtet; die Handlung wird im Kolportage-Stil der hilfreichen Zufälle, der konstruierten Verwicklungen und phantastischen Lösungen 67
Ich beziehe mich im folgenden kurz auf die Kriminalromane „Der Mann mit den sieben Masken“ (Dresden 1917), „Die Kraft des Michael Argobast“ (Dresden 1917), „Vorgelesen, genehmigt!“ (Berlin 1917), „Der blaue Diamant“ (Leipzig 1919), „Die geschlossene Kette“ (Berlin 1919); Zitatnachweise werden im fortlaufenden Text aus den genannten Ausgaben mit den Seitenzahlen (in Klammern) gegeben.
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aufgezäumt. Dabei sind vielfach konkrete Kriminalfälle (beispielsweise das Geschehen um den Hochstapler Ignatz Strassnoff in „Der Mann mit den sieben Masken“), vor allem aber die kriminologischen Theorien des Autors verarbeitet – vgl. etwa zu „Der Mann mit den sieben Masken“ Wulffens „Psychologie des Hochstaplers“ von 1923. In den meisten Romanen werden kriminalpsychologisch interessierte Juristen eingeführt und den kriminellen Protagonisten konfrontiert. In den entlarvenden oder überführenden Verhören und Debatten zwischen den Kontrahenten muß sich ‘die Kriminalpsychologie’ bewähren. Das Muster solcher Bewährungsproben wird allerdings variiert. So zeigt „Der Mann mit den sieben Masken“, wie sich ein hochbegabter Verbrecher aus Fallgeschichten, Prozeßberichten und Belletristik ‘kulturkriminologisches Wissen’ aneignen und darin den Fachjuristen übertreffen kann (vgl. Kap. 13). Die Erfahrungen des Staatsanwaltvertreters Dr. Sperl reichen trotz seiner – jenseits der juristischen Ausbildung entwickelten – kriminologischen Leidenschaft nicht aus, um den Kampf mit dem ‘Verbrechenskünstler’ zu bestehen. Im Roman „Die Kraft des Michael Argobast“ sind Elemente der Kriminalanthropologie Wulffens zur Konzeption der Titelfigur eingesetzt; die Geschichte der Aufklärung einer lange zurückliegenden Mordtat wird dann jedoch auf die Ebene rechtstheoretischer Probleme von Schuld, Verjährung und Strafe geführt. Die strafrechtlichen Vorgänge entwickeln Wulffens Romane – gestützt auf das einschlägige Wissen des Autors – trotz der kolportagehaften Konstruktion der Handlung mit kontrollierbaren Realitätsbezügen. Dabei erscheint die zeitgenössische ‘Institution Justiz’ vor allem in der theoretischen Grundlegung ihrer Ermittlungstechniken und Urteilsfindungen als reformbedürftig. Wiederholt sind Juristen als fiktive Figuren eingeführt, die sich zu den ‘neuen Schulen’ bekennen. In „Vorgelesen, genehmigt!“ vertritt ein junger Rechtsanwalt die „Freirechtsschule“; er will mit gleichsam künstlerischer Phantasie gesetzliche Vorgaben, Verfahrensbestimmungen und kriminologisches Wissen so mit den konkreten Erfahrungen des kriminellen Geschehens verbinden, daß die Diskrepanz zwischen der Sprache der Vorschriften und Gesetze zur Lebenswirklichkeit überwunden wird. In beruflichen Erfolgen übertrifft ihn der Untersuchungsrichter Dr. Unthan, den die Tugenden des – im Sinne Wulffens – modernen Juristen auszeichnen: Er ist ein Meister in der psychologischen Führung der Ermittlungen und Verhöre. Wenn Unthan über Charaktere und ihre Verwicklung in Rechtsfälle ‘erzählt’, haben seine Schilderungen den Zuschnitt einer „vollendeten Novelle“ (S. 302). Doch ist der Untersuchungsrichter kein Belletrist, sondern Autor kriminologischer Studien.
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In dem Roman „Der blaue Diamant“ wird die Figur des idealistischen Juristen und Kriminalpsychologen Dr. Dühring mit ironischen Brechungen dargestellt. Dühring, der seine psychologische „Weisheit gern von den Dichtern“ (S. 56) bezieht, wird wegen der Unvorsichtigkeit seiner kriminalpsychologischen Neugier und seiner erotischen Verstrickungen selbst in einen Kriminalfall verwickelt. Mit seiner Person ist die zeitgenössische Kontroverse zwischen ‘klassischer’ und ‘moderner’ Kriminologie verknüpft. Die schwierige Lage, in die Dühring, der ‘Moderne’, kommt, resultiert in der Konstruktion der Erzählung aus seinen Erfahrungen mit der nordamerikanischen Kriminalistik und dem daraus entstehenden ‘Amerikanismus’ (damit ergeben sich auch Bezüge zum spektakulären Prozeß des Rechtsanwaltes Hau). In den USA hat Dühring einen besonderen Hang zum Phantastischen entwickelt; darunter leidet dann auch seine an sich vernünftige Orientierung an ‘modernen Schulen’ der Kriminologie und damit auch seine Reputation als Kriminalpsychologe und Kriminalpädagoge. Schließlich zeigt jedoch die Wahl einer deutschen Braut, daß Dühring von seiner ‘amerikanischen Krankheit’ kuriert ist; als deutsch gesinnter Reformjurist soll er seinen Weg machen. Daß die Strafjustiz in ihrem ‘status quo’ reformbedürftig ist, wird auch im Roman „Die geschlossene Kette“ vorgeführt; der Titel verweist auf das – einen Schuldspruch begründende – Schließen der Beweiskette. Die Gerichte können – als Folge fehlender psychologischer Kompetenz ihrer Vertreter sowie der unzulänglichen Untersuchungstechniken und Beurteilungsverfahren – nicht mehr verbürgen, daß Gerechtigkeit durchgesetzt wird. Zur literarischen Illustration der These wird in diesem Roman erneut ein Jurist das Opfer einer (juristisch unhaltbaren) Verdächtigung und Bestrafung. Der angeschuldigte Richter Villanyi hat einen ehebrecherischen Mord ‘imaginiert’; die Mordtat geschieht jedoch unabhängig von Villanyis Mordphantasien. Seine (nach dem Gesetz geltende) Unschuld wird nicht durch die Justizbehörden, sondern durch Zufall entdeckt. Bringt man Wulffens Romane – mit Blick auf die zeitgenössische Justizkritik und die Reformbewegungen – auf einen Nenner, so hieße ihre Botschaft: Nur psychologisch geschulte Juristen können zuverlässig über Schuld und Unschuld entscheiden. Für ein gerechtes Urteil reicht die Kenntnis der Verfahrensbestimmungen und Gesetze nicht aus; Anwälte und Richter müssen sich – wie der Schriftsteller bei seinen Figuren – in die Charaktere der Mit- und Gegenspieler versetzen können. Nicht ‘Formaljuristen’ können dem Verbrechen wehren, Gerechtigkeit schaffen und die Justiz zu Ansehen führen, sondern nur solche Juristen, die ihre Wissenschaft in der offenen, innovationsfreudigen Praxis einer ‘Kunst’ betreiben.
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Anhang (A) Das Spektrum des ‘literarischen Diskurses über Kriminalität’ um 1900 Zum Bereich ‘Drama’ (als Stellvertreter aus einer längeren Liste): –
Gerhart Hauptmann: Der Biberpelz. Eine Diebskomödie. Berlin 1893.
Zum Bereich ‘Lyrik’ (als Stellvertreter aus einer längeren Liste): – M. Friedrich Eisenlohr, Livingstone Hahn u. Ludwig Rubiner: KriminalSonette. Leipzig 1913.
Zum Bereich ‘Erzählprosa’ (beispielsweise): Heftreihen, Kolportage-Romane und Serien aus Kolportage-Verlagen68 – Das Schwarze Buch. Verbrecher-Gallerie oder glaubwürdige Darstellung
verbrecherischer Handlungen berüchtigter Menschen. Raub-, Mord-, Diebesund Gaunergeschichten etc. Dresden 1867–71.
–
Berühmte Räuber der Welt. 1909 ff. [historische und fiktive Figuren, z.B. Karl Moor u. Rinaldo Rinaldini].
–
Schwarze Bibliothek. Galgenvögel oder blutige Thaten menschlicher Ungeheuer. Raub-, Mord-, Gauner- und Diebesgeschichten aus alter und neuer Zeit. Dresden 1871 f.
–
Karl May: Der verlorene Sohn oder Der Fürst des Elends. Roman aus der Criminal-Geschichte. Dresden 1883–85 [Kolportageroman bei Münchmeyer].
–
Guido v. Fels: Fürst der Geheimpolizisten Gerhard Rotenberg im Kampf mit der Verbrecherwelt. Kriminal-Roman der Neuzeit. Neusalza 1913 f.
–
Kriminal-Bibliothek. Eine Sammlung spannender Romane und Novellen, sowie interessanter Kriminalfälle aus alter und neuer Zeit. [in 3 Jahrgängen]. Dresden 1889–93.
–
Fritz Stagart’s Abenteuer. Kriminal-Novellen.1905–1907.
–
Wanda von Brannburg. Deutschlands Meister Detectivin. 1907 f.
Kriminalskizzen, Kriminalgeschichten und Kriminalnovellen in Zeitungsfeuilletons und in Zeitschriften Sammlungen von Kriminalgeschichten / Kriminalnovellen Selbständige Kriminalerzählungen und Kriminalromane Reihen für Kriminalromane, Kriminalgeschichten, Detektivgeschichten und Tribunalerzählungen69
68
Dazu Plaul: Trivialliteratur, S. 215 f.
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Gerichtsreportagen in Zeitungen und Zeitschriften sowie Sammlungen von Gerichtsreportagen –
Hugo Friedlaender: Interessante Kriminalprozesse von kulturhistorischer Bedeutung. Darstellung merkwürdiger Strafrechtsfälle aus Gegenwart und Jüngstvergangenheit. Nach eigenen Erlebnissen von H. F., GerichtsBerichterstatter. Eingeleitet von Justizrat Dr. Erich Sello, Berlin. Berlin 1910 [als 1. Band, mit Ankündigung weiterer 11 Bde.].
Pitavalgeschichten / Sammlungen von historischen und aktuellen Kriminalfällen wie –
R. Frank u.a. (Hg.): Der Pitaval der Gegenwart. Almanach interessanter Straffälle. Leipzig 1903 ff. [Herausgeber sind R. Frank, Professor in Tübingen, G. Roscher, Polizeidirektor in Hamburg, H. Schmidt, Reichsgerichtsrat in Leipzig].
–
Ubald Tartaruga: Der Wiener Pitaval. Eine Sammlung der interessantesten Kriminalprozesse aus Alt- und Neu-Wien. 2 Bde. [1. Aufl. 1913] 2. bedeutend vermehrte Aufl. Wien u. Leipzig 1924 [Der Autor war Ober-Polizeirat].
(B) Untersuchungen zum Recht und zum kriminologischen Wissen in der ‘schönen Literatur’ (Auswahl) August Pietscher: Jurist und Dichter. Versuch einer Studie über Ihering’s „Kampf um’s Recht“ und Shakespeare’s „Kaufmann von Venedig“. Ein Vortrag. Dessau 1881. Josef Kohler: Shakespeare vor dem Forum der Jurisprudenz. Würzburg 1883. Fritz Friedmann: Verbrechen und Krankheit im Roman und auf der Bühne. Berlin [1889/90]. Cesare Lombroso: Der Verbrechertypus in der Literatur; das ist Kap. 16 in C. L.: Neue Fortschritte in den Verbrecherstudien. [Ital. 1893]. Leipzig 1894, S. 409–441. Adolf Merkel: Über die Idee der Gerechtigkeit bei Schiller. In: A. M.: Gesammelte Abhandlungen aus dem Gebiet der allgem. Rechtslehre u. des Strafrechts. Bd. 1. Straßburg 1899, S. 148–161. Franz v. Liszt: Tolstoi als Kriminalist. [Vortrag]. Berlin 1903. Paul Näcke: Emile Zola. In memoriam. Seine Beziehung zur Kriminalanthropologie und Sociologie. In: Archiv für Kriminal-Anthropologie und Kriminalistik 11 (1903), S. 80–98. Josef Kohler: Verbrechertypen in Shakespeares Dramen. Berlin 1903. Ferdinand Tönnies u. Wilhelm Schlüter: Schiller und das Verbrecherproblem. In: Deutschland. Monatsschrift für die gesamte Kultur. Bd. 6 (1905), S. 164–190. Jacques Stern: Über den Wert der dichterischen Behandlung des Verbrechens für die Strafrechtswissenschaft. In: Zs. für die gesamte Strafrechtswissenschaft 26 (1906), S. 141–171. 69
Vgl. auch das Titelverzeichnis bei Hügel: Untersuchungsrichter, S. 305–327.
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August Goll: Verbrecher bei Shakespeare. Stuttgart 1908 [Übers. aus der dänischen Originalausgabe von 1907; mit einem Vorwort von F. v. Liszt]. Scipio Sighele: Littérature et criminalité. Paris 1908. Heinrich Ch. Caro: Heinrich von Kleist und das Recht. Zum 100jährigen Todestage Kleist’s (21. November 1911). Berlin 1911. Georg Müller: Das Recht in Goethes „Faust“. Juristische Streifzüge durch das Land der Dichtung. Berlin 1912; dazu eine Rezension von Kurt Tucholsky (in: Gesammelte Werke. Bd. 1. Reinbek 1960, S. 76 f.). Hermann Mannheim: Rechtsgefühl und Dichtung. In: Zs. für Rechtsphilosophie 3 (1921), S. 251–289.
(C) Schriften von Erich Wulffen 1. Kriminalistische und juristische Werke – – – – – – – – – – – – – – –
Handbuch für den exekutiven Polizei- und Kriminalbeamten, 2 Bde. Dresden 1905. Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich mit Erläuterungen. Dresden 1905. Reformbestrebungen auf dem Gebiete des Strafvollzugs. Dresden 1905. Formularbuch für Brandstiftungsuntersuchungen. Merseburg 1907. Polizeierörterungen von Brandstiftungen. Merseburg 1907. Manulescu und seine Memoiren. Berlin 1907. Psychologie des Verbrechers. 2 Bde. Berlin 1908. Der Sexualverbrecher. 1.–11. Aufl. Berlin 1910–1928 / Hamburg 1931. Gauner- und Verbrechertypen. Berlin 1910. Das Kind, sein Wesen und seine Entartung. Berlin 1913. Kriminalpädagogie. Leipzig 1915. Psychologie des Giftmordes. Wien 1917 (= Urania-Bücherei 6). Psychologie des Hochstaplers. Leipzig 1923. Das Weib als Sexualverbrecherin, 1.–3. Aufl. Berlin 1923 / Hamburg 1931. Kriminalpsychologie. Psychologie des Täters. Berlin 1926 / Hamburg 1931.
2. Zahlreiche kriminalistische Aufsätze und Vorträge 3. Bücher und Aufsätze im literarisch-kriminalistischen Grenzgebiet – – – – –
Ibsens Nora vor dem Strafrichter und Psychiater. Halle 1907. Kriminalpsychologie und Psychopathologie in Schillers „Räuber“. Halle 1907. Gerhart Hauptmanns Dramen vor dem Forum der Kriminalpsychologie und Psychiatrie. Breslau 1908. (2. Aufl.: G. H.’s Dramen. Kriminalpsychologische und pathologische Studien. Berlin 1911). Das Sexualproblem Griseldis. In: Sexualprobleme. Frankfurt 1909. Das Kriminelle im deutschen Volksmärchen. In: Archiv für Kriminalanthropologie und Kriminalistik 38 (1910), S. 340–370.
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Shakespeares große Verbrecher Richard III. – Macbeth – Othello. Berlin 1911. Shakespeares Hamlet – ein Sexualproblem. Berlin 1913. Kunst und Verbrechen. In: Karl-May-Jahrbuch 8 (1925), S. 267–318. Sexualspiegel von Kunst und Verbrechen. Dresden 1928. Irrwege des Eros. Dresden 1929.
4. Gedichte, Dramen, Romane (KR = Kriminalroman) – – – – – – – – – – – – – – – – –
Erstlinge, poetische Blätter. Dresden 1882 [Pseudonym: W. Erich]. Tasso in Darmstadt. Lustspiel. Chemnitz 1897. Poeta laureatus. Drama. Dresden 1899. Entehrende Arbeit. Drama. Dresden 1900 [Pseudonym: Erich Larsen]. Die Varusschlacht. Lustspiel. Dresden 1901. Frau Justitias Walpurgisnacht. Roman. Berlin 1913. Die Traumtänzerin. Roman. [mehrere Ausgaben] Berlin 1915 / Leipzig 1920. Der Mann mit den sieben Masken. Roman. [KR, mehrere Ausgaben] Dresden 1917 / Berlin 1928. Die Kraft des Michael Argobast. Roman. [KR, mehrere Ausgaben] Dresden 1917 u. 1924. Deutsche Renaissance. Roman. Dresden 1917. Vorgelesen, genehmigt! Roman. [KR] Berlin 1917. Das Haus ohne Fenster. Roman. Berlin 1919. Die geschlossene Kette. Roman. [KR, mehrere Ausgaben] Berlin 1919 u. 1923. Der blaue Diamant. Roman. [KR] Leipzig 1919. Die Frauen von Loburg. Roman. Berlin 1921. Sieben Jahrhunderte. Festspiel. Dresden 1926. Meißen. Festspiel. Meißen 1929.
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„Der Irre“ von Georg Heym. Verbrechen und Wahnsinn in der Literatur des Expressionismus In einer programmatischen Bestimmung der gesellschaftlichen Rolle des Dichters schreibt Ludwig Rubiner 1912 in „Die Aktion“: Wer sind Wir? Wer sind die Kameraden? Prostituierte, Dichter, Zuhälter, Sammler von verlorenen Gegenständen, Gelegenheitsdiebe, Nichtstuer, Liebespaare inmitten der Umarmung, religiös Irrsinnige, Säufer, Kettenraucher, Arbeitslose, Vielfrasse, Pennbrüder, Einbrecher, Erpresser, Kritiker, Schlafsüchtige, Gesindel. Und für Momente alle Frauen der Welt. Wir sind Auswurf, der Abhub, die Verachtung. Wir sind die Arbeitslosen, die Arbeitsunfähigen, die Arbeitsunwilligen.1
Zwölf Jahre später – gleichsam im Abschwung der Bewegung des literarischen Expressionismus – wird im Verlag „Die Schmiede“ mit der Herausgabe einer neuen Reihe unter dem Titel „Die Außenseiter der Gesellschaft“ begonnen.2 Als Autoren werden – neben anderen – Schriftsteller wie Alfred Döblin, Iwan Goll und Karl Otten gewonnen,3 die der Literatur des Expressionismus Profil gegeben hatten. Thema der Reihe sind „die Verbrechen der Gegenwart“: problematische und spektakuläre Rechtsfälle und Prozesse der Zeit um 1920. Die Erzählungen stehen in der Tradition der Fall- und Prozeßschilderungen,4 die von den „Causes célèbres“ (1734–1743), der Sammlung „Unerhörter Kriminalfälle“ des François Gayot de Pitaval begründet wurde. Abgesehen von den erheblichen Änderungen, die in der Reihe „Außenseiter der Gesellschaft“ in Anlage und Erzählweise der Texte gegenüber den Mustern der ‘Pitavalgeschichte’ vollzogen wurden, hat sich auch das Verhältnis der Autoren zu den ‘Straffälligen’, den Tätern und Täterinnen, gewandelt. Hatten doch die Schriftsteller in der Phase zwischen 1885 und 1925 wie nie zuvor in der deutschen Literatur durch ihre Themen, ihre Darstellungsverfahren und ihre Wirklichkeitssicht Konventionen gebrochen, Grenzen überschritten, Außenseiterpositionen gesucht – oder sie waren abgedrängt worden in die Rolle der Störenfriede und Staatsfeinde, kriminalisiert in Konflikten mit der Zensurpraxis des Kaiser1 2 3 4
Vgl. den Abdruck in Pinkerneil: Literatur und Gesellschaft. S. 77–87, hier S. 78; Rubiners Aufsatz erschien in: Die Aktion 2 (1912), Sp. 645–652 u. 709–715. Die Reihe wurde nach dem Erscheinen von Band 14 bereits 1925 wieder eingestellt. Döblin: Die beiden Freundinnen und ihr Giftmord (Bd. 1); Goll: Die rote Jungfrau Germaine Berton (Bd. 5); Otten: Der Fall Strauß (Bd. 7). Dazu die Beiträge von Rückert und Linder in Schönert: Erzählte Kriminalität.
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reichs. Aus diesen gesellschaftlichen Positionen führen Wege in die ‘Kameraderie’ und ‘Schicksalsgemeinschaft der Ausgegrenzten’, die L. Rubiner pathetisch beschwört.5 Wenn also in der Lyrik, in den Dramen und in der Erzählprosa des Expressionismus vielfach ‘Wahnsinnige’ und ‘Verbrecher’ zu Protagonisten werden,6 dann ist es den Autoren weithin nicht so sehr um die Anwendung psychiatrischen Wissens oder strafrechtlicher Beurteilungen zu tun, sondern um die Beschreibung von Konstellationen menschlicher Existenz unter den deformierenden Bedingungen gesellschaftlicher Strukturen, verzerrter Familien- und Geschlechterbeziehungen oder unbewältigter Orientierungskrisen in den dominierenden Lebensformen ‘der Moderne’ (wie Großstadt, ‘Masse Mensch’, Veränderungen der Lebenswelt durch die Technik der Hochindustrialisierung, die ‘entfesselte’ Geldwirtschaft). Georg Heyms Erzählung „Der Irre“ bündelt gleichsam diese Erfahrungen und Themen von Wahnsinn,7 Verbrechen und Vereinzelung des Menschen in der Geschichte eines mörderischen Amoklaufs durch Berlin, die Metropole der Moderne. Die ‘unerhörten Begebenheiten’ dieser Mordgeschichte hatte der Autor in sein „Novellenbuch“ eingereiht, das mit dem Titel „Der Dieb“ Kriminalität als Paradigma für die Erzählungen von Kranken, von Opfern und Tätern, von ‘Außenseitern der Gesellschaft’ einsetzte. Die Texte der Sammlung entstanden im Verlauf des Jahres 1911; Heym reichte sie im Dezember des Jahres dem Rowohlt-Verlag ein. Ernst Rowohlt äußerte sich brieflich dem Autor gegenüber sehr skeptisch zu den Erfolgsaussichten eines solchen Bandes bei Kritikern und Lesern und brachte erst 1913, nach Heyms Tod in der Havel, das „Novellenbuch“ heraus.8 5
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Über solche Deklamationen hinaus ergehen sich jedoch gerade unter dem Aspekt der psychiatrisch markierten Abweichung von der Normalität in der Generation der Expressionisten zahlreiche Fälle der Kongruenz von Thema und Biographie: Er sei „nahe daran, wahnsinnig zu werden“, schreibt Georg Heym in sein Tagebuch vom 20.12.1910. Bei Jakob van Hoddis wurde 1912 eine beginnende Schizophrenie diagnostiziert; Georg Trakl wurde psychiatrisch beobachtet im Garnisonshospital Krakau, wo er am 3.11.1914 nach einer Überdosis Kokain starb – vgl. dazu das Nachwort in Anz: Phantasien über den Wahnsinn, S. 148–173, hier S. 160. So auch in Martini: Prosa des Expressionismus. Wichtig für diesen thematischen Zusammenhang im Kontext der expressionistischen Literatur ist die Sammlung Anz: Phantasien über den Wahnsinn (darin auch Heyms „Irren“-Gedichte S. 21–30). – Vgl. zur Erzählprosa des Expressionismus zudem Krull: Expressionismus, S. 33–44 (dort weitere Hinweise auf Forschungsliteratur). Vgl. zu Rowohlts Einschätzung den Brief an Heym vom 25.10.1911 (Dichtungen und Schriften. Bd. 3. Hg. von Karl L. Schneider. Hamburg u. München 1960. S. 271 f.), dazu Schünemann: Heym, S. 119: „die Tollhäuslerei, die Grausamkeit und Brutalität“ als dominierende Phänomene des ‘Novellenbuchs’.
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Obwohl die Titelerzählung „Der Dieb“ auf die Entwendung der Mona Lisa Gioconda aus dem Louvre (am 21. August 1911) bezogen ist, gestaltet Heym, der studierte Jurist, die ‘Novelle’ nicht als Fallgeschichte, als Erzählung von Tat, Entdeckung und Bestrafung unter den Perspektiven juristischen Wissens und Bewertens – zumal der Kriminalfall bei der Niederschrift der Erzählung noch ungelöst war. Heym entwirft die Geschichte als Tat eines Besessenen, die in der Zerstörung des Bildes und dem ‘Feuertod’ des Täters kulminiert. Auch die namenlose Titelfigur in „Der Irre“ kommt um, ehe der Täter in polizeilichen Gewahrsam und vor den Richter gebracht werden kann. Nicht die ‘Gesetzlichkeit’ der Zuordnungen von Täter, Tat und Strafe ist wichtig, sondern die Kontingenz dieser Relationen. Das Interesse des Erzählers richtet sich darauf, wie ‘der Irre’ sein Tun (vor, in und nach der Tat) erlebt, nicht aber darauf, wie es im Sinne gesellschaftlicher Normen zu beurteilen wäre. In den Gedichten Georg Heyms, die im Titel das Thema von Wahnsinn und Schizophrenie signalisieren, werden fast durchweg Situationen der Gefangenschaft entwickelt („Die Irren hängen an den Gitterstäben, / Wie große Spinnen, die an Mauern kleben“).9 Auch wenn sich – zumeist im Prozeß visionärer Verwandlungen oder idyllischer Verklärungen – diese Konstellationen auf Zeit in Bilder der Bewegung (der rasenden Feiern und Tänze) oder der bergenden Gemeinschaft im Winkel verwandeln, bleibt die Erfahrung des eingegrenzten und bewachten Raums der Anstalt gegenwärtig. Dabei verweist die Mehrzahl der Gedichtüberschriften (wie z.B. „Die Irren“) auf die dominierende Perspektive einer Gruppe, in der die psychopathologischen Umstände des Einzelfalls gegenüber der gemeinschaftlichen Erfahrung der Ausgrenzung zurücktreten. Anders ist – auf den ersten Blick – Heyms Erzählung „Der Irre“ konzipiert: als Geschichte eines besonderen Falles, als unerhörte Begebenheit. Sie beginnt damit, daß die Ausgrenzung des Geisteskranken aufgehoben ist. Er wird als ‘geheilt’ in die Welt der Selbstverantwortlichen entlassen: „Der Wärter gab ihm seine Sachen, der Kassierer händigte ihm sein Geld aus, der Türsteher schloß vor ihm die große eiserne Tür auf“ (S. 140).10 Parataktisch sind die Verwaltungsschritte gereiht, die den Kranken zum Gesunden machen: „er war draußen“. Und abgesetzt im Schriftbild: „So, und nun sollte die Welt etwas erleben“ (ebd.). In der Schilderung zum Weg aus der Vorstadt (den bevorzugten Standplätzen von ‘Irrenanstalten’) wird deutlich, daß – formuliert wird aus 9 10
Anz: Phantasien, S. 21. Ich zitiere den Abdruck in Martini: Prosa des Expressionismus (S. 140–155) im fortlaufenden Text mit der Seitenzahl in Klammern. In der Werkausgabe findet sich „Der Irre“ in Bd. 2, S. 19–34 (Dichtungen und Schriften. Hg. von Karl L. Schneider. Hamburg u. München 1962).
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der Erlebnisperspektive des Entlassenen – er, der wegen Gewalt gegen seine Frau in die Anstalt gekommen war (S. 141), nun mit Gewalt vergelten will, was er durch Aufhebung seiner Bewegungsfreiheit und im ‘Anstaltsleben’ an Gewalt erfahren hatte. Ob „Der Irre“ – zumindest teilweise – auf eine authentische Fallgeschichte zurückzuführen ist, hat die Heym-Forschung bislang noch nicht klären können;11 falls Heym kriminalgeschichtliches Material verarbeitet hat, kann es sich nicht um einen geschlossenen Fall handeln (der so in der Kriminalgeschichte um 1910 nicht bekannt ist), sondern nur um partielle Übernahmen. Die Entstehung der ‘Novelle’ fällt in den Zeitraum des Vorbereitungsdienstes, den Heym nach dem Ersten (juristischen) Staatsexamen mit Unterbrechungen 1911 an den Amtsgerichten Berlin-Lichterfelde und Wusterhausen a.d. Dosse ableistete. Gegenüber dem Alltag solcher juristischen Erfahrungen gehören die ‘Kapitalverbrechen’ der Erzählung jedoch in den Bereich des Außergewöhnlichen. Wie würden sich Vorgeschichte und Hergang der Taten ‘des Irren’ im Sinne einer Fallgeschichte rekonstruieren lassen? Die Gewalttätigkeit des ‘Irren’ gegen seine Ehefrau läßt sich auf die Erfahrung zurückführen, daß seine Ehefrau ein Verhältnis mit dem ‘Schlafburschen’ der Familie eingegangen war („Schlafburschenhure“, S. 151). Vorzugsweise in den Großstädten nahmen Angehörige der Unterschichten in ihre Mietwohnungen Untermieter auf, denen kein eigenes Zimmer, sondern nur eine Schlafstelle zugewiesen wurde. Häufig suchte der Schlafbursche bei Schichtarbeit die Wohnung dann auf, wenn der Wohnungsmieter zur Arbeit gegangen war. Sexuelle Beziehungen zu den Ehefrauen oder Töchtern des ‘Schlafstellengebers’ waren häufig. Die Ehefrau des ‘Irren’ – so wäre zu rekonstruieren – versuchte weiteren Gewaltaktionen ihres Ehemannes durch Anzeige bei der Polizei zu entgehen (S. 141). Das Verhalten des Arretierten bei den polizeilichen Verhören führte zur Einweisung in die Irrenanstalt, wo ‘der Irre’ etwa drei bis vier Jahre (S. 141) verbrachte. Der Tag seiner Entlassung bringt einen Ausbruch von Aggressivität, der die früheren Gewalttätigkeiten gegenüber der Ehefrau weit überschreitet und sich – so die Konstruktion der Erzählung – auf die Erfahrungen von Gewalt in der Irrenanstalt zurückführen läßt. Der Entlassene tötet auf seinem Weg zur Wohnung zwei Kinder und eine Frau; er dringt gewaltsam in die versperrte und verlassene Familienwohnung (Wohnstube, Küche und Kammer) ein (S. 150 f.); sein Toben mobilisiert die Bewohner des Mietshauses, ‘der Irre’ flieht. Er verliert sich in den „Menschenmassen“ der Innenstadt 11
Für diese Auskunft danke ich Gunter Martens (Universität Hamburg).
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(S. 152), betritt während der Hauptgeschäftszeit am Nachmittag ein Großkaufhaus, zieht sich auf eine Empore in den oberen Stockwerken des Lichthofes zurück, erregt die Aufmerksamkeit der Kunden und Angestellten des Warenhauses, springt von der Balustrade herunter auf einen Tisch mit importierten Luxuswaren, tötet ein Ladenmädchen und löst eine Panik aus, bei der „nur ein paar kleine Kinder“ von der flüchtenden Menge „totgetreten oder erdrückt“ werden (S. 154). ‘Ein Mann mit einem Gewehr’ schießt „den Wahnsinnigen in den Hinterkopf“ (S. 155). Die Schilderung dieser Vorgänge ist nicht darauf angelegt, beim Leser strafrechtlich relevante Wahrnehmungen und Beurteilungen (Vorsätzlichkeit oder Zufall, Totschlag, Mord usf.) auszulösen; der ‘Mann mit einem Gewehr’ wird nicht als Vertreter der ‘institutionellen Rechtssicherung’ gekennzeichnet, sondern als Träger von Gewalt, die sich gegen die Gewalttätigkeit ‘des Irren’ richtet. Die ‘Hinrichtung’ des Gewalttäters erscheint nicht als eine Bestrafungsaktion, mit der Ordnung und Recht wiederhergestellt sind, sondern – erzählt aus der Perspektive des Sterbenden – als Erlösung: „Eine ewige Musik stieg von unten herauf und sein sterbendes Herz tat sich auf, zitternd in einer unermeßlichen Seligkeit“ (S. 155). Täter und Opfer tragen keine Namen. Der Entlassene ist „der Irre“, „der Irrsinnige“ (S. 151), „der Wahnsinnige“ (S. 155); wir kennen weder sein Alter, noch seinen Beruf. Er tötet „das Mädchen“, „den Jungen“, „die Frau“, „das Ladenmädchen“. Der Zeitpunkt des Geschehens – es ist ein schwüler Hochsommertag (S. 153) – wird nicht festgelegt; nur der Schauplatz ‘Berlin’ ist fixiert („Humboldthafen“– S. 154). Für die möglichen topographischen Realitätsbezüge der Erzählung hat Waltraud Schwarz 1979 eine detaillierte Rekonstruktion zum Weg ‘des Irren’ durch die Stadtlandschaft Berlins vorgelegt:12 von der Irrenanstalt Wittenau (etwa 19 km vom Potsdamer Platz, dem damaligen Zentrum der Stadt enfernt) durch die Felder- und Gartenlandschaft der Vorstadt zum Berliner Arbeiterviertel Wedding – zur Wohnung des Irren. Von dort flüchtet ‘der Irre’ in den nahen Schiller-Park und näherte sich dann dem Stadtzentrum, wo er schließlich durch eine der ‘modernen’ Drehtüren in das Prachtgebäude des Kaufhauses Wertheim gelangt.13 Es mag gut sein, daß Berliner Leser eine solche Wegstrecke im Handlungsablauf erkennen konnten. 12 13
Dazu ergänzend und korrigierend Dammann in: Georg Heym 1887–1912 (Ausstellungskatalog), S. 129–132. Ebd. S. 75–77. Die Vorstellung vom ‘Glaspalast’ des Kaufhauses Wertheim als Kirche scheint im ‘kulturellen Diskurs’ in Berlin um die Jahrhundertwende geläufig gewesen zu sein, vgl. etwa den Artikel „Wertheim“ in Hardens Zeitschrift „Die Zukunft“ (Bd. 22) vom 1.1.1898, S. 1–16.
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Doch wird dadurch nicht der bestimmende Gestus des Erzählens aufgehoben, durch den Distanz zu den exakten Angaben einer ‘Fallgeschichte’ markiert ist. Die Vorgeschichte des ‘Täters’ wird – abgesehen von den Hinweisen auf die Eheprobleme ‘des Irren’ – nur mit Rückblicken des Entlassenen auf seine Erfahrungen in der Anstalt erfaßt (vgl. S. 141: über den Direktor, die Ärzte und Wärter; S. 142: zum exotischen Wandbild in der Wohnung des Direktors; S. 143: über die Wärter und den Pfarrer; S. 154: zum Anstaltsarzt). Die juristisch relevante – und für Kriminalerzählungen dieses Zeitraums dominante – Frage nach den Motiven für die Straftaten ‘des Irren’ ist nicht aufgeworfen. Nur so viel wird gesagt: Der Entlassene hatte sich vorgenommen, mit seiner Frau „abzurechnen“ (S. 142 u. 146 f.), doch steht die Gewalt gegen seine Opfer in keinem ursächlichen Zusammenhang mit der geplanten „Rache“ (S. 146) an seiner Frau. Bezüge zu Theorien über Verbrechensentstehung, wie sie um 1900 vielfach diskutiert wurden, sind nicht angelegt:14 weder zu kriminalanthropologischen (z.B. Lombroso) noch zu kriminalpsychologischen (z.B. Wulffen) oder kriminalsoziologischen (z.B. Tönnies) Positionen.15 Auch aktiviert der Erzähler weder psychiatrisches Wissen (oder signalisiert, daß es zur Ergänzung der Erzählung vom Leser herangezogen werden müßte),16 noch werden ‘Leerstellen’ bezeichnet, die mit ‘neuem Wissen’ gefüllt werden müßten. Kein Zweifel wird freilich daran gelassen, daß die Perspektive der Selbstwahrnehmung ‘des Irren’ als eines ‘Gesunden’ „mitten unter Verrückten“ (S. 141) gerade Zeichen seiner Krankheit ist. Erzählerkommentare – wie „mit ein paar großen Sätzen sprang der lrrsinnige wie ein riesiger Orang-Utan mitten über das Volk hinweg“ (S. 151) – fixieren das Urteil, das dem Leser mit der Überschrift und der Wiedergabe der Gedanken und Aktionen des Protagonisten zu Beginn der Erzählung nahegelegt wird. Wie jedoch letztlich die strafrechtliche Einordnung der Aktionen des Irren ohne konstitutiven Wert für die Erzählung ist, so besteht auch keine Notwendigkeit, aus den Handlungen und Vorstellungen des Irren einen abgrenzbaren ‘klinischen Fall’ zu konstruieren. So bleibt es auch offen, ob seine Erkrankung erst als Folge der Erfahrungen in der Anstalt („Das war ja rein zum Verrücktwerden“ – S. 141) anzusehen ist. ‘Irresein’ erscheint in Heyms Erzählung als Signum der beschädigten Psyche, Wahrnehmungskraft, Intelligenz und Moral des Menschen in seiner gesell14 15 16
Vgl. zur Geschichte der Kriminologie um 1900 Strasser: Verbrechermenschen. Vgl. die Beiträge von Frommel und Schönert in Schönert: Erzählte Kriminalität. Unter diesem Aspekt wäre auch Irles Versuch einer psychiatrischen Lektüre des Textes zurückzuweisen, vgl. die Kritik bei Korte: Heym. S. 76.
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schaftlichen Existenz, der ‘pathogenen’ Verhältnisse von Familie, Großstadt und Gesellschaft um 1910.17 Nicht auf der Ebene zitierter Wissensbestände oder empirisch gesättigter Beschreibung von Wirklichkeit wird die Bedeutung des Erzählten organisiert, sondern – wie vielfach in expressionistischer Prosa – auf der Ebene der Metaphern, Vergleiche, Bilder und abstrahierten, aber sinnfälligen Modelle. „Im Kontext des für den Expressionismus typischen gesellschaftskritischen Bildinventars lassen sich die Anstalt, die Wärter oder Ärzte und die Irren vielfach als Elemente eines literarischen Modells der zeitgenössischen Wirklichkeit verstehen: Die Anstalt steht für die bürgerliche Welt (die der Expressionismus immer wieder als Gefängnis verbildlicht), die Wärter und Ärzte sind ihre Autoritäts- und Aufsichtspersonen, [...] und der Irre verkörpert die in diesem Zwangssystem unterdrückte Individualität und Vitalität des unangepaßten Ichs.“18 „Entfremdung und Angst“19 sind die Erfahrungen des ‘gefangenen Ichs’, Ausbruchsversuche und Erlösungshoffnungen die verändernden Bewegungen, in denen ein solches Modell gesellschaftlicher Existenz erzählerisch umgesetzt wird. Die Konstruktion, dabei als Träger von Gefühlen, Gedanken und Handlungen einen ‘Irren’ einzusetzen, ermöglicht es, unter den Perspektiven von Beschädigung und Gegengewalt, Protest und Hoffnung die ‘Grenzen der Normalität’ zu überschreiten,20 die fiktiv angelegte Situation in Extremsituationen zuzuspitzen. Als Protagonist des Geschehens übernimmt ‘der Irre’ zum einen also Funktionen für die ‘expressive’ Steigerung einer allgemeinen Zeiterfahrung, zum anderen wird er – als ‘Opfer’ und ‘Täter’ – auch zum Sinnbild einer absurden Konstellation des ‘Tausches von Gewalttätigkeiten’ als einer elementaren gesellschaftlichen Struktur. Mit dieser Hypothese zur ‘poetischen Logik’ eines expressionistischen Textes soll nun der Verlauf der Erzählung „Der Irre“ skizziert werden. Die dominierende Erzählperspektive wird durch die Wahrnehmungen und Gedanken ‘des Irren’ bestimmt; in das ‘personale Erzählen’ sind vielfach Formen der ‘Erlebten Rede’ („So, und nun sollte die Welt etwas erleben“ – S. 140) einbezogen. Als Gegenposition ist die Sicht eines unpersönlichen Erzählers bestimmt, der ‘auktorial’ Konstellationen berichtet, die sich der Wahrnehmung des Irren entziehen (vgl. etwa die erzählende Einführung des „alten Mannes“ – S. 147), 17 18 19 20
Vgl. Anz: Literatur der Existenz. Anz: Nachwort zu „Phantasien über den Wahnsinn“, S. 152 f. So die Leitbegriffe in Anz: Entfremdung und Angst. Vgl. Mautz: Mythologie und Gesellschaft, S. 106: Das Verhalten des Irren sei „ein einziger zwangswahnhafter Protest gegen eine Zwangswelt“.
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oder das Verhalten des Protagonisten kommentiert („Er sah aus wie ein furchtbarer Teufel“ – S. 148). Beide Erzählperspektiven werden zudem mit der Position des beschreibenden, gleichsam neutralen Berichts verbunden, in dem Gefühle und Bewertungen zurückgenommen sind. Die Erzählung wechselt in unterschiedlichen Ausdehnungen der jeweiligen Position ständig zwischen den verschiedenen Erzählhaltungen: „Er ging die Straßenbahnschienen entlang, zwischen den niedern Häusern der Vorstadt durch. Er kam an einem Feld vorbei und warf sich an seinem Rande in die dicken Mohnblumen und den Schierling“ (neutraler Bericht). „Er verkroch sich ganz darein, wie in einen dicken grünen Teppich“ (Verschiebung – freilich nicht eindeutig – zugunsten der Erlebnishaltung des Irren: „dicker grüner Teppich“). – „Nur sein Gesicht schien daraus hervor wie ein weißer aufgehender Mond“ (Beobachtung des auktorialen Erzählers). – „So, nun saß er erst einmal“ (eindeutiger Wechsel in die Erlebnishaltung des Protagonisten – alle Zitate S. 140). Eine zusätzliche (persönlichkeitsspaltende) Variante zur personalen Perspektive „des Irren“ ergibt sich in seiner Selbstwahrnehmung als „Tier“ in der Verfolgung der Frau: „Da sprang das Tier auf. Wie ein Wilder war es hinter ihr her. Seine lange Mähne flog, seine Krallen schlugen in die Luft, und aus seinem Rachen hing seine Zunge heraus“ (S. 146). Die mehrfache Schichtung in der narrativen Organisation des Textes versetzt den Leser in die Spannung zwischen Anteilnahme an den Angsterfahrungen, aggressiven Neigungen und Wunschprojektionen ‘des Irren’ – der dann nicht mehr als ‘Außenseiter der Gesellschaft’, sondern als ihr ‘Repräsentant’ (in der Opfer-Position) erscheint – und der Distanz zu den pathologischen Gewaltakten und Halluzinationen des ‘Irren’ in der Position des ‘Täters’. Wo das ‘Aufbegehren des Opfers’ aufhört und die ‘Aggressionen des Täters’ beginnen, wo Sympathie und Zurückweisung beim Leser ausgelöst werden sollen, läßt sich in der Anlage des Textes nicht genau markieren. Die Konstellation wird schon zu Beginn der Erzählung deutlich: Auf die Zwänge und die Aggressionserfahrungen in der Irrenanstalt, die ‘der Irre’ bei seiner Entlassung rekapituliert und gleichsam als Aggressionspotential mit auf den Weg in die vermeintliche Normalität nimmt, antworten seine Vernichtungsphantasien und Gewalttaten. Dabei ist unwichtig, ob der Leser der Erinnerung ‘des Irren’ trauen soll, wenn er rekapituliert, wie Wärter ihre Patienten mit heißen Bädern vom Leben zum Tod beförderten und einmal den Leichnam eines derart Malträtierten zum ‘Verwursten’ in die Fleischerei der Anstalt gebracht hatten, und ob es überhaupt in Berliner Irrenanstalten üblich war, daß Patienten in einer Fleischerei arbeiteten. Wichtig ist dagegen, daß in der spezifischen Wahrnehmungsweise ‘des Irren’ diese extremen Erfahrungen der ‘alltäglichen Gewalt’ der Anstalt mit gleichermaßen extremen Reaktionen beantwortet werden. Im Vorstel-
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lungsbild der ‘vertierten’ Menschen – „buckliges Schwein“, „verfluchtes Schwein“, „Sauhund“ (S. 141) – sind die Erfahrungen der Demütigung und des Zwanges ebenso verarbeitet wie in der Produktion von Gewaltphantasien („das Gehirn zertreten“, „die Gurgel abreißen“ – S. 141), mit denen die nachfolgenden Gewalttaten des Irren vorbereitet werden (den Kindern werden die Köpfe zerschlagen, der Frau und dem Ladenmädchen geht ‘der Irre’ an die Gurgel). In Verkennung der eigentlichen Bedingungen für die Gewalterfahrungen in der Anstalt richtet sich die Aggression des Entlassenen gegen seine Frau, die den Anstoß zur Einweisung in die Anstalt gegeben hat. Dieser Vorgang der ‘wahnsinnigen’ Übertragung von Aggressionen strukturiert den Erzählverlauf. Erfolgreich umsetzen lassen sich die Gewaltphantasien des ehemals wehr- und hilflosen Patienten nur gegen noch Schwächere: gegen die körperlich unterlegene Ehefrau oder – beim Gedanken an die „Abrechnung“ mit ihr – gegen Getreidehalme auf dem Feld, deren Ähren abgerissen oder zusammengetreten werden, so daß sie „unter seinem Fuß knackten und barsten“ (S. 142). Die anschauliche, lautmalend verstärkte Beschreibung solcher Lust an der Ausübung von Gewalt bildet den Ausgangspunkt einer Bildreihe, die – neben den Bildbezügen zu unreinen Tieren (wie Schwein und Ratte), den Raubtieren und Großaffen sowie zu Fisch und Vogel – die Erzählung auf einer Ebene jenseits der Motivierung durch psychische und soziale Umstände strukturiert. Eine solche Verknüpfung verbindet das Erlebnis im Kornfeld über die Erinnerung an ein Bild von Mekka-Pilgern, die vor dem Kaaba-Heiligtum in religiöser Verehrung auf dem Boden liegen. ‘Der Irre’ hatte dieses Bild in der Wohnung des Anstaltsdirektors gesehen. Der sinnbildliche Raum der Irrenanstalt wird so zum Rahmen der nächsten Übertragung der Gewaltphantasien auf das „Knacken“ der Schädel der Pilger und den besonderen Ton, den dabei die zerberstenden Kinderschädel geben (S. 142). Das halluzinatorische Einüben in das Zerschlagen von Schädeln („daß das Gehirn ordentlich spritzte“ – S. 143) bereitet den ersten Totschlag vor; ‘geordnet’ werden solche Phantasien durch Erinnerungen an die Rolle von Gewalt im Militärdienst (S. 143 f.) mit seinen Ritualen des Marschierens, der Soldatenandacht („Ein feste Burg ist unser Gott [...]“ – S. 144) und der militärischen Krachmusik (S. 145). Diese Rückerinnerung an die ‘erhebende’ Gemeinschaft des – Gewalt verklärenden – Militärdienstes steht der Einsamkeits- und Entfremdungserfahrung des Entlassenen gegenüber, die – in der Logik der Erzählung – letztlich den Anstoß gibt, das Gewaltbedürfnis auf die Tötung der beiden Kinder zu übertragen. Die Angst, das Weglaufen und Weinen der Kinder fordern den ‘gemeinschaftsbedürftigen’ Entlassenen heraus. Im Marschrhythmus „eins, zwei, drei“ schlägt er „die Köpfe der beiden Kinder gegeneinander“ (S. 144). Das hervor-
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tretende Blut „berauscht ihn“ (ebd.); die Ausübung der Gewalt führt zu Allmachtsphantasien des ehemaligen Opfers; der Irre fühlt sich als ‘Übermensch’, als „Gott“ (vgl. zu diesem ‘dionysischen’ Zustand auch das Bad im Teich nach dem Mord an der Frau und den satyrhaften Tanz in der Sonne – S. 148). Die Bewegung des Ausbruchs aus den Zwängen der Anstalt, der Genuß der ‘freien Natur’ im Ausruhen im Feld (S. 140) und im Schlaf in der Wiese (S. 144), das Durchbrechen der religiösen und gesellschaftlichen Gebote im Töten führen als ‘Grenzüberschreitungen’ in den Zustand des ‘Außersichseins’, der in den Bildern vom Tanz und vom Vogelflug (mit Konnotationen des Sexualaktes) gestaltet wird (S. 145). Bezeichnend für die Konstruktion der Erzählung ist, daß diese rauschhafte Ekstase sogleich wieder umschlägt in das ‘Beisichsein’, in die Erfahrung der eigenen Schwäche und der Not der anderen. Der Täter weint über seine Opfer (S. 145) und versucht – in Anknüpfung an die gerade erlebte Allmachtsvorstellung – den Leichen der Kinder das Leben zurückzugeben.21 Der ergebnislose Versuch treibt ihn weiter – und zurück läßt er ‘das Aas’: Über die Leichen der Kinder machen sich Fliegen, Mücken und anderes Ungeziefer her, die sich „in einem dicken schwarzen Schwarm auf die blutigen Löcher der Schädel stürzten“ (S. 145). Der Bildbereich des Aases und die beschriebene Aggressivität des Ungeziefers, das sich vom Blut nährt, bereitet auf dem Weg der Übertragung die nächste Gewalttat vor, die vom Irren nach der wahnhaften Verwandlung in eine Hyäne oder einen Schakal vollzogen wird (S. 146). An dieser Station der Erzählung ergeben sich zum ersten Mal konkrete Bezugspunkte auf ein – in der popularwissenschaftlichen Darstellung und ‘schönen Literatur’ um 1900 besonders wirksames – kriminalanthropologisches Theorem, nämlich die Lehre von dem kriminellen Potential, das in jedem Menschen angelegt sei, von dem ‘Tier im Menschen’ (vgl. E. Zolas Roman „La Bête humaine“, 1890). In den Fallgeschichten, die der Berliner Schriftsteller Paul Lindau 1909 unter dem Titel „Ausflüge ins Kriminalistische“ veröffentlichte,22 ist etwa ein Viertel des Buches den ‘Mordwahnsinnigen’ gewidmet, und Lindau verweist für die Zuverlässigkeit dieser Kategorie – für den Zusammenhang von Tötungstrieb und fixer Idee – auf seine Erfahrungen mit Insassen der Irrenanstalt Wittenau-Dalldorf, die Waltraut Schwarz als Ausgangspunkt für den Weg des Protagonisten in Heyms Erzählung einsetzt. Doch im Gegensatz zu Lindaus Fallgeschichten ist es hei Heym nicht wichtig, 21 22
Vgl. den Verweis auf Büchners „Lenz“ (Lenzens Versuch, das gestorbene Mädchen ‘wiederzuerwecken’) bei Blunden: „Der Irre“, S. 113. Vgl. den Beitrag zum „Verbrechermenschen“ in Schönert: Erzählte Kriminalität – im vorliegenden Band S. 155–194, hier 172 ff.
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die psychisch-sozialen Bedingungen für das Entstehen einer solchen ‘fixen Idee’ einzukreisen; ‘der Irre’ sieht plötzlich wieder „das Tier [...], das in ihm saß“ (S. 146): die Aggressionswut, „diese dunkle Tollheit“ (S. 146), die von ‘Unschuldigen’ ausgelöst wird, auf die ‘der Irre’ seine Erfahrungen von Ausgegrenztsein und Einsamkeit projiziert. So schämt er sich, eine ihm vermeintlich bekannte Frau anzusprechen: „Ach, die denkt, ich bin ja der Verrückte aus Nr. 17. Wenn die mich wiedererkennt, die lacht mich ja aus“ (S. 146). In Steigerung zur Verwandlung von (Un-)Menschen in Tiere, die ‘der Irre’ in der Erinnerung an die Autoritätspersonen der Irrenanstalt im sprachlichen Benennen vollzieht, verwandelt er sich nun selbst in das Bild eines Tieres; er erlebt sich als Tier und handelt wie ein Tier. Als gewalttätiges, blutsaugendes Tier erfährt ‘der Irre’ die Tötung der Frau – ebenso wie seine Gewalttat gegen die Kinder – als rauschhaft-schönes Erlebnis. Hier nun wird die Erzählperspektive so angelegt, daß die Person des Protagonisten in ‘das Tier’ und in ein beobachtendes Ich aufgespalten ist, wobei die Rede des – subjektiv befangenen – Beobachters für eine kurze Passage in den ‘Inneren Monolog’ übergeht („Da oben kommt noch einer. Ist der aber dumm“ – S. 147). Die Gewalttat wird durch die Projektion des Irren auf den Blutdurst der „Hyäne“ gleichsam abgespalten, das Tier aus ihm herausgedrängt. Auf die Aggressionsphase folgt der Befreiungstraum, der in der ‘freien Natur’ – außerhalb der Zivilisation – zu verwirklichen gesucht wird: Nackt badet ‘der Irre’ „wie ein großer weißer Fisch in dem zitternden Teich“ (S. 148).23 Die Tier-Vergleiche in der Bildreihe ‘Vogel’ und ‘Fisch’ stehen als Metaphern der befreiten, der ‘erlösten’ Existenz den Vergleichen mit unreinen und ‘wilden’ Tieren gegenüber.24 Auch diese ekstatisch erlebte Befreiung schlägt um in die Erinnerung an die Erfahrung der Gefangenschaft in der Anstalt und an den Erwartungsdruck gesellschaftlicher Normen: „Wenn jetzt der Wärter kommt und mich hier findet ...“ (S. 148). An diesem Punkt der Erzählung zeichnet sich bereits ab, was später (vgl. S. 153 f.) noch verstärkt wird: In seinem Handeln und Erleben kommt der Entlassene von ‘der Anstalt’ (als Modell für ‘die Gesellschaft’) nicht los; er hat die dort vermittelten Verhaltensregeln internalisiert und hat – in der entstellten Form der Zwangsgemeinschaft – soziale Integration erfahren, 23 24
Zu den Tier-Vergleichen und Tier-Metaphern bei Heym vgl. Mautz: Mythologie und Gesellschaft, S. 86–112. Solche Aspekte ließen sich auch weiter verfolgen in den Farbreihen ‘Rot’ (Blut als Folge von Gewalt) und ‘Schwarz’ (vgl. S. 154 zum ‘feindlichen Schwarz’ des Ladenmädchens) gegenüber ‘Weiß’ (vgl. S. 140 das Bild vom ‘weißen Mond’ oder S. 148 den Vergleich mit einem ‘weißen Fisch’) und ‘Grün’ als ‘Farben des Lebens’.
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die ihm nun bei der Wiederbegegnung mit den feindlichen Gruppen (so die Hausbewohner – S. 151) und anonymen Massen als positive Gegenwelt erscheint: „Da waren ziemlich viele Menschen, die an ihm vorübergingen, ohne auf ihn zu achten [...]. Ihn überkam das Gefühl einer grenzenlosen Verlassenheit, das Heimweh packte ihn mit aller Gewalt. Am liebsten wäre er auf der Stelle nach der Anstalt zurückgelaufen“ (S. 149). Die einzelnen Etappen des ‘Stationendramas’ der Rückkehr des Entlassenen ‘in die Normalität’ sind jeweils zu Beginn durch eine Erfahrung von Angst, Ohnmacht, Orientierungslosigkeit oder Entfremdung bestimmt; sie löst Aggressionen aus und führt – nach der Gewalttat – zum Endpunkt der Handlungseinheit in ein rauschhaftes Erlebnis von Selbstgefühl und Allmacht, das wiederum in Ernüchterung und neue Desorientierung umschlägt. Die vorletzte Station der Erzählung könnte die Überschrift ‘Heimkehr’ tragen. Der Irre nähert sich seiner Wohnung: „Er schlich an den Häusern entlang; wenn ihm jemand begegnete, kehrte er sein Gesicht nach der Wand. Er schämte sich“ (S. 149). Seine Wohnung ist offenkundig vor längerer Zeit verlassen worden; seine Frau hat nicht auf ihn gewartet. Die Aggression des Irren läuft leer; er imaginiert sich das Objekt seiner ‘Rache’: seine Frau als Ratte in der leeren, schmutzigen Küche. In einem Bombardement von Platten und Ringen des eisernen Herds versucht er ‘die Ratte’ zu töten: „Er fing an zu schreien. Er brüllte wie besessen: ‘Du Schlafburschenhure, du Sau, du [...]’“ (S. 151). Das Moment der Ekstase ist hier im „Toben“ entstellt. Erschien ‘der Irre’ in der ersten Ekstase noch als „großer Vogel“, um den das Blut „wie ein feuriger Regen“ sprang (S. 145), wurde die zweite Ekstase mit dem Bild des „furchtbaren Teufels“ (S. 148) beschrieben, so erscheint nun „der Irrsinnige“ dem kommentierenden Erzähler „wie ein riesiger Orang-Utan“ (S. 151) – ein zum Affen reduzierter Mensch. Die letzte Etappe des Weges in das Zentrum der Großstadt verknüpft in der Vorstellungswelt ‘des Irren’ die erhebende Erfahrung des Religiösen dieses Mal nicht mit der staatstragenden Macht des Militärs (wie bei der ersten Gewalttat), sondern mit den Kräften von Kapital und Konsum, die sich im ‘Ersten Warenhaus am Platze’ bündeln: „‘Donnerwetter, ist das eine feine Kirche’, dachte er“ (S. 152). In der lichten, hell erleuchteten Welt des ‘Konsumtempels’ verstärken sich (befördert durch Erlebnisse neuester Technik) die Befreiungsphantasien ‘des Irren’ – ironischerweise mitten im ökonomischen Machtzentrum der ‘modernen Gesellschaft’. „Wie ein Vogel“ schwebt er im Fahrstuhl hinauf in die höheren Stockwerke (S. 153) und steigt über die Treppe bis zur Galerie des Lichthofes. Das Einsamkeitsgefühl wird in dieser letzten Station durch die Distanz zum Konsumrausch und zur ‘Masse Mensch’ der
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Großstadt positiv gewendet: „Er war ein großer weißer Vogel über einem großen einsamen Meer, gewiegt von einer ewigen Helle, hoch im Blauen“ (S. 153). Der Vogelflug assoziiert mit seinen Allmachtsphantasien den Mythos des Ikarus: „er war Nachbar der Sonne“ (S. 153), wobei – den Wahn des Irren bezeichnend – das Naturphänomen der Sonne vom Leser als technische Illusion eines „riesigen Kronleuchters“ (S. 152) zu identifizieren ist. Und ebenso ironisch wird das Befreiungserlebnis eingebunden in den ‘Heimattraum’ von der Anstalt: „Wenn er das den andern erzählen würde in der Anstalt, heute abend in den Schlafsälen“ (S. 153 f.). Aus dem Gedanken der ‘Heimkehr’ in die Anstalt entwickelt sich die Vorstellung von der Landung des Fluges, um „auf das Meer zu sinken“ (S. 154 – über den Landeplatz ‘Wasser’ wird der Vogel-Flug nun mit der Bildreihe des Fisches verbunden; beide Reihen verweisen auf Gegenwelten zu ‘Gesellschaft’ und ‘Zivilisation’). In der Realität der Warenhaus-Szene bedeutet ‘Landung’ den Sprung von der Galerie in das Menschengewimmel der unteren Etagen. Dabei soll ein störendes Moment für die Landung, „etwas Schwarzes, etwas Feindliches“ (S. 154) – ein Ladenmädchen am Warentisch – beseitigt werden. Ein letztes Mal handelt ‘der Irre’ im Gefühl der Stärke, die er als einstiges ‘Opfer’ im Ausüben physischer Gewalt auf seinem Weg in die Stadt erfahren hat. In der wahnsinnigen Verschränkung von Befreiungstraum und Gewaltaktion würgt ‘der Irre’ sein Opfer in ‘liebender Umarmung’ zu Tode (S. 154 f.). Sexuelles Begehren (entfremdet durch das Verhalten der Ehefrau und die Entzugsgewalt der Anstalt) verbindet sich mit dem Gefühl von Macht und Autonomie zur letzten Wunschprojektion von einem Märchenreich des Glücks („grüne Schlösser, grüne Gärten“ – S. 155). Wie in den vorausgegangenen Stationen folgt auf diesen Rausch die Ernüchterung – „er weint, er wird ja niemals dahinkommen“ (S. 155) –, die nun in das Ende aller Wunschträume, in den Tod, überführt wird. Doch gibt Heym dieser Zerstörung der Träume, der Fixierung des Wahns nicht das letzte Wort seiner Erzählung.25 Er ‘rettet’ das Glücksverlangen des wahnsinnigen Täters, des Opfers institutionalisierter gesellschaftlicher Gewalt durch einen letzten Wechsel zur Erlebnisperspektive ‘des Irren’ in der Verklärung seines Todes als Eingang in eine „unermeßliche Seligkeit“. Auch wenn man auf die letzten beiden Sätze der Erzählung durchaus verzichten könnte: Das Wagnis auf das Erlösungs- und Verkündigungspathos gehört – wenn auch nicht notwendigerweise (vgl. das Ende von Heyms Erzählung „Der Dieb“) – zum Programm der Literatur der expressionistischen Bewegung. Die Verbrechensgeschichte vom Weg ‘des Irren’ in die Normalität wird unter der 25
Vgl. auch Ihekweazu: Wandlung und Wahnsinn.
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Perspektive des Schlusses zum Exempel für ‘produzierte Gewalt’ in der gesellschaftlich verfügten Deformation menschlicher Natur. In der ‘Hinrichtung’ des Täters läßt Heym nicht den Rechtswillen der Gesellschaft triumphieren, sondern den Wunsch nach Erlösung von ‘der Gesellschaft’. Daß solche vereinfachenden Konstruktionen von Gewalt und Gegengewalt, von Tätern, die Opfer sind, von Ohnmacht, die in Allmacht umschlägt, nicht an den Erwartungen einer differenzierten literarischen Darstellung ‘gesellschaftlicher Gewalt’ (ihrer Ursachen und ihrer Folgen) gemessen werden kann, liegt auf der Hand. Im Vergleich mit Alfred Döblins Kriminalgeschichte mit dem Titel „Die Ermordung einer Butterblume“ (1910) ließe sich abwägen,26 ob im frühen 20. Jahrhundert nicht doch die Integration bestimmter Aspekte des Wissens – wie etwa zur Entstehung von Neurosen und Psychosen – notwendig ist, um die Erfahrungen individueller Leidensgeschichten mit gesellschaftlichen Zwängen so in Verbindung setzen zu können, daß Literatur nicht nur solche Zusammenhänge aufzeigt, sondern auch Wege zu ihrer Analyse erschließt.
Literaturverzeichnis GEORG HEYM 1887–1912. Eine Ausstellung der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg. Carl von Ossietzky. Nina Schneider: Ausstellung und Katalog. Berlin 1988. ANZ, Thomas: Literatur der Existenz. Literarische Psychopathographie und ihre soziale Bedeutung im Frühexpressionismus. Stuttgart 1977. ANZ, Thomas (Hg.): Phantasien über den Wahnsinn. Expressionistische Texte. München 1980. ANZ, Thomas: Entfremdung und Angst – Expressionistische Psychopathographie und ihre sozialwissenschaftliche Interpretierbarkeit. In: Horst Meixner u. Silvio Vietta (Hg.): Expressionismus – sozialer Wandel und künstlerische Erfahrung. München 1982, S. 15–29. BLUNDEN, Allan: Notes on Georg Heym’s Novelle „Der Irre“. In: German Life and Letters. N.S. 28 (1975), S. 107–110.
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Die Erzählung ist – ebenso wie „Der Irre“ – aufgenommen in „Prosa des Expressionismus, mit Materialien. Auswahl der Texte und der Materialien von Eckhard Philipp“. (Stuttgart 1982) – Für die kritische Lektüre des Typoskripts zu diesem Aufsatz danke ich Günter Dammann (Universität Hamburg), für die Diskussion meiner Überlegungen Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Seminars „Einführung in die Literaturwissenschaft“ im Wintersemester 1989/90 an der Universität Hamburg.
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IHEKWEAZU, Edith: Wandlung und Wahnsinn. Zu expressionistischen Erzählungen von Döblin, Sternheim, Benn und Heym. In: Orbis Litterarum 37 (1982), S. 327–344. IRLE, Gerhard: Rausch und Wahnsinn bei Gottfried Benn und Georg Heym. Zum psychiatrischen Roman. In: Winfried Kudszus (Hg.): Literatur und Schizophrenie. (deutsche texte 45). Tübingen 1977, S. 104–112. KORTE, Hermann: Georg Heym. (Slg. Metzler 203). Stuttgart 1982. KRULL, Wilhelm: Prosa des Expressionismus. (Slg. Metzler 210). Stuttgart 1984. LINDAU, Paul: Ausflüge ins Kriminalistische. München 1909. MARTINI, Fritz (Hg.): Prosa des Expressionismus. Stuttgart 1970 (= RUB 8379). MAUTZ, Kurt: Mythologie und Gesellschaft im Expressionismus. Die Dichtung Georg Heyms. Frankfurt a.M. u. Bonn 1961. PINKERNEIL, Beate u.a. (Hg.): Literatur und Gesellschaft. Dokumentation zur Sozialgeschichte der deutschen Literatur seit der Jahrhundertwende. Frankfurt a.M. 1973 (= FAT 2023). SCHÖNERT, Jörg (Hg.): Literatur und Kriminalität. Die gesellschaftliche Erfahrung von Verbrechen und Strafverfolgung als Gegenstand des Erzählens. Deutschland. England und Frankreich 1850–1880. (STSL 8). Tübingen 1983, [Auszüge zu S. 96–125 im vorliegenden Band, S. 65–98]. SCHÖNERT, Jörg (Hg.): Erzählte Kriminalität. Zur Typologie und Funktion von narrativen Darstellungen in Strafrechtspflege, Publizistik und Literatur zwischen 1770 und 1920. (STSL 27). Tübingen 1990, [Auszüge zu S. 11–55 sowie zu S. 497–523; 527– 531 im vorliegenden Band, S. 1–47 sowie S. 155–194]. SCHÜNEMANN, Peter: Georg Heym. (Autorenbücher 44). München 1986. SCHWARZ, Waltraut: Von Wittenau ins Kaufhaus Wertheim. „Der Irre“ von Georg Heym. Expressionismus durch Weglassen. In: Neue Deutsche Hefte 26 (1979), S. 70–88. STRASSER, Peter: Verbrechermenschen. Zur kriminalwissenschaftlichen Erzeugung des Bösen. Frankfurt a.M. u. New York 1984.
Nachweise Erzählte Kriminalität. Zur Konstitution des Gegenstandsbereichs und zu interdisziplinären Perspektiven. (Auszüge aus: Jörg Schönert: Zur Einführung in den Gegenstandsbereich und zum interdisziplinären Vorgehen.). In: J. Sch. (Hg. in Zusammenarbeit mit Konstantin Imm u. Joachim Linder): Erzählte Kriminalität. Zur Typologie und Funktion von narrativen Darstellungen in Strafrechtspflege, Publizistik und Literatur zwischen 1770 und 1920. Vorträge zu einem interdisziplinären Kolloquium, Hamburg, 10.–12. April 1985. (STSL 27). Tübingen 1990, S. 11–55. Scharfrichter-Erzählungen? Von einer Berufspflichten-Statistik (1573–1616) zum „Tagebuch des Meister Franz, Scharfrichter zu Nürnberg“ (gedruckt 1801). Originalbeitrag. Zur Ausdifferenzierung des Genres ‘Kriminalgeschichten’ in der deutschen Literatur vom Ende des 18. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts. In: Jörg Schönert (als Hg. unter Mitarbeit von Joachim Linder): Literatur und Kriminalität. Die gesellschaftliche Erfahrung von Verbrechen und Strafverfolgung als Gegenstand des Erzählens in England, Frankreich und Deutschland (1849–1880). Interdisziplinäres Kolloquium der Forschergruppe „Sozialgeschichte der deutschen Literatur 1770–1980“, München 1981. Mit Beiträgen von Ulrich Broich, Otto Dann, Wolfgang Naucke, Wolfram Siemann und Elisabeth Schulze-Witzenrath. (STSL 8). Tübingen 1983, S. 96–125. Kriminalität und Devianz in den „Berliner Abendblättern“. In: Jörg Schönert: Perspektiven zur Sozialgeschichte der Literatur. Beiträge zu Theorie und Praxis. (STSL 87). Tübingen 2007, S. 113–126. Kriminalgeschichten (1815–1830) im Spektrum von der „aktenmäßigen Darstellung“ bis zur „historisch-romantischen Manier“. In: Rainer Schöwerling u. Hartmut Steinecke (Hg.): Die Fürstliche Bibliothek Corvey. Ihre Bedeutung für eine neue Sicht der Literatur des frühen 19. Jahrhunderts. München 1992, S. 147–162. Die Begleitstimme der ‘schönen Literatur’ zur Strafrechtsentwicklung. In: Dieter Simon (Hg.): Akten des 26. Deutschen Rechtshistorikertages Frankfurt a.M., 22.–26.9.1986. Frankfurt a.M. 1987, S. 211–230. Bilder vom ‘Verbrechermenschen“’im Spiegelkabinett der rechtskulturellen Diskurse um 1900 [ursprünglich: Bilder vom ‚Verbrechermenschen’ in den rechtskulturellen Diskursen um 1900: Zum Erzählen über Kriminalität und zum Status kriminologischen Wissens]. In: Jörg Schönert (Hg. in Zusammenarbeit mit Konstantin Imm u. Joachim Linder): Erzählte Kriminalität. Zur Typologie und Funktion von narrativen
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Nachweise
Darstellungen in Strafrechtspflege, Publizistik und Literatur zwischen 1770 und 1920. Vorträge zu einem interdisziplinären Kolloquium, Hamburg, 10.– 12. April 1985. (STSL 27). Tübingen 1990, S. 497–523, 527–531. „Der Irre“ von Georg Heym. Verbrechen und Wahnsinn in der Literatur des Expressionismus. In: Der Deutschunterricht 42 (1990), S. 84–94.
Personenregister Hier verzeichnet sind alle historischen natürlichen Personen, die im Haupttext und in den referierenden Passagen der Fußnoten des vorliegenden Bandes erwähnt werden (abgesehen von den Personen, die „Meister Franz“ in seinem Scharfrichter-Tagebuch und Kleist in den Polizeiberichten der „Berliner Abendblätter“ nennen). Bibliographische Angaben in den Literaturverzeichnissen sowie (in den Fußnoten abgekürzte) bibliographische Verweise auf Bezugsliteratur, die im Literaturverzeichnis erfasst ist, wurden für das Register nicht ausgewertet. ABEL, Jakob Friedrich: 107 ABELE, Matthias: 26 ALEXIS, Willibald, d.i. Georg Wilhelm Heinrich Häring: 113, 150 AMSCHL, Alfred: 161 ANZ, Thomas: 196, 197, 201 ANZENGRUBER, Ludwig: 150 ARNIM, Achim von: 52 ARNOLD, Christof. K.: 9, 27, 139 ASCHAFFENBURG, Gustav: 184 ASCHROTT, Paul Felix: 184 AUERBACH, Berthold: 34, 85, 87, 137, 150 BARTELS, Friedrich: 127 BASSE, Gottfried: 121, 128 BAUER, Werner: 150 BAUMGÄRTNER, Friedrich Gotthelf: 112 BEIER, Grete: 173, 181 BERGK, Johann Adam: 112, 144, 146 BERNSTEIN, Max: 172 BLUNDEN, Allan: 204 BÖCKEL, Joseph Heinrich, auch J. H. Barda: 127 BOHNERT, Joachim: 13, 137, 141 BOSSHART, Jakob: 150 BRENTANO, Clemens: 52, 73 BÜCHNER, Georg: 143, 204 BÜHL, Walter L.: 18
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Personenregister
CARO, Heinrich Ch.: 190 CARTOUCHE, d.i. Louis Dominique Garthausen: 29, 62 CHAMISSO, Adalbert von: 70 CLAßEN, Isabella: 166, 183 CONRAD, Hermann: 158 DAINAT, Holger: 12, 116, 127 DAMIENS, François: 62 DAMMANN, Günter: 199, 208 DAVID, Jakob Julius: 170 DEFOE, Daniel: 27 DEHMEL, Richard: 181 DÖBLIN, Alfred: 95, 195, 208 DRESSEL, C[…]: 180 DREXLER, Peter: 115, 121 DREYFUS, Alfred: 24, 38 DRONKE, Ernst: 32, 74, 87, 138, 148, 150 DROSTE-HÜLSHOFF, Annette von: 74, 83, 138 DÜLMEN, Richard van: 140 DUMAS (père), Alexandre: 72, 87 EDER, Klaus: 139 EICHINGER, Gustav: 174, 175, 180 EISENLOHR, M. Friedrich: 188 ELBOGEN, Friedrich: 180 ENDTER, Johann Martin Friedrich von: 49, 50–52, 62, 101, 120, 147 ENGELHARDT, Dietrich von: 141, 161 FELS, Guido von: 188 FEUERBACH, Paul Johann Anselm: 30, 73, 80–83, 85–87, 100, 118, 123, 127, 129, 137, 144, 146, 150, 163 FERRI, Enrico: 161 FIELDING, Henry: 27, 71 FOHRMANN, Jürgen: 156 FONTANE, Theodor: 37, 89, 115, 167, 173 FOUCAULT, Michel: 6, 29, 155–157 FRÄNKEL, Moritz O.: 174 FRANK; Reinhard: 95, 189 FRANZ, Carl Wilhelm: 73 FRANZOS, Karl Emil: 150, 168-172, 184
Personenregister FRIEDLAENDER, Hugo: 189 FRIEDMANN, Fritz: 189 FROMMEL, Monika: 12, 16, 150, 158, 162 FRITZE, Ernst, d.i. Luise Reinhardt: 73, 89 FÜRST, Ernst Friedrich: 128 GAYOT DE PITAVAL, François: 73, 78, 81, 141, 150, 195 GERSTÄCKER, Friedrich: 72 GLEICH, Joseph Alois, auch Ludwig Dellarosa: 127 GOEDSCHE, Friedrich Wilhelm: 128 GOETHE, Johann Wolfgang: 69, 70, 136, 144, 184 GOLL, August: 159, 190 GOLL, Iwan: 195 GOTTFRIED, Gesche: 83–85, 143 GOTTHELF, Jeremias: 137 GRÄBER, Theodor: 128 GREINER-MAI, Herbert: 150 GROEBEN, Hugo von: 173 GROSS, Hanns: 158 GROTTHUSS, Jeanott E.: 182 GRUNER, Karl Justus von: 103, 104, 106 GÜNTHER, Paul: 163 HAARMANN, Fritz: 184 HABER, Günter: 29 HÄBERLIN, Karl: 122 HÄRING, Georg Wilhelm Heinrich, auch Willibald Alexis: 73, 120, 150 HARDEN, Maximilian: 182, 199 HARSDÖRFFER, Georg Philipp: 26, 49, HASSEMER, Winfried: 4, 5 HAU, Karl: 183 HAUFF, Wilhelm: 122 HAUPTMANN, Gerhart: 115, 162, 188 HEBBEL, Friedrich: 69 HEBEL, Johann Peter: 73 HENNIG, Jörg: 12 HEYDEBRAND, Renate von: 156 HEYM, Georg: 195–209 HITZIG, Julius Eduard: 73, 113, 120, 150 HODDIS, Jakob van: 109, 196
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Personenregister
HÖHN, Johanna: 144 HOFFMANN, Ernst Theodor Amadeus: 78, 80, 137, 143, 146, 148, 150 HOFFMANN, Ludger: 4, 16, HOLTEI, Karl von: 150 HORWITZ, Hugo: 172 HUCH, Ricarda: 137 HÜGEL, Hans-Otto: 67, 68, 89, 90, 92, 115, 121, 138, 140, 141, 150, 181 IBSEN, Henrik Johan: 162 IMM, Konstantin: 4, 12, 17, 116, 141 IMMERMANN, Karl Leberecht: 82, 138 IRLE, Gerhard: 200 KELLER, Gottfried: 171 KLEIN, Ernst Ferdinand: 120, 146 KLEINHEYER, Gerd: 142 KLEINSCHROD, Gallus Aloys Kaspar: 146 KLEIST, Heinrich von: 1, 21, 26, 31, 73, 99–114, KLOSTERMAYER, Mathias: 127 KÖNIG, Ewald August: 89 KOHLER, Josef: 160, 189 KOLLMANN, Christian Ernst: 128 KOPPIUS, Karl: 181 KORTE, Hermann: 200 KOŠENINA, Alexander: 53, KOSEWÄHR, Elfie: 37 KRAFFT-EBING, Richard von: 166, 184 KRANICH, Milda: 176–179, 182 KRAUS, Karl: 38 KROSCHEL, Theodor: 2, 34 KRULL, Wilhelm: 196 KRUSE, Hans Joachim: 150, 182 KRUSE, Laurids: 86, 140 KURELLA, Hans: 159 KURZ, Hermann: 74, 87 LADENTHIN, Volker: 150 LAUN, Friedrich, d.i. Friedrich August Schulze: 85 LEGRAND DU SALLE, Henri: 174 LEIBROCK, August: 128
Personenregister
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LEONHARD, Rudolf: 39 LEPENIES, Wolf: 20, 142, 162, 163 LEVITSCHNIGG, Heinrich von: 89 LICHTENSTEIN, Alfred: 109 LINDAU, Paul: 150, 172–183, 204 LINDEKORN, Otto: 181 LINDER, Joachim: 4, 12, 15, 17, 65, 116, 141, 150, 157 LINK, Jürgen: 157 LINK-HEER; Ursula: 162 LIST, Nickel (Nikol): 127 LISZT, Franz von: 95, 133, 144, 159, 160, 162, 184, 189 LOHMAR-FREIHOLD, d.i. Bernhard Korsinsky: 86, 126 LOMBROSO, Cesare: 162, 166, 174, 179, 185, 189, 200 LUCKMANN, Thomas: 7 LUDWIG, Otto: 69, 83 LÜDERSSEN, Klaus: 12, 14, 71, 135, 137 LÜSEBRINK, Hans-Jürgen: 4, 12, 16, 28, 29 LUHMANN, Niklas: 8, 80 MACÉ, Gustave: 174 MANDRIN, Louis: 29 MANNHEIM, Hermann: 159, 190 MARTENS, Gunter: 198 MARTINI, Fritz: 196 MAUTZ, Kurt: 201, 205 MAY, Karl: 94, 188 MEINHOLD, Wilhelm: 150 MEISTER FRANZ, s. Franz Schmidt MEIßNER, August Gottlieb: 21, 26, 71, 78, 79, 101, 120, 121, 129, 136, 138, 143, 150 MEREAU, Friedrich Ernst Carl: 5 MERKEL, Adolf: 189 MERKEL, Reinhard: 12, 14, 16 MEYER, Conrad Ferdinand: 69 MEYER, Reinhart: 121 MEYER-GOSSNER, Lutz: 2–4, MEYER-KRENTLER, Eckhardt: 8, 9, 12, 149 MITTELSTRAß, Jürgen: 13 MÖRIKE, Eduard: 122 MÖSER, Justus: 19, 134
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Personenregister
MOHR, Hans-Ulrich: 12, 17 MOLITOR, Josefine: 183 MORITZ, Karl Philipp: 31, 79 MÜCHLER, Karl: 101, 118, 120, 121, 123, 129 MÜLLER, Georg: 190 MÜLLER, Harro: 156 MÜLLER-SALGET, Klaus: 104, 108 MÜLLER-SEIDEL, Walter: 91 MÜLLER-DIETZ, Heinz: 12, 14, 134, 159 MÜLLNER, Amandus Gottfried Adolph: 86, 123–126, MÜNCH, Richard: 18 MUSIL, Robert: 95 NÄCKE, Paul: 189 NASSE, Friedrich: 30 NAUCKE, Wolfgang: 4, 11, 13, 140, 150 NEUSÜß, Wolfgang: 141 NIETHAMMER, Friedrich Immanuel: 73, 141 NIETZSCHE, Friedrich: 185 NOWOSADTKO, Jutta: 50, 52 OBERMEIT,Werner: 162 OEHLENSCHLÄGER, Eckart: 85 OSTWALD, Hans: 70 OTTEN, Karl: 195 OTTO, Georg: 128 PARSONS, Talcott: 18 PFISTER, Ludwig: 100, 107, 120 PIEYDAGNELLE, Eusebius: 174 PIETSCHER, August: 189 POE, Edgar Allen: 74 POLLITZ, Paul: 163 PSCHOLKA, Gustav: 161 QUALTINGER, Leomare: 150 RAABE, Wilhelm: 17, 37, 144 RADBRUCH, Gustav: 159, 163, 166 RAMBACH, Friedrich Eberhard: 27 RAUSCHER, Berthold: 173–179, 182, 183
Personenregister
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REIK, Theodor: 8, 9 REUß, Roland: 104, 105 REUTER, Fritz: 138 RIEMBAUER, Franz Salesius: 82 RILKE, Rainer Maria: 170 RIVIÈRE, Pierre: 6 ROSCHER, Gustav: 95, 189 ROST, Johann Leonhardt: 27 ROWOHLT, Ernst: 196 RUBINER, Ludwig: 195 RÜCKERT, Joachim: 12, 22, 24 RUTHARDT, Christiane: 25 RÜPING, Hinrich: 25 SACHER-MASOCH, Leopold von: 170 SADE, Donatien Alphonse François de: 145 SARTRE, Jean Paul: 6 SAVIGNY, Friedrich Carl von: 20 SCHÄFER, Wilhelm: 181 SCHILD, Wolfgang: 12 SCHILLER, Friedrich: 21, 31, 51, 69, 70, 72, 73, 78, 79, 81, 87, 120, 123, 141, 143, 145, 147, 149, 160 SCHLESINGER, Paul, auch Sling: 38 SCHINDERHANNES, d.i. Johannes Bückler: 107, 127 SCHLÜTER, Wilhelm: 189 SCHMIDT, Eberhardt: 136, 141, 142 SCHMIDT, Franz [Scharfrichter in Nürnberg]: 49-64 SCHMIDT, Heinrich [Reichsgerichtsrat]: 95, 189 SCHMOLLING, Daniel: 137, 150 SCHNABEL, Johann Gottfried: 26 SCHÖNEBECK, Toni von: 173 SCHÖNERT, Jörg: 12, 25 SCHÖPFER, Georg Karl Ludwig, auch L. Scoper, G. Bertrant, C. F. Fröhlich: 128 SCHOLZ, Wilhelm von: 123, 163 SCHRÖDER, Rainer: 12 SCHÜNEMANN, Peter: 196 SCHUNICHT, Heinrich: 179 SCHWAN, Friedrich: 107 SCHWARZ, Waltraud: 199, 204
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Personenregister
SEIBERT, Thomas-Michael: 4, 8, 16, 71 SHAKESPEARE, William: 69, 160, 183 SIEMANN, Wolfram: 16, 121 SIGHELE, Scipio: 190 SLING, d. i. Paul Schlesinger: 95 SMAUS, Gerlinda: 4, 14, 17 SMITH, Alexander: 27 SOBBE, Ernst: 174, 175, 181 SPIELHAGEN, Friedrich: 34 SPIEß, Christian Heinrich: 71, 79 STAENGLE, Peter: 104, 110 STEPHENS, Anthony: 1 STERN, Jacques: 159, 160, 166, 189 STOLLEIS, Michael: 17, 135 STORM, Theodor: 34, 87, 92, 115, 144 STRASSER, Peter: 21, 155, 157, 164, 166, 167 STRASSNOFF, Ignatz: 186 SUE, Eugène: 72, 87, 94, 120, 128 SYMONS, Julian: 68 TARTARUGA, Ubald: 189 TEMME, Jodocus Donatus Hubertus: 34, 82, 92, 144, 150 TERGIT, Gabriele: 38 THEDEN, Dietrich: 150 THOUVIOT, Heinrich: 174 TIECK, Ludwig: 144 TITZMANN, Michael: 12, 16, 17, TÖNNIES, Ferdinand: 162, 189, 200 TRAIN, Joseph Karl von: 126, 128, 129 TRAKL, Georg: 196 TRAUTMANN, […]: 179 TUCHOLSKY, Kurt: 144 TULLIAN, Lips: 127, 128 VOGET, Friedrich L.: 83–85 VOIGT, Friedrich Wilhelm, d.i. Schuster Voigt: 173, 182 VOSS, Richard: 162 VOßKAMP, Wilhelm: 14, 17, 117 VULPIUS, Christian August: 127
Personenregister WACKENRODER, Wilhelm Heinrich: 144 WELKE, Martin: 26 WERNER, Zacharias: 69 WILLKOMM, Ernst Adolf: 34, 87 WULFFEN, Erich: 144, 158, 160–164, 166, 167, 169, 180–188, 190, 191 ZOLA, Émile: 162, 166, 174, 179, 182, 204 ZSCHOKKE, Heinrich: 127
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Juristische Zeitgeschichte Herausgeber: Prof. Dr. Dr. Thomas Vormbaum, FernUniversität in Hagen Abteilung 1: Allgemeine Reihe 1 Thomas Vormbaum (Hrsg.): Die Sozialdemokratie und die Entstehung des Bürgerlichen Gesetzbuchs. Quellen aus der sozialdemokratischen Partei und Presse (1997) 2 Heiko Ahlbrecht: Geschichte der völkerrechtlichen Strafgerichtsbarkeit im 20. Jahrhundert (1999) 3 Dominik Westerkamp: Pressefreiheit und Zensur im Sachsen des Vormärz (1999) 4 Wolfgang Naucke: Über die Zerbrechlichkeit des rechtsstaatlichen Strafrechts. Gesammelte Aufsätze zur Strafrechtsgeschichte (2000) 5 Jörg Ernst August Waldow: Der strafrechtliche Ehrenschutz in der NS-Zeit (2000) 6 Bernhard Diestelkamp: Rechtsgeschichte als Zeitgeschichte. Beiträge zur Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts (2001) 7 Michael Damnitz: Bürgerliches Recht zwischen Staat und Kirche. Mitwirkung der Zentrumspartei am Bürgerlichen Gesetzbuch (2001) 8 Massimo Nobili: Die freie richterliche Überzeugungsbildung. Reformdiskussion und Gesetzgebung in Italien, Frankreich und Deutschland seit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts (2001) 9 Diemut Majer: Nationalsozialismus im Lichte der Juristischen Zeitgeschichte (2002) 10 Bianca Vieregge: Die Gerichtsbarkeit einer „Elite“. Nationalsozialistische Rechtsprechung am Beispiel der SS- und Polizeigerichtsbarkeit (2002) 11 Norbert Berthold Wagner: Die deutschen Schutzgebiete (2002) 12 Milosˇ Vec: Die Spur des Täters. Methoden der Identifikation in der Kriminalistik (1879–1933), (2002) 13 Christian Amann: Ordentliche Jugendgerichtsbarkeit und Justizalltag im OLGBezirk Hamm von 1939 bis 1945 (2003) 14 Günter Gribbohm: Das Reichskriegsgericht (2004) 15 Martin M. Arnold: Pressefreiheit und Zensur im Baden des Vormärz. Im Spannungsfeld zwischen Bundestreue und Liberalismus (2003) 16 Ettore Dezza: Beiträge zur Geschichte des modernen italienischen Strafrechts (2004) 17 Thomas Vormbaum (Hrsg.): „Euthanasie“ vor Gericht. Die Anklageschrift des Generalstaatsanwalts beim OLG Frankfurt/M. gegen Werner Heyde u. a. vom 22. Mai 1962 (2005) 18 Kai Cornelius: Vom spurlosen Verschwindenlassen zur Benachrichtigungspflicht bei Festnahmen (2006) 19 Kristina Brümmer-Pauly: Desertion im Recht des Nationalsozialismus (2006) 20 Hanns-Jürgen Wiegand: Direktdemokratische Elemente in der deutschen Verfassungsgeschichte (2006) 21 Hans-Peter Marutschke (Hrsg.): Beiträge zur modernen japanischen Rechtsgeschichte (2006)
22 Katrin Stoll: Die Herstellung der Wahrheit (2011) 23 Thorsten Kurtz: Das Oberste Rückerstattungsgericht in Herford (2014) 24 Sebastian Schermaul: Die Umsetzung der Karlsbader Beschlüsse an der Universität Leipzig 1819–1848 (2013)
Abteilung 2: Forum Juristische Zeitgeschichte 1 Franz-Josef Düwell / Thomas Vormbaum (Hrsg.): Themen juristischer Zeitgeschichte (1) – Schwerpunktthema: Recht und Nationalsozialismus (1998) 2 Karl-Heinz Keldungs: Das Sondergericht Duisburg 1943–1945 (1998) 3 Franz-Josef Düwell / Thomas Vormbaum (Hrsg.): Themen juristischer Zeitgeschichte (2) – Schwerpunktthema: Recht und Juristen in der Revolution von 1848/49 (1998) 4 Thomas Vormbaum: Beiträge zur juristischen Zeitgeschichte (1999) 5 Franz-Josef Düwell / Thomas Vormbaum: Themen juristischer Zeitgeschichte (3), (1999) 6 Thomas Vormbaum (Hrsg.): Themen juristischer Zeitgeschichte (4), (2000) 7 Frank Roeser: Das Sondergericht Essen 1942–1945 (2000) 8 Heinz Müller-Dietz: Recht und Nationalsozialismus – Gesammelte Beiträge (2000) 9 Franz-Josef Düwell (Hrsg.): Licht und Schatten. Der 9. November in der deutschen Geschichte und Rechtsgeschichte – Symposium der Arnold-FreymuthGesellschaft, Hamm (2000) 10 Bernd-Rüdiger Kern / Klaus-Peter Schroeder (Hrsg.): Eduard von Simson (1810– 1899). „Chorführer der Deutschen“ und erster Präsident des Reichsgerichts (2001) 11 Norbert Haase / Bert Pampel (Hrsg.): Die Waldheimer „Prozesse“ – fünfzig Jahre danach. Dokumentation der Tagung der Stiftung Sächsische Gedenkstätten am 28. und 29. September in Waldheim (2001) 12 Wolfgang Form (Hrsg.): Literatur- und Urteilsverzeichnis zum politischen NSStrafrecht (2001) 13 Sabine Hain: Die Individualverfassungsbeschwerde nach Bundesrecht (2002) 14 Gerhard Pauli / Thomas Vormbaum (Hrsg.): Justiz und Nationalsozialismus – Kontinuität und Diskontinuität. Fachtagung in der Justizakademie des Landes NRW, Recklinghausen, am 19. und 20. November 2001 (2003) 15 Mario Da Passano (Hrsg.): Europäische Strafkolonien im 19. Jahrhundert. Internationaler Kongreß des Dipartimento di Storia der Universität Sassari und des Parco nazionale di Asinara, Porto Torres, 25. Mai 2001 (2006) 16 Sylvia Kesper-Biermann / Petra Overath (Hrsg.): Die Internationalisierung von Strafrechtswissenschaft und Kriminalpolitik (1870–1930). Deutschland im Vergleich (2007) 17 Hermann Weber (Hrsg.): Literatur, Recht und Musik. Tagung im Nordkolleg Rendsburg vom 16. bis 18. September 2005 (2007) 18 Hermann Weber (Hrsg.): Literatur, Recht und (bildende) Kunst. Tagung im Nordkolleg Rendsburg vom 21. bis 23. September 2007 (2008) 19 Francisco Muñoz Conde / Thomas Vormbaum (Hrsg.): Transformation von Diktaturen in Demokratien und Aufarbeitung der Vergangenheit (2010) 20 Kirsten Scheiwe / Johanna Krawietz (Hrsg.): (K)Eine Arbeit wie jede andere? Die Regulierung von Arbeit im Privathaushalt (2014)
Abteilung 3: Beiträge zur modernen deutschen Strafgesetzgebung. Materialien zu einem historischen Kommentar 1 Thomas Vormbaum / Jürgen Welp (Hrsg.): Das Strafgesetzbuch seit 1870. Sammlung der Änderungen und Neubekanntmachungen; Vier Textbände (1999–2002) und drei Supplementbände (2005, 2006) 2 Christian Müller: Das Gewohnheitsverbrechergesetz vom 24. November 1933. Kriminalpolitik als Rassenpolitik (1998) 3 Maria Meyer-Höger: Der Jugendarrest. Entstehung und Weiterentwicklung einer Sanktion (1998) 4 Kirsten Gieseler: Unterlassene Hilfeleistung – § 323c StGB. Reformdiskussion und Gesetzgebung seit 1870. (1999) 5 Robert Weber: Die Entwicklung des Nebenstrafrechts 1871–1914 (1999) 6 Frank Nobis: Die Strafprozeßgesetzgebung der späten Weimarer Republik (2000) 7 Karsten Felske: Kriminelle und terroristische Vereinigungen – §§ 129, 129a StGB (2002) 8 Ralf Baumgarten: Zweikampf – §§ 201–210 a.F. StGB (2003) 9 Felix Prinz: Diebstahl – §§ 242 ff. StGB (2003) 10 Werner Schubert / Thomas Vormbaum (Hrsg.): Entstehung des Strafgesetzbuchs. Kommissionsprotokolle und Entwürfe. Band 1: 1869 (2002); Band 2: 1870 (2004) 11 Lars Bernhard: Falsche Verdächtigung (§§ 164, 165 StGB) und Vortäuschen einer Straftat (§ 145d StGB), (2003) 12 Frank Korn: Körperverletzungsdelikte – §§ 223 ff., 340 StGB. Reformdiskussion und Gesetzgebung von 1870 bis 1933 (2003) 13 Christian Gröning: Körperverletzungsdelikte – §§ 223 ff., 340 StGB. Reformdiskussion und Gesetzgebung seit 1933 (2004) 14 Sabine Putzke: Die Strafbarkeit der Abtreibung in der Kaiserzeit und in der Weimarer Zeit. Eine Analyse der Reformdiskussion und der Straftatbestände in den Reformentwürfen (1908–1931), (2003) 15 Eckard Voßiek: Strafbare Veröffentlichung amtlicher Schriftstücke (§ 353d Nr. 3 StGB). Gesetzgebung und Rechtsanwendung seit 1851 (2004) 16 Stefan Lindenberg: Brandstiftungsdelikte – §§ 306 ff. StGB. Reformdiskussion und Gesetzgebung seit 1870 (2004) 17 Ninette Barreneche†: Materialien zu einer Strafrechtsgeschichte der Münchener Räterepublik 1918/1919 (2004) 18 Carsten Thiel: Rechtsbeugung – § 339 StGB. Reformdiskussion und Gesetzgebung seit 1870 (2005) 19 Vera Große-Vehne: Tötung auf Verlangen (§ 216 StGB), „Euthanasie“ und Sterbehilfe. Reformdiskussion und Gesetzgebung seit 1870 (2005) 20 Thomas Vormbaum / Kathrin Rentrop (Hrsg.): Reform des Strafgesetzbuchs. Sammlung der Reformentwürfe. Band 1: 1909 bis 1919. Band 2: 1922 bis 1939. Band 3: 1959 bis 1996 (2008) 21 Dietmar Prechtel: Urkundendelikte (§§ 267 ff. StGB). Reformdiskussion und Gesetzgebung seit 1870 (2005) 22 Ilya Hartmann: Prostitution, Kuppelei, Zuhälterei. Reformdiskussion und Gesetzgebung seit 1870 (2006)
23 Ralf Seemann: Strafbare Vereitelung von Gläubigerrechten (§§ 283 ff., 288 StGB). Reformdiskussion und Gesetzgebung seit 1870 (2006) 24 Andrea Hartmann: Majestätsbeleidigung (§§ 94 ff. StGB a.F.) und Verunglimpfung des Staatsoberhauptes (§ 90 StGB). Reformdiskussion und Gesetzgebung seit dem 19. Jahrhundert (2006) 25 Christina Rampf: Hausfriedensbruch (§ 123 StGB). Reformdiskussion und Gesetzgebung seit 1870 (2006) 26 Christian Schäfer: „Widernatürliche Unzucht“ (§§ 175, 175a, 175b, 182, a.F. StGB). Reformdiskussion und Gesetzgebung seit 1945 (2006) 27 Kathrin Rentrop: Untreue und Unterschlagung (§§ 266 und 246 StGB). Reformdiskussion und Gesetzgebung seit dem 19. Jahrhundert (2007) 28 Martin Asholt: Straßenverkehrsstrafrecht. Reformdiskussion und Gesetzgebung seit dem Ausgang des 19. Jahrhunderts (2007) 29 Katharina Linka: Mord und Totschlag (§§ 211–213 StGB). Reformdiskussion und Gesetzgebung seit 1870 (2008) 30 Juliane Sophia Dettmar: Legalität und Opportunität im Strafprozess. Reformdiskussion und Gesetzgebung von 1877 bis 1933 (2008) 31 Jürgen Durynek: Korruptionsdelikte (§§ 331 ff. StGB). Reformdiskussion und Gesetzgebung seit dem 19. Jahrhundert (2008) 32 Judith Weber: Das sächsische Strafrecht im 19. Jahrhundert bis zum Reichsstrafgesetzbuch (2009) 33 Denis Matthies: Exemplifikationen und Regelbeispiele. Eine Untersuchung zum 100-jährigen Beitrag von Adolf Wach zur „Legislativen Technik“ (2009) 34 Benedikt Rohrßen: Von der „Anreizung zum Klassenkampf“ zur „Volksverhetzung“ (§ 130 StGB). Reformdiskussion und Gesetzgebung seit dem 19. Jahrhundert (2009) 35 Friederike Goltsche: Der Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuches von 1922 (Entwurf Radbruch) (2010) 36 Tarig Elobied: Die Entwicklung des Strafbefehlsverfahrens von 1846 bis in die Gegenwart (2010) 37 Christina Müting: Sexuelle Nötigung; Vergewaltigung (§ 177 StGB) (2010) 38 Nadeschda Wilkitzki: Entstehung des Gesetzes über Internationale Rechtshilfe in Strafsachen (IRG) (2010) 39 André Brambring: Kindestötung (§ 217 a.F. StGB). Reformdiskussion und Gesetzgebung seit 1870 (2010) 40 Wilhelm Rettler: Der strafrechtliche Schutz des sozialistischen Eigentums in der DDR (2010) 41 Yvonne Hötzel: Debatten um die Todesstrafe in der Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis 1990 (2010) 42 Dagmar Kolbe: Strafbarkeit im Vorfeld und im Umfeld der Teilnahme (§§ 88a, 110, 111, 130a und 140 StGB). Reformdiskussion und Gesetzgebung seit dem 19. Jahrhundert (2011) 43 Sami Bdeiwi: Beischlaf zwischen Verwandten (§ 173 StGB). Reform und Gesetzgebung seit 1870 (2014) 44 Michaela Arnold: Verfall, Einziehung und Unbrauchbarmachung (§§ 73 bis 76a StGB). Reformdiskussion und Gesetzgebung seit dem 19. Jahrhundert (2015)
Abteilung 4: Leben und Werk. Biographien und Werkanalysen 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14
Mario A. Cattaneo: Karl Grolmans strafrechtlicher Humanismus (1998) Gerit Thulfaut: Kriminalpolitik und Strafrechtstheorie bei Edmund Mezger (2000) Adolf Laufs: Persönlichkeit und Recht. Gesammelte Aufsätze (2001) Hanno Durth: Der Kampf gegen das Unrecht. Gustav Radbruchs Theorie eines Kulturverfassungsrechts (2001) Volker Tausch: Max Güde (1902–1984). Generalbundesanwalt und Rechtspolitiker (2002) Bernd Schmalhausen: Josef Neuberger (1902–1977). Ein Leben für eine menschliche Justiz (2002) Wolf Christian von Arnswald: Savigny als Strafrechtspraktiker. Ministerium für die Gesetzesrevision (1842–1848), (2003) Thilo Ramm: Ferdinand Lassalle. Der Revolutionär und das Recht (2004) Martin D. Klein: Demokratisches Denken bei Gustav Radbruch (2007) Francisco Muñoz Conde: Edmund Mezger – Beiträge zu einem Juristenleben (2007) Whitney R. Harris: Tyrannen vor Gericht. Das Verfahren gegen die deutschen Hauptkriegsverbrecher nach dem Zweiten Weltkrieg in Nürnberg 1945–1946 (2008) Eric Hilgendorf (Hrsg.): Die deutschsprachige Strafrechtswissenschaft in Selbstdarstellungen (2010) Tamara Cipolla: Friedrich Karl von Strombeck. Leben und Werk – Unter besonderer Berücksichtigung des Entwurfes eines Strafgesetzbuches für ein Norddeutsches Staatsgebiet (2010) Karoline Peters: J. D. H. Temme und das preußische Strafverfahren in der Mitte des 19. Jahrhunderts (2010)
Abteilung 5: Juristisches Zeitgeschehen Rechtspolitik und Justiz aus zeitgenössischer Perspektive Mitherausgegeben von Gisela Friedrichsen („Der Spiegel“) und RA Prof. Dr. Franz Salditt 1 Diether Posser: Anwalt im Kalten Krieg. Ein Stück deutscher Geschichte in politischen Prozessen 1951–1968. 3. Auflage (1999) 2 Jörg Arnold (Hrsg.): Strafrechtliche Auseinandersetzung mit Systemvergangenheit am Beispiel der DDR (2000) 3 Thomas Vormbaum (Hrsg.): Vichy vor Gericht: Der Papon-Prozeß (2000) 4 Heiko Ahlbrecht / Kai Ambos (Hrsg.): Der Fall Pinochet(s). Auslieferung wegen staatsverstärkter Kriminalität? (1999) 5 Oliver Franz: Ausgehverbot für Jugendliche („Juvenile Curfew“) in den USA. Reformdiskussion und Gesetzgebung seit dem 19. Jahrhundert (2000) 6 Gabriele Zwiehoff (Hrsg.): „Großer Lauschangriff“. Die Entstehung des Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes vom 26. März 1998 und des Gesetzes zur Änderung der Strafprozeßordnung vom 4. Mai 1998 in der Presseberichterstattung 1997/98 (2000)
7 Mario A. Cattaneo: Strafrechtstotalitarismus. Terrorismus und Willkür (2001) 8 Gisela Friedrichsen / Gerhard Mauz: Er oder sie? Der Strafprozeß Böttcher/ Weimar. Prozeßberichte 1987 bis 1999 (2001) 9 Heribert Prantl / Thomas Vormbaum (Hrsg.): Juristisches Zeitgeschehen 2000 in der Süddeutschen Zeitung (2001) 10 Helmut Kreicker: Art. 7 EMRK und die Gewalttaten an der deutsch-deutschen Grenze (2002) 11 Heribert Prantl / Thomas Vormbaum (Hrsg.): Juristisches Zeitgeschehen 2001 in der Süddeutschen Zeitung (2002) 12 Henning Floto: Der Rechtsstatus des Johanniterordens. Eine rechtsgeschichtliche und rechtsdogmatische Untersuchung zum Rechtsstatus der Balley Brandenburg des ritterlichen Ordens St. Johannis vom Spital zu Jerusalem (2003) 13 Heribert Prantl / Thomas Vormbaum (Hrsg.): Juristisches Zeitgeschehen 2002 in der Süddeutschen Zeitung (2003) 14 Kai Ambos / Jörg Arnold (Hrsg.): Der Irak-Krieg und das Völkerrecht (2004) 15 Heribert Prantl / Thomas Vormbaum (Hrsg.): Juristisches Zeitgeschehen 2003 in der Süddeutschen Zeitung (2004) 16 Sascha Rolf Lüder: Völkerrechtliche Verantwortlichkeit bei Teilnahme an „Peacekeeping“-Missionen der Vereinten Nationen (2004) 17 Heribert Prantl / Thomas Vormbaum (Hrsg.): Juristisches Zeitgeschehen 2004 in der Süddeutschen Zeitung (2005) 18 Christian Haumann: Die „gewichtende Arbeitsweise“ der Finanzverwaltung. Eine Untersuchung über die Aufgabenerfüllung der Finanzverwaltung bei der Festsetzung der Veranlagungssteuern (2008) 19 Asmerom Ogbamichael: Das neue deutsche Geldwäscherecht (2011) 20 Lars Chr. Barnewitz: Die Entschädigung der Freimaurerlogen nach 1945 und nach 1989 (2011) 21 Ralf Gnüchtel: Jugendschutztatbestände im 13. Abschnitt des StGB (2013) 22 Helmut Irmen: Stasi und DDR-Militärjustiz. Der Einfluss des MfS auf Militärjustiz und Militärstrafvollzug in der DDR (2014) 23 Peter Maxwill: Mit Recht gegen rechts. Die Verbotsverfahren gegen die Sozialistische Reichspartei (1950–1952) und gegen die Nationaldemokratische Partei Deutschland (2000–2003) (2015) 24 Zekai Dag˘as¸an: Das Ansehen des Staates im türkischen und deutschen Strafrecht (2015)
Abteilung 6: Recht in der Kunst Mitherausgegeben von Prof. Dr. Gunter Reiß 1 Heinz Müller-Dietz: Recht und Kriminalität im literarischen Widerschein. Gesammelte Aufsätze (1999) 2 Klaus Lüderssen (Hrsg.): »Die wahre Liberalität ist Anerkennung«. Goethe und die Juris prudenz (1999) 3 Bertolt Brecht: Die Dreigroschenoper (1928) / Dreigroschenroman (1934). Mit Kommentaren von Iring Fetscher und Bodo Plachta (2001)
4 Annette von Droste-Hülshoff: Die Judenbuche (1842) / Die Vergeltung (1841). Mit Kommentaren von Heinz Holzhauer und Winfried Woesler (2000) 5 Theodor Fontane: Unterm Birnbaum (1885). Mit Kommentaren von Hugo Aust und Klaus Lüderssen (2001) 6 Heinrich von Kleist: Michael Kohlhaas (1810). Mit Kommentaren von Wolfgang Naucke und Joachim Linder (2000) 7 Anja Sya: Literatur und juristisches Erkenntnisinteresse. Joachim Maass’ Roman „Der Fall Gouffé“ und sein Verhältnis zu der historischen Vorlage (2001) 8 Heiner Mückenberger: Theodor Storm – Dichter und Richter. Eine rechtsgeschichtliche Lebensbeschreibung (2001) 9 Hermann Weber (Hrsg.): Annäherung an das Thema „Recht und Literatur“. Recht, Literatur und Kunst in der NJW (1), (2002) 10 Hermann Weber (Hrsg.): Juristen als Dichter. Recht, Literatur und Kunst in der NJW (2), (2002) 11 Hermann Weber (Hrsg.): Prozesse und Rechtsstreitigkeiten um Recht, Literatur und Kunst. Recht, Literatur und Kunst in der NJW (3), (2002) 12 Klaus Lüderssen: Produktive Spiegelungen. 2., erweiterte Auflage (2002) 13 Lion Feuchtwanger: Erfolg. Drei Jahre Geschichte einer Provinz. Roman (1929). Mit Kommentaren von Theo Rasehorn und Ernst Ribbat (2002) 14 Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius. Roman (1928). Mit Kommentaren von Thomas Vormbaum und Regina Schäfer (2003) 15 Hermann Weber (Hrsg.): Recht, Staat und Politik im Bild der Dichtung. Recht, Literatur und Kunst in der Neuen Juristischen Wochenschrift (4), (2003) 16 Hermann Weber (Hrsg.): Reale und fiktive Kriminalfälle als Gegenstand der Literatur. Recht, Literatur und Kunst in der Neuen Juristischen Wochenschrift (5), (2003) 17 Karl Kraus: Sittlichkeit und Kriminalität. (1908). Mit Kommentaren von Helmut Arntzen und Heinz Müller-Dietz (2004) 18 Hermann Weber (Hrsg.): Dichter als Juristen. Recht, Literatur und Kunst in der Neuen Juristischen Wochenschrift (6), (2004) 19 Hermann Weber (Hrsg.): Recht und Juristen im Bild der Literatur. Recht, Literatur und Kunst in der Neuen Juristischen Wochenschrift (7), (2005) 20 Heinrich von Kleist: Der zerbrochne Krug. Ein Lustspiel (1811). Mit Kommentaren von Michael Walter und Regina Schäfer (2005) 21 Francisco Muñoz Conde / Marta Muñoz Aunión: „Das Urteil von Nürnberg“. Juristischer und filmwissenschaftlicher Kommentar zum Film von Stanley Kramer (1961), (2006) 22 Fjodor Dostojewski: Aufzeichnungen aus einem Totenhaus (1860). Mit Kommentaren von Heinz Müller-Dietz und Dunja Brötz (2005) 23 Thomas Vormbaum (Hrsg.): Anton Matthias Sprickmann. Dichter und Jurist. Mit Kommentaren von Walter Gödden, Jörg Löffler und Thomas Vormbaum (2006) 24 Friedrich Schiller: Verbrecher aus Infamie (1786). Mit Kommentaren von Heinz Müller-Dietz und Martin Huber (2006) 25 Franz Kafka: Der Proceß. Roman (1925). Mit Kommentaren von Detlef Kremer und Jörg Tenckhoff (2006)
26 Heinrich Heine: Deutschland. Ein Wintermährchen. Geschrieben im Januar 1844. Mit Kommentaren von Winfried Woesler und Thomas Vormbaum (2006) 27 Thomas Vormbaum (Hrsg.): Recht, Rechtswissenschaft und Juristen im Werk Heinrich Heines (2006) 28 Heinz Müller-Dietz: Recht und Kriminalität in literarischen Spiegelungen (2007) 29 Alexander Puschkin: Pique Dame (1834). Mit Kommentaren von Barbara Aufschnaiter/Dunja Brötz und Friedrich-Christian Schroeder (2007) 30 Georg Büchner: Danton’s Tod. Dramatische Bilder aus Frankreichs Schreckensherrschaft. Mit Kommentaren von Sven Kramer und Bodo Pieroth (2007) 31 Daniel Halft: Die Szene wird zum Tribunal! Eine Studie zu den Beziehungen von Recht und Literatur am Beispiel des Schauspiels „Cyankali“ von Friedrich Wolf (2007) 32 Erich Wulffen: Kriminalpsychologie und Psychopathologie in Schillers Räubern (1907). Herausgegeben von Jürgen Seul (2007) 33 Klaus Lüderssen: Produktive Spiegelungen: Recht in Literatur, Theater und Film. Band II (2007) 34 Albert Camus: Der Fall. Roman (1956). Mit Kommentaren von Brigitte Sändig und Sven Grotendiek (2008) 35 Thomas Vormbaum (Hrsg.): Pest, Folter und Schandsäule. Der Mailänder Prozess wegen „Pestschmierereien“ in Rechtskritik und Literatur. Mit Kommentaren von Ezequiel Malarino und Helmut C. Jacobs (2008) 36 E.T.A. Hoffmann: Das Fräulein von Scuderi – Erzählung aus dem Zeitalter Ludwigs des Vierzehnten (1819). Mit Kommentaren von Heinz Müller-Dietz und Marion Bönnighausen (2010) 37 Leonardo Sciascia: Der Tag der Eule. Mit Kommentaren von Gisela Schlüter und Daniele Negri (2010) 38 Franz Werfel: Eine blaßblaue Frauenschrift. Novelle (1941). Mit Kommentaren von Matthias Pape und Wilhelm Brauneder (2011) 39 Thomas Mann: Das Gesetz. Novelle (1944). Mit Kommentaren von Volker Ladenthin und Thomas Vormbaum (2013) 40 Theodor Storm: Ein Doppelgänger. Novelle (1886) (2013) 41 Dorothea Peters: Der Kriminalrechtsfall ,Kaspar Hauser‘ und seine Rezeption in Jakob Wassermanns Caspar-Hauser-Roman (2014) 42 Jörg Schönert: Kriminalität erzählen (2015) 43 Klaus Lüderssen: Produktive Spiegelungen. Recht im künstlerischen Kontext. Band 3 (2014) 44 Franz Kafka: In der Strafkolonie. Erzählung (1919) (2015)
Abteilung 7: Beiträge zur Anwaltsgeschichte Mitherausgegeben von Gerhard Jungfer, Dr. Tilmann Krach und Prof. Dr. Hinrich Rüping 1 Babette Tondorf: Strafverteidigung in der Frühphase des reformierten Strafprozesses. Das Hochverratsverfahren gegen die badischen Aufständischen Gustav Struve und Karl Blind (1848/49), (2006) 2 Hinrich Rüping: Rechtsanwälte im Bezirk Celle während des Nationalsozialismus (2007)
Abteilung 8: Judaica 1 Hannes Ludyga: Philipp Auerbach (1906–1952). „Staatskommissar für rassisch, religiös und politisch Verfolgte“ (2005) 2 Thomas Vormbaum: Der Judeneid im 19. Jahrhundert, vornehmlich in Preußen. Ein Beitrag zur juristischen Zeitgeschichte (2006) 3 Hannes Ludyga: Die Rechtsstellung der Juden in Bayern von 1819 bis 1918. Studie im Spiegel der Verhandlungen der Kammer der Abgeordneten des bayerischen Landtags (2007) 4 Michele Sarfatti: Die Juden im faschistischen Italien. Geschichte, Identität, Verfolgung (2014)