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German Pages [579] Year 2020
Karsten Dahlmanns Matthias Freise Grzegorz Kowal (Hg.)
Krieg in der Literatur, Literatur im Krieg Studien
Krieg in der Literatur, Literatur im Krieg Studien
Herausgegeben von Karsten Dahlmanns, Matthias Freise und Grzegorz Kowal
Vandenhoeck & Ruprecht
Gefördert aus Mitteln der Deutsch-Polnischen Wissenschaftsstiftung.
Die Konferenz „Krieg in der Literatur, Literatur im Krieg“ in Katowice (Oktober 2018) wurde ermöglicht und finanziell unterstützt von: / Organizacj˛e konferencji „Wojna w literaturze, literatura na wojnie“ (Katowice, pa´zdziernik 2018) wsparły finansowo:
Rezensenten / Recenzenci: Matthias Schöning, Monika Wolting
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Aussies at Chateau Wood – No Man’s Land (Ausschnitt). – akg-images / UIG / Universal History Archive / UIG Wissenschaftlicher Satz: satz&sonders GmbH, Dülmen
Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-666-30198-8
Inhalt Vorwort
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Krieg, Zivilisation und Diplomatie Matthias Freise Vor dem großen Krieg. Jan Kochanowskis „Abfertigung der griechischen Gesandten“ (1578) und Jean Giraudoux’ „Der Trojanische Krieg findet nicht statt“ (1935) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Hans-Harald Müller Zum Roman des Ersten Weltkriegs
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Karol Sauerland Die mit dem Ersten Weltkrieg verbundenen Stimmungen und Hoffnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Xiaojing Wang Besseres Europa, bessere Welt. Zur chinesischen Rezeption des Ersten Weltkriegs: „Eindrücke einer Europareise“ von Liang, Qichao . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Johannes Waßmer Feuer und Phoenix: Die Wiedergeburt der Zukunft aus der Asche der Westfront. Zur Problematik der Sinndeutungen des Ersten Weltkriegs . . . . . . . .
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Radikale Gegner des Krieges Beata Giblak Hermann Kunibert Neumann: Von „Volk in Waffen“ zu „Krieg dem Kriege“. Zur Weltanschauung und Poetik eines kriegskritischen Dichters und Militärbeamten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
91
Inhalt
6 Lukas D. Kersten Literarischer Pazifismus und Erster Weltkrieg. Eine Begriffsklärung und Untersuchung pazifistischer Formen und Persuasionsstrategien in Andreas Latzkos „Menschen im Krieg“ und Leonhard Franks „Der Mensch ist gut“ . . . . . . . . . . . . . .
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Grzegorz Kowal Kinder, Krieg und Korczak. Rund um die Tetralogie „Wie man ein Kind lieben soll“
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Rafał Biskup Viktor Kaluzas Roman „PG 3717: In französischer Kriegsgefangenschaft“. Ein Pendant zu Erich Maria Remarques „Im Westen nichts Neues“? . .
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Anke Jaspers „Kot, Feuer, Eisen, Blei“. Thomas Manns produktive Lektüre der „Kriegsbriefe deutscher Studenten“ von Philipp Witkop . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Wojciech Kunicki Das Bild des Krieges und die neue Theologie im Werk Ernst Jüngers von „Über die Linie“ (1951) bis zum Traktat „Der Gordische Knoten“ (1953) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
181
Katarzyna Nowakowska Von der Kriegskatastrophe zur persönlichen Krise. „Der Weg nach Innen“ in Werken Hermann Hesses als Reaktion eines Einzelnen auf den Untergang der Millionen . . . . . . . . . . . . . . .
195
Ute Oelmann „Zu jubeln ziemt nicht: kein triumf wird sein“. Stefan George, der George-Kreis und der Erste Weltkrieg
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207
Ewa Jarosz-Sienkiewicz Zerstörte Generationen. Erich Maria Remarques „Im Westen nichts Neues“ und Wolfgang Borcherts „Das ist unser Manifest“. Ein Vergleich . . . . . . . . . . . . . . .
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Literarische Klassiker des Krieges
Inhalt
7
Arnold Zweig und der Krieg Agnieszka Klimas Vom Kriegsbegeisterten zum Pazifisten: Arnold Zweig. Textliche und weltanschauliche Korrekturen . . . . . . . . . . . . . . . . . .
231
Krzysztof Kłosowicz Arnold Zweigs Briefe von der Front . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
241
Wie´nczysław Niemirowski Der Roman „Der Streit um den Sergeanten Grischa“ von Arnold Zweig. Über die Grenzen der Absurdität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
249
Monika Tokarzewska Der Streit um den Oberst Miassojedow und der Fall des Sergeanten Grischa. Józef Mackiewiczs und Arnold Zweigs literarische Spionageaffären im Ersten Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
265
Östlich der Oder Steffen Dietzsch Dwinger und der russische Bürgerkrieg 1919/20: Zwischen Weiß und Rot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
283
Edward Białek und Justyna Radłowska Bilder aus der russischen Gefangenschaft in Hans Zuchholds Erinnerungsbuch „Aus der Hölle empor“ (1917) . . . . . . . . . . . . . . .
293
Anna Gajdis Der Große Krieg in der „zerbrechenden Welt“. Ernst Wiecherts Prosawerk der zwanziger und dreißiger Jahre . . . . . .
311
Tobiasz Janikowski „. . . der Krieg war nur für die Kapitalisten, aber schade ist’s trotzdem“. Der Erste Weltkrieg und die Emotionalisierungsstrategien in der Literatur und Publizistik des oberschlesischen Grenzlandkampfes . . .
327
Maria Kła´nska Der Erste Weltkrieg in der Lyrik und Essayistik Józef Wittlins
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339
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353
Nina Nowara-Matusik Zum Wechselverhältnis von Kriegs- und Künstlerdiskurs. Einige Streifzüge durch die deutsche Literatur in Schlesien
Inhalt
8 El˙zbieta Nowikiewicz Die literarische Erinnerung an den Ersten Weltkrieg in der Provinz Posen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
363
Robert Rduch Deutsche Polenlyrik im Ersten Weltkrieg
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Der Erste Weltkrieg in Österreich und der Schweiz Aneta Jachimowicz Romane für „Kanonenfutternachwuchs“. Der Kriegsroman in der „Neuen Freien Presse“ in den 1920er und frühen 1930er Jahren (mit einem Seitenblick auf die „Reichspost“)
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399
Alfred Pfoser Die Wiener Feuilletonisten ziehen in den Krieg. Das Beispiel Ludwig Hirschfeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
415
Rico Largiadèr „Füsilier Wipf“ – eine Novelle im Geiste der nationalen Erziehung
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431
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445
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459
Ewa Mazurkiewicz Zwischen Schweigen und Engagement. Die Deutschschweizer Literatur und der Erste Weltkrieg Krieg als nationale Mission Karsten Dahlmanns Scheler gegen England
Robert E. Norton Werner Sombarts „Händler und Helden“
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475
Julianna Redlich Carl Busse (1872–1918) und seine Erfolgserzählung „Trittchen“ im Spiegel der Handschriften des Heilbronner Verlegers Eugen Salzer (1866–1938) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
483
Andrea Rudolph Völkisch-politische Anthropologie und deutsch-russische Allianzen in Max Geißlers Roman „Nach Rußland wollen wir reiten“ . . . . . . . .
495
Inhalt
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Gabriela Jelitto-Piechulik Revitalisierung der Geschichte nach 1914. Albrecht von Wallenstein und Karl Freiherr vom Stein zum Altenstein in den Geschichtskonstruktionen der Ricarda Huch
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511
Beatrice Nickel Intermediale Repräsentationen des Ersten Weltkrieges in der deutschen Graphic Novel. Eine raumtheoretische Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
523
Paweł Piszczatowski „Mnemosyne, dement“ – Thomas Klings Gedichte zum Ersten Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Namenregister
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Nachlese des Krieges
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Die Autorinnen und Autoren
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Vorwort Der vorliegende Band hat, wie der Titel bereits deutlich macht, eine doppelte Ausrichtung. Nicht nur die Literatur im Krieg, also die unmittelbare oder mittelbare Wirkung von Krieg und Kriegserlebnis auf die Literatur ist sein Thema, sondern auch umgekehrt, von der Literatur ausgehend, wie die Literatur sich den Krieg zum Gegenstand macht. Häufig wird ja gefordert, die Literatur in ihrer historischen, politischen und sozialen Einbettung zu untersuchen, d. h. die Wirkungen und Auswirkungen historischer, politischer und sozialer Erschütterungen auf das literarische Schaffen einer Zeit oder eines Raumes in den Blick zu nehmen. Gerade der Krieg ist ganz offensichtlich eine schwere solche Erschütterung, was läge da näher, als die vom Krieg ausgehende Wirkung auf die Literatur zu untersuchen? Und doch ist auch die andere Richtung wichtig, denn die Literatur formt und gestaltet unsere Deutung, unser Verständnis, unseren Diskurs über solche Erschütterungen, also gerade auch über den Krieg. Was vom Kriege übrig bleibt, so könnte man fabulieren, das stiften die Dichter. Wir haben es also mit einem wechselseitigen Verhältnis zwischen Krieg und Literatur zu tun, und genau das soll der doppelte Titel zum Ausdruck bringen, und beides leisten in unterschiedlichen Anteilen auch die Beiträge dieses Bandes. Wir müssen also, wenn wir die Beziehung zwischen Literatur und Krieg untersuchen, neben dem Krieg als Erlebnis auch die literarisch gestaltete Haltung zum Krieg und die literarische Deutung des Krieges in den Blick nehmen. Sie werden einwenden, dass der Krieg zu jenen Elementarereignissen gehört, die keinerlei Deutung zulassen, an denen jeder Deutungsversuch scheitert, oder sich sogar dagegen verwahren, dem Krieg irgendeine Form von Sinn zuzuweisen. Und doch kann der Mensch gar nicht anders, und das zeigt eine ganze Reihe von Beiträgen in diesem Band, als das Undeutbare zu deuten. Das kann in der Form einer nationalistischen oder sonstwie totalitären oder ideologischen Rechtfertigungsstrategie geschehen, in Bezug auf die es sich immerhin lohnt, ihre Argumentationsschemata und Paralogismen zu studieren. Das kann aber auch in einer Polemik oder Ironie geschehen, durch die die kriegstreibenden Mächte mitsamt den von ihnen lancierten Mythen desavouiert werden, wie etwa, wenn man die Sache literarisch einmal von der finanziellen Seite betrachtet. Das kann schließlich drittens die kriegerische Eruption von Gewalt und Tod metaphysisch deuten, sei es als Gottesgericht, als Endzeit, als Gezeiten des über die Kontinente hinwegrollenden Meeres der Geschichte oder als Rückmarsch der Menschheit in atavistische Lebensformen, und es kann schließlich viertens den Krieg als Versagen oder umgekehrt als Außer-Kontrolle-Geraten menschlicher Rationalität, als menschliche Hybris also, deuten. Im Fokus dieses Bandes steht dabei ganz überwiegend, aber nicht ausschließlich, der Erste Weltkrieg. Dabei hat sein Zentennium durchaus einen
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Vorwort
gewissen Auslöser geboten, kann aber nicht das ausschlaggebende Kriterium für ein Buch sein, das nach den Jubiläumsveranstaltungen gelesen werden soll. Vielmehr wird diesem Krieg stärker als früheren Kriegen und auch stärker als dem ihm folgenden Weltkrieg eine im buchstäblichen Sinne epochale, d. h. eine eine Zäsur setzende Rolle zugeschrieben. Kein Krieg hat vor ihm eine „alte Welt“ so gründlich zum Verschwinden gebracht, kein anderer Krieg hat die politischen Landkarten so umfassend verändert. Doch bei genauerem Hinsehen ist die Ursache-Wirkungs-Relation nicht zwingend. Kulturell und damit auch literarisch ist die Moderne bereits vor 1914 über die Welt hinweggefegt, die Schrecken der Kriegserlebnisse haben diesen Umbruch sicherlich verstärkt und beschleunigt, aber nicht verursacht. Es wäre natürlich ebenso töricht zu behaupten, die Revolution in der Kunst habe den Weltkrieg ausgelöst oder wenigstens provoziert. Vielmehr handelt es sich insgesamt um ein politisches, soziales, historisches, aber eben auch kulturelles Erdbeben, das die Spannungen einer Art Kontinentaldrift entladen hat, die sich sehr langfristig vollzogen hat und vollzieht. Die Brücken waren schon längst statisch nicht mehr stabil, ein überladener LKW zu viel brachte sie dann zum Einsturz, so etwa können wir uns das oft beschriebene „Pulverfass“ vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges vorstellen. Eine solche Deutung hat die Prämisse einer Sicht von Geschichte als sich vollziehender Prozess, eine Prämisse, die unter den meisten Historikern als eine grande histoire nicht mehr salonfähig ist. Literatur hat jedoch eine andere Aufgabe, genauer gesagt hat sie von der Geschichte die von ihr nunmehr abgelehnte Aufgabe übernommen, uns einen Geschichtsfaden zu spinnen, an dem wir uns weiter in die Zukunft abseilen können. Weniger metaphorisch ausgedrückt macht sie uns Zeitlichkeit erlebbar und erfahrbar, sie schenkt uns eine Vergangenheit, die uns die Deutung unserer Gegenwart ermöglicht und unser Streben in die Zukunft deutet. Geschichtslos bliebe uns nur die von T.S. Eliot beschworene Trias von Birth, Copulation and Death. Vor diesem Horizont erscheint der Krieg natürlich vor allem als Vergegenwärtigung des Abgrunds, vor dem wir immer stehen, des Abgrunds der Barbarei und der Vernichtung. Es gibt hier Dämme, die durchaus jederzeit wieder brechen können, wie die nach dem Ersten Weltkrieg in weniger als einer Generation erneuerte Barbarei von deutschem Boden aus gezeigt hat. Denn obgleich die tektonischen Verschiebungen sich unserer Kontrolle entziehen, sind sie mitunter ohne einen erneuten Sturz in Abgründe zu bewältigen, wie die friedlichen Revolutionen vom Ende des 20. Jahrhunderts gezeigt haben. Obgleich es auch in diesem Fall zu späteren Nachbeben gekommen ist, so muss uns das, wenn die Fundamente von freiheitlicher Demokratie und Rechtsstaatlichkeit erdbebensicher gebaut sind, nicht unbedingt schrecken. Damit kommen wir zu einem weiteren Bezug, der unseren Band motiviert hat, und das ist, leider, die Aktualität des Krieges. Die globalen Sicherheitssysteme zur Verhinderung von Kriegen, insbesondere zur Verhinderung von sich global ausweitenden Kriegen sind keine Automatismen. Vielmehr sind sie zu
Vorwort
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jedem Zeitpunkt vom guten Willen der Beteiligten abhängig, von der geteilten Überzeugung, dass der Krieg kein politisches Instrument sein darf, keine „Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“. Dieser gute Wille ist im letzten Jahrzehnt deutlich schwächer geworden. Es scheint, als verblasse mit dem Tod der letzten aktiven Weltkriegsteilnehmer das Grauen, das die Voraussetzung für den unbedingten Willen zum Frieden ist. Es ist Aufgabe der Literatur und anderer künstlerischer Medien, dieses Grauen vorzuführen, die Tarnnetze von diesem Abgrund zu reißen und dabei die Perspektive deutlich zu machen, dass der Krieg nie harmloser wird, wie manche Cyberstrategen uns glauben machen wollen, sondern immer noch grauenhafter als das letzte Mal. Wenn, wie im Falle von Russlands Krieg gegen die Ukraine, die Tabuisierung des Krieges als politisches Mittel mitten in Europa in Frage gestellt wurde, sollten wir uns an die politischen Gewinn- und Verlustrechnungen erinnern, die vor Ausbruch der Ersten Weltkriegs aufgestellt wurden, denn nach dem Krieg standen ausnahmslos alle als furchtbare Verlierer da. Das gilt selbst für jene Nationen, die nach dem Krieg wieder oder neu erstanden wie Polen, die Tschechoslowakei und Jugoslawien. Das Grauen der Isonzo-Front ist für die Südslawen ebenso unkompensierbar wie die Verwüstungen der mehrmals über Ostmitteleuropa in beide Richtungen hinwegrollenden Front für die „befreiten“ Westslawen. Und was hat der Krieg der Ukraine gebracht? Wo lag der Gewinn für England, Frankreich, Spanien? War er für Deutschland eine vom übersteigerten Nationalismus des späten Kaiserreiches befreiende Reinigung? Mitnichten. Und was haben die vielen kleinen Staaten von ihrer wiedergewonnenen Freiheit, wenn ihr marginales politisches und ökonomisches Gewicht sie in einer sich globalisierenden Welt zum Kotau zwingt? Man sieht, es gibt manche Parallelen zwischen der Welt im beginnenden 20. Jahrhundert und der Welt im beginnenden 21. Jahrhundert. Parallele heißt jedoch nicht Identität. Vor allem verfügen wir jedenfalls vorläufig noch – wie lange noch? – über die Gabe des historischen Gedächtnisses. Krieg und Literatur sind noch auf eine andere Weise als durch Erlebnisverarbeitung bzw. Deutung miteinander verbunden. Speziell die erzählende Literatur ist auf Ereignisse angewiesen, darauf, dass überhaupt etwas geschieht, etwas Relevantes, Folgen Zeitigendes, Unumkehrbares, Unerwartetes, etwas absolut Reales. Der Krieg ist ein zuverlässiger Lieferant von dem, was wir in der Erzähltheorie „Ereignishaftigkeit“ nennen. Damit schlüpft die Literatur in die Rolle jenes Dämons, der uns immer wieder verlockt, auf Knöpfe zu drücken, um zu sehen, was dann eigentlich passiert. Krieg ist kein Naturereignis, sondern eine Versuchung, und die Macht dieser Versuchung lässt paradoxerweise die Literatur nicht nur zur großen Mahnerin vor dem Abgrund der Gewalt werden, sondern zugleich zum Profiteur des Krieges. Der Krieg hält die Literatur am Laufen. Der Krieg gehört auch hundert Jahre nach dem Ersten und fünfundsiebzig Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg nach wie vor zu den nicht nur bei den Autoren, sondern auch bei den Leserinnen und Lesern
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Vorwort
beliebtesten Sujets. „Les Bienveillantes“ von Jonathan Littell, Kevin Powers’ „The Yellow Birds“, „One Hundred and One Nights“ von Benjamin Buchholz, ganz abgesehen von Klassikern wie Joseph Hellers „Catch 22“, Kurt Vonneguts „Slaughterhouse-Five“ oder Norman Mailers „The Naked and the Dead“ lebten und leben vom Krieg als Ereignisgeber, ganz unabhängig von der Bewertung des Krieges in diesen Büchern. Die in den meisten Beiträgen des vorliegenden Bandes thematisierte Kriegsliteratur im Gefolge des Ersten Weltkriegs ist später, auch viel später, also keineswegs zum Erliegen gekommen. In der Literatur herrschte und herrscht gleichsam ununterbrochen Krieg. Dies gilt auch für die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Von der Ilias bis zu Tolstojs „Krieg und Frieden“ produzierte der Krieg auch vorher schon unablässig Weltliteratur. Was sich dabei ändert, ist die Art und Weise, wie mit diesem Ereignismaterial umgegangen wird, und diese Art und Weise offenbart überraschende Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Wobei es ja bei der Literatur immer auf die Art und Weise ankommt, denn das Faktum des Krieges ist uns ja nicht unbekannt. Darum soll dieser Band, neben der Aufarbeitung wirkmächtiger literarischer Auseinandersetzungen mit dem Krieg, auch die Diskussion darüber beleben, wie kriegerisch die Literatur und wie literarisch der Krieg ist. Diese Diskussion steht gleichwohl erst an ihrem Anfang und verdient eine weitere, vertiefte Beschäftigung. Karsten Dahlmanns, Matthias Freise und Grzegorz Kowal
Krieg, Zivilisation und Diplomatie
Matthias Freise
(Georg-August-Universität Göttingen)
Vor dem großen Krieg Jan Kochanowskis „Abfertigung der griechischen Gesandten“ (1578) und Jean Giraudoux’ „Der Trojanische Krieg findet nicht statt“ (1935)
Dramatik will vor zeitgenössischem Publikum aufgeführt werden, sie greift in aktuelle Debatten ein, und darum ist sie oft aktueller und auch politischer als andere literarische Gattungen. In der Zeit zwischen den Weltkriegen wurde auf diese Weise nicht nur die traumatische Erfahrung des Ersten Weltkriegs aufgearbeitet. Das Drama setzte sich auch mit den politischen Spannungen in Europa auseinander, die auf eine weitere militärische Auseinandersetzung zusteuerten. Das vielleicht wichtigste politische Drama im Lichte der wachsenden Kriegsgefahr in den 1930er Jahren ist Jean Giraudoux’ Stück „Der Trojanische Krieg findet nicht statt“ von 1935. 1 Giraudoux wählte für seine politische Parabel eine Episode aus dem Trojanischen Krieg, die bei Homer nur beiläufig erwähnt wird: bevor die Griechen Troja angreifen, kommen Ajax und Odysseus in diplomatischer Mission nach Troja, um ultimativ die Herausgabe der geraubten Helena zu fordern, was den drohenden Krieg noch verhindern könnte. Genau diese kleine Episode aus der „Ilias“ hatte vor ihm nur ein einziger Autor zum Stoff eines politischen Dramas gemacht – der polnische Renaissancedichter Jan Kochanowski, der mit seiner „Abfertigung der griechischen Gesandten“ von 1578 2 innerhalb der europäischen Renaissanceliteratur eines der wenigen Originalstücke ohne ältere Dramenvorlage schuf. Die „Abfertigung der griechischen Gesandten“ ist auch als politisches Drama beispiellos und steht in seiner Darstellung und Problematisierung politischer Prozesse in der Epoche ebenfalls einzigartig da. Hier ist es der betrogene Ehemann Menelaos selbst, der Odysseus auf der diplomatischen Mission begleitet. Im Abstand von 357 Jahren greifen zwei Autoren einen Stoff auf, dessen politische Brisanz zeitlos ist. Es geht um die Frage, welchen diplomatischen Preis man zu zahlen bereit ist, um einen Krieg zu verhindern; es geht um politische Macht und Ohnmacht, um Demagogie und politische Dilemmas. Zwei Stücke, die jeder angehende Außenpolitiker studieren sollte, zumal Dro-
1 Jean Giraudoux, La Guerre de Troie n’aura pas lieu, Paris 1935. Übersetzung von Annette Kolb zit. nach: Jean Giraudoux, Kein Krieg in Troja, Die Irre von Chaillot. Zwei Stücke, Frankfurt a. M. 1959. 2 Jan Kochanowski, Dzieła polskie, Warszawa 1960. Übersetzung von Henryk Bereska zit. nach: Jan Kochanowski, Ausgewählte Dichtungen, Leipzig 1980.
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Matthias Freise
hungen in der internationalen Politik wieder salonfähig zu werden scheinen. Und doch ist bisher niemand auf die Idee gekommen, die beiden Dramen einmal miteinander zu vergleichen. Ganz unabhängig von der Frage, ob die Situation Polens Ende des 16. Jahrhundert angesichts des aufstrebenden Moskauer Reiches und die Situation Frankreichs in den 1930er Jahren angesichts der massiven Aufrüstung und aggressiven Außenpolitik Nazideutschlands ihrer Situation nach wirklich zu vergleichen sind, setzt doch die Wahl des Stoffes beiden Stücken einen klaren situativen Rahmen. Es geht um politische Ultimaten und ihre Funktion: wird durch sie versucht, einen Krieg zu verhindern, oder wird ein Krieg durch sie allererst zu einer Option gemacht und so im Gegenteil herbeigezwungen? Gibt es eine Wahl oder gibt es keine Wahl? Kann man die Kriegsschuldfrage beantworten? Wir vergleichen zunächst einmal den reinen Plot der beiden Dramen und schauen dann, wie in ihnen die Situation Trojas jeweils eingeschätzt wird. Bei Kochanowski ist Antenor als kluger Ratgeber des Königs der Gegenspieler von Paris, der hier Alexander heißt. Paris möchte Helena natürlich nicht zurückgeben, während Antenor zur Rückgabe rät, da er die Forderung der Griechen für gerechtfertigt hält und das öffentliche Interesse Trojas über das private Interesse von Alexander stellt. In einer ersten Auseinandersetzung verlangt Alexander von Antenor bedingungslosen Freundesdienst, während Antenor es ablehnt, „dem Freund mehr als der Wahrheit zu dienen“ („Przyjacielowi wi˛ecej ni˙zli prawdzie [. . . ] słu˙zy´c“ 3). Zwei Gewissenskonzepte kontrastieren hier: die Verpflichtung gegenüber dem Freund und Landsmann und die Verpflichtung gegenüber der Wahrheit. Sodann wird Helena als gegen ihren Willen entführte tugendhafte Gattin mit der Sicht ihrer Magd kontrastiert, die umgekehrt von Helenas Wunsch ausgeht, in Troja zu bleiben. Die Entscheidung über die Auslieferung delegiert der (wie der polnische König zu Kochanowskis Zeiten) schwache König an das Parlament. Die Parlamentssitzung auf die Bühne zu bringen verbietet Kochanowski die Regel der drei Einheiten, und so wird sie einem Boten in den Mund gelegt, der Helena die „frohe Kunde“ ihres Verbleibs in Troja überbringt. Die Ratssitzung ist nun aber das Kernstück der politischen Dramaturgie Kochanowskis. Alexander beruft sich im Rat auf das Gottesgeschenk durch Aphrodite sowie auf frühere Ungerechtigkeiten von Seiten der Griechen – auf den Raub Medeas durch Jason sowie auf die Verwüstung Trojas und Ermordung von Priamos’ Vater Laomedontes. Antenor argumentiert dagegen; das Versprechen Aphrodites wird durch die Wut der bei der Schönheitskonkurrenz unterlegenen Hera und Athene mehr als aufgewogen. Auch die Entschlossenheit der Griechen zum Krieg bringt Troja Unheil: „Möge sich Alexander nicht so teuer vermählen, dass seine Ehe mit dem Niedergang seiner Heimat und unserem Blut bezahlt
3 Kochanowski, Dzieła polskie, Zeile 40–41, eigene Übersetzung, weil Bereska hier ungenau.
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wird“. 4 Antenor entkräftet zudem die „historischen“ Argumente Alexanders – niemand hat Medea zurückverlangt, und die Verwüstung der Stadt durch Herakles hatte sich Troja durch das Brechen des Versprechens, ihm Hesione zur Frau zu geben, selbst zuzuschreiben. Damit sind alle Argumente Alexanders widerlegt. Den Ausschlag für die Abstimmung im Parlament gibt dann jedoch die dritte ausführlich geschilderte Rede, die des Iketaon. Iketaon ist ein Meister in populistischer Demagogie durch Verdrehung der Tatsachen: Teraz nam Helen˛e Wyda´c ka˙za, ˛ po chwili naszych si˛e z˙on b˛eda˛ i dzieci upomina´c. Heute fordern sie von uns, Helena herauszugeben, morgen werden sie unsere Frauen und Kinder fordern. 5
Die Griechen fordern nicht Helena, sie fordern sie zurück, diesen wichtigen Unterschied unterschlägt Iketaon. Er schürt außerdem die Emotionen, indem er an den Stolz der Trojaner appelliert: Owa, Jako nam kolwiek Grekowie zagraja, ˛ tak my ju˙z skaka´c musim? Sollen wir nach der Pfeife der Griechen tanzen? 6
Bemerkenswert modern ist Iketaon Sicht des Ultimatums der Griechen im Licht der Spieltheorie. 7 Iketaon glaubt nicht an Fairness, er unterstellt als alleinigen Faktor des Ultimatums die Gewinnmaximierung: Nigdy w swojej mierze Chciwo´sc´ władze nie stoi. Die Habgier kennt weder Zügel noch Maß. 8
Politisch sieht er das griechische Ultimatum als Kriegsvorwand, ähnlich dem österreichischen Ultimatum an Serbien vom 23. Juli 1914 und dem Ultimatum von George Walker Bush an Saddam Hussein vom 17. März 2003. Die emotionale Sicht der Angelegenheit gewinnt so die Oberhand, rationale Argumente werden bedeutungslos – eine Entwicklung, die wir gegenwärtig wieder
4 Ebd., Zeile 181–183. 5 Ebd., Zeile 309–311; eigene Übersetzung. 6 Ebd., Zeile 307–308; redensartlich analoge eigene Übersetzung, wörtlich: „wie auch immer die Griechen aufspielen, so sollen wir schon hüpfen müssen?“. 7 Zum Ultimatumspiel vgl. Eva Ebenhöh / Claudia Pahl-Wostl, Agent Behaviour between Maximization and Cooperation, in: Rationality and Society 20 (2008), S. 227–252. 8 Kochanowski, Dzieła polskie, Zeile 311–312; Ders., Ausgewählte Dichtungen, S. 90.
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verstärkt erleben. Die Entscheidung scheint wider alle politische Vernunft zu fallen. Das zeigt die kopfschüttelnde Reaktion des Ulysses: Bo˙ze, daj mi z takimi m˛ez˙mi zaw˙zdy czyni´c! O Gott, gib mir allzeit solche [verantwortungslosen – M.F.] Männer zu Gegnern! 9
Antenor bleibt nur noch, dem König angesichts des nun unvermeidlichen Kriegs zu militärischen Vorbereitungen zu raten. Ist jedoch auch eine gegenteilige Sicht der Situation Trojas möglich? Hatte Troja vielleicht gar keine diplomatische Entscheidungsmöglichkeit mehr? Bei Giraudoux sind die innertrojanischen Gegenspieler Hektor und der Dichter Demokos, Paris bleibt recht blass, er hat seine Rolle bereits gespielt, das Gesetz der Handlung liegt nun bei Anderen. Hektor und seine Soldaten sind kriegsmüde, seine Frau ist schwanger, er will Frieden. Zudem spielt eine mögliche Liebe zwischen Paris und Helena, die bei Kochanowski noch keine Rolle spielt – Helena sehnt sich selbstverständlich nach ihrem rechtmäßigen Ehemann zurück – bei Giraudoux keine Rolle mehr, denn Helena und Paris sind kein großes Liebespaar: Hector: Mais tu crois que cela vaut une guerre, de permettre à Pâris de faire l’amour à distance? Cassandre: Avec distance. . . Il aime les femmes distantes, mais de près. Hektor: Glaubst du, dass es sich lohnt, einen Krieg zu führen, damit Paris auf Distanz seine Liebesspiele treibt? Kassandra: Auf Distanz? Paris liebt unnahbare Frauen, aber so nah wie möglich. 10
Kochanowski ist in dieser Beziehung präromantisch, Giraudoux postromantisch. Giraudoux’ Helena ist vollkommen objekthaft – Lustobjekt für Paris, Objekt der politischen Intrigen, Objekt für den Voyeurismus lüsterner Greise in Troja. Explizit wird die Antiromantik bei Giraudoux, indem der Dichter Demokos (natürlich aus der Perspektive des 20. Jahrhunderts gesehen) gemeinsam mit König Priamos die Ideale Goethes und der Romantik aufwärmt. Die beiden beklagen – scheinheilig, denn es betrifft nur diejenigen, die Schönheit nicht mit Krieg und Vernichtung bezahlen wollen –, dass die Jugend Trojas der Schönheit gegenüber blind geworden sei: Priam: À l’ignorance de la beauté. Demokos: Et par conséquent de l’amour. Au réalisme, quoi! Nous autres poètes appelons cela le réalisme.
9 Kochanowski, Dzieła polskie, Zeile 409; Ders., Ausgewählte Dichtungen, S. 92. 10 Giraudoux, La Guerre de Troie n’aura pas lieu, S. 31; Ders., Kein Krieg in Troja, S. 16.
Vor dem großen Krieg
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Priamos: Bis zur Ignoranz gegenüber der Schönheit! Demokos: Und infolgedessen auch gegenüber der Liebe. Realisten geworden! Wir Dichter nennen das Realismus! 11
Antiromantisch ist auch, dass Helena Demokos zu maßlos schlechten Versen inspiriert: Demokos: Chaque fois qu’Hélène apparaît, l’inspiration me saisit. Je délire, j’écume et j’improvise. Ciel, la voilà! Il déclame. Belle Hélène, Hélène de Sparte, À gorge douce, à noble chef. Les dieux nous gardent que tu partes, Vers ton Ménélas derechef! Jedesmal, wenn Helena erscheint, entflammt sich mein Geist! Ich phantasiere, ich tobe, und plötzlich improvisiere ich! Himmel, da ist sie! (er deklamiert) Schöne Helena, Helena von Sparta, Mit süßem Busen und edlem Boss, Wenn doch die Götter uns davor bewahrten, Dass du wieder gehst mit deinem Menalaos! 12
Er bezeichnet die Frau in Anlehnung an Goethe als „Prinzip unserer Energie“, Hektor und Hekuba entlarven diesen Schönheitsmythos jedoch als Ideal impotenter Greise: Hector: Et la vieillesse de Troie en est à la beauté et à l’amour? Hécube: C’est dans l’ordre. Ce ne sont pas ceux qui font l’amour ou ceux qui sont la beauté qui ont à les comprendre. Hektor: Bleiben also nur noch die trojanischen Greise als Experten in Dingen der Schönheit und der Liebe? Hekuba: Natürlich. Denn wer noch die Kraft hat zu lieben oder wer die Schönheit hat, dem obliegt es nicht zu erläutern, was Liebe und Schönheit ist. 13
Andromache, die Frau Hektors, beschwört, da der Krieg nicht mehr zu vermeiden zu sein scheint, Helena, Paris wenigstens aufrichtig zu lieben, da so der Krieg durch ihre große Liebe gerechtfertigt sei. Helena entgegnet ihr antiromantisch: Hélène: L’aimantation, c’est aussi un amour, autant que la promiscuité. C’est une passion autrement ancienne et féconde que celle qui s’exprime par les yeux rougis
11 Giraudoux, La Guerre de Troie n’aura pas lieu, S. 43; eigene Übersetzung, weil hier ungenau. 12 Giraudoux, La Guerre de Troie n’aura pas lieu, S. 61; Ders., Kein Krieg in Troja, S. 30, dazu eigene Übersetzung, weil hier ungenau. 13 Giraudoux, La Guerre de Troie n’aura pas lieu, S. 43; Ders., Kein Krieg in Troja, S. 22.
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de pleurs ou se manifeste par le frottement. Je suis aussi à l’aise dans cet amour qu’une étoile dans sa constellation. J’y gravite, j’y scintille, c’est ma façon à moi de respirer et d’étreindre. [. . . ] Qu’est-ce qu’il va devenir, si j’y verse la jalousie, la tendresse et l’inquiétude! Le monde est déjà si nerveux: voyez vous-même! Der Magnetismus 14 ist auch Liebe, so gut wie die Promiskuität. Er ist älter und ergiebiger als jene Liebe, bei der man mit verweinten Augen herumgeht und nicht voneinander lassen kann. Ich fühle mich in meiner Liebe so heimisch wie ein Stern in seiner Bahn, in ihr kreise ich, in ihr erstrahle ich, es ist meine Art zu atmen und zu umarmen. [. . . ] Was soll aus einer Liebe wie der meinigen werden, wenn sich Eifersucht, Zärtlichkeit, seelische Erschütterung einmischten? Die Welt hat ohnedies so schlechte Nerven: Sieh dich an! 15
Helena gefällt sich in der Rolle einer Projektionsfläche für männliche Begierden. Sie genießt die voyeuristischen Blicke ihrer Umgebung. Menschen, die sich ihr unterwerfen, verachtet sie, und somit kann sie als Spielart der femme fatale gelten. Insofern verkennt sie in charakteristischer Weise ihre eigene sozial zerstörerische Rolle, wenn sie ihre Art zu lieben als gute Alternative zur hysterischen romantischen Liebe stilisiert. Interessant ist die Verarbeitung der Europa-Asien-Dichotomie in den Dramen. Beide enthalten eine implizite Orientalismus-Kritik im Sinne Edward Saids avant la lettre. Kochanowski durchaus ernsthaft, denn Iketaon unterstellt den Griechen in seiner populistischen Rhetorik eine orientalistische Haltung gegenüber dem asiatischen Troja: Dawny´c to grecki tytuł pany si˛e mianowa´c, A nas, barbaros, sługi. Alt ist der Griechen Brauch, sich Herren zu nennen und uns „barbaros“, Knechte. 16
Giraudoux bleibt auch hier seinem Sarkasmus treu: Pâris: Oh! Ce n’est pas le type de femme d’ici, évidemment. Cassandre: Quel est le type de femme d’ici? Pâris: Le tien, chère sœur. Un type effroyablement peu distant. Cassandre: Ta Grecque est distante en amour? Pâris: Écoute parler nos vierges! . . . Tu sais parfaitement ce que je veux dire. J’ai assez des femmes asiatiques. Leurs étreintes sont de la glu, leurs baisers des effractions, leurs paroles de la déglutition. À mesure qu’elles se déshabillent, elles ont l’air de revêtir un vêtement plus chamarré que tous les autres, la nudité, et
14 Das Wortspiel mit der Liebes-Etymologie von „aimantation“, die hier eine rein erotische Anziehungskraft suggeriert, ist unübersetzbar. 15 Giraudoux, La Guerre de Troie n’aura pas lieu, S. 136; Ders., Kein Krieg in Troja, S. 62– 63. 16 Kochanowski, Dzieła polskie, Zeile 322; Ders., Ausgewählte Dichtungen, S. 90.
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aussi, avec leurs fards, de vouloir se décalquer sur nous. Et elles se décalquent. Bref, on est terriblement avec elles. . . Paris: Oh! Der hiesige Frauentyp ist sie [Helena] freilich nicht. Kassandra: Welches ist der hiesige Frauentyp? Paris: Der deine, liebe Schwester. Ein Typ mit schrecklich wenig Distanz. Kassandra: Hält deine Griechin Distanz in der Liebe? Paris: Ich habe genug von asiatischen Frauen. Ihre Umarmungen kleben; ihre Küsse sind Einbrüche, ihre Worte ebenso viele Schluckbewegungen, um uns zu verschlingen. Wenn sie sich entkleiden, ist es, als ob sie ein Gewand anlegten, das noch überladener ist als alle anderen: nämlich ihre Nacktheit; und ihre Schminke scheint nur dazu da zu sein, damit sie auf uns abfärbt – und sie tut es auch. . . Kurz und gut: man ist ihnen entsetzlich nahe. . . 17
Er kann aber auch ganz direkte Kritik anbringen: Hécube: Chacque peuple remise son symbole dans sa femme, qu’ellesoit camuse ou lippue. Il n’y a que vous pour aller le loger ailleurs. Hekuba: Jedes Volk erhebt die eigene Frau zum Symbol seiner Wesensart. Selbst wenn ihre Nase platt und ihre Lippen wulstig sind. Ihr seid die einzigen, die ihr Symbol woanders suchen. 18
Während also Kochanowski den Herrenmenschen-Gestus der Europäer gegenüber den Asiaten bloßlegt, profiliert Giraudoux die Selbstkolonialisierung Asiens, das in der Gestalt Helenas eine Europäerin zu seinem Ideal erhebt. 19 In dieser Differenz liegt der verborgene orientalistische Kern der Kriegsschuldfrage in den beiden Dramen. Ist bei Kochanowski deutlich der Kolonialismus der Griechen schuld, so wird bei Giraudoux die Selbstkolonialisierung Trojas im letztlich ja gescheiterten Raub der Helena augenfällig. Europäertum ist bei ihm nur um den Preis der kolonialen Unterwerfung zu haben, einfach rauben kann man es nicht. Die kulturelle Selbstkolonialisierung kommt zuerst, die politische Kolonialisierung folgt ihr auf dem Fuße. Die Nachgeschichte, d. h. der Untergang Trojas wird bei Giraudoux wie bei Kochanowski durch Mauerschau und Botenbericht importiert. Giraudoux setzt diese Mittel auch in ironischer Entblößung des Verfahrens ein, indem er zusätzlich zum Botenbericht „Militärmusik der Griechen“ ertönen lässt. Beide verwenden, um die Grenzen der Handlungsgegenwart zu sprengen, außerdem Kassandras Zukunftsvisionen. Giraudoux macht zusätzlich auch Helena zur 17 Giraudoux, La Guerre de Troie n’aura pas lieu, S. 31; Ders., Kein Krieg in Troja, S. 15–16. 18 Giraudoux, La Guerre de Troie n’aura pas lieu, S. 45; eigene Übersetzung, da hier fehlerhaft. 19 Zur Selbstkolonialisierung vgl. Alexander Kiossev, The Self-Colonizing Metaphor, in: Atlas of Transformation, http://monumenttotransformation.org/atlas-of-transformation/html/s/self-colonization/the-self-colonizing-metaphor-alexander-kiossev.html [letzter Zugriff: 12. 02. 2020].
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unfreiwilligen Visionärin. Personen, die im Krieg sterben werden, verblassen für ihren Blick ebenso wie Figuren, die für sie persönlich keine Rolle mehr spielen. Letzteres gilt z. B. für ihren Ehemann Menelaos ebenso wie für Paris, ersteres für Hektor samt Frau und Kind. So wird Egozentrik ironisch zu visionärer Kraft umgedeutet. Zusätzlich verwendet Giraudoux ein sehr symbolistisches Mittel, um das Ringen um Krieg oder Frieden zu veranschaulichen: die Pforten des Krieges sollen sich schließen und schließen sich auch kurzzeitig, mit kräftiger Unterstützung der Toten, die keinen Krieg mehr wollen, doch das Stück endet damit, dass sie sich wieder öffnen. Dass der Raub Helenas für die Griechen tatsächlich nur ein willkommener Vorwand für einen Eroberungskrieg ist, erleben wir bei Kochanowski im Gewand der Rhetorik Iketaons: Nigdy w swojej mierze Chciwo´sc´ władze nie stoi; zaw˙zdy, jako powód´z, Pomyka swoich granic nieznacznie, a˙z potym Wszytki pola zaleje. Za czasu, panowie, Umyka´c rogów trzeba, bo wonczas ju˙z pró˙zno Miota´c si˛e, kiedy jarzmo na szyj˛e zało˙za. ˛ Sprawiedliwo´sci prosza, ˛ a gro˙za˛ nam wojna: ˛ Daj, chceszli, albo´c wydr˛e, taka to jest prosto. Die Habgier kennt weder Zügel noch Maß. Unmerklich klettert sie die Dämme hinauf; Bis sie zu guter Letzt, gleich einer Überschwemmung, Feld und Flur überflutet; beizeiten ihr Herrn, Heißsts die Köpfe einziehn, denn zu spät kommt das Sträuben, Hat man dir schon die Fessel um den Hals gelegt. Gerechtigkeit verlangen sie und drohen mit Krieg: Gib es freiwillig her oder ich nehm’s mit Gewalt. 20
Giraudoux demonstriert die Haltung der Griechen dagegen mit einer großen Portion Sarkasmus. Ein „Spezialist in Völkerrecht“ erläutert verschiedene – ganz offensichtlich lächerliche – Provokationen der Griechen anderen Stadtstaaten gegenüber, die Kriegserklärungen von Seiten ihrer Gegner nach sich zogen, was immer mit deren vollständiger Vernichtung endete. Gleichwohl verhandeln die Unterhändler Griechenlands bei Giraudoux anscheinend nicht aus einer Position der Stärke heraus. Die Position der Griechen erscheint bei ihm zutiefst ambivalent. Während Ajax zunächst als Haudrauf gestaltet ist, der überall Streit sucht und keine Gelegenheit auslässt, die Trojaner zu beleidigen, erscheint Ulysses als nicht nur wie bei Kochanowski sprichwörtlich klug, sondern als geradezu weise. Giraudoux deutet hier einen Dissens an, den wir auch auf Seiten der Trojaner finden: Odysseus
20 Kochanowski, Dzieła polskie, Zeile 312–318; Ders., Ausgewählte Dichtungen, S. 90.
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bei den Griechen und Hektor bei den Trojanern sind von der Sinnlosigkeit des Krieges und von der Notwendigkeit, ihn zu vermeiden, überzeugt, während hinter ihnen die Volksmassen drängen, sich in diesen Krieg zu stürzen. Doch während Ajax am Ende seine aristokratische Standessolidarität mit den griechischen Heroen über seine Angriffslust siegen lässt und „die Geschichte beizulegen“ („arranger l’histoire“, im Original schön doppeldeutig im Sinne von Geschichtsklittierung) verspricht, schürt auf trojanischer Seite der Dichter Demokos den Volkszorn. Wenn wir Giraudoux’ Demokos mit Kochanowskis Iketaon vergleichen, dann ähneln sie sich in ihrer Demagogie für den unbeugsamen Stolz Trojas und damit für den Krieg. Sehr verschieden ist jedoch ihre Argumentation. Iketaon sieht in der Rückforderung von Helena nur einen Vorwand der Griechen, während es für Demokos tatsächlich um Helena zu gehen scheint. Helena zu behalten, stellt also nach Demokos für Troja einen Wert dar, für den es sich lohnt, Krieg zu führen. Giraudoux’ Bild von der Demagogie des Demokos ist selbst für seine eigene Zeit zukunftsweisend, denn sie ist postmodern. Nach der Moderne gibt es keine realen Kriegsgründe mehr, sondern nur noch Symbole, Images, die die Menschen mobilisieren, damit sie dem Krieg zustimmen. Diese Strategie des Demokos, die auch seinen sprechenden Namen erklärt, reicht jedoch angesichts des bis zur Selbstverleugnung diplomatischen und zu allen Mitteln der Kriegsverhinderung entschlossenen Hektor letztlich nicht aus. Paradoxerweise, doch ganz im Einklang mit der Logik der griechischen Tragödie löst Hektor den Krieg am Ende selbst aus, indem er ihn verhindern will: er tötet Demokos, doch der schiebt den Mord sterbend dem Ajax in die Schuhe. Mit dem vermeintlichen Mord des Ajax an Demokos, der sofort durch die Tötung des Ajax durch das aufgebrachte Volk „gerächt“ wird, wird der Ausbruch des Krieges unvermeidlich. Anders als in der klassischen griechischen Tragödie stellt sich hier jedoch erneut, wie bei Kochanowski, die Frage, ob die Option, den Krieg zu verhindern, überhaupt real gewesen ist. Anlass für die Tötung des Demokos war ja dessen hemmungslose Kriegspropaganda: Demokos: Quelle est cette lâcheté? Tu rends Hélène? Troyens, aux armes! On nous trahit. . . Rassemblez-vous. . . Et votre chant de guerre est prêt! Ecoutez votre chant de guerre! Demokos: Was ist das für eine Feigheit? Du gibst Helena zurück? Trojaner, zu den Waffen! Man verrät uns. . . Sammelt euch. . . Hört mein Kriegslied für euch! 21
Das pazifistische aristokratische Troja sitzt wie das pazifistische intellektuelle Frankreich der dreißiger Jahre in der Kriegsfalle. Giraudoux, der längere Zeit in Deutschland gelebt und enge Verbindungen zum intellektuellen wie zum aristokratischen Deutschland hatte, sieht Europa den Demagogen ausgeliefert. 21 Giraudoux, La Guerre de Troie n’aura pas lieu, S. 185; eigene Übersetzung, da hier fehlerhaft.
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Kriegsgründe werden von ihnen herbeigelogen, wenn die Mythen alleine nicht ausreichen, um das Volk zum Krieg anzustacheln. Bei Giraudoux drehen sich die Dialoge der Figuren um Mythen, die zu Klischees geworden sind: das Ewig-Weibliche, die Schönheit, der kriegerische Furor, der Heldentod. Helena als Projektionsfläche für die Imagination der Massen ist es, was das Private zum Gegenstand öffentlichen Interesses macht. In der Renaissance bestehen die Konflikte dagegen zwischen privaten und öffentlichen Interessen und werden offen ausgetragen. In Kochanowskis Renaissancepoetik dominiert darum der offene rhetorische Schlagabtausch, direkt auf der Bühne und, wenn das nicht geht, im Botenbericht verpackt. Die Kunst der Zuspitzung des Konflikts im offenen rhetorischen Zweikampf zeigt Kochanowski gleich im ersten Dialog des Dramas, dem Schlagabtausch zwischen Antenor und Alexander (Paris): Aleksander Jako mi niemal wszyscy obiecali, Cny Antenorze, prosz˛e, i ty sprawie Mej bad´ ˛ z przychylnym przeciw posłom greckim. Antenor A ja z ch˛ecia˛ rad, zacny królewicze, Cokolwiek b˛edzie sprawiedliwo´sc´ niosła I dobre rzeczypospolitej naszej.
Wie mir fast alle Beistand versprachen, edler Antenor, bitt ich, dass auch du meine Sache den griechischen Gesandten gegenüber vertrittst. O edler Prinz, mit Vergnügen tu ich, was immer die Gerechtigkeit gebietet und Rücksicht auf das Wohl unserer Republik.
Aleksander Wymówki nie masz, gdy przyjaciel prosi.
Ausflüchte gibt’s nicht, wenn der Freund bittet.
Antenor Przyzwalam, kiedy o słuszna˛ rzecz prosi.
Gewiss, wenn er um Redliches mich bittet.
Aleksander Obcemu wi˛ecej z˙yczy´c ni´zli swemu Co´s niedaleko zda si˛e od zazdro´sci. Antenor Przyjacielowi wi˛ecej ni´zli prawdzie Chcie´c słu˙zy´c zda si˛e przeciw przystojno´sci. Aleksander R˛eka umywa r˛ek˛e, noga nogi
Dem Fremden gönnen, was man dem Freund nicht gönnt: Das scheint mir nicht sehr weit von Missgunst. Dem Freund mehr dienen wollen als der Wahrheit: Das scheint mir gegen jeden Anstand.
Hand wäscht die Hand, Fuß stützt den Fuß.
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Wspiera, przyjaciel port przyjacielowi. Antenor Wielki przyjaciel przystojno´sc´: ta˛ sobie Rozkaza´c słu˙zy´c nie jest przyjacielska. Aleksander W potrzebie, mówia,˛ dozna´c przyjaciela. Antenor I to´c potrzeba, gdzie sumnienie płaci.
27 Der Freund ist dem Freund ein Zufluchtshafen. Die große Freundin Würde der Selbstsucht dienen zu lassen – ist das denn freundschaftlich? In Nöten, heißt es, lernt man Freunde kennen. Doch niemals dann, wenn das Gewissen draufzahlt.
Aleksander Pi˛ekne sumnienie: sta´c przy przyjacielu.
Schönes Gewissen: Freunden beigestanden.
Antenor Jeszcze pi˛ekniejsze: zostawa´c przy prawdzie.
Noch schöner: der Wahrheit beizustehn.
Aleksander Grekom pomaga´c to u ciebie prawda. Antenor Grek u mnie ka˙zdy, kto ma sprawiedliwa.˛ Aleksander Widz˛e, z˙eby´s mnie ty pr˛edko osadził. ˛ Antenor Swoje sumnienie ka˙zdego ma sadzi´ ˛ c. Aleksander Zna´c, z˙e u ciebie gospoda˛ posłowie.
Den Griechen helfen heißt der Wahrheit dienen? Grieche, nicht Grieche, es gilt die Redlichkeit. Du hast mich, seh ich, eilig abgeurteilt. Es richte jeden das eigene Gewissen. Man merkt, dass die Gesandten bei dir wohnen.
Antenor Wszystkim u´cciwym dom mój otworzony.
Jedem Rechtschaffnen steht mein Haus geöffnet.
Aleksander A zwłaszcza, kto nie z pró˙znymi r˛ekoma.
Vor allem denen, die Geschenke bringen.
Antenor Trzeba mi bowiem s˛edziom na podarki, Bom cudza˛ z˙on˛e wział ˛ , o która˛ czynia.˛
Geschenke brauch ich freilich für die Richter, Weil sie um meine neue Frau verhandeln.
Matthias Freise
28 Aleksander Nie wiem o z˙on˛e, ale dobry bierzesz, Od Greków zwłaszcza; moje na ci˛e małe. Antenor I z˙on, i cudzych darów nierad bior˛e. Ty, jako z˙ywiesz, tak, widz˛e, i mówisz Niepow´sciagliwie; ˛ nie mam z toba˛ sprawy. Aleksander I mnie z˙al, z˙em ci˛e o co kiedy prosił,
Mir unbekannt. Geschenke empfängst du Am liebsten von den Griechen. Meine sind zu gering. Fremde Gaben und Frauen nehm ich ungern. Du aber sprichst so zügellos, wie du lebst; verschone mich, hab mit dir nichts zu schaffen.
Ufam swym bogom, z˙e i krom twej łaski Najd˛e, kto rzeczy mych podpiera´c b˛edzie.
Auch mir tuts leid, dass ich dich hab gebeten. Den Göttern vertrau ich, dass ich ohn dein Zutun Genügend Leute finde, die mir beistehn.
Antenor Taki, jaki´s sam.
Solche wie du.
Aleksander Da Bóg, człek po´cciwy.
Geb Gott, redliche Männer. 22
Dieser hoch rhetorische Schlagabtausch ist als kunstvolle Stichomythie gestaltet. Die Repliken beginnen dreizeilig, doch in dem Maße, in dem sich der Konflikt zuspitzt, werden sie zwei- und schließlich einzeilig. Dann werden die Repliken wieder länger: die Unmöglichkeit einer Verständigung wird offensichtlich, beide geben nur noch Statements ab. Zwar hat Alexander das pointierte letzte Wort, doch geht der Punktsieg in diesem Schlagabtausch an den redlichen Staatsmann Antenor. Das Parlament entscheidet dennoch anders, da die Stimme der Vernunft letztlich der Stimme, die Emotionen schürt, unterliegt. Es siegt dabei nicht das Private über das Öffentliche, sondern die private Angelegenheit Alexanders wird zur öffentlichen Sache deklariert, zur Staatsraison. Dies gilt auch für Giraudoux. Darum spielt Alexander (Paris) in beiden Stücken nur eine Nebenrolle. Der eigentliche Konflikt besteht in beiden Fällen zwischen der Vernunft des Einzelnen – bei Kochanowski Antenor, bei Giraudoux Hektor – und den Emotionen der Massen. Damit befinden wir uns in beiden Fällen in einer spiegelbildlich umgekehrten Situation im Vergleich
22 Kochanowski, Dzieła polskie, Zeile 30–67; Ders., Ausgewählte Dichtungen, S. 81–83. Am Schluss ist die Übersetzung von Bereska ungenau, denn er übersetzt den Singular „człek“, mit dem Aleksander negativ auf Antenor anspielt, mit dem Plural „Männer“.
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zur Romantik, wo der allgemeinen Vernunft das individuelle Gefühl gegenübergestellt wurde. Bei allen stilistischen Unterschieden – der Ernsthaftigkeit der Rede bei Kochanowski und dem an eine Farce grenzenden Sarkasmus bei Giraudoux – stehen sich Renaissance und 20. Jahrhundert in dieser Hinsicht erstaunlich nahe. Giraudoux und Kochanowski sehen darum beide in der Episode aus der Vorgeschichte des Trojanischen Krieges mehr als ein Lehrstück der Diplomatie bzw. ihres Scheiterns. Sie legen in diese politische Situation das Dilemma des Intellektuellen – hier Antenor, dort Hektor. Beide können klarer als die visionäre Kassandra die faktischen Konsequenzen der fatalen politischen Entwicklung einschätzen, aber sie können diese Konsequenzen nicht verhindern, denn ihre Situation ist angesichts des Kriegsgeschreis ausweglos. Alle politische Klugheit Antenors vermag nichts auszurichten gegen die Demagogie Iketaons, sein Punktsieg im rhetorischen Schlagabtausch mit Alexander (Paris) bleibt folgenlos. Hektor verhält sich bis zur Selbstverleugnung deeskalierend, doch gegen die Demagogie des Demokos hilft dies nicht. Beide fügen sich am Ende der letzten verbleibenden Option – in den Krieg zu ziehen.
Hans-Harald Müller (Universität Hamburg)
Zum Roman des Ersten Weltkriegs „Das Thema der Kriegsdarstellung hat in den letzten Jahren in den Literatur-, Kultur- und Medienwissenschaften, aber auch ganz allgemein erheblich an Bedeutung gewonnen“, 1 heißt es 2013 in einer Untersuchung über die emotionalen Affekte von Kriegsdarstellungen. Nicht erst in den letzten Jahren. Spätestens seit den 1990er Jahren hat die Umorientierung in den Geisteswissenschaften zur Kulturwissenschaft und Kulturgeschichte auch die Literaturwissenschaft erfasst und für eine neue Dynamik auch im Bereich der Kriegsliteraturforschung gesorgt. 2 Dafür zu Beginn nur ein markantes Indiz: Seit 1989 gibt es die vom Erich Maria Remarque-Friedenszentrum in Osnabrück herausgegebene Zeitschrift (seit 1995 das Jahrbuch) „Krieg und Literatur. War and Literature“, die seit ihrer Gründung Impulse zur Erforschung der Kriegsbilder in Literatur, Theater, Photographie, Film und anderen Medien gibt, einschlägige Forschungsergebnisse aus den verschiedensten Disziplinen und Ländern publiziert und – last but not least – eine periodische Bibliografie. Der Leiter der Forschungsstelle, Thomas F. Schneider, hat nicht allein zahlreiche Arbeiten zu Remarque veröffentlicht, 3 sondern bereits 1999 ein dreibändiges Sammelwerk über „Das Bild des ‚modernen‘ Krieges in Literatur, Theater, Photographie und Film“ herausgegeben, das den Forschungsstand der Zeit zusammenzufassen suchte. 4 2015 erschien in den „Schriften des Erich Maria Remarque-Archivs“ der Sammelband „Materialschlachten. Der Erste Weltkrieg und seine Darstellungsressourcen in Literatur, Publizistik und populären Medien 1899–1929“. 5
1 Jan Süselbeck, Emotionale Effekte literarischer und audiovisueller Kriegsdarstellungen vom 19. bis zum 21. Jahrhundert, Göttingen 2013, S. 17. 2 Die Militärgeschichte des Krieges, die sich verstärkt zu einer Sozial-, Mentalitäts-, Alltags- und Erfahrungsgeschichte des Krieges umorientierte, bietet Anregungen für die Literaturwissenschaft, die diese bislang kaum berücksichtigt hat. Zur Einführung vgl. Thomas Kühne / Benjamin Ziemann, Was ist Militärgeschichte?, Paderborn 2000. 3 Vgl. dazu die Angaben in Claudia Glunz / Thomas F. Schneider (Hg.), Remarque-Forschung 1930–2010. Ein bibliographischer Bericht, Osnabrück 2010. 4 Vgl. dazu Thomas F. Schneider (Hg.), Kriegserlebnis und Legendenbildung. Das Bild des „modernen“ Krieges in Literatur, Theater, Photographie und Film, Bd. 1: Vor dem Ersten Weltkrieg, Osnabrück 1999; Thomas F. Schneider / Hans Wagener (Hg.), Von Richthofen bis Remarque: Deutschsprachige Prosa zum 1. Weltkrieg, Amsterdam 2003. 5 Christian Meierhofer / Jens Wörner (Hg.), Materialschlachten. Der Erste Weltkrieg und seine Darstellungsressourcen in Literatur, Publizistik und populären Medien 1899– 1929, Göttingen 2015.
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Ein – spätestens seit der Wende zum 21. Jahrhundert festzustellendes – charakteristisches Merkmal der Forschung zur Kriegsliteratur ist, dass sie meist in Aufsatzform in Sammelbänden oder – seltener – in Zeitschriften erscheint; kompakte monografische Arbeiten zu einzelnen Autoren, Themen oder gar zur Geschichte der Kriegsliteratur sind eher selten. Komplementär zu der auf diese Weise entstehenden Unübersichtlichkeit tritt ein, was man die „Verhandbuchung“ der Forschungsergebnisse nennen könnte, die dem Bedürfnis nach Zusammenfassung des zersplitterten Wissens Rechnung tragen will. So gibt es etwa seit 1994 ein Handbuch zum Ersten Weltkrieg, das über „Wirkung, Wahrnehmung, Analyse“ 6 informiert, seit 2002 ein Handbuch über den Vergleich „Erster Weltkrieg – Zweiter Weltkrieg“ im Hinblick auf „Krieg, Kriegserlebnis, Kriegserfahrung in Deutschland“; 7 seit 2002 die „Enzyklopädie Erster Weltkrieg“, 8 deren Schwergewicht auf der Gesellschaft im Krieg liegt, und seit 2014 ein „Kulturwissenschaftliches Handbuch“, 9 das die Geschichte des Ersten Weltkriegs unter kulturgeschichtlichen Aspekten umfassend untersucht. Allein über Ernst Jünger gibt es inzwischen drei Handbücher, wenngleich nur eines sich explizit so nennt. 10 Einen Zugang zum Thema dieser Handbücher 11 eröffnet seit 2017 ein weiteres nützliches Handbuch in der Reihe „Zugänge zur Geschichte“. Es trägt den Titel „Wege in den Ersten Weltkrieg“ 12 und führt recht didaktisch in die Forschung ein. Nach diesen Hinweisen überspringe ich die enzyklopädischen Informationen, die das Internet zum Ersten Weltkrieg 13 bietet und wende mich einigen leitenden Aspekten der Forschung selbst zu. Entscheidend für die Neuorientierung der historischen und literarhistorischen Forschung zum Ersten Weltkrieg und seinen Folgen war der eingangs erwähnte cultural turn in den Geistes- und Sozialwissenschaften, in dessen Verlauf die Geschichtswissenschaft sich von einer Struktur- und Sozialgeschichte zu einer Alltags- und Mentalitätsgeschichte, die Militärgeschichte zu einer
6 Vgl. Wolfgang Michalka (Hg.), Der Erste Weltkrieg: Wirkung, Wahrnehmung, Analyse, München 1994. 7 Vgl. Bruno Thoß / Hans-Erich Volkmann (Hg.), Erster Weltkrieg – Zweiter Weltkrieg. Ein Vergleich. Krieg, Kriegserlebnis, Kriegserfahrung in Deutschland, Paderborn 2002. 8 Vgl. Gerhard Hirschfeld u. a. (Hg.), Kriegserfahrungen. Studien zur Sozial- und Mentalitätsgeschichte des Ersten Weltkriegs, Essen 1997. 9 Vgl. Niels Werber u. a. (Hg.), Erster Weltkrieg. Kulturwissenschaftliches Handbuch, Stuttgart 2014; dort vor allem den Beitrag von Lars Koch, Der Erste Weltkrieg als kulturelle Katharsis und literarisches Ereignis, S. 97–142. 10 Vgl. Matthias Schöning (Hg.), Ernst Jünger-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2014; Lutz Hagestedt (Hg.), Ernst Jünger. Politik – Mythos – Kunst, Berlin 2004; ˙ Natalia Zarska u. a. (Hg.), Ernst Jünger – eine Bilanz, Leipzig 2010. 11 Vgl. auch Roger Chickering u. a. (Hg.), War and the Modern World, Cambridge 2012. 12 Vgl. Armin Heinen, Wege in den Ersten Weltkrieg, Berlin 2017. 13 Vgl. dazu die nützlichen Informationen ebd., S. 29–40.
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Kulturgeschichte des Ersten Weltkriegs 14 wandelte, die sich „nicht nur mit der totalen Medialisierung des Kriegsgeschehens in seiner Zeit, sondern auch mit der Metamorphose seiner Auslegung“ 15 beschäftigt. 16 In den Vordergrund des Forschungsinteresses rückten nunmehr Untersuchungen zu den Wahrnehmungen, Deutungen, Erfahrungen, Erinnerungen 17 und zum „kulturellen Gedächtnis“ des Krieges. Von den zahllosen historischen Arbeiten, die sich mit diesen Aspekten beschäftigen, möchte ich nur zwei hervorheben, die für die Literaturgeschichte von besonderer Bedeutung sind. Zum einen Julia Enckes Arbeit „Augenblicke der Gefahr. Der Krieg und die Sinne“, 18 die minutiös die veränderten Bedingungen und Formen der optischen und akustischen Sinneswahrnehmung und deren mediale Repräsentation in Fotografie und Schallaufzeichnungen im Ersten Weltkrieg anhand von Notizen, Tagebuchaufzeichnungen und Sammlungen (insbesondere Ernst Jüngers) untersucht. Zum anderen Susanne Brandts Arbeit „Vom Kriegsschauplatz zum Gedächtnis: Die Westfront 1914–1940“, 19 die anhand von Aufzeichnungen und Fotos die Westfront als alltäglichen Erfahrungsraum zwischen 1914 und 1918 zu rekonstruieren sucht und diesen Erfahrungsraum kontrastiert mit den Modalitäten und Strategien der Transformation des Kriegsschauplatzes in einen Gedächtnisraum, wobei sie den Blick auf Friedhöfe, Kriegsgräberfürsorge, Trauerrituale ebenso richtet wie (ausschnittsweise) auf Literatur und Film. An diese Arbeiten haben sich zahlreiche Untersuchungen konzeptionell angeschlossen. In den Untersuchungen zum Kriegsroman der Weimarer Republik selbst hat der cultural turn, wenn ich richtig sehe, bislang nur geringe Wirkungen 14 Vgl. dazu etwa Kühne / Ziemann; Gerhard Hirschfeld / Gerd Krumeich, Wozu eine „Kulturgeschichte“ des Ersten Weltkriegs?, in: Arnd Bauerkämper / Elise Julien, Durchhalten! Krieg und Gesellschaft im Vergleich 1914–1918, Göttingen 2010, S. 31–53; Bernd Hüppauf, Was ist Krieg? Zur Grundlegung einer Kulturgeschichte des Kriegs, Bielefeld 2013. 15 Bernd Weisbrod, Die Politik der Repräsentation. Das Erbe des Ersten Weltkriegs und der Formwandel der Politik in Europa, in: Hans Mommsen (Hg.), Der Erste Weltkrieg und die europäische Nachkriegsordnung. Sozialer Wandel und Formveränderung der Politik, Köln 2000, S. 13–43, hier S. 23. 16 Zu den „Vorläufern“ des cultural turn gehören aus den USA die Arbeiten von Paul Fussell, The Great War and Modern Memory, New York 1975 und Eric John Leed, No Man’s Land. Combat and Identity in World War I, Cambridge 1979; in Deutschland – Klaus Vondung (Hg.), Kriegserlebnis. Der Erste Weltkrieg in der literarischen Gestaltung und symbolischen Deutung der Nationen, Göttingen 1980 und Bernd Hüppauf (Hg.), Ansichten vom Krieg. Vergleichende Studien zum Ersten Weltkrieg in Literatur und Gesellschaft, Meisenheim 1984. 17 Zur Erinnerungskultur des Ersten Weltkriegs und zum Kriegsroman als „Gedächtnisroman“ vgl. Astrid Erll, Gedächtnisromane. Literatur über den Ersten Weltkrieg als Medium englischer und deutscher Erinnerungskulturen in den 1920er Jahren, Trier 2003. 18 Julia Encke, Augenblicke der Gefahr. Der Krieg und die Sinne, München 2006. 19 Susanne Brandt, Vom Kriegsschauplatz zum Gedächtnisraum: Die Westfront 1914– 1940, Baden-Baden 2000.
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gezeitigt. 20 Hier wirkte er sich meist im Hinblick auf eine stärkere Berücksichtigung der Vorgeschichte und der Geschichte der Deutungsmuster in der Kriegsliteratur aus, Aspekte also, die schon in der Philologie und Ideengeschichte im Mittelpunkt standen und stehen. So hat Lars Koch etwa unter dem Titel „Der Erste Weltkrieg als Medium der Gegenmoderne“ die Werke von Walter Flex und Ernst Jünger vor dem Hintergrund des Zusammenbruchs der ganzheitlichen Sinnwelten der beiden Autoren im Weltkrieg untersucht und die Anstrengungen zur Kompensation dieses Sinnverlusts ausführlich dargestellt, die ich gerafft zitiere: Neben die Indienststellung des „warmen“ Deutungsmusters „Bildung und Kultur“ [bei Flex], das im Krieg die notwendige Voraussetzung einer „kulturellen Katharsis“ sah, tritt [bei Jünger] die Mobilmachung einer „kalten“ „Verhaltenslehre des Tötens“, die vorgibt, in der selektierenden Phasenangleichung soldatischen Tuns einen Habitus entwickeln zu können, der über den Krieg hinaus auch für die Bewältigung der Moderne insgesamt Geltung beanspruchen darf. 21
Die umfassendste Untersuchung, die diesem Ansatz folgt, ist, soweit ich sehe, Matthias Schönings Arbeit „Versprengte Gemeinschaft. Kriegsroman und intellektuelle Mobilmachung 1914–1933“. 22 Schönings Ausgangspunkt sind die „Ideen von 1914“, die, wie Jeffrey Verhey gezeigt hat, 23 keinesfalls alle Deutschen im „Augusterlebnis“ 1914 rauschhaft und kriegsbegeistert vereinten, sondern „eine von interessierter Seite verbreitete Konstruktion“ 24 waren, die gleichwohl zum wirkungsmächtigsten deutschen Deutungsnarrativ für den Ersten Weltkrieg wurden und, so behauptet Schöning, das „Bezugsproblem aller Kriegsromane der Weimarer Republik“ 25 blieben. Im Anschluss an eine sorgfältige Rekonstruktion des ideologischen Beziehungsgeflechts der „Ideen
20 Vgl. neuerdings Johannes Waßmer, Die neuen Zeiten im Westen und das ästhetische Niemandsland. Phänomenologie der Beschleunigung und Metaphysik der Geschichte in den Westfront-Romanen des Ersten Weltkriegs, Freiburg i.B. 2018. 21 Lars Koch, Der Erste Weltkrieg als Medium der Gegenmoderne. Zu den Werken von Walter Flex und Ernst Jünger, Würzburg 2006, S. 341. 22 Matthias Schöning, Versprengte Gemeinschaft. Kriegsroman und intellektuelle Mobilmachung in Deutschland 1914–1933, Göttingen 2009. 23 Vgl. Jeffrey Verhey, Der „Geist von 1914“ und die Erfindung der Volksgemeinschaft, übers. v. Jürgen Bauer und Edith Nerke, Hamburg 2000. Vgl. auch Wolfgang Kruse, Die Kriegsbegeisterung im Deutschen Reich zu Beginn des Ersten Weltkrieges. Entstehungszusammenhänge, Grenzen und ideologische Strukturen, in: Marcel van der Linden / Gottfried Merger (Hg.), Kriegsbegeisterung und mentale Kriegsvorbereitung. Interdisziplinäre Studien, Berlin 1991, S. 73–88. 24 Fazit von Verheys Arbeit bei Benjamin Ziemann, Die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg in den Milieukulturen der Weimarer Republik, in: Schneider, Kriegserlebnis und Legendenbildung, S. 249–270, hier S. 249. 25 Schöning, Versprengte Gemeinschaft, S. 130.
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von 1914“ 26 verfolgt Schöning Jüngers Reaktion auf den Zusammenbruch des Narrativs und Jüngers hartnäckig wiederholte Versuche, es durch ein haltbares Ideengebäude zu ersetzen. 27 Weniger gehaltvoll als die Jünger-Analyse sind die Ausführungen zum Kriegsroman der Weimarer Republik, der bei Schöning schon aus konzeptionellen Gründen schlecht wegkommt, weil er meist, wenn überhaupt, nur ex negativo an das Gemeinschaftserlebnis von 1914 anknüpft und lediglich nichtintegrative Gemeinschaftsbilder entwickelt. Schöning gelingt es jedoch abermals zu zeigen, dass die Kriegsliteratur der Weimarer Republik keine rückwärtsgewandte Erinnerungsliteratur ist, sondern stets einen auf die Gesellschaft der Gegenwart bezogenen Deutungsanspruch für dieses Kriegserlebnis formuliert. 28 Schließlich betont Schöning noch einmal, dass die immer wiederholten Rubrizierungen von „kriegsbejahender“ und „kriegsverneinender“ Literatur unserer Gegenwart mit denen der Weimarer Republik keinesfalls identisch sein müssen. Mein Rückblick auf die Forschungen zur Kriegsliteratur seit den 1980er Jahren sollte auf die gegenwärtige Forschungssituation nur hinführen – er beansprucht weder Repräsentativität noch irgendeine Art von Vollständigkeit. Es bleibt anzumerken, dass die Forschung auch unabhängig vom cultural turn fortgeschritten ist und auf verschiedenen Gebieten weiterführende Arbeiten hervorgebracht hat: weniger gehaltvoll zum Problem des literarischen Pazifismus 29 als zur Kriegsliteratur der nationalen und nationalsozialistischen Autoren; 30 besonders hervorzuheben ist hier die empirisch und kulturge-
26 Zum Deutungskontext des Narrativs vgl. auch Barbara Besslich, Wege in den Kulturkrieg. Zivilisationskritik in Deutschland 1890–1914, Darmstadt 2000. Reichhaltiges Material bietet auch Helmut Fries, Die große Katharsis. Der Erste Weltkrieg in der Sicht deutscher Dichter und Gelehrter, 2 Bde., Konstanz 1994 und 1995. 27 Vgl. Schöning, Versprengte Gemeinschaft, S. 155. Zu Schönings Rekonstruktion vgl. auch Eva Horn, Krieg und Krise. Zur anthropologischen Figur des Ersten Weltkriegs, in: Gerhart von Graevenitz (Hg.), Konzepte der Moderne, Stuttgart 1999, S. 633–656. 28 Vgl. dazu auch Matthias Schöning, Individuelle Erfahrung und soziale Adressierung. Bezugsprobleme des Kriegsromans der Weimarer Republik, in: Ulrich Bröckling u. a. (Hg.), Disziplinen des Lebens. Zwischen Anthropologie, Literatur und Politik, Tübingen 2004, S. 111–127, hier S. 113–114. 29 Vgl. dazu etwa Thorsten Bartz, „Allgegenwärtige Fronten“ – sozialistische und linke Kriegsromane in der Weimarer Republik 1918–1933. Motive, Funktionen und Positionen im Vergleich mit nationalistischen Romanen und Aufzeichnungen im Kontext einer kriegsliterarischen Debatte, Frankfurt a. M. 1997; Thomas Becker, Literarischer Protest und heimliche Affirmation. Das ästhetische Dilemma des Weimarer Antikriegsromans, Butzbach-Griedel 1994; Stefanie Stockhorst, Artikulationsmöglichkeiten von Kriegsgegnerschaft im pazifistischen Roman der Weimarer Republik. Zum Problem der heimlichen Affirmation bei Georg von der Vring und Erich Maria Remarque, in: Jahrbuch zur Kultur und Literatur der Weimarer Republik 12 (2008), S. 177–202. 30 Vgl. dazu etwa Ulrich Fröschle, „Radikal im Denken, aber schlapp im Handeln“? Franz Schauwecker: „Aufbruch der Nation“ (1929), in: Schneider / Wagener, S. 261–289; Jay W. Baird, Hitler’s War Poets. Literature and Politics in the Third Reich, Cambridge 2008;
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schichtlich gehaltvolle Monografie von Ulrich Fröschle über Friedrich Georg Jünger. 31 Die Menge einzelner Untersuchungen zu Romanen, Autoren, Aspekten der Kriegsliteratur ist kaum zu überschauen; woran es gebricht, sind kompakte gattungsübergreifende literarhistorisch verallgemeinernde Untersuchungen für die Zeit von 1914 bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs. 32 Im Folgenden werde ich dazu lediglich eine Skizze bieten können.
I Säkulare Ereignisse von der Bedeutung des Ersten Weltkriegs führen in der Kommunikation moderner Gesellschaften zur Entdifferenzierung etablierter Diskurstypen. Ein solcher entdifferenzierter Typ ist der im Folgenden untersuchte „Bewältigungsdiskurs“, in dem über Kriegserlebnis, Kriegserfahrung, Kriegsdarstellung, Kriegsdeutung und Kriegsvermächtnis des Ersten Weltkriegs verhandelt wurde – oft in Verbindung mit dem professionellen literarischen Diskurs, doch auch unabhängig von ihm. Der Bewältigungsdiskurs ist – ähnlich wie der „kulturkritische Diskurs“ im Kaiserreich – weder identisch mit dem professionellen literarischen noch mit dem politischen Diskurs, wenngleich er erhebliche politische Konsequenzen zeitigte. In den Augusttagen 1914 fielen die Grenzen zwischen den Diskursen. 33 Der Krieg dominierte die politische und militärische Berichterstattung, er beherrschte aber auch das Feuilleton. Das „Augusterlebnis“ suchte zunächst einen lyrischen Ausdruck. Zu Kriegsbeginn wurden alle Leser der Presse dazu aufgerufen, ihre Eindrücke, Gefühle und Erlebnisse während der ersten Kriegstage in Gedichtform zum Abdruck einzusenden. Kennzeichen für die Entdifferenzierung des einsetzenden Diskurses ist die Aufgabe der professionellen literaturkritischen Maßstäbe bei der Beurteilung von Kriegslyrik; ein Literaturkritiker dekretierte: „Man lasse jeden Anspruch auf Kunstwert beiseite und schaue ganz allein durch die Verse hindurch auf das ehrliche mutige Herz, das sich ebenso schüchtern wie stolz hinter den Worten verbirgt“. 34 Wert gelegt wurde nicht auf die literarische Gestaltung, sondern auf Unmittel-
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Gerd Krumeich, Zwischen soldatischem Nationalismus und NS-Ideologie. Werner Beumelburg und die Erzählung des Ersten Weltkriegs, in: Miriam Seidler / Johannes Waßmer (Hg.), Narrative des Ersten Weltkriegs, Frankfurt a. M. 2015, S. 217–235. Vgl. Ulrich Fröschle, Friedrich Georg Jünger und der „radikale Geist“. Eine Fallstudie zum literarischen Radikalismus der Zwischenkriegszeit, Dresden 2008. Einen Überblick gibt immerhin Lars Koch, Der Erste Weltkrieg als kulturelle Katharsis. Vgl. dazu Günter Häntzschel, Literatur und Pazifismus, in: Hans-Christoph v. Nayhauss / Norbert Honsza (Hg.), Im Dialog mit der interkulturellen Germanistik, Wrocław 1993, S. 61–68. Zit. nach: Alexander von Gleichen-Rußwurm, In eiserner Zeit, in: Das literarische Echo 17 (1914/15), Sp. 673–676, hier Sp. 673.
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barkeit, Echtheit, Authentizität des „Erlebnisses“. Entsprechend schlecht war die literarische Qualität. 35 Die – meist an der Lyrik des Krieges von 1870/71 orientierte 36 – lyrische Produktion des Kriegsbeginns nahm rasch stereotype Züge an und erwies sich insbesondere als ungeeignet zur Beschreibung und Verarbeitung der neuen Erfahrungen des Stellungskriegs: der Leere des Schlachtfelds, der Unsichtbarkeit des Gegners, des Lärms, der Zermürbung der Sinne und Nerven durch das Sperrfeuer usw. Aus diesen Gründen geriet die Dilettantenlyrik schon 1915 in Misskredit; angesichts der massenhaft im Felde geschriebenen dilettantischen Soldatenlyrik stellte ein Literaturkritiker die polemische Frage: „Wer verlangt denn überhaupt von einem Soldaten, daß er in solcher Lage dichtet? Man verlangt doch auch nicht von einem Redakteur, daß er auf der Redaktionsstube schießt“. 37 Ein ähnliches Schicksal wie die Lyrik hatten die faktischen Berichte über den Krieg in Prosa. Den Presse-Aufrufen vom August 1914 an die Soldaten: „Führt Tagebuch!“ wurde gefolgt, tagebuchartige Kriegsberichte, Feldpostbriefe, aber auch Kriegsnovellen wurden bis 1915 in großen Mengen abgedruckt; dann erlosch das Interesse allmählich, und in den letzten Kriegsjahren waren es lediglich die abenteuerlich aufgemachten Heldentaten, die auf das Interesse der Leserschaft stießen: Günter Plüschows „Abenteuer des Fliegers von Tsingtau“, Manfred von Richthofens „Der Rote Kampfflieger“ und andere. 38 In den Augusttagen des Jahres 1914 fielen aber nicht nur die Schranken zwischen dem literarischen und dem publizistischen, sondern auch die zwischen dem literarischen und politischen Diskurs. Schriftsteller, Wissenschaftler und Theologen standen bei der allgemeinen „Mobilmachung der Seelen“ mit den „Ideen von 1914“ an vorderster Front, ihr Ziel war eine Perpetuierung der Aufbruchsstimmung des August 1914 und „ein deutsches Alternativprogramm zur westlichen Idee einer demokratisch verfaßten Gesellschaft“. 39 Das Resultat solch ambitionierter Kriegsdeutungen war nicht eine Politisierung der Literatur, sondern eine Literarisierung der Politik; ihr Erfolg bestand darin, dass der kulturkritische Diskurs des wilhelminischen Bildungsbürgertums auf das Gebiet der Kriegsursachen und der Kriegsdeutungen übertragen wurde. 40 35 Vgl. Günter Häntzschel, Literatur und Krieg. Aspekte der Diskussion aus der Zeitschrift „Das literarische Echo“, in: Wolfgang J. Mommsen (Hg.), Kultur und Krieg. Die Rolle der Intellektuellen, Künstler und Schriftsteller im Ersten Weltkrieg, München 1996, S. 211. 36 Vgl. dazu Thomas Anz / Joseph Vogl (Hg.), Die Dichter und der Krieg, München 1982, S. 234. 37 Ferdinand von Hornstein, Die Armee des Kürschner, zit. nach: Das literarische Echo 17 (1914/15), Sp. 1060. 38 Vgl. dazu auch die detaillierten Angaben bei Koch, Der Erste Weltkrieg als kulturelle Katharsis, S. 113–114. 39 Wolfgang J. Mommsen, Bürgerliche Kultur und politische Ordnung, Frankfurt a. M. 2000, S. 180. 40 Vgl. dazu Besslich. Zu einzelnen Schriftstellern vgl. Uwe Schneider / Andreas Schumann (Hg.), Krieg der Geister. Erster Weltkrieg und literarische Moderne, Würzburg 2000.
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Dieser Transfer war für die Kriegsdeutungen bis in die Zeit des Nationalsozialismus außerordentlich folgenreich. Der Krieg sollte nach dieser theologisch und philosophisch imprägnierten Deutung die Erlösung bringen aus einer vom Ungeist des Materialismus und Individualismus besessenen Zeit, der Krieg hatte keine politischen, sondern geistig-seelische Ursachen und er wurde um geistiger Ziele willen geführt. Dieses metapolitische Deutungsmodell, 41 das strukturell aus einer apokalyptischen und einer Erlösungskomponente bestand, erwies sich als ungemein anpassungsfähig und auch iterativ verwendbar. Wenn das „Augusterlebnis“ von 1914 das Heil noch nicht gebracht hatte, dann konnte der Sieg im Weltkrieg es bringen, wenn aber nicht der Sieg, dann die Revolution, wenn wiederum nicht die Revolution, dann der Hitlerputsch, wenn nicht er, dann die Machtergreifung. Dieses Deutungsmodell 42 war auch nicht unmittelbar parteipolitisch besetzt und konnte für links- und rechtsradikale Deutungen des Weltkriegs verwendet werden. Pazifisten und Anarchisten erblickten in Niederlage und Revolution die gerechte Sühne für die Sünden des Materialismus in der Vorkriegszeit und im Krieg – und zugleich die notwendige Voraussetzung für jene Revolution des Geistes, die, so hoffte man, einst die friedliche Verbrüderung der Völker zur Folge haben würde. Die Fixierung auf dieses Deutungsmuster vermag zu erklären, weshalb viele Intellektuelle die Revolution von 1918 mit annähernd demselben Enthusiasmus feierten wie das Augusterlebnis 1914. 43 Ernst Jünger erblickte dann im Hitlerputsch die 1914 und 1918 ausgebliebene „Revolution“ der „Idee“; 44 der soldatische Nationalist Franz Schauwecker stellte seinem bekannten Kriegsroman „Aufbruch der Nation“ das Motto voran: „Wir mußten den Krieg verlieren, um die Nation zu gewinnen“. 45
II Der militärische Zusammenbruch des Kaiserreichs, der Sturz der Monarchie, die Novemberrevolution und der Versailler Vertrag schufen für die publizistische und literarische Bewältigung des Kriegserlebnisses grundsätzlich andere Voraussetzungen: die Zensur wurde aufgehoben, der Bewältigungsdiskurs differenzierte sich aus. Die zwischen 1914 und 1918 von der Zen-
41 Grundlegend dazu noch immer Klaus Vondung, Deutsche Apokalypse 1914, in: Ders., Das wilhelminische Bildungsbürgertum. Zur Sozialgeschichte seiner Ideen, Göttingen 1976, S. 153–171. 42 Vgl. dazu Schöning, Versprengte Gemeinschaft, S. 37–38. 43 Vgl. dazu Anz / Vogl, S. 243. 44 Vgl. Ernst Jünger, Revolution und Idee, in: Völkischer Beobachter 196 (1923), Unterhaltungsbeilage. 45 Vgl. Franz Schauwecker, Aufbruch der Nation, Berlin 1930, S. 5; Zitat im Romantext S. 403.
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sur verhinderte pazifistische Literatur 46 – meist expressionistische Lyrik und Prosa – erzielte keinen nennenswerten Durchbruch. Leonhard Franks Novellensammlung „Der Mensch ist gut“ erreichte Ende 1918 zwar eine Auflage von 80.000 Exemplaren, aber in den Kämpfen der Nachkriegszeit stießen die Ideen einer Revolution des Geistes und der Liebe auf wenig Resonanz. Ernst Weiß resümierte nüchtern: „Der Mensch ist gut: zu allem“. 47 Den Hauptanteil an der bis zur Stabilisierung der Weimarer Republik entstandenen Literatur über den Ersten Weltkrieg machte nicht die fiktionale Literatur, sondern die militärischen und politischen Rechtfertigungsschriften aus, die von Offizieren verschiedener Ränge und Waffengattungen verfasst worden waren. Diese Schriften wurden in den anhaltenden publizistischen Debatten nach Kriegsende mit dem Vorwurf konfrontiert, dass ihre Verfasser die Verantwortung für den militärischen und politischen Zusammenbruch des Kaiserreichs trügen. Innerhalb dieser Rechtfertigungsliteratur sind die Memoiren höherer Offiziere aus dem Generalstab von den Berichten subalterner Frontoffiziere zu unterscheiden. Die Memoiren der Generale und Generalstabsoffiziere 48 – zu den bekanntesten zählen die von Hindenburg, Ludendorff und Tirpitz – bedienten sich zur Abweisung ihrer Verantwortung zumeist der direkten Apologie, zur Erklärung der Ursachen des Zusammenbruchs nahmen sie in aller Regel Zuflucht zur Dolchstoßlegende. Die Kriegsaufzeichnungen der subalternen Frontoffiziere, von denen Franz Schauweckers „Im Todesrachen“ (1919) und Ernst Jüngers „In Stahlgewittern“ (1920) am bekanntesten geworden sind, suchten wohl literarische, vor allem aber gesellschaftliche Anerkennung. Frontoffiziere wie Schauwecker und Jünger, die ohne festumrissene politische oder ideologische Orientierung aus der Schule oder der Universität in den Krieg gezogen waren und aus ihm wieder entlassen wurden, waren an einer Apologie der Kriegsführung des wilhelminischen Offizierskorps ebenso desinteressiert wie an der Dolchstoßlegende. Ihr einziger Besitz war das Kriegserlebnis, das sie geprägt hatte und das sie aus dem Zusammenbruch der „Ideen von 1914“ zu retten suchten. Das Erlebnis des Krieges hatte aus ihnen, wie Franz Schauwecker stellvertretend schrieb, nicht nur „eine neue Gattung des Soldaten“, sondern „eine neue Art von Mensch,
46 Vgl. Häntzschel, Literatur und Krieg, S. 214: „Aus Beispielen von in der Schweiz erschienenen Büchern läßt sich schließen, daß ein großes Potential kriegsablehnender und pazifistischer Literatur vorhanden oder zumindest geistig konzipiert war, aufgrund der Zensurmaßnahmen jedoch nie an die Öffentlichkeit dringen konnte und somit wirkungslos blieb“. 47 Ernst Weiß, Recentissime oder: Die Zeitung als Kunstwerk (1921), in: Ders., Die Kunst des Erzählens. Essays, Aufsätze, Schriften zur Literatur, Frankfurt a. M. 1982, S. 20–22, hier S. 22. 48 Vgl. zu ihnen Johannes Hütter, Kriegserfahrung als Schlüsselerlebnis? Der Erste Weltkrieg in der Biographie von Wehrmachtsgeneralen, in: Thoß / Volkmann, S. 759–772.
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einen Mann in höchster Steigerung aller männlichen Eigenschaften“ 49 geformt. Ging es den Generalsmemoiren um operative Grundsätze, militärische Ereignisse und Schuldabweisung, so ging es den Aufzeichnungen der Frontsoldaten um die Darstellung eines identitätsbildenden Kriegserlebnisses und die Suche nach dessen Sinn vor dem Hintergrund der Nachkriegserfahrungen. Kein Autor unterzog sich dieser Suche mit der gleichen Intensität und Schonungslosigkeit wie Ernst Jünger, der freilich schon den Protagonisten seines dritten Kriegsbuchs („Sturm“, 1923) zu der Erkenntnis gelangen ließ: „Im Grunde erlebt jeder seinen eigenen Krieg“. 50 Die weiteren Stationen von Jüngers Sinnsuche hat zuletzt Matthias Schöning sorgfältig rekonstruiert. 51 Während es Jünger und Schauwecker am Ende der zwanziger Jahre gelang, in den Bereich der schönen Literatur vorzudringen, verblieben die Generalsmemoiren im Bereich des publizistischen militär(histor)ischen Diskurses. Ähnliches gilt für die zahlreichen antimilitaristischen Schriften, von denen einen längerfristigen Erfolg nur Heinrich Wandts „Etappe Gent“ zu erzielen vermochte. 52 Das Buch schilderte anhand der „Kriegserinnerungen“ von dreißig hochrangigen Offizieren aus der Etappe Gent, wie weit sich Korruption und Kriminalität in Teilen des Offizierskorps im besetzten Belgien breit gemacht hatten. Unklar ist bislang, welche Rolle im literarischen Bewältigungsdiskurs die schon erwähnten abenteuerlich aufgemachten Kriegsberichte von Richthofen, Plüschow, Luckner und anderen spielten, die sich als sehr auflagenstarke Longseller in der Weimarer Republik behaupteten, 53 obwohl sie heroische Einzelleistungen ohne Gemeinschaftsgefühl schilderten und keinen Beitrag zur Kriegsdeutung leisteten.
III Konzeptionell handelt es sich bei der charakterisierten Memoirenliteratur und den antimilitaristischen Schriften über den Weltkrieg um faktuale Literatur, die mit dem Anspruch auf wahre Beschreibung von Handlungen und Erlebnissen im Krieg politische oder soziale Ansprüche, zumindest aber gesell-
49 Franz Schauwecker, Im Todesrachen. Die deutsche Seele im Weltkriege, Halle 1919, S. 282. 50 Ernst Jünger, Sturm, Stuttgart 1979, S. 30. 51 Vgl. Schöning, Versprengte Gemeinschaft. 52 Heinrich Wandt, Etappe Gent. Streiflichter zum Zusammenbruch, Berlin 1921. Das Buch erreichte 1929 eine Auflage von 250.000 Exemplaren. 53 Vgl. dazu Günter Helmes, Der Erste Weltkrieg in Literatur und Film – Entwicklungen, Tendenzen, Beispiele, in: Waltraud ‚Wara‘ Wende (Hg.), Krieg und Gedächtnis. Ein Ausnahmezustand im Spannungsfeld kultureller Sinnkonstruktionen, unter Mitarbeit von Lars Koch, Würzburg 2003, S. 121–149, hier S. 132.
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schaftliche Geltungsansprüche für die Nachkriegszeit erhob. 54 Mit dem Ende der Nachkriegszeit und der Stabilisierung der Republik war der Erfolg bzw. Misserfolg solcher Forderungen für die Zeitgenossen absehbar geworden, die schlichte Wiederholung dieser Forderungen im Rekurs auf wahre Beschreibungen des Kriegserlebnisses erschien nicht länger erfolgversprechend. Auf die Notwendigkeit eines „Paradigmawechsels“ in der Kriegsliteratur machte Kurt Tucholsky zu Beginn des Jahres 1926 in einem programmatischen Artikel aufmerksam, der unter der Überschrift „Vorwärts!“ erschien. Angesichts der „lawinenhaften Publikationen, Broschüren und Streitschriften über den Krieg“ meinte Tucholsky, es sei „genug“: 55 „Pazifisten, Kriegsgegner, Kommunisten – sie haben allen Anlaß, zurückzugreifen, wenn’s die Sache erfordert. Aber nicht mehr mit dieser heillosen Verehrung vor dem Geschehnis, nicht mit dieser historischen Herrschermiene, als besage die minutiöse Auseinanderwicklung jener Verhältnisse irgend etwas für uns Heutige. Sie gibt uns nichts“. 56 In einem Rückblick auf die „erste Welle der Kriegsliteratur“ zu Beginn der zwanziger Jahre stellte Hans Zehrer 1929 fest: „Die erste Welle der Kriegsliteratur hat sich totgelaufen. Sie pochte auf ihr Recht, auf die Geradheit ihres Gefühls, auf die Echtheit ihres Erlebens. Sie ging daran zugrunde!“. 57 In der Gegenwart sei nicht mehr „die Darstellung der Front, des Krieges, jener vier Jahre“ wichtig; „das Wesentliche“ sei vielmehr „unser Erlebnis der Wahrheit“. Unter dieser kryptischen Formulierung verstand Zehrer eine, wie er schrieb, „Gestaltung“ dessen, was das Kriegserlebnis für die Zeitgenossen des Jahres 1929 in Wahrheit bedeutete, also eine Re-Interpretation des Kriegserlebnisses im Lichte der Gegenwart. Der einzige Roman, der eine angemessene Gestaltungsleistung vollbracht habe, sei Remarques „Im Westen nichts Neues“ – ein Roman, den Zehrer zum Vorbild erhob, obwohl er seine Tendenz als „pazifistisch“ entschieden ablehnte. „Im Westen nichts Neues“ ist nun in der Tat das Exempel, das den poetischen Paradigmawechsel markiert, der die mit Wahrheitsanspruch faktisch beschreibende von der mit Wahrheitsanspruch gegenwartsbezogen reinterpretierenden Kriegsliteratur trennt. Dieser Sachverhalt hatte mich dazu bewogen, in einer früheren Darstellung eine Reihe von Romanen – unter ihnen Georg von der Vrings „Soldat Suhren“, Alexander Moritz Freys „Die Pflasterkästen“, Arnold Zweigs „Der Streit um den Sergeanten Grischa“, Ludwig Renns „Krieg“ – als „Vorläufer“ Remarques zu bezeichnen, weil sie wie „Im Wes54 Der folgende Abschnitt ist eine modifizierte und aktualisierte Fassung von Hans-Harald Müller, Bewältigungsdiskurse. Kulturelle Determinanten der literarischen Verarbeitung des Kriegserlebnisses in der Weimarer Republik, in: Thoß / Volkmann, S. 773–782. 55 Kurt Tucholsky, Vorwärts!, in: Die Weltbühne 1 (1926), Jg. 22, S. 1–5, hier S. 1. 56 Ebd., S. 2–3. 57 Alle Zehrer-Zitate nach: Hans Thomas [Hans Zehrer], Die zweite Welle, in: Die Tat 2 (1929), Jg. 21, S. 577–582, hier S. 579.
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ten nichts Neues“ mit der Tradition der Offiziersmemoiren brachen. Heute würde ich diese Romane nicht mehr als bloße „Vorläufer“ Remarques bezeichnen, sondern einer eigenen, im engeren Sinne „literarischen“ Traditionslinie zurechnen, die mit den Offiziersmemoiren in keinem konzeptionellen Zusammenhang stand, sondern autonome literarische Ansprüche stellte. Diese Traditionslinie hervorzuheben scheint mir wichtig, weil sie nicht – auch nicht negativ – auf das gemeinschaftliche „Augusterlebnis“ 1914 bezogen ist. Die Autoren dieser Romane waren Schriftsteller, die ihre Identität im Krieg nicht finden konnten, sondern zu verlieren drohten. Das früheste dieser Bücher enthält die 1919 unter dem Titel „Erdarbeiter“ erschienenen „Aufzeichnungen eines Schanzsoldaten“ des Juristen und Schriftstellers Martin Beradt. Das unter dem Titel „Schipper an der Front“ 1929 in stilistischer Überarbeitung erschienene Buch schilderte aus der Perspektive eines zivilen Bildungsbürgers den dreckigen, mühseligen und gefährlichen Kriegsalltag der Armierungssoldaten, die sich gegenüber den Frontsoldaten noch glücklich priesen. Beradt schrieb: „Mein Los, verglichen mit dem ihren, kam mir unerhört bevorzugt vor. Welches Entsetzen, verschmutzt und verschlafen in sein eigenes Grab gegraben zu leben! Welche Vorstellung niederster Unzucht, nur noch als Bruder von Maulwürfen, Vetter von Ratten und Kellerasseln zu existieren!“. 58 In den „Aufzeichnungen eines Schanzsoldaten“ gibt es keine Idee, die dem Alltag der Schipper Sinn zu verleihen vermöchte. War es Beradt 1919 noch gelungen, seine Aufzeichnungen zu publizieren, so musste Georg von der Vring für sein 1923 abgeschlossenes Kriegsbuch „Soldat Suhren“ die Absage von 18 namhaften Verlagen hinnehmen, bevor es 1927 erscheinen konnte. Das Buch schildert in einer Er-Erzählung Szenen und Impressionen aus dem handlungsarmen Kriegsalltag des Malers und Lyrikers von der Vring an der Ostfront und konfrontiert die stumpfe Monotonie des Kriegsalltags immer wieder mit der sensiblen poetischen Innenwelt des Künstlers, der im Krieg seine Identität als Künstler zu verlieren droht: „Suhren selber ist hin – was bleibt denn von Suhren? – Er liegt im Stroh in einem Kleide, das er nicht erwählt; er trägt ein Gewehr, um Menschen damit totzuschießen, die er nicht kennt; marschiert über Hügel, die nicht seine Heimat sind, und weiß nicht wozu“. 59 Ähnlich wie von der Vrings Roman ging auch Alexander Moritz Freys Buch „Die Pflasterkästen“ (1929) auf Tagebuchaufzeichnungen des Verfassers zurück, der wie Beradt und von der Vring Schriftsteller war. Der Protagonist des Romans lässt sich zum Krankenträger ausbilden, „weil er heimlich geschworen hat, den Irrsinn, auf Menschen zu schießen, nicht mitmachen zu wollen“. 60 58 Martin Beradt, Schipper an der Front, mit einem Nachwort von Roland H. Wiegenstein, Hamburg 1985, S. 95. 59 Georg von der Vring, Soldat Suhren, Berlin 1927, S. 156, 236. 60 Alexander Moritz Frey, Die Pflasterkästen. Ein Feldsanitätsroman, Berlin 1929, S. 62.
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Frey schilderte den Kriegsalltag vorwiegend auf den Verbandsplätzen des Krieges, der „Abdeckerei der eisernen Zeit“, wie Carl von Ossietzky sie nannte, dort, „wo das Pathos aufhört“. 61 Seine Perspektive ist die eines Mannes, der den Krieg verabscheut – ohne Ideologie und Doktrin. Basierten die Kriegsbücher von Beradt, von der Vring und Frey auf Tagebuchaufzeichnungen der Autoren, so ist Arnold Zweigs „Der Streit um den Sergeanten Grischa“ – der gelungenste Kriegsroman der Weimarer Republik überhaupt – der erste, der ganz in fiktionaler Rede gehalten war. Zweig hatte sich 1912 der kulturzionistischen Bewegung Martin Bubers angeschlossen, war nach dem „Augusterlebnis“ 1914 aber „Militarist aus Überzeugung“ 62 geworden. Konfrontiert mit den Mühen des Kriegsalltags als Armierungssoldat in Lille, Südungarn, Serbien und vor Verdun und dem stetig wachsenden Antisemitismus im Heer hatte sich Zweig auf seine zionistische Überzeugung zurückbesonnen, die nach seiner Versetzung nach Białystok durch die Begegnung mit dem Ostjudentum noch verstärkt wurde. Unter dem Einfluss Gustav Landauers klagte er sich und seine jüdischen Kriegskameraden an, sie seien „Mitschuldige der Zeit und des Grauens“. 63 Als Ziel seiner Nachkriegspublizistik in den Zeitschriften „Der Jude“ und „Jüdische Rundschau“ bezeichnete Zweig ein „Selbstgericht der Nation“ sowie eine „Umkehr und Erneuerung des Deutschen Wesens“. 64 Zweigs Roman „Der Streit um den Sergeanten Grischa“ enthielt nicht allein eine Kritik des alldeutschen Militarismus, sondern auch eine Kritik an den gegen ihn opponierenden friedliebenden Kräften, die sich ihm nicht entschlossen genug in den Weg gestellt hatten. Mit dem „Streit um den Sergeanten Grischa“, der bis 1932 eine Auflage von 200.000 Exemplaren erreichte, brach Zweig die Tradition des Frontromans und schloss den Kriegsroman an die Tradition des Gesellschaftsromans an. Ludwig Renns „Krieg“ schließlich ist das Kriegsbuch des literarisch ambitionierten einstigen Hauptmanns Arnold Friedrich Vieth von Golßenau, der sich in den zwanziger Jahren seiner einstigen Identität als Berufsoffizier derart entfremdet hatte, dass er seinen Namen 1927 in Ludwig Renn änderte und seine wiederholt und sehr frei bearbeiteten Kriegserlebnisse schließlich einem einfachen Protagonisten namens Ludwig Renn in den Mund legte. Wirksam unterstützt durch die redaktionelle Betreuung und Publikationsstrategie der „Frankfurter Zeitung“ wurde das unpolitische Buch der Öffentlichkeit präsentiert als Kriegsbuch des „gemeinen Mannes“ als „biblia pauperum unserer Zeit“; in dieser Camouflage wurde es zu einem großen literarischen Erfolg. 65 61 62 63 64
Carl von Ossietzky, Die Pflasterkästen, in: Die Weltbühne 18 (1929), Jg. 25, S. 686–687. Arnold Zweig, Warum ich schwieg, in: Die literarische Welt 12/13 (1925), Jg. 1, S. 3. Arnold Zweig, Das Ostjüdische Antlitz, Berlin 21922, S. 166. Arnold Zweig, Epoche und Theater, in: Max Krell (Hg.), Das deutsche Theater der Gegenwart, München 1923, S. 13–24, hier S. 22. 65 Angaben nach: Hans-Harald Müller, Der Krieg und die Schriftsteller. Der Kriegsroman der Weimarer Republik, Stuttgart 1986, S. 186–210.
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Die Kriegsbücher von Beradt und von der Vring enthielten private literarische Aufzeichnungen von Zivilisten, die den Krieg verabscheuten und keinen Sinn in ihm zu erblicken vermochten; die Romane Freys und Zweigs besaßen eine allgemeine antimilitaristische Orientierung, die indes nicht mit einem politischen Programm verbunden war. Alle vier Romane besaßen eine Gemeinsamkeit mit Remarques „Im Westen nichts Neues“. Der Krieg hatte für sie seinen Sinn, die „Ideen von 1914“ hatten für sie unwiderruflich ihre Geltung und ihre gemeinschaftsbildende Kraft verloren: nichts mehr verband die Protagonisten mit dem „Augusterlebnis“ von 1914. Der Krieg hatte in Remarques Roman keine geistigen Ursachen, und er wurde nicht um geistiger Ziele willen geführt: politische Ursachen und Kriegsziele waren in ihm schlicht ausgeblendet. Der Krieg war weder die Erlösung aus einer materialistischen Zeit noch die Katastrophe, auf die eine Erlösung folgen musste: er war die Katastrophe schlechthin. Schon die Leugnung des Sinns des Kriegs ließ die genannten Romane in den Augen der Zeitgenossen als „pazifistisch“ erscheinen, obwohl sie kein pazifistisches Programm vertraten. Remarques Roman hatte jedoch noch eine Botschaft, die kein Kriegsbuch vor ihm zu bieten hatte: er nahm den Mühseligen und Beladenen, den Geschädigten und Enteigneten, den Betrogenen und Betrügern die Last der Verantwortung für ihr Schicksal von den Schultern und lud sie beim vergangenen Krieg ab. In Remarques Roman geht es nicht um die Ursachen des Kriegs, sondern um den Krieg als Ursache der Misere der Gegenwart. 66 Es geht um alle, stellvertretend um die Generation, „die vom Kriege zerstört wurde – auch wenn sie seinen Granaten entkam“. 67 Der Roman verschmolz auf wundersame Weise eine amorphe Menge von Individuen, die Leid erfahren hatten und sich leid taten: eine schicksalhafte Gemeinschaft von Opfern. „Einer hat für uns alle gesprochen“, 68 meinte Ernst Toller, und so erkannten sich fast alle in Remarques Roman wieder. „Im Westen nichts Neues“ wurde nicht an literarischen Maßstäben gemessen, sondern an seinem „menschlichen“ Gehalt, und der schien unermesslich. Nicht weniger als die „Rehabilitierung unserer Generation“ 69 erblickte Axel Eggebrecht in ihm und Carl Zuckmayer meinte, das Buch „wird auch von Millionen gelesen werden, jetzt und zu allen Zeiten, und nicht gelesen, wie man Bücher liest: sondern wie man seinem Schicksal unterliegt, dem Unentrinnbaren seines Daseins“. 70 66 Die Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte des Romantextes hat Thomas F. Schneider minutiös dargelegt, vgl. Thomas F. Schneider, Erich Maria Remarques Roman „Im Westen nichts Neues“. Text, Edition, Entstehung, Distribution und Rezeption (1928–1930), Tübingen 2004. 67 Erich Maria Remarque, Im Westen nichts Neues, Frankfurt a. M. 1976, S. 5. 68 Ernst Toller, Im Westen nichts Neues, in: Die literarische Welt 8 (1929), Jg. 5, S. 5. 69 Axel Eggebrecht, Paul Bäumer, der deutsche Unbekannte Soldat, in: Die Weltbühne 8 (1929), Jg. 25, S. 211–213, hier S. 212. 70 Carl Zuckmayer, Erich Maria Remarque: Im Westen nichts Neues, in: Berliner Illustrierte Zeitung 5 (1929), Jg. 38, S. 174–175, hier S. 174.
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Die Entdifferenzierung etablierter Diskurstypen lässt sich nicht allein anhand der Vernachlässigung literarischer Maßstäbe in der Rezeption 71 von Remarques Roman feststellen, sondern auch an der überaus vordergründigen Politisierung der Diskussion um „Im Westen nichts Neues“. Während der Roman im ersten Halbjahr nach seinem Erscheinen fast einhellig begrüßt wurde, setzte darauf eine intensive Befragung des Romans ein, die dessen impliziten politischen Botschaften galt. Das Ergebnis dieses Kampfes ist bekannt: während die politische Rechte im Kampf gegen den Roman und dessen Verfilmung bewusst und strategisch einen Stellvertreterkrieg gegen das System von Weimar und seine Institutionen führte, wurde der überwältigende Anfangserfolg des Romans in der zweiten Rezeptionsphase von der Presse des organisierten Pazifismus, von der KPD, aber auch von der „Weltbühne“ regelrecht zerredet. Um die Jahreswende 1929/30 mehrten sich die Stimmen, die einen „Tendenzwandel in der Literatur“ konstatierten; das ultranationalistische Blättchen „Standarte“ frohlockte: „Das sentimentale Pazifistengerede hat seinen Reiz verloren“. 72 Der Schriftsteller Arno Schirokauer konstatierte Ende 1930: „In der Debatte um den Krieg haben sich von gestern auf heute die Positionen und Vokabeln geändert. Man spricht noch vom letzten, aber man definiert schon den nächsten“. 73 Mit Remarques „Im Westen nichts Neues“ war der Romantyp gefunden und voll ausgebildet, dessen Konzeption vom nationalistischen und nationalsozialistischen Kriegsroman mit anderen Botschaften übernommen und bis in den Zweiten Weltkrieg ohne wesentliche Modifikationen beibehalten wurde. 74 Dieser Romantyp zielte nicht auf eine historisch getreue Schilderung von Kriegsereignissen oder -erlebnissen, sondern er verband in fiktionaler Rede wiedergegebene Kriegserlebnisse mit einer Sinnzuweisung. Es ging ihm um den integrativen Sinn des Kriegserlebnisses für die Gegenwart am Ende der zwanziger und in den dreißiger Jahren; er war mithin kein dokumentarischer, sondern ein „Bewältigungs“- bzw. „Vermächtnis“-Roman. In der politischen Funktionalisierung dieses Romantyps waren die nationalistischen Kriegsromane weit bedenkenloser als die wenigen pazifistischen oder antimilitaristischen Kriegsromane, die in der Remarque-Nachfolge geschrieben wurden. Zu ihnen gehören u. a. der literarisch anspruchsvollere „Heeresbericht“ von Edlef
71 Vgl. auch Bärbel Schrader, Der Fall Remarque. Im Westen nichts Neues, eine Dokumentation, Leipzig 1992. 72 Heinrich von Gleichen, Tendenzwandel in der Literatur, in: Die Standarte 1929, S. 540– 544, hier S. 541. 73 Arno Schirokauer, Kriegsmythologie, in: Das Tage-Buch 16 (1930), Jg. 11, S. 631–633, hier S. 631. 74 Vgl. dazu schon Karl Prümm, Das Erbe der Front. Der antidemokratische Kriegsroman der Weimarer Republik und seine nationalsozialistische Fortsetzung, in: Horst Denkler / Karl Prümm (Hg.), Die deutsche Literatur im Dritten Reich. Themen – Traditionen – Wirkungen, Stuttgart 1976, S. 138–164.
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Hans-Harald Müller
Köppen, der unter dem Titel „Westfront 1918“ erfolgreich verfilmte Roman „Vier von der Infanterie“ von Ernst Johannsen sowie die proletarischen Antikriegsromane von Theodor Plievier („Des Kaisers Kulis“) und Adam Scharrer („Vaterlandslose Gesellen“). In Romanen wie Franz Schauweckers „Aufbruch der Nation“, Werner Beumelburgs „Die Gruppe Bosemüller“, Josef Magnus Wehners „Sieben vor Verdun“ und Hans Zöberleins „Der Glaube an Deutschland“ wurde als bindendes Vermächtnis des Kriegserlebnisses die geistige Aufrüstung des deutschen Volkes, der politische Kampf für einen nationalistischen Militarismus propagiert. In der Geschichte des Kriegsromans und im Bewältigungsdiskurs des Ersten Weltkriegs bildet mithin nicht das Jahr 1933 eine Zäsur, sondern die Jahreswende 1929/30; der nationalsozialistische Kriegsroman nach 1933 brachte gegenüber dem nationalistischen der Jahre 1929 bis 1933 keine konzeptionellen Neuerungen. 75
75 Zum Frontroman am Ende der Weimarer Republik vgl. etwa Michael Gollbach, Die Wiederkehr des Weltkrieges in der Literatur. Zu den Frontromanen der späten zwanziger Jahre, Kronberg 1978; Prümm; Baird.
Karol Sauerland
(Uniwersytet Warszawski)
Die mit dem Ersten Weltkrieg verbundenen Stimmungen und Hoffnungen Die Geschichtsschreibung hat Mühe, Stimmungen als etwas Ursächliches für das historische Geschehen anzusehen. Abgesehen davon, dass Stimmungen in Bezug auf frühere Zeiten schwer einzufangen sind, sind Historiker zumeist der Überzeugung, Stimmungen würden von Machthabern oder in den letzten Jahrhunderten von den Medien hervorgerufen. Im Bestfall erkennen sie an, dass Notlagen wie Hunger, Epidemien, Furcht vor Invasionen zu Untergangsstimmungen und den aus ihnen sich ergebenden Untaten, bis hin zu Massakern, führen. Ein gutes Beispiel für die Ratlosigkeit der Historiker bietet die Hexenforschung. Wie kommt es, dass plötzlich ganze Regionen bereit sind, Frauen und auch Männer – die eigenen Gatten und Gattinnen nicht ausgeschlossen – zu verdächtigen, dass in sie der Teufel gefahren sei, sie sich mit ihm verbündet hätten? Ältere Forschungsliteratur macht dafür die Kirche oder auch Autoren verantwortlich, die den Glauben an die Macht bzw. Allmacht des Satans als gegeben annehmen. Dahinter steckt die Überzeugung: Erst die Ideologie, dann die Taten. Neuere Forschung verweist darauf, dass die Initiative zu Hexenverfolgungen durch den Druck von unten zur Akzeptanz der jeweiligen Obrigkeit führte, aber zumeist zögerlich, weil sie fürchtete, ihr Machtmonopol zu verlieren. Den Glauben an böse Geister gab es seit alters her, die Frage ist jedoch, wie er sich in massenhafte Gewaltausbrüche verwandeln konnte. Die historische Forschung nimmt in der Bevölkerung verbreitete Stimmungen im Allgemeinen kaum zur Kenntnis, und wenn sie es tut, meint sie, dass sie aus Notsituationen erwachsen seien, nicht aus einer Hoffnung auf Änderungen heraus. Sie müssen auch nicht immer mit Gewaltakten verbunden sein. Die Solidarno´sc´-Revolution 1980/81 zeigte, dass es auch einen allgemeinen friedlichen Willen geben kann, ein petrifiziertes System zu reformieren. Im Augenblick erleben wir, wie bei einem noch nie dagewesenen Wohlstand in breiten Bevölkerungsschichten Europas ein Stimmungswandel auf verschiedensten Ebenen eintritt, gegen den sowohl die Regierenden als auch die Medien sich als machtlos erweisen. Sie werden ihm höchstwahrscheinlich am Ende maximal nachgeben. Sie können ja nicht wie einst Wojciech Jaruzelski einfach über Nacht Kriegsrecht einführen. Es ist schwer zu sagen, welche Stimmungen in den einzelnen Ländern Europas vor dem Ersten Weltkrieg vorherrschten. Die Kriegsbegeisterung, von der bislang immer wieder die Rede war, insbesondere in Bezug auf Deutsch-
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land, wird von der neueren Forschung stark in Frage gestellt. In älteren germanistischen Darstellungen bezog man sich gern auf Georg Heyms Gedicht „Krieg“, das in Verbindung mit der Marokko-Krise zwischen dem 4. und 10. September 1911 entstand, nachdem man einen französisch-deutschen Krieg befürchtet und sich vorgestellt hatte, dass Frankreich Deutschland mit Kolonialtruppen aus Schwarzafrika überschwemmen werde. Nach Marianne Kesting „wollte Heym dem Bürger den Krieg in Gestalt eines korybantisch tanzenden Negers schicken“. Sie verwirft die Annahme, dass Heyms Gedicht eine Vorahnung des Großen Kriegs sei. 1 Im Zusammenhang mit dem Gedicht „Krieg“ wurde gern Heyms Tagebuchnotiz vom 6. Juli 1910 zitiert: Ach, es ist furchtbar. Schlimmer kann es auch 1820 nicht gewesen sein. Es ist immer das gleiche, so langweilig, langweilig, langweilig. Es geschieht nichts, nichts, nichts. Wenn doch einmal etwas geschehen wollte, was nicht diesen faden Geschmack von Alltäglichkeit hinterläßt. Wenn ich mich frage, warum ich bis jetzt gelebt habe. Ich wüßte keine Antwort. Nichts wie Quälerei, Leid und Misere aller Art. [. . . ] Geschähe doch einmal etwas. Würden einmal wieder Barrikaden gebaut. Ich wäre der erste, der sich darauf stellte, ich wollte noch mit der Kugel im Herzen den Rausch der Begeisterung spüren. Oder sei es auch nur, daß man einen Krieg begänne, er kann ungerecht sein. Dieser Frieden ist so faul ölig und schmierig wie eine Leimpolitur auf alten Möbeln. Was haben wir auch für eine jammervolle Regierung, einen Kaiser, der sich in jedem Zirkus als Harlekin sehen lassen könnte, Staatsmänner, die besser als Spucknapfhalter ihren Zweck erfüllen, denn als Männer, die das Vertrauen des Volkes tragen sollten. 2
Daraus wurde abgeleitet, dass es gerade die Jugend war, die den Krieg als Abenteuer auffasste, sich nach ihm sehnte. Aus den Reden und Schriften deutscher Dichter und Denker, die sich nach Kriegsbeginn 1914 und später für den Waffengang begeisterten, schloss man rückwirkend, dass der Krieg von bestimmten Kreisen, vor allem von der Jugend, herbeigesehnt worden sei. Parallel dazu wurde von der deutschen Hauptschuld am Ausbruch des Kriegs gesprochen. Zugespitzt formulierte es der Hamburger Historiker Fritz Fischer in seinem 1961 erschienen Buch „Griff nach der Weltmacht“, was zu der heftig geführten sogenannten Fischer-Kontroverse führte, an der auch Politiker wie Franz Josef Strauß und Ludwig Erhard teilnahmen. Man schob Fischer sogar den Begriff der Alleinschuld Deutschlands in die Schuhe, von dem er sich wohl nie befreien konnte. Diesen Begriff hatte Paul Sethe in der „Zeit“ gebraucht, 3 wogegen Fischer in einem Leserbrief protestierte. 4 So
1 Vgl. Marianne Kesting, Das Warten hat ein Ende, in: Gerhard R. Kaiser (Hg.), Poesie der Apokalypse, Würzburg 1991, S. 173. 2 Georg Heym, Dichtungen und Schriften, Bd. 3: Tagebücher, Träume und Briefe, hg. v. Karl Ludwig Schneider und Gerhard Burckhardt, München 1960, S. 138–139. 3 Vgl. Paul Sethe, Als Deutschland nach der Weltmacht griff, in: Die Zeit 47 (1961). 4 Vgl. Fritz Fischer, Die Schuld am Ersten Weltkrieg, in: Die Zeit 48 (1961).
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hätte er es nicht formuliert. Doch 1965 ließ er sich angesichts der erregten Debatte zu dem Satz verleiten, dass „im Juli 1914 ein Kriegswille einzig und allein auf deutscher Seite bestand“. 5 Die Grundlage zu Fischers Thesen bildeten vor allem Dokumente, aus denen der Wille der führenden Politiker, Deutschland in die Position einer Weltmacht zu hieven, hervorging. Es kam zu einem „Weltkrieg der Dokumente“, wie Annika Mombauer in ihrem Artikel „Julikrise und Kriegsschuld – Thesen und Stand der Forschung“ schrieb, auf Bernhard Schwertfegers Arbeit „Der Weltkrieg der Dokumente. Zehn Jahre Kriegsschuldforschung und ihr Ergebnis“ von 1929 anspielend. 6 Ein gutes halbes Jahrhundert nach dem „Griff nach der Weltmacht“ ist von der deutschen Kriegsschuld nicht mehr die Rede. Schuldig bzw. unschuldig waren alle, sie schlitterten, wie es 1933 der einstige britische Schatzkanzler und spätere Premierminister David Lloyd George formulierte, in den Krieg hinein. In diesem Sinn verfasste Christopher Clark 2012 sein über 800-seitiges Werk über den Ersten Weltkrieg, das den beredten Titel „Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog“ (im Original: „The Sleepwalkers: How Europe Went to War in 1914“) trägt. Die einzelnen Regierungen seien gleichsam in den Krieg getaumelt. Sie unterlagen keinem Druck, dem sie nicht hätten widerstehen können. Clark schaut in erster Linie auf die Entscheidungsträger, die Spitzenpolitiker, die Militärbefehlshaber der einzelnen Waffengattungen, Diplomaten und hochstehende Verwaltungsbeamte. Man hat den Eindruck, dass er die damalige Zeit so in den Blick nimmt wie die meisten heute die Politik der EU, über die einzig Ministerpräsidenten und -präsidentinnen bzw. Präsidenten sowie EU-Bürokraten das Sagen haben. Für Stimmungen hat Clark wenig Sinn. Zwar widerspricht er nicht der Erklärung des deutschen Reichskanzlers Bülow im März 1909 vor dem reichsdeutschen Parlament, dass „die meisten Konflikte, welche die Welt im Laufe der letzten Jahrzehnte gesehen hat“, nicht „durch fürstliche Ambitionen oder ministerielle Umtriebe, sondern durch leidenschaftliche Erregung der öffentlichen Meinung“ 7 hervorgerufen worden seien, aber er hält dem entgegen, dass die Politiker und Diplomaten erkannt hätten, wie schnelllebig die Presse ist. „Sie unterlag“, erklärt Clark, „kurzfristigen Kampagnen, und der Wirbel, den sie verursachte, klang rasch wieder ab“. 8 Die Politiker benutzten aber gern Stimmen aus der Öffentlichkeit in bilateralen oder auch internationalen Verhandlungen als Argument, dass sie bestimmte Lösungen im eigenen Land nicht rechtfertigen könnten. Empörungen und Proteste würden sie erwarten. 5 Fritz Fischer, Vom Zaun gebrochen – nicht hineingeschlittert. Deutschlands Schuld am Ausbruch des Ersten Weltkriegs, in: Die Zeit 36 (1965). 6 Vgl. http://www.bpb.de/apuz/182558/julikrise-und-kriegsschuld-thesen-und-standder-forschung?p=all [letzter Zugriff: 07. 02. 2020]. 7 Christopher Clark, Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog, München 52013, S. 298. 8 Ebd., S. 301.
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Als Stimmen der Öffentlichkeit wertet Clark auch jene verschiedener Organisationen, wie des Flottenverbandes in Deutschland, der Panslawen, Alldeutschen und anderer Vereinigungen, die er gern mit den modernen Adjektiven nationalistisch und sogar populistisch versieht. Überhaupt ist Clark in seiner Wortwahl höchst präsentistisch, abgesehen davon, dass er mehrmals Parallelen zur Gegenwart, etwa den Jugoslawienkrieg oder der NATO zieht, was den Bremer Historiker Lothar Machtan in seiner Rezension „Over-sophisticated – Anmerkungen zu Christopher Clarks Bestseller“ zu dem Urteil veranlasste, dass „in einer seriösen Politikgeschichte“ solche „Analogie-Muster nichts verloren“ 9 hätten. Clark hat in einem gewissen Sinne Recht, dass die durch Medien hervorgerufenen oder auch nur unterstützten Erregungen im Allgemeinen schnell wieder abflauen, aber es gibt Grundstimmungen, die in größeren Zeiträumen dominierend sind. Zu ihnen gehört spätestens seit der Jahrhundertwende die Konzentration breiter Bevölkerungskreise auf das Ansehen der Nation, der sie angehören. Nation ist jedoch nicht gleich Nation. Staat nicht gleich Staat, Nationalstaat nicht gleich Nationalstaat. Wir haben es in dieser Zeit mit höchst unterschiedlichen Staaten bzw. Nationalstaaten zu tun. An erster Stelle seien jene Staaten genannt, die durch ihre kolonialen Eroberungen als Weltmächte galten. Hier sind vor allem Frankreich und England zu nennen, die Vereinigten Staaten von Amerika gaben sich erst am Kriegsende als Weltmacht zu erkennen. Das Denken in modernen nationalen Kategorien begann mit Napoleon, der Frankreich zur La Grande Nation (in Frankreich selber spricht man von Grandeur) kürte. Sein Konkurrent war Großbritannien, das sich immer mehr in eine große Industrienation verwandelt hatte und sein Imperium im 19. Jahrhundert weiter ausbauen konnte. Beide Staaten sahen ihre imperialistische Politik, die um 1900 einen Höhepunkt erlebte, als etwas Selbstverständliches an. Einen anderen Charakter wiesen die Vielvölkerstaaten Russland, Österreich-Ungarn und das Osmanische Reich auf, die sich durch territorialen Imperialismus auszeichneten. Sie hatten mit vielen Problemen zu kämpfen, vor allem damit, dass die einzelnen Völker nach der Schaffung eigener Staaten trachteten. In einer ganz anderen Lage befanden sich die im 19. Jahrhundert neu entstandenen Nationalstaaten, insbesondere Deutschland und Italien, die sich erst nach drei Kriegen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts etablieren konnten. Gleichzeitig war es zur Formierung mehrerer kleiner Nationalstaaten gekommen, die fast ohne Unterlass um ihre Souveränität zu bangen hatten. Selbst solche Staaten, die sich bereits unabhängig nannten, mussten um ihr Bestehen fürchten. Das beste Beispiel ist Serbien, das von Christopher Clark als der böse Bube, der eigentliche Auslöser des Ersten Weltkriegs, dargestellt wird. All diese Staaten mitsamt den nationalen Befreiungsbewegungen waren zu militärischen Aktio-
9 http://www.sehepunkte.de/2014/01/23681.html [letzter Zugriff: 07. 02. 2020].
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nen bis hin zu Kriegen bereit, auch wenn ein Flächenbrand drohte. Und sie konnten auf die Unterstützung breiter Bevölkerungsteile rechnen. Es gab zwar, initiiert durch die Großmächte, Versuche, größere Kriege zu vermeiden, aber im Bestfall gelang es, die Kriegshandlungen lokal zu begrenzen. So kam es 1878 auf Bismarcks Initiative nach den Aufständen in Montenegro, Serbien und Bulgarien sowie nach dem russisch-osmanischen Krieg zum Berliner Kongress, auf dem ein Kompromissfrieden geschlossen wurde, womit ein Krieg Großbritanniens und Österreich-Ungarns gegen Russland verhindert werden konnte. Auch 1908 ging die Besetzung von BosnienHerzegowina durch die k.k.-Monarchie ohne Intervention des Zarenreichs über die Bühne. 1912 wurde jedoch unter russischer Schirmherrschaft der Balkanbund geschaffen. Anfänglich bestand er aus Serbien und Bulgarien, kurz darauf schlossen sich ihm Griechenland und Montenegro an, wodurch sich das Osmanische Reich angegriffen fühlen musste, im geringeren Maße dagegen die Habsburgermonarchie. Am 25. September 1912 erklärte Montenegro im Einvernehmen mit dem Zaren und den anderen drei Staaten dem Osmanischen Reich den Krieg. Darauf antwortete am 16. Oktober das Osmanische Reich mit einer Kriegserklärung an Bulgarien. Einen Tag später solidarisierten sich Serbien, Bulgarien und Griechenland mit Montenegro. Schließlich wurde unter Vermittlung der europäischen Großmächte, insbesondere Großbritanniens, im Mai 1913 der Londoner Friede geschlossen. Neue Grenzen wurden gezogen, der Staat Albanien entstand zur Zufriedenheit Österreich-Ungarns, denn damit war Serbiens Zugang zur Adria versperrt. Aber schon einen Monat später griff Bulgarien griechische und serbische Armeen ohne Kriegserklärung an. Rumänien nutzte die Gelegenheit und attackierte Bulgarien. Seine Truppen erreichten ohne größeren Widerstand Sofia. Im Frieden von Bukarest wurden dann die Auseinandersetzungen, an denen auch das Osmanische Reich teilgenommen hatte, beigelegt. Die Interessen der drei Vielvölkerstaaten, d. h. des Osmanischen Reichs, Österreich-Ungarns und des Russischen Reichs, stießen auf dem Balkan durch die sich herausbildenden kleineren Nationalstaaten aufeinander. Den Balkankriegen war die Besetzung Marokkos durch französische Truppen im Mai 1911 vorausgegangen, in die sich der deutsche Kaiser durch den sogenannten „Panthersprung nach Aladar“, d. h. die Entsendung des Kanonenbootes „Panther“ in die südmarokkanische Hafenstadt Aladar, einmischte, was Großbritannien veranlasste, für Frankreich Stellung zu nehmen. All diese kriegerischen Ereignisse und die sichtbaren Spannungen zwischen den europäischen Großmächten wurden von breiten Kreisen der Bevölkerung verfolgt. Hierbei wurde ihnen immer mehr bewusst, dass ein Krieg zwischen den Großmächten nicht ausgeschlossen ist, zumal bei jeder Krise die Rede von einem drohenden europäischen Krieg war. Es gab aber nur wenige, die sich vorstellen konnten, was das bedeutete. Er bekam schnell den Namen „Großer Krieg“, ehe dieser in den 1920er Jahren unter der Bezeichnung „Erster Weltkrieg“ in die Geschichte einging. Man rechnete bis dahin nur mit kurzen Feldzügen.
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Die pazifistischen Strömungen, initiiert von Bertha von Suttner am Ende des 19. Jahrhunderts, fanden u. a. aus diesem Grund kaum Akzeptanz. Das Ansehen des eigenen Staates, Nation genannt, war wichtiger als die eventuellen Verluste und Leiden. Auch die Sozialisten bzw. Sozialdemokraten, die im Rahmen der Zweiten Internationale die Losung aufgestellt hatten, ein Arbeiter schieße nicht auf einen Arbeiter – mein Großvater rühmte sich, wenn auch bescheiden, dass man, nachdem er als Teilnehmer des Munitionsarbeiterstreiks in Berlin 1916 an die Westfront eingezogen worden war, in seinem Kanonenbataillon die französischen Brüder nicht getroffen hätte –, verfolgten diese von ihr einst so inbrünstig propagierte Linie so gut wie gar nicht. Die Arbeiter aller Länder waren einfach zu national eingestellt. Die englische Presse konstatierte schon 1912 nach dem Wahlsieg der SPD, dass diese einzig in ihrem Land eine parlamentarische Monarchie anstrebe, keineswegs international auf eine andere, sozialistische Ordnung zustrebe. Sie wurde von britischen Journalisten mit den modernen Liberalen im Vereinigten Königreich verglichen. 10 Die Haltung der sozialdemokratischen Fraktion im reichsdeutschen Parlament zu Beginn des Kriegs überraschte nur die Linke, deren Wortführer Karl Liebknecht war. Obwohl in Europa keine wirkliche Antikriegseinstellung zu verzeichnen war, bedeutete dies nicht, dass die Bürger der großen europäischen Staaten einen Krieg zutiefst gewollt hätten. Nach dem Mord in Sarajewo rechnete man zwar mit der Möglichkeit eines begrenzten, nicht aber eines gesamteuropäischen Kriegs. Der Mord am Prinzenpaar führte selbst in Wien und Budapest zu keinen größeren Erregungen, es war ja nicht das erste Attentat dieser Art. Aber es müsse etwas geschehen, fand man in führenden Kreisen der k.k.-Monarchie. In Berlin meinte man wahrscheinlich, dass man das Bülowsche Szenarium von 1908 wiederholen könne, wie der Politiktheoretiker Richard Ned Lebow in seinem Artikel „Kognitive Blockierung und Krisenpolitik. Deutsche Entscheidungsträger im Juli 1914“ nachzuweisen sucht. 11 Reichskanzler BethmannHollweg hatte sich über Bülows Hinweis – soweit es diesen tatsächlich gegeben hat – hinweggesetzt. Letzterer soll gesagt haben, dass man sein Vorgehen nicht wiederholen könne und dürfe. Er hatte Russland mit Krieg gedroht, wenn es die Besetzung von Bosnien-Herzegowina nicht anerkenne. Das Zarenreich fühlte sich nach der Niederlage im japanisch-russischen Krieg und nach der Revolution von 1905 nicht kriegsbereit. Es überließ daher Bosnien-Herzegowina der k.k.-Monarchie. 1914 sah die Situation anders aus. Russland hatte mittlerweile aufgerüstet und mit Reformen auf die allgemeine Unzufriedenheit reagiert. Es war nicht mehr bereit, zurückzustecken, womit man in Berlin und wohl auch in Wien nicht gerechnet hatte. 10 Vgl. Martin Schramm, Das Deutschlandbild in der britischen Presse 1912–1919, Berlin 2007, S. 124. 11 Vgl. Richard Ned Lebow, Kognitive Blockierung und Krisenpolitik. Deutsche Entscheidungsträger im Juli 1914, in: Reiner Steinweg (Hg.), Kriegsursachen, Frankfurt a. M. 1987, S. 204–205.
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Für die europäische Bevölkerung war der Juli 1914 ein eigenartiger Monat. Einerseits befand man sich in Ferienstimmung, andererseits gab es immer wieder beunruhigende Meldungen, die gegen Ende des Monats zunahmen. Es kam in diesen Tagen in Deutschland zu größeren Antikriegsdemonstrationen (am 28. Juli, als Österreich-Ungarn Serbien den Krieg erklärte, sollen 100.000 Leute an der Antikriegskundgebung im Berliner Lustgarten teilgenommen haben), die aber die politischen Entscheidungen nicht mehr zu beeinflussen vermochten. In den letzten beiden Julitagen warteten die Menschen dagegen in den Großstädten vor den Regierungsgebäuden – deren es in Deutschland viele gab, denn das Deutsche Reich war im Grunde eine Vereinigung verschiedenster Länder – auf die Nachricht, ob es zum Krieg komme oder nicht. Es gab schließlich noch keinen Rundfunk. Als dann endlich am 1. August in den Nachmittagsstunden bekannt wurde, dass Deutschland Russland den Krieg erklärt habe, wurde gejubelt. Es gehe um das Wohl der Nation, meinte man. Wenn Kriegsgegner dazwischen geschrien hätten, wären sie in diesem Augenblick sicherlich tätlich angegriffen worden. In Frankreich kam es zur Kriegsbegeisterung erst, nachdem Deutschland das Land anzugreifen begann. Ganz anders sah es in Großbritannien aus. Dort musste die Führung größte Anstrengungen unternehmen, um die Bevölkerung von der Notwendigkeit militärischen Einschreitens zu überzeugen. Es gab in England keine Wehrpflicht. 1912 hatte man den deutschen Kaiser als einen friedliebenden, sympathischen Mann in London begrüßt. Seit 25 Jahren lebe das Deutsche Reich in Frieden mit seinen Nachbarn, wurde in den Zeitungen betont. Selbst für die deutsche Flottenpolitik hatte man begonnen, Verständnis aufzubringen, da ja auch Russland seine Flotte ausbaue. Als eine wirkliche Gefahr für die englische Marine sah man mittlerweile das deutsche Schiffspotenzial nicht mehr an, wie man der interessanten, bereits zitierten Arbeit von Martin Schramm entnehmen kann. 12 Im Zarenreich waren dagegen die städtischen Bevölkerungsteile entschieden für einen Krieg; die Demütigungen, die man nach allgemeiner russischer Auffassung in den Balkankriegen erleiden musste, sollten ein Ende nehmen. Der Krieg führte in allen Staaten zu einem relativ schnellen Stimmungswandel. Die gegnerischen Nationen wurden zu Feinden, was sich in der krankhaften Angst vor Spionen manifestierte. In Russland und England waren es die Deutschen, in Deutschland – die Russen und Franzosen, in Frankreich, wo man von einer Union sacrée sprach, waren es wiederum die Deutschen etc. Überall meldeten sich Dichter und Denker kriegsbegeistert zu Wort, was sie später zumeist bedauerten. 13 Je nach Kriegslage wurden die Kriegsziele, sprich
12 Vgl. Schramm, S. 114–115. 13 Vgl. hierzu u. a. Geert Buelens, Europas Dichter und der Erste Weltkrieg, übers. v. Waltraud Hüsmert, Frankfurt a. M. 2014; Steffen Bruendel, Zeitenwende 1914. Künstler, Dichter und Denker im Ersten Weltkrieg, München 2014.
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Gebietsaufteilungen, von Militärs und Politikern zu Papier gebracht, und je nach Kriegslage hofften nationale Bewegungen, wie etwa die polnische, einen eigenen Staat errichten bzw. wiedererlangen zu können. Polen ist ein gutes Beispiel für die verschiedensten Optionen im Laufe des Krieges, von denen sich Józef Piłsudskis Option als die erfolgreichste erwies. Das Wilsonsche 14-Punkte-Programm vom Januar 1918 gab mit seinem Selbstbestimmungsrecht der Völker den nationalen Befreiungsbewegungen einen enormen Auftrieb. Es bildeten sich am Ende eine Reihe neuer Staaten heraus (die Tschechoslowakei, die baltischen Staaten, Polen, Georgien usw.), deren Bestand durch die Interventionen der Russischen Sowjetrepublik bzw. Sowjetunion und später durch die des Dritten Reichs von kürzerer oder längerer Dauer war. Ihre Mehrzahl konnte erst nach der sogenannten Wende von 1989 und dem Zerfall der UdSSR 1991 wiedererstehen. 1992 veröffentlichte ich in der „NZZ“ (Nr. 38 der Inlandsausgabe und Nr. 15 der Fernausgabe) einen Artikel hierzu unter dem Titel „Eine Wiederholung von 1918? Über die Gründung der neuen Nationalstaaten“. Dass es zu einem Krieg in Jugoslawien kommen wird, war mir bereits 1988 klar, als ich in Dubrovnik in eine Debatte über die Zukunft dieses künstlichen Gebildes verwickelt wurde. Europas Staatengefüge hat sich mittlerweile einigermaßen stabilisiert, im Gegensatz zu dem im Nahen Orient. Doch wenn man auf die EU schaut, ist sie von Hoffnungen und Stimmungen nur so durchrüttelt und durchschüttelt.
Xiaojing Wang
(Georg-August-Universität Göttingen)
Besseres Europa, bessere Welt Zur chinesischen Rezeption des Ersten Weltkriegs: „Eindrücke einer Europareise“ von Liang, Qichao
1. Einleitung und historischer Hintergrund Anhand des Buchs „Eindrücke einer Europareise“ 1 erörtert die vorliegende Arbeit, wie einer der bedeutendsten chinesischen Intellektuellen vor 100 Jahren den Ersten Weltkrieg betrachtete. Der Autor des Buchs ist Liang, Qichao. Liang war ein bedeutender chinesischer Gelehrter, Pädagoge, Politiker und Reformer. Im Jahr 1919 reiste er mit einer Gruppe chinesischer Intellektueller nach Europa. Während seines Aufenthalts in Europa besuchte er Großbritannien, Frankreich und Deutschland. Das Buch „Eindrücke einer Europareise“ ist eine Sammlung seiner Aufsätze und Berichte über diese Reise. Das Buch ist in acht Kapitel 2 gegliedert. Durch das Buch können wir die Eindrücke und Meinungen der damals einflussreichsten chinesischen Intellektuellen über den Ersten Weltkrieg erfahren. Um die Beziehung Chinas zum Ersten Weltkrieg zu verstehen, müssen wir zuerst einige Eckpunkte der chinesischen Geschichte kennen lernen. Kurz gesagt, kann die chinesische Geschichte je nach dem gesellschaftlichen und politischen System in zwei Teile gegliedert werden: das Kaiserreich und die Republik, oder auch die alte Zeit und die moderne Zeit. Der Wendepunkt ist die 1 Qichao Liang, Ouyou xinying lu [Eindrücke einer Europareise], Peking 2014. Liang ist der Nachname, Qichao ist der Vorname. Gemäß der europäischen Gewohnheit sollte es als Qichao Liang geschrieben werden. Dennoch: Weil er ein historischer Prominenter ist, funktioniert sein ganzer Name (sowohl die Schriftzeichen als auch die Aussprache) Liang Qichao bereits wie ein Fachbegriff. Aber wenn einfach Liang Qichao verwendet wird, kann vom europäischen Leser das Verhältnis zwischen seinem Vornamen und Nachnamen missverstanden werden. Aus dem Grund wird das Komma verwendet, erstens, um zu zeigen, dass Liang sein Familienname ist, und zweitens, um die originale Reihenfolge der Schriftzeichen seines Namens zu behalten. 2 1. Europa vor und nach dem Weltkrieg sowie die Ernüchterung der Chinesen; 2. Auf dem Weg nach Europa; 3. Erste Reise nach London; 4. Überblick über die Pariser Friedenskonferenz 1919; 5. Der Verlauf des Ersten Weltkrieges an der Westfront; 6. Besichtigung des Schlachtfelds sowie vom Elsass und Lothringen; 7. Beurteilung des Völkerbunds; 8. Beurteilung der Internationalen Arbeitsübereinkommen.
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Xiaojing Wang
Xinhai-Revolution im Jahr 1911 und die Abdankung des letzten chinesischen Kaisers 1912. 3 Als der Erste Weltkrieg ausbrach, befand sich China gerade im geschichtlichen Übergang von der alten zur neuen Gesellschaft, von der alten zur neuen Ideologie. Seit 221 v. Chr. hatte sich das Kaiserreich China stabil über 2000 Jahre entwickelt. 4 Das Kaiserreich China war ein eigenständiges selbstversorgendes, autarkes Land; der Bedarf des Reiches konnte mit eigenen Produkten gedeckt werden. China konnte sich ohne Außenhandel weiterentwickeln. Ab dem 14. Jahrhundert wurde die „Politik der verschlossenen Tür“ offiziell durchgesetzt, der private Außenhandel war seitdem überall verboten. 5 Bis 1840 war China ein geschlossenes Land und lehnte die Teilnahme an der modernen Entwicklung der Welt ab. Der Konfuzianismus war die herrschende Ideologie und es gab kaum moderne Wissenschaft und Technik in China. Im Jahr 1839 brach der Erste Opiumkrieg zwischen China und Großbritannien aus. China verlor den Krieg. Großbritannien zwang China ein demütigendes Diktat auf: Außenhandelsbeziehungen wurden erzwungen, Reparationen waren zu zahlen, Hongkong war abzutreten. 6 Anschließend nahmen die europäischen Großmächte nacheinander an Invasionen in China teil. 1856 brach der Zweite Opiumkrieg zwischen China, Großbritannien und Frankreich aus. 7 China erlitt erneut eine schwere Niederlage und war im Jahr 1858 gezwungen, den Opiumhandel in China zu legalisieren. 8 1860 eroberten französische und britisch-indische Truppen Peking, die Hauptstadt Chinas. 9 Die Truppen verbrannten und plünderten die prächtigsten kaiserlichen Gärten Chinas, „Yuanming Yuan“. 10 Bis heute halten die Chinesen dieses Ereignis für eine nationale Schande. Nach dem Chinesisch-Französischen Krieg von 1884/85 wurde der Südwesten Chinas zur Interessensphäre Frankreichs. 11 1900 wurde Peking erneut erobert, diesmal von den „Vereinigten acht Staaten“, einer Allianz zwischen Großbritannien, den USA, Frankreich, Österreich-Ungarn, Ja-
3 Vgl. Helwig Schmidt-Glintzer, Das neue China: Von den Opiumkriegen bis heute, München 1999, S. 35–42. 4 Vgl. Oskar Weggel, China, München 2002, S. 244–245. 5 Vgl. Wolfgang Reinhard (Hg.), Geschichte der Welt 1350–1750: Weltreiche und Weltmeere, München 2014, S. 638–645. 6 Vgl. Schmidt-Glintzer, S. 15–16. 7 Ebd., S. 21, 119. 8 Vgl. Klaus Mühlhahn, China und der westliche Imperialismus, in: Mechthild Leutner / Klaus Mühlhahn (Hg.), Kolonialkrieg in China: Die Niederschlagung der Boxerbewegung 1900–1901, Berlin 2007, S. 20. 9 Vgl. Schmidt-Glintzer, S. 119. 10 Vgl. Andreas Steen, Der Zwang zur Diplomatie: Kommunikation, Übersetzung und die Verhandlungen zum deutsch-chinesischen Vertrag 1859–1861, in: Mechthild Leutner (Hg.), Preußen, Deutschland und China: Entwicklungslinien und Akteure (1842–1911), Münster 2014, S. 63–64. 11 Vgl. Schmidt-Glintzer, S. 23, 119.
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pan, dem Deutschen Reich, Italien und Russland. Sie zwangen China eine Reihe von ungleichen Verträgen auf. 12 So kann man sagen, dass China bis zum Ersten Weltkrieg wie eine Torte von den westlichen Großmächten aufgeteilt wurde. Die Gesamtreparationen von 1840 bis 1911 betrugen 1,375 Milliarden Silbermünzen, umgerechnet etwa 137,5 Millionen Pfund Sterling. 13 Das Volk konnte die übermäßige Belastung nicht ertragen, sodass Aufstände ausbrachen und der Kaiser gestürzt wurde. Vor diesem Hintergrund lässt sich gut nachvollziehen, dass bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs die Chinesen vor allem hasserfüllt auf den Westen blickten. Außerdem fürchteten sie sich vor seiner modernen Technik und Industrie und wollten von ihm lernen. Ab 1861 inaugurierte die Regierung Chinas die Bewegung der Verwestlichung, um die westliche Technik zu studieren. 14 Die berühmtesten Grundsätze dieser Bewegung lauten „die Technik der Barbaren erlernen, um die Barbaren zu kontrollieren“, 15 und „chinesische Lehren als Grundlage, westliche Lehren als rein praxisrelevantes Verwendungswissen“. 16 Daraus kann man erkennen, dass für die damaligen Chinesen der Westen sowohl der Lehrer als auch der Feind Chinas war. Von 1840 bis 1915, über ein halbes Jahrhundert, lernten Chinesen vom Westen und hassten ihn zugleich. Im Ersten Weltkrieg gehörte China zu den Mächten der Entente. Ab 1917 wurden von den Briten und Franzosen schätzungsweise 150.000 chinesische Vertragsarbeiter für Schanzarbeiten an der Westfront eingesetzt. 17 Dennoch verschlechterten sich die Beziehungen zwischen China und dem Westen. Nach dem Krieg wollte China als ein Siegerstaat die Stadt Qingdao, das ehemalige deutsche Koloniegebiet in China, zurückhaben. 1919 wurde Qingdao jedoch bei der Pariser Friedenskonferenz dem Japanischen Kaiserreich übertragen. Daher fanden zwischen dem 4. Mai und 1. Juni 1919 in Peking und anderen
12 Ebd., S. 37. 13 Vgl. Nianyong Wang, Jindai zhonguo de zhanheng peikuan zongzhi [Gesamtreparationen Chinas seit der Neuzeit Chinas], in: Lishi yanjiu [Geschichtsforschung], Peking 1994, Bd. 5, S. 175–177. 14 Vgl. Jianhong Ding, Die Verwestlichungsbewegung und die Beziehungen zwischen Deutschland und China 1861–1896, in: Bettina Gransow u. a. (Hg.), China: Nähe und Ferne. Deutsch-chinesische Beziehungen in Geschichte und Gegenwart. Zum 60. Geburtstag von Kuo Heng-yü, Frankfurt a. M. 1989, S. 125–126. 15 师夷长技以制夷。 Vgl. Gilbert Metzger, Liang Qichao, China und der Westen nach dem Ersten Weltkrieg: Ein Viertel der Menschheit hat gegenüber der gesamten Menschheit die Verpflichtung für ein Viertel ihres Glücks, Münster 2006, S. 36. 16 中学为体, 西学为用。 Vgl. Michael Poerner, Chinesisch in der Fremde, Münster 2011, S. 170. 17 Vgl. Lars Amenda, Fremd-Wahrnehmung und Eigen-Sinn. Das „Chinesenviertel“ und chinesische Migration in Hamburg 1910–1960, in: Angelika Eder (Hg.), „Wir sind auch da!“: über das Leben von und mit Migranten in europäischen Großstädten, Hamburg 2003, S. 79.
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chinesischen Städten große Protestaktionen und Demonstrationen gegen den Friedensvertrag von Versailles statt. 18 Daraus folgt, dass der Hass der Chinesen gegen den Westen noch stärker wurde. Deswegen blickten die Chinesen nach dem Ersten Weltkrieg mit Schadenfreude auf das Chaos Europas, gleichzeitig waren sie orientierungslos, weil ihr Entwicklungsvorbild nun zerstört wurde. Sollte China weiter von Europa lernen? Was war die zukünftige Entwicklungsrichtung Chinas? Welchen Weg sollte China gehen? Aus dieser Sicht lässt sich die Relevanz der Einstellung der führenden chinesischen Intellektuellen zum Ersten Weltkrieg besser nachvollziehen. Ihre Meinungen waren sehr wichtig, da sie den Entwicklungsweg Chinas beeinflussen konnten. Vor dem geschichtlichen Hintergrund von Liangs Buch kann man dessen Inhalte einigermaßen vermuten. Wenn Liang der damaligen Volksemotion Chinas entgegenkommen wollte, musste das Buch ein verwüstetes und hoffnungsloses Europa schildern, das die Erlösung von China erwartet, und Hass und Abscheu gegen Europa äußern. Tatsächlich kann man, wenn man nur einige Zitate des Buchs liest, einen solchen Eindruck gewinnen. Slogans aus dem Buch, wie: „Die europäischen Länder sind bankrott“, 19 „Unsere chinesischen Jugendlichen! Setzt euch in Bewegung! Die Menschen im Westen sorgen sich nun wegen des Ruins ihrer Zivilisation, rufen jämmerlich um Hilfe und warten auf Rettung von euch“ 20 wurden weit verbreitet und werden immer noch häufig zitiert. Eine statistische Untersuchung zeigt jedoch ein ganz anderes Bild über Europa. So erwähnt Liangs Buch 97 Stärken und 41 Schwächen Europas; 7 Stärken und 24 Schwächen Chinas. Zudem behauptet das Buch, dass Europa in 2 Bereichen von China lernen und China in 14 Bereichen von Europa lernen solle. 21 In Gilbert Metzgers Studie „Liang Qichao, China und der Westen nach dem Ersten Weltkrieg: Ein Viertel der Menschheit hat gegenüber der gesamten Menschheit die Verpflichtung für ein Viertel ihres Glücks“ werden Liangs „Eindrücke einer Europareise“ aus einer geschichtlichen und politischen Perspektive untersucht. Metzgers Studie widmet sich der Entstehung, Entwicklung und Wandlung des Selbstverhältnisses der Chinesen und ihres Verständnisses der Modernisierung und der Weltordnung nach dem Ersten Weltkrieg. Metzger bemerkt, dass Liang dezidiert verneint, dass China Europa retten könne, und dass er stattdessen ein gegenseitiges Lernen und HorizontErweitern befürwortet. 22 So legt er großes Gewicht auf die Darstellung der 18 Vgl. Schmidt-Glintzer, S. 48–49. 19 Liang, S. 22. Wenn nicht anders angegeben, stammen alle Übersetzungen von der Autorin des Aufsatzes. 20 Ebd., S. 22, 52. 21 Vgl. ebd. 22 Vgl. Metzger, S. 146–155.
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Gedanken Liangs zu einer vom Osten und Westen zusammen gebildeten neuen Welt- und Kulturordnung. Leider übersieht Metzger an dieser Stelle Liangs Identifikation als international vernetzter Intellektueller innerhalb der neuen Welt- und Kulturordnung. Metzger diskutiert viele Aspekte der „Eindrücke einer Europareise“, wobei er im Wesentlichen „eine Analyse des chinesischen Denkens aus sich selbst heraus“ anstrebt. Metzger zieht Verbindungen zwischen Liangs Schrift und der chinesischen Geisteswelt jener Zeit, wobei sein Analyserahmen sehr stark von der These einer chinesischen Reaktion auf den Westen bestimmt ist. Jedoch kann eine allein auf China zentrierte Betrachtungsweise die international vernetzten Dimensionen der intellektuellen und politischen Milieus, denen Liang angehörte, kaum erfassen. 23 Die vorliegende Arbeit widmet sich dem Versuch, den von heutigen Medien und Forschern vernachlässigten Besonderheiten der Gedanken des bedeutendsten chinesischen Intellektuellen seiner Zeit nachzugehen und den von Metzger übersehenen Bereich zu ergänzen. Die konkreten Forschungsziele liegen darin, erstens die relevantesten Meinungen über Ursachen, Verlauf und Folgen des Ersten Weltkriegs in Liangs „Eindrücken“ aufzuzeigen, zweitens die im Buch geäußerte ideale Beziehung zwischen Europa und China nach dem Krieg zu skizzieren und drittens Liangs Eigenbild im transnationalen Kontext zu erörtern. Zum Schluss wird sich die historische Bedeutung und die kulturelle Relevanz des Buchs deutlich abzeichnen.
2. Der Erste Weltkrieg: Ursachen, Schlachten, Folgen 2.1 Ursachen
Im Kapitel „Europa vor und nach dem Weltkrieg“ analysiert Liang die Ursachen des Ersten Weltkriegs. Er meint, dass die Disharmonie zwischen der äußeren Gesellschaft und dem inneren Geist der Menschen die eigentliche Ursache des Ersten Weltkriegs gewesen ist. 24 Der Meinung von Liang nach waren vor dem Ersten Weltkrieg die äußerliche Kraft (Gesellschaft) und die innerliche Kraft (Geist) der Europäer äußerst unausgeglichen. Die äußerliche Gesellschaft entwickelte sich rapide, während der innerliche Geist der Menschen rapide welkte. Die genaue Diagnose lässt sich anhand von Tabelle 1 verdeutlichen. Liangs Ansicht repräsentiert eine typische chinesische Weltanschauung: die Yin-Yang-Theorie. Yin und Yang symbolisieren zwei einander ergänzende 23 Vgl. Dominic Sachsenmaier, Review of G. Metzger: Liang Qichao, China und der Westen nach dem Ersten Weltkrieg, in: H-Net Reviews, Februar 2008, S. 2, http://www.h-net. org/reviews/showrev.php?id=22120 [letzter Zugriff: 10. 02. 2020]. 24 Vgl. Liang, S. 15–18.
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Tabelle 1. Äußere und innere Kondition der Europäer vor dem Ersten Weltkrieg Äußere Welt
Innere Welt
Mechanistischer Materialismus, Evolutionismus, Individualismus verbreiteten sich rapide.
Menschlichkeit verlor an Wert. Geld und Macht wurden verehrt.
Rasche Entwicklung der Wissenschaft und Technik, Industrielle Revolution, Explosion der Produktivität.
Die Menschen glaubten, dass Wissenschaft allmächtig sei.
Religiöse und philosophische Traditionen wurden zerstört.
Menschen verloren den traditionellen Glauben, die geistliche und geistige Stützung und Orientierung und gerieten in Zweifel und Angst.
Komplexe Gesellschaft mit hitziger Konkurrenz.
Erschöpfung und Gier.
Zwischenmenschliche Beziehungen wurden durch materielle Verhältnisse bestimmt.
Gefühl- und Herzlosigkeit.
Die meisten Menschen waren Proletarier.
Die Menschen fühlten sich unsicher und unruhig.
Ergebnis
Utilitarismus, Machtpolitik, Militarismus herrschten und führten zum Krieg.
und fördernde Kräfte, z. B. das Männliche und das Weibliche, das Innere und das Äußere. Nur wenn die beiden Kräfte harmonisch ausgewogen sind, kann ein System stabil funktionieren oder ein Mensch gesund leben. Ansonsten wird das System degenerieren und der Mensch erkranken. Um die europäische Gesellschaft zu analysieren und erläutern, konnte Liang nicht vermeiden, die den damaligen durchschnittlichen chinesischen Lesern neu und fremd erscheinenden westlichen Begriffe, wie „Evolutionismus“, „Materialismus“, zu verwenden. Das hätte die chinesischen Leser stören können. Allerdings wird diese negative Wirkung ausgeglichen, indem Liang die europäische Gesellschaft im Rahmen der den Chinesen bekannten dualen Weltanschauung des Yin und Yang vorstellt, was den chinesischen Lesern seiner Zeit sehr dabei geholfen haben dürfte, die komplizierten Probleme der fernen und fremden europäischen Gesellschaft zu verstehen.
2.2 Schlachten
Liang berichtete über den Ersten Weltkrieg nicht in einem dokumentarischen, sondern einem dramatischen Stil, der sich nahe der gesprochenen Sprache bewegt. Bezüglich des Verlaufs des Ersten Weltkriegs stellte er vorwiegend die Schlacht um Verdun (1914/15), die Schlacht an der Marne (1916) und die
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Deutsche Frühjahrsoffensive (1918) dar. 25 In seiner Schilderung der Schlachten legte Liang großes Gewicht auf die mentale Stärke der Menschen, z. B. bei der Beschreibung der Schlacht an der Marne betonte er den Opfergeist der belgischen Armee, die den übermächtigen deutschen Truppen über zwanzig Tage lang Widerstand leistete: Die Deutschen [. . . ] brachen die Neutralität Luxemburgs und Belgiens und griffen vom Norden das militärisch schwache Gebiet Frankreichs an. Sie hielten es für eine erfolgsversprechende Strategie. Jedoch hatten sie nicht erwartet, dass sich das vom Opfergeist erfüllte Belgien sogar erkeckte, die deutsche Armee abzufangen und mehr als zwanzig Tage lang aufzuhalten. 26
Liang lobte die Klugheit und den Mut der Franzosen, die während des Krieges ihre Regierung von Paris nach Bordeaux verlegt hatten: Dass Frankreich dem Feind den Norden resolut überließ, zählt zu den außerordentlichen tapferen Taten in der tausendjährigen menschlichen Geschichte. Man sollte wissen, dass Nordfrankreich das industrielle Zentrum des Landes war, wo sich die Eliten des Landes konzentrierten. Du kannst dir vorstellen, was für einen Schmerz es bedeutete, dieses Gebiet aufzugeben! Nachdem die Franzosen jedoch die Interessen der Gesamtheit berücksichtigt hatten, glaubten sie, dass das die einzige Möglichkeit war, den Krieg zu gewinnen. Sie verhielten sich dann gar wie „ein Held, der seinen von einer Giftschlange gebissenen Arm abschneidet“. Würden die Franzosen eine solche couragierte Tat unternehmen, wenn sie keine großzügigen und weitblickenden Bürger sein würden? 27
In diesem Absatz verwendet Liang das Pronomen der zweiten Person „du“ und eine rhetorische Frage, als ob er mit den Lesern direkt kommunizieren wollte. Beides ist normalerweise in einem formellen Bericht zu vermeiden. Liang bevorzugt außerdem emotionsgeladene Ausdrücke, wie z. B. „außerordentliche tapfere Taten in der tausendjährigen menschlichen Geschichte (千古神勇)“, „ein Held, der seinen von einer Giftschlange gebissenen Arm abschneidet (毒蛇在手壮士断腕)“. Dadurch lassen sich die Leidenschaft und der Respekt des Autors vor den erhabenen Persönlichkeiten der Menschheit unmittelbar wahrnehmen. Im Gegensatz dazu kann man in Liangs Buch kaum die direkte Enthüllung des menschlichen Bösen finden. Noch merkwürdiger ist, dass Liang bei der Beschreibung des Höhepunkts der Schlacht um Verdun keinen pathetischen oder tragischen Stil und auch keine journalistische, objektive Sprache verwendet, sondern unerwartet auch poetische, heitere Ausdrücke. Im Text heißt es: Die Flugzeuge der beiden Armeen bedeckten den Himmel und schwärmten wie die vor dem leichten Regen fliegenden Libellen. Verduns Eisenbahnverbindung 25 Vgl. ebd., S. 117–132. 26 Ebd., S. 119. 27 Ebd., S. 121.
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nach Paris wurde von der feindlichen Artillerie zerstört. Dann benutzte Frankreich 3.400 Lastkraftwagen, um rund um die Uhr Güter und Material zu transportieren. In der Nacht erschienen die Kolonnen wie zwei Feuerschlangen, die sich hin und her schlängelten. Die feindlichen Truppen stürzten im Kugelregen der Maschinengewehre über die Leichen, während die französischen Soldaten sich im leichten Regen von Schüssen, die blühenden Blumen ähnelten, ruhig sprechend und lächelnd verteidigten. 28
Der Autor vergleicht zuerst die Flugzeuge mit Libellen. Für europäische Leser scheint die erste Metapher vielleicht nicht außergewöhnlich zu sein, da die Libellen – was die Gestalt angeht – den Kampfflugzeugen ähnlich sind. In der chinesischen Kultur jedoch besitzt die Libelle ein ganz anderes Image. Eine Untersuchung der Darstellung der Libelle in zwanzig berühmten chinesischen Gedichten 29 ergibt, dass in der chinesischen Kultur die Libelle durchgehend über ein graziöses Image verfügt. Sie begleitet stets Lotus oder Teichrosen und symbolisiert Frische und Vitalität, was dem Eindruck von mörderischen Kampfflugzeugen gar nicht entspricht (vgl. Tabelle 2). Als ein Literat kennt sich Liang in der chinesischen Kultur sehr gut aus. Warum beschrieb er die Kampfflugzeuge auf solche Weise? Tabelle 2. Äquivalenzen und Ambivalenzen der Bilder von Kampfflugzeugen und Libellen Kampfflugzeuge Äquivalenz Ambivalenz
Libellen
schlank, dunkel
schlank, dunkel
schwärmen
schwärmen
schwer
leicht
ohrenbetäubend
ruhig
aggressiv
graziös
mörderisch
vital
Rauch, Dunkelheit, Tod
Teich, Lotos, Leben
Eine solche Beschreibungsweise ist ein geschicktes literarisches Verfahren. Zuerst verbinden die äußerlichen Äquivalenzen von Kampfflugzeugen und Libellen die zwei Dinge in der Assoziation der Leser. Diese Zusammensetzung hebt aber sofort den Kontrast zwischen Kriegsmaschinen und Lebewesen hervor. Die äußerlichen Äquivalenzen und der innerliche Kontrast lösen sofort eine ästhetische Spannung aus, die die Leser wahrnehmen lässt, dass das Leben im Krieg gleich wie eine Libelle angesichts eines Kampfflugzeugs äußerst schwach und sensitiv ist, so dass es leicht ist, ein Leben im Krieg zu vernichten.
28 Ebd., S. 127. 29 Vgl. Appendix 1.
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Das andere Beispiel hat eine ähnliche Funktion. „Die feindlichen Truppen stürzten im Kugelregen der Maschinengewehre über die Leichen, während die französischen Soldaten sich im leichten Regen von Schüssen, die blühenden Blumen ähnelten, ruhig sprechend und lächelnd verteidigten“. In diesem Satz gibt es zwei Merkwürdigkeiten: erstens werden die Explosionen von Granaten oder das Mündungsfeuer der Gewehre mit dem Aufblühen verglichen, zweitens verteidigten die französischen Soldaten ruhig sprechend und lächelnd. Wenn man das Aufblühen in Zeitraffer und eine Explosion in Zeitlupe zeigt, erkennt man, dass die Explosion dem Aufblühen wirklich ähnelt. Aber das Eine deutet die Blüte des Lebens an und das Andere bedeutet die Zerstörung des Lebens. Die Wirkung dieser Metapher ist derjenigen von den Libellen gleich. Durch die äußerlichen Äquivalenzen werden die schönen Lebewesen und die mörderischen Waffen nebeneinandergestellt (vgl. Tabelle 3). Auf diese Weise werden die Differenzen zwischen den beiden bzw. die Grausamkeit der Waffen besonders auffällig hervorgehoben. Tabelle 3. Äquivalenzen und Ambivalenzen der Bilder von Schüssen und Blumen Äquivalenz Ambivalenz
Schüsse
Blumen
klein und dicht
klein und dicht
explodieren
blühen
hart
weich
ohrenbetäubend
ruhig
aggressiv
graziös
mörderisch
vital
Rauch, Dunkelheit, Tod
Duft, Sonne, Leben
Jetzt kommen wir zu der zweiten Merkwürdigkeit: „Die feindlichen Truppen stürzten [. . . ] über die Leichen, während sich die französischen Soldaten ruhig sprechend und lächelnd verteidigten“ – das ist offensichtlich eine ungewöhnliche gegensätzliche Kombination. Auf der inhaltlichen Ebene fragt man sich, wer im wirklichen Leben gegenüber dem gewaltigen Feind ruhig sprechend und lächelnd kämpfen würde? Es gibt eine Möglichkeit: Es handelt sich um Menschen, die sich kaum eine Überlebenschance zurechnen und den Tod erwarten. So enthüllt dieser Satz die ungewöhnliche Grausamkeit aus einer ungewöhnlichen Perspektive. Auf der formalen Ebene werden durch die Wörter bzw. Schriftzeichen dieses Satzes zwei Kontraste der Sinnesassoziationen konstruiert (vgl. Tabelle 4). Beim akustischen Sinneseindruck verbinden sich und kontrastieren der ohrenbetäubende Lärm der Maschinengewehre und die Stimmen der Soldaten, die unbekümmert und entspannt wirken, in dramatischer und grotesker Weise. Dieser Kontrast löst sofort die visuelle Assoziation mit dem Bild von pathologischen und wahnsinnigen Handlungen der Menschen auf dem Schlachtfeld
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aus. Beim Geruchssinn mischen sich der blutige Gestank der Leichen und die von den Schriftzeichen „Blume“ und „Regen“ erweckten duftigen und frischen Gerüche. Diese Mischung verursacht einen widerlichen, ambivalenten Sinneseindruck, der den Tod und das Leben, die Verzweiflung und die Hoffnung, die Hässlichkeit und die Schönheit impliziert. Dieser ambivalente Sinneseindruck spiegelt die komplexen und extremen Emotionen der Menschen angesichts des Krieges und hilft somit den Lesern, sich mit den Menschen auf dem Schlachtfeld zu identifizieren. Schließlich geraten die Leser in eine Explosion der Synästhesie von Hören, Sehen, Riechen und Emotion über das Schlachtfeld und können das Gefühl der Soldaten hautnah erleben. Tabelle 4. Kontraste der Sinnesassoziationen Kontrast
Wort / Zeichen
Sinnesassoziation
1. Kontrast: hören
Maschinengewehre (机关枪)
ohrenbetäubender Lärm
sprechen (谈), lachen (笑)
unbekümmertes und entspannendes Gefühl
Leichen (尸体)
hässlich, nach Blut riechend, stinkend
Blumen (花), Regen (雨)
duftig, frisch
2. Kontrast: riechen
Zusammenfassend zeigt die Textanalyse, dass Liang sich bemühte, eine blutige Beschreibung des Schlachtfelds zu vermeiden und das Gute im Menschen hervorzuheben. Er wollte die Kriegsteilnehmer und den Krieg nicht dämonisieren, sondern verwendete einen lebendigen und poetischen Stil, damit die Leser den komplizierten Kriegsverlauf besser verstehen und die tiefe Traurigkeit des Krieges wahrnehmen können. Daraus ergibt sich, dass der Autor hoffte, dass die chinesischen Leser keine Schadenfreude wegen des Ersten Weltkriegs, sondern Mitgefühl verspüren. 2.3 Folgen
Die folgende Untersuchung geht der Frage nach, was in den Augen chinesischer Intellektueller nach dem Ersten Weltkrieg für Europa folgte. Selbstverständlich erbrachte der Krieg für Europa eine Reihe katastrophaler Folgen. Dennoch sah Liang auch sieben positive Änderungen Europas nach dem Krieg. 30 Sie lauteten: 1. Der Nationalismus verblüht. 2. Der Kosmopolitismus verbreitet sich. 3. Die Demokratie wird zum vorherrschenden politischen Prinzip.
30 Vgl. ebd., S. 22–28.
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4. Der Einfluss der Russischen Revolution wächst immer mehr. 5. Die internationale Konkurrenz der Industrie und Wirtschaft intensiviert sich. 6. Der Mythos von der Allmacht der Wissenschaft wird zerstört, Wissenschaft und Technik können daher vernünftig weiterentwickelt werden. 7. Der menschliche Geist wurde verletzt. Philosophie und Religion werden bald wiederbelebt werden. Liang kommentierte: Die gegenwärtigen Europäer [. . . ] streben jeden Tag die Selbstentwicklung an, erheben sich unermüdlich gegen die Unterdrücker und schreiten Tag um Tag fleißig fort. Nun möchten die Europäer, besonders die Menschen zwischen dreißig und vierzig, die in der Gesellschaft kämpfen, unter den äußerst schwierigen Bedingungen eine steile Karriere machen. Heutzutage salbadern sie nicht mehr wie vorher, als sie noch jung und in der Schule waren. Sie haben die ganze Härte des Lebens erlebt und sind jetzt voller Mitleid. Daher suchen sie ein richtiges Fundament für ihr Leben und ihre Entwicklung. Nun finden sie es langsam. 31
Daraus kann man ersehen, dass Liangs Meinung nach der Erste Weltkrieg der Wandlungspunkt Europas von einem naiven Jungen zu einem besonnenen Erwachsenen ist. Liang wies die Leser nachdrücklich darauf hin, Europa sei gar nicht untergegangen. Nach dem Ersten Weltkrieg werde ein besseres Europa auftreten.
3. China und Europa nach dem Ersten Weltkrieg Bezüglich der Beziehung zwischen China und Europa hatte Liang eine kreative Auffassung. Die Kreativität seiner Meinung liegt in den folgenden drei Aspekten: im gegenseitigen Lernen, dem Inhalt und dem Endziel des Lernens. Vor allem meint er, dass China und Europa von einander lernen und sich so entwickeln sollten, statt sich einseitig zu orientieren. Gleichzeitig könnten die Europäer vor allem jene Vereinigung von Idee und Praxis von der chinesischen Philosophie lernen, die die Fehlentwicklungen Europas ausgleichen könne. Liang sagt: Ich habe sorgfältig darüber nachgedacht: Wir haben in der Tat die Eignung dazu. Aus welchem Grund wohl? Die westliche Zivilisation konnte in der Vergangenheit nie vermeiden, Idee (理想) und Praxis (实际) in zwei Stränge zu teilen. Ideal (唯心) und Materie (唯物) gingen jeweils ins Extrem. Die Religiösen (宗教) legten besonderes Gewicht auf das Leben nach dem Tod (来生), die idealistische Philosophie ließ sich über das Geheimnisvolle (玄妙) aus. Das alles
31 Ebd., S. 24.
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war von den Lebensproblemen der Menschen weit entfernt. In einer Reaktion der Wissenschaft fegten die Materialisten alles unter dem Himmel hinweg und verloren die edlen Ideale. [. . . ] Obwohl Konfuzius, Laozi und Mozi jeweils eigene philosophische Schulen entwickelten, ist das „Streben nach der Einigung von Idee und Praxis“ der gemeinsame Endpunkt. 32
Außerdem könne der chinesische Kosmopolitismus den Europäern als Vorbild dienen. Bezüglich der Organisation der menschlichen Gesellschaft brachte Liang große Zuversicht zum Ausdruck: „Was das Ideal der ‚großen Gruppe der gesamten Menschheit‘ betrifft, ist unser China stets am fortschrittlichsten“. 33 Anlässlich der Meinungsverschiedenheiten über die Rüstungskontrolle im Völkerbund kommentierte Liang: „Wir Chinesen sollten tatsächlich dafür Verantwortung tragen, weil wir von alters her das Ideal von ‚Unter dem Himmel‘ (Tianxia) 34 besitzen. Wir halten den Staat nie für die höchste menschliche Gruppe“. 35 Auf der chinesischen Seite betonte Liang durch sein Buch ausdrücklich, dass China in viel mehr Bereichen von Europa lernen sollte als Europa von China. 36 Auf diese Weise brach Liang einen damals sowohl in Europa als auch in China populären Mythos, dass China Europa retten könne. An dieser Stelle ist darauf hinzuweisen, dass „Lernen vom Westen“ eigentlich in der Zeit von Liang keine neue Idee mehr war, weil ab 1861 die Regierung Chinas die Bewegung der Verwestlichung gefördert hatte, um die westliche Wissenschaft und Technik zu studieren. Die Besonderheit von Liangs Meinung besteht freilich nicht in der Handlung „Lernen“, sondern in dem Inhalt des Lernens, also was die Chinesen von Europa lernen sollen. Der populärste Grundsatz der chinesischen Bewegung der Verwestlichung lautet: „Chinesische (‚Zhong‘) Lehren als Grundlage (‚Ti‘), westliche (‚Xi‘) Lehren als rein praxisrelevantes Verwendungswissen (‚Yong‘)“, kurz: „Zhongti xiyong“. Dieser Grundsatz ist bekannt als „Ti-Yong“-Gedanke. Die Dichotomie von „Ti“ und „Yong“ dient in der chinesischen Tradition dazu, die Beziehungen zwischen Struktur und Funktionalität sowie zwischen Wesen und Phänomen zu erläutern. Mit anderen Worten: „Ti“ steht für das Innere, so gehören z. B. Geist und Ethik zur „Ti“-Kategorie, während „Yong“ die äußeren Aspekte abdeckt; Rechnen und Technik etwa zählen zur „Yong“-Kategorie. 37 Dieser Grundsatz will darauf hinaus, dass es eine festumrissene Grenze zwischen „Ti“ und „Yong“ gebe. Zudem definiert er, was die Funktion des
32 Ebd., S. 50; übers. v. Metzger, S. 146–147. 33 Ebd., S. 170. 34 „Tianxia“ bedeutet „Weltreich“ (wörtlich: „unter dem Himmel“). Vgl. Wolfgang Kubin, Die chinesische Literatur im 20. Jahrhundert, München 2008, S. VII. 35 Liang, S. 190. 36 Vgl. ebd. 37 Vgl. Metzger, S. 35.
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Wissens ist und welches westliche Wissen sich die Chinesen aneignen sollten und welches nicht. Das heißt, dass man das westliche Wissen ausschließlich für den praktischen Nutzen studieren soll und die erworbenen Kenntnisse das „Ti“ (Wesen, Inneres) dabei auf keinen Fall verletzen dürfen. Wissen, welches nicht direkt zu praktischem Nutzen dient oder das „Ti“ korrumpiert, soll man nicht erwerben. Seit über 2000 Jahren konstruieren die konfuzianischen ethischen Lehren das „Ti“ Chinas. Im Laufe der Bewegung der Verwestlichung Chinas gehörten vor allem Naturwissenschaft und Technik zur „Yong“-Kategorie. Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert wurden das politische, Wirtschafts- und Bildungssystem der Kategorie „Yong“ hinzugefügt. Der „Ti-Yong“-Gedanke war so tief verwurzelt, dass sich die chinesischen Intellektuellen bis in die Zeit der Republik China nicht ganz davon befreien konnten. 38 Dennoch forderte Liang in „Eindrücke“ diesen Gedanken heraus. Im Buch werden 14 Punkte genannt, in denen China von Europa lernen solle. Gemäß der obigen Formel von „Ti-Yong“ gehören zur „Yong“-Kategorie folgende Punkte: „Demokratie der Bürger“, „Forschungsmethode“, „Rechtsstaatlichkeit“, „Wahlsystem“, „Rechte der Arbeiter“ und „Einstellung zu Erziehung und Bildung“. Die anderen 8 Punkte: „Optimismus“, „Geduld, Ausdauer, Weitblick“, „Entfaltung individueller Begabungen“, „Denkfreiheit“, „Befreiung der eigenen Persönlichkeit“, „Selbstverwaltung“, „Jugendbewegung“ und „Kampfgeist gegen Unterdrückung“ überschreiten bereits die Grenze zwischen „Ti“ und „Yong“, weil sie den Geist, die Mentalität sowie die Ethik der Chinesen, also das „Ti“ Chinas, beeinflussen oder gar verändern könnten. Aus diesem Grund lassen sie sich der „Ti“-Kategorie zuordnen (vgl. Tabelle 5). So erhalten die westlichen Lehren die Chance, am Aufbau der „Grundlage“ Chinas teilzunehmen. Tabelle 5. „Ti-Yong“-Zuordnung der zu erlernenden Stärken Europas „Ti“
„Yong“
Optimismus
Demokratie der Bürger
Geduld, Ausdauer, Weitblick
Forschungsmethode
Entfaltung individueller Begabungen
Rechtsstaatlichkeit
Denkfreiheit
Wahlsystem
Befreiung der eigenen Persönlichkeit
Rechte der Arbeiter
Selbstverwaltung
Einstellung zu Erziehung und Bildung
Jugendbewegung Kampfgeist gegen Unterdrückung 38 Vgl. Xingtao Huang, Minguo wenhua de shidai jingshen [Der Zeitgeist der Kultur der Republik China], in: Ders., Wenhua de shiye [Die Perspektive der Kultur], Fujian 2000, S. 51–52.
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Daraus ergibt sich, dass Liangs Meinung nach die Bereiche, in denen China von Europa lernen kann, sich nicht auf den „Yong“-Bereich beschränken und den Zugang zu „Ti“ sowie zur Rekonstruktion von „Ti“ offen lassen sollten, damit das chinesische „Ti“ mit neuer Dynamik und Energie ergänzt und verbessert werde. Diese mutige Ansicht kann man sogar auf die tiefgreifende Annahme zurückführen, dass China und Europa in ihren geistigen Bereichen verwandt und einander nützlich seien. 39 Noch bemerkenswerter ist, dass Liang bezüglich der Beziehung zwischen Europa und China eine Auffassung von „1 + 1 = 3“ vertritt. Das heißt, dass nach dem gegenseitigen Lernen aus Europa und China eine neue Kultur entstehen würde, die ein großer Beitrag für die Entwicklung der ganzen Menschheit und für den Aufbau einer besseren Welt sein könnte. In diesem Sinne ergeht Liangs Aufruf an die Jugend: Deshalb hoffe ich, dass unsere liebenswerte Jugend erstens die Aufrichtigkeit bewahrt, die Kultur unseres Landes zu schätzen und zu schützen; zweitens, dass sie sie mit der westlichen Forschungsmethodik erforscht und die wirklichen Fakten herausfindet; drittens, dass sie ihre eigene Kultur sublimiert (综合) und durch Elemente anderer Kulturen unterstützt, dass sie sie einem Effekt der chemischen Reaktion unterzieht und zu einem neuen kulturellen System werden lässt; dass sie viertens dieses neue System verbreiten und die gesamte Menschheit daraus ihren Nutzen ziehen lässt. 40
Daraus kann man ersehen, dass Liangs Endziel sich völlig vom ursprünglichen Ziel der Bewegung der Verwestlichung („Die hoch entwickelten Techniken der Barbaren erlernen, um den Barbaren zu widerstehen“) unterscheidet. Liangs Blick überschreitet die Grenzen der Nationen und Kulturen und hat das Wohl der gesamten Menschheit im Auge.
4. Das Selbstbild von Liang Aufbauend auf Bakhtins „Problems of Dostoevsky’s Poetics“ 41 fasst meine Studie „Voice in image“ 42 fünf Kriterien für die dialogische Qualität einer Figur zusammen: erstens autonomes Subjekt, die Figur ist ein autonomes Subjekt; 39 Von alters her hielten Chinesen Europäer für eine andere Sorte von Lebewesen, eine bekannte Bezeichnung von Europäern im alten China lautet „fremder Teufel“ (fangui, 番鬼). Vgl. Naiming Pang, Mingdai zhongguoren de ouzhou guan [Einstellungen der Chinesen während der Ming-Dynastie zu Europa], Tianjin 2006, S. 95. 40 Liang, S. 51; übers. v. Metzger, S. 149–150. 41 Vgl. Mikhail Bakhtin, Problems of Dostoevsky’s Poetics, Minneapolis 1984. 42 Vgl. Xiaojing Wang, Voice in image: a methodological and theoretical approach to the dialogic image of the other with the European image of China as an example, in: Matthias Freise (Hg.), Inspired by Bakhtin: Dialogic methods in the humanities, Brighton 2018, S. 126–174.
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zweitens Gleichberechtigung, die Figur behandelt andere Figuren ebenso als unabhängige Individuen und erkennt Intelligenz und Recht der Anderen an; drittens Polyfonie, die Figur hat und toleriert unterschiedliche, kontroverse und sogar ambivalente Standpunkte und wird von keiner Ideologie oder Konvention manipuliert; viertens gegenseitiger Einfluss, die Figur ist bereit, von Anderen zu lernen und beeinflusst zu werden; fünftens Unendlichkeit, die Figur ist offen für die Zukunft und ihr ist bewusst, dass wegen der gegenseitigen Einflüsse die Anderen auch viele Möglichkeiten auf dem Weg der Selbstentwicklung haben. 43 Aus der Untersuchung des Buchs „Eindrücke einer Europareise“ ergibt sich, dass Liang den fünf Kriterien der dialogischen Qualität entspricht, wenn es erlaubt ist, Bakhtins Untersuchung, die Figuren gilt, auf einen Autor zu übertragen. Gegenüber dem Ersten Weltkrieg sowie Europa selbst ist Liang kein Kritiker, auch nicht nur ein Beobachter, sondern ein Dialog-Stifter. Als Vertreter Chinas behandelt Liang Europa als ein autonomes Subjekt. Aus seiner Analyse der Ursachen und Folgen des Ersten Weltkriegs kann man ersehen, dass Europa aus seiner Sicht nicht wie eine Kriegsmaschine, sondern wie ein lebendiger Mensch handelte, der eine eigene Handlungsdynamik und einen eigenen Entwicklungsverlauf hat, der erkranken und sich erholen kann. Bei der Beschreibung des Höhepunkts des Ersten Weltkriegs dämonisiert Liang die Kriegsteilnehmer nicht, sondern äußert seinen Respekt vor dem Opfergeist und Mut der verteidigenden Truppen und versucht, die chinesischen Leser den Schmerz und die Traurigkeit der Menschen im Krieg nachvollziehen zu lassen. Auf diese Weise wird Mitgefühl erweckt, damit die chinesischen Leser die Europäer statt als „fremde Teufel“ 44 als gleichberechtigte Menschen ansehen. Liangs polyfone Meinungen zur chinesischen Kultur, zur europäischen Gesellschaft und zum Völkerbund treten in seinem Buch deutlich hervor. Einerseits war für ihn klar, dass die traditionelle chinesische Kultur unbedingt zu schätzen, zu schützen und zu behalten ist. Andererseits behauptete er, dass die chinesische Kultur sich dringend aktualisieren lassen müsse. Bezüglich der europäischen Gesellschaft zeigte er einerseits ihre vielen „hartnäckigen Krankheiten“ auf, aber andererseits erwähnte er 97 Stärken Europas. Was den Völkerbund betrifft, enthüllte er einerseits seine Machtpolitik, Widersprüchlichkeit und seinen Kompromisscharakter. 45 Gleichzeitig appelliert er an die Chinesen, den Völkerbund nicht aufzugeben, sondern aktiv daran teilzunehmen, ihm möglichst zu helfen und ihn zu unterstützen, weil er ein von der ganzen Menschheit eingerichtetes Werk sei. 46
43 44 45 46
Vgl. ebd., S. 140–144. Vgl. Pang, S. 95. Vgl. Liang, S. 196–197. Vgl. ebd.
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Zuletzt meint Liang, dass China und Europa bereit sein sollten, voneinander zu lernen, einander zu beeinflussen und sich dadurch zu entwickeln. Zudem war er begeistert vom „Effekt der chemischen Reaktion“ 47 bei dem Aufeinandertreffen der beiden Kulturen. Liang hatte die Zuversicht, dass die Verschmelzung der europäischen und der chinesischen Kultur der ganzen Menschheit unendliche Möglichkeiten bringen würde. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Liang frei von Orientalismus 48 oder Okzidentalismus 49 als ein Kosmopolit zwischen den zwei Kulturen stand und sie beide gleichberechtigt behandelte. Er verstand die Kompliziertheit einer Kultur und der Menschheit; er war offen gegenüber der neuen Kultur und bereit, unterschiedliche Ansichten zu akzeptieren; er freute sich auf eine Verschmelzung der europäischen und chinesischen Kultur und erwartete deren mannigfache Möglichkeiten in der Zukunft.
5. Konklusion Als Fazit ergibt sich: In den „Eindrücken“ sah Liang den Ersten Weltkrieg als ein zwangsläufiges Ergebnis der disharmonischen Entwicklung der inneren und äußeren Welt der Europäer an; diese Disharmonie habe jene WarlordAutokratie ausgelöst, die eine der direkten Ursachen des Kriegs gewesen sei. Bei der Schilderung des Kriegsverlaufs verwendet er einen lebendigen und poetischen Stil und ein spezifisches literarisches Verfahren, damit die Leser den Wahnsinn des Kriegs nachvollziehen. Trotz des wirtschaftlichen Kollapses und der gesellschaftlichen Krise sei Europa nach dem Ersten Krieg gleichsam von einem Jungen zu einem reiferen Menschen geworden. Liang äußert seine Anerkennung für den europäischen geistigen Charakter und seine Zuversicht, was den Aufschwung Europas angeht. Liang brach mit dem Prinzip „Zhongti xiyong“. Er verstand sich nicht als Beobachter oder Berichterstatter, sondern als dialogischer Gesprächspartner, der zur Schaffung einer über einzelne Staaten hinausgehenden Allianz beitragen wollte. Man kann also zum Schluss kommen: Wegen der über tausendjährigen konservativen Monarchie verfügten die Chinesen vor rund 100 Jahren kaum über Kenntnisse von Europa. Damalige Chinesen verspürten üblicherweise Abneigung, Hass und Misstrauen gegenüber dem Westen. Liang gehörte zu den einflussreichsten Intellektuellen Chinas. Seine Vorstellung und Beurteilung des Ersten Weltkriegs spielt eine wichtige Rolle bei der Förderung des Verständnisses der Chinesen für Europa und auch bei der Verbesserung ihrer 47 Ebd., S. 51. 48 Vgl. Edward Said, Orientalism, New York 1978. 49 Ian Buruma und Avishai Margalit definieren „Okzidentalismus“ als eine Ideologie des Hasses gegen den Westen. Vgl. Ian Buruma / Avishai Margalit, Okzidentalismus: Der Westen in den Augen seiner Feinde, München 2015.
Besseres Europa, bessere Welt
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Eindrücke vom Westen. Liang veränderte in gewissem Maße die Umgangsweise der Chinesen mit den Fremden. Bis heute ist sein dialogischer Geist mustergültig.
Appendix 1 Ausgewählte chinesische Gedichte über Libellen Titel
Autor
《新艳》 (Xinyan)
白居易 Bai, Juyi
《中牟道中二首》 (Zhongmou daozhong er shou)
陈与义 Chen, Yuyi
《湖边》 (Hubian)
崔复初 Cui, Fuchu
《风雨看舟前落花,戏为新句》 (Fengyu kan zhouqian luohua, xi wei xinju)
杜甫 Du, Fu
《四时田园杂兴》 (Sishi tianyuan zaxing)
范成大 Fan, Dacheng
《蜻蜓》 (Qingting)
韩偓 Han, Wo
《春词》 (Chun ci)
刘禹锡 Liu, Yuxi
《句》 (Ju)
卢延让 Lu, Yanrang
《蜻蜓歌》 (Qingting ge)
卢仝 Lu, Tong
《水亭》 (Shuiting)
陆游 Lu, You
《春日五首》 (Chunri wu shou)
秦观 Qin, Guan
《经尚湖望虞山》 (Jing shanghu wang yushan)
沈周 Shen, Zhou
《小池》 (Xiaochi)
杨万里 Yang, Wanli
《苕山水歌》 (Shaoshanshui ge)
杨维桢 Yang, Weizhen
《景申秋八首》 (Jingshenqiu ba shou)
元稹 Yuan, Zhen
《斜径》 (Xiejing)
王安石 Wang, Anshi
《浣溪沙》 (Huanxisha)
王国维 Wang, Guowei
《野池》 (Yechi)
王建 Wang, Jian
《江城子》 (Jiangchengzi)
王质 Wang, Zhi
《夜宴谣》 (Yeyan Yao)
温庭筠 Wen, Tingyun
Johannes Waßmer
(Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf)
Feuer und Phoenix: Die Wiedergeburt der Zukunft aus der Asche der Westfront Zur Problematik der Sinndeutungen des Ersten Weltkriegs
Phoenix ist ein Vogel Arabiens, so benannt, weil er die phönizische Farbe (= Purpur) hat oder weil er auf der ganzen Welt einzig und einmalig ist. Denn die Araber meinen mit phoenix einzigartig. Diese leben länger als 500 Jahre, [und] während er alt zu werden scheint, stürzt er sich, wenn er Gewürzzweige gesammelt hat, auf den Scheiterhaufen, und zu einem Sonnenstrahl verwandelt mit seinen Flügeln schlagend nährt er freiwillig sein Feuer und erhebt sich so wiederum aus der Asche. 1
Die Vorstellung einer Wiederauferstehung aus der eigenen Asche, wie sie hier Isidor von Sevilla dem Vogel Phoenix zuschreibt, ist im Geschichtsdenken zahlreicher Nationen und Literaturen fest verankert. In Johannes R. Bechers Text der Nationalhymne der Deutschen Demokratischen Republik heißt es: „Auferstanden aus Ruinen [. . . ] steigt ein neu Geschlecht empor“. 2 Der Erste Weltkrieg mit seinen Materialschlachten insbesondere an der Westfront hat zu derartigen geschichtlichen Sinndeutungen herausgefordert. Man denke an Johann Plenges Begriff der „Ideen von 1914“, 3 der sich weit über den Ansturm der intellektuellen Augustbegeisterung hinaus erhält und dessen Wirkung bis in die Nachkriegsjahre hineinreicht. 4 Plenge urteilt, „der Kriegsausbruch und
1 Isidor von Sevilla, Etymologiae XII, in: Ders., Die Enzyklopädie, übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Lenelotte Möller, Wiesbaden 2008, S. 480. 2 Johannes R. Becher, Deutsche Nationalhymne, in: Neues Deutschland 261 (1949), Jg. 4, S. 2. 3 Ausführlich widmet sich Steffen Bruendel den „Ideen von 1914“, ihrer Begriffs- und Wirkungsgeschichte, vgl. Steffen Bruendel, Volksgemeinschaft oder Volksstaat. Die „Ideen von 1914“ und die Neuordnung Deutschlands im Ersten Weltkrieg, Berlin 2003. Eine zeitgenössische Publikation zu den „Ideen“ legt 1919 mit „Zur Vertiefung des Sozialismus“ Johann Plenge selbst vor, in der er sich u. a. mit Hermann Bahr über das Programm austauscht, das den „Ideen“ innewohnt. 4 Zum Zerfall der „Ideen“ vgl. Matthias Schöning, Eskalation eines Narrativs. Vier Idealtypen zur Entwicklung der „Ideen von 1914“, in: Natalia Borissova u. a. (Hg.), Zwischen Apokalypse und Alltag. Kriegsnarrative im 20. und 21. Jahrhundert, Bielefeld 2009, S. 41–58.
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die Selbstbehauptung unserer Nation“ produzierten „die neue Idee von 1914, [. . . ] die Volksgenossenschaft im nationalen Sozialismus“. In dieser Manier erklärt er die Deutschen zum „vorbildlichen Volk“, dessen „Ideen [. . . ] die Lebensziele der Menschheit bestimmen“ 5 würden. Und auch Ernst Troeltsch konstatiert, dass „das Aufgehen im Ganzen und im Vaterlande, der Sieg der Sache über die Meinungen und Neigungen [. . . ] seine tiefe Spur zurücklassen wird und seine zweite große Frucht tragen im kommenden Frieden“. 6 Die „Ideen von 1914“ folgen in etwa dem klassischen geschichtsphilosophischen Dreischritt, der bekanntlich dem christlich-jüdischen Geschichtsdenken entstammt: Eine alte, gleichsam paradiesische Einheit ist zerbrochen und durch eine unvollkommene Gegenwart ersetzt worden, deren Leid durch eine erhoffte goldene Zukunft erlöst werden soll. Für die Frontsoldaten und Veteranen vor allem der Westfront lässt sich der Weltkrieg jedoch nicht problemlos an einen geschichtlichen Ort rücken – im Regelfall an die mittlere Position des Dreischritts – und darüber mit Sinn versehen: Als zu unberechenbar erlebt der Einzelne die Kontingenz von Tod und Überleben in den Schützengräben, als dass er das Geschehen noch vor einen individuellen Sinnhorizont stellen könnte. Neuzeitliche Modelle historischen Verlaufs funktionieren also in Bezug auf den Ersten Weltkrieg nicht bruchlos. Hierin liegt einer der Gründe dafür, dass während des Weltkriegs und im Anschluss an ihn andere Konzeptualisierungen von Geschichte neu bzw. reformuliert werden, so Oswald Spenglers zyklisches Geschichtsdenken in „Der Untergang des Abendlandes“ oder Thomas Manns Kriegs-Essays. Auch die Autoren der Westfront-Romane des Ersten Weltkriegs suchen nach Antworten auf diese Sinndeutungsproblematik. Der junge Ernst Jünger ringt u.a in seiner Erzählung „Sturm“ mit seinem erwachenden geschichtspolitischen (radikalnationalistischen) Interesse um eine Integration des Krieges in das Programm eines geschichtlichen Ablaufs. Ihm gegenüber deutet Werner Beumelburgs in seinem Roman „Gruppe Bosemüller“ den geschichtlichen Sinn des Krieges schematischer. 7 Theodor Lessing hat direkt im Anschluss an den Krieg die Kategorie der „Not“ als Ursache von mit „Notwendigkeit“ ablaufenden Geschichtsverläufen begründet. Erschüttert im „Glauben an die Berechtigung des eigenen Daseins“
5 Johann Plenge, 1789 und 1914. Die symbolischen Jahre in der Geschichte des politischen Geistes, Berlin 1916, S. 20–21. 6 Ernst Troeltsch, Der Kulturkrieg, in: Deutsche Reden in schwerer Zeit, Berlin 1915, S. 207–249, hier S. 241. 7 Dass die Sinndeutung oft nationalistischen Strukturen folgt, haben u. a. Hans-Harald Müller und Matthias Schöning erfasst. Vgl. Hans-Harald Müller, Der Krieg und die Schriftsteller. Der Kriegsroman der Weimarer Republik, Stuttgart 1986; Matthias Schöning, Versprengte Gemeinschaft. Kriegsroman und intellektuelle Mobilmachung in Deutschland 1914–1933, Göttingen 2009.
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muss, so Lessing, die „logificatio post festum Notausgänge“ 8 finden. Nur indem die Erfahrung von Leid direkt mit der Zukunftserwartung verschmolzen wird, wird sie erträglich. Das gilt auch für „Sturm“ und „Gruppe Bosemüller“: Der Weltkrieg selbst bildet die notwendige Bedingung der erhofften Zukunft. Dabei wird eine als sinnlos empfundene Fronterfahrung mit einer Zukunftserwartung überwölbt, die den sinnlosen in einen sinnvollen Krieg verwandelt. 9 Wo liegt der Schmelzpunkt beider Erzählweisen? An welchem Punkt springt der sprichwörtliche Funke über, sodass aus dem sinnlosen Krieg ein sinnvoller wird? Dabei lassen sich vom Vogel Phoenix – in der Gestalt, die ihm Isidor von Sevilla gibt – zwei Verbindungslinien zu den geschichtlichen Sinndeutungen des Ersten Weltkriegs bilden. Die erste besteht in der Implikation eines zyklischen Geschichtsmodells, das im 19. Jahrhundert von Nietzsche mit seinem Diktum von der „ewigen Wiederkehr des Gleichen“ wieder in den Diskurs über die Geschichte eingeführt wird und das in den Jahren des Ersten Weltkriegs ein intellektuelles Wiederaufleben erfährt. Die zweite besteht darin, dass sich der Vogel selbst den „Scheiterhaufen“ baut und sich „freiwillig“ im Feuer verzehrt, um „aus der Asche“ wiederaufzuerstehen – Scheiterhaufen, Feuer und Wiederbelebung bedingen einander. Diese Kausallogik ist in klassischen geschichtsphilosophischen bzw. -theologischen Triaden nicht vorhanden oder weitaus schwächer ausgeprägt. Bei Augustin beispielsweise ist die peregrinatio als Zustand eines „ziellosen Unterwegsseins in der weltlichen Fremde“ zu ertragen, um schließlich mit dem Tod erlöst werden zu können. 10 Auf die Kriegsliteratur gewendet lautet also meine These: Es ist dieser Krieg und dieses „Stahlbad“ in den Schützengräben, die für das Leid der Soldaten verantwortlich und notwendiger Bestandteil der Handlungsfolge sind, aus denen eine verheißungsvolle, zumeist nationalistisch gewendete Zukunft erwächst. Die Frontsoldaten feiern wie der Phoenix ihre Wiederauferstehung, weil – und nur weil – sie sich zuvor zu Asche verbrennen lassen.
8 Theodor Lessing, Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen oder die Geburt der Geschichte aus dem Mythos, Leipzig 41927, S. 240. 9 In meiner Dissertation habe ich zwei Narrative in den Westfront-Romanen bestimmt, das einer sinnlosen Fronterfahrung und das einer sinnvollen Zukunftserwartung, und gezeigt, dass diese sich scheinbar ausschließenden Narrative mal mehr, mal weniger geglückt erzählerisch miteinander konfiguriert werden. Vgl. Johannes Waßmer, Die neuen Zeiten im Westen und das ästhetische Niemandsland. Phänomenologie der Beschleunigung und Metaphysik der Geschichte in den Westfront-Romanen des Ersten Weltkriegs, Freiburg i.B. 2018. 10 Vgl. dazu Ernst A. Schmidt, Zeit und Geschichte bei Augustin, Heidelberg 1985, S. 85.
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1. Der Zyklus als Theodizee teleologischen Geschichtsdenkens Schon Ende des 19. Jahrhunderts hatte Friedrich Nietzsche in „Also sprach Zarathustra“ mit einem nihilistisch-individualistischen Impetus die antike Idee einer geschichtlichen Zyklik wieder in den Diskurs eingebracht, den ewig fließenden Fluss zurück in Richtung Quelle strömen 11 und Spaziergänge sich wiederholen lassen: Von diesem Thorwege Augenblick läuft eine lange ewige Gasse rückwärts: hinter uns liegt eine Ewigkeit. Muss nicht, was laufen kann von allen Dingen, schon einmal diese Gasse gelaufen sein? [. . . ] Und wenn Alles schon dagewesen ist: was hältst du Zwerg von diesem Augenblick? [. . . ] Und sind nicht solchermaassen fest alle Dinge verknotet, dass dieser Augenblick alle kommenden Dinge nach sich zieht? Also – – sich selber noch? [. . . ] – müssen wir nicht Alle schon dagewesen sein? – und wiederkommen und in jener anderen Gasse laufen, hinaus, vor uns, in dieser langen schaurigen Gasse – müssen wir nicht ewig wiederkommen? 12
Diese „ewige Wiederkunft“ ist mit dem umstürzenden Ereignis verbunden, das sich zudem noch perpetuiere: Du lehrst, dass es ein grosses Jahr des Werdens giebt, ein Ungeheuer von grossem Jahre: das muss sich, einer Sanduhr gleich, immer wieder von Neuem umdrehn, damit es von Neuem ablaufe und auslaufe: [. . . ] Aber der Knoten von Ursachen kehrt wieder, in den ich verschlungen bin, – der wird mich wieder schaffen! Ich selber gehöre zu den Ursachen der ewigen Wiederkunft. Ich komme wieder, mit dieser Sonne, mit dieser Erde, mit diesem Adler, mit dieser Schlange – nicht zu einem neuen Leben oder besseren Leben oder ähnlichen Leben. 13
Gerade im Kontext des Ersten Weltkriegs entfalten Zarathustras Worte Sogkraft. Denn die „Geister“ Europas begrüßen den Ersten Weltkrieg zunächst als Epochenbruch, erwarten nach kurzen, heftigen Schlachten ein zügiges Ende, sehen dann aber die sich verlangsamenden Frontbewegungen, die den Krieg zeitlich entgrenzen und ihn ohne Veränderung in sein zweites und dann drittes Jahr hineingleiten lassen. In diesem Sinne argumentiert auch der prominenteste Theoretiker zyklischen Denkens im Ersten Weltkrieg, Oswald Spengler. Er verbindet Nietzsches Diktum von der „Wiederkehr des Immergleichen“ mit dem von Giambattista Vico herrührenden geschichtstriadischen Gedanken eines fortschrittlichen corso, der jedoch nicht den Gipfelpunkt absoluter
11 Vgl. Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke, Bd. 4: Also sprach Zarathustra, hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München 1999, S. 211. 12 Vgl. ebd., S. 200. 13 Vgl. ebd., S. 276–277.
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Ordnung erreiche, sondern in einem ricorso wieder verfalle und dann wieder von neuem aufsteige. 14 Spengler multipliziert Vicos Triade, indem er in seiner „Morphologie der Weltgeschichte“ die schicksalhafte Notwendigkeit von Aufstieg und Fall aller Kulturen postuliert und Nietzsches „grosses Jahr des Werdens“ pessimistisch wendet: „Der Untergang des Abendlandes“ kündige sich an. 15 Ganz deutscher Nationalist, unterscheidet auch Spengler zwischen Kultur und Zivilisation, verschiebt allerdings den Akzent: Wurde im „Krieg mit der Feder“ die vermeintlich „tiefe deutsche Kultur“ gegen die vermeintlich „flache westeuropäische Zivilisation“ ins Feld geführt, begreift Spengler nun die Zivilisation „als Vollendung und Ausgang einer Kultur“ und als deren „äußersten und künstlichsten“ Zustand. Mit dieser Anerkennung spricht Spengler zugleich ein höchst vergiftetes Lob aus, denn die Zivilisation sei „ein Ende“, sie folgte „dem Werden als das Gewordene, dem Leben als der Tod“. 16 Implizit heißt das: Die deutschen Kriegsgegner im Westen seien, unabhängig vom Ausgang des Krieges, vielleicht zivilisatorischer und folglich fortschrittlicher, die Zukunft aber gehöre der deutschen Kultur, die noch vital sei und sich noch nicht im Stadium eines „geistigen Greisentums“ 17 befinde. Aus dieser Denkfigur folgt jedoch notwendig die Ablehnung aufklärerischer und fortschrittsoptimistischer Geschichtsphilosophie. Die Teleologie solchen Denkens verurteilt Spengler scharf als „Unsinn allen Unsinns innerhalb der reinen Wissenschaft“ und als „Karikatur der Schicksalsidee“. 18 Den Begriff des Schicksals rückt er denn auch an die Stelle der Teleologie. Er versteht ihn als Ausdruck des Wunsches einer Seele „nach dem Licht, dem Aufstieg, nach Vollendung und Verwirklichung ihrer Bestimmung“, 19 sodass in ihm „dem Schauenden sich die lebendige Idee des Werdens unmittelbar entfaltet“. 20 Der geschichtliche Prozess nähert sich Spengler zufolge zwar nicht mehr zivilisatorischer Perfektion, gleichwohl strebe er schicksalhafter Vollendung zu. Sein Kernproblem allerdings löst Spengler so nicht: Auch sein Schicksalsdenken läuft auf ein Ziel zu. Dass er dieses nicht vernünftig erschließt oder logisch bestimmt, sondern als gleichsam „magische“ Sehnsucht der Seele beschreibt, ändert an der Gerichtetheit nichts. Dass Spengler eine Politik reiner Begriffsersetzung verfolgt
14 Zu Giambattista Vicos Konzept von corso und ricorso in seiner „Scienza Nuova“ vgl. Vittorio Hösle, Einleitung: Vico und die Idee der Kulturwissenschaft. Genese, Themen und Wirkungsgeschichte der „Scienza nuova“, in: Giambattista Vico, Prinzipien einer neuen Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Völker, übers. v. Vittorio Hösle und Christoph Jermann, Hamburg 1990, Bd. 1, S. XXXI–CCLXXX, besonders S. CXXI. 15 Vgl. Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte, München 1963. 16 Ebd., S. 43. 17 Ebd. 18 Ebd., S. 158. 19 Ebd., S. 154. 20 Ebd., S. 158.
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und dazu poetische Metaphern aufruft, die seine Argumentation zusätzlich schwächen – u. a. klingt im „Schauenden“ E. T. A. Hoffmanns Einsiedler Serapion mit, soll hier nicht weiter verfolgt werden. Wichtig jedoch erscheint, dass Spengler mit dem Schicksalsbegriff den Gedanken einer „inneren Notwendigkeit“ vorstellt, der man sich hingeben muss. Ähnlich wie Oswald Spengler verweist auch Thomas Mann in den Kriegsjahren immer wieder auf den großen Gegensatz von Kultur und Zivilisation. 21 Gegenüber Spenglers Konzeptualisierung zyklischen Denkens zur Beschreibung für den Aufstieg und Fall ganzer Kulturen verbindet er in seinem Essay „Friedrich und die grosse Koalition“ von 1916 und den während des Krieges entstandenen „Betrachtungen eines Unpolitischen“ jedoch die Behauptung konkreter national- bzw. reichspolitischer Wiederkünfte mit Untergangsvorstellungen. Einerseits ruft er den Krieg von 1870/71 und die Revolution von 1848 auf, die sich 1914 „auf einer anderen historischen Entwicklungsstufe“ 22 wiederhole. Vor allem aber erachtet er den Ersten Weltkrieg als Wiederkehr ebenjener historischen Situation, in der sich Friedrich der Große befunden habe: an allen Grenzen eingekesselt zu sein von Feinden und sich dennoch behauptet zu haben. Zugleich jedoch und ganz im Sinne Spenglers – Mann hatte Spengler mit Interesse gelesen und wird sich erst 1922 distanzieren 23 – entwickelt er Untergangsszenarien, rhetorisch in Frageform gekleidet: „Wenn wir uns auf einem Höhepunkt befänden oder gar der Höhepunkt schon überschritten wäre? Wenn unser letztes Jahrhundert oder unsere letzten anderthalb Jahrhunderte die Blütezeit der abendländischen Musik bezeichneten, die Höhe, die eigentliche Glanzperiode, die nie wiederkehren wird und der sich ein Verfall, eine Dekadenz anschlösse, wie die nach der Blütezeit der griechischen Tragödie?“. 24 Offenbar ist Mann sich im Unklaren darüber, ob er den Ersten Weltkrieg eher als nationalpolitisches Ereignis oder als geschichtlichen Umsturz begreifen soll, in jedem Fall aber liegt seinen Reflexionen die Idee eines Zyklus zugrunde. Das geschichtliche Verfallsdenken bei Spengler und Mann lässt sich 21 Anders als Spengler jedoch erwartet Mann, strenger Vicos Gedanken des Wiederaufstiegs verpflichtet, nach dem Epochenbruch den Neubeginn: „Auch sehe ich wohl, wie die Erzählung ‚Der Tod in Venedig‘ in der Zeit steht, dicht vor dem Kriege steht in ihrer Willensspannung und ihrer Morbidität: sie ist auf ihre Art etwas Letztes, das Spätwerk einer Epoche, auf welches ungewisse Lichter des Neuen fallen. . . Aber nicht solche Zusammenhänge und bloß sensitiv-seismographische Ausschläge sind es, die ich hier meine“. Thomas Mann, Werke, Briefe, Tagebücher. Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, Bd. 13: Betrachtungen eines Unpolitischen, hg. v. Hermann Kurzke, Frankfurt a. M. 2009, S. 232. 22 Ebd., S. 130. 23 Helmut Koopmann, Oswald Spenglers „Der Untergang des Abendlandes“ in Thomas Manns „Der Zauberberg“, in: Dietrich von Engelhardt / Hans Wißkirchen (Hg.), Thomas Mann und die Wissenschaften, Lübeck 1999, S. 9–23, hier S. 10–11. 24 Mann, S. 451.
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mutmaßlich auf Schopenhauers Pessimismus und dessen Fortschrittskritik 25 zurückführen. Sicher gilt das für Mann, der in den „Betrachtungen eines Unpolitischen“ Schopenhauers Denken sogar zur Inspiration für „Friedrich und die grosse Koalition“ erklärt: Früh hatte Verehrung für die Schopenhauerische Gleichung von Mut und Geduld, hatte die Liebe zum „Trotzdem“, oder – daß ich das ekel verpönte Wort noch einmal freigebe – zum Ethos des „Durchhaltens“ mich vor das Standbild jenes unheimlichen und populären Königs geführt, dessen Taten und Leiden all dies in die Wege geleitet. . . zum Lachen genau sah ich in der Entstehungsgeschichte unseres Krieges Friedrichs Geschichte sich wiederholen. 26
Mit seiner Reflexion über Schopenhauer und ethische Forderungen nach einem „Durchhalten“, seinem geschichtlichen Pessimismus und der Vision einer nationalen bzw. militärischen Geschichtswiederholung trifft Mann zwar den intellektuellen Diskurs der Zeit, bewegt sich aber in denkbar großer Entfernung zu den Realien der Westfront. Die Westfrontsoldaten sind dem Krieg immerzu ausgesetzt, ein „Trotzdem“ können sie auf Dauer gar nicht artikulieren – und die einzige Absage an ein „Durchhalten“ besteht im eigenen Tod. Der intellektuelle Diskurs trifft den der Kriegswirklichkeit also nicht – oder doch?
2. Feuer frisst Sinn Zunächst einmal scheitert das theoriegesättigte zyklische Denken von Spengler und Mann, bei dem Einen mit einem kulturhistorischen Akzent, beim Anderen auch mit konkreten politischen Analogiebildungen, an der Praxis der Westfront. Zwar konvergieren Theorem und Erlebniswelt der Soldaten sowohl im Pessimismus – die Frontsoldaten wissen, dass die Wahrscheinlichkeit des eigenen Todes hoch ist – als auch im Erleben der ewigen Wiederkehr des Gleichen an der Front. Doch dem Leben an der Front einen Sinn zu stiften und die Fronterfahrungen mit einer Richtung versehen, auf die das eigene Dasein zuläuft – ob es nun teleologisch oder schicksalhaft verstanden wird, das leisten die zyklischen Vorstellungen von Spengler und Mann nicht. Einzig Nietzsches individualistische und nihilistische Wendung der „ewigen Wiederkunft“ bietet identifikatorisches Potenzial, das in den Westfront-Romanen erprobt wird. Werner Beumelburgs „Gruppe Bosemüller“ von 1930 zählt zu jenen Westfront-Romanen, die im Fahrwasser von „Im Westen nichts Neues“ geschrieben wurden. „Gruppe Bosemüller“ ist zudem als nationalistischer Gegentext – mit 25 Mann bezieht sich explizit auf Schopenhauers Fortschrittskritik: „Alle würden ohne Mühe und Not vollauf fressen, saufen, sich propagieren und krepieren können: denn dies ist die Paraphrase ihres ‚Selbstzwecks‘ und das Ziel des ‚unendlichen Fortschritts der Menschheit‘, den sie in pomphaften Phrasen unermüdlich verkündigen“. Ebd., S. 407. 26 Ebd., S. 162.
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Manfred Pfister muss von hoher „Dialogizität“ der beiden Romane gesprochen werden – zur Ideologiekritik in „Im Westen nichts Neues“ zu lesen. Ein adoleszenter Abiturient und Kriegsfreiwilliger, Erich Siewers, kommt an die Front bei Verdun, wird schrittweise in die Gemeinschaft der titelgebenden Gruppe Bosemüller integriert und entwickelt sich zu der künftigen Führerfigur der soldatischen Frontgemeinschaft. In dieser Entwicklung wird er von verschiedenen Führerfiguren unterstützt, u. a. vom intellektuell unbegabten, aber zuverlässigen Vaterersatz Wammsch und vom militärisch fähigen Major Gummibällchen, dessen sprechender Name seine Befähigung anzeigt, das Beschleunigungsdiktat des Maschinenkrieges zu beherrschen. Der Krieg zeugt hier keine „verlorene Generation“, wie sie Remarque skizziert, sondern eine soldatische Jugend, die, so impliziert der Roman, den Kern einer neuen „Volksgemeinschaft“ bilde. Von einem „Kriegserlebnis“, wie wir es an der Ostfront etwa bei Walter Flex in dessen „Wanderer zwischen beiden Welten“ finden, ist jedoch bei Beumelburg nicht die Rede. Der Krieg wird nicht ins Positive gewendet, er ist eine „Hölle“, 27 die „an Grausamkeit nichts zu wünschen übrig“ 28 lässt und in der diverse Kameraden den Tod finden. Auch Ruhephasen werden den Soldaten zur Gefahr, 29 weil feindliche Angriffe weder sicht- noch präzise erwartbar sind, sodass nur noch die Waffenwirkungen beobachtet werden können. So kann nur noch kurz „Achtung!“ gerufen werden, bevor „ein Ruck [. . . ] durch die Erde“ geht. „Ein Krach erschüttert die Luft. Es wird für eine Sekunde taghell. Dann regnet es Erdbrocken und Steine“. 30 Aus dieser Situation resultiert eine enorme Nervenbelastung, etwa beim Gefreiten Casdorp 31 – natürlich eine intertextuelle Anspielung auf Manns nervenschwachen Hans Castorp im „Zauberberg“ – und beim Leutnant der Gruppe Bosemüller. 32 Beide finden den Tod; Casdorp begeht Suizid, 33 der Leutnant lässt sich nach langen Zweifeln unnötig vom Feind töten, stirbt einen nur scheinbaren Heldentod und erweist sich in der Romanlogik bloß als Fake einer Führerfigur. 34 Entscheidend ist, dass auch Siewers – der junge Kriegsfreiwillige – seine Nerven kaum in den Griff bekommt: Aus Angst kann er anfänglich „keinen Ton hervor“ 35 bringen, 27 28 29 30 31 32 33 34
Werner Beumelburg, Gruppe Bosemüller, Oldenburg 1930, S. 41. Ebd., S. 212. Vgl. ebd., S. 166. Ebd., S. 170. Vgl. ebd., S. 36. Vgl. ebd., S. 75, 93. Vgl. ebd., S. 153. Vgl. ebd., S. 75. Zu anderen Lesarten des Leutnants vgl. Manuel Köppen, Werner Beumelburg und die Schlachten des Weltkrieges. Schreibkonzepte eines Erfolgsautors zwischen Historiografie und Fiktion, in: Christian Meierhofer / Jens Wörner (Hg.), Der Erste Weltkrieg und seine Darstellungsressourcen in Literatur, Publizistik und populären Medien 1899–1929, Osnabrück 2015, S. 267–290, hier S. 284–285. 35 Beumelburg, S. 38.
Feuer und Phoenix
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„kämpft“ später unter Feindbeschuss unwillkürlich „gegen ein Zittern an“; 36 auch später „klappern ihm“ 37 die Zähne und er hat sogar Nervenanfälle. 38 Gerade weil der Krieg für das Individuum eigentlich nicht zu ertragen ist, kann er auch keinen Sinn haben, wie der Leutnant im Gespräch mit Wammsch feststellt: „Wammsch. . . es hat alles keinen Sinn. . . es ist aus mit mir“. 39 Vergleichbar und erzählerisch doch bedeutend komplexer nähert sich Ernst Jünger schon 1923 in „Sturm“ 40 dem Problem der individuellen Sinndeutung des Krieges. Anders als in den meisten Texten von Jüngers früher Kriegsprosa kommt in „Sturm“ kein Alter Ego des Schriftstellers zur Sprache, sondern der titelgebende Leutnant Sturm. Er befindet sich mit den zwei Offizierskollegen Döring und Hugershoff, die wie er künstlerisch und individualistisch veranlagt sind, in einem Unterstand an der Front. Sturms Absicht, ein „Dekameron des Unterstandes“ 41 zu verfassen – freilich als eher dilettierender Erzähler, entspricht auch der Anlage von Jüngers Erzählung als Novellenkranz en miniature: Der Titelheld präsentiert seinen Gefährten, unterbrochen von Kampfhandlungen, drei kurze Erzählfragmente, die sich mit der Frage nach den Möglichkeiten individualistischen Daseins im Kontext dieses Krieges auseinandersetzen. Nachdem die ersten beiden Tableaus des dandyhaften Tronck und des sexuell rauschhaften Fähnrichs Kiel erzählerisch scheitern, scheint es Sturm in seiner dritten Versuchsanordnung um den Protagonisten Falk zu glücken, Krieg und Kriegsfolgen, Individualismus und Erzählen miteinander so zu verbinden, dass Falk im Nachkrieg eine Möglichkeit des Daseins findet. Eines der Motive, auf denen der Text neben der Beschleunigungssymptomatik der Front, dem Rausch und der Kunst aufbaut, ist die Sinnfrage. Sie wird in „Sturm“ zunächst klar negativ beantwortet. Angesichts eines Krieges – so hält die Erzählerfigur fest, zu dem „das Sterben gehörte wie die Blitzwölkchen der Geschosse“, – empfindet „jeder besonders peinlich den Hauch von Sinnlosigkeit“. 42 Dieses „Gefühl von Sinnlosigkeit“ entstehe, weil einen beinahe schon notwendigerweise „das Grauen überwand“ 43 und der Einzelne mit seinem Leben dem Diktat maschineller Waffengewalt völlig ausgeliefert sei: „Jedesmal, wenn es neben ihm niederfuhr, riß er die Hand vor die Augen und war sich dabei wohl bewußt, daß er etwas Sinnloses tat. Denn wenn ihm das Geschick einen Splitter in die Höhle warf, dann bot die armselige Hand keinen Schutz“. 44 36 37 38 39 40 41 42 43 44
Ebd., S. 113. Ebd., S. 173. Vgl. ebd., S. 186. Ebd., S. 125. Ernst Jünger, Sturm, in: Ders., Sämtliche Werke, Bd. 18 I: Erzählungen, Stuttgart 2015, S. 9–74. Ebd., S. 41. Ebd., S. 14. Ebd., S. 17. Ebd., S. 40.
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3. Tod und Wiedergeburt Mit diesem Befund endet „Sturm“ jedoch nicht – ebenso wenig wie mit dem Scheitern der Titelfigur Sturm bzw. dem von dessen dritter Figur Falk, den Krieg rauschhaft, ästhetisch oder erzählend zu verarbeiten und darüber mit Sinn zu versehen. Denn das kurze erzählerische Glück in Sturms dritter Binnenerzählung wird von der Kriegsrealität – die Freunde befinden sich noch immer an der Front – durch einen Angriff der Briten ad absurdum geführt. Weder Falk noch Sturm können ihre Erzählung zu Ende führen. In einem Akt letzten Entschlusses verbrennt Sturm seine Texte in einem Autodafé, verweigert sich – die „Engländer sitzen“ bereits „im Graben“ 45 – der Gefangennahme und stirbt im Kugelhagel. Als entscheidend erweist sich der letzte Satz der Erzählung: „Sein letztes Gefühl war das des Versinkens im Wirbel einer uralten Melodie“. 46 Dieser Satz ist mit Sicherheit polysem. Der Erzähler nimmt Bezug auf den „großen kosmischen Schwung“ 47 des Krieges, von dem zuvor die Rede ist; und mit Sicherheit kann insbesondere der „Wirbel“ der „uralten Melodie“ auch auf das rauschhafte Kriegserlebnis des Landsknechts bezogen werden, wie ihn Jünger in dem „Kampf als inneres Erlebnis“ vorstellt. In „Sturm“ entspricht dem Typus des Landsknechts der Pionier Horn, dessen Idee, den Krieg als Daseinsmodell zu begreifen, sich Sturm jedoch gerade nicht hinzugeben vermag. 48 Horn interessiert sich nur für den Rausch des Kampfes selbst, nicht für eine individualistisch-geistige Reflexion dieses Rausches – und schon gar nicht des Krieges insgesamt. Er schläft bei Sturms Erzählungen ein; und er stochert lieber „gleichgültig mit seinem Seitengewehr im Feuer herum und murmelt: ‚Über das Ding an sich habe ich mir bislang kein Kopfzerbrechen gemacht‘“. 49 Sturm pflichtet zwar bei und meint, es sei „ein deutsches Nationallaster, so eifrig hinter den Dingen zu suchen, daß die Dinge selbst dabei ihre Realität verlieren. Heute sind uns Männer wertvoller, die ihre Handgranate über sechzig Meter hinauszuwerfen verstehen“. 50 Aus dieser Gedankenführung erschließen sich zwar Sturms Hinwendung zum Rausch des Krieges und sein Versuch, entgrenzenden Rausch und Individualismus ineinander zu den45 46 47 48
Ebd., S. 72. Ebd., S. 74. Ebd., S. 48. Dass das Deutungsmodell des „Landsknechts“ scheitert, hat schon Hans-Harald Müller festgehalten. Vgl. Müller, S. 237. Einer der Gründe liegt darin, dass der Sinn des Krieges in sich selbst ruht, dass also eine Sinndeutung des Individuums stattfindet, die, gerade weil sie den Krieg vom Individuum und nicht vom Staatsorganismus her denkt, per se scheitern muss. Weitere Gründe des Scheiterns für das Deutungsmodell des „Landsknechts“ bei Ernst Jünger führe ich u. a. auf in: Geschwindigkeitsrauschen als Refugium des Individuums? Rausch und Ästhetik im „rasenden Stillstand“ des Ersten Weltkriegs bei Ernst Jünger und Robert Musil (Publikation in Vorbereitung). 49 Jünger, S. 54. 50 Ebd.
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ken. Die Fragen jedoch, warum Sturm seine Schriften verbrennt, warum er sich umbringen lässt und warum er mit diesem Tod in eine „uralte Melodie“ eingeht, kann eine Deutung des letzten Satzes über den Rausch jedoch nur unzureichend erhellen. Ich möchte das Autodafé und den freiwilligen Tod Sturms als Preisgabe alles individualistischen Daseins lesen; allerdings gerade nicht zugunsten eines rauschhaften Daseins – Sturm ist ja tot –, sondern zugunsten eines nationalen, völkischen Kollektivs. In dieser Denkfigur findet die zweite Lesart von Isidors Phoenix-Beschreibung, die von Freiwilligkeit und der Notwendigkeit der Selbstverbrennung für die Wiedergeburt ihren Platz. Und dieser Gedanke entspricht Jüngers völkischem Denken in seiner radikalnationalistischen Phase, die nur wenige Monate später mit der dritten Fassung der „Stahlgewitter“ 1924 auch in seiner Kriegsprosa ablesbar wird. Jenseits dieser biografischen und textgenetischen Nähe lassen sich aber auch textlogische Argumente sammeln. Eingangs der Erzählung erwähnt der Erzähler Sturms Kritik an der Marginalisierung des Individuums in der technisierten Moderne: Seit der Erfindung der Moral und des Schießpulvers hat der Satz von der Auswahl des Tüchtigsten für den Einzelnen immer mehr an Bedeutung verloren. Es läßt sich genau verfolgen, wie diese Bedeutung allmählich übergegangen ist auf den Organismus des Staates, der die Funktionen des Einzelnen immer rücksichtsloser auf die einer spezialisierten Zelle beschränkt. Heute gilt einer nicht mehr das, was er an sich wert ist, sondern nur das, was er in bezug auf den Staat wert ist. 51
Auch wenn man einmal davon absieht, dass hier Jüngers entomologische Forschung anklingt und er den Gedanken eines Individuums, das einzig dem Staatsorganismus verpflichtet ist, Jahre später zur Grundlage seines „Arbeiter“-Essays machen wird, wird deutlich, dass Sturm das Verhältnis Staat – Individuum problematisiert. Wenig später bezeichnet er, hier noch ganz nietzscheanischem Denken verpflichtet, das Verhältnis als „Sklavenhalterei des modernen Staates“. 52 In diesem Sinne schreibt Sturm in seinen drei Binnenerzählungen gegen die Abhängigkeit des Einzelnen vom Staat an und lässt Falk, seine dritte Figur, direkt vor dem erzwungenen Abbruch der Erzählung festhalten, dass ihm „alle nationalen und heroischen Ideale, die mir bisher die treibenden Kräfte schienen, im Leidenschaftlichen verzischt waren wie Wassertropfen auf glühenden Eisenplatten“. 53 Weil aber weder der Rausch noch das Erzählen vom Rausch Persistenz erreichen können, sondern abgebrochen werden, werden Sturm sowohl seine Schriften als auch seine Existenz zunächst wertlos: Er verbrennt die Texte und lässt sich töten. Entscheidend scheint mir, dass er seine individuelle Existenz freiwillig
51 Ebd., S. 15. 52 Ebd., S. 16. 53 Ebd., S. 70.
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preisgibt – er hätte sich auch gefangen nehmen lassen können und in der Folge das Schicksal seiner eigenen Figuren durchleiden, denen die Sinndeutung des Krieges über Rausch und Individualismus gerade nicht gelingt. Durch sein Opfer aber schreibt er sich in einen größeren Sinnzusammenhang ein und beantwortet die Frage nach dem Sinn des Krieges mit dem Organismus des Staates, in dessen „uralter Melodie“ er nun mitzuklingen fühlt. 54 Dieses Modell, das bei Jünger in der Metapher einer „uralten Melodie“ anklingt, in der Sturm nun mittönt, findet sich in vereinfachter, aber desto deutlicherer Form auch in „Gruppe Bosemüller“. So müsse laut Wammsch, Siewers’ Vaterersatz, die tödliche Nervenbelastung besser im Kreis der soldatischen Gemeinschaft überwunden werden; nur dort könne der junge Siewers Verständnis finden: „Es war zuviel für dich. . . hörst du? Du brauchst nicht auf Urlaub zu fahren, nein, du brauchst nicht. Es ist ja viel besser, wenn du so darüber kommst. . . was sagst du? Ob ich dich verachte? Junge. . . Erich. . . wer will einen Menschen verachten wegen dem, was er dort vorn tut? Der liebe Gott bewahre mich vor allem Hochmut. . . “. 55 Wammsch ist es auch, der im Gespräch mit dem verzweifelten Leutnant eine Sinndeutung anmahnt: „Aber es muß doch einen Sinn haben“. 56 Ihm gelingt die Sinndeutung zwar innerhalb des gegebenen Krieges: „Es hat natürlich einen Sinn, wenn ich den Bosemüller und den Stracke und den Esser und den Siewers aus der Klemme hole“. 57 Diese Sinndeutung im Sinne der Kameradschaft und der christlichen Nächstenliebe – der Roman ruft tatsächlich diverse Male ein christliches Ethos auf – entspricht denn auch in etwa dem sittlichen Erziehungsprogramm, das Siewers als junger Kriegsfreiwilliger in der „Frontgemeinschaft“ durchläuft. Einen übergeordneten Sinnhorizont vermag er aber nicht abzuschreiten: „Aber was für einen Sinn hat das Ganze? Was soll man da sagen?“. 58 Die Antwort auf diese Frage und damit die entscheidende Sinnstiftung des Krieges bleibt dem jungen Siewers vorbehalten. Nach einer Verwundung schreibt er an seine Kameraden, die weiter vor Verdun liegen, distanziert sich von seiner anfänglichen Egomanie, so sein Urteil, und ordnet sich seiner neuen Vorstellung vom Volk unter: Auf einmal mußte ich auch noch erkennen, daß mir das Vaterland nur als Vorwand gedient hatte für meinen Ehrgeiz und die Sucht, es anderen vorauszutun. Aber statt dessen ist mir ein Neues aufgegangen, ein hundertmal Größeres,
54 Auch dieser Akt der Sinnstiftung des Krieges über eine kollektivistische Vorstellung ist noch ein individueller, aber kein reflektierter mehr: „Sein letztes Gefühl war das des Versinkens im Wirbel einer uralten Melodie“. Ebd., S. 74; die Hervorhebung stammt vom Autor des Aufsatzes. 55 Beumelburg, S. 200. 56 Ebd., S. 126. 57 Ebd., S. 127. 58 Ebd.
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ein Ungeahntes. Das seid Ihr, Du und Bosemüller und Schwarzkopf und die andern. Und vielleicht, wenn ich es recht bedenke, sind wir so auf dem Wege zum Vaterland. Vielleicht ist die Kameradschaft nur der kleine, sichtbare, für uns faßbare Teil des Ganzen. [. . . ] Wenn wir zurückkommen, [. . . ] dann wird aus den vielen kleinen Kreisen der große Kreis, der das Ganze umfaßt. So ist es wohl, wir müssen von vorn anfangen, vom kleinen Kreis, von Mensch zu Mensch, damit wir nachher das Ganze begreifen können, den großen Kreis. Und das war früher unser Fehler, daß wir den großen Kreis begreifen wollten, ohne den kleinen zu kennen. Jetzt hat uns das Schicksal in eine grausame Lehre genommen. Wen es aber hindurchkommen läßt, der hat bestanden. 59
4. Volkes Phoenix aus der Asche des Einzelnen Um das Argumentationsmuster, wie es Siewers vorträgt, glücken zu lassen, muss also der Sinn des Krieges vom Individuum auf eine vermeintlich harmonische Gemeinschaft, die sich von der zivilisatorischen Gesellschaft abhebt, 60 übertragen werden: In „Gruppe Bosemüller“ folgt diese Übertragung einer Logik des Kriegsschicksals, das erst die Frontgemeinschaft hervorbringt und die Bedingung der Möglichkeit einer künftigen Volksgemeinschaft bildet. In 59 Ebd., S. 261. 60 Die Differenzierung zwischen „Gemeinschaft“ und „Gesellschaft“ wird von Ferdinand Tönnies in seinem gleichnamigen Werk „Gemeinschaft und Gesellschaft“ begründet, das bereits Ende der 1880er Jahre erscheint, aber erst nach der Jahrhundertwende breit rezipiert wird, und läuft entlang der damals propagierten Trennlinie zwischen vermeintlich „deutscher“ Kultur und „europäischer“ Zivilisation. Die infrage stehenden Normen, an denen sich Gemeinschaften entzünden können, untersucht im Anschluss an John Rawls’ „Eine Theorie der Gerechtigkeit“ u. a. Rainer Forst. Er argumentiert, dass die für politische Gruppen „auszuzeichnenden Normen [. . . ] sowohl kontextimmanent als auch kontexttranszendierend sein“ müssen, d. h. diese Normen müssen sowohl „für eine partikulare Gemeinschaft und ihre spezifischen Selbstverständnisse und Institutionen Geltung beanspruchen“ als auch „diesen Selbstverständnissen und Institutionen zugleich jedoch einen moralisch-kritischen Spiegel vorhalten“. Rainer Forst, Kontexte der Gerechtigkeit. Politische Philosophie jenseits von Liberalismus und Kommunitarismus, Frankfurt a. M. 1994, S. 12. Forst, der einen Mittelweg zwischen liberalistischen und kommunitaristischen Positionen sucht, entwickelt vier Kriterien, anhand derer er zeigt, dass „die einfachen Entgegensetzungen des Guten und individueller Rechte oder des moralisch Richtigen, von Gemeinschaft und Gerechtigkeit, von Sittlichkeit und Moralität [. . . ] unzureichend sind“. Ebd., S. 436. Ins Zentrum seiner Antwort rückt er die Person in ihrem Verhältnis zu „Kollektiven“: die ethische Person, die Rechtsperson, die Staatsbürgerschaft der Person und die moralische Person. Anhand dieser vier Dimensionen konstruiert sich die „Identität von Personen im Spannungsfeld zwischen ‚Ich‘ und ‚Wir‘“. Ebd., S. 426. Die volksgemeinschaftlichen Visionen zu Beginn des 20. Jahrhunderts hingegen verkennen die mehrdimensionale Komplexität von individueller Identität und Eingebundenheit in gemeinschaftliche Kontexte. Den Hinweis auf Rainer Forst verdanke ich Karsten Dahlmanns.
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„Sturm“ ist der tatsächliche Feuertod der einzige Ausweg aus der Unmöglichkeit einer individuellen Sinnstiftung des Krieges – und der Tod lässt sich nur über das größere Ganze in einen sinnhaften Rahmen einstellen. Hier lohnt ein zweiter Blick auf Spenglers Schicksalsbegriff, der auch das Anerkennen einer schicksalhaften Notwendigkeit umfasst und ihn von vornherein auf kulturelle Gemeinschaften bezieht. So wenig Pessimismus und – teleologische oder schicksalhafte – Gerichtetheit dem Fronterleben Sinn verleihen mögen, so sehr bietet ihm Schicksalsergebenheit kulturelles Sinnpotenzial. Wer zur Asche verbrennt, hat zwar – anders als der Vogel Phoenix – keine eigene Zukunft mehr; wer sein individuelles Dasein hingegen über eine nationale Identität bestimmt, lebt vermeintlich in der „Volksgemeinschaft“ weiter. Während Beumelburg die ideologische Wendung eines Frontkämpfer-Narrativs relativ einfach begründet, löst Jünger die Problematik der Sinndeutung erzählerisch bedeutend komplexer auf: Sein Protagonist wendet sich erst dann der Nation zu, als alle anderen Möglichkeiten, dem sinnlosen Krieg selbst Sinn zukommen zu lassen, erschöpft sind. Damit transgrediert die individualistische Sinndeutung in eine kollektivistische. Die Idee der Selbstermächtigung des Individuums, wie sie seit Nietzsche zunehmende Popularität erfahren hatte, wird umgeschmolzen in Massenideologie. Angesichts der Schrecken des Weltkriegs und der Unmöglichkeit, diese Schrecken erzählerisch in individualbiografische Narrative zu integrieren, lässt sich Sinn nur noch jenseits individuellen Erlebens stabilisieren. Karl Löwith hat gezeigt, dass die Geschichtsphilosophie ihre weltliche teleologische Gewissheit grundsätzlich aus der theologischen Geschichtstriade entwickelt. 61 Gleichwohl erfährt auch in den Westfront-Romanen des Ersten Weltkriegs durch die Kausalverknüpfung des Feuers in den Schützengräben mit der Wiedergeburt aus der Asche des Krieges das neuzeitliche Programm eines metaphysischen Geschichtsdenkens eine vermeintlich mechanistische Wende. Derartige kausale Verknüpfungen von geschichtlichen Ereignissen werden als Denkfigur bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts populär. 62 Die Technisierung der Lebenswelten ab 1900 befördert zudem ein maschinelles Verständnis des Menschen, wie es beispielsweise Ernst Jünger in seinem Essay „Der Arbeiter“ vertritt. Dennoch bleibt in den literarischen Sinndeutungen des Ersten Weltkriegs, von wenigen Ausnahmen abgesehen, die Vorstellung einer geschichtlichen Triade beibehalten: Die geschichtliche Mechanik wird von einer Zukunft her zurückgedacht, deren Konstruktionslogik im Fall der untersuchten Texte von Werner Beumelburg und Ernst Jünger „volksgemeinschaftlichen“ Charakter
61 Vgl. Karl Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen, Stuttgart 1961. 62 An dieser Stelle kann nur kurz hingewiesen werden auf Comtes positivistisches Dreistadiengesetz und auf das geschichtliche Differential in Leo Tolstois Epos „Krieg und Frieden“ von 1868/69.
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hat. Nur indem dieser, wenn man so will, metaphysische Bauplan des abendländischen geschichtlichen Denkens auch in den Westfront-Romanen erhalten bleibt, kann die erzählerische Sinndeutung des Krieges gelingen. Denn es benötigt beide Zutaten: ein kausales, mechanistisches Geschichtsverständnis einerseits, das andererseits auf ein ideelles, metaphysisches Ziel zuläuft, um für das Individuum in einem sinnlosen Krieg Sinn zu stiften.
Radikale Gegner des Krieges
Beata Giblak
´ (Panstwowa Wyzsza ˙ Szkoła Zawodowa w Nysie)
Hermann Kunibert Neumann: Von „Volk in Waffen“ zu „Krieg dem Kriege“ Zur Weltanschauung und Poetik eines kriegskritischen Dichters und Militärbeamten
Das Anliegen einer breiteren Erforschung des Kulturlebens in der Stadt Neisse im 19. Jahrhundert gehört zu den Postulaten einer kulturwissenschaftlich geprägten Germanistik, die sich mit den Anliegen der regionalen Literatur und Kultur beschäftigt. Es geht dabei nicht lediglich darum, die einzelnen, heute in der nationalen Perspektive meist vergessenen Erscheinungen des literarischen und kulturellen Lebens zu beleuchten, sondern auch die tradierten Bilder zu revidieren und neue Ansätze bei der Erforschung der regionalen Kultur zu erproben. So entwickelte sich in der Stadt Neisse eine merkwürdige kulturelle Erscheinung, die ich summarisch als Neisser Liberalismus bezeichnen möchte und die entgegen der bis heute gehegten Meinung vom „schlesischen Rom“ oder „preußischen Bollwerk“ gerade mit diesen beiden disziplinierenden Größen, der katholischen Kirche und dem preußischen Militarismus, abrechnete und einen spezifisch liberalen Boden schuf, auf dem solche Intellektuellen und Dichter gedeihen konnten, wie etwa Theodor Paur, Theodor Jacobi, Friedrich von Sallet, Carl Jentsch sowie im 20. Jahrhundert der pazifistisch angehauchte und antibürgerlich wirkende Max Herrmann-Neiße. Zur Geschichte dieses Neisser Liberalismus gehört auch der heute vergessene, im 19. Jahrhundert aber weithin, nicht lediglich regional bekannte Dichter Hermann Kunibert Neumann (1808–1875). Max Hermann-Neiße schrieb in seinem 1932 veröffentlichten Essay „Wallspaziergang bei Neisse“: „Erst der Militärfriedhof mit dem Grabmal des Dichters Hermann Kunibert Neumann, der mit seinem Kanzonenzyklus ‚Krieg dem Kriege‘ schon 1870 eine pazifistische Tendenzdichtung geschaffen hatte. Dann der besonders stimmungsvolle ‚Jerusalemer Friedhof‘“. 1 Bekannt wurde Neumann vor allem im Vormärz aufgrund seiner Dichtungen, die deutlich an Adelbert von Chamisso anknüpften. Neumann, der sich 1 Max Herrmann-Neiße, Wallspaziergang bei Neisse, in: Die literarische Welt 29/30 (1932), Jg. 8, S. 11. Vgl. auch Max Herrmann-Neiße, Wallspaziergang bei Neiße, in: Ders., Gesammelte Werke. Der Todeskandidat. Prosa 2, hg. v. Klaus Völker, Frankfurt a. M. 1987, S. 614.
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anfänglich einer großen Popularität erfreute, wurde langsam vergessen. Der Herausgeber der „Encyklopädie der deutschen Nationalliteratur“, Oskar Ludwig Bernhard Wolff, veröffentlichte im „achten oder Supplementband“ Proben seiner Dichtungen und suchte gleichzeitig die Ursachen der mangelnden Popularität zu ergründen: „Mag es des Dichters große Bescheidenheit, mag es die Ungunst der Verhältnisse für jedes Talent in Deutschland, das sich fern vom Treiben des öffentlichen Marktes der Literatur hält, verschuldet haben: seine trefflichen Poesien sind bei Weitem nicht so verbreitet worden und haben lange nicht die Anerkennung gefunden, die sie verdienen“. 2 Im Folgenden möchte ich erstens das Leben und Werk dieses Dichters näher beleuchten, zweitens charakteristische Elemente seiner Poetik zeigen und drittens mich im Kontext der regionalen Verlagspolitik der sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts mit seinem vermeintlichen Pazifismus auseinandersetzen.
1. Einige Bemerkungen zu Hermann Kunibert Neumanns Leben Hermann Kunibert Neumann 3 wurde am 12. November 1808 in Marienwerder (heute Kwidzyn) geboren. Sowohl Wolff als auch der Autor der biografischen Notiz zu Neumann in der Allgemeinen Deutschen Biographie 4 weisen auf Neumanns schwache Gesundheit und die Tatsache hin, dass der künftige Dichter erst in seinem zwölften Lebensjahr die Kunst des Lesens und Schreibens beherrschte. Nach dem Besuch des Gymnasiums in seiner Heimatstadt und danach in Elbing trat Neumann im Alter von 18 Jahren in die preußische Armee ein. Er war zuerst in Elbing stationiert, 5 dann als junger Offizier beim 17. Infanterieregiment in Wesel 6 und Düsseldorf. 1839 verließ er den Militär-
2 Encyklopädie der deutschen Nationalliteratur oder biographisch-kritisches Lexikon der deutschen Dichter und Prosaisten seit den frühesten Zeiten, nebst Proben aus ihren Werken. Bearbeitet und herausgegeben von Oskar Ludwig Bernhard Wolff, Professor an der Universität zu Jena. Achter oder Supplementband, Leipzig 1847, S. 326. 3 Die neuere Forschungsliteratur zu Hermann Kunibert Neumann ist wenig umfangreich. Aufmerksamkeit verdient der Dokumentationsband von Rose Hellfaier, Der stille Dichter und dichtende Leutnant. Stimmen und Briefe, Detmold 1986. Bemerkenswert sind außerdem: Gerhard Koselleck, Ein unbekanntes Polen-Epos von Hermann Kunibert Neumann, in: Ders., Reformen, Revolutionen und Reisen. Deutsche Polenliteratur, Wiesbaden 2000, S. 321–378; Hermann Kunibert Neumann, in: Wojciech Kunicki u. a. (Hg.), Neisse: Texte und Bilder, Nysa 2005, S. 297–306. 4 Franz Brümmer, Neumann, Hermann Kunibert, in: Allgemeine Deutsche Biographie 23 (1886), S. 521–523, URL: https://www.deutsche-biographie.de/pnd104286083. html#adbcontent [letzter Zugriff: 07. 02. 2020]. 5 Vgl. ebd. 6 Vgl. Fedor von Köppen, Hermann Kunibert Neumann, in: Nord und Süd 150 (1889), Bd. 50, S. 369.
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dienst als Premierleutnant und übernahm eine Stelle bei der Militärverwaltung in Düsseldorf. Es ist nicht ausgeschlossen, dass Neumann bereits in jenen Jahren im Rheinland, das zu dieser Zeit als Hochburg des Liberalismus galt, der sich deutlich vom süddeutschen Liberalismus unterschied, 7 fortschrittlichen und liberalen Ideen begegnete. Entscheidend war für Neumann das Jahr 1837, als er seine Dichtung „Des Dichters Herz“ (Wesel und Leipzig 1836) veröffentlichte. Dadurch wurde der bereits sehr kranke Grabbe auf ihn aufmerksam. Grabbe schrieb „eine sehr lobende eigenthümliche Beurtheilung (im ‚Düsseldorfer Fremdenblatt‘ Nr. 128 vom 7. Mai 1836). Ich empfing sie in Werden, wo ich das Commando zur Bewachung des dortigen Zuchthaus [sic!] hatte und mich mit meinen [sic!] Frühlingseifer der Elfen’ und den Correcturen für ‚Erz und Marmor‘ beschäftigte“. 8 In demselben Jahr traf Neumann in Berlin Adelbert von Chamisso und bat ihn darum, „die Weihe der Schöpfung ‚Des Dichters Herz‘ anzunehmen“. Chamisso war darüber erfreut und führte ihn in „die Gesellschaft der älteren Literaten ein. Ich sah dort Raupach, Streckfuß, Willibald Alexis (Dr. Haering), Eichendorf(f), Gaudy und einige Andere. . . “. 9 Chamisso war sein Vorbild und Gönner, wie dieser Brief Chamissos an Neumann zeigt: Das Licht, nach welchem der deutsche Dichter in seiner letzten Stunde begehrte, wird mir an meinem Abende, ich besorge fast im Uebermaß zu Theil, und ich möchte fürchten, auch einmal der Dämmerung und der Nacht entgegen zu gehen. Indessen genieße ich dankbar gegen mein Deutschland und meine Zeit alles Erfreuliche, was mir wird, und so sage ich Ihnen auch, verehrtester Herr, meinen herzlichsten Dank. Aus reinem Herzen strömt „Des Dichters Herz“. Im Frühlingsgedicht haben Sie gar liebliche Töne angeschlagen, aus den leicht geflochteten anmuthig grünen Stanzen, möchte ich manches Reis heraus heben: „Lied, ward dir jene Wonne“ u. s. w. und manche andere Stellen haben mich sehr angesprochen. Das größere Gedicht, und, nach Maßgabe des Raumes, andere von Ihnen, sind zur Aufnahme in den deutschen M. Alm. bestimmt. Aber ich muß die Zügel der Redaktion schießen lassen, zu einer Zeit, als mir die Verleger ganz erbost nachrufen: ich hätte zweimal mehr nicht eingefordert, als in dem engen Buche Raum finden kann. 10 7 Vgl. Heinrich August Winkler, Der lange Weg nach Westen. Deutsche Geschichte vom Ende des Alten Reiches bis zum Untergang der Weimarer Republik, Bd. 1, München 7 2010, S. 92. 8 Kuniberts Leben von Hermann Neumann aus Marienwerder. Unveröffentlichtes Manuskript. Zit. nach: Alfred Bergmann (Hg.), Grabbe in Berichten seiner Zeitgenossen, Stuttgart 1968, S. 176. Zum ersten Mal in: Ders., Grabbe. Begegnungen mit Zeitgenossen, Weimar 1930, S. 171–173. 9 Es handelte sich um die 1834 von Eduard Hitzig gegründete Mittwochsgesellschaft. Ebd. 10 Brief von Adelbert von Chamisso an Hermann Kunibert Neumann (Abschrift von Hermann Kunibert Neumann) vom 19. Juni 1836, Manuskript, Staatsbibliothek zu Ber-
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Dieser elegante Brief ist eine kaum verhüllte Absage, obwohl man die guten Absichten Chamissos und seine Ehrlichkeit bei der Beurteilung der Gedichte kaum bezweifeln kann. Außerdem bemühte sich Kunibert Neumann um die Freundschaft mit Ferdinand Freiligrath: „Es ist doch herrlich, daß Grabbe uns noch nach seinem Tode zusammengeführt hat. Er war der erste, welcher mich auf Sie aufmerksam machte, indem er mir Ihr Gedicht ‚Den Löwenritt‘ vorlas. Ich hatte ihn damals erst kurze Zeit kennen gelernt, weil ich mich nicht gleich bei seiner Ankunft in Düsseldorf ihm vorzustellen wagte“. 11 Die Düsseldorfer Geselligkeit fand 1841 ein Ende, weil Neumann 1841 zum Vorstand der Garnison in Wetzlar ernannt wurde. 1842 ging er als Oberinspektor nach Torgau. 12 Hier engagierte er sich politisch und „ward Leiter fast sämmtlicher Vereine der Stadt und des Kreises und von ihnen als Vertreter zum constitutionellen Congreß nach Berlin gesandt; er organisirte die Bürgerwehr und – damit auch die Komik in den Beweisen des Vertrauens nicht fehle – die Torgauer Bäckerinnung ertheilte ihm das Diplom eines Bäckermeisters“. 13 Gegen Ende des Jahres 1848 wurde Neumann zur Übernahme der Garnisonsverwaltung nach Glatz versetzt und hier bald darauf „von der durchweg katholischen Bevölkerung der Grafschaft zur Nationalversammlung in Berlin abgeordnet, in der er sich zur Partei Waldeck hielt“ 14 und somit linksliberale Ansichten vertrat. 1853 wurde er nach Neisse versetzt, wo er bis zu seinem Tode am 8. November 1875 als Oberinspektor der Garnisonsverwaltung wirkte. Beigesetzt wurde er auf dem Garnisonsfriedhof in Neisse, vier Jahre darauf hat man ein prächtiges Grabdenkmal mit seiner Büste feierlich enthüllt. Obwohl er mit den Linksliberalen sympathisierend seine freireligiösen Absichten nicht verhüllte, fand er doch eine deutliche Anerkennung der preußischen Behörden für seine Dienste in den Garnisonen Preußens. „Im Jahre 1860 ward dem Dichter, der übrigens für einen tüchtigen Beamten galt, eine Anerkennung der Regierung durch die Ernennung zum Garnisonsverwaltungs-Director und die Verleihung des Rothen Adlerordens“. 15 Schon diese wenigen Angaben über Neumanns Leben lassen die Spannung zwischen seinen freisinnigen Neigungen und seiner Dienstverpflichtung als preußischer Beamter einer Garnisonsverwaltung, also einer militärischen Behörde erkennen. Seit 1850, d. h. seit der Glatzer Zeit von Schmerzen und Krankheiten geplagt, konnte er sich in der schlesischen Stadt nicht wohlfühlen:
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lin, Digitalisat, URL: http://resolver.staatsbibliothek-berlin.de/SBB0001087500000000 [letzter Zugriff: 07. 02. 2020]. Brief von Hermann Kunibert Neumann an Ferdinand Freiligrath vom 4. Februar 1837. Zit. nach: Bergmann, S. 174. Vgl. Brümmer. Ebd. Ebd. Köppen, S. 383.
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Als er diese (seine Autobiographie) schrieb, war er etwa 10 Jahre in Neisse. Er hat sich hier nicht eingelebt, woran seine Kränklichkeit und die von der seinigen vielfach abweichende Lebensanschauung der Schlesier, speziell der Neisser, schuld ist. Die Selbstbiographie ist erfüllt mit Klagen darüber. Die gerühmte Gemüthlichkeit der Schlesier, sagte er, ich habe sie leider nicht finden können. Er hat eine bequeme Wohnung, die er sich geschmackvoll einrichtet, ein mit Liebe gepflegtes Gärtchen am Hause – aber Blumen und Pflanzungen werden ihm von rohen, schadenfrohen Leuten ab und zu verwüstet. Seine amtliche Stellung wird ihm erschwert, er erfährt Zurücksetzungen und fürchtet zuweilen den Verlust seines Amtes. 16
Nun möchte ich mich im zweiten Teil meiner Betrachtung den Kriegsbildern bei Kunibert Neumann widmen und die These wagen, dass gerade in den spezifischen Verhältnissen einer doppelten Disziplinierung (seitens der katholischen Kirche und des Militärs) in der Festung Neisse ein Pazifismus möglich war, der die Tradition des Vormärzes fortsetzte und bei aller Loyalität gegenüber dem „König“ die sinnlose Grausamkeit kriegerischer Auseinandersetzungen anzuprangern wusste.
2. Neumanns (Anti-)Kriegsbilder Die vormärzlichen Kriegsbilder Kunibert Neumanns offenbaren einen doppelten Charakter. Das 1837 erschienene epische Gedicht „Erz und Marmor“ beginnt mit der ausgebauten Apostrophe „An Preußens Heer“: Gegrüßet Preußen, Männer sonder Wanken! Du Volk in Waffen, du Spartanerheer! – Borussia, du Wonne der Gedanken, Borussia, du Wort wie Gold so schwer! 17
Im epischen Gedicht „Die letzte Meldung“, dem zweiten Teil von „Erz und Marmor“, wird rückblickend auf den Siebenjährigen Krieg von einem alten Kriegsveteranen („Kriegergreis“) gesprochen: Wie wir vertrieben dort den Feind aus Sachsen, Gesiegt in Böhmen und Silesia, Den Strom gefärbt, wo deutsche Reben wachsen, Den Feind zertreten in Westphalia. 18
16 Ernst Melzer, Ueber den Dichter Hermann Kunibert Neumann. Vortrag am 31. Oktober 1882, in: 22. Bericht der Philomathie in Neisse von Oktober 1882 bis zum Oktober 1884, Neisse 1884, S. 131. 17 Hermann Kunibert Neumann, Erz und Marmor, Wesel 1837, o. S. 18 Hermann Kunibert Neumann, Die letzte Meldung, in: ebd., S. 69.
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Die Kriegsbilder werden in eindeutiger Anlehnung an die in der preußischen Historiografie festgehaltenen Einzelheiten der Schlacht bei Leuthen geschildert: Und Feuer uns und Donner rings umrauschten, Die Kugeln schlugen in des Kirchhofs Mauer, Mit Feindes Gruß wir unsere Grüße tauschten, Sie grüßten viel, drum grüßten wir genauer. 19
Die Kriegsgeschehnisse (auch die privaten Tragödien, wie der Tod eines Kameraden, die Trennung von der Heimat, der Verlust der Braut) werden brav borussisch in das patriotische Schema hineingezwängt und durch die ins Dämonische erweiterte Figur des Preußenkönigs gerechtfertigt. Am Ende des Gedichts stirbt der Kriegergreis in der Hoffnung, nicht bei seiner lange schon toten Braut, sondern seinem Feldherrn zu sein. Die bewusste Stilisierung auf den Volkston, vor allem der Gebrauch der Knittelverse erlaubt die Perspektive eines einfachen Soldaten zu aktualisieren, die Chamisso in seinem Gedicht „Der Invalid im Irrenhaus“ (1827) sehr geschickt anwendet, um nach dem Sinn der sogenannten Freiheitskriege zu fragen: Leipzig, Leipzig! Arger Boden, Schmach für Unbill schafftest du. Freiheit! Hieß es vorwärts, vorwärts! Trankst mein rotes Blut, wozu? 20
Dieses Nebeneinander der Königstreue und des Realismus der Kriegsbilder sieht man noch deutlicher im Prolog zu der Dichtung „Das letzte Menschenpaar“ (geschrieben und veröffentlicht in Torgau im Jahre 1844), einem Bändchen, das der Autor als „Gabe für die verarmten Spinner und Weber im Schlesischen Gebirge“ verstand: Wir haben Frieden, – und der Mord Schleicht durch die Berge fort und fort, Wir sind voll Freude und voll Scherz, Und stündlich bricht manch wack’res Herz, Denkmale setzen wir dem Tod, Nicht denkend an des Lebens Noth Wir bauen Dom’ und Städte wieder, Und lassen hungern uns’re Brüder. 21
19 Ebd., S. 64. 20 Chamissos gesammelte Werke. Neu durchgesehene und vermehrte Ausgabe. Mit biographischer Einleitung hg. v. Max Koch, Stuttgart o. J., Bd. 1, S. 145. 21 Das letzte Menschenpaar. Gedicht von Hermann Neumann, Torgau 1844, o. S.
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Die Denkmäler für den Tod sind Krieger- und Schlachtendenkmäler, bei dem Bau von Domen handelt es sich offensichtlich um die viel kritisierte Vollendung des Kölner Domes. Zwei Strophen weiter werden die Bilder ins Positive gewendet mit der Hoffnung, dass ein König, der diesen Dom vollenden lässt, auch die Not der schlesischen Weber lindern wird: Der König soll der Meister sein, Er schlägt die gold’nen Fäden ein, Was er dem Dom am Rheine thut, Was er gethan bei Hamburgs Gluth, Thut er den armen Schlesiern auch. 22
Man kann damit feststellen, dass unter den Dichtungen Neumanns, die im Vormärz erschienen sind, die Kriegsbilder sich durch eine gewisse Doppelgesichtigkeit auszeichnen. Einerseits versteht sich der Dichter als Sänger der kriegerischen Erfolge Preußens. Das Schlagwort vom „Volk in Waffen“ wird künftig eine gewisse Karriere machen. Andererseits gibt es bereits in den Dichtungen aus dieser Zeit kritische Töne, was Krieg und die preußische Politik angeht. In diesem Kontext drängt sich die Frage auf, ob Neumann als ein pazifistischer Dichter gelten könne. Meine These lautet, dass man im Falle Neumanns nicht von einem dezidierten Pazifismus reden kann. Der Begriff „Pazifismus“, wie wir ihn heute verstehen, hat sich erst am Anfang des 20. Jahrhunderts etabliert. Als Pazifismus gilt „das Prinzip absoluter Gewaltlosigkeit mit der Verurteilung jedweden Krieges, auch des Verteidigungskrieges“. 23 Neumann dagegen lehnte keinesfalls Kriege ab, die für die Freiheit ausgetragen werden. Für die Freiheit haben Gefallene ihr Leben sinnvoll geopfert: Mag Ruhm und Herrlichkeit umranken Die mit dem Lorbeer auch die Palme brachten, Vor Allen sie, die für die Freiheit sanken. 24
Ansonsten lehnt er den Krieg aus denselben Gründen ab, die für künftige pazifistische Bewegungen wichtig werden, z. B. aus religiösen Gründen. Bereits in der „Zueignung“ wird die Führung eines Krieges eindeutig als „Sünde“ 25 stigmatisiert. In der ersten Canzone wird die Hoffnung ausgedrückt, dass die Lehren Gottes die Menschen überzeugen und
22 Ebd. 23 Karl Holl, Pazifismus, in: Otto Brunner u. a. (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Stuttgart 21997, Bd. 4, S. 771. 24 Hermann Kunibert Neumann, Krieg dem Kriege! Canzonen von Hermann Neumann, Breslau 1870, Nr. 45, o. S. 25 Ebd., Zueignung, o. S.
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98 Fortwirken bis die Völker sehen Die Erndten reifen, und sie friedlich mähen! 26
In der Auseinandersetzung mit den Kriegsbegeisterten macht sich der Dichter als Anhänger des Lebens kenntlich. 27 Auch die Großen, Philosophen, Denker und Reformatoren, sterben im Dienste der Menschheit, „weil der Leib zu schwächlich“. 28 Der Autor bedient sich kriegerischer Metaphorik, um deren friedliches Ringen zum Wohle der Menschheit zu schildern: Bescheid’ne Helden sind’s, zum Opfer brachten Sie sich dem Geist, als Sieger seiner Schlachten. 29
Der Hauptgegensatz bei Neumann besteht zwischen Volk und Regierenden. Das Volk leidet unter dem Krieg, was er ironisch zum Ausdruck bringt: „Wollt ihr den Krieg, macht nicht den Krieg zu theuer!“. 30 Am verwerflichsten sind für den Autor Kriege, die aus religiösen Gründen geführt werden: „Zwei Brüder Kain, sie liegen Gott zu Füßen“, 31 schrecklich auch diejenigen, die zwei Völker zur Beilegung von Streitigkeiten führen: Doch weh, daß zweier Völker Blut, so theuer, In Strömen auf den Plan vergossen, Und, was verpönter Barbarei entsprossen, Daß Krieg nur löschen kann der Zwietracht Feuer! 32
Gegeißelt werden zudem Fürsten, die aus egoistischen Gründen Kriege führen: Weh Dir, o Volk, weh’! deinem Herrscher fehlet Die Liebe, die nicht tödtet, die beseelet. 33
Im Lichte der oben angeführten Definition des Pazifismus berechtigt Neumanns Kritik der Kriegsursachen jedoch nicht, ihn als Pazifisten wahrzunehmen, wie Max Herrmann-Neiße in dem am Anfang angeführten Zitat meint. Der Dichter tritt hier vielmehr als „Friedensfreund“ und Vertreter der „Friedensbewegung“ auf, jener Tendenz also, „die auf die Vermeidung der Kriegsgefahr durch Entspannung und ‚völkerrechtliche Sicherung‘ gerichtet“ 34 ist.
26 27 28 29 30 31 32 33 34
Ebd., Nr. 1, o. S. Vgl. ebd., Nr. 27 und Nr. 28, o. S. Ebd., Nr. 29, o. S. Ebd. Ebd., Nr. 33, o. S. Ebd., Nr. 42, o. S. Ebd., Nr. 45, o. S. Ebd., Nr. 46, o. S. Holl, S. 771.
Hermann Kunibert Neumann: Von „Volk in Waffen“ zu „Krieg dem Kriege“
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Den alten Begriff „Friedensfreund“ differenziert nach der Ersten Haager Konferenz (1899), die der Friedensbewegung neue günstigere politische Voraussetzungen zu schaffen schien, 35 der österreichische Schriftsteller und Journalist Alfred Hermann Fried, Gründer der Zeitschrift „Die Waffen nieder!“ und Friedensnobelpreisträger des Jahres 1911: Das alte Wort „Friedensfreund“ [. . . ] fängt an, seinen Kredit zu verlieren. Es war niemals eine richtige Bezeichnung für unsere Bestrebungen gewesen. Das Wort Freund ist zu schlaff, zu wenig ausdrucksvoll in der hier gebrauchten Verbindung. [. . . ] Man ist eigentlich Friedensfreund, wenn man das ist, was wir nicht sein wollen, nämlich Freund der Erhaltung des Friedens auf Grund der bewaffneten Macht und der Überrüstung und nicht der Sicherung des Friedens auf Grund eines ausgebildeten gefestigten Rechtes. 36
Fried folgend, wird der Frieden durch das „ausgebildete gefestigte Recht“ garantiert. Dieses Konzept knüpft an Kants Idee des „ewigen Friedens“ an. Kant, der letztlich den Krieg an sich als „etwas Erhabenes“ 37 und etwas, das die Menschheit veredelt, 38 betrachtete, setzte den Frieden dem Recht gleich. Der „Friedenszustand“ sei nach ihm ein „unter Gesetzen gesicherter Zustand des Mein und Dein“, 39 den er „als eine unbedingte Vernunftforderung und nicht als utopische Zukunftsvision“ 40 begriff. Die Vernunft sei die Kraft, die „vom Throne der höchsten moralisch gesetzgebenden Gewalt herab den Krieg als Rechtsgang schlechterdings verdammt, den Friedenszustand dagegen zur unmittelbaren Pflicht macht“. 41 Während Kant nicht an „einen aus der natürlichen Brüderlichkeit aller Menschen sich ergebenden Menschheitsfrieden“ 42 glaubte, gehörte Neumann zu „den Verfechtern einer ‚organischen‘ Staatslehre, die im (meist falsch interpretierenden) Rückgriff auf traditionelles Ideengut und in bewußtem Gegensatz zur vernunftrechtlichen Staatstheorie der Aufklärung den Staat als Friedenskorporation zu verstehen lehrten“. 43 Dieses Konzept lehnt sich an dasjenige Friedrich Schlegels an, welches dieser in „Signatur des Zeitalters“ (1820–1823) ausformulierte. 44 Das strenge,
35 Vgl. ebd. 36 Ebd. 37 Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, hg. v. Karl Vorländer, Leipzig 51922, S. 109. Auf diesen Aspekt weist auch Reinhart Koselleck hin, vgl. Reinhart Koselleck, Friede, in: Otto Bruner u. a. (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Stuttgart 41998, Bd. 2, S. 578. 38 Vgl. Koselleck, S. 579. 39 Ebd., S. 577. 40 Ebd., S. 576. 41 Ebd., S. 578. 42 Ebd., S. 577. 43 Ebd., S. 580. 44 Vgl. ebd.
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absolute Recht, „welches auf dem Buchstaben des Gesetzes beruht“ 45 und die Ursache für den „Zustand der latenten Revolution“ 46 im Europa des 19. Jahrhunderts war, wollte Schlegel durch eine auf dem „System der Billigkeit gegründete“ 47 zugleich „menschlich unvollkommene“ 48 und doch „christliche Gerechtigkeit“ 49 ersetzen. Diese Richtung scheint auch Neumann in den gegen Ende seines Lebens entstandenen Canzonen „Krieg dem Kriege!“ zu vertreten. Abgesehen von der argumentativen Struktur, deren Elemente ich oben nannte, ist bei dem Zyklus die Geste des dichterischen Stolzes wichtig, also die Überzeugung, dass die Form der Canzonen durchschlagender wirken wird als der argumentativ-intellektuelle Inhalt des Zyklus: Nicht weil die Wahrheit hat den Purpur nöthig, Bin ich bemüht, sie königlich zu kleiden, Nur weil die Welt am Glanze sich zu weiden Ist gern erbötig, Hüll’ ich beim stolzen Rhythmus meiner Sänge Die Göttin in das Schleppkleid prächt’ger Klänge. 50
Der Dichter fühlt sich als Prophet, der die Wahrheit in künstlerischer Form wiedergibt, damit sie ihre Wirkung erreicht: Mein Volk, o neige, Nun sich die Höhen deiner Hoffnung röthen, Dein Ohr dem Wort des dichtenden Propheten! 51
In der dritten Canzone knüpft der Dichter an sein 1837 geprägtes Wort „Volk in Waffen“ an und schildert, indem er es der Formel des ewigen Friedens gegenüberstellt, die Möglichkeit, den Kriegsruhm zu begraben, Daß ewigen Frieden alle Menschen haben. 52
Als Fazit dieses Abschnittes möchte ich feststellen, dass die Veröffentlichung der Canzonen „Krieg dem Kriege!“ für einen preußischen Beamten ein Wagnis war. Deshalb ist sein durch die berufliche und soziale Stellung bedingtes Schwanken zwischen Akzeptanz und Ablehnung des Krieges durchaus verständlich.
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Friedrich Schlegel, Signatur des Zeitalters, Mainz 1926, S. 114. Koselleck, S. 581. Schlegel, S. 113. Ebd. Ebd. Neumann, Krieg dem Kriege!, Zueignung, o. S. Ebd., Nr. 2, o. S. Ebd., Nr. 3, o. S.
Hermann Kunibert Neumann: Von „Volk in Waffen“ zu „Krieg dem Kriege“
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3. Der Verlag Gebhardi in Breslau als Ort der Veröffentlichung der Antikriegskanzonen von Hermann Kunibert Neumann Schauen wir uns nun den Erscheinungsort des Bandes „Krieg dem Kriege!“ an. Es handelt sich um den Verlag F. Gebhardi, in dem 1869 „Die Atheisten“ von Hermann Kunibert Neumann und 1870 dessen „Krieg dem Kriege!“ erschienen sind. Friedrich Gebhardi wusste, worauf er sich einließ, deshalb bekannte er am Ende des Vorwortes zu „Krieg dem Kriege!“: Wenn die Idee des ewigen Friedens nicht mehr in verschwiegenem Herzen getragen wird, sondern von der Tribüne in begeisternden Worten vor das Volk tritt, wenn die Verspottung, der alles Schöne, Gute und Neue unterworfen ist, nicht mehr das Beifallklatschen der Menge für die Verhöhnung der Idealisten erringt, die das Unmögliche – den ewigen Frieden der Menschheit zur Pflicht machen, und wenn der Krieg bereits als das größte Übel anerkannt wird, dann hat der Denker und Dichter die schöne Aufgabe, mit der Macht des Gedankens und Gefühls und den Schmeichellauten der schönen Form, die Idee zu stärken, zu klären und zu schmücken. 53
Die Firma F. Gebhardi, Buch- Musik- und Kunsthandlung in Breslau entstand 1868 durch die Übernahme der Firmen L.E. Gebhardi in Erfurt sowie Gebhardi in Brieg. Das Flaggschiff des Verlages war die neue Folge der „Schlesischen Provinzialblätter“, die Gebhardi zu einem zentralen Organ der kulturellen Aktivitäten in Schlesien umgestalten wollte. Der Verlag existierte bis 1872 oder 1873, der Jahrgang 1873 der „Schlesischen Provinzialblätter“ wurde bereits im Verlage Max Cohn in Liegnitz sowie Cohn und Weigert in Breslau, Zwingerplatz 1, herausgegeben. Die Herausgeberschaft führte die ganze Zeit hindurch Theodor Oelsner. Nach der Übernahme der Zeitschrift durch den Cohnschen Verlag nahm das Interesse für Neumann ab, wie die Jahrgänge von 1868 bis 1872 bekunden. Im Jahr 1871, bereits nach dem deutsch-französischen Krieg, erschien eine Richtigstellung von Neumann, dass er der Urheber des Wortes „Volk in Waffen“ in Bezug auf die preußische Armee war, und zwar in dem Gedicht „An Preußens Heer“ aus dem Jahr 1837. 54 Es ist mehr als verständlich, dass Neumann seinerseits gerade im deutsch-französischen Krieg auf der Urheberschaft 53 F. Gebhardi, Einleitung zu „Krieg dem Kriege!“, in: ebd., S. VIII. 54 Hermann Kunibert Neumann, Entweder – Oder. Das Volk in Waffen, in: Rübezahl der Schlesischen Provinzialblätter 1871, S. 26–27. Die Entschiedenheit, mit welcher Neumann selbst auf der ursprünglichen eigenen Autorschaft dieses Wortes bestand, lässt vermuten, dass es sich um eine Absicherung gegen eventuelle Angriffe wegen „Krieg dem Kriege!“ handeln könnte. So berief er sich auf den Gebrauch dieses Wortes in der Thronrede des Königs Wilhelm vor dem preußischen Landtag am 1. Januar 1860: „Es ist nicht die Absicht, mit dem Vermächtniß meiner großen Zeit zu brechen. Das preußische Volk wird auch in Zukunft das ‚Volk in Waffen‘ sein“.
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des Wortes bestand, ähnlich Gebhardi, der schleunigst einen erfolgreichen Gedichtband mit patriotisch-antifranzösischer Lyrik herausbrachte, 55 um den „unangenehmen“ Eindruck der friedfertigen Canzonen von Neumanns „Krieg dem Kriege!“ zu verwischen. Die inkonsequente Haltung Neumanns und Gebhardis resultierte aus diversen Voraussetzungen. Erstens griff die preußische Armee erst dann zu Disziplinierungsmaßnahmen, wenn sie direkt angegriffen wurde, wie etwa in der sich satirisch gebenden Dichtung Friedrich von Sallets „Das Leben ist ein Traum“ (1830), für die dieser eine Festungsstrafe verbüßen musste. Die Canzonen Neumanns, die sich dezidiert gegen den Krieg als Feind der Menschheit richten, greifen die Daseinsberechtigung der preußischen Armee an, aber sie verletzen ihren realen Status nicht. Des Weiteren war sich Neumann dessen bewusst, dass er mit dem Lob des gerechten Krieges, wie oben dargelegt, keinesfalls die offizielle preußische Interpretation der drei Vereinigungskriege in Frage stellte. Es ist allerdings kaum als Zufall zu werten, dass ein dezidierter Pazifist wie Max Herrmann-Neiße, mit dem die vorliegende Betrachtung eröffnet wurde, in Hermann Kunibert Neumann vor allem einen pazifistischen Dichter sah. Hermann-Neißes Stolz darauf, dass in seiner Heimat auch Unbotmäßigkeit und Ungehorsam zu finden waren, trug dazu bei, dass er sich mit der kleinen Neisser Welt seiner Jugend versöhnte.
55 Neue und alte, lustige und ernste Kriegs-Lieder gegen die Franzosen 1870, hg. v. F. Gebhardi, Breslau 1870.
Lukas D. Kersten
(Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau)
Literarischer Pazifismus und Erster Weltkrieg Eine Begriffsklärung und Untersuchung pazifistischer Formen und Persuasionsstrategien in Andreas Latzkos „Menschen im Krieg“ und Leonhard Franks „Der Mensch ist gut“
Das Aufkommen pazifistischer Einflüsse wird in der deutschsprachigen Gesellschaft und im Hinblick auf die deutschsprachige Literatur häufig mit dem Ereignis des Ersten Weltkrieges assoziiert. Dieser Eindruck geht einerseits auf den starken Zulauf der Friedensbewegung in der Weimarer Republik, 1 andererseits auf die Verarbeitung des Krieges in der Literatur zurück. 2 Wird jedoch ein Blick auf die Literaturgeschichte geworfen, offenbart sich, dass das Phänomen des literarischen Pazifismus spätestens seit Bertha von Suttners Roman „Die Waffen nieder!“ von 1889 existiert. Auch der Einfluss des organisierten Pazifismus ist früher anzusetzen. So hielt etwa Victor Hugo auf dem ersten internationalen Schriftstellerkongress in Paris 1878 eine Rede, 3 in der er alle Schriftsteller aufforderte, sich mittels ihrer Literatur für die Zivilisation und gegen den Krieg zu engagieren, folglich pazifistische Literatur zu verfassen. Warum wird also die Genese dieser Literatur primär mit dem Ersten Weltkrieg verbunden? Um diese Frage zu beantworten und eruieren zu können, was unter literarischem Pazifismus zu verstehen ist, folgt zunächst ein Überblick über die bisherige Forschung und anschließend der Versuch einer Begriffsklärung. Ziel ist es, den Begriff „pazifistische Literatur“ soweit zu klären, dass systematische, gattungsübergreifende und konstitutive Merkmale dieser Literatur herausgearbeitet werden können. Hierzu werden die Persuasionsstrategien der No1 Vgl. Wolfram Wette, Einleitung. Probleme des Pazifismus in der Zwischenkriegszeit, in: Karl Holl / Wolfram Wette (Hg.), Pazifismus in der Weimarer Republik. Beiträge zur historischen Friedensforschung, Paderborn 1981, S. 9–25, hier S. 11; Karl Holl, Pazifismus in Deutschland, Frankfurt a. M. 1988, S. 143–144, 148–153. 2 Die gegenwärtige Darstellung und Bewertung des Ersten Weltkrieges im kulturellen Gedächtnis ist maßgeblich durch seine Darstellung in den zeitgenössischen Medien Literatur, Film und Fotografie geprägt. Vgl. Thomas F. Schneider u. a., Die Autoren und Bücher der deutschsprachigen Literatur zum Ersten Weltkrieg 1914–1939. Ein biobibliographisches Handbuch, Göttingen 2008, S. 7. 3 Vgl. Victor Hugo, Congrès littéraire international. Discours d’ouverture, in: Œuvres complètes de Victor Hugo. Actes et paroles. Depuis l’exil: 1876–1885, Paris o. J., S. 89– 99.
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vellenzyklen 4 „Menschen im Krieg“ von Andreas Latzko und „Der Mensch ist gut“ von Leonhard Frank beleuchtet. Diese beiden Werke sind zwar nahezu aus dem literarisch-kulturellen Gedächtnis verschwunden, gelten jedoch als Exponenten expressionistischer pazifistischer Literatur, die während des Ersten Weltkrieges entstanden ist, da sie trotz der Zensur eine vergleichsweise hohe Auflagenzahl erreichten und beachtliche zeitgenössische Resonanz hervorriefen. 5 Zudem unterscheiden sich die Novellenzyklen deutlich von „gemäßigter“ Antikriegsliteratur, da ihre pazifistischen Kriegsdarstellungen durch eine spezifische, radikale Negativität gekennzeichnet sind. 6 Um diesen Aspekt adäquat erfassen zu können, werden die Werke sowohl systematisch als auch historisch differenziert analysiert und so zugrundeliegende, implementierte und repräsentierte pazifistische Ideen sowie generierte Appelle herausgearbeitet. Im kollektiven Gedächtnis dominiert heutzutage der Eindruck, dass deutschsprachige pazifistische Literatur erst seit 1927 existiere, da seitdem eine wachsende Anzahl an Antikriegs- beziehungsweise Kriegsromanen erschien. 7
4 Die bisherige Forschung zu beiden Werken bezeichnet die Einzeltexte innerhalb der Sammlungen als Erzählungen oder Novellen oder gebraucht die Begriffe undifferenziert als Synonyme. Alle bisherigen Beiträge sparen die „Gattungsfrage“ aus, da sie die Kategorisierungen weder begründen noch problematisieren. Diese Frage kann hier zwar nicht erschöpfend erörtert werden, jedoch sei darauf hingewiesen, dass die Texte aufgrund zahlreicher novellistischer Charakteristika als Novellen verstanden werden können. Sie verfügen jeweils über eine komponierte Struktur mit einem Wendepunkt, eine „sich ereignete unerhörte Begebenheit“, einen eindeutigen Wirklichkeitsbezug der Handlung und wiederholt auftretende Motive, denen strukturierende und interpretierende Funktion zukommt. Zudem können die Werke als Novellenzyklen verstanden werden, da die Novellen innerhalb der Sammlungen untereinander zahlreiche Zusammenhänge aufweisen. Für die novellistischen Charakteristika vgl. Rolf Füllmann, Einführung in die Novelle, Darmstadt 2010, S. 8, 35–37; Hugo Aust, Novelle, Stuttgart 52012, S. 12–17; Winfried Freund, Novelle, Stuttgart 2009, S. 33–38. 5 Vgl. Hans-Harald Müller, Der Krieg und die Schriftsteller. Der Kriegsroman der Weimarer Republik, Stuttgart 1986, S. 20; Katharina Rudolph, Viel mehr als ein Buch. Leonhard Franks „Der Mensch ist gut“ – ein Werk und seine Wirkung, in: Michael Henke / Wolfgang Riedel (Hg.), Felder der Ehre? Krieg und Nachkrieg in der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts, Würzburg 2015, S. 103–120, hier S. 104–105; Andrew Barker, „Ein Schrei, vor dem kunstrichterliche Einwendungen gern verstummen“. Andreas Latzko: „Menschen im Krieg“ (1917), in: Thomas F. Schneider / Hans Wagener (Hg.), Von Richthofen bis Remarque. Deutschsprachige Prosa zum I. Weltkrieg, Amsterdam 2003, S. 85– 96, hier S. 85–86, 88; Wilhelm Krull, Politische Prosa des Expressionismus. Rekonstruktion und Kritik, Frankfurt a. M. 1982, S. 106–141. 6 Vgl. Krull, Politische Prosa des Expressionismus, S. 106–141, besonders S. 106. 7 Es handelt sich u. a. um Georg von der Vrings „Soldat Suhren“ (1927), Arnold Zweigs „Der Streit um den Sergeanten Grischa“ (1927), Ernst Glaesers „Jahrgang 1902“ (1928), Ludwig Renns „Krieg“ (1928), Ernst Johannsens „Vier von der Infanterie“ (1929), Erich Maria Remarques „Im Westen nichts Neues“ (1929), Edlef Köppens „Heeresbericht“ (1930), Theodor Plieviers „Des Kaisers Kulis“ (1929) und Adam Scharrers „Vaterlandslose Gesellen“ (1930). Vgl. Gesa von Essen, Kritische Retrospekti-
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Im Wesentlichen können für diese Annahme zwei Gründe ausgemacht werden. Erstens sind dem heutigen Lesepublikum außer Erich Maria Remarques Roman „Im Westen nichts Neues“ kaum pazifistische Autorinnen und Autoren und deren Werke bekannt. Lediglich eine Minderheit von Historikerinnen und Historikern, Literaturwissenschaftlerinnen und Literaturwissenschaftlern ist über die Bandbreite und die Rezeption pazifistischer Literatur informiert. Thomas F. Schneider konnte nachweisen, dass dieser Umstand mit der internationalen schulischen und akademischen Rezeption des Romans insbesondere in den 1970er und 1990er Jahren zusammenhängt. 8 Noch heute wird die These vertreten, dass der Roman das signifikante kriegskritische Buch des Ersten Weltkrieges sei. 9 Diese These wurde in der literaturwissenschaftlichen Forschung indes u. a. von Thomas F. Schneider, Jörg Vollmer, Stefanie Stockhorst und Gesa von Essen plausibel infrage gestellt. 10 Die Quintessenz der Arbeiten der genannten Verfasserinnen und Verfasser lautet, dass Remarques Roman unzutreffend als pazifistisch charakterisiert wird und wir es mit einem eher antimilitaristischen Roman zu tun haben. Diese Einschätzung ist zum einen dem offenen Charakter des Romans zuzuschreiben, der verschiedene Deutungsansätze zulässt, zum anderen dem Fehlen einer pazifistischen Programmatik, die in der „Duval-Episode“ beziehungsweise „Trichterszene“ am Romanende vom Protagonisten lediglich angedeutet und sogleich verworfen wird. 11
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ven. (Anti-)Kriegsromane der Weimarer Republik, in: Werner Frick / Günter Schnitzler (Hg.), Der Erste Weltkrieg im Spiegel der Künste, Freiburg i. Br. 2017, S. 147–173, hier S. 147–148. Vgl. Thomas F. Schneider, „Endlich die Wahrheit über den Krieg!“. Erich Maria Remarques „Im Westen nichts Neues“ als Kulminationspunkt in der Diskussion um den Ersten Weltkrieg in der Weimarer Republik, in: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 62 (2015), S. 87–102, hier S. 88–89; Ders., Erich Maria Remarques Roman „Im Westen nichts Neues“. Text, Edition, Entstehung, Distribution und Rezeption (1928– 1930), Tübingen 2004, S. 9–10, 415–416. Vgl. Schneider, „Endlich die Wahrheit über den Krieg!“, S. 89–91, 98–99; Ders., Erich Maria Remarques Roman, S. 7. Vgl. Schneider, „Endlich die Wahrheit über den Krieg!“, S. 89–91, 97–99; Jörg Vollmer, Imaginäre Schlachtfelder. Kriegsliteratur in der Weimarer Republik. Eine literatursoziologische Untersuchung, Berlin 2003; Stefanie Stockhorst, Artikulationsmöglichkeiten von Kriegsgegnerschaft im pazifistischen Roman der Weimarer Republik. Zum Problem der heimlichen Affirmation bei Georg von der Vring und Erich Maria Remarque, in: Jahrbuch zu Kultur und Literatur der Weimarer Republik 12 (2008), S. 177–202; Essen. Vgl. Stockhorst, S. 193–194. So durchläuft der Protagonist des Romans Paul Bäumer zwar eine pazifistische Wandlung, als er gegen Ende des Romans im Niemandsland einen französischen Soldaten tötet, daraufhin dessen individuelle Lebensgeschichte rekonstruiert, ihn als Kameraden identifiziert und sich infolgedessen moralisch mit dem Töten im Krieg und seiner individuellen Schuld auseinandersetzt. Nach der Rückkehr Bäumers erweist sich diese Wandlung im Gespräch mit seinen Kameraden jedoch als nicht tragfähig, was in der resignativen Rechtfertigung endet, dass der Krieg eben derart grausam sei und der Einzelne daran nichts ändern könne. Vgl. Essen, S. 162–163.
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Zweitens sind jedoch nicht allein Remarques Roman und dessen Rezeption für die unklaren Vorstellungen verantwortlich, die mit dem Begriff „pazifistisch“ verbunden werden. Auch die literaturwissenschaftliche Forschung trägt ihren Teil dazu bei. Zwar gibt es nur wenige pazifistische Texte, die in der Forschung bisher ignoriert wurden; so existiert sogar eine Fülle von Beiträgen zu zahlreichen Autoren, Werken und Aspekten. Maßgeblich fehlt es jedoch an systematisierenden Ansätzen und einer verbindlichen, adäquaten Begrifflichkeit. Allgemein wird angenommen, dass es eine „pazifistische Literatur“ gebe, 12 obwohl nach wie vor eine Bestimmung des Begriffs „pazifistisch“ fehlt. Außerdem fokussieren sich werkübergreifende Beiträge auf eine Art „Kanon“ von ca. zwanzig bis dreißig ab 1927 erschienenen Kriegsromanen, wodurch das Korpus historisch auf die letzten Jahre der Weimarer Republik und darüber hinaus auf die Gattung des Romans eingeengt wird. 13 Infolgedessen wurden bisher keine konstitutiven Eigenschaften des literarischen Pazifismus formuliert. Überdies blieb unbestimmt, welche Autoren und Texte einer gattungsübergreifenden pazifistischen Literatur zugerechnet werden können. Dieser Umstand und der undifferenzierte Einbezug nur partiell kriegskritischer oder eher antimilitaristischer Texte hat dazu geführt, dass fraglich ist, ob überhaupt von einem genauer bestimmbaren Textkorpus ausgegangen werden kann. Gleichwohl wurde in der Forschung mehrfach darauf hingewiesen, dass sowohl eine Binnendifferenzierung des Begriffsfelds noch aussteht als auch Spezialuntersuchungen zum literarischen Pazifismus fehlen. 14 Dessen ungeachtet entstanden vereinzelt erste Ansätze einer systematischen Analyse des Phänomens, die zu einem präziseren Verständnis beitragen und deshalb im Folgenden skizziert werden. Der wichtigste Beitrag zur Begriffsklärung ist der Aufsatz „Literatur und Pazifismus“ von Günter Häntzschel, der grundsätzliche Probleme hinsichtlich 12 Beispielsweise wird bei der Analyse von Antikriegsliteratur antizipiert, dass sie über Topoi verfügt. Vgl. Claude D. Conter u. a., Einleitung, in: Dies. (Hg.), Der Erste Weltkrieg als Katastrophe. Deutungsmuster im literarischen Diskurs, Würzburg 2014, S. 9–17, hier S. 10. Jedoch sind bisher keine werkübergreifenden Untersuchungen erschienen, welche Topoi, charakteristische Motive und Thematiken kriegskritischer Literatur anhand eines repräsentativen Korpus ermittelt haben. So dominieren Arbeiten, die kriegsaffirmative mit kriegskritischen Romanen kontrastierend analysiert haben und derart zwar differente Thematiken und verschiedenartige Kriegsdarstellungen ermitteln konnten, jedoch vorwiegend dichotomisch zwischen kriegsaffirmativer und kriegskritischer Literatur unterschieden haben. Auf diese Weise wurden bisher jedoch weder signifikante Topoi der Antikriegsliteratur eruiert noch konnte eine trennscharfe und differenzierte Reflexion über pazifistische Literatur entstehen. 13 Vgl. Schneider u. a., Die Autoren und Bücher, S. 7–8; Ders., Erich Maria Remarques Roman, S. 9–10; Essen, S. 147–148; Michael Gollbach, Die Wiederkehr des Weltkrieges in der Literatur: zu den Frontromanen der späten Zwanziger Jahre, Kronberg 1978; Margrit Stickelberger-Eder, Aufbruch 1914. Kriegsromane der späten Weimarer Republik, Zürich 1983. 14 Vgl. Schneider, Erich Maria Remarques Roman, S. 9–11, 414; Müller, S. 20–21, 312.
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der Publikationsmöglichkeiten und einer positiven sowie breiten kulturell-politischen Rezeption pazifistischer Literatur vor 1945 beleuchtet. 15 Laut Häntzschel können die marginale Bedeutung, die vernachlässigte Rezeption und die geringen Wirkungsmöglichkeiten pazifistischer Literatur im Wesentlichen auf die positive Bewertung des Krieges und seiner Folgen zurückgeführt werden, wie sie in der Staatslehre, in politischen Theorien und in deutschsprachigen Gesellschaften bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges vorherrschend war und sich nicht nur in Form militaristischer Überzeugungen und entsprechender Ethik sowie Pädagogik, sondern auch in alltäglicher Omnipräsenz niederschlug. 16 Zudem weist er auf die ästhetische Problematik hin, dass Frieden in der Literatur häufig als eine Abwesenheit von Krieg versinnbildlicht wird und somit durch eine Darstellung ex negativo gekennzeichnet ist. 17 Folglich reagiere Antikriegsliteratur nur auf den Krieg, indem sie ihn negativ darstellt und seine Ablehnung propagiert, ohne dabei konstruktive Alternativen aufzuzeigen, und verbleibe „in der Aura des Krieges, nur mit negativem Vorzeichen“. 18 Neben dieser substanziellen Abgrenzung von Antikriegsliteratur und pazifistischer Literatur skizziert Häntzschel neun heuristische Typen pazifistischer Texte, die zwar dazu imstande sind, die denotative Breite unterschiedlicher Texttypen pazifistischer Literatur aufzuzeigen, als Typologie jedoch nur bedingt geeignet sind. 19 Darüber hinaus entwickelte Thomas F. Schneider auf der Grundlage von Prosatexten eine weitere, fünfteilige Typologie, 20 die zur Analyse der Novellenzyklen von Latzko und Frank herangezogen und deshalb im Folgenden skizziert wird. Mit ihrer Hilfe kann einerseits zwischen diversen Typen pazifistischer Literatur unterschieden werden, andererseits ist sie besonders
15 Vgl. Günter Häntzschel, Literatur und Pazifismus, in: Hans-Christoph Graf von Nayhauss / Krzysztof A. Kuczy´nski (Hg.), Im Dialog mit der interkulturellen Germanistik, Wrocław 1993, S. 61–68, hier S. 61–65. 16 Vgl. ebd., S. 61–64. 17 Vgl. ebd., S. 65. 18 Ebd. 19 Vgl. ebd., S. 66. Häntzschel erwähnt folgende Typen, die er primär anhand ihrer Inhalte und Persuasionsstrategien differenziert: Erstens Appelle, Friedensaufrufe und Resolutionen von Schriftstellern, zweitens unter dem unmittelbaren Eindruck von Kriegsereignissen entstandene, sogenannte Betroffenheitsliteratur, drittens Tatsachenromane, viertens populäre Antikriegsromane, fünftens komplexe pazifistische Literatur, die über Ursachen des Krieges aufklärt, sechstens Friedensutopien, siebtens Satiren, achtens (dadaistischer) ästhetischer und sprachkritischer Protest und neuntens Literatur, die eine umfassende Bewusstseins- und Einstellungsänderung gegenüber dem Krieg zu evozieren versucht. 20 Vgl. Thomas F. Schneider, Pazifistische Kriegsutopien in der deutschen Literatur vor und nach dem Ersten Weltkrieg, in: Hans Esselborn (Hg.), Utopie, Antiutopie und Science Fiction im deutschsprachigen Roman des 20. Jahrhunderts, Würzburg 2003, S. 12–28.
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nützlich, um wesentliche Unterschiede zwischen den Novellenzyklen genauer beschreiben zu können. In seiner Typologie unterscheidet Schneider pazifistische Texte vorrangig auf Grundlage ihrer Persuasionsstrategien, ihrer Handlung und der Intentionen der Autorinnen und Autoren voneinander. 21 Der appellative Typus beschreibt vornehmlich die Schrecken eines abgeschlossenen oder aktuellen Krieges und hebt die Differenz „zwischen dem ‚offiziellen‘ ideologischen Überbau (Sinn) des Krieges und der realen oder fiktionalen Kriegserfahrung“ 22 von Kriegsteilnehmern hervor. Hierdurch soll bei den Rezipienten eine Antikriegshaltung evoziert werden, ohne dass dem als sinnlos bewerteten Krieg ein progressives Sinnangebot 23 gegenübergestellt wird. 24 Der zweite, Revolution affirmierende Typ nutzt ebenfalls diese Darstellungsweise eines aktuellen oder abgeschlossenen Krieges, imaginiert jedoch, dass nach dessen Ende „eine neue ‚friedliche‘ politische und / oder soziale Ordnung installiert wird“. 25 Diese Texte stellen in der Regel politische Propaganda für eine Ideologie dar, die zwar als pazifistisch verstanden wird, jedoch bedeutend über den Aspekt Kriegsgegnerschaft hinausgeht. 26 Hierbei scheint es eines Krieges als Auslöser zu bedürfen, um eine andere, vermeintlich bessere politische Ordnung erzeugen zu können. Der dritte, appellative visionäre Typ imaginiert einen zukünftigen Krieg, der in apokalyptischen Zuständen endet und folglich eine existenzielle Bedrohung der Menschheit darstellt. 27 Der Krieg erscheint in diesem Typus als eine unkontrollierbare und verselbständigte Maschine, die das Überleben von Menschen unmöglich macht, wodurch der Text als eine anti-utopische oder dystopische Warnung an die Rezipierenden fungiert. 28 Der vierte, Ideologie affirmierende visionäre Typ imaginiert einen bevorstehenden Krieg, der als notwendiger Katalysator beschrieben wird, um eine neue soziale oder politische Ordnung zu installieren, die als pazifistisch beschrieben wird. 29 Der fünfte, Revolution affirmierende visionäre Typ imaginiert hingegen „einen zukünftigen Krieg, um eine bestimmte, aktuelle politische Bewegung zu unterstützen, die als ‚pazifistische‘ oder Antikriegsbewegung definiert wird“. 30 21 Vgl. ebd. 22 Ebd., S. 14. 23 Ein progressives pazifistisches Sinnangebot wäre beispielsweise die Erwähnung oder Darstellung friedlicher Methoden zur intra- und internationalen Konfliktbewältigung, wodurch Alternativen zum Krieg aufgezeigt werden, während die Möglichkeit einer Welt ohne Krieg postuliert wird. 24 Vgl. Schneider, Pazifistische Kriegsutopien, S. 14. 25 Ebd. 26 Vgl. ebd. 27 Vgl. ebd., S. 15, 20, 27. 28 Vgl. ebd., S. 27–28. 29 Vgl. ebd., S. 15. 30 Ebd., S. 15–16.
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Hierbei wird entweder eine Stabilisierung des aktuellen politischen Systems oder ein politischer oder sozialer Wandel propagiert, um einen bevorstehenden Krieg vermeiden zu können. Der Krieg stellt bei diesem Typus nur ein Hilfsmittel der Persuasionsstrategie dar und steht nicht in deren Zentrum. 31 Zwar können mittels Schneiders Typologie zum einen die Persuasionsstrategien kriegskritischer Texte, zum anderen die inhärenten politischen Intentionen genauer beleuchtet werden, jedoch kann sie nicht gattungsübergreifend genutzt werden, da sie nur auf Grundlage von Prosatexten erstellt wurde. Des Weiteren wurde vernachlässigt, die literarische Darstellung der Werke wesentlich in die Typologie miteinzubeziehen, wodurch diese den Texten nicht gänzlich gerecht wird. Das entscheidende Defizit von Schneiders Typologie ist jedoch, dass die von Häntzschel bereits betonte essenzielle Unterscheidung zwischen pazifistischer und Antikriegsliteratur nicht vorgenommen wird; es wird konsequent vermieden, zwischen diesen literarischen Phänomenen zu differenzieren und die grundlegenden Begrifflichkeiten vorab zu klären. 32 Dies führt laut Schneider dazu, dass ein Dilemma auftrete, demzufolge es fraglich sei, ob Texte noch als pazifistisch gelten können, wenn in ihnen Kriege funktionalisiert werden, da auf diese Weise ein zuvor negierter „Sinn“ eines Krieges restituiert werde. 33 Dass mittels pazifistischer Argumentationen Kriege jedoch seltener als sinnlos, sondern vielmehr als schädlich, unvernünftig oder verwerflich bewertet werden, wird nicht erörtert. Schneider verweist lediglich darauf, dass die Diskussion um das Dilemma bestimmter Typen von pazifistischer oder Antikriegsliteratur noch nicht beendet sei und sowohl der Begriff des Pazifismus als auch die Bezeichnung von Texten als pazifistisch eine Ambiguität aufweise. 34 Ferner ist die umfangreiche literatursoziologische Dissertation von Jörg Vollmer zu erwähnen, in der drei grundlegende literarische Repräsentationen des Kriegs- und Heldenbildes im Zeitraum zwischen 1912 und 1938 herausgearbeitet wurden, von denen die kriegskritische Position – als eine „häretische“ bezeichnet – als eine Antwort auf die „orthodoxe“ Darstellung von Krieg als Abenteuer elitärer Heldenfiguren beschrieben wird. 35 Vollmer generiert in seiner Arbeit wertvolle Erkenntnisse über spezifische Thematiken, Erzählmuster, Motive und Schreibweisen kriegskritischer Romane und Erzählungen, wodurch zum einen die ihnen zugrundeliegenden Ideologien herausgearbeitet
31 Vgl. ebd., S. 16. 32 Dieser Umstand stellt das Grundproblem der meisten Arbeiten zu kriegskritischer, pazifistischer oder Antikriegsliteratur dar. Auch in Schneiders Artikel werden vorhandene, aber nicht benannte kategoriale Unterschiede zwischen Texten ignoriert, während lediglich darauf verwiesen wird, dass bei einigen Texten diskutabel sei, ob sie als pazifistisch zu verstehen seien. Vgl. ebd., S. 16. 33 Vgl. ebd., S. 14–16. 34 Vgl. ebd., S. 15. 35 Vgl. Vollmer, S. 127–128.
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werden und zum anderen ihre divergierenden Kriegsdarstellungen insbesondere im Kontrast zu jenen kriegsaffirmativer Texte hervortreten. 36 Jedoch fehlt es an der notwendigen Ausdifferenzierung dieser Befunde, um pazifistische Literatur von antimilitaristischer oder allgemein kriegskritischer unterscheiden zu können. Die entscheidende Problematik stellt demnach die Ambiguität des Begriffs „Pazifismus“ dar, weshalb im Folgenden zunächst eine Begriffsklärung vorgenommen wird, um der schwierigen Forschungssituation etwas abzuhelfen. Laut dem historischen Friedensforscher Karl Holl sollte der zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstandene Begriff „die Gesamtheit individueller und kollektiver Bestrebungen bezeichnen, die eine Politik friedlicher, gewaltfreier zwischenstaatlicher Konfliktaustragung propagieren und den Endzustand einer friedlich organisierten, auf Recht gegründeten Staaten- und Völkergemeinschaft zum Ziel haben“. 37 Neben dieser systematischen Klärung 38 muss der Begriff des „Pazifismus“ aber auch historisch ausdifferenziert werden, da die Friedensbewegung 39 u. a. hinsichtlich der von ihr vertretenen Ideen, ihrer politischen Forderungen und ihrer sozialen Struktur im Laufe ihrer Geschichte starken Veränderungen unterlag. Für die Zeit der Weimarer Republik kann laut Wolfram Wette zwischen vier grundlegenden Arten des „Pazifismus“ unterschieden werden, 40 wobei hier als wesentliches Unterscheidungskriterium die jeweils propagierte Methode herangezogen wird, mittels derer Kriege am besten verhindert werden können. Die ersten zwei Typen stellen die von Holl bezeichneten Arten des „gemäßigten“ und des „organisatorischen“ Pazifismus dar, die aus bürgerlichliberalen Emanzipationsbestrebungen entstanden sind und die beiden vorherrschenden Theorien der Friedensbewegung in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg waren. 41 Der „gemäßigte“ Pazifismus, der auch als „ethischer“ Pa-
36 Vgl. ebd., S. 127–207. 37 Karl Holl, Pazifismus, in: Otto Brunner u. a. (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Stuttgart 2004, S. 767– 787, hier S. 768. 38 Dieser konzise systematische Pazifismusbegriff gründet einerseits darin, die denotative Breite des Phänomens zu illustrieren, andererseits bedarf es zumindest im Hinblick auf pazifistische Literatur, die einen Bezug zum Ersten Weltkrieg aufweist, keiner detaillierteren systematischen Klärung. Für umfassende systematische Darstellungen aus philosophischer Perspektive vgl. Barbara Bleisch / Jean-Daniel Strub (Hg.), Pazifismus. Ideengeschichte, Theorie und Praxis, Bern 2006; Gertrud Brücher, Pazifismus als Diskurs, Wiesbaden 2008. 39 Laut Holl kann der Begriff des Pazifismus als Synonym für die Gesamtheit der organisierten Friedensbewegung angesehen werden. Vgl. Holl, Pazifismus, S. 768–779, besonders S. 770–771. 40 Vgl. Wette, S. 13. 41 Vgl. Holl, Pazifismus, S. 768, 772–779.
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zifismus bezeichnet wird, sieht das moralische Handeln des Einzelnen auf Grundlage individualethischer Normen und die kollektive Vervollkommnung der Menschheit nach diesen Prinzipien als Voraussetzung an, um einen dauerhaften internationalen Frieden zu erreichen, der im Falle zwischenstaatlicher Konflikte durch schiedsgerichtliche Verfahren erhalten werden könne. 42 Der sogenannte „organisatorische“ Pazifismus propagiert zwar ebenfalls derartige schiedsgerichtliche Verfahren, sieht jedoch moralische Prinzipien als eine zumindest unzureichende, wenn nicht gar kontraproduktive Grundlage für pazifistische Ziele an und greift stattdessen zumeist auf rationale sowie wissenschaftliche Erklärungsmuster zurück, nach denen friedlicher ökonomischer und kultureller Wettbewerb durch zwischenstaatliche Organisation auf völkerrechtlicher Grundlage sichergestellt werden könne. 43 Doch ist darauf hinzuweisen, dass die Arten des „gemäßigten“ wie des „organisatorischen“ Pazifismus, die auch als „bürgerlicher“ Pazifismus bezeichnet werden, das im Allgemeinen als typisch pazifistisch bekannte Modell des absoluten Gewaltverzichts als nicht nachvollziehbar bewerten, während nur Angriffskriege geächtet, Revolutions- oder Verteidigungskriege unter bestimmten Bedingungen hingegen gebilligt werden. 44 Angesichts der theoretischen, praktischen und sozialen Ausdifferenzierung der Friedensbewegung nach dem Ersten Weltkrieg 45 können laut Wette von diesen völkerrechtlich orientierten Arten darüber hinaus der „radikale“ und „revolutionäre“ Pazifismus unterschieden werden: Heute wird unter Pazifismus in grober Vereinfachung meist der zu Zeiten des Ersten Weltkrieges noch kaum existente „radikale“ Pazifismus verstanden, der während der Weimarer Republik „in mehrfacher Brechung und in zum Teil unversöhnlichen Varianten“ 46 existierte. Kennzeichnend für diese Strömung ist zum einen, dass das Recht auf das individuelle menschliche Leben als unantastbar verstanden wird, demzufolge alle internationalen Kriege abgelehnt werden, zum anderen, dass als geeignete, gewaltfreie Maßnahmen zur Verhinderung von Kriegen massenhafte Kriegsdienstverweigerungen und Generalstreiks propagiert werden. 47 Wesentliche Punkte des „radikalen“ Pazifismus sind auch im „revolutionären“ zu finden, der von der „Gruppe Revolutionärer Pazifisten“ um Kurt Hiller propagiert wurde und im Unterschied zum radikalen Pazifismus keine kapitalistische, sondern eine „soziale“ Gesellschaftsordnung anstrebt, die im
42 Vgl. Holl, Pazifismus in Deutschland, S. 74–75, 81. 43 Vgl. ebd., S. 75–78. 44 Vgl. ebd., S. 15–17. So wurde der Erste Weltkrieg von einigen Mitgliedern der Deutschen Friedensbewegung zumindest zeitweise bejaht, da sie davon ausgingen, dass Deutschland einen legitimen Verteidigungskrieg führe. Vgl. ebd., S. 105. 45 Vgl. ebd., S. 138–141, 143–146. 46 Ebd., S. 146. 47 Vgl. ebd., S. 146–147; Wolfram Beyer, Pazifismus und Antimilitarismus, Stuttgart 2012, S. 43–44.
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globalen Ausmaß weltweiten Frieden ermöglichen soll. 48 Die Mittel zur Erreichung dieses Ziels wurden indes kontrovers diskutiert und reichen von gewaltfreien Aktionen, wie der Kriegsdienstverweigerung, bis hin zur Bejahung von Revolutionskriegen, demzufolge diese Strömung die einzige innerhalb des Pazifismus ist, in der Gewaltanwendung von einigen Vertretern als legitimes Mittel zur Erreichung einer pazifistischen Revolution aufgefasst wird. 49 Bei diesem Standpunkt wird ein Pazifismus des Ziels und nicht des Handelns fokussiert. Vom Pazifismus ist der Antimilitarismus schließlich insofern zu unterscheiden, dass antimilitaristische Bewegungen sich grundlegend gegen den Einfluss des Militärs innerhalb von Gesellschaften wenden und diesen einhegen sowie kontrollieren wollen. 50 Eine Verhinderung von Kriegen wird hierbei angestrebt; unbedingt gefordert wird sie nicht. Zur Unterscheidung von Pazifismus und Antimilitarismus kann laut Geoffrey Ostergaard folgende Regel behilflich sein: Pazifisten sind stets auch Antimilitaristen. 51 Umgekehrt gilt dies jedoch nicht. Zum einen kann innerhalb kriegskritischer Haltungen demnach zwischen antimilitaristischen oder pazifistischen Positionen und zum anderen zwischen diversen Antimilitarismen 52 und Pazifismen unterschieden werden, was eine differenzierte Betrachtung ermöglicht. Im Hinblick auf die Literatur bedeutet dies, dass Texte als pazifistisch verstanden werden können, wenn sie Aspekte oder Darstellungen enthalten, die affirmative Bezüge, Überschneidungen mit oder Analogien zu zeitgenössischen pazifistischen Positionen, Ideen, Methoden oder Forderungen aufweisen, die unter Hinzunahme des historischen Kontextes einem der diversen Pazifismen zugeordnet werden können. 53 Insofern diese Texte zudem als poli-
48 Vgl. Rolf von Bockel, Ein Beispiel: Die „Gruppe Revolutionärer Pazifisten“, in: Dietrich Harth u. a. (Hg.), Pazifismus zwischen den Weltkriegen. Deutsche Schriftsteller und Künstler gegen Krieg und Militarismus 1918–1933, Heidelberg 1985, S. 43–46. 49 Vgl. ebd., S. 45–46; Holl, Pazifismus in Deutschland, S. 147. 50 Vgl. Beyer, S. 16–19. 51 Vgl. ebd., S. 41. 52 Der Antimilitarismus wird hier herangezogen, um den Pazifismus innerhalb kriegskritischer Ideologien näher bestimmen und genauer abgrenzen zu können. Ersterer hängt mit den politischen Theorien des Liberalismus, des Sozialismus und des Anarchismus zusammen und kann in drei dementsprechende Ausprägungen unterteilt werden. Vgl. ebd., S. 16–39. 53 Insofern weist pazifistische Literatur zahlreiche Parallelen zur politischen Literatur auf und ist zu einem überwiegenden Teil auch als solche zu verstehen. Vgl. Martin Huber, Politische Literatur, in: Dieter Burdorf u. a. (Hg.), Metzler Lexikon Literatur. Begriffe und Definitionen, Stuttgart 32007, S. 597–598. Dieser Umstand hängt vermutlich damit zusammen, dass alle Pazifismen primär auf die Verhinderung von Krieg abzielen und somit überwiegend politische Veränderungen forcieren. Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass es durchaus auch unpolitische pazifistische Literatur gibt.
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tische Literatur eingeordnet werden können, sind sie als eine spezifische Form literarischer Kommunikation zu verstehen, 54 die darauf ausgelegt ist, bei den Rezipierenden eine Reflexion über die Ursachen und den Sinn von Kriegen anzuregen und diese davon zu überzeugen, dass ein dauerhafter internationaler Frieden ein erstrebenswerter und realisierbarer Zustand sei. Somit müssen politische pazifistische Texte zwangsläufig Persuasionsstrategien aufweisen, welche die literarische Kommunikation maßgeblich modulieren und folglich eine mehr oder weniger verbindliche Interpretation vorgeben. Besonders geeignet für eine Analyse pazifistischer Persuasionsstrategien sind die eingangs erwähnten Novellenzyklen von Andreas Latzko und Leonhard Frank, die in der literaturwissenschaftlichen Forschung mehrfach erwähnt und vereinzelt behandelt, aber noch keinem eingehenden Vergleich unterzogen wurden. 55 In der Literaturwissenschaft herrscht indes Uneinigkeit, ob die Zyklen als „pazifistisch“ gelten können. So kategorisiert Wilhelm Krull sie als expressionistische pazifistische Prosa, die einen Paradigmenwechsel innerhalb der kriegskritischen Literatur des Ersten Weltkrieges eingeleitet habe, da sich beide Werke „sowohl durch die Innovation der literarischen Gestaltungsmöglichkeiten als auch in der politischen Radikalität ihrer Kriegskritik deutlich“ 56 von ihren Vorgängern abheben. Hans-Harald Müller vertritt eine hierzu konträre Einschätzung: Die undifferenzierte Bezeichnung der [. . . ] schon in der Weimarer Republik häufig im Zusammenhang genannten Novellensammlungen [. . . ] als „pazifistisch“ ist allerdings problematisch; zum einen ist bis heute nicht untersucht worden, welche Beziehungen und welche Differenzen im Kaiserreich zwischen dem organisierten Pazifismus und dem literarischen, meist expressionistischen Pazifis-
54 Vgl. ebd., S. 597. 55 Vgl. Barker, S. 85–96; Müller, S. 20; Wilhelm Krull, Prosa des Expressionismus, Stuttgart 1984, S. 78–81; Ders., Politische Prosa des Expressionismus, S. 106–141; Horst Haase, Zu zwei Erzählungen von Andreas Latzko, in: Német filológiai tanulmányok. Arbeiten zur deutschen Philologie 16 (1985), S. 65–70; Péter Varga, Sakrales und Profanes bei Andreas Latzko, in: Tom Kindt / Katalin Teller (Hg.), Narratologie interkulturell. Studien zu interkulturellen Konstellationen in der deutschsprachigen und ungarischen Literatur 1880–1930, Frankfurt a. M. 2005, S. 167–177; Ders., Der Rákóczimarsch im kollektiven und individuellen Gedächtnis. Andreas Latzkos „Heldentod“, in: Helga Mitterbauer / Szilvia Ritz (Hg.), Kollektive und individuelle Identität in Österreich und Ungarn nach dem Ersten Weltkrieg, Wien 2007, S. 63–71; Frank Krause, Family Virtues and Social Critique. Andreas Latzko’s Anti-War Prose (1917–1918), in: Andreas Kramer / Ritchie Robertson (Hg.), Pacifist and Anti-Militarist Writing in German, 1889–1928. From Bertha von Suttner to Erich Maria Remarque, München 2018, S. 160–171; Walter Fähnders, „Der Mensch ist gut“. Leonhard Franks Anti-Kriegs-Erzählungen, in: Ders. (Hg.), Expressionistische Prosa, Bielefeld 2001, S. 187–209; Ders., „Das leidenschaftlichste Buch gegen den Krieg“. Leonhard Frank: „Der Mensch ist gut“ (1917), in: Schneider / Wagener, Von Richthofen bis Remarque, S. 71–84; Rudolph, S. 103–120. 56 Krull, Politische Prosa des Expressionismus, S. 106.
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mus bestanden; zum anderen bestehen gravierende Unterschiede zwischen der euphorisch-aktivistischen Revolutionsgläubigkeit im Geiste der Liebe bei Leonhard Frank und den resignativen bis depressiven moralischen Anklagen gegen den Militarismus bei Andreas Latzko – von den literarischen Unterschieden zwischen den beiden Novellensammlungen einmal abgesehen. 57
Hinsichtlich ihrer Handlungen, ihres literarischen Stils und ihres Aufbaus sind die Novellen zweifellos sehr unterschiedlich, dennoch weisen sie auch zahlreiche Gemeinsamkeiten auf. Beide Zyklen sind zwischen 1917 und 1918 im Zürcher Max Rascher Verlag erschienen, 58 teilen sich somit historische und kulturelle Kontexte zur Zeit der Veröffentlichung und bergen außerdem konvergierende Thematiken und Motive sowie im Hinblick auf ihre erzählerische Struktur weitere Parallelen. So werden in beiden Werken Auswirkungen des Krieges auf die psychische und physische Verfassung ihrer Figuren geschildert, die einen Wandel ihrer Weltanschauung oder ihres Handelns zur Folge haben. Im Folgenden werden beide Werke zunächst einzeln beleuchtet und anschließend verglichen, um ihre Schnittmenge bestimmen zu können. Latzkos Novellenzyklus „Menschen im Krieg“ besteht aus sechs Novellen, die weder personelle oder handlungsbezogene Überschneidungen noch eine übergeordnete Rahmung aufweisen. Daher scheinen die Novellen autonome Texte zu sein, die außer der Kriegsthematik und der ähnlichen temporal-lokalen Verortung 59 über keinen unmittelbaren Zusammenhang verfügen und somit nicht-linear sowie unabhängig voneinander rezipiert werden können. Erst bei genauerer Betrachtung wird der konstitutive Zusammenhang der Novellen erkennbar, der aus ihrer Anordnung innerhalb des Zyklus resultiert und sich bei linearer Lektüre entwickelt: Die Novellen sind durch sich wiederholende Thematiken, Topoi und Motive miteinander verknüpft, die bedeutungskonstitutive Funktionen im Zyklus übernehmen und eine persuasive kompositorische Struktur ergeben, die sich signifikant auf den Gehalt des Zyklus auswirkt. Die dabei entstehenden reziproken Bezüge der Novellen untereinander gene-
57 Müller, S. 20. 58 Vgl. Andreas Latzko, Menschen im Krieg, Zürich 1917; Leonhard Frank, Der Mensch ist gut, Zürich 1918. Als Grundlage der Textanalysen werden jeweils die Ausgaben erster Hand herangezogen, da diese Fassungen aus der unmittelbaren Kriegserfahrung der Autoren heraus entstanden und somit besonders dafür geeignet sind, pazifistische Tendenzen der Texte zu analysieren. 59 Die Novellen sind zur Zeit des Ersten Weltkrieges auf dem Territorium der Österreichisch-Ungarischen Doppelmonarchie angesiedelt, jedoch bleiben die Angaben stets vage, weshalb dieser Befund werkimmanent nur indirekt gewonnen werden kann. Ferner suggeriert der Text anhand seines zeitgenössischen Publikationskontextes, dass der Erste Weltkrieg in der Novelle als Folie dient, da sie 1917 erscheint und keine expliziten Hinweise auf eine temporale Verortung in einem anderen Krieg enthält. Hinsichtlich der territorialen Verortung vgl. János Szabó, Der vergessene Andreas Latzko, in: Acta litteraria Academiae Scientiarum Hungaricae 29 (1987), S. 305–314, hier S. 308.
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rieren eine umfassende pazifistische Kriegsdarstellung, während die einzelnen Novellen dem Zyklustitel entsprechend als Variationen der übergeordneten Thematik verstanden werden können. So präfiguriert die erste Novelle „Der Abmarsch“ die Kriegsdarstellung des kompletten Zyklus anhand eines expositorischen Prologs, in welchem der Krieg mittels animalischer Metaphern und Vergleiche implizit als dämonische Krankheit der Welt dargestellt wird, die unkontrollierbar geworden ist und deren Auswirkungen die gesamte Menschheit existenziell bedrohen. Wohl brummten in der Ferne die Kanonen, als kauerte eine ungeheure Dogge irgendwo tief unter der Erde, sprungbereit den Himmel anknurrend. Das dumpfe Bellen der großen Mörser klang herüber, wie schweres Husten aus der Krankenstube die Wachenden schreckt, die mit rotgeweinten Augen nebenan zum Sterbenden hinüberlauschen. Auch die langen, niederen Häuserreihen zuckten klirrend zusammen, horchten erschüttert auf, so oft dies Husten den Boden krampfte, als läge die Kriegsnot, wie ein Alp, würgend auf der Brust der Welt. [. . . ] Gellende Schreie, Wimmern, Stöhnen sandten die notgepfropften Räume in die Nacht hinaus. Jeder menschliche Laut, der durch die offenen Fenster drang, fiel wie ein wütender Angriff die Stille an, war wilde Anklage gegen den Krieg, der da vorne seine Arbeit tat, und zerfetzte Menschenleiber wie Abfall hinter sich warf, alle Häuser mit seinem blutigen Kehricht füllend. 60
Zudem wird veranschaulicht, dass diese Kriegsfolgen – also hauptsächlich das massenhafte gravierende Leid der Verwundeten und Kriegsversehrten – einerseits durch die friedliche Atmosphäre des Hinterlandes, andererseits durch die Wirksamkeit kriegsaffirmativer Narrative 61 verdrängt werden, was die Fortsetzung des Krieges garantiert. 60 Latzko, Menschen im Krieg, S. 10–11. 61 Unter kriegsaffirmativen Narrativen werden im Folgenden das Konvolut tradierter militärischer Begriffe, Phrasen bzw. Floskeln, Rechtfertigungsmechanismen und bellizistischer Ideen sowie Werte verstanden, die in militaristisch geprägten Gesellschaften Gemeinplätze darstellen. Diese Narrative konstituieren und perpetuieren einerseits die positive Bewertung des Bellizismus und garantieren andererseits die Beteiligung der Bevölkerung am Krieg, seiner Fortführung und Legitimation. Auf kriegsaffirmative Narrative verweisen im folgenden Zitat zwei Textstellen. Erstens plaudern die Brunnen „von den Tagen ihrer Jugend, da [. . . ] Krieg eine Angelegenheit für Fürsten und Abenteurer gewesen“. Latzko, Menschen im Krieg, S. 11. Zweitens „wucherte die Vergangenheit aus den rissigen Mauern“ (ebd.) der Fassaden. Hiermit wird auf die militärische Vergangenheit Österreich-Ungarns angespielt, die den Häuserfassaden einer Aura ähnelnd innewohnt und eine idealisierte Vorstellung des Krieges repräsentiert. Letztere basiert auf einzelnen, heldenhaften Kämpfen zwischen zwei Kombattanten, die gleichsam einer ritterlichen Duellsituation um vermeintlichen Ruhm und Ehre bestritten werden konnten. Diese bereits während des Ersten Weltkrieges antiquierte Kriegsvorstellung stellt ein häufig verwendetes Motiv in der kriegsaffirmativen Literatur dar, die in den Anfangsjahren des Krieges entstand. Vgl. Thomas Anz / Joseph Vogl, Nachwort, in: Dies. (Hg.), Die Dichter und der Krieg. Deutsche Lyrik 1914–1918, München 1982, S. 225– 248, hier S. 234–235. Diese Passage ist im Nachwort der Neuauflage dieser Anthologie
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Aber die schönen, schmiedeeisernen Brunnen auf den Plätzen rauschten doch gleichmütig weiter, plauderten mit beruhigender Ausdauer von den Tagen ihrer Jugend, da [. . . ] Krieg eine Angelegenheit für Fürsten und Abenteurer gewesen. Aus jedem Schnörkel und jeder Ecke strömte das Märchen, lief auf leisen Sohlen, von Frieden und Behagen flüsternd, wie eine unsichtbare Klatschbase durch alle Gäßchen [. . . ]. So dicht wucherte die Vergangenheit aus den rissigen Mauern, daß jedem, der in ihren Kreis trat, Brunnenrauschen den Kanonendonner übertönte, die Kranken und Wunden besänftigt hinaushorchten vom heißen Lager in die geschwätzige Nacht, bleiche Männer [. . . ] die Hölle vergaßen, aus der sie kamen, und selbst die schwerbepackten Opfer, die im nächtlichen Eilmarsch dröhnend vorbeizogen, milde wurden für eine Wegspanne, als wären sie dem Frieden begegnet, und ihrem eigenen, unbewaffneten Ich, im Schatten der Pfeiler und blumengeschmückten Erker. 62
Aufgrund der Diskrepanz zwischen kriegsaffirmativem Ideal und desillusionierender Realität kann die Bevölkerungsmehrheit nur dann weiterhin kriegsaffirmativ eingestellt sein, wenn sie auf einen psychologischen Verdrängungsmechanismus hinsichtlich der Schrecken des Krieges zurückgreift. Diese fragile Konstellation wird in allen Novellen problematisiert und fungiert als Grundkonflikt des Zyklus, der mittels diverser typisierter Situationen und Figuren variiert, erweitert und exemplifiziert wird. Dabei konfrontieren die Figuren oder der Erzähler die angedeuteten oder explizit hervorgehobenen kriegsaffirmativen Narrative mit Aspekten, Mechanismen oder Folgen des Krieges, was dazu führt, dass jegliche Legitimierung des Kriegszustands erodiert, was wiederum die Dekonstruktion dieser Narrative evoziert. Beispielsweise kann der Verdrängungsmechanismus der Patienten, der Ärzte und des Pflegepersonals sowie der Wachsoldaten in einem Lazarett in „Der Abmarsch“ nicht aufrechterhalten werden, da der traumatisierte, an einem Nervenschock leidende Landsturmleutnant nicht ignoriert werden kann, was dazu führt, dass er schließlich weggesperrt wird. Auch Johann Bogdán in „Heimkehr“ ist wie der Landsturmleutnant aus „Der Abmarsch“ als versehrter Kriegsheimkehrer unfähig zu einer Reintegration in die friedliche Gesellschaft des Hinterlandes, weshalb beiden Ruhm und Ehre verwehrt bleiben, die ihnen gemäß den kriegsaffirmativen Narrativen als Veteranen eigentlich zustehen. In den Novellen „Feuertaufe“ und „Heldentod“ wird die Aufrechterhaltung jener kriegsaffirmativen Narrative schließlich maßgeblich der jungen Generation zugeschrieben, welche diese aus Naivität perpetuiert und infolgedessen Empathie und Menschlichkeit verliert. In beiden Novellen werden die kämpfenden Soldaten zu Tieren und Maschinen metaphorisiert oder mit ihnen verglichen, um zu illustrieren, dass ihre leidenschaftliche oder konformistische Haltung
leider nicht vorhanden. Vgl. Thomas Anz / Joseph Vogl, Nachwort, in: Dies. (Hg.), Die Dichter und der Krieg. Deutsche Lyrik 1914–1918, Stuttgart 2014, S. 82–99, hier S. 90. 62 Latzko, Menschen im Krieg, S. 11–12.
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zum Krieg im Wesentlichen darin gründet, dass sie die offizielle Kriegsdarstellung unreflektiert – also wie dressiert respektive programmiert – übernehmen. So wird die Kompanie in „Feuertaufe“ vom heterodiegetischen Erzähler zu einem Raubtier metaphorisiert. „An der Böschung stand jetzt, dicht gedrängt, Kopf an Kopf die Kompagnie; die Gesichter aus Stein, verbissen, kreideweiß, mit lippenlosem Mund, das Gewehr im Anschlag; – ein einziges Raubtier mit hundert Armen und Augen“. 63 In „Heldentod“ leidet Oberleutnant Kadar hingegen an Wahnvorstellungen und sieht vor sich beständig das surrealistisch anmutende Bild des Kadetten Meltzars, der statt einem Kopf die Schallplatte des Rákóczimarsches besitzt. 64 Anhand dieser Vorstellung folgert Kadar, dass den jungen Rekruten im Hinterlande der Kopf gegen eine Schallplatte getauscht wurde, was erst nach ihrem Tod wieder rückgängig gemacht wird: Und nun sah es Oberleutnant Kadar ganz genau: alle trugen Grammophonplatten auf dem Halse, wie der Kadett Meltzar. Nicht einer hatte seinen eigenen Kopf auf! Wenn aber die Granaten heulend hinausflogen [. . . ], dann brachen die flachen, schwarzen Scheiben [. . . ] auseinander, und verwandelten sich [. . . ] wieder in richtige Menschenköpfe. [. . . ] Alle Geheimnisse des Krieges, alles [. . . ] schien jetzt mit einem Schlage entschleiert. So war es also zu verstehen! Diese Leute bekamen offenbar ihre Köpfe erst zurück, wenn es schon ans Sterben ging. Weit – weit rückwärts, irgendwo, wurden sie ihnen abgeschraubt, mit Platten ersetzt, die nichts konnten, als den Rakoczymarsch spielen. So präpariert wurden sie in die Züge gepfercht, kamen so erst an die Front, [. . . ] wie alle. 65
Diese irreale Wahrnehmung Kadars, die mittels einer internen Fokalisierung des heterodiegetischen Erzählers erzählt wird, symbolisiert anhand des expressionistischen Mensch-Maschine-Topos 66 die unreflektierte Perpetuierung kriegsaffirmativer Narrative und führt letztere auf die militaristische Erziehung und den geistigen Zustand der Soldaten zurück. Während die Verantwortlichkeit für diese psychische Disposition der Jugend, die als naiv, unreif und dumm dargestellt wird, in „Heldentod“ nur 63 Ebd., S. 86. 64 Vgl. ebd., S. 157, 161. Der Rákóczimarsch oder auch Rákóczi-Marsch wird bei Latzko „Rakoczymarsch“ geschrieben. Vgl. ebd., S. 159. Dieses Lied ist hier als patriotisches Symbol für den nationalen Freiheitskampf der Ungarn zu verstehen, da er sowohl im zeitgenössischen als auch im gegenwärtigen historischen Kontext als der populärste und bedeutendste Marsch im kollektiven Gedächtnis der Ungarinnen und Ungarn sowie als Repräsentant nationaler Tugenden verstanden werden kann. Vgl. Varga, Der Rákóczimarsch, S. 66–67. 65 Latzko, Menschen im Krieg, S. 164–165. 66 Anhand dieses Topos wird eine Technik-Kritik vollzogen, die eine Mechanisierung von Subjekten postuliert, die als leblose Maschinen oder als Teile dieser auf ihre Funktion reduziert werden und somit genuin anthropologische Eigenschaften verlieren. Vgl. Thomas Anz, Literatur des Expressionismus, Stuttgart 22010, S. 120.
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implizit angedeutet wird, wird sie weiterhin in „Der Sieger“, „Der Kamerad“ und „Heimkehr“ explizit der militärischen, wirtschaftlichen und adligen Elite zugeschrieben, die Kriegsfolgen aus eigennützigen Motiven bewusst verharmlost und verschleiert sowie ihre Verdrängung verursacht, um die Bevölkerungsmehrheit bewusst dadurch zu manipulieren. Die auf diese Weise in jeder Novelle zentral thematisierten kriegsaffirmativen Narrative stellen sich damit als substanzlose und irreführende Darstellungen heraus, die eine groteske Verzerrung der Realität bewirken und von den Profiteuren des Krieges genutzt, verbreitet und aufrechterhalten werden, um einen Missbrauch der Mehrheit zu ermöglichen. Beispielsweise fordert der Oberkommandierende Generaloberst X. in „Der Sieger“ eine Ausgangssperre für Verwundete, damit die Bevölkerung das Ausmaß der Kriegsfolgen nicht zu sehen bekommt. Der ganze Krieg präsentierte sich, von hier aus gesehen, wie ein lebenspendender Strom, der [. . . ] von promenierenden Offizieren betrieben, von gemächlich verdauenden Generalstäblern dirigiert wird. Von seiner blutigen Seite war nichts zu sehen! [. . . ] Das war freilich nicht immer so gewesen. In den ersten Tagen [. . . ] ergossen sämtliche Sanitätsanstalten [. . . ] ihren ungeheuren Bestand an Rekonvalescenten und Leichtverwundeten in die Stadt hinein, auf die Promenade. Aber das dauerte nur zwei Tage. Dann befahl seine Exzellenz der Oberkommandierende den Garnisonschefarzt zu kurzer Audienz, und erklärte [. . . ], wie ungünstig ein solcher Anblick die Stimmung im Publikum beeinflußte. Er gab der Hoffnung Ausdruck, daß alles was Verbände trägt, verstümmelt ist, oder sonstwie geeignet erscheint, deprimierend auf die allgemeine Kriegsbegeisterung einzuwirken, künftighin in den Spitälern konsigniert bleiben werde. Und seine Hoffnung wurde nicht enttäuscht! 67
Infolgedessen wird das Gros potenzieller Rezipierender als Opfer einer rücksichtslos herrschenden militärischen und einer durch die Politik protegierten wirtschaftlichen Elite charakterisiert. Zudem suggeriert der Zyklus, dass die Rezipierenden durch die Lektüre der Novellen über die tatsächlichen Mechanismen des Krieges aufgeklärt werden, während anhand der figurativen Reflexion in den Novellen pazifistische Einsichten nachvollzogen werden sollen. Dieser aufklärerische Impetus ist schließlich der wesentliche Indikator, anhand dessen Latzkos „Menschen im Krieg“ dem appellativen Typus pazifistischer Literatur zugeordnet werden kann. So wird im Zyklus insbesondere die Differenz zwischen dem in den kriegsaffirmativen Narrativen idealisierten Kriegsbild und der Kriegsrealität anhand der vielfältigen Folgen des Krieges hervorgehoben, ohne dass dieser Negation dabei ein positives pazifistisches Sinnangebot gegenübergestellt wird. Ebenso werden in Franks Novellenzyklus „Der Mensch ist gut“ die Novellen durch wiederholt evozierte Dekonstruktionen kriegsaffirmativer Narrative 67 Latzko, Menschen im Krieg, S. 103–104.
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verknüpft, wobei Aspekte vorangegangener Novellen in späteren aufgegriffen, weitergeführt und ergänzt werden. Im Unterschied zu Latzko weisen die fünf Novellen in Franks Zyklus jedoch eine konstitutive Kohärenz auf der Handlungsebene auf, da bei linearer Lektüre sowohl eine chronologische Abfolge der Ereignisse und das Auftreten vorangegangener Protagonistinnen und Protagonisten in darauffolgenden Novellen als auch eine progressive Entwicklung der Handlung festgestellt werden kann. So tritt der in der ersten Novelle „Der Vater“ als Protagonist fungierende Kellner im gesamten Zyklus als signifikante Figur auf, da er in „Die Kriegswitwe“ eine revolutionäre Rede hält und in allen weiteren Novellen Demonstrationszüge anführt oder an diesen teilnimmt, während in der letzten Novelle „Die Kriegskrüppel“ nahezu alle Figuren des Zyklus 68 bei einer gemeinsamen Friedensdemonstration zusammenkommen. Alle Novellen sind dreigliedrig 69 aufgebaut: Im ersten Abschnitt werden die Protagonistinnen und Protagonisten expositorisch in ihrem überwiegend konformistisch geprägten Verhältnis zum Krieg charakterisiert. 70 Hierauf folgen im zweiten Abschnitt die „unerhörten Begebenheiten“ der Novellen, die stets Kriegsfolgen sind, welche psychische Leiden und Traumata bei den Figuren verursachen. Die Ereignisse fungieren dabei als Katalysatoren für figurative Reflexionsprozesse, die in Form von Gedankenreden als mentale Prozesse geschildert werden. In ihnen benennen die Figuren die perpetuierten kriegsaffirmativen Narrative explizit anhand von Phrasen und Begriffen, woraufhin diese mit dem individuellen Leid konfrontiert werden, was dazu führt, dass der Sinngehalt und die Begründungszusammenhänge der Narrative hinterfragt werden. So beginnt der Protagonist in „Der Vater“, der Kellner Robert, sich näher mit der militärischen Floskel „Feld der Ehre“ auseinanderzusetzen, die mittels häufiger Wiederholung ihre Bedeutung verliert. Und im Sommer 1916 bekam Robert die Nachricht, daß sein Sohn gefallen war. Auf dem Felde der Ehre. Eine Welt war erschlagen. Der Erschlagene las immer wieder: „Gefallen auf dem Felde der Ehre“. [. . . ] Ehre. Das war ein Wort und bestand aus vier Buchstaben. Vier Buchstaben, die zusammen eine Lüge bilde-
68 Lediglich die Figur des Philosophen fehlt, was darauf zurückzuführen ist, dass der Zyklus anhand der Novellen eine chronologisch zusammenhängende Handlung erzählt, weshalb der Tod des Philosophen am Ende der Novelle „Das Liebespaar“ dazu führt, dass er danach verständlicherweise nicht mehr auftreten kann. 69 Diese Einteilung ist grob an jene von Katharina Rudolph angelehnt, die sich jedoch stärker an der persuasiven pazifistischen Struktur und weniger an der Handlungsstruktur der Novellen orientiert, was zu einer erheblichen Abstrahierung führt, die der hier zugrundeliegenden textnahen Analyse entgegensteht. Vgl. Rudolph, S. 106. 70 Ausschließlich der namenlose Philosoph in „Das Liebespaar“ ist bereits zu Beginn seiner Charakterisierung in der Novelle antimilitaristisch gesinnt, weshalb die Reflexionen lediglich einen Wandel seines resultierenden Verhaltens bewirken.
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ten von solch höllischer Macht, daß ein ganzes Volk an diese vier Buchstaben angespannt und von sich selbst in ungeheuerlichstes Leid hineingezogen hatte werden können. Das Feld der Ehre war nicht sichtbar, nicht vorstellbar, war Robert nicht begreifbar. Das war kein Feld, kein Acker [. . . ]. Es war das absolute Nichts. Und daran sollte er sich halten. Sein ganzes Leben lang. 71
Ebenso beginnt die Kriegswitwe aus der Novelle mit gleichem Namen ähnliche militärische Floskeln zu hinterfragen, nachdem sie dem Kellner in einer Tram begegnet ist. Jetzt erst ergreift eine dunkle Faust das Herz. Und wie sie dem Schmerze entfliehen will auf den Worten: „Er ist den Heldentod gestorben“, preßt die Faust das Herz zusammen. [. . . ] Die Begriffe „Altar des Vaterlandes, Heldentod, Feld der Ehre“ zerflattern, sinken ins Nichts zurück vor der entsetzlichen Wirklichkeit, daß der Mann niemals mehr zu ihr kommen kann. [. . . ] Sekündlich [. . . ] versuchte sie, die Begriffe „Heilige Sache, Altar, Feld der Ehre, Heldentod“ als Betäubungsmittel dem Schmerze wieder entgegenzustemmen. Es gelang ihr nicht mehr, diese Begriffe wie bisher mit Glauben an sie, mit falscher Empfindung, mir irgend einer Bedeutung zu füllen. 72
Das nicht zu rechtfertigende Ausmaß des psychischen Schmerzes bewirkt, dass die nationalistischen Floskeln als substanzlose und verklärende Verdrängungsmechanismen der Bevölkerung bewertet werden, was folglich in einer Dekonstruktion der Kriegsaffirmation und somit in der Desillusionierung der Protagonistinnen und Protagonisten resultiert. Demzufolge vollziehen alle – mit Ausnahme des Philosophen 73 – ideelle Paradigmenwechsel, die sich in Form von Wendepunkten fundamental auf ihre Einstellung zum Krieg und das darauffolgende Handeln auswirken, wobei die kriegsaffirmativen Werte nicht nur dekonstruiert, sondern überdies durch pazifistische ersetzt werden. So wird eine „Revolution der Liebe“ 74 gefordert, die auf allgemein gehaltenen, positiv konnotierten Idealen, wie Menschlichkeit, Liebe, Verbrüderung und Freiheit, beruhen soll und durch die omnipräsente Verwendung christlicher Symbolik göttlich legitimiert wird, während die Konstitution der antizipierten postrevolutionären Gesellschaft anhand des Gebots der Nächstenliebe präfigu-
71 Frank, Der Mensch ist gut, S. 9–10. 72 Ebd., S. 38–39. 73 Der namenlose Philosoph in „Das Liebespaar“ vollzieht keinen Paradigmenwechsel, da er bereits zuvor antimilitaristisch gesinnt ist, weshalb sein ideeller Sinneswandel deutlich geringer als bei den anderen Protagonistinnen und Protagonisten des Zyklus ausfällt. Seine Reflexionen bewirken jedoch einen weitreichenden Wandel seines resultierenden Verhaltens, da er nach dem Erhalt eines erneuten Stellungsbefehls nicht wie zuvor den Freitod wählt, sondern stattdessen seine pazifistischen Einsichten kommuniziert und an Demonstrationen teilnimmt, woraufhin er schließlich auf Befehl eines Leutnants erschossen wird. Vgl. ebd., S. 134–145. 74 Ebd., S. 71.
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riert wird. 75 Im dritten Abschnitt wechseln die Figuren schließlich den Schauplatz und initiieren revolutionäre Friedensdemonstrationszüge oder schließen sich diesen an. Die Novellen können sowohl im Hinblick auf die ideellen Wandlungen, verhandelten Begrifflichkeiten und Narrative als auch im Hinblick auf den darauffolgenden Aktivismus der Figuren voneinander unterschieden werden. So beginnen die Figuren aufgrund unterschiedlicher Schicksalsschläge oder angesichts eines ins Unerträgliche gesteigerten Leides, den Krieg und die Notwendigkeit seiner Existenz in Frage zu stellen, was auf diverse Arten zu ähnlichen Erkenntnissen, aber in Vehemenz und Ausprägung partiell voneinander zu unterscheidenden pazifistischen Gesinnungen der Figuren führt. Dennoch lösen alle Figuren in der letzten Novelle „Die Kriegskrüppel“ eine gewaltfreie pazifistische Revolution aus, die einen Wechsel der Gesellschaftsordnung in Deutschland antizipiert. Da in „Der Mensch ist gut“ anhand der Wandlungen der Protagonistinnen und Protagonisten, ihrer Gedankenreden und der revolutionären Reden pazifistische Reflexionen über die Ursachen, die Legitimation und die Folgen von Kriegen geschildert werden, kann dem Zyklus ebenfalls ein aufklärerischer Impetus und folglich eine appellative Tendenz attestiert werden. Jedoch geht Franks Zyklus hierbei deutlich über die pazifistische Darstellung von Latzko hinaus, da zum einen die veranschaulichten figurativen Wandlungen der Protagonistinnen und Protagonisten die Rezipierenden zum Nachahmen einladen, zum anderen dem Krieg anhand der illustrierten pazifistischen Revolution eine positive und konstruktive Alternative entgegengesetzt wird. So forciert Franks Zyklus nicht nur die Dekonstruktion einer potenziellen Kriegsaffirmation der Rezipierenden, sie werden vielmehr implizit dazu aufgefordert, eine pazifistische Haltung einzunehmen und dementsprechend revolutionär tätig zu werden. Aufgrund dessen entspricht Franks Novellenzyklus „Der Mensch ist gut“ dem Revolution affirmierenden Typus nach Schneider. Neben der wiederholt evozierten Dekonstruktion kriegsaffirmativer Narrative in beiden Zyklen, welche als zentrale Gemeinsamkeit beider Werke gelten kann, treten zahlreiche weitere gemeinsame Motive und Topoi auf, die strukturierende und bedeutungskonstitutive Funktionen für die pazifistische Darstellung übernehmen und sie erweitern, modulieren und überdies radikalisieren. Da für eine erschöpfende Betrachtung dieser Gemeinsamkeiten eine separate Analyse notwendig wäre, können diese Aspekte hier nur skizziert werden. So tritt in nahezu allen Novellen der Zyklen von Latzko und Frank der Schrei als zentrales Motiv auf, das eine eruptive Äußerung der Figuren markiert, die auf diese Weise ihre ins Unerträgliche gesteigerten Schmerzen oder aber ihre Wut
75 Vgl. Rudolph, S. 110–112.
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über die Zustände kommunizieren, die dieses Leiden hervorrufen. 76 Ein weiteres signifikantes Motiv stellt die Nivellierung von Feindzuschreibungen dar, in denen von den Figuren oder den Erzählern anhand von Parallelisierungen suggeriert wird, dass gegeneinander kämpfende Menschen unterschiedlicher Nationen prinzipiell gleichwertig seien, was u. a. durch deren Bezeichnung als Brüder veranschaulicht wird. 77 Auf diese Weise wird in den Novellen das kriegskonstitutive Freund-Feind-Schema aufgebrochen, wodurch der Kampf feindlicher Parteien, die mehr eint als trennt, absurd erscheint. Welcher pazifistischen Variante lassen sich die Zyklen Latzkos und Franks aber im historischen Kontext zuordnen? Auffallend ist in beiden Zyklen die kategorische Negativität der Kriegsdarstellungen und eine Dekonstruktion kriegsaffirmativer Narrative, die keine positiven Aspekte oder Folgen des Krieges gelten lässt. 78 Folglich suggerieren die Texte, dass Kriege generell abzulehnen seien, was eine charakteristische Position des radikalen Pazifismus darstellt. Zudem tritt in den Zyklen mehrmals das Motiv der Unterscheidung zwischen elitären Profiteuren des Krieges und einer leidenden Bevölkerungsmehrheit auf, die der monarchistisch-autoritären Gesellschaftsordnung attestiert, eine kriegsfördernde Triebkraft zu sein, die zu Lasten der Allgemeinheit Kriege primär aus wirtschaftlichen Gründen führe, um einigen wenigen Menschen unverhältnismäßige Vorteile zu verschaffen. Diese Darstellung weist eine hohe Affinität zur Gesellschaftskritik des radikalen Pazifismus auf, die erst während des Ersten Weltkrieges allmählich entstand und – im Gegensatz zum gemäßigten und organisatorischen Pazifismus der Vorkriegszeit – die bestehende monarchistische Gesellschaftsordnung als kriegsförderndes Problem erkannte und radikal infrage stellte. 79Außerdem werden in den Zyklen Kriegsdienstverweigerungen und Generalstreiks illustriert und propagiert, die vom
76 Vgl. Latzko, Menschen im Krieg, S. 11, 25–33, 64–65, 67, 71–72, 87–88, 90–91, 151, 153– 154, 160–161, 166, 198–199; Frank, Der Mensch ist gut, S. 11–12, 15, 19, 22, 39, 41, 46– 48, 50, 52, 54, 63, 67, 69–70, 78, 81, 83, 85, 106–107, 148–149, 152, 162, 164, 173, 177, 201. 77 Vgl. Latzko, Menschen im Krieg, S. 11, 31, 53, 92, 134, 137–138, 162, 165–166; Frank, Der Mensch ist gut, S. 16, 33, 50, 53, 55–59, 61, 64–65, 75–76, 85, 94, 106, 111–112, 115–116, 160, 174–175, 183, 189, 192. 78 Dieser Umstand wird lediglich dadurch eingeschränkt, dass die Figur des Philosophen in Franks Novelle „Das Liebespaar“ vorwiegend antimilitaristische Ansichten vertritt und bei Latzko die Figur des Hauptmanns Marschner in „Feuertaufe“ weniger den Krieg als Phänomen an sich negativ und ablehnend beurteilt, sondern eher seine besondere Ausprägung in Form des Ersten Weltkrieges. Vgl. Frank, Der Mensch ist gut, S. 125, 130– 145; Latzko, Menschen im Krieg, S. 50–52, 55–56, 77–78. Innerhalb der Zyklen werden diese antimilitaristischen Darstellungen jedoch von zahlreichen pazifistischen Motiven und Topoi überlagert, was die Radikalität der pazifistischen Darstellung nur punktuell entschärft. 79 Vgl. Holl, Pazifismus in Deutschland, S. 81–82, 114–115, 132–135.
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radikalen Pazifismus als geeignete Methoden zur Beendigung gegenwärtiger und zur Verhinderung künftiger Kriege angesehen werden. 80 Ferner waren beide Autoren im Umfeld der Friedensbewegung publizistisch tätig, da sie Verbindungen zu Vertretern der Friedensbewegung unterhielten. So publizierten beide Autoren in der Zeitschrift „Die Friedens-Warte“, die als zentrales Organ des organisierten Pazifismus fungierte und während des Ersten Weltkrieges ab 1915 in der Schweiz von Alfred Hermann Fried herausgegeben wurde. 81 Zwar weisen die radikalpazifistischen Darstellungen von Latzko und Frank signifikante Unterschiede zum organisatorischen Pazifismus der Zeitschrift auf, jedoch ist diese Zusammenarbeit im historisch-kulturellen Kontext der Schweiz zu verorten, die im Ersten Weltkrieg von Kriegsoppositionellen aller kriegführenden Staaten häufig als Exil gewählt wurde. 82 Jene Pazifisten vertraten in deutlicher Differenz zu den in Deutschland verbliebenen einen radikalen Pazifismus, wobei Fried zwischen diesen beiden Gruppen eine vermittelnde Stellung einnahm. 83 Demnach bestätigt sich nach vergleichender Analyse beider Zyklen die These Wilhelm Krulls, dass die Zyklen von Latzko und Frank als repräsentative literarische Beispiele für radikal pazifistische expressionistische Darstellungen verstanden werden können. Überdies kann Franks Zyklus auch dem revolutionären Pazifismus zugeordnet werden, da in „Der Mensch ist gut“ den Rezipierenden suggeriert wird, dass eine vage beschriebene soziale Revolution und somit die Ablösung des monarchistischen Systems zwingende Voraussetzung für einen dauerhaften Frieden sei. Insoweit kann Hans-Harald Müllers These, dass die undifferenzierte Bezeichnung der Zyklen als „pazifistisch“ problematisch sei, nur dann Geltung beanspruchen, wenn der zeitgenössische Pazifismus vorrangig mit dem organisatorischen Pazifismus identifiziert wird, 84 der jedoch nur einen Teil des Spektrums der Friedensbewegung zur Zeit des Ersten Weltkrieges abdeckt.
80 So entscheidet sich bei Latzko Hauptmann Marschner in „Feuertaufe“ zur Kriegsdienstverweigerung, während bei Frank der Kellner auf Versammlungen und Friedensdemonstrationen spricht und dort alle Anwesenden zum Generalstreik auffordert, um den Krieg zu beenden. Vgl. Latzko, Menschen im Krieg, S. 87–88, 92–93; Frank, Der Mensch ist gut, S. 64–65. 81 Vgl. Holl, Pazifismus in Deutschland, S. 75–78, 106; Andreas Latzko, Nachhut, in: Die Friedens-Warte 20 (1918), S. 198–200; Leonhard Frank, Einsturz, in: Die Friedens-Warte 20 (1918), S. 185–187. 82 Vgl. Ahmet Arslan, Das Exil vor dem Exil. Leben und Wirken deutscher Schriftsteller in der Schweiz während des Ersten Weltkrieges, Marburg 2004, S. 27–40. 83 Vgl. Holl, Pazifismus in Deutschland, S. 106, 130; Wilfried Eisenbeiß, Die bürgerliche Friedensbewegung in Deutschland während des Ersten Weltkrieges. Organisation, Selbstverständnis und politische Praxis 1913/14–1919, Frankfurt a. M. 1980, S. 155–156, 167–170. 84 So zieht Müller den organisatorischen Pazifismus heran, um die Differenz zwischen diesem und den kriegskritischen Darstellungen in den Texten zu akzentuieren. Vgl. Müller, S. 312.
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Die zentralen, gemeinsamen Persuasionsstrategien beider Zyklen stellen somit die im Vordergrund stehende Thematisierung negativer Kriegsfolgen, die Auflösung nationaler Zugehörigkeiten zugunsten eines egalitären Menschenbildes sowie die veranschaulichten Dekonstruktionen kriegsaffirmativer Narrative dar. Neben diesen inhaltlichen Persuasionsstrategien weisen beide Zyklen auch übereinstimmende formale Merkmale auf. Anhand entindividualisierter Orte, Zeiten und Figuren, die selten über Eigennamen verfügen und zumeist auf ihre sozialen Rollen reduziert sind, werden Typisierungen erzeugt, weshalb das Personal und die Handlungen der Novellen als repräsentative Blaupausen der Realität des Ersten Weltkrieges verstanden werden können, die über ein hohes Identifikationspotenzial für die Rezipierenden verfügen. Mittels differenter sozialer Rollen und Ereignisse wird dabei eine erstaunliche Diversität individueller Schicksalsschläge abgedeckt, welche die schädlichen Auswirkungen von Kriegsfolgen auf das individuelle Leben der Figuren und auf die Gesellschaft umfassend veranschaulichen und somit als eine Art pazifistisches Mahnmal oder Fanal fungieren. Beide Zyklen forcieren durch ihre appellative Tendenz ideelle Paradigmenwechsel bei den Rezipierenden, während diese implizit wie explizit dazu aufgefordert werden, ihre pazifistischen Einsichten zu kommunizieren und gegen den Krieg zu demonstrieren. Diese Persuasionsstrategien stellen nicht nur in beiden Werken, sondern auch über diese hinaus eine zentrale Gemeinsamkeit pazifistischer Texte dar, die nicht darauf abzielt, die antizipierte Kriegsaffirmation der Rezipierenden unmittelbar zu ersetzen. Stattdessen bieten die Texte zunächst Identifikationspotenziale an, woraufhin das vorherrschende Kriegsbild mit der Darstellung negativer Kriegsfolgen und deren Auswirkungen konfrontiert wird, was die Rezipierenden zur Reflexion anregen soll. Auf diese Weise werden die zugrundeliegenden kriegsaffirmativen Werte, Normen und Begründungen hinterfragt, was ihre Erosion zur Folge hat. Somit wird der Krieg weder positiv bewertet noch mit Sinn aufgeladen, vielmehr büßt er seine Legitimation ein. Der daraufhin zwangsläufig entstehenden Desillusionierung bei den Rezipierenden wird schließlich der Pazifismus als Ausweg aus der Krise präsentiert. Diese formale Vorgehensweise – Identifikation, Reflexion, Erosion – und die darauffolgende implizite und explizite pazifistische Darstellung lassen sich gattungsübergreifend in zahlreichen weiteren Beispielen finden, beispielsweise in den Gedichten „Legende vom toten Soldaten“ von Bertolt Brecht und „Drei Minuten Gehör!“ von Kurt Tucholsky, im Drama „Die Wandlung“ von Ernst Toller oder auch in „Wunder um Verdun“ von Hans Chlumberg. Da nicht nur eine umfassende Untersuchung zur pazifistischen Literatur, die während des Ersten Weltkrieges entstand, fehlt, sondern auch die zahlreichen und diversen Beziehungen sowie Differenzen zwischen allgemein kriegskritischen und spezifisch pazifistisch gesinnten Schriftstellern und Vertretern der Friedensbewegung sowie deren Literatur noch nicht untersucht wurden, birgt die Erforschung des literarischen Pazifismus noch viel Potenzial.
Grzegorz Kowal
(Uniwersytet Wrocławski)
Kinder, Krieg und Korczak Rund um die Tetralogie „Wie man ein Kind lieben soll“
„Dieses Buch habe ich im Feldlazarett geschrieben, beim Donner der Geschütze, während des Krieges; Nachsicht allein genügte nicht als Programm“. 1
Dieser Aufsatz gehört nicht zu der großen Menge von Texten, deren Autoren dem Druck herannahender Gedenktage nachgegeben haben. 2 Mit ihrem vom Kalender bestimmten Interesse an Janusz Korczak, dem polnisch-jüdischen „Bildhauer der kindlichen Seele“, 3 werden sie seinem geistigen Erbe nicht gerecht – und nützen ihm auch nicht, da bei solchen Gelegenheiten zumeist 1 Janusz Korczak, Wie man ein Kind lieben soll, übers. v. Armin Droß, hg. v. Elisabeth Heimpel und Hans Roos, mit einer Einleitung von Igor Newerly, Göttingen 61978, S. 122. Das Hauptwerk Korczaks wurde bisher zweimal ins Deutsche übertragen, der Titel der ersten Übersetzung lautete: „Wie man ein Kind lieben soll“, der Titel der neuesten: „Wie liebt man ein Kind“. Ich verwende und zitiere die ältere Übersetzung. Auch andere Werke Korczaks tragen in der deutschen Übersetzung unterschiedliche Titel, so ging z. B. „König Hänschen I.“ in der Übersetzung von Katja Weintraub (1957) dem „König Maciu´s dem Ersten“ in zwei leicht voneinander abweichenden Übersetzungen von Monika Heinker (1978 und 2002) voran. 2 „Abgesehen von den Autoren vieler kleinerer Veröffentlichungen in unterschiedlichsten Zeitschriften und überregionalen Zeitungen, in denen eine Würdigung des Opfergangs des zur Legende gewordenen Symbols eines seine Kinder bis zum Ende begleitenden Erziehers vorgenommen wird, gibt es bis heute nur eine gute Handvoll Erziehungswissenschaftler, die sich im deutschsprachigen Raum intensiver mit der fachwissenschaftlichen Analyse und Einordnung des Erziehungskonzepts Korczaks beschäftigen. [. . . ] Obwohl seit 1957 einige Hundert Zeitungs- und mehr als 200 Zeitschriftenartikel über Leben und Werk Korczaks veröffentlicht wurden, sind weniger als 30 von ihnen in pädagogischen Fachzeitschriften erschienen“. Friedhelm Beiner / Silvia Ungermann, Zur Rezeption der Pädagogik Janusz Korczaks in der deutschen Erziehungswissenschaft, in: Klaus Himmelstein / Wolfgang Keim (Hg.), Die Schärfung des Blicks. Pädagogik nach dem Holocaust, Frankfurt a. M. 1996, S. 101. 3 Die Bezeichnung stammt von Korczak selbst. Janusz Korczak, Tagebuch aus dem Warschauer Ghetto 1942, übers. v. Armin Droß, mit einem Vorwort von Friedhelm Beiner, Göttingen 1992, S. 50.
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längst bekannte Fakten ausgewalzt werden. Die Ideen des polnisch-jüdischen Arztes, der auch als Pädagoge und Schriftsteller wirkte, können erst dann als feste Bestandteile der Kultur angesehen werden, wenn sie beständig zum Dialog veranlassen, zur Veränderung der bisherigen Sichtweise herausfordern und zur Umsetzung in die Praxis anspornen. Selbst wenn es keine Waisenhäuser mehr geben würde und alle Korczak-Jahrestage längst übergangen würden, sollte er nicht aufhören, „eine Herausforderung an unsere Zeit“, 4 an unser Gewissen zu sein.
I Janusz Korczak gilt nicht nur als ein polnischer und jüdischer Erinnerungsort. Ein vergleichbarer Rang wird ihm auch in Deutschland zuerkannt. Diese These bekräftigen harte Fakten: In den Jahren 1996–2010 hat das Gütersloher Verlagshaus das 24 Bücher für Kinder und Erwachsene und über 1400 Zeitschriftenartikel umfassende Gesamtwerk des „polnischen Pestalozzi“ 5 in insgesamt 16 Bänden herausgegeben. Gleichzeitig ging das Werk des Arztes, Pädagogen und Schriftstellers in das bisher wohl größte geisteswissenschaftliche Gemeinschaftsprojekt beider Länder ein, dem das Ziel zugrunde lag, die lange Geschichte der deutsch-polnischen Beziehungen unter dem Gesichtspunkt ihrer wichtigsten Erinnerungsorte näherzubringen. Korczak fand Eingang in den ersten Band der von Hans Henning Hahn, Peter Oliver Loew und Robert Traba mitverantworteten Publikation „Deutsch-Polnische Erinnerungsorte“, deren Ertrag sich auf 5 Bände und insgesamt 130 Aufsätze beläuft. Neben Korczak wurden u. a. die heilige Hedwig, Veit Stoss, Nikolaus Kopernikus, Friedrich der Große, Otto von Bismarck, Karl Marx, Rosa Luxemburg, Maximilian Kolbe und Günter Grass porträtiert. Das hier ansatzweise angeführte Register von Personen, Initiativen und Daten, die auf Korczak verweisen, deutet die Geschichte seiner deutschen Rezeption an, den langen Weg von den ersten Übersetzungen, Aufführungen und Presseartikeln bis zum Rang eines Erinnerungsortes (zahlreiche Straßen, Schulen, Krankenhäuser, Waisenhäuser, Pfadfindergruppen u. a. tragen seinen Namen). Es sollte ebenfalls erwähnt werden, dass sich der Göttinger Verlag Vandenhoeck & Ruprecht um diesen Kulturtransfer verdient gemacht hat. In einer Zeit, in der Korczak gänzlich unbekannt war, fasste das Verlagshaus den Mut, erste deutsche Übersetzungen seiner Hauptwerke „Wie man ein Kind lieben soll“ (1967), „Das Recht des Kindes auf Achtung“ (1970), „König 4 Shimon Sachs, Korczak – eine fruchtbare Provokation, in: Friedhelm Beiner (Hg.), Zweites Wuppertaler Korczak-Kolloquium 1984. Korczak-Forschung und -Rezeption, Wuppertal 1984, S. 118. 5 Vgl. Franziska Baumgarten-Tramer, Janusz Korczak – der polnische Pestalozzi, Düsseldorf 1965.
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Hänschen I.“ (1970), „König Hänschen auf der einsamen Insel“ (1971) zu veröffentlichen. Damit war der Grundstein zur Verbreitung der pädagogischen Einsichten Korczaks in Deutschland gelegt. Der wissenschaftliche Diskurs auf beiden Seiten der Oder-Neiße-Grenze zeugt davon, dass man in Korczak viel mehr als nur den „Märtyrer einer Geste“ 6 entdeckt hat. Man tut ihm unrecht, wenn man sein Leben und Werk ausschließlich oder vor allem durch das Prisma seiner letzten Lebensjahre, also unter der Nazi-Herrschaft, betrachtet. Es scheint, dass sich dieser eingeengten Perspektive besonders gern die Filmindustrie bedient. Die implizite Annahme Aleksander Fords und Andrzej Wajdas, dass sich gerade die Ghetto-Jahre zum geistigen Testament Korczaks verdichten, ist falsch. „Ob ihnen [Ford und Wajda – G.K.] aber eine zutreffende Auseinandersetzung mit Korczaks pädagogischen Vorstellungen gelingt, ist aus meiner Sicht sehr die Frage. Zu sehr wird Korczak in die Nähe eines Menschen gerückt, der – weil er sein Leben geopfert hat – als Märtyrer zu ehren wäre“. 7 Wie einsichtig wirkt demgegenüber die These, „daß nicht nur das Ende und die Ghetto-Zeit, sondern das ganze Leben Korczaks der Beachtung wert ist“. 8 Was das Wesen seiner Leistungen und Bemühungen ausmacht, fällt schließlich in die drei ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts. Deren Höhepunkt markiert der während des Ersten Weltkrieges verfasste und 1918 veröffentlichte Essay „Wie man ein Kind lieben soll“. Hier verdichten sich Korczaks Visionen zu einem Bekenntnis, dem er bis zum Lebensende verpflichtet bleibt. Nur in dieser Perspektive lässt sich seine Entscheidung verstehen, seine Zöglinge in das Vernichtungslager Treblinka zu begleiten. Sie erwächst natürlich, gleichsam organisch aus seiner vielmals erklärten und gelebten Liebe zum Kind. Wenn Korczak seine Zöglinge in der tiefsten Not verlassen hätte, könnte man seinen ganzen bisherigen Einsatz für Kinder als unglaubwürdig ablehnen. Die meisten Beiträge im vorliegenden Band sind literarischen Texten gewidmet, die – wie die erste Hälfte seines Titels ankündigt – den Krieg thematisieren, deren Verfasser auf den Krieg erst nach dessen Ende rekurrieren. Dieser Beitrag über Korczak bildet eine Ausnahme; hier ist die Rede von einem Buch, das zwar während des Krieges entstanden ist, aber einem anderen großen Thema verpflichtet ist. Das Hauptinteresse von Korczak gilt dem Kind. „Wie man ein Kind lieben soll“ enthält nur eine einzige Stelle, die auf den Krieg Bezug nimmt. Dort heißt es: „Und stand nicht die tiefe Überzeugung der Massen, daß die Schrecken eines Krieges im 20. Jahrhundert unmöglich seien, im Gegensatz zur Wirklichkeit?“. 9 Die zitierte Frage legt die Vermutung 6 Janusz Tarnowski, Janusz Korczak dzisiaj, Warszawa 1990, S. 109. Wenn nicht anders angegeben, stammen alle Übersetzungen vom Autor des Aufsatzes. 7 Friedrich W. Busch, Über den Umgang mit Kindern. Die Bedeutung Janusz Korczaks für das pädagogische Denken der Gegenwart, Oldenburg 2005, S. 17. 8 Beiner / Ungermann, S. 100. 9 Korczak, Wie man ein Kind lieben soll, S. 82.
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nahe, dass sich der Krieg nicht aus der menschlichen Geschichte verbannen lasse, denn er beherrscht die Erinnerungen und bestimmt zukunftsweisendes Denken. Als Arzt, der in Lazaretten junge Verwundete versorgte und in Waisenhäusern seelisch versehrte Kinder betreute, lernte Korczak aus erster Hand die destruktive Kraft von Kriegshandlungen kennen. Das Schlimmste war jedoch, dass diese Destruktivität mit dem Kriegsende nicht aufhörte. Ganz im Gegenteil; der Krieg begann für viele Menschen paradoxerweise erst dann, als die Waffen schwiegen. Das Überleben bedeutete, lebenslang traumatisiert – im Falle von Kindern z. B. verwaist – zu sein. Ganz in diesem Sinne spricht das Motto von Remarques „Im Westen nichts Neues“ von einer Generation, „die vom Kriege zerstört wurde – auch wenn sie seinen Granaten entkam“. Ein vergleichbarer Interpretationsschlüssel ist auch der Psychoanalyse eigen. Traumata können lange Zeit schlummern, bevor sie zum Leben erwachen und ihre zersetzende Kraft wirken lassen. Als man Korczak dafür kritisierte, dass die Kinder in seinem Waisenhaus vom gewöhnlichen Alltag isoliert waren, antwortete er, dass man die Wirklichkeit ändern müsse, nicht aber die für den Erziehungsprozess günstigen Umstände in seinem Waisenhaus. Er entgegnete mit einer rhetorischen Frage: Wenn die Erwachsenen lügen und betrügen, intrigieren und hassen, stehlen, gewalttätig, neidisch, egoistisch und habsüchtig werden, soll das auch den Kindern beigebracht werden? Da alle Erziehungsprogramme als gegenseitige Lernprozesse aufzufassen sind, betreffen sie ebenso die Eltern. Das Kinderbuch „König Hänschen I.“ ist somit auch an Erwachsene adressiert. Mit seiner Konzeption, dass der Lehrer ein ewiger Schüler bleibe, zwingt Korczak zum Umdenken über das Verhältnis zwischen Betreuern und Betreuten, er stellt erstere vor ganz neue Herausforderungen. In seinem Aufsatz „Die Erziehung des Erziehers durch das Kind“ spricht er den neu definierten Erzieher folgendermaßen an: „Sei uns ein Vorbild und – ganz der Hauptforderung jeder Erziehungstheorie entsprechend – gib uns ein Beispiel, nicht mit Worten, sondern mit Taten. Der Erzieher steht vor dem Dilemma: Entweder beginnt er die beschwerliche, mühsame und unendliche Arbeit an seiner eigenen Unvollkommenheit, oder er verbannt – was wesentlich bequemer ist – die Theorie“. Und er fügt hinzu: „Das Kind lehrt und erzieht. Für den Erzieher ist das Kind das Buch der Natur; indem er es liest, reift er. Man darf das Kind nicht geringschätzen“. 10 Weitere Argumente dafür, dass man die Umgebung an die Kinder anpassen soll, nicht umgekehrt, schöpfte Korczak aus der Kompensationstheorie. Da er sich den verwaisten, also den vom Schicksal besonders geschlagenen, allgemein verwahrlosten, sozial benachteiligten, geistig und körperlich zurückge-
10 Janusz Korczak, Von Kindern und anderen Vorbildern, Gütersloh 1979, S. 120–121.
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bliebenen Kindern zuwandte, 11 bemühte er sich, wenigstens einen Teil dessen, worum sie in ihrem Leben gebracht worden waren, wiederherzustellen. Der Verlust der Eltern ließ sich nicht ungeschehen machen, für die Kinder aber kam es darauf an, dessen Folgen so weit wie möglich zu minimalisieren. Der Tenor der an Korczak von seinen Zeitgenossen gerichteten Vorwürfe lautete, dass die brutale Realität seine Zöglinge, die mit 14 Jahren das Waisenhaus verlassen mussten, unvorbereitet treffe. All das, was im Waisenhaus herrschte, Liebe, Geborgenheit, Vertrauen, Toleranz, Ehrlichkeit, Demokratie, Gerechtigkeit, Gemeinschaftsgeist, Partizipation und komfortable Lebensbedingungen, war außerhalb der Mauern des Waisenhaues kaum zu finden. Auch der Krieg mag hier eine Rolle spielen. Da der Krieg auf die zwischenmenschlichen Beziehungen zersetzend wirkt, die Früchte der Arbeit der Vorfahren vernichtet, das gesunde, glückliche und harmonische Wachstum und das Hineinwachsen des Einzelnen in die Gruppe verhindert, muss man den Nachwuchs zum friedlich(er)en Miteinander erziehen, so dass dieser im späteren Leben vom Krieg absieht und andere Instrumente zur Lösung von Problemen bevorzugt. Schließlich war Korczak als Arzt jeder bedürftige Mensch – unabhängig von der sozialen und nationalen Herkunft – wichtig, vielleicht sogar desto wichtiger, je bedürftiger. Dies erklärt, warum Korczak sich gerade den Kindern zuwandte. Als die Schwächsten, „von der Stiefmutter Menschheit“ 12 Ausgegrenzten und Stigmatisierten, verdienten sie seine besondere Aufmerksamkeit. Der Mangel an Achtung den Kindern, also rund einem Drittel der Menschheit gegenüber, äußerte sich bereits in der Annahme, dass sie erst noch Menschen werden müssen. Für Korczak hingegen waren sie es bereits im Moment ihrer Geburt. Ein Großteil seiner Aktivitäten sollte deshalb seine Zeitgenossen für diesen Umstand sensibilisieren. In seinem Aufsatz „Wenn ich wieder klein bin“ schrieb er: „Die Kinder – das sind die zukünftigen Menschen. Also werden sie erst welche, also ist es so, als gäbe es sie noch nicht. Aber doch sind wir da: wir leben, fühlen, leiden“. 13 Wider eingefahrene Vorstellungen und Ressentiments, die die Menschen zu Gegnern machen und die Nationen aufeinander hetzen, erblickte Korczak 11 „Wenn das Kind der kostbarste Schatz der Gesellschaft ist, so ist das Kleinod in diesem Schatz das Waisenkind“. Maria Falkowska, Kalendarz z˙ycia, działalno´sci i twórczo´sci Janusza Korczaka, Warszawa 1989, S. 230. 12 „Wir führen sie wieder zu sich selbst zurück, diese Menschen, die sich auf den verzweigten Wegen des Lebens verirrt haben, wir geben ihnen die Chance, aufzuatmen und Kraft und Zuversicht zu gewinnen; und wenn sie auf wundersame Weise ihr Gefühl wiedergewonnen haben, dann finden sie ihren Weg, diese ‚alten‘ Zöglinge unserer Schule, diese ‚alten Kinder‘, die von der Stiefmutter Menschheit so schnöde behandelt wurden“. Janusz Korczak, Begegnungen und Erfahrungen. Kleine Essays, übers. v. Ruth Roos und Nina Kozlowski, mit einer Einführung zu „Eine Schule für das Leben“ von Hans Roos, Göttingen 1991, S. 27. 13 Janusz Korczak, Wenn ich wieder klein bin und andere Geschichten von Kindern, Göttingen 1973, S. 179.
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gerade in den Kindern – den „Fürsten des Gefühls, Poeten und Philosophen“ 14 – die ersehnte Hoffnung. Nach Korczak konnte ausschließlich das Kind zur Erneuerung der Gesellschaft beitragen. Nur die grundlegende Veränderung der Erziehung und des Schulwesens konnte die Heraufkunft eines neuen, d. h. empathischen, vorurteilsfreien, versöhnlichen, dialogfähigen und die Würde aller Mitmenschen anerkennenden Einzelnen bewirken. Darum wird mit dem Namen Korczaks „die große Synthese des Kindes“ 15 in Verbindung gebracht. Seiner angestrebten Umwertung der Erziehung ging die Idee voraus, dem Kind und seiner Sache zu dienen. Somit hielt Korczak in der Nachfolge Friedrich Nietzsches der ideellen Wüste um ihn als „die neue Bibel für Menschen“ und Formulierung einer „Religion des Kindes“ 16 sein Werk „Wie man ein Kind lieben soll“ mit dem neuen Blick auf das Kind entgegen. Korczak sprach vom Kind als „der einzigen Rettung“. 17 Während die anderen an der Sentenz festhielten: „Wenn du den Frieden willst, so bereite dich auf den Krieg vor“, 18 schwebten ihm ganz andere Visionen vor. Korczak konnte nicht begreifen, dass militärische Heldentaten nach wie vor menschliche Anerkennung und Bewunderung hervorrufen, haben sie sich doch auf Kosten menschlichen Lebens vollzogen. Nach Korczak brauchen die Kinder von heute und morgen fundamental andere Vorbilder. Wissenschaftler, Forscher, Erfinder, Künstler – sie sollen die geistige Landkarte der Kinder bevölkern. Dies bestätigt sein Vorhaben, eine Reihe von Kinder- und Jugendbüchern zu schaffen, deren Protagonisten bedeutende schöpferische Menschen sind. In
14 Das Zitat stammt aus dem letzten Absatz des Essays „Das Recht des Kindes auf Achtung“. Janusz Korczak, Sämtliche Werke, hg. v. Friedhelm Beiner und Erich Dauzenroth, Bd. 4: Wie man ein Kind liebt; Erziehungsmomente; Das Recht des Kindes auf Achtung; Fröhliche Pädagogik, bearbeitet und kommentiert von Friedhelm Beiner und Silvia Ungermann, Gütersloh 1999, S. 413. 15 Korczak, Wie man ein Kind lieben soll, S. 222. Wenn Korczak von „der großen Synthese des Kindes“ im Allgemeinen spricht, so sieht Stefan Wołoszyn gerade in Korczaks Tetralogie deren prägnantesten Ausdruck. Vgl. S.W. [Stefan Wołoszyn], Przypisy, in: Janusz Korczak, Dzieła, Bd. 7: Jak kocha´c dziecko. Momenty wychowawcze. Prawo dziecka do szacunku, Warszawa 1993, S. 540. 16 „Ich denke, erst wenn Stacheldrähte und Giftgase verschwinden, kommt ja nicht nur die neue Sorge um das Kind, sondern die neue Religion des Kindes auf“. Janusz Korczak, Dzieła, Bd. 14 I: Pisma rozproszone. Listy 1913–1939, Warszawa 2008, S. 157. 17 In Korczaks kurz vor dem Zweiten Weltkrieg verfassten Briefen heißt es: „Nötig ist die neue Bibel für Menschen. Ich habe diese Konzeption und quäle mich unbeschreiblich beim Hinsehen ab, wie Wochen und Monate erfolglos vergehen“ (1937); „Ich will ehrlich schreiben: die Einsamkeit fließt an uns vorbei, denn uns erfüllt die ewige Sehnsucht; keine Losungsworte, keine Arbeit löschen dieses Gefühl, stillen dieses lebendige Verlangen. Die einzige Rettung: das Kind“ (1939). Janusz Korczak, Dzieła, Bd. 14 II: Pisma rozproszone. Listy 1913–1939, Warszawa 2008, S. 226, 238. 18 Korczak variiert die fragliche Sentenz: „Im Leben ist es genauso wie im Krieg: Wenn man siegen will, muß man sich gut auf den Angriff vorbereiten“. Janusz Korczak, König Hänschen I., übers. v. Katja Weintraub, Warszawa 1957, S. 80–81.
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Korczaks Notizen finden sich unter zahlreichen Namen von Menschen, deren Biografien den Kindern nahegebracht werden sollten, Moses, Pestalozzi, da Vinci, Pasteur, Fabre, Mendel. Die erste druckfertige Lebensgeschichte bezog sich auf Moses, etwas später kam der Text über Louis Pasteur heraus: „Welch eine herrliche Gestalt, welch ein bezauberndes Leben im Kampf um die Wahrheit“. 19 Die Entstehung weiterer Teile verhinderte der Zweite Weltkrieg. Autobiografische Schriften, hinterlassen von Leuten, die einen Krieg miterlebt haben, durchdringt oft die Verbitterung, dass der Krieg die fruchtbarsten Jahre geraubt habe. „Die provisorische Existenz hatte zwölf Jahre [in NaziDeutschland] gedauert – Jahre, die in meinem Leben die besten hätten sein müssen“. 20 Anstatt im übertragenen Sinne Kinder zu zeugen, also Werke zu schaffen, in denen sich Wissen, Erfahrung und Einfall akkumulieren, musste man seine ganze Kraft fürs Überleben einsetzen. Zudem raubte der Krieg nicht nur die besten Lebensjahre, sondern auch die begabtesten Menschen. Während man zu seinen Lebzeiten den Krieg aus der eugenischen, wirtschaftlichen, technologischen oder sozialen Perspektive als Entwicklungskatalysator zu rechtfertigen versuchte, beharrte Korczak auf seiner entschiedenen Kriegsablehnung. „Die Meinung besteht, daß eine um so kräftigere Generation am Leben bleibt und heranwächst, je größer die Kindersterblichkeit unter dem Proletariat ist. Nein: die schlechten Lebensbedingungen, die schwachen Kindern den Tod bringen, schwächen auch die kräftigen und gesunden“. 21 Am Rande sei bemerkt, dass Korczak zielorientiert arbeiten konnte, während er von Tod und Verderben umgeben war. Die Sorgen eines verzweifelten Alltags vermochten nicht, den „Fanatiker der Pflicht“ 22 von seiner kulturstiftenden Arbeit abzubringen. Im Ersten Weltkrieg verfasste er sein Buch „Wie man ein Kind lieben soll“, der Zweite Weltkrieg hingegen trieb ihn dazu, seine Erinnerungen festzuhalten. Heute macht das hinterlassene Tagebuch aus dem Ghetto seinen Tod erträglicher, als könnte lediglich der Mensch, nicht aber die von ihm verkörperte Idee sterben.
II Die Genese von „Wie man ein Kind lieben soll“ ist lang und verwickelt. Obwohl das Werk eine Tetralogie ist, stellt jeder der vier Teile eine geschlossene und autonome Einheit dar. Unterschiedlich ist auch ihre Entstehungszeit. Alle Teile, separat und dennoch zusammengehörend, zeugen von der differenzierten, umfassenden Antwort auf die gewöhnliche, auf den ersten Blick triviale 19 Korczak, Dzieła, Bd. 14 II, S. 226. 20 Manès Sperber, All das Vergangene. . . Die Wasserträger Gottes. Die vergebliche Warnung. Bis man mir Scherben auf die Augen legt, Wien 1983, S. 888. 21 Korczak, Wie man ein Kind lieben soll, S. 41. 22 Igor Newerly, Einleitung, in: Korczak, Wie man ein Kind lieben soll, S. XVII.
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Frage, wie man Kinder lieben soll. Darüber, dass sie Liebe brauchen und verdienen, besteht kein Zweifel, wie sich aber dieses Gefühl manifestieren soll, wie dabei übermäßige Knappheit und Fülle vermieden werden können, steht zur Debatte. Die Entstehungszeit des für uns hier besonders interessanten ersten Teiles („Das Kind in der Familie“), der als separates Buch unter dem Titel „Wie man ein Kind lieben soll“ erschien, erstreckt sich allem Anschein nach über den ganzen Ersten Weltkrieg; die ersten Notizen reichen bis in das Jahr 1914 zurück, während das fertige Manuskript im Juni 1918, also nach der Rückkehr Korczaks von der Front, vorlag. So konnte „Das Kind in der Familie“ (unter dem Titel „Wie man ein Kind lieben soll“) noch zwischen Oktober und November 1918 veröffentlicht werden. Da auch die Arbeiten zu den drei anderen Teilen gegen Kriegsende abgeschlossen oder weit fortgeschritten waren, kam die ganze Tetralogie in der zweiten Hälfte des Jahres 1920 auf den Markt. Die Herausgeber des polnischen Gesamtwerks von Korczak nahmen folgende Chronologie an: „Das Kind in der Familie“: 1914 (oder früher) bis Mai 1918, „Das Internat“: 1917 bis 1919, „Sommerkolonien“: 1918, „Das Kameradschaftsgericht“: 1917, „Das Waisenhaus“: Juli 1918 bis 1920 (mit Ausnahme von „Das Kameradschaftsgericht“). 23
Die These, dass „Das Kind in der Familie“ als separates Buch unter dem Titel „Wie man ein Kind lieben soll“ gedacht war, untermauern Veränderungen innerhalb des Titels. Der Veröffentlichung des ersten Teils aus dem Jahre 1918 folgte 1920 die Herausgabe aller vier Teile, diesmal jedoch hieß es auf dem Buchumschlag: „Wie man Kinder lieben soll“. Die zweite und zugleich letzte Auflage des ganzen Werks zu Lebzeiten Korczaks (1929) trug dagegen wieder den ursprünglichen Titel „Wie man ein Kind lieben soll“. Das genannte Werk, Studie und Poesie in einem, ist eine Frucht der Kriegszeit, während es von Erziehung handelt. In seiner Form verschmelzen diese beiden Dimensionen. Der erste Teil ist in 116 kurze Abschnitte, eigentlich Aphorismen, gegliedert. Zwar wurde Korczak nicht als Soldat an der Waffe, sondern als Arzt einberufen, zwar gehörte zu seiner Ausrüstung nicht das Gewehr, sondern das Hörrohr, doch nahm der Kampf um das Leben anderer seine körperlichen und geistigen Kräfte in Anspruch. Ruhepausen waren kurz und selten; Aphorismen eigneten sich deshalb als die wohl beste Gattung für eine schriftstellerische Betätigung. Von systematischer Arbeit konnte keine Rede sein. So wich das systematische Erziehungsprogramm, dessen Leitfaden die Liebe war, offenen Fragen, moralischen Dilemmata, mutigen Einfällen, all-
23 Janusz Korczak, Dzieła, Bd. 7: Jak kocha´c dziecko. Momenty wychowawcze. Prawo dziecka do szacunku, Warszawa 1993, S. 468.
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gemeinen und detaillierten Beobachtungen, sogenannten Beispielen aus dem Leben. Warum Korczak beschlossen hat, sie alle unter so ungünstigen Umständen festzuhalten, lässt sich heute nur hypothetisch erklären. Vieleicht steckten dahinter sowohl eine Art Eskapismus, die Flucht vor der grauenhaften Realität, als auch die Angst, in den Kriegswirren umzukommen. Sollte man aus dem Krieg nicht zurückkehren, musste man für sein geistiges Testament sorgen: 15. Juli 1942. Eine Woche Pause vom Schreiben, das jetzt vollkommen unnötig erscheint. Etwas ähnliches habe ich erlebt, als ich „Wie man ein Kind lieben soll“ schrieb. Es kam vor, dass ich bei einer kurzen Rast, auf einer Wiese, unter einer Kiefer, auf einem Baumstumpf saß und schrieb. Alles war wichtig, und wenn ich es nicht gleich aufgeschrieben hätte, so hätte ich es vergessen. Ein unwiederbringlicher Verlust für die Menschheit. 24
Eine andere spekulative Erklärung beruht auf der These, dass über die soziale Ordnung der Nachkriegszeit noch während des Krieges entschieden wird. Da Korczak als Arzt und Pädagoge das Ausmaß der Kriegszerstörungen vorausahnte, wollte er helfen, die kommende Not zu lindern. Unabhängig von der Frage, ob er überleben sollte oder nicht, sah er seine Rolle darin, an den bevorstehenden Reformen aktiv mitzuwirken. Korczaks Aufmerksamkeit entging nicht die aufschlussreiche Etymologie des polnischen Wortes „wychowywa´c“ („erziehen“). 25 Lässt man die Vorsilbe weg, bleibt „chowa´c“ („verstecken“, „bewahren“) übrig. Die Kinder sollten erzogen, also vor Gefahren versteckt werden. Die größte Gefahr heißt Krieg. Gleich einem Vergrößerungsglas verdichtet sich im Krieg das Böse: Tod, Elend, Hunger, Gewalt, Machtmissbrauch, Sittenverfall, Anarchie. Für den im herkömmlichen Sinne eher unreligiösen Korczak bedeutete der Krieg solch eine Art und Weise zu leben, als gäbe es keinen Gott. Dies sollte jedoch nicht die irreführende Annahme implizieren, dass für das ganze Verderben auf der Welt lediglich der Krieg verantwortlich sei. Ebenso falsch wäre die Annahme, dass mit der Friedenszeit das ersehnte Paradies anbreche. Das Wesen des Krieges besteht für Korczak lediglich darin, dass er vorhandenes Übel extrem steigert. Der Status, den die Zwischenkriegsjahre in den Erinnerungen Korczaks einnehmen, reicht vom kleineren Übel über eine friedliche Koexistenz der Völker und ein erträgliches Zusammenleben der Ethnien bis zum Mythos der glück-
24 Korczak, Tagebuch aus dem Warschauer Ghetto 1942, S. 97. 25 In den Dokumenten aus den Kriegs- und Ghettojahren macht Korczak einen etymologischen Streifzug: „Erziehen – heißt bewahren, schützen, verbergen, vor Unrecht und Schaden, heißt Sicherheit gewähren. Ein schöner Ausdruck – geboren aus der Notwendigkeit, die Kinder vor Überfällen der Tataren, Kosaken, Litauer, Walachen, und was es sonst noch so alles gab, zu schützen“. Janusz Korczak, Sämtliche Werke, hg. v. Friedhelm Beiner und Erich Dauzenroth, Bd. 15: Briefe und Palästina-Reisen; Dokumente aus den Kriegs- und Ghetto-Jahren; Tagebuch-Erinnerungen; Varia, bearbeitet von Friedhelm Beiner, Gütersloh 2015, S. 235–236.
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lichen Kindheit. Das Schicksal hat es Korczak zwar erspart, als Überlebender zurück- und das Ausmaß der Verwüstung zu überblicken, doch schrieb er 1937 in einem der Briefe an Józef Arnon die prophetischen Worte: „Das Böse hat noch nicht seinen tiefsten Punkt erreicht; die nächsten fünf, vielleicht zehn Jahre bringen Sturm und Flut“. 26
III Die Angst vor offensichtlichen Gefahren sollte nicht mit jener vor eingebildeten Schrecknissen verwechselt werden. Zu der ersten Gruppe gehört u. a. der Krieg, die zweite versinnbildlichen überfürsorgliche Eltern. Versteht man die Pflicht zur Obhut falsch, verfällt sie zu Verboten und Zwängen, also zur Tyrannei. Anstatt dass man den Kindern lebensnotwendige Freiräume zuerkennt, werden diese als etwas Bedrohliches verstanden und verdammt. Korczak unterschied deshalb zwischen dem Schutz der Kinder vor realen Übeln einerseits und quasi militärischer Zucht andererseits. Das hat ihn dazu bewogen, von den drei wichtigsten Kinderrechten eines auf den Tod zu beziehen. Als sogenannte magna charta libertatis für Kinder wurden sie in „Wie man ein Kind lieben soll“ zum ersten Mal verkündet und gefordert: 1. Das Recht des Kindes auf seinen Tod, 2. Das Recht des Kindes auf den heutigen Tag, 3. Das Recht des Kindes, so zu sein, wie es ist. 27
Das Recht auf den Tod meint eigentlich das Recht auf das Leben: „Aus Furcht, der Tod könnte uns das Kind entreißen, entziehen wir es dem Leben; um seinen Tod zu verhindern, lassen wir es nicht richtig leben“. 28 In dieser kurzen Erläuterung nimmt Korczak Stellung zu einigen wichtigen Fragen der Erziehung. Zum einen geht es hier darum, dass man über seinen eigenen Körper und Geist frei verfügen darf. Zum anderen schimmert darin der pädagogische Grundsatz des learning by doing durch. Man lernt nicht nur dadurch, dass man überhaupt etwas macht, man lernt auch dadurch, dass man etwas falsch macht. Aus Fehlern lernt man aber am effektivsten, wenn man sie selber begeht. Fünfzig Jahre später ernennt Hartmut von Hentig diese Sichtweise zum Wahrzeichen der Pädagogik von Korczak. In einer Zeit angestrebter Vollkommenheit lässt sie Fehler, Schwächen, Misserfolge, das Versagen, Scheitern und Enttäuschen zu. Somit hilft sie, den sozialen Druck zu vermindern und gleichzeitig die Niederlagen aufzuwerten. Ohne eine richtige Einschätzung von Misserfolgen gibt es kein stabiles Selbstbewusstsein. Hentig führt aus:
26 Korczak, Dzieła, Bd. 14 II, S. 230. 27 Korczak, Wie man ein Kind lieben soll, S. 40. 28 Ebd., S. 44.
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Korczak bin ich zum ersten Mal in den 50er Jahren im Tübinger Zimmertheater in Erwin Sylvanus’ Stück „Korczak und die Kinder“ begegnet, das zweite Mal bei Elisabeth Heimpel, der wir – zusammen mit Hans Roos – die deutsche Ausgabe verdanken. Auf ihrem Tisch lag „König Hänschen“. Beim Blättern traf ich auf das letzte düstere Bild, auf dem das verurteilte Kind abgeführt wird. Ich durfte das Buch mit nach Hause nehmen. Von allem, was es mir sagte, hat mich damals das „Scheitern“ des Kindes am meisten beeindruckt und bestärkt: in einer Welt erlogener oder erzwungener Erfolge war es in Ordnung; es gehörte dazu, wenn man mit sich selbst wahrbleiben wollte; es mußte nicht beschönigt werden oder dramatisiert. 29
Im Kontext der Diskussion über den Krieg bleibt zu fragen, inwieweit Korczak mit Sigmund Freuds Entdeckung des Unbewussten vertraut war: welche konkreten Werke hat er gelesen, welche Schlüsse hat er für nachvollziehbar gehalten, welche strikt abgelehnt? Insgesamt zweimal führte der polnische Arzt den Namen seines österreichischen Fachkollegen an, das erste Mal in „Wie man ein Kind lieben soll“, das zweite Mal in einem Brief an Józef Arnon aus dem Jahre 1938. Zwar sind die namentlichen Bezugnahmen rar, doch Korczaks Interesse an der Entwicklung des Menschen in seinen ersten Lebensjahren, das er mit Freud teilt, ist groß. Die Lektüre von „Wie man ein Kind lieben soll“ und anderen Schriften lässt die These zu, dass ihr Autor – an Freud angelehnt oder rein intuitiv 30 – den Beeinflussungszusammenhang zwischen bestimmten Lebensphasen (an)erkannte. Die Erziehung in der frühesten Kindheit, bisher gering- oder gar völlig unterschätzt, rückte in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Schließlich glaubte man, mit ihrer Hilfe das Rätsel der Genese eines glücklichen oder aber prekären Erwachsenenalters gelöst, in ihr den Schlüssel für „das goldene Zeitalter in der menschlichen Entwicklung“ 31 gefunden zu haben. In dieser Perspektive – d. h. ausgehend vom Kind – erscheint das Kind als der Vater des Menschen; die Kindheit kündigt das Künftige an. „So oft ich ein Kind im Konflikt mit dem Strafgesetzbuch untersuchte, so oft stellte ich fest, dass diesem Kind keine normale Kindheit vergönnt gewesen war, dass
29 Hartmut von Hentig, Janusz Korczak oder Erziehung in einer friedlosen Welt, in: Janusz Korczak. Ansprachen anlässlich der Verleihung des Friedenspreises. Bibliographie des Preisträgers, Frankfurt a. M. 1972, S. 75–76. 30 „Daran [am Zusammenhang zwischen Kindheit und Erwachsenwerden – G.K.] anschließend arbeitet Korczak – ohne sich ausdrücklich auf die Psychoanalyse zu beziehen (er kannte die Arbeiten von Freud) – heraus, dass die Biografie eines Menschen vom Verlauf der Kindheit geprägt sei“. Sabine Andresen, Wie liebt man Kinder – eine kindheitstheoretische Anordnung Janusz Korczaks, in: Janusz Korczak, Wie man ein Kind lieben soll, übers. v. Armin Droß, hg. v. Elisabeth Heimpel und Hans Roos, mit einer Einleitung von Igor Newerly, Göttingen 172008, S. XIX. 31 Anna Bajorek, Dziecko w koncepcjach dzieci´nstwa w aspekcie pedagogiki Janusza Korczaka, in: Dies. u. a. (Hg.), W trosce o dziecko. Rozwa˙zania w kontek´scie pedagogiki Janusza Korczaka, Sanok 2012, S. 166.
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es auf die übliche und für seine Entwicklung erforderliche Art weder gespielt noch sich ausgetobt hatte“. 32 Was üblicherweise als „Spirale der Gewalt“ bezeichnet wird, ist eine der psychoanalytisch anmutenden Diagnosen, die sich aus Korczaks Schriften herauslesen lassen. Seine Beobachtungen führen ihn zu der Einsicht, dass diejenigen Kinder zur Gewalttätigkeit neigen, welche ihr zu Hause ausgeliefert waren. Dies erklärt seine Bemühungen, der Gewaltspirale ein Ende zu setzen. 33 Wenn den Kindern die Ideen der Friedfertigkeit und Versöhnlichkeit nicht vorgelebt werden, wenn sie keinen anderen Zustand als den des Krieges kennen – die Geschichte verzeichnet Kriege, die ein Menschenleben lang dauerten –, 34 muss damit gerechnet werden, dass die Kinder – „die Menschen von morgen“ 35 – ihr Leben dem Todestrieb anvertrauen. Für eine derart eingerichtete Welt gäbe es keine Hoffnung. Dennoch ermutigte Korczak seine Zöglinge, wenn sie das Waisenhaus verlassen haben, mit den Worten: Wir nehmen Abschied von euch für eure lange und weite Reise. Diese Reise hat einen Namen – das Leben. Wir geben euch nichts. Wir geben euch keinen Gott, denn ihr müsst Ihn selbst in der eigenen Seele suchen, im einsamen Bemühen. Wir geben euch kein Vaterland, denn ihr müsst es durch eigene Anstrengung eures Herzens und eurer Gedanken finden. Wir geben euch keine Menschenliebe, denn es gibt keine Liebe ohne Vergebung, und Vergeben ist mühselig, eine Strapaze, die jeder selbst auf sich nehmen muss. Wir geben euch eins: Sehnsucht nach einem besseren Leben, welches es nicht gibt, aber doch einmal geben wird, ein Leben der Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeit. Vielleicht wird euch diese Sehnsucht zu Gott, zum Vaterland und zur Liebe führen. 36
32 Zit. nach: Czesław Hakke, in: Wspomnienia o Januszu Korczaku, hg. v. Ludwika Barszczewska und Bolesław Milewicz, Warszawa 1989, S. 149. 33 „Wenn du groß wirst – lies es, merk es dir und sei mir nicht böse. Und wenn dein Sohn irgendwann etwas anrichtet – belehre ihn und erkläre es ihm anders, menschlich. Wenn mich der Vater prügelte, war er der Ansicht, das Recht und die Pflicht dazu zu haben; ich gebe zu, dass ich verletze – du aber hör auf zu prügeln“. Janusz Korczak, Dzieła, Bd. 13: Teoria a praktyka. Artykuły pedagogiczne 1919–1939, Warszawa 2017, S. 63. 34 Ein Dutzend Kinder hat im Waisenhaus Memoiren geschrieben. Während die meisten sich in ihre Erinnerungen versenkten, beschäftigten nur einen Zögling Gedanken über die Zukunft. Im Text „Wie lebe ich nach dem Krieg“, der polnischen „Tagebuch“-Ausgabe beigefügt, schreibt Korczak: „Ein einziges Mal nur wagte er zu schreiben, was er nach dem Krieg macht. Mir scheint, dass nicht alle an das Kriegsende glauben. Die Jüngeren erinnern sich nur nebelhaft daran, wie das Leben verlief“. Korczak, Pami˛etnik i inne pisma z getta, S. 243. 35 Korczak, Wie man ein Kind lieben soll, S. 74. 36 Janusz Korczak, Sämtliche Werke, hg. v. Friedhelm Beiner und Erich Dauzenroth, Bd. 13: Ein hartnäckiger Junge; Publizistik für Kinder und Jugendliche; Berichte und Geschichten aus den Waisenhäusern, bearbeitet und kommentiert von Friedhelm Beiner und Silvia Ungermann, Gütersloh 2003, S. 370.
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Die zitierte Stelle verdeutlicht noch einmal die Bedeutung verantwortungsvoller Erziehung „in Ehrfurcht vor dem Guten und Schönen und vor der Freiheit“. 37 Korczak folgend, sei nur sie eine brauchbare Investition in ein besseres Morgen. Die bisherige Anwendung von Gewalt in der Erziehung brachte – wenn überhaupt – nur kurzfristig sichtbaren Nutzen; langfristig bewirkte sie nichts Gutes. Genauso wie die Gewalt unausweichlich zum Krieg führte, so versagten auch andere Maßnahmen, ihn zu verhindern. „Die Diplomatie schützt ebenso wirksam vor einem Kriegsausbruch wie Gebete“, 38 bekannte einmal ironisch der pragmatische Korczak.
IV Korczaks Werk eignet sich vorbildlich für die Anwendung des hermeneutischen Zirkels. Einerseits vertieft die Kenntnis seines Gesamtwerks den Einblick in „Wie man ein Kind lieben soll“, andererseits speist sich die überzeugende Analyse seines Œuvres aus dem Studium einzelner Schriften. Im vorliegenden Aufsatz kommt zwar der Tetralogie die größte Bedeutung zu, es werden jedoch auch andere Werke herangezogen, zumal wenn sie inhaltlich verwandt sind und sich zeitlich anschließen. Sie ergänzen und setzen dasjenige fort, was sich Korczak in seiner Tetralogie mit der Umwertung der Erziehung vorgenommen hat. Mit „Wie man ein Kind lieben soll“ wendet sich der Autor ausschließlich an Erwachsene. Mit seinem vier Jahre später erschienenen Roman „König Hänschen I.“ geht er einen Schritt weiter. Zu seiner Zielgruppe gehören nun beide Seiten des Erziehungsprozesses, Erwachsene und Kinder. Die Idee, einander näherzukommen, setzt Gegenseitigkeit voraus. Einerseits werden Kinder in den Alltag der Erwachsenen hineingezogen, andererseits lernen Erwachsene zu sehen, fühlen und denken, wie es Kinder tun. Dabei lernen sie nicht nur vom Kind, sondern vielmehr das Kind (und über das Kind sich selbst) kennen. Es wird ihnen klar, dass sie nicht zum Kind, sondern mit dem Kind sprechen. Aus der märchenhaften Geschichte über den Thronfolger Hänschen lässt sich vielfältiger Nutzen für beide Seiten ziehen. Erstens handelt das Buch von der Emanzipation des Kindes. Das Kind ist kein Eigentum der Eltern. Das sich daraus ergebende Recht, so zu sein, wie es ist, hat zur Folge, dass das Kind auch anders als seine eigenen Eltern sein und werden darf. Zweitens erkennt Korczak – u. a. in Anlehnung an Zarathustra als den Propheten des Übermenschen – einen idealen Lebensweg für das Kind. Korczak ist der Ansicht, dass für jede Gesellschaft, die zahlreiche Randgruppen einschließt, in erster Linie das Geben und Helfen konstitutiv ist. Dabei soll solch ein Geben ange-
37 Korczak, Wie man ein Kind lieben soll, S. 158. 38 Korczak, Tagebuch aus dem Warschauer Ghetto 1942, S. 93.
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strebt werden, das nichts zurückverlangt. 39 In diesem Kontext ist für Korczak entscheidend die Liebe – „nicht eine Liebe, die nimmt, sondern eine, die gibt, keine gleichberechtigte Liebe, sondern eine Zuwendung aus der Perspektive des Kindes“. 40 Drittens hebt „König Hänschen“ Altersunterschiede auf. Wie der Verfasser selbst bemerkt, sind die heutigen Kinder Eltern der Menschen von morgen. Somit versucht Korczak auch auf der Ebene der literarischen Gattung, eine Gemeinschaft zu stiften, anstatt die Leser (als Zielgruppe) zu spalten. Die Generationen sollen verbunden sein, nicht getrennt. Korczaks feste Überzeugung, dass „die Weltveränderung und Gestaltung einer ‚besseren Zukunft‘“ 41 nur durch die Erziehung möglich ist, lässt die „Synthese des Kindes“ zur „Synthese des Staates“ 42 heranreifen. Viertens ist eines der Hauptthemen des Romans die Welt der Politik. Im Allgemeinen äußert sich in ihm der Versuch, die Politik breiteren Schichten zugänglich zu machen. Im Einzelnen kämpft Korczak hier gegen die geläufige Vorstellung, es gebe für Kinder ungeeignete bzw. vor ihnen zu verbergende Themen. Das Interesse der Kinder an den Fragen der Politik, des Todes oder ihres Körpers darf, so Korczak, nicht heruntergespielt werden. Fünftens erfüllt die Sensibilisierung der Kinder für politische Angelegenheiten eine soziale Funktion, sie führt nämlich zum Aufund Ausbau der bürgerlichen Gesellschaft. Die Kinder erfahren, dass sie den Erwachsenen gleich realen Einfluss auf die Gestalt der sozialen Ordnung und der zwischenmenschlichen Beziehungen, die Güterverteilung, die Qualität der Legislative haben. So kann man zwar resümieren, dass Erzieher erziehen und gleichzeitig (von Kindern) erzogen werden oder dass beide Seiten die gleichen Rechte genießen, doch voreilig wäre in diesem Zusammenhang der Schluss, dass die Rollen vertauscht werden können. Die Gleichberechtigung sollte keinesfalls dazu führen, dass Kinder die Pflichten der Erwachsenen übernehmen oder an deren Stelle treten. Darüber, dass dies nicht der Sinn der Sache und als Idee gescheitert ist, unterrichtet Korczak schon im ersten Teil des „König Hänschen“-Romans. Die in Rede stehende Gleichberechtigung ist schlicht mit einem größeren Respekt der Erwachsenen vor Kindern gleichzusetzen. „Die gegenwärtige Erziehung ist von dem Grundsatz durchdrungen, dass der Erzieher gegenüber der Gesellschaft für die Kinder verantwortlich ist. Wir möchten
39 „Ich bin nicht dazu da, um geliebt und bewundert zu werden, sondern um selbst zu wirken und zu lieben. Meine Umgebung ist nicht verpflichtet, mir zu helfen, sondern ich habe die Pflicht, mich um die Welt, um den Menschen zu kümmern“. Ebd., S. 78. 40 Sigurd Hebenstreit, Janusz Korczak. Leben – Werk – Praxis. Ein Studienbuch, Weinheim 2017, S. 220. 41 Małgorzata Sobecki, Janusz Korczak neu entdeckt. Pädologe und Erziehungsreformer, Bad Heilbrunn 2008, S. 32. ˙ 42 Igor Newerly, Zywe wiazanie, ˛ Warszawa 1966, S. 203.
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die Erziehung auf Grundsätzen aufbauen, wo der Erzieher vor den Kindern für die Gesellschaft verantwortlich ist“. 43 Der Verfasser von „Wie man ein Kind lieben soll“ hatte in der Liebe die Lösung für die brennenden Probleme seiner Zeit entdeckt. „Der Magen ist hungrig, wenn er keine Nahrung bekommt [. . . ] – und das Herz ist hungrig und traurig, voller Sehnsucht, wenn es nicht mit Liebe erfüllt ist“. 44 Dass die Kinder geliebt werden sollen, war kein Ratschlag mehr, sondern eine Forderung. Da die Kinder aber ein Teil der Gesellschaft und des Volkes sind („Aber die Kinder sind auch Volk“ 45) und weil ihnen dieselben Rechte wie den Erwachsenen zustehen, gewinnt diese Idee einen universalen Charakter, so dass alle Menschen der Liebe bedürfen. Sie tut Wunder, sie ist – wie im Hohelied der Liebe (1. Korinther 13,3) – Beginn und Ende von allem, schließlich fußen auf ihr auch Anerkennung, Akzeptanz, Zugehörigkeit, Vertrauen und Versöhnung. Fehlt sie, so droht dem Menschen die Ausgrenzung, die wohl grausamste, viele Jahrhunderte hindurch angewendete Strafe, die dem Betroffenen einen einsamen Tod brachte. Korczak hat im Krieg zurecht einen Erzfeind der Liebe erkannt. Sollte somit seiner Forderung nach Liebe Genüge geleistet werden, musste in seinem Namen König Hänschen I. fragen: „Wie können wir den Krieg verhindern?“. 46 Bevor auf diese Frage eingegangen wird, sollte man darauf hinweisen, dass Korczak sich zum Krieg als Zivilist und Soldat äußert. Einerseits fällt er bestimmten Vorstellungen vom Krieg zum Opfer, andererseits nimmt er zu ihm Stellung als Zeitzeuge, als jemand, der insgesamt vier Kriege (den russischjapanischen Krieg 1904–1905, den polnisch-sowjetischen Krieg 1919–1921 und die beiden Weltkriege) erlebt hat. Dem Roman „König Hänschen I.“ ist zu entnehmen, dass die Bereitschaft, Kriege zu führen, mit der Staatsform einhergeht. Bereits in „Wie man ein Kind lieben soll“ heißt es: „Macht verdirbt den Charakter!“, 47 und einige Jahre später gibt Korczak mit der Geschichte über Hänschen unzweideutig zu verstehen, dass absolute Macht den Charakter absolut verdirbt. Der König verkörpert entweder die absolute Macht oder den Willen, diese zu erlangen. Oft kann nur der Krieg das Erwünschte bewirken. Den Gegensatz dazu bildet die parlamentarische Demokratie als diejenige Regierungsform, die die Macht verteilt. Darüber hinaus trägt das demokratische System zur Entwicklung der Kommunikationskultur bei, denn in ihm ist es üblich, Konflikte anders als blutig auszutragen, sie diskursiv zu lösen. 43 Janusz Korczak, Sämtliche Werke, hg. v. Friedhelm Beiner und Erich Dauzenroth, Bd. 9: Theorie und Praxis der Erziehung; Pädagogische Essays 1898–1942, bearbeitet und kommentiert von Friedhelm Beiner, Gütersloh 2004, S. 207. 44 Korczak, Pami˛etnik i inne pisma z getta, S. 272. 45 Korczak, König Hänschen I., S. 129. 46 Ebd., S. 132. 47 Korczak, Wie man ein Kind lieben soll, S. 273.
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Korczak lässt es aber dabei nicht bewenden; er meint, dass den Krieg auch eine bestimmte Denkart herbeiführen kann. Es geht um die Unterscheidung zwischen „wir“ und „sie“, um die „Unterscheidung von Freund und Feind“. 48 Sie stiftet Hass und Feindseligkeit nicht nur fremden Völkern, sondern auch bestimmten Gruppen der eigenen Nation gegenüber (Bürgerkrieg). Unter Bezug auf Sentenz „divide et impera“ („teile und herrsche“) fragt Korczak rhetorisch: „Trennen, trennen, trennen. Nicht vereinigen. Was würden die Menschen denn dann tun?“. 49 Es hat keinen Sinn, die bereits uralten Mythen zugrunde liegende Unterscheidung zwischen „wir“ und „sie“ zu bekämpfen. Sie kann nicht verschwinden. Dessen ist sich Korczak sehr wohl bewusst. Schließlich bildet sie die Grundlage jeglicher Identität. Korczak will aber gleichzeitig den Glauben nicht aufgeben, dass – erstens – die genannte Unterscheidung sich sublimieren lasse und dass – zweitens – die größere Anziehungskraft in der Annäherung der Menschen liege. Unterschiede sollen keine unüberwindlichen Grenzen setzen, sondern dem Kulturtransfer zugutekommen. „Und wir sind unterschiedlich, und niemand bringt mich deswegen um“, 50 imaginiert er kontrafaktisch im „Tagebuch aus dem Warschauer Ghetto“. Die Ansicht, dass die Andersartigkeit entweder zu hinterfragen sei oder als Chance zuerst erkannt, dann genutzt werden solle, gehört zum Kern seiner Pädagogik der Liebe. Da heißt es auf der einen Seite, die Unterschiede zwischen Kindern und Erwachsenen (z. B. im Hinblick auf Menschenrechte) oder zwischen Geschlechtern aufzuheben, auf der anderen Seite, voneinander zu lernen, dem Gegenüber neue Impulse abzugewinnen. „König Hänschen“ setzt sich nicht mit Unterschieden, sondern mit deren Missbrauch durch politische Lager auseinander. Differenzen zwischen verschiedenen Völkern oder den eigenen Landsleuten dürfen nicht als Vorwand dienen, alte Abgrenzungen zu verstärken oder neue festzusetzen. Ganz im Gegenteil: sie sollen zum Kulturtransfer anregen. Hänschen zeigt sich als Einziger dazu bereit, Beziehungen zum afrikanischen König Bum-Drum aufzunehmen. Die Ideen der Aufgeschlossenheit dem Anderen gegenüber, der Einbindung seiner Kräfte durch wirtschaftliche, kulturelle und wissenschaftliche Beziehungen und der Fähigkeit zur Zusammenarbeit muten sehr modern an. In Korczaks Roman äußern sie sich in der Anerkennung der Stärken von anderen Figuren. Im Einzelnen stellt Hänschen außer der besonderen Aufnahmefä-
48 Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien, Berlin 1991, S. 18. Weiter schreibt Schmitt: „Die Menschheit als solche kann keinen Krieg führen, denn sie hat keinen Feind, wenigstens nicht auf diesem Planeten. Der Begriff der Menschheit schließt den Begriff des Feindes aus, weil auch der Feind nicht aufhört, Mensch zu sein und darin keine spezifische Unterscheidung liegt“ (S. 54– 55). 49 Korczak, Tagebuch aus dem Warschauer Ghetto 1942, S. 87. 50 Korczak, Pami˛etnik i inne pisma z getta, S. 278.
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higkeit der afrikanischen Gleichaltrigen Klu-Klu auch ihre beeindruckende Geschicktheit fest. Man braucht kaum hinzuzufügen, dass dies Fähigkeiten sind, die bei den Kindern besonders hoch im Kurs stehen. Sie lassen sich in der Kinderwelt durch keine anderen überbieten. Parallel dazu halten sich in Hänschens Königreich auf Hänschens Einladung tausend afrikanische Kinder mit dem Ziel auf, nach der Rückkehr in ihre Heimat das neugewonnene Wissen zu implementieren. Doch nicht nur im Steinewerfen und Bogenschießen, beim Pilzesammeln und Nüssepflücken war Klu-Klu die Erste. Ich will schon gar nicht von Botanik, Zoologie, Geographie und Physik sprechen, in diesen Fächern war Klu-Klu sowieso die beste Schülerin. Sie brauchte eine Pflanze oder eine Fliege nur ein einziges Mal auf einem Bild gesehen zu haben, dann erkannte sie sie in Wiese oder Wald immer wieder. [. . . ] Die Dorfkinder hatten in diesem Sommer viel Spaß. Fast alle Spiele waren gemeinsam. Und sie lernten von Klu-Klu nicht nur neue Spiele, neue Märchen und Lieder, sie zeigte ihnen nicht nur, wie man Bogen und Laubhütten macht, wie man Körbe und Hüte flicht, wie man Pilze sammelt und trocknet. Klu-Klu, die doch vor zwei Monaten noch nicht einmal ihre Sprache konnte, wurde nun die Lehrerin der Gänsemädchen und brachte ihnen das Lesen bei. 51
Als verfehlt erweist sich deshalb die von Manfred Liebel formulierte These, laut derer der Verfasser von „König Hänschen“ „vom europäischen oder ‚weißen‘ Überlegenheitsgefühl, das gegenwärtig als Eurozentrismus oder Rassismus bekannt ist, erfüllt zu sein scheint“. 52 Belege dafür, dass Korczak „wahrscheinlich unabsichtlich rassistische Stereotype gefestigt hatte“, 53 anstatt sie abzubauen, sollen nach Liebel in der Sprache, Handlungsführung und Charakterkonstruktion des Romans liegen. Diese These lässt sich mehrfach entkräften. Im Roman trifft man zwar in der Tat auf Stellen, die man heute – sprachlich und gedanklich gesehen – als rassistisch ansehen müsste, jedoch wird damit die Sprache der voreingenommenen Erwachsenen vor Augen geführt. Korczak legt und stellt sie nur bloß, um sich samt der Kinder von ihr abzukehren. Dass sich dieser Sprache auch Kinder bedienen, liegt am Phänomen der Nachahmung oder an der Kultur überhaupt, da Menschen hauptsächlich durch Nachahmung lernen (dies – ganz am Rande bemerkt – sowohl im Guten als auch im Schlechten). Sollen die bedenklichen Verhaltens- und Ausdrucksweisen der Eltern von den Kindern nicht übernommen werden, müssen die Eltern mit der mühsamen Arbeit der Erziehung an sich selbst beginnen:
51 Korczak, König Hänschen I., S. 186–189. 52 Manfred Liebel, „Białe“ dzieci – „czarne“ dzieci. Rozwa˙zania nad powie´scia˛ dla dzieci o małym królu Maciusiu Janusza Korczaka, in: Manfred Liebel / Urszula MarkowskaManista, Prawa dziecka w kontek´scie multikulturowo´sci. Janusz Korczak na nowo odczytany, Warszawa 2017, S. 108. 53 Ebd., S. 121.
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„Pfui, Klu-Klu“, sagte der Professor, „woher hast du nur diese häßlichen Worte? Du verstehst doch wohl nicht, was sie bedeuten“. Klu-Klu darauf: „Die drei Worte sagte der Träger, als er die Kiste auf die Schultern nahm. Die vier Worte hat er gesagt, als er gestolpert und beinahe hingefallen ist. Das sagte immer unser Wärter, wenn er uns zu essen gab. So schrien die Matrosen, wenn sie betrunken waren“. 54
An den von Liebel inkriminierten Stellen spricht also nicht Korczak, zu Wort kommen dort die von ihm kritisch gezeichneten Erwachsenen oder Kinder, die ihre Eltern zu imitieren pflegen. Der Vorwurf, Korczak neige zum Rassismus, ist somit unhaltbar, zumal man auch davon ausgehen kann, dass er zum rhetorischen Mittel der ironischen Überzeichnung oder der – wie Slavoj Žižek in Bezug auf das Werk der slowenischen Musikgruppe Laibach formuliert hat – „Über-Identifizierung“ greift. Diese Strategie hilft, die Absurdität von Ideologien, in diesem Fall von nationalen Stereotypen zu entlarven. Korczak war diese Verfahrensweise vertraut. Er wandte sie u. a. im 88. Aphorismus „Das Märchen von den Völkern“ seines Werks „Wie man ein Kind lieben soll“ an: Der Mohr ist schwarz, damit man nicht erfährt, wie er sich wäscht. Seine Zunge ist nicht schwarz, und ebenso wenig seine Zähne. Ein Teufel ist er nicht: er hat weder Hörner noch einen Schwanz. Seine Kinder sind auch schwarz. Sie sind schrecklich wild: sie essen Menschen. Sie glauben nicht an Gott, sondern an Frösche. Früher haben sie alle an Bäume geglaubt, denn sie waren dumm. 55
Darüber hinaus muss man betonen, dass nicht Korczak, sondern seine Zeit chauvinistisch war. Ihm stand es nicht frei, unter verschiedenen Worten für Schwarze zu wählen. So verweist die Bezeichnung „ein Negermädchen“ 56 für Klu-Klu eher auf sprachliche Phänomene der geschichtlichen Prägung als Ungereimtheiten innerhalb der emanzipatorischen Bestrebungen Korczaks. Am Ende sei noch erwähnt, dass der Begründer der Pädagogik der Liebe in keinem einzigen Buch Hochmut gegenüber anderen Menschen zeigt. Jene Stellen in der „Hänschen“-Geschichte, die Liebels Misstrauen erwecken, erscheinen in einem ganz anderen Licht, wenn man sie nicht gesondert, sondern als Teil des Lebens und Werks von Korczak betrachtet. Schließlich wusste er als Jude, der von klein auf antisemitischen Vorfällen ausgesetzt war, genau, wohin die nationalen Animositäten unter Menschen führen. Bildung scheint in diesem Kontext die beste Investition in die Zukunft zu sein, auch weil zum selbständigen Denken ausgebildete Menschen sich nur schwer manipulieren lassen. Einen Gegensatz zur emanzipierten Gesellschaft bildet somit die Armee mit ihrer autoritären Hierarchie und blindem Gehorsam; „zum zweiten Mal überzeugte sich Hänschen davon, daß man beim 54 Korczak, König Hänschen I., S. 177. 55 Korczak, Wie man ein Kind lieben soll, S. 107. 56 Korczak, König Hänschen I., S. 116.
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Militär nicht lange überlegen darf, sondern jeden Befehl sofort ausführen muß“. 57 Anstatt ins Feld zu ziehen, sollte Hänschen auf die Schule gehen, erfährt er von der Frau eines Weichenstellers, die sich während des Feldzugs seiner annimmt. Dem Kriegsminister zum Trotz, der insistiert: „Wir dürfen eben keine Ausgaben für Kanonen, Gewehre und Festungen scheuen [. . . ]. Ja, ja, Kanonen sind wichtiger als Schokolade und Puppen“, 58 wagt Hänschen, den König des benachbarten Landes zu besuchen, gegen den er eine Zeitlang Krieg geführt hatte, und seine Rede an die Einwohner der fremden Hauptstadt mit folgenden Worten zu eröffnen: „Ich bin euer Freund!“. 59 Diese Erklärung stammt zwar von einem König, sie verrät jedoch sehr viel von der Disposition der Kinder, von deren Fähigkeit, zu vergessen und zu verzeihen. Einen Groll mit sich herumzutragen, ist ihnen fremd. Der Schule, für die Korczak plädiert, entspricht die Evolution, dem Krieg die Revolution. Die erste Einrichtung orientiert sich am Eros, die zweite Erscheinung am Thanatos. Die Schule schöpft ihre Legitimität aus der Stärke des Intellekts, der Krieg aus dem Faustrecht; in der Schule waltet homo sapiens, im Krieg homo rapax. Wenn in der Schule der Kampf um die Wahrheit geführt wird, so findet im Krieg der Kampf gegen Menschen statt. Freilich ist bei Korczak die Rede von einem bereits reformierten Schulwesen, die bisherige Schule – für ihn „die Schule des Todes“ 60 – hat sich kompromittiert. In ihr geht es eigentlich genauso wie in der Armee zu; die Kinder werden gedrillt, zu Gehorsam und Untertänigkeit erzogen. Eines der wichtigsten Rechte – das Recht zum Protest – wird im Keim unterdrückt. In deutschen Schulen „bringt man bei, Franzosen und Slawen zu hassen, nicht Kinder zu ernähren“. 61 Die Schule seiner Zeit verlassen nicht Schüler, sondern Rekruten. Als Teil des oppressiven Staatsapparates hat sie sich unterschiedliche Praktiken von social engineering zu eigen gemacht. Sie ist darauf aus, „den Menschen im Menschen abzutöten“. 62 Patriotismus und Nationalismus trennt nicht selten nur eine dünne Linie; unbeabsichtigt kann man von einer Erinnerungskultur, die verbindet, zu einer Erinnerungskultur, die trennt, übergehen. Der entscheidende Schritt zur Verhinderung von Krieg muss deshalb in der Umgestaltung der Lehrpläne bestehen; all das, was den Weg zum Krieg direkt oder indirekt ebnet, sollte aus ihnen beseitigt werden. Im besprochenen Roman verdeutlicht das die Botschaft über die Aufrüstungsmaßnahmen des anderen Königs, die Hänschen durch einen Spion überbracht wird: „So ein Schurke! [. . . ] Ich habe im Wald Kinderheime gebaut, damit die Jungen und Mädchen im Sommer
57 58 59 60 61 62
Ebd., S. 51. Ebd., S. 170. Ebd., S. 89. Janusz Korczak, Pisma wybrane, Bd. III, Warszawa 1978, S. 155. Janusz Korczak, Pisma wybrane, Bd. II, Warszawa 1978, S. 24. Milena Palczewska, Socjologia wojny, Warszawa 2017, S. 37.
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aufs Land fahren können, und der macht im Wald Kugeln und Kanonen, um meinen Staat zu überfallen und zu vernichten, was ich gebaut habe“. 63 Korczaks Plädoyer für die Kinder und gegen den Krieg – „nicht der Krieg ist das Abenteuer, sondern der Kampf für den Frieden“ 64 – deckt sich mit den Interessen liebender Eltern. Während ihre Kinder ihnen das Wertvollste auf der Welt sind, zählt ihr Nachwuchs für den Staat nur als willenloses Kanonenfutter. Dies zeigt der Tod der Soldaten: Während für die Eltern die Welt zusammenbricht, gehören für den Staat fallende Soldaten zur Statistik. Korczak erweitert die Perspektive, indem er sich um feinere Differenzierung bemüht. Er erwartet, dass die Eltern aufhören, ihre Ambitionen und Aspirationen in ihre Kinder zu projizieren. In der Pädagogik sollte man sich kein anderes Ziel setzen als das einer glücklichen und gesunden Kindheit. Dazu gehört auch der Verzicht darauf, beiden Geschlechtern feste Rollen zuzuschreiben (man kann hier wohl bemerken, dass Korczaks Einsichten den Gender-Diskurs vorwegnehmen). „Es darf nicht sein, daß vermögender Eltern Kind ein Handwerker wird. Es mag lieber ein unglücklicher und demoralisierter Mensch aus ihm werden. Keine Liebe zum Kind, sondern Egoismus der Eltern, nicht das Wohl des Einzelnen, sondern die Ambitionen des großen Haufens, kein Suchen nach gangbaren Wegen, sondern die Fessel der Schablone“. 65 Im Gesamtwerk Korczaks wird nur zweimal der deutsche Philosoph Friedrich Nietzsche erwähnt. Die beiden Stellen weisen jedoch eine große symbolische Bedeutung auf. Der erste Bezug geht auf das Jahr 1901 zurück, der zweite und letzte zugleich fällt ins Jahr 1942. In diesem Kontext mag die These zutreffen, dass Korczaks furor philosophicus von Nietzsche bestimmt wird. Doch mit einer Einschränkung. Zwar bildet der Autor des „Zarathustra“ den Ausgangs- und Schlusspunkt der philosophischen Auseinandersetzung, doch in seinen „Gesprächen“ 66 mit dem Meister Zarathustra scheut Korczak nicht vor Kritik zurück. Für Korczak nämlich stößt die Aussagekraft des NietzscheWorts „Was mich nicht umbringt, macht mich stärker“ 67 angesichts von Kindern im Krieg an ihre Grenzen. Ohne weise Obhut von Erwachsenen sind sie dazu verurteilt, in Kriegswirren umzukommen oder in ihrem Leben die Orientierung zu verlieren. 63 64 65 66
Korczak, König Hänschen I., S. 158. Hebenstreit, S. 134. Korczak, Wie man ein Kind lieben soll, S. 10. „Auch ich hatte die Ehre, mit Zarathustra zu sprechen. [. . . ] Derselbe Zarathustra hat mich etwas anderes gelehrt. Vielleicht hatte ich ein besseres Gehör, vielleicht hatte ich aufmerksamer zugehört. Hierin stimmen wir überein: der Weg des Meisters und der meine, der seines Schülers, waren beschwerlich“. Korczak, Tagebuch aus dem Warschauer Ghetto 1942, S. 21. 67 Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Bd. 6: Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophirt, Berlin 1999, S. 60; der zitierte Aphorismus trägt den Titel: „Aus der Kriegsschule des Lebens“.
Literarische Klassiker des Krieges
Rafał Biskup
(Uniwersytet Wrocławski)
Viktor Kaluzas Roman „PG 3717: In französischer Kriegsgefangenschaft“ Ein Pendant zu Erich Maria Remarques „Im Westen nichts Neues“?
I Könnte es sein, dass Viktor Kaluzas Debütroman „PG 3717: In französischer Kriegsgefangenschaft“ (erschienen 1931 im Avalun-Verlag in Hellerau bei Dresden) von Erich Maria Remarques Erfolgsroman „Im Westen nichts Neues“ unmittelbar beeinflusst wurde? Betrachtet man die Veröffentlichungsdaten der beiden Romane, so wäre ein direkter Einfluss Remarques auf Kaluza durchaus möglich. Remarques Roman erschien als Vorabdruck in der „Vossischen Zeitung“ ab dem 10. November 1928, Ende Januar 1929 dann in Buchform, Kaluzas „PG 3717“ erschien zwei Jahre später. Auch gibt es mindestens zwei weitere Argumente, die für einen direkten Einfluss Remarques auf Kaluza sprächen. Zusammengefasst wären es dann – mindestens – drei „Spuren“: 1. die Erscheinungszeit, 2. eine deutlich pazifistische und sich gegen die Gräuel des modernen Stellungskrieges aussprechende Positionierung des Erzählers, 3. der Stil, der eindeutig der Strömung der Neuen Sachlichkeit zuzuordnen ist. Gegen diese These spricht jedoch die Tatsache, dass bereits 1929 in der JuliAusgabe der Monatsschrift „Der Oberschlesier“ ein dreiseitiges Fragment des Romans unter dem Titel „Wir türmen (Aus ‚PG 3717‘)“, in dem die Flucht des Hauptprotagonisten aus Frankreich beschrieben wird, veröffentlicht wurde. 1 Sollte Kaluza binnen weniger Monate nach dem Erscheinen von „Im Westen nichts Neues“ einen Roman verfasst haben, von dem er gleich einen Auszug veröffentlichte? Das wäre möglich, jedoch sehr unwahrscheinlich. Über die Umstände der Entstehung und der Veröffentlichung von „PG 3717“ erfährt man aus einer in der Zeitschrift „Der Oberschlesier“ erschienenen Rezension: Unter den Kriegsromanen darf der vorliegende unseres oberschlesischen Dichterlandsmannes Victor Kaluza im kleinen Walddorfe Latscha bei Gleiwitz einer 1 Vgl. Kaluza Viktor, Wir türmen (Aus „PG 3717“), in: Der Oberschlesier 7 (1929), S. 459– 461.
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besonderen Anteilnahme sicher sein. Es ist nur bedauerlich, daß es Victor Kaluza nicht möglich war, diese Arbeit bereits vor einigen Jahren zu veröffentlichen, ehe die Flut der Kriegsromane über uns kam. Als Manuskript lag das Buch bereits lange vor „Im Westen nichts Neues“ fertig da. Aber wir haben uns damals vergeblich bemüht, seine Drucklegung zu ermöglichen. Auch ein Beispiel dafür, wie schwer es für das geistige Oberschlesien ist, sich durchzusetzen. 2
Im zweiten Satz der Rezension äußert der Verfasser das Bedauern über die späte Veröffentlichung des Romans, dessen Manuskript – was im darauffolgenden Satz erwähnt wird – „bereits lange vor ‚Im Westen nichts Neues‘ fertig“ vorlag. Dieser Satz würde die These über einen unmittelbaren Einfluss Remarques auf Kaluzas Roman widerlegen. Man darf annehmen, dass der Rezensent die Wahrheit geschrieben hat, wo er davon berichtet, dass Kaluzas Manuskript noch vor Remarques Roman abgeschlossen gewesen sei. Dafür spräche die bereits erwähnte Tatsache der Veröffentlichung eines Auszugs in der Juli-Ausgabe des „Oberschlesiers“ 1929, also nur wenige Monate nach dem Erscheinen von Remarques Roman. Es ist zudem möglich, dass Kaluza – durch den überwältigenden Erfolg von „Im Westen nichts Neues“ ermuntert – in dieser Zeit stärker versuchte, einen Verleger für sein Buch zu finden, was sich jedoch als keine leichte Aufgabe erwies. „Aber wir haben uns damals vergeblich bemüht, seine Drucklegung zu ermöglichen“, heißt es in der zitierten „Oberschlesier“-Rezension. Kaluza ließ in den Jahren 1929 und 1930 wenig unversucht, um seinen Roman zu verlegen. Es sind einzelne Spuren überliefert, die darauf hinweisen. Gerhart Pohl, Herausgeber der Zeitschrift „Die neue Bücherschau. Eine literarische Monatsschrift. Dichtung, Kritik, Grafik“, schrieb in einem Brief an Kaluza: „Wenn ich für Ihr Buch ‚P. G. 3717‘ etwas tun soll, so bitte ich um Ueberlassung eines Manuskriptes“. 3 Kaluza musste anscheinend Pohl um Hilfe bei der Verlegung des Romans gebeten haben. Die genauen Umstände der Veröffentlichung des Romans lassen sich jedoch nicht ergründen. Interessant ist, dass Kaluza für den „PG 3717“-Roman bereits 1929, zwei Jahre vor der Buchausgabe, mit dem Eichendorff-Preis ausgezeichnet wurde. Diese Information findet sich u. a. in einem anlässlich von Kaluzas sechzigstem Geburtstag erschienenen Aufsatz von Rudolf Pikola aus dem Jahr 1956 in der von ihm mitbegründeten Zeitschrift „Der Turmhahn“. Über „PG 3717“ wird darin berichtet:
2 N.N., Victor Kaluza, P G 3717. In französischer Kriegsgefangenschaft. 191 Seiten, Avalun-Verlag, Hellerau, in: Der Oberschlesier 4 (1931), S. 242. Ein Verfasser der Rezension wird nicht angegeben, alles deutet jedoch darauf hin, dass der Herausgeber des „Oberschlesiers“ selbst, Karl Sczodrok, Autor der Rezension war. 3 Gerhart Pohl an Victor Kaluza (vom 13. Mai 1930), Privatarchiv Viktor Kaluza in Holzkirchen.
Viktor Kaluzas Roman „PG 3717: In französischer Kriegsgefangenschaft“
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Ein paar Jahre darauf aber war aller Traum von Kindheit und Jugend zu Ende. Als der Erste Weltkrieg ausbrach, zog der Achtzehnjährige mit dem stets mißbrauchten Idealismus der Jugend als Freiwilliger ins Feld, um 1920 als überzeugter Pazifist zurückzukehren. Vier Jahre hatte er in französischer Gefangenschaft verbracht, war sechsmal ausgerissen, schon bis zur spanischen Grenze gekommen und immer wieder geschnappt worden. Später wurde aus den Erinnerungen an diese Zeit ein Buch: „PG 3717“. Die schwarz-weiß-rote Presse fiel wild darüber her, andere schrieben: „Hier spricht ein Dichter über das Schicksal seines Volkes“, 1929 wurde es mit dem Eichendorff-Preis ausgezeichnet. Das Buch klagt nicht, klagt nicht einmal an, aber allein durch das, was es aussagt, ist es Anklage: daß Menschen so an Menschen handeln, weil die Herren einer widersinnigen und verlogenen Gesellschaftsordnung es so wollen. Dabei ist aber das Buch so sehr Kunst, daß man nicht nur mit Spannung den Verlauf der äußeren Handlung verfolgt, sondern auch die sonnige und heitere Atmosphäre des südlichen Frankreichs spürt, daß einem der Mensch in allen seinen Armseligkeiten und Liebenswürdigkeiten begegnet und daß die humorvolle und pointierte Art des Erzählens dem Leser immer wieder ein Lächeln ins Herz zaubert. Und manchmal könnte man, wenn man mit dem Ausreißer durch die sternenhellen Nächte tippelt, vergessen, daß man einen ausgehungerten Kriegsgefangenen zur Seite hat: ist das nicht Eichendorffs Taugenichts, der mit seiner Geige unter dem Arm an den schlafenden Gärten und Palästen des Südens dahinwandert? 4
Mit dieser „Atmosphäre“ sind die von Kaluza kreierten neoromantischen Gemüts- und Landschaftsschilderungen gemeint, die einen deutlichen Gegenpart zu den Kriegs- und Fluchtdarstellungen im Roman bilden. Auf einige Passagen dieser Art wird noch eingegangen werden. Unbestritten ist, dass ab der zweiten Hälfte der 1920er Jahre Kriegsromane 5 eine Art Renaissance erlebten. Helmuth Kiesel äußert sich über diese „Wiederkehr“: Warum aber kam es zu dieser „Wiederkehr des Weltkrieges in der Literatur“? Vermutlich wirkten mehrere Faktoren zusammen. Das große Aufsehen, das der Vorabdruck von Arnold Zweigs „Streit um den Sergeanten Grischa“ in der „Frankfurter Zeitung“ im Sommer 1927 erregte, dürfte von Verlegern und Autoren als Zeichen dafür verstanden worden sein, daß über den Krieg noch längst nicht alles gesagt und öffentlich erörtert worden war. 6
4 Rudolf Pikola, Ein Oberschlesier in Oberbayern. Viktor Kaluza zum Sechzigsten, in: Der Turmhahn 9 (1956), S. 377–378. 5 Zur Gattung „Kriegsroman“ vgl. Florian Brückner, Der Kriegsroman der Weimarer Republik. Methoden, Desiderata, Forschungsperspektiven, in: Jahrbuch zur Kultur und Literatur der Weimarer Republik 17 (2015/16), S. 148. 6 Helmuth Kiesel, Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1918 bis 1933, München 2017, S. 771.
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Einige Zeilen weiter kommt Kiesel auf den unbestreitbaren Einfluss Remarques auf die Ende der zwanziger und Anfang der dreißiger Jahre „explosionsartig“ erscheinenden Kriegsromane zu sprechen: Jedenfalls stieg die Zahl der erzählerischen Kriegsbücher 1927 und 1928 leicht an, bevor sie 1929 nach dem sensationellen Erfolg von Erich Maria Remarques Bestseller „Im Westen nichts Neues“, der ab dem 10. November 1928 in der „Vossischen Zeitung“ vorabgedruckt wurde, explosionsartig zunahm. [. . . ] Entscheidend war aber doch wohl Remarques Konzept, das durch eine neue Darstellungsweise eine neue Sicht auf den Krieg eröffnete und zugleich ein neues Muster für Kriegsliteratur stiftete. 7
Die eingangs erwähnten Parallelen zwischen den beiden Romanen, die neusachliche Sprache und der pazifistische Grundton, sollten jedoch über deutliche Unterschiede zwischen den beiden Werken nicht hinwegtäuschen. Der erste deutliche Unterschied ist, dass Remarques Roman die Front darstellt, während „PG 3717“ Kämpfe nur vereinzelt schildert. Der zweite Unterschied, auf den Helmuth Kiesel aufmerksam macht, ist gravierender, da er Fragen der Gattung betrifft: während man bei Remarque von einem „Gruppenroman“ 8 sprechen darf, hat man es im Falle von „PG 3717“ mit einer „autobiographisch wirkenden Kriegsdarstellung aus der Sicht eines Einzelnen“ 9 zu tun, was allein schon der Titel des Buches vermittelt. PG 3717 ist die Identifizierungsnummer des Erzählers, die ihm in der französischen Gefangenschaft zugewiesen wurde („PG“ selbst ist die Abkürzung von prisonnier de guerre, was „Kriegsgefangener“ bedeutet). Somit wird allein schon mit dem Titel der Anspruch auf die Authentizität des Werkes gefestigt. Zusätzlich vermerkt der Autor im „Vorwort“ zu seinem Roman: Ich war vom 20. Juli 1916 bis zum 3. März 1920 in französischer Gefangenschaft. Das sind drei Jahre und 225 Tage, eine tote Zeit, eine Lücke in meinem Leben, von der zu berichten ich hier versuche. Aber wie soll man eine Lücke schildern? Was mir von dem Erlebnis jener Tage im Gedächtnis haften blieb, habe ich zu Papier gebracht. Vieles war schlimmer als ich es heute sehe. Es gibt gute und böse Menschen hüben wie drüben. 10
7 Ebd., S. 771–772. 8 „Remarque schilderte den Krieg aus der Sicht einer acht Köpfe zählenden Gruppe einfacher Soldaten, deren Repräsentant – der Erzähler des Romans – zumeist in der verallgemeinernden Wir-Form spricht. Er stiftete damit das Paradigma des soldatischen Gruppenromans, das sogleich aufgegriffen und mehrfach realisiert wurde, wie an Titeln und Untertiteln abzulesen ist. [. . . ] Das Muster des Gruppenromans erwuchs also aus der soldatischen Erfahrung und hatte, als Remarque es aufgriff, Vorbilder. Aber Remarque zeigte seine Vorzüge und machte es geradezu unwiderstehlich attraktiv“. Ebd., S. 772. 9 Ebd. 10 Viktor Kaluza, PG 3717: In französischer Kriegsgefangenschaft, Hellerau 1931, S. 5.
Viktor Kaluzas Roman „PG 3717: In französischer Kriegsgefangenschaft“
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Aus dieser Einleitung werden mindestens zwei Dinge ersichtlich. Erstens liegen dem Roman keine Tagebücher zugrunde, 11 wie etwa im Falle der „Stahlgewitter“ von Ernst Jünger, sondern der Roman wurde mithilfe der Dichtung-und-Wahrheit-Methode verfasst („Was mir von dem Erlebnis jener Tage im Gedächtnis haften blieb“). Der Autor schildert seine Gefangenenzeit also aus einer zeitlichen Perspektive. Zweitens wird mit dem letzten Satz des „Vorwortes“ der pazifistische und antinationalistische Grundton des Romans deutlich signalisiert.
II In Ernst Jüngers „In Stahlgewittern“ heißt es: Punkt zwölf Uhr eröffnete unsere Artillerie eine heftige Kanonade, die vielfach in den Waldschluchten widerhallte. Zum ersten Mal vernahmen wir hier das schwere Wort „Trommelfeuer“. Wir saßen auf den Tornistern, untätig und erregt. Ein Gefechtsläufer stürzte zum Kompanieführer. Hastige Worte. „Die drei ersten Gräben sind in unserer Hand, sechs Geschütze erbeutet!“. Ein Hurra flammte auf. Draufgängerstimmung erwachte. 12
Mit einem „Trommelfeuer“ beginnt auch der Roman „PG 3717“: Trommelfeuer! Man sollte ein anderes Wort dafür erfinden. Trommelfeuer! Das klingt wie „Gewitter im Mai“. Trommelfeuer! War es Absicht, hier unaussprechlich Furchtbares zu beschönigen? Trommelfeuer! Das ist nicht das Wort. Das Wort? Es gibt kein Wort dafür. Bücher sind darüber geschrieben worden, aber sie sagen es nicht. Trommelfeuer! Trommelfeuer! Trommelfeuer! 13
Schon mit den ersten Zeilen des Romans wird eine für die damalige Epoche spezifische – neusachliche – Sprache erkennbar. Die zitierte Passage verweist auf einen Versuch des Erzählers, das Unaussprechliche mithilfe von Worten auszudrücken:
11 Der Erzähler gibt am Anfang des Romans an, zwar ein Tagebuch geführt, es jedoch vernichtet zu haben: „Es fällt mir ein, daß ich in der Brieftasche paar französische Ansichtskarten habe. Ich hole sie hervor und werfe sie in die Ecke. Dann zerreiße ich mein Tagebuch und schiebe die Fetzen mit dem Soldbuch hinter ein Stollenbrett. Als ob mir das Soldbuch was schaden könnte“. Ebd., S. 12. 12 Ernst Jünger, In Stahlgewittern, Stuttgart 391998, S. 26. 13 Kaluza, S. 9.
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Mit dem Morgengrauen des 20. Juli 16 fallen wir irgendwo bei Soyecourt in den Unterstand, fertig, mürbe, erledigt. Hinten liegt einer mit zerschmetterten Beinen. Er heult kläglich: „Wenn das meine Martha wüsste, wenn das meine Martha wüsste“. Halt die Schnauze. Sanitäter, Sanitäter. Der Sanitäter steht auf der Treppe und sagt: „Ich bin nicht da“. Ist er um den Verstand gekommen? 14
Gleich auf der zweiten Seite des Romans erscheint die erste Darstellung des Todes. Der Anblick einer Leiche wird mit einem kurzen „Wenn schon“ quittiert, wodurch der Eindruck vermittelt wird, dass die allgegenwärtige Anwesenheit des Todes zu einer emotionalen Abhärtung oder sogar Abstumpfung der Soldaten führt. Mit dem Niedersacken neben der Leiche wird auch die immense körperliche Erschöpfung der Soldaten ausgedrückt: An der Wand liegt einer ausgestreckt. Ich stoße ihn mit dem Fuße: „He, Kamerad, mach dich nicht so breit!“. Er rührt sich nicht. Ich sacke neben ihn. Sehe, daß er tot ist. Wenn schon. Die Einschläge über mir dröhnen wie Keulenschläge in meinem Schädel. Die Lider klappen mir zu wie Sargdeckel. . . Ich wache auf. Oben ist es still. Ich wache auf, wie man im Eisenbahnzug aufwacht, wenn die Räder zu rollen aufhören. 15
Die Handlung des „PG 3717“-Romans beginnt „mit dem Morgengrauen des 20. Juli 16“, als während der Schlacht von Verdun Tausende Soldaten auf deutscher und französischer Seite ums Leben kamen. Der vom Verfasser geschilderte Angriff der Franzosen auf deutsche Posten wird vom Autor durch eine für die Neue Sachlichkeit typische sequenzartige Darstellungsweise skizziert. Die Sätze ergeben einen Rhythmus: „Am Stolleneingang liegen zwei Tote. Der Graben ist leer. Wir sind überrannt. Nur ab und zu knallt es über uns weg wie eine Peitsche. Die Morgenluft ist so frisch. Ich trinke sie hastig wie Wasser“. 16 Ein Teil der Kompanie will den Kampf fortsetzen, andere erkennen die Ausweglosigkeit der Lage. Der Ich-Erzähler schildert die „Verwesung“ der Kompanie, diese Verwesung ist jedoch eine Allegorie: nicht die Menschen selbst sind tot, sondern ihr Gemüt, ihre Kampflust, ihre Hoffnung: „Die ganze Kompagnie ist eine Leiche. Ich bin eine Leiche. Meine Leiche ist blau wie eine reife Pflaume. Ob eine Pflaume noch Bauchschmerzen hat? In Gruppenkolonnen marschieren die Poilus 17 über meine Leiche“. 18 Die Ungewissheit nach dem verlorenen Kampf wird nach einiger Zeit zur Gewissheit: „Endlich werden oben Schritte laut und eine Stimme: ‚Heda, ist noch jemand unten?‘. Ein Kamerad. Sind wir gerettet? Da sagt er: ‚Dann
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Ebd. Ebd., S. 9–10. Ebd., S. 11. Poilu: umgangssprachliche Bezeichnung eines französischen Soldaten im Ersten Weltkrieg. 18 Kaluza, S. 11.
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kommt heraus, der Oberleutnant läßt euch sagen, wir sind gefangen‘. Gefangen!“. 19 Als ein weiterer Angriff französischer Einheiten auf deutsche Posten beginnt, wird dem Ich-Erzähler bewusst, worum es in diesem Moment geht: nicht um die Ehre Deutschlands oder des Kaisers, sondern ums nackte Überleben. Im Folgenden sollen ausgewählte Aspekte des Romans geschildert und besprochen werden.
Landschaftsschilderungen Kaluzas quasi neoromantische Landschaftsdarstellungen bilden einen deutlichen Gegenpart zu seinen Kriegs- und Fluchtdarstellungen. Als erstes Beispiel der Beginn des Kapitels „Château Pautard“: „Schön war die Fahrt mit der Bimmelbahn in das sonnige Land. Außer uns, des équipe agricole, mitsamt Korporal und zwei Posten, fuhren nur einige Landleute mit und wir saßen bequem auf den Bänken und sahen hinaus in die Landschaft. Alle waren heiter“. 20 Auch ein in Richtung der Gefangenen zugerufenes „langgezogenes ‚Fritz‘“ dämpft die anhaltende positive Stimmung nicht. „In dieser Landschaft voll Sonne und würzigem Duft war alles gut. Wie weit weg ist die Front, dachte ich“. 21 Der Ort, an den die Gefangenen gebracht werden, wird als „weltentlegen“ bezeichnet, dadurch wird ein Raum jenseits der Kriegswelt, eine Art Parallelwelt, geschaffen. Diese Welt bietet Schutz und Geborgenheit vor den Gräueln der realen Welt und zeichnet sich vor allem durch ihre Natürlichkeit und einen ländlichen Charakter aus: Auf einem weltentlegenen Hügel unter alten Bäumen versteckt eine kleine, halbverfallene Ferme. Darin hausen wir. Daß in den Fenstern Eisenstäbe sind, macht die Sache nur noch romantischer, überhaupt wenn die Feigenblätter davor im Mondlicht geistern und tausend Zikaden zu zirpen anfangen. Es ist so schön und wundersam, wie in einem Gedicht von Eichendorff. Wenn man sich dem Zauber dieses selig einsamen Ortes hingibt, vergißt man, daß man Gefangener ist. Wie weit weg ist der Krieg, wie weit weg. 22
Zwar revidiert die vom Erzähler geleistete Arbeit diesen Eindruck sehr bald („Als wir abends einrücken, spüre ich nichts mehr von dem Reiz der romantischen Ferme und falle zerschlagen auf die Pritsche“ 23), der Aufenthalt auf dem Château Pautard ist aber ein deutlicher Gegenpart zu den Kriegsschilderungen
19 20 21 22 23
Ebd., S. 13. Ebd., S. 44. Ebd., S. 45. Ebd., S. 46. Ebd., S. 47.
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im Roman: „Wie mag es jetzt an der Somme aussehen? Wir sitzen hier, wo ist die Front? Der Mond scheint so friedlich und die Grillen geigen. . . “. Die Lage auf dem Château veranlasst den Erzähler, von einer Welt ohne Krieg zu träumen: „Sonntags! Nach dem Rasieren sitze ich unter den alten Eichen und spintisiere. Fromm läuten Glocken im Lande, das froh und friedlich zu meinen Füßen liegt. Schön müßte es sein, hinunterzugehen, in einem Estaminet einkehren und den Bauern sagen: ich will vom Kriege nichts mehr wissen. . . “. 24 Wenige Seiten weiter: „Der Korporal gibt mir eine Zeitung zu lesen. Vorn stehts groß und fett: Mackensen zieht sich zurück! Der Korporal meint, der Krieg wäre nun bald zu Ende. Das sagen sie immer, wenn die Deutschen eine Niederlage haben. Zu Ende, wäre es endlich so weit. Aber ich glaube das nicht und werde darüber traurig“. 25 Das Kriegsgefangenendasein wie auch der fehlende Kontakt zur Außenwelt verstärken das Empfindungsvermögen des gefangenen Erzählers. Während der Verlagerung des PG von Toulouse nach Cette fährt er mit einem Zug; dabei saugt er förmlich jedes Landschaftsbild auf, das er aus dem Zugfenster erblickt: Einen Tag in der Bahn sitzen und durch die Landschaft fahren, was das für einen Gefangenen bedeutet. . . Auf dem Wege zum Bahnhof war noch die dumpfe Leere der Zelle in mir, roch ich noch den üblen Duft des Kübels, schoben sich unsichtbare Mauern zwischen mich und die Menschen auf der Straße. Aber dann im Abteil, als die Maschine anzog, fiel die Welkheit von mir. Einen Tag in der Bahn sitzen. . . Ich wende keinen Blick vom Fester. Ich trinke gierig die fliehende Landschaft: blonde Felder, Weinberge dunkelgrün, kahle Höhenrücken, weißlich schimmernd, einsame Landhäuser, malerische Dörfer. Und je weiter wir fahren, desto mehr füllt sich der ausgedorrte Brunnen in mir. Und ich empfinde eine stille, beseligende Freude, die später einer um so schmerzlicheren Traurigkeit weicht. Ich denke: das alles gibt es dort draußen, Felder, Weinberge und Höhen und Landhäuser, und du sitzt hier in deiner froschgrünen Zwangsjacke mit dem fetten P G auf Brust und Rücken, kein Mensch, eine Nummer, die bei kärglichstem Fraß möglichst viel Arbeit leisten soll. [. . . ] Gegen Abend hat das sonnensatte Land einen blauen Saum. Das Südmeer! Wir fahren lange an der Küste entlang. Alle sind verstummt. Einsame Segler stehen am Horizont wie große, weiße Schmetterlinge. 26
Der Zustand der Gefangenen Im Laufe des Jahres 1917 wird die herannahende Niederlage Deutschlands immer deutlicher: „Ein neuer Gefangenentransport kommt. Es steht schlimm
24 Ebd., S. 49. 25 Ebd., S. 53. 26 Ebd., S. 124–125.
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um Deutschland. Wie sehen diese armen Kriegsleutnants aus. Diese verschossenen Uniformen, diese erdfahlen, ausgemergelten Gesichter. . . Ja, es steht schlimm um Deutschland“. 27 Es sind aber nicht nur körperliche Leiden, die der Krieg verursacht, sondern auch seelische. Das Kriegstrauma sucht den Erzähler – in Form von Albträumen – noch während des Krieges heim: „Wird das Todesgrauen überhaupt einmal verstummen? Wird es uns nicht auch nicht später, wenn wir wieder zu Haus im Leben sein werden, noch verfolgen? Wie oft des Nachts fahre ich auf. Immer noch schrecken mich die Granaten, immer noch“. 28 Und auch als der Krieg schon beendet ist, die Gefangenschaft aber immer noch andauert, hören die Albträume nicht auf. Die Beschreibung des Aufenthaltes in Villers les Guise beginnt mit den Worten: „Tagaus, tagein Schutt forträumen. . . Wir selber sind nur noch Schutthaufen. Und seitdem wir in diesen Ruinen scharwerken, verfolgt mich nachts wieder das Gespenst des Krieges. Ich höre wieder die Granaten pfeifen und einschlagen. Ich will aufspringen und erwache schweißgebadet. Ehe ich dann einschlafe, ist die halbe Nacht vorüber“. 29
(Ober-)Schlesien Bezüge auf (Ober-)Schlesien treten in Kaluzas Roman nur vereinzelt auf. Nach einem misslungenen Fluchtversuch wird der PG inhaftiert und von einem Gendarmen ausgefragt: „‚In welcher Provinz Deutschlands sind Sie eigentlich zu Hause?‘. ‚In Schlesien‘, sage ich. ‚In Schlesien? Dann sind Sie auch kein richtiger Boche. Schlesien, das liegt ja an der russischen Grenze, nicht wahr? Da ist es wohl sehr kalt‘“. 30 In dieser Darstellung wird direkt auf den Grenzcharakter Schlesiens bzw. Oberschlesiens verwiesen, das „an der russischen Grenze“ liege. Für den Gendarmen ist der Gefangene anscheinend kein richtiger Deutscher, kein „Boche“, da er aus Oberschlesien stamme. Verknüpft damit ist der Besuch von zwei Männern („. . . und herein treten ein Soldat und ein Zivilist“), der sich als Anwerbungsversuch herausstellt: „Jetzt beginnt der Zivilist, der sich als Pole vorstellt: ‚Hätten Sie nicht Lust, in die Hallerarmee einzutreten? Es sind viele Oberschlesier in der Hallerarmee. Sie werden es nicht bereuen. Sie können bei uns leicht Offizier werden. . . ‘. Ich lehne ab. ‚Sie werden sichs noch überlegen‘“. 31
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Ebd., S. 78 Ebd., S. 41 Ebd., S. 172–173. Ebd., S. 113. Ebd., S. 115.
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Flucht Die ersten Gedanken an eine Flucht entstehen beim Erzähler während des Aufenthaltes in Auch, als er den Fluchtplan einer Gruppe von Offizieren schildert („Im Treppenhaus des Gebäudes B buddeln die Offiziere heimlich einen Stollen. [. . . ] Auf dem Bauche liegend kratzen sie mit einem Löffel die harte Erde zentimeterweise ab und schaffen sie in den Taschen ins Freie“ 32): „Viele leere Stunden fülle ich mit kühnen Plänen. Wenn man oben am Fenster steht, kann man in der Ferne die Pyrenäen sehen“. 33 Der Anblick des Gebirgszuges scheint den Freiheitsdrang noch zu verstärken. Der Gegensatz zwischen dem Lager, „einer Wüste inmitten einer Oase“, 34 und den eben erwähnten Pyrenäen beflügelt die Fluchtgedanken umso stärker. Doch es stellt sich heraus, dass der von den Offizieren gegrabene Tunnel entdeckt worden ist: Was gäbe ich darum, einmal auf der Wiese zu liegen, auf der Wiese, die hinter der Mauer mit den stechenden Glasscherben und dem Drahtgewirr duftet. Ich stehe am Fenster und sehe hinab. Ich stehe am Fenster und sehe in die Ferne, wo am Horizont die Pyrenäen blau verdämmern oder rosig schimmern. Dahin wollten wir ja. Nichts ist aus unser Flucht geworden. Die Franzosen haben den heimlichen Stollen entdeckt. Die Grundmauer war schon zur Hälfte durch. So gehen die dürren Tage dahin. 35
Einen großen Eindruck auf den PG 3717 macht der Ausbruch des Gefangenen Schramm: Schramm! Im Speiseraum, auf der Latrine, auf dem Hofe, in der Wachtstube, in der Kantine: Schramm. Wer ist Schramm, Monsieur Skramm? Was ist mit ihm? Haha, Hurra schreien möchte man. Leutnant Schramm ist getürmt. Leutnant Schramm hat aus Barcelona eine Ansichtskarte geschrieben. War das möglich? Es war möglich. Leutnant Schramm hat es gemacht. Ausgerechnet Leutnant Schramm, dieser kleine, bestoppelte Gutsinspektor, der mit keinem Menschen ein Wort sprach, still seinen Rotwein soff und in seiner schäbigen Pelerine bei Sonne und Regen um den Hof kreiste, daß die Posten schon den Kopf über ihn schüttelten. Daß kein anderer auf den Gedanken gekommen ist. Da ist neben der Latrine, dem Ort, das geteerte Stück Hofmauer, das Örtchen. Ein Posten steht davor. Aber über Mittag zieht er sich in den Schatten des Schilderhauses zurück. Was macht Leutnant Schramm? Er bespricht sich mit einem Kameraden. Der setzt sich mit einer Schreibmaschine vor das Schilderhaus. 32 33 34 35
Ebd., S. 68. Ebd. Ebd., S. 72. Ebd., S. 73.
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Während er so den Posten ablenkt, klimmt Schramm an der geteerten Mauer hoch, zerschneidet das darüberliegende Drahtnetz und ist hinüber. Schramm. 36
Es sind solche Fälle, die die Fluchtabsichten des Erzählers weiter verstärken. Den ersten Fluchtversuch unternimmt er im Frühjahr 1918: Kompaß und Anzug liegen bereit. Mein Plan ist fertig. Sentinelle, prenez garde à vous! Ich gehe über den Hof. Zu denken: es ist das letzte Mal. Wie mein Herz schlägt. Da stehen die Posten. Die Ahnungslosen. Fast tun sie mir leid. Ich werde sie um ihren Urlaub bringen. 37
Im entscheidenden Moment des Fluchtversuchs, während eines Ausgangs aus dem Gefangenenlager, kommt wieder die neusachliche Sprache des Romans zum Ausdruck: Das Herz schlägt mir bis in den Hals. Drei Schüler schlendern den Weg daher. Ich schlucke aufgeregt. Vorbei. Zwei Soldaten. Haltung, Haltung! Vorbei. 38
In einem Minimum an Sprache wird ein Maximum an Anspannung und Schicksalhaftigkeit reflektiert. Es ist die Fortuna, die über das Menschenleben entscheidet. In diesem Falle ist die Fortuna – zumindest am Anfang – gütig: „Ein Auto hupt. Dann wird es still. Ich strecke mich lang hin und rauche mir eine Zigarette an, zur Beruhigung. Indem ich die Paspel vom Rock trenne, entmilitarisiere ich meinen Anzug. Jetzt fühle ich mich beruhigt und sicher. Ich liege da, und eine heiße Freude steigt in mir auf: abends geht es gen Barcelona, gen Barcelona!“. 39 Die Darstellung der Flucht des PG 3717 gehört zu den eindrucksvollsten Passagen des Romans. In ihr zeigt sich die enorme Macht des Schicksals über den Einzelnen. Die Flucht und die Freiheit nämlich entfachen erst die Gefahren, vor denen der Gefangene im Lager paradoxerweise sicher war. Die unregelmäßigen Schlafenszeiten wie auch der Essens- und Flüssigkeitsmangel verursachen, dass sich der Erzähler in einer Sphäre zwischen Traum und Wirklichkeit befindet. Nach der Begegnung mit einem Holzfäller träumt der PG folgenden (Alb-)Traum: 36 37 38 39
Ebd., S. 80–81. Ebd., S. 87. Ebd., S. 89. Ebd., S. 90.
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Ich habe einen konfusen Traum. Vor mir steht der Holzhacker und neben ihm der Capitaine, der „tote Mann“ und sagt: „Hack dem Burschen den Kopf ab!“. Wie der Holzhacker zum Schlage ausholt, wache ich auf. Ich habe einen mörderlichen Durst. Wasser? Wo? Ich grabe die Ellbogen in die Erde, stütze das Kinn in die Hände und sauge den Saft aus den Weizenstengeln. [. . . ] Der Tag ist ohne Ende. 40
Der Geflüchtete wandert nur während der Nächte, tagsüber versteckt er sich. „Der Tag ist ohne Ende“: neben dem Hunger, Durst und der Ermüdung ist es die allzu langsam rinnende Zeit, die dem Geflüchteten zu schaffen macht: Nicht ein Vogel singt. Ich sitze lange reglos unter den stummen Bäumen, bis mir die Einsamkeit unerträglich wird und ich mich aufmache und Schritt für Schritt bis an den Rand des Gehölzes vordringe. Hier verkrieche ich mich unter einem Brombeerstrauch. Auf dem Felde vor mir pflügt ein Bauer, und er schimpft mächtig auf seine Zugtiere. Ich breite meine Karte aus und lege die Marschroute fest für die kommende Nacht. Und die läßt auf sich warten. 41
Die Flucht ist eine Art „Zwischenzeit“: „Wieder vergeht eine Nacht. Wieder kommt ein Morgen und ich lagere an einer Berglehne. . . “. 42 Der PG orientiert sich nur an seinem Ziel. Neusachlich, wie am Fließband, werden Bilder der französischen Provinz geschildert, die auch sehr schnell vorübergehen. Unweit der spanischen Grenze, kurz vor dem Ziel also, verläuft sich der PG und wird in einem Dorf von einem Amtmann gebeten, sich auszuweisen. Als er dem nicht nachkommen kann, erzählt der Geflüchtete die Wahrheit. Der Abbruch der Flucht verläuft aber durchaus menschlich: Ich erzähle ihm, daß ich Kriegsgefangener bin und nach Spanien wollte. „Warum denn nach Spanien?“. „Verstehen Sie nicht, in die Freiheit . . . “. Da schüttelt er den Kopf und sagt: „Pauvre, pauvre, da werden Sie gewiß Hunger haben“. Und es kommt des Schulzen Frau herein. Als sie hört, daß sie einen Gefangenen vor sich habe, sagt sie mit feuchten Augen, ihr Sohn wäre auch in Gefangenschaft, und er habe schon so lange nicht geschrieben. Ich versuche sie zu trösten. Es sei hüben wie drüben im Lager hart, bei den Bauern erträglich . . . Aber der Maire fällt ihr ins Wort. „Bring dem armen Kerl erst mal zu essen“. Da deckt die Alte den Tisch und setzt mir Brot und Schinken vor. Ich finde keine Worte, ihr zu danken, bis mir aus der Schulgrammatik die bekannte Redewendung einfällt: 40 Ebd., S. 95. 41 Ebd., S. 98–99. 42 Ebd., S. 103.
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„Madame, vous êtes pleine de bontée!“. Ich haue kräftig ein, und die Alte bringt noch eine Wurst. Dann stellt sie eine Flasche Wein auf den Tisch und der Maire schenkt ein. Wir stoßen an. 43
Menschlichkeit und praktische Nächstenliebe gewinnen die Oberhand über politische und geschichtliche Differenzen. Durch die Schilderung des PGs wird deutlich, dass die Kriegsschicksale beider Seiten sich ähneln. Das Ehepaar erblickt im PG keinen Feind, sondern einen Menschen, der ein ähnliches Schicksal erleidet wie ihr Sohn. Eine ähnliche Erfahrung, bei der das Humane überwiegt, macht der Geflüchtete während eines weiteren gescheiterten Fluchtversuchs bereits nach Kriegsende. Kaluza zeigt, dass viele Menschen auf beiden Seiten des Konfliktes ähnliche Erfahrungen machen und später nicht von Rachegefühlen, sondern von einer die Kriegsparteien und Konflikte überragenden Solidarität gelenkt werden: Ich ergebe mich ohne Groll. Die Poilus sind brave Kerls. Sie geben mir Kaffee mit einem gewaltigen Schuß Rum. Ich revanchiere mich und biete ihnen meine Wilsonpastete an. So sitzen wir um den Ofen, und meine durchnäßte Kluft dampft. Sie erzählen mir, daß die Zöllner gestern abend einen Kameraden von mir geschnappt hätten, Karl! Und es stellt sich heraus, daß sie, Pierre und Leon, selber in Gefangenschaft gewesen seien. Der eine in Bayern, der andere in Posen. Sie sagen Kamerad zu mir und trösten mich, man würde uns nächstens nach Hause schicken. 44
Kriegsende Die Euphorie über das Kriegsende verfliegt sehr schnell. Der Grund dafür ist nicht, dass Deutschland den Krieg verloren hat, sondern dass eine „sofortige Auslieferung der Gefangenen ohne Gegenseitigkeit“ 45 beschlossen wurde. Für die deutschen Gefangenen in Frankreich bedeutet das: „Wir müssen hier bleiben. Hier bleiben? Wie lange, wie lange noch?“. „Bis die Kriegskosten bezahlt sind“, sagt einer, „siebzig war das auch so“. Ich weiß nicht, wie es siebzig war, aber das weiß ich, daß die Kriegskosten nicht heute, nicht morgen und nicht übermorgen bezahlt sein werden. Ja, das weiß ich. Und wir müssen hier bleiben, während die andern alle nach Hause gehen. Nicht dran denken, nicht dran denken. . . 46
43 44 45 46
Ebd., S. 110. Ebd., S. 168. Ebd., S. 138; die Hervorhebung stammt vom Autor des Aufsatzes. Ebd., S. 138–139.
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Das Kriegsende verschlimmert das Gefangenendasein noch, da die Ungewissheit über die Dauer der Gefangenschaft sich von Tag zu Tag zu steigern scheint: „Tote Häuser, tote Häuser und wo bleiben eure Bewohner? Warum kommen sie nicht zurück und schicken uns nach Hause? Einer sagte, wir müßten noch zehn Jahre hierbleiben. Zehn Jahre noch? Es ist, als schaufelten wir all den Schutt in uns hinein. Wir werden bis an das Ende unsrer Tage daran zu tragen haben. Wir sind verflucht“. 47 Die immer aufs Neue gescheiterten Fluchtversuche erzeugen im Erzähler eine tiefe Niedergeschlagenheit, die es zunehmend schwieriger macht, an ein Ende der Gefangenschaft zu glauben: Draußen trällern die himmelblauen Rekruten um die Bagagewagen. Die Feldkessel glänzen in der Sonne. Sie rüsten zur Reise an den Rhein. Ha, ihr Spätzlein, trällert nur, auch euch wird die Katze fressen, auch euch. Fahrt nur nach Deutschland. Es gibt ja kein Deutschland mehr. Ist von der Landkarte weggewischt. Seine Bewohner sind an Marmelade und Dörrgemüse eingegangen, und die nicht an der Somme oder bei Verdun gefallen sind, sitzen hier, bei Wasser und Brot. Die Spinnen spannen ihre Netze vor die Verließe der letzten Boches. Bald wird kein Hahn nach ihnen krähen. 48
Doch endlich naht der Tag, an dem die Gefangenen freigelassen werden: So kam der Tag. Wir treten an im Nebel eines kalten Märzmorgens. Seltsam, ich bin eher traurig als froh. Ich bin so ausgelöscht, so leer. Viele von uns haben noch eine Strafe zu verbüßen. Sie werden von einer starken Wache zerniert und müssen zurückbleiben. Wir marschieren ab. Lange müssen wir auf den Zug warten, und plötzlich ist die Angst da, daß er nicht käme. Endlich fahren wir ab. „Au revoir, Fri – itz!“, ruft uns ein Eisenbahner nach. Wir fahren eine Nacht durch Belgien. Herbesthal. Der Rhein. Ein Bahnsteig. Eine Reichswehrkapelle spielt das Deutschlandlied. Man fällt sich um den Hals, Tränen in den Augen. Ich stehe mitten drin und wundere mich, daß niemand mehr französisch spricht. 49
Für August Scholtis, dessen oberschlesischer Schelmenroman „Ostwind“ (1932) ein Muster für Kaluzas bekanntestes Werk „Das Buch vom Kumpel
47 Ebd., S. 160. 48 Ebd., S. 170–171. 49 Ebd., S. 190–191.
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Janek“ (1935) darstellt, war der „PG 3717“ „eines der wenigen, erschütternden Kriegsgefangenenbücher“ par excellence. In einem unveröffentlichten Brief an Kaluza, datiert auf den 17. September 1956, schrieb Scholtis über den Roman: Lieber Kaluza! Schönen Dank für die Zusendung des „Turmhahn“ und herzlichen, nachträglichen Glückwunsch zum Geburtstag. Die Gelegenheit ist mir leider entgangen und ich hätte ganz gewiss etwas in einer vernünftigen Zeitung publiziert, insbesondere über den Verfasser eines der wenigen, erschütternden Kriegsgefangenenbücher. Vor etwa einem Jahr habe ich zufällig auf einem Bücherkarren Ihr Kriegsgefangenenbuch erstanden, bei einer Reise durch Nordfrankreich vor acht Wochen dachte ich lebhaft an Sie und es könnte sogar sein, dass ich die Gegend an der Somme durchstreifte, wo Sie im Trommelfeuer lagen. 50
In der eingangs erwähnten Lebensdarstellung des „PG 3717“-Autors schrieb Pikola, dass Kaluza „1920 als überzeugter Pazifist“ 51 aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt sei. Das ist eine glaubwürdige Feststellung. Im Nachruf auf Viktor Kaluza, erschienen in der Vierteljahresschrift „Schlesien“, schrieb Hans Enden folgende Worte: Da ist einmal das für die damalige Generation so entscheidende Erlebnis des Ersten Weltkrieges. Der sechsmal aus Gefangenschaft geflohene, immer wieder aber aufgegriffene prisonnier de guerre no. 3717 Victor Kaluza kam als Pazifist aus dem Krieg. In dem 1931 erschienenen Buch „PG 3717“ hat er das Erlebnis jener Jahre festgehalten. „A bas la guerre!“, schrieb er mir in mein Exemplar, so die Quintessenz des Werkes festhaltend. 52 50 August Scholtis an Viktor Kaluza (vom 17. September 1956), Privatarchiv Victor Kaluza in Holzkirchen. Dieser Brief wird in der zweibändigen, von Joachim J. Scholz herausgegebenen Edition von Scholtis’ Briefen nicht erwähnt. Vgl. Joachim J. Scholz (Hg.), August Scholtis. Briefe, Bd. 1: 1945–1957, Berlin 1991. 51 An einer Stelle des Romans heißt es, als der Krieg bereits vorbei ist, der Erzähler sich jedoch weiterhin in Gefangenschaft befindet: „Die im Felde herumliegenden Granaten werden gesammelt und gesprengt. An den Wegen liegen noch ganze Berge aufgestapelt. ‚Es ist doch schade darum, daß sie so mir nichts dir nichts in die Luft gesprengt werden‘, sagte einer. Du Soldat. . . Wird wohl je der Tag kommen, an dem die Menschen ihre letzten Mordwaffen endgültig in die Luft sprengen?“. Kaluza, S. 160–161. Und etwas weiter folgende Passage: „Aber einmal schickte er [der Feldwebel] uns in ein Haus, Holz hacken. Ehe wir in dem kleinen Schuppen Axt und Säge gefunden hatten, der PG nimmt sich Zeit mit so was, erschien die Hausfrau und sagte: ‚Ah, da sind sie. Kommen sie doch bitte erst Kaffee trinken‘. Was? Wir zwei armselige Boches werden zum Kaffee eingeladen? Das ist einfach unerhört. Ganz aufgeregt standen wir in der Tür und hielten die Mütze in der Hand, bis uns der Hausherr winkte, näher zu treten und Platz zu nehmen. Mein Gott, wie lange hatten wir nicht mehr auf einem Stuhl gesessen. Die Tasse zitterte in meiner Hand. Und es blieb nicht beim Kaffee. Es gab auch Wein. Wir saßen da mit roten Köpfen und parlierten drauflos. Die Frau war gegen den Krieg, und sie redete sich so in Hitze, daß sie aufsprang und uns die Hände entgegenhielt: ‚Ich sage ihnen, alle Grenzpfähle müßten verschwinden, dann gäbe es keine Kriege mehr‘“. Ebd., S. 171–172. 52 Hans Enden, Victor Kaluza in memoriam, in: Schlesien 1 (1975), S. 63.
Anke Jaspers
(Karl-Franzens-Universität Graz)
„Kot, Feuer, Eisen, Blei“
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Thomas Manns produktive Lektüre der „Kriegsbriefe deutscher Studenten“ von Philipp Witkop
Seit seiner Einrichtung im Jahr 1956 hat sich die Forschung im Thomas-MannArchiv anhand der Arbeitsbibliothek, der Notizen und Briefe mit dem Schreibprozess Thomas Manns beschäftigt. Ziel der Untersuchungen war es, Einblick in die Schaffensweise des Schriftstellers zu erhalten und zu einem besseren Verständnis der Konstruktion seiner Texte zu gelangen. 2 Der forschende Blick richtete sich ausgehend vom Werk Manns auf einzelne Bücher oder auf in seiner Bibliothek vertretene Autorinnen und Autoren. Untersuchungsleitend waren die Fragen, was er gelesen und annotiert und wie er es im eigenen Text verarbeitet hat. Das Projekt zur Digitalisierung und Erschließung der Lese- und Gebrauchsspuren in Thomas Manns Nachlassbibliothek an der ETH Zürich (2016–2019) hat zum ersten Mal eine Zusammenschau der annotierten Bücher unternommen, was nun Aussagen zur Frage erlaubt, wie Mann annotiert hat und wie sich sein Umgang mit fremden Texten in den eigenen widerspiegelt. 3 Bei der Beschäftigung mit den Lesespuren in Thomas Manns Nachlassbibliothek wird deutlich, dass literarische Texte und Sachtexte unterschiedlich annotiert sind. Während in diesen der Bleistift emsig durch die Zeilen und am Text entlanggefahren ist, trifft man in jenen nur ab und zu eine Marginalie an. Der Eingriff in den (Druck-)Text ist dort weniger invasiv, dessen handschriftliche Veränderung durch Annotation weniger stark. 4 Die Art der
1 Philipp Witkop (Hg.), Kriegsbriefe deutscher Studenten, Gotha 1916, S. 79, in: Datenbank Thomas Manns Nachlassbibliothek, Signatur Thomas Mann 3737, Systemnummer 004128894, Bild 90, Lesespur 4. 2 Vgl. Hans Wysling, Die Technik der Montage. Zu Thomas Manns Erwähltem, in: Euphorion. Zeitschrift für Literaturgeschichte 1/2 (1963), Jg. 57, S. 156–199. 3 Vgl. Projektbeschreibung auf der Internetpräsenz der Professur für Literatur- und Kulturwissenschaft an der ETH Zürich, URL: https://www.ethz.ch/content/specialinterest/gess/professur-fuer-literatur-und-kulturwissenschaft/literature-and-culturalstudies/de/forschung/laufende-drittmittelprojekte/thomas-manns-nachlassbibliothek. html [letzter Zugriff: 10. 02. 2020]. 4 Zur Veränderung von (Druck-)Text durch Annotation vgl. Manuel Bamert, Marginales Werk. Phänomenologie, Epistemologie und Poetologie der Lesespuren in Thomas Manns Nachlassbibliothek (Diss., in Vorbereitung).
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Annotation hängt zum einen mit dem typografischen Dispositiv des Drucktextes zusammen, das mehr oder weniger Weißraum zur Verfügung stellt. 5 Zum anderen könnte ein emphatisches Verständnis vom literarischen Werk als geschlossenes Kunstwerk eine Rolle spielen, das dessen materielle Repräsentation, verstanden als Einheit von Inhalt und Form, nicht durch fremdes Annotieren durchbrechen mag. Ausgehend von dieser Beobachtung geht es im Folgenden um die Frage, inwiefern die Annotationspraktiken Manns mit der Literarizität und Faktizität eines annotierten Textes und mit der Art und Weise der transtextuellen Transformation in seinem Werk zusammenhängen. 6 Als paradigmatisches Beispiel verwende ich die hypertextuelle Beziehung zwischen Philipp Witkops Feldbriefsammlung „Kriegsbriefe deutscher Studenten“ aus dem Jahr 1916 und Thomas Manns Roman „Der Zauberberg“, der 1924 zum ersten Mal erschien. Ich möchte in zwei Richtungen argumentieren und setze dafür jeweils bei Manns annotiertem Exemplar an: In einem ersten Schritt will ich zeigen, dass sich die Hybridität der „Kriegsbriefe“ als Textensemble zwischen faktualem Dokument und literarischer Erzählung – forciert durch Auswahl und Bearbeitung ihres Herausgebers Witkop – in den Annotationen Manns abbildet. In einem zweiten Schritt werde ich verdeutlichen, dass sich diese Hybridität in der Bedeutung der „Kriegsbriefe“ als historische Quelle und als Sprachund Bildmaterial für den „Zauberberg“ spiegelt. 7 Hierzu werfe ich einführend einen Blick auf das Verhältnis von Witkop und Mann und gehe dann auf die Edition der „Kriegsbriefe deutscher Studenten“ und Manns Lesespuren im eigenen Exemplar ein. Anschließend erläutere ich die Transformation und Funktion der hypertextuellen Passagen im Schlusskapitel „Der Donnerschlag“ und schlage schließlich eine Erklärung dafür vor, welche Bedeutung die „Kriegsbriefe“ als Hypotext für den „Zauberberg“ haben. Ich zeige damit eine Linie der Transformation faktualer Texte auf, die verdeutlicht, wie Mann seine Vorlage nutzte, und die eine Grundlage für eine Re-Lektüre der Schlussszene im „Zauberberg“ bietet. 8 Meine These ist, dass Mann die „Kriegsbriefe“ 5 Vgl. Susanne Wehde, Typographische Kultur. Eine zeichentheoretische und kulturgeschichtliche Studie zur Typographie und ihrer Entwicklung, Tübingen 2000, S. 119. 6 Ein Typ transtextueller Transzendenz eines Textes ist laut Gérard Genette die Hypertextualität. Während Genette unter dem Typ Intertextualität allein die effektive Präsenz eines Textes in einem anderen Text fasst (Zitat, Plagiat, Anspielung), bezeichnet die Hypertextualität jede Beziehung zwischen einem Text B (Hypertext, hier „Der Zauberberg“) und einem Text A (Hypotext, hier die „Kriegsbriefe“) in Form einer Transformation oder Nachahmung. Vgl. Gérard Genette, Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe, Frankfurt a. M. 1993. 7 Zur Hybridisierung faktualen und fiktionalen Erzählens vgl. Monika Fludernik u. a. (Hg.), Faktuales und fiktionales Erzählen. Interdisziplinäre Perspektiven, Würzburg 2015. 8 An meine Analyse ließe sich eine Untersuchung der faktual-fiktionalen Transtextualität der Schlussszene im „Zauberberg“ anschließen, die andere Text- oder Musik-Vorlagen
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rezipierte, weil sie typische Erlebnisse des Krieges authentisch zum Ausdruck bringen. Ihn interessierte weniger, wie sich etwas en détail zugetragen hatte, sondern wie sich das Wesentliche der Kriegserfahrung literarisch gestaltet in behauptender Rede darstellt. In den von Witkop bearbeiteten Briefen annotierte er, was ihm wesentlich und brauchbar für seine Zwecke erschien, und transformierte die von Witkop transformierten Feldbriefe, ohne dabei die textuelle Hybridität aufzugeben.
1. Mann und Witkop Im Sommer 1903 lernten sich der wissenschaftsaffine 9 Autor Thomas Mann, der in jenem Jahr mit den „Buddenbrooks“ den Durchbruch schaffte, und der gerade promovierte „Dichtergermanist“ 10 Philipp Witkop in München kennen. In den kommenden Jahren tauschten sich die beinahe gleichaltrigen Männer über ihre gegenseitigen Lektüren, beruflichen Tätigkeiten und das Alltagsgeschehen aus. Mann vermittelte Witkops Gedichte an den S. Fischer Verlag, 11 Witkop widmete Mann seine Antrittsrede als außerordentlicher Professor in Freiburg im Breisgau 12 und lud ihn ein, im Sommer 1914 vor den Studenten aus seinen Werken zu lesen. 13 Der Briefwechsel intensivierte sich
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berücksichtigt. Vgl. Michael Maar, Geister und Kunst. Neuigkeiten aus dem Zauberberg, München 1995, S. 226–231. Steffen Martus weist darauf hin, dass für Mann „die literaturwissenschaftliche Beschäftigung mit Werk und Person zu einer schon früh zunehmend relevanten Umwelt für die literarische Produktion wird“. Steffen Martus, Die Geistesgeschichte der Gegenwartsliteratur. Wissenschaftliche Aufmerksamkeit für Thomas Mann zwischen 1900 und 1903, in: Michael Ansel u. a. (Hg.), Die Erfindung des Schriftstellers Thomas Mann, Berlin 2009, S. 47–84, hier S. 50. Am Beispiel des „Zauberbergs“ zeigt Friedhelm Marx, wie Mann an der Anschlussfähigkeit seiner Werke an den Resonanzraum der Literaturwissenschaft und deren Zugehörigkeit zum Kanon der Moderne mitwirkt. Vgl. Friedhelm Marx, „Lauter Professoren und Docenten“. Thomas Manns Verhältnis zur Literaturwissenschaft, in: ebd., S. 85–96. Philipp Redl fasst unter den Begriff des „Dichtergermanisten“ Personen mit philologischer Ausbildung, die auch literarisch bzw. poetisch hervorgetreten sind. Die Zugehörigkeit zu diesem Typ basiert „auf einem öffentlich wahrgenommenen Gleichgewicht von Dichtung und Forschung; dazu gehört auch eine institutionelle Karriere“. Philipp Redl, Dichtergermanisten der Moderne. Ernst Stadler, Friedrich Gundolf und Philipp Witkop zwischen Poesie und Wissenschaft, Köln 2016, S. 11. Zu Witkop als Dichtergermanist vgl. ebd., S. 336. Thomas Mann an Philipp Witkop, Brief vom 24. 09. 1907, in: Thomas Mann, Briefe 1899–1913, hg. v. Thomas Sprecher u. a., große kommentierte Frankfurter Ausgabe (GKFA) 21, Frankfurt a. M. 2002, S. 379–380, hier S. 380. Thomas Mann an Philipp Witkop (vom 18. Juli 1911), in: ebd., S. 476–477. Mit der Einladung deutschsprachiger Autoren zu Vorlesungen in Freiburg förderte Witkop den „Aufstieg der Gegenwartsliteratur zum veritablen Fachgegenstand“. Redl, S. 314.
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mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs, an dem sich beide zunächst im „Dienst mit der Feder“ 14 beteiligten. „Tja, wer hätte das gedacht“, schrieb Mann im November 1914 an Witkop, „daß mit meiner Vorlesung in Freiburg die Friedensepoche Europas in einer letzten Verklärung sich endigen sollte!“. 15 Das anfängliche Erstaunen beider schlug bald wie bei vielen anderen Schriftstellern und Intellektuellen in Zustimmung und publizistisch produktive Kriegsbegeisterung um. 16 Mann verfasste Essays und Witkop sammelte Feldbriefe, die er unter dem Titel „Kriegsbriefe deutscher Studenten“ im Winter des Jahres 1915, vordatiert auf 1916, im Gothaer Perthes Verlag veröffentlichte. Witkops Kriegsbriefbuch 17 liegt in verschiedenen Ausgaben vor und erreichte 1943 eine Auflage von 210.000 Exemplaren. 18 Es wurde Witkops „berühmtestes Buch“. 19 Neben ihren Gemeinsamkeiten als poeta doctus und Dichtergermanist teilten Mann und Witkop auch ein volkspädagogisches Interesse. Seit seiner politik- und staatswissenschaftlichen Dissertation zur „Organisation der
14 Michael Naumann, Entstehungsgeschichte, in: Thomas Mann, Der Zauberberg, Kommentar von Michael Naumann, GKFA 5.2, Frankfurt a. M. 2002, S. 20. 15 Thomas Mann an Philipp Witkop (vom 11. November 1914), in: Thomas Mann, Briefe 1914–1923, hg. v. Thomas Sprecher u. a., GKFA 22, Frankfurt a. M. 2004, S. 44–46, hier S. 44. 16 Vgl. Helmuth Kiesel, Konfessionen, Konversionen, Revisionen in der Literatur um den Ersten Weltkrieg, in: Michael Braun u. a. (Hg.), Nach 1914: Der Erste Weltkrieg in der europäischen Kultur, Würzburg 2017, S. 35–62, hier S. 37. 17 Um ihr „spezifisch ästhetisches Gepräge“ zu betonen und Witkops „Kriegsbriefe“ als Text literaturwissenschaftlich fassen zu können, verwendet Redl den Begriff „Kriegsbriefbuch“ im Gegensatz zur geschichtswissenschaftlichen Kategorisierung als historische Dokumentation und in Abgrenzung vom Begriff der „Wirklichkeitserzählung“. Vgl. Redl, S. 337–338. Für die Beziehung zwischen den „Kriegsbriefen“ und dem „Zauberberg“ ist die Unterscheidung von faktualen und fiktionalen Texten relevant, aber auch deren Gemeinsamkeiten, z. B. ihr faktischer bzw. faktualer Gehalt. Vgl. Christian Klein / Matías Martínez, Wirklichkeitserzählungen. Felder, Formen und Funktionen nicht-literarischen Erzählens, in: Dies. (Hg.), Wirklichkeitserzählungen. Felder, Formen und Funktionen nicht-literarischen Erzählens, Stuttgart 2009, S. 1–13, hier S. 1–5. 18 Vgl. Redl, S. 338–339. 19 Ebd., S. 336. Durch ihre Verbreitung, ihre literarische Verarbeitung und ihren Vorbildcharakter für nachfolgende Publikationen gelten sie als bedeutendste Sammlung von Feldpostbriefen. Vgl. Wolfgang G. Natter, Literature at War 1914–1940. Representing the „Time of Greatness“ in Germany, New Haven 1999, S. 90. „Kriegsbriefe“ waren Vorbild für Heinrich Manns „Zola“-Essay, Walter Flexens „Wanderer zwischen den Welten“, vielleicht auch Stefan Georges „Der Krieg“ aus dem „Neuen Reich“ oder Rilkes „Fünf Gesänge aus dem Kriegs-Almanach“ von 1915. Vgl. Uwe-K. Ketelsen, „Das ist auch so ein unendlicher Gewinn mitten in der Erfahrung des gräßlichsten Todes“. Arbeit an der Biographie: Philipp Witkops Sammlung von studentischen Briefen aus dem Ersten Weltkrieg, in: Petra Josting / Jan Wirrer (Hg.), Bücher haben ihre Geschichte: Kinder- und Jugendliteratur, Literatur und Nationalsozialismus, Deutschdidaktik. Norbert Hopster zum 60. Geburtstag, Hildesheim 1996, S. 51–61, hier S. 51.
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Arbeiterbildung“ 20 engagierte sich Witkop für die Bildung breiter Bevölkerungsschichten, war Herausgeber für den Volksverband für Bücherfreunde und veröffentlichte auch die „Kriegsbriefe“ in Kooperation mit den Deutschen Unterrichts-Ministerien. Manns Interesse an Pädagogik kommt nicht nur in der Thematik des „Zauberbergs“ und den Erziehungsfiguren Naphta und Settembrini zum Ausdruck, 21 auch den regelmäßigen Austausch mit Witkop begleiteten volkspädagogische Essays zum Thema Literatur und Bildungspolitik. 22 Ihre gemeinsamen Interessen und die gegenseitige Förderung kommen in den gewidmeten Exemplaren ihrer eigenen Werke in der Bibliothek des Anderen zum Ausdruck. 23 „Die Sorge, die Neugier, die Spannung“, 24 unter der Mann, im eigenen Arbeitszimmer vom Kriegsgeschehen isoliert, die Ereignisse beobachtete, scheinen seine Lektüre und sein Schreiben verändert zu haben. In den „Betrachtungen eines Unpolitischen“ reflektierte er, wie der Krieg sein Lektüreverhalten veränderte: „Ich gestehe, daß erst der Krieg und seine Drangsal mir diese stürmische Dankbarkeit des Lesens gebracht hat, – der Bleistift fährt begeistert an ganzen Seiten hin, schwer fallen Ausrufungszeichen inniger Zustimmung am Rande nieder. So las man vordem nicht“. 25 In Bezug auf das Kriegsbriefbuch rühmte er Witkop gegenüber die Produktivität des Krieges: Die allgemeine Emsigkeit und Gründlichkeit der geistigen Verarbeitung (der Ereignisse) in Deutschland ist rührend schön. Gerade dies haben die anderen nicht. Frankreich kann nichts als spucken, und die Steifheit Englands läßt es zu keinem rechten Erlebnis kommen. Angriff oder Verteidigung – es ist doch so
20 Philipp Witkop, Die Organisation der Arbeiterbildung. Eine Kritik und Verknüpfung sämtlicher Arbeiterbildungs-Bestrebungen, Berlin 1904. 21 Vgl. Ludwig Fertig, Vor-Leben. Bekenntnis und Erziehung bei Thomas Mann, Darmstadt 1993, S. 157–168. 22 Mann verfasste in dieser Zeit u. a. die Texte: „Volksromane“ (1905), „Die Bücher des deutschen Hauses“ (1908), „Beim Erscheinen der No. 5000 von Reclams UniversalBibliothek“ (1909) sowie den „Brief an den Buchhändler Heinrich Jaffe“ (1912). Vgl. Thomas Mann, Essays I 1893–1914. Text und Kommentar, hg. v. Heinrich Detering, GKFA 14, Frankfurt a. M. 2002. 23 Thomas Manns Nachlassbibliothek enthält neben den „Kriegsbriefen“ „Die neuere deutsche Lyrik“ (1908), „Die neuere deutsche Lyrik“ (2 Bde. 1910–1913), „Traum und Welt. Eine Auswahl aus Novalis’ Dichtungen, Briefen, Tagebüchern, Fragmenten“ (1913), „Die deutschen Lyriker. Von Luther bis Nietzsche“ (1921) und „Goethe. Leben und Werk“ (1931), fast alle mit Widmung und Lesepuren. Vgl. auch Bibliothek Prof. Dr. Philipp Witkop, Freiburg im Breisgau. Katalog 31, Stuttgart 1960, in: Thomas-Mann-Archiv der ETH Zürich, Signatur TMB Conv. 7 Nr. 74 mit den gewidmeten Büchern Thomas Manns. 24 Thomas Mann an Philipp Witkop (vom 11. November 1914), in: GKFA 22, S. 44–46, hier S. 45. 25 Thomas Mann, Betrachtungen eines Unpolitischen, hg. v. Hermann Kurzke, GKFA 13.1, Frankfurt a. M. 2009, S. 567.
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recht unser Krieg, denn wie er auch ausgehen möge, so werden wir am meisten davon profitiert haben, und er wird Epoche für unsere Bildung machen. 26
Mit den Stichworten „geistige Verarbeitung“, „Erlebnis“ und „Bildung“ ist Manns betont deutschnationale Philosophie des Kriegs angesprochen, in dem er wie viele andere Intellektuelle eine Chance zum Erlebnis, zur Analyse und gesellschaftlichen Erneuerung sah. „Kriegsdienst“ leistete Mann am eigenen Schreibtisch, unterbrach die Arbeit am „Zauberberg“ und nahm an der von ihm gerühmten Produktivität des Krieges mit der Veröffentlichung kleinerer und größerer Essays teil, in denen auch Feldbriefe eine Rolle spielen: der Essay „Gute Feldpost“ von 1914 hat sie zum Thema und in den „Betrachtungen eines Unpolitischen“ von 1919 dienen sie als Belege für Manns Thesen zur „exzentrischen Humanität des Krieges“. 27 Erst die „Betrachtungen“ schufen eine zeitliche und emotionale Distanz zu dem Stoff, den der Autor für die Arbeit am „Zauberberg“ benötigte. „Der Krieg“, heißt es in Manns Tagebuch im April 1919, „mußte erst als Anfang der Revolution deutlich werden, sein Ausgang nicht nur da sein, sondern auch als Schein-Ausgang erkannt sein. [. . . ] Die Entlassung Hans Castorps in den Krieg bedeutet seine Entlassung in den Beginn der Kämpfe um das Neue“. 28 Feldbriefe prägten den Diskurs über den Krieg in Zeitungen und Zeitschriften, und galten als authentische Erzählungen von der Front im Gegensatz zur Militärpropaganda, obwohl sie, wie auch im Fall der „Kriegsbriefe“, nicht selten in deren Dienst gestellt wurden. 29 Nicht zuletzt erhielt Mann auch persönlich Briefe von Frontsoldaten. Um seine These der „Erhöhung, Steigerung, Veredelung des Menschlichen durch den Krieg“ 30 empirisch mit Feldbriefen zu belegen, war Mann also nicht auf die „Kriegsbriefe deutscher Studenten“ angewiesen. Sie gehören insofern als publizistischer Teil des Diskurses über das Kriegserlebnis nur im weiteren Sinne zum Quellenmaterial der „Betrachtungen“. 31 Für das „Donnerschlag“-Kapitel im „Zauberberg“ lieferten 26 Thomas Mann an Philipp Witkop (vom 23. März 1915), in: GKFA 22, S. 64–65, hier S. 64. 27 GKFA 13.1, S. 498–503. Zwischen 1914 und 1918 erschienen „Gedanken im Kriege“, „Friedrich und die große Koalition“, „Gute Feldpost“ sowie Teile der „Betrachtungen eines Unpolitischen“. 28 Thomas Mann, Tagebücher, Bd. 1: 1918–1921, hg. v. Peter de Mendelssohn, Frankfurt a. M. 1979, S. 200–201 (Eintrag vom 17. April 1919). 29 Zur Rezeption von Feldbriefen vgl. Manfred Hettling / Michael Jeismann, Der Weltkrieg als Epos. Philipp Witkops „Kriegsbriefe gefallener Studenten“, in: Gerhard Hirschfeld u. a. (Hg.), Keiner fühlt sich hier mehr als Mensch. . . Erlebnis und Wirkung des Ersten Weltkriegs, Frankfurt a. M. 1996, S. 175–198. 30 GKFA 13.1, S. 502. Die Passagen zur Veredelung durch den Krieg wurden in den Ausgaben seit 1922 gestrichen. Vgl. GKFA 13.2, S. 535. 31 Hermann Kurzke hat bereits gemutmaßt, dass für die in den „Betrachtungen eines Unpolitischen“ zitierten Feldbriefe nicht Witkops „Kriegsbriefe“ als Vorlage dienten. Vgl. Thomas Mann, Betrachtungen eines Unpolitischen, Kommentar von Hermann Kurzke, GKFA 13.2, Frankfurt a. M. 2009, S. 532–534.
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Witkops „Kriegsbriefe“ allerdings Einzelheiten vom Kriegsgeschehen. Aus dem Kriegsbriefbuch erhielt Mann vermeintlich „Anschauung von dem, was an der Front geschah“. 32
2. „Kriegsbriefe deutscher Studenten“ In die erste Ausgabe der „Kriegsbriefe“ übernahm Witkop vor allem Briefe seiner eigenen Studenten, die er auswählte, bearbeitete und – in West- und Ostfront unterteilt – chronologisch anordnete. Bei der Auswahl achtete er auf Unmittelbarkeit und das innere Erleben der Frontsoldaten. Bei der Bearbeitung folgte er den editorischen Prinzipien der sprachlichen Verdichtung und Episierung: 33 „Die einzelnen Briefe habe ich zu ihrem stärksten inneren Ausdruck gezwungen, kein Wort verändernd oder hinzufügend, nur durch Verdichtung, indem ich alles Unwesentliche fortstrich, sei es ein Abschnitt, ein Satz, ein Wort, manchmal auch – der Klarheit oder Steigerung willen – durch Umgruppierung einzelner Sätze“. 34 Die überlieferten Manuskripte in Witkops Nachlass belegen, dass nicht nur die Feldsoldaten, sondern auch Witkop der Zensur zuvorkam und Passagen strich, die suizidale Gedanken, Rachegelüste und kritische Darstellungen der Unterbringungs- und Versorgungsverhältnisse enthielten. 35 Bereits als Material für die Edition handelte es sich also nicht um reine Privatbriefe, sondern um Briefe für einen größeren Adressatenkreis. 36 Die 45 Briefe der 27 Soldaten in der ersten Ausgabe führen in den meisten Fällen keine Anrede, erheben aber durch die Nennung von Ort, Datum und Namen des Autors sowie aufgrund ihrer Zuordnung zur Textsorte Feldbrief Anspruch auf Authentizität. Auch die Manuskripte der vermeintlichen Feldbriefe mit unterschiedlichen Handschriften in Witkops Nachlass haben weder Anrede noch persönliche Ansprache im Text. Die Vermutung liegt deshalb nahe, dass es sich beim Textmaterial für die erste Ausgabe nicht um „echte“ Feldbriefe von Frontsoldaten an Familie und Freunde, sondern um Erzählungen von der Front handelte, die ihre Veröffentlichung bereits antizipierten. Eine erste Ankündigung des Buches in der Literaturzeitschrift „Das literarische Echo“ hatte Anfang 1915 bereits darauf hingewiesen, dass die Auswahl der Feldbriefe nach „literarischen und künstlerischen Gesichtspunk-
32 Ebd., S. 498. 33 Vgl. Redl, S. 344. 34 Philipp Witkop, Zum Geleit, in: Ders. (Hg.), Kriegsbriefe deutscher Studenten, Gotha 1916, S. V – VIII, hier S. VII. 35 Vgl. hierzu auch Redl, S. 351–352. 36 Vgl. Werner Faulstich, Die Mediengeschichte des 20. Jahrhunderts, München 2012, S. 65–66.
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ten“ 37 erfolgen sollte. Das Kriegsbriefbuch bringt Dokumente des „tiefsten, heimlichen Ausdrucks des Geistes“ 38 in eine „sich dem Epischen nähernde Einheit“ 39 und gleicht somit als kollektive Erzählung einem vielstimmigen Bildungsroman. Durch Krisen hindurch findet sich das kollektive Ich in die Verhältnisse ein und affirmiert sie zuletzt; der Schrecken des Krieges wandelt sich in Freude. 40 Witkop ging es nicht darum, mit einer Quellensammlung die „Tatsachenwahrheiten des Krieges zu sichern“, sondern „das Kriegserlebnis in einem Kunstprodukt lebendig zu halten“. 41 Dem hybriden Status der zwar faktualen, aber literarisierten Briefe entsprechend schätzte Mann die „Kriegsbriefe“ als die „ergreifendsten Dokumente dieser Zeit“, 42 antizipierte aber auch ihr literarisches Potenzial: „Ihre Zusammenstellung wird immer wertvoll bleiben“, schrieb er Ende 1916 an Witkop. „Auch der Dichtung haben Sie vorgearbeitet; denn ich glaube nicht, daß spätere Kunst sich dieses Menschheitserlebnisses schämen wird“. 43
3. Produktive Lektüre Manns Lektüre der „Kriegsbriefe deutscher Studenten“ war in doppelter Weise produktiv: Im Sommer 1924 nutzte er sein ihm persönlich gewidmetes Exemplar für die Gestaltung der Schlussszene im „Zauberberg“, den der Autor wenig später fertig stellte, und hinterließ dabei Lesespuren. 44 Ein Drittel der Seiten des schmalen Bändchens ist annotiert, darunter Schilderungen von Sturmangriffen – das Hinwerfen und Aufstehen der Soldaten, das visuell-auditive Erlebnis, Beschreibungen des Schlachtfelds mit herumlaufendem Vieh und spritzenden Erdklumpen sowie Detailwahrnehmungen der Soldaten: ein blutrotes Taschentuch, abgetrennte Gliedmaßen, ein Tornister. Vorrangig handelt es sich bei den Lesespuren um Anstreichungen, die ganze Absätze oder Seiten markieren. Die aktiv-rezeptiven Spuren im Buch, die von einer „regen Teilnahme an dessen geistigem Innenleben“ 45 zeugen, intensivieren sich bei drei Briefen von Fritz Klatt, der zum linken, reformpädagogischen Teil der
37 Nachrichten, in: Das literarische Echo. Halbmonatsschrift für Literaturfreunde 13 (1914/15), Jg. 17, Sp. 833. 38 Witkop, Zum Geleit, S. VI. 39 Ebd. 40 Redl, S. 343. 41 Ebd., S. 341. 42 Thomas Mann an Philipp Witkop (vom 24. Juni 1915), in: GKFA 22, S. 82. 43 Thomas Mann an Philipp Witkop (vom 26. November 1916), in: ebd., S. 164. 44 GKFA 5.2, S. 46. 45 Magnus Wieland, Materialität des Lesens. Zur Topographie von Annotationsspuren in Autorenbibliotheken, in: Michael Knoche (Hg.), Autorenbibliotheken. Erschließung, Rekonstruktion, Wissensordnung, Wiesbaden 2015, S. 147–173, hier S. 161.
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Jugendbewegung gehörte und im Oktober 1914 aus dem damals russischen Iwangorod, dem heutigen Demblin (D˛eblin) von der Ostfront berichtete. Hier finden wir Unterstreichungen, einfache und doppelte Anstreichungen auf beiden Seiten des Textes und die Marginalie „Kot, Feuer, Eisen, Blei“. 46 Diese Annotationen stellen die Klimax der Lektüre Manns mit dem Bleistift dar. Die Marginalie ist der Punkt, an dem die produktive Rezeption des Gedruckten in die Produktion von avant-texte übergeht. 47 Während die An- und Unterstreichungen den Text markieren und einzelne Passagen hervorheben, materialisiert die Marginalie, indem sie auf der Grundlage von analytischen und interpretierenden Verfahren des Lesespurenautors Motive des Textes verdichtet und somit literarisiert, eine Interpretationsleistung des Lesers, in der die Lektüre bereits in den Schreibprozess des Werkautors und die Produktion eines neuen Textes übergeht. Mann hat mehrfach in den „Kriegsbriefen“ gelesen und besaß mehrere Ausgaben. 48 Die unterschiedlichen Lektüredurchgänge lassen sich allein an den Bleistiftspuren nicht erkennen, aber durch Briefe und die transtextuelle Beziehung zum „Zauberberg“ hermeneutisch nachweisen. Nur die überlieferte erste Ausgabe enthält die Briefe von Fritz Klatt, die als Material und Vorlage für die Arbeit am Schlusskapitel des „Zauberbergs“ dienten. Klatt überlebte den Krieg und konnte deshalb ab der zweiten Ausgabe von 1918, die „Kriegsbriefe gefallener Studenten“ versammelte, nicht länger als Autor fungieren. 49 In der
46 Witkop, Kriegsbriefe, S. 79, in: Datenbank Thomas Manns Nachlassbibliothek, Signatur Thomas Mann 3737, Systemnummer 004128894, Bild 90, Lesespur 4. 47 Vgl. Wieland, S. 167. 48 Mann besaß auch die Ausgabe „Kriegsbriefe gefallener Studenten“ von 1918, die in der Nachlassbibliothek nicht überliefert ist. Dankend schrieb er im Januar 1919 an Witkop: „In dem Buch hab ich bisher nur geblättert und warte die günstige Stunde ab, um mich ihm ernstlich zu widmen. Die armen, wackeren Burschen! Ich kenne den Typus persönlich: voll reinen Glaubens, mit einer Art von edler Übersichtigkeit, hat er für ein Deutschland gekämpft, das eben nur er noch verkörperte, und wohl ihm, möchte man sagen, wenn er tot ist; denn wenn er lebt, so begreift er gar nichts“. Thomas Mann an Philipp Witkop (vom 3. Januar 1919), in: GKFA 22, S. 273–274, hier S. 273. 49 Die Entscheidung, in die zweite Ausgabe allein Kriegsbriefe gefallener Studenten aufzunehmen, kann sowohl als politisch-pädagogisches Kalkül als auch als poetisches Verfahren verstanden werden. Die veränderte Auswahl der Briefe, nun angeordnet nach den Todesdaten der Schreiber, unterstreicht Witkops Wunsch, das Buch solle zum „dauernden nationalen Denkmal“ (Witkop, Zum Geleit, S. VII) werden und befördert das Ziel – nach dem Krieg auf eine internationale Perspektive erweitert –: „diese Briefe sollten ein Sporn sein zu einem neuen, weltversöhnenden Recht und Verständnis im Leben der Völker“. Am Schluss des veränderten Vorworts bittet Witkop um Einsendung von Abschriften weiterer Feldbriefe. Gemäß dem repräsentativen Anspruch erklärt Witkop, dass „reine Familienangelegenheiten“ dabei weggelassen werden könnten. Philipp Witkop, Vorwort, in: Ders. (Hg.), Kriegsbriefe gefallener Studenten, München 1928, S. III–IV, hier S. IV.
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Abb. 1: Lesespuren von Thomas Mann in Philipp Witkop (Hg.), Kriegsbriefe deutscher Studenten, Gotha 1916, S. 79, in: Datenbank Thomas Manns Nachlassbibliothek, Signatur Thomas Mann 3737, Systemnummer 004128894, Bild 90, Lesespur 4.
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intensiven Bearbeitung des Buchs scheint sich die „Nervosität“ zu lösen, die Mann bei der Arbeit „am allerletzten Schluß“ 50 begleitete.
4. Arbeit am „Donnerschlag“ Im Schlusskapitel des „Zauberbergs“ kehrt Hans Castorp nach sieben Jahren im abgeschiedenen Sanatorium Berghof ins Flachland zurück, nicht um wieder seinen bürgerlichen Pflichten nachzukommen, sondern um sich den Freiwilligenregimentern der deutschen Armee anzuschließen. Sein Schicksal ist im Sturmangriff auf dem Schlachtfeld besiegelt. Ohne von den Quellen zu wissen, attestiert Hans Rudolf Vaget der Schlussszene auf dem Schlachtfeld „unexpectedly experimental features“: „Having himself no firsthand experience, [Mann] chose an almost cinematic mode of presentation“. 51 Andreas Kablitz hat dargelegt, wie der Besuch des Bioskop-Theaters im Kapitel „Totentanz“ motivisch (das Reiben der Augen, die Schattenbilder) die Schlachtenszene vorausdeutet und auf das doppelte Illusionspotenzial des Films verweist: In der fiktiven Welt des „Zauberbergs“ basiert der fiktionale Film auf der realen Produktion der Schauspieler, deren reale Präsenz im Film sich mit der Darstellung fiktionaler Figuren überlagert. 52 In der Schlussszene wird diese „unzuträgliche Diskrepanz von Akteuren und Beobachtern“ 53 wiederaufgenommen, indem die Erzählinstanz sich sowie die Leserinnen und Leser als „schauende Schatten am Wege“ 54 ins Geschehen hineinzieht, worin sich eine Parallele zur „Kollektivintegration“ der „Kriegsbriefe“ 55 zeigt. Diese filmische Darstellungsweise, die auch in der Montage von lose verbundenen Einzelbeobachtungen (der Wald, die Hügelzeile, der Wegweiser) und der eindrücklichen Klang- und Bildhaftigkeit der Szene zum Ausdruck kommt, ist Teil eines Spiels mit Fiktion und Realität, das sich durch den gesamten Roman zieht
50 Thomas Mann an Erika Mann (vom 19. September 1924), in: Thomas Mann, Briefe 1924–1932, hg. v. Thomas Sprecher u. a., GKFA 23, Frankfurt a. M. 2011, S. 85–86, hier S. 86. 51 Hans Rudolf Vaget, The Making of The Magic Mountain, in: Ders. (Hg.), Thomas Mann’s The Magic Mountain. A Casebook, Oxford 2008, S. 13–30, hier S. 28. 52 Andreas Kablitz, Der Zauberberg. Die Zergliederung der Welt, Heidelberg 2017, S. 141. Die Darstellung des Krieges als „Weltfest des Todes“ und „arges Tanzvergnügen“ in der Schlussszene nimmt wiederum die Totentanz-Metaphorik auf. Vgl. Eckard Heftrich, Der Totentanz in Thomas Manns Roman „Der Zauberberg“, in: Franz Link (Hg.), Tanz und Tod in Kunst und Literatur, Berlin 1993, S. 335–350, hier S. 349–350. 53 Kablitz, S. 143. 54 Thomas Mann, Der Zauberberg. Roman, GKFA 22.1, hg. v. Michael Neumann, Frankfurt a. M. 2002, S. 1083. 55 Redl, S. 340.
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und in der Schlussszene auf den so aufmerksam mit dem Bleistift gelesenen „Kriegsbriefen“ basiert. 56 Mann verwendete Material aus den Briefen Fritz Klatts. Vorlage für das Romanende waren also Briefe von der Ostfront. Der Text verortet die Szene allerdings nicht in der Schlacht um Warschau, von der Klatt in der zweiten Oktoberhälfte 1914 berichtet, sondern lässt mit der Frage „Ost oder West?“ 57 des desorientierten Erzählers offen, ob Hans Castorp an der Ost- oder Westfront kämpft. Mann hielt sich zwar zeitlich an die Kriegsdarstellungen Klatts, verwendete also Briefe aus den ersten Kriegsmonaten zur Darstellung des Kriegsbeginns, 58 ließ deren Handlungsort aber offen bzw. überließ deren Verortung der Leserschaft. Bezeichnenderweise hat die Forschung das Gefecht im „Zauberberg“ aber als Darstellung der Ersten Flandernschlacht interpretiert, die ebenfalls in der zweiten Oktoberhälfte 1914 stattfand. 59 Indem Mann sich bei literarisierten, faktualen Texten als Vorlage bediente, die ihrerseits das kulturelle Gedächtnis gespeist hatten, entsteht so etwas wie ein pseudofaktuales Erzählen. 60 Geprägt vom Mythos von Langemarck, 61 der die Niederlage der Deutschen im Herbst 1914 an der Westfront als heldenhaften Opfertod der „singenden Jugend von Langemarck“ 62 propagierte, belegt die Interpretation, wie die Transformation der „Kriegsbriefe“ im „Zauberberg“ mit den Bildern des kulturellen Gedächtnisses spielt und einen Realitätseffekt erzeugt, auf den Leserinnen und Leser reagieren. Nicht zuletzt singt auch Castorp auf dem Schlachtfeld, kurz bevor „schräg vor ihm“ eine Brisanzgranate einschlägt, und zwar das Lied vom Lindenbaum, das noch einmal an seine fatale Sympathie mit dem Tode gemahnt. 63
56 Hans Wißkirchen hat anhand der Schilderung eines Traumbilds in den Briefen Klatts auf die strukturelle Ähnlichkeit zwischen Quelle und Roman hingewiesen, in denen „das Realistische in einer fantastischen Welt situiert wird, die gegen die reale Welt abgeschottet wird“. Hans Wißkirchen, Kriegsbilder und Kriegsbriefe. Neuigkeiten zum Schluss des Zauberberg-Romans, in: Études Germaniques 4 (2017), Jg. 288, S. 561–580, hier S. 576. 57 GKFA 22.1, S. 1081. 58 Im Nachsatz verabschiedet die Erzählinstanz Hans Castorp mit den Worten: „Das arge Tanzvergnügen, worein du gerissen bist, dauert noch manches Sündenjährchen“. Ebd., S. 1085. 59 GKFA 22.2, S. 409–410. 60 Vgl. Manfred Engel, Der Dichter als Zeit(krisen)deuter. Thomas Manns Roman „Der Zauberberg“, in: Ansel, S. 421–434, hier S. 429–430. 61 Alexander Honold attestiert der Schlussszene eine „Ähnlichkeit mit dem Gemetzel von Langemarck“. Alexander Honold, Der Einbruch des Krieges in die künstlerische Form, in: Niels Werber u. a. (Hg.), Erster Weltkrieg. Kulturwissenschaftliches Handbuch, Stuttgart 2014, S. 448–494, hier S. 462. 62 Bernd Ulrich, Die Augenzeugen. Deutsche Feldpostbriefe in Kriegs- und Nachkriegszeit 1914–1933, Essen 1997, S. 237. 63 GKFA 22.1, S. 1084.
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Witkop hatte ursprünglich intendiert, mit dem „tiefsten, heimlichen Ausdruck des Geistes“, „jenen schlichten, innersten Bekenntnissen“, also der Innerlichkeit der „Kriegsbriefe“ „die unmittelbaren Materialien“ 64 für ein zu schreibendes Kriegsepos zu liefern, für das er Mann als Autor vorgesehen hatte. Dieser verwendete seine Vorlage allerdings aufgrund ihrer stofflichen Qualitäten. 65 Mann las die „Kriegsbriefe“ gemäß ihrer literarisch-faktualen Art, so meine These, zum einen als historische Quelle, z. B. für den Ablauf eines Sturmangriffs, die klimatischen Bedingungen und die topografische Beschreibung des Schlachtfelds. Zum anderen übernahm er neben dieser referentiellen Dimension der Briefe auch deren Motivik, das Sprach- und Bildmaterial der Briefe. Er las und verwendete die Briefe also als authentische Mitteilungen von Augenzeugen, griff aber auch auf ihr literarisches Potenzial zurück. In der Marginalie „Kot, Feuer, Eisen, Blei“ verdichtet sich das Motivgefüge der „Kriegsbriefe“, wohlgemerkt nicht nur der markierten Textstelle, sondern auch der vorangegangenen Buchseiten: die schlammige Ackererde, die sich überall festsetzt, die brennenden Dörfer, die Flammen, das Feuer der eisernen Geschütze und die bleierne Munition der Infanterie. In der Textstelle, die die Marginalie markiert, intensiviert sich das sinnliche Erlebnis des Krieges: Wir sprangen gruppenweise zwischen Häusern und Gebüsch hervor in den durch Regen verschlammten Ackerboden, zehn Schritt weit, dort warfen wir uns platt zu Boden, die Nase in die Erde, die Füße seitwärts, daß die Hacken erdwärts lagen. Das Ziel ist so am kleinsten. Vor uns, etwa dreißig Schritt, platzte die Ladung. Ich sah nichts, denn ich hatte die Augen geschlossen. Ich glaube, meine Glieder waren gekrampft in dieser kurzen Sekunde des Wartens. 66
Diese Textstelle hat Mann an- und unterstrichen. Auch die folgende Schilderung markierte er am Rand: „Und nun stach und spritzte durch die Luft der Hagel der Eisen- und Bleistücke, rechts, links, über mir. Ich fühlte einen Schlag gegen mein Knie – es war nur ein Ballen aufgespritzter Erde“. 67 Mann unterstrich die Details der Darstellung: die Ereignisfolge von Hinwerfen, Aufspringen und Weiterrennen und wie der Körper des Soldaten lag, mit gespreizten Beinen, das Gesicht in der Erde, weil dreißig Schritt vor ihm eine Schrapnellgranate einschlug. Das angelesene Wissen über den Krieg und die Motivik der „Kriegsbriefe“ übernahm Mann in die Schlussszene des „Zauberbergs“, in der nun nicht mehr der Student Klatt, sondern der Kriegsfreiwillige Castorp den Granatenangriff erlebt: 64 Vgl. Philipp Witkop, Die Dichtung, in: Der Kampf des deutschen Geistes im Weltkrieg. Dokumente des deutschen Geisteslebens aus der Kriegszeit, hg. v. Karl Hönn, Gotha 1915, S. 102–120, hier S. 106–107. 65 Witkop, Zum Geleit, S. VI–VII. 66 Witkop, Kriegsbriefe, in: Datenbank Thomas Manns Nachlassbibliothek, Bild 90. 67 Ebd.
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Er stürzt. Nein, er hat sich platt hingeworfen [. . . ]. Er liegt, das Gesicht im kühlen Kot, die Beine gespreizt, die Füße gedreht, die Absätze erdwärts. Das Produkt einer verwilderten Wissenschaft, geladen mit dem Schlimmsten, fährt dreißig Schritt schräg vor ihm wie der Teufel selbst tief in den Grund, zerplatzt dort unten mit gräßlicher Übergewalt und reißt einen haushohen Springbrunnen von Erdreich, Feuer, Eisen, Blei und zerstückeltem Menschentum in die Lüfte empor. [. . . ] Ein großer Erdklumpen fuhr ihm gegen das Schienbein, das tat wohl weh, ist aber lächerlich. 68
Besonders in der Liegeposition Castorps, die übrigens die Körperhaltung der Liegekur im Sanatorium umdreht, 69 wird die hypertextuelle Beziehung zu Klatts Brief deutlich. Wie in der Vorlage beschreibt Mann sie in der Reihenfolge von Kopf bis Fuß, vom Gesicht über die Beine bis hin zu den Füßen. Das mitteldeutsche Wort „Kot“ kommt in den „Kriegsbriefen“ zwar nicht vor, wohl aber das, was es bezeichnet. Bereits in der Marginalie verdichtet und literarisiert Mann Klatts Schilderung von Schlamm, Dreck und Schmutz auf dem Schlachtfeld, die er dann in der Schlussszene motivisch wieder auffächert. 70 Die Marginalie lässt sich in dem Zitat leicht modifiziert als „Erdreich, Feuer, Eisen, Blei“ wiedererkennen, die Motive durchziehen außerdem, ebenso wie bei den „Kriegsbriefen“, die gesamte Szene. Sie kommen in den „verschlammten Äckern“, der „Brandröte des trüben Himmels“, den „Bajonetten“ und „anheulenden Projektilen“ zum Ausdruck und verbinden sich zu „Feuerdreck“ und dem „Sperrfeuer von Schrapnells“. 71
5. Fazit Die „Kriegsbriefe“ der studentischen Soldaten basieren auf realen Ereignissen und stellen die psychologische, soziale, technische und sinnliche Erfahrung des Krieges dar. Sie behaupten Authentizität, sind aber durch Verdichtung, Entfernung briefspezifischer Elemente wie der Anrede und durch ihre Anordnung literarisiert und nicht zuletzt von den Autoren bereits auf ihre Veröffentlichung hin und für die Nachwelt verfasst. Manns Lesespuren verdeutlichen, dass er die „Kriegsbriefe“ als historische Quelle nutzte, die ihm Auskunft über das Erleben der Soldaten und das Kriegsgeschehen gab. In den Anstreichungen kommt die Emphase der Lektüre zum Ausdruck, die Manns Philosophie des Krieges in den „Betrachtungen“ begleitete. Die Unterstreichungen markieren, deutlicher 68 GKFA 22.1, S. 1084. 69 Vgl. Kablitz, S. 43. 70 Zum Schlamm-Motiv als Metonymie der Auflösung im „Zauberberg“ vgl. Ursula ReidelSchrewe, „Alles ein Matsch und Schlamm“. Volumen und Entropie im „Zauberberg“, in: Regine Zeller u. a. (Hg.), Der Geist der Erzählung. Narratologische Studien zu Thomas Mann, Würzburg 2017, S. 9–24. 71 GKFA 22.1, S. 1080–1083.
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als Anstreichungen, bestimmte Textstellen mit referentiellem Geltungsanspruch, deren faktisches Wissen vom Krieg den Romanschluss durch sachliche Richtigkeit dann authentisch wirken lassen. Im Gegensatz zur Schilderung des Sanatoriums konnte Mann für eine realistische Darstellung der Schlussszene auf dem Schlachtfeld weder auf eigene Erfahrung noch die Erzählungen seiner Frau zurückgreifen. So übernimmt Mann zum Beispiel die konkrete Angabe, dass die Granate „dreißig Schritt“ vor dem Soldaten einschlägt, als Zitat aus den Briefen Klatts, das den Weg in eine den Schreibprozess rekonstruierende Lektüre der Schlussszene weist. Für die sprachliche und bildhafte Darstellung orientierte sich Mann an den literarischen Mustern der Briefe, die Teil des kulturellen Gedächtnisses geworden waren. So kommt das Motiv des aufspritzenden Erdklumpens hier in einer invertierten Variante von Ernst Jüngers Darstellung in „Stahlgewittern“ vor. Dort erzählt der Protagonist: „Ich glaubte, von einem Erdklumpen getroffen zu sein, doch belehrte mich reichlich strömendes Blut bald, daß ich verwundet war. Es zeigte sich später, daß mir ein haarscharfer Splitter eine Fleischwunde geschlagen hatte, nachdem seine Wucht durch meine dicke Leder-Geldtasche abgeschwächt war“. 72 Castorp hingegen meint, von einem Granatsplitter getroffen zu sein, tatsächlich handelt es sich um einen Erdklumpen. Mann hielt sich hier an die Vorlage und kehrte das bekannte Motiv in einer subtilen Parodie um. Die Beispiele verdeutlichen, dass sich die transtextuelle Beziehung bis in den Satzbau und die Wortverwendung nachweisen lässt. Sie belegen, dass sich die Faktualität und Literarizität der „Kriegsbriefe“ zum einen in den Lesespuren und zum anderen in ihrer Bedeutung als Hypotext im „Zauberberg“ spiegeln. Am Ende bleibt vor dem Hintergrund, dass Erzählungen vom Krieg und Feldbriefe in der Zeit, als Mann am „Zauberberg“ arbeitete, weit verbreitet waren, zu klären, warum er gerade Witkops „Kriegsbriefe“ verwendete. Die pragmatische Erklärung, dass der Autor einfach in sein Bücherregal griff und das bereits gelesene Exemplar wählte, erscheint zwar plausibel, aber zu einfach zu sein. Der „Zauberberg“ lässt sich als ein Beispiel für „disziplinäre Dichtung“ lesen, d. h. als ein Werk, das sowohl seine „Problemstellung als auch die sich daraus ergebende Form aus dem Bezug zur philologischen, vor allem germanistischen Disziplin“ 73 gewinnt und sich als Artefakt in die zeitgenössische Diskussion der Geisteswissenschaft um das Verhältnis von Geist 72 Ernst Jünger, In Stahlgewittern. Historisch-kritische Ausgabe, hg. v. Helmuth Kiesel, Stuttgart 2012, Bd. 1, S. 80 (Fassung der Erstausgabe von 1920). In der Fassung letzter Hand von 1978 präzisiert Jünger die Lokalisation des Granatsplitters am „linken Oberschenkel“ (S. 81). 73 Alexander Nebrig, Disziplinäre Dichtung. Philologische Bildung und deutsche Literatur in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Berlin 2013, S. 2.
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und Leben einmischte. Mit dem transtextuellen Bezug zu den „Kriegsbriefen deutscher Studenten“, die sich in ihrer Schilderung des Kriegserlebnisses, detail- und assoziationsreich, von Feldbriefen anderer Bevölkerungsschichten unterschieden und als edierte Buchausgabe Vorlage für ein zu schreibendes Kriegsepos sein sollten, übt der „Zauberberg“ Kritik an einer „verwilderten Wissenschaft“, 74 die dazu beigetragen hatte, dass eine ganze Generation von Studenten und Dozenten in den Krieg gezogen war. Durch die Verwendung der studentischen Feldbriefe und der Situierung der Szene im Kontext des Mythos von Langemarck blieb Mann im Dialog mit Literaturwissenschaft und Literaturkritik, die ihre Leseeindrücke in Rezensionen und persönlichen Briefen an den Autor zum Ausdruck brachten. 75 Im Erleben der Figur Hans Castorp auf dem Schlachtfeld verdichten sich die Erinnerungen und Erfahrungen einer ganzen Kriegsgeneration von Soldaten. Er wird einmal mehr zum Repräsentanten seiner Zeit. Als Ego- und Zeitdokumente lieferten die „Kriegsbriefe“ hierzu den vermeintlichen „Blick von unten“, die individuelle Perspektive auf ein Zeitgeschehen. Im Zusammenhang ergeben sie ein vielstimmiges Bild des modernen Kriegs, der mit seinen Materialschlachten, dem Ausmaß an Chaos und Zerstörung als Ganzes, als Kriegsepos aus der Perspektive eines Kriegshelden nicht mehr erfahrbar und erzählbar war. Die Unmöglichkeit des Erzählens symbolisiert in der Schlussszene der desorientierte Erzähler, dessen Erzählen immer wieder abbricht, der sich weigert, von den Kriegsgräueln zu erzählen, und der am Ende sogar den Protagonisten aus den Augen verliert. 76 Mit dem Griff zu Witkops „Kriegsbriefen“ löste Mann die Frage nach der angemessenen „Sprache der Erinnerung“ 77 zur Darstellung des Krieges, indem er sie als Quelle für die sprachlichen Deutungsmuster und Sinnzuweisungen, als Dokumente des kulturellen Gedächtnisses nutzte, wozu sie sich gerade aufgrund ihrer Hybridität als faktuale und literarische (bzw. literarisierte) Texte eigneten. Was in diesem Sinne durch die transtextuelle Transzendenz der Schlussszene hindurchscheint, sind nicht nur die hypertextuellen Bezüge zu den „Kriegsbriefen“, sondern vielmehr die Erzählungen und Bilder von der Front- und Kriegserfahrung, die u. a. durch Feldbriefe Teil des kollektiven Gedächtnisses der Zeit geworden waren. Die vielstimmige, verdichtete Vorlage der „Kriegsbriefe“ ermöglichte es Mann, die Schlussszene des „Zauberbergs“ zu gestalten, ohne sich einer der modernen Welt nicht mehr angemessenen Konvention von Synthese und Ge74 GKFA 22.1, S. 1084. 75 In den Reaktionen auf den „Zauberberg“ hebt Mann die Briefe Ernst Bertrams und Julius Babs hervor, in denen diese ihre Lektüreeindrücke schildern. Vgl. Thomas Mann an Julius Bab (vom 22. Februar 1925), in: GKFA 23, S. 140–141. 76 Vgl. Kablitz, S. 108. 77 Michael Braun u. a., Nach 1914: Wie der Erste Weltkrieg in die europäische Kultur kam, in: Ders. u. a. (Hg.), Nach 1914, S. 11–20, hier S. 12.
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schlossenheit zu unterwerfen. Die Zergliederung als zentrales Moment der erzählten Welt und des Erzählens im „Zauberberg“ wird zur neuen Form des Kriegsepos als „hermetische Geschichte“ 78 – nicht eines Kriegshelden, sondern eines einfachen, jungen Mannes, der in den Fokus der Geschichte im doppelten Sinne gerät. Sie endet dort, wo sich das Schicksal Hans Castorps mit dem Schicksal von Millionen Todesopfern und im Besonderen mit dem Schicksal der 27 studentischen Soldaten im Ersten Weltkrieg vermischt, die gefallen sind oder den Krieg überlebt haben. 79
78 GKFA 22.1, S. 1085. 79 In einer Anschlussstudie ließe sich zeigen, wie die Verwirrung der Leserschaft über das abrupte, kurze Ende des Romans, das als Gegenpol zur Sanatoriumswelt konzipiert ist und die gerade erst historisch gewordene Wirklichkeit mit der fiktiven Welt im pseudofaktualen Erzählen verschmilzt, zum einen zu einer Forschungsdiskussion über die hybride Gestaltung der Schlussszene geführt – vgl. paradigmatisch Willy Schumann, „Deutschland, Deutschland über alles“ und „Der Lindenbaum“. Betrachtungen zur Schlußszene von Thomas Manns „Der Zauberberg“, in: German Studies Review 1 (1986), Jg. 9, S. 29–44 mit ausführlichen Schilderungen der historischen Ereignisse im Herbst 1914 – und zum anderen ein reges literarisches Nachleben der Castorp-Figur provoziert hat. Vgl. Werner Beumelburg, Die Gruppe Bosemüller. Der große Roman des Frontsoldaten, Oldenburg 1930; Paweł Huelle, Castorp, München 2005.
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(Uniwersytet Wrocławski)
Das Bild des Krieges und die neue Theologie im Werk Ernst Jüngers von „Über die Linie“ (1951) bis zum Traktat „Der Gordische Knoten“ (1953) Ernst Jünger wurde nach dem Erfolg der „Strahlungen“ und nach den intensiven Diskussionen seines Romans „Heliopolis“ (beides erschien 1949), auch zum Erstaunen seiner Anhänger und Gegner, in die christlich-existentialistischen Kontexte der damaligen Literatur integriert. Diese Deutungen, die im Rahmen der Diskussionen um die Wiedereingliederung der deutschen Literatur in die europäischen Kontexte eine programmatische Funktion hatten, erreichten in den fünfziger Jahren ihren Höhepunkt. Jünger drohte dabei, wie Armin Mohler nicht ohne Ironie bemerkte, die Rolle eines Gerhart Hauptmann der zweiten Republik zu übernehmen. Gemessen an der Quantität und Qualität des Werkes, markieren die 1950er Jahre für Jünger nicht nur eine glückliche Rückkehr ins literarische Leben jener Zeit, sondern auch eine Epoche, in der er seine Poetik der „magischen Schau“ um theologische Komponenten zu bereichern suchte. 1 Seit „Strahlungen“ und „Heliopolis“ kann man einen Ausbau der platonisch-metaphysisch begründeten symbolischen Poetik beobachten. 2 Walter Hilsbecher versuchte mit dem Hinweis auf die Verschmelzung von rationalen und irrationalen Elementen Jüngers Poetik aus dem funktionalen Zusammenhang des Nihilismus-Vorwurfs zu befreien: „Die Spannung zwischen der magischen Tiefe des Er-
1 Niels Penke, Ernst Jünger und der Norden. Eine Inszenierungsgeschichte, Heidelberg 2012, S. 155. 2 Der Jüngersche Symbolbegriff der 1950er Jahre ist mit der Schau verbunden, mit der Fähigkeit, das Sein in den Erscheinungen zu sehen: „Zum Symbol wird uns das Vergängliche, wenn das Sein durchleuchtet“; „Zur Allegorie gehört Vertauschbarkeit der Bilder ohne Rangordnung“; „Das Klischee endlich ist nicht nur beliebig vertauschbar, sondern auch beliebig reproduzierbar, millionenfach“. Ernst Jünger, Das Sanduhrbuch, Frankfurt a. M. 21954, S. 220. Symbol, Allegorie und Klischee sind drei Begriffe, mit denen Jünger seine transitorische Epoche kritisch misst und sie zugleich in die mythologischen Konstellationen einbettet, die ihre Widerspiegelung in allen Lebenssphären, auch in der religiösen finden: „Wie sich der Mythos in der Geschichte wiederholt, zwar unsichtbar, jedoch dem Seher nicht verborgen, so ist es auch mit Begegnung von Kronos und Uranos. . . Das spiegelt sich politisch in den Zwisten der Patrizier mit den Plebejern, der Konservativen mit den Revolutionären. . . oder metaphysisch in der Beziehung auf den Himmel, das große Jenseits, und das zeitliche Diesseits hier“. Ebd., S. 225.
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lebnisses und der hohen Bewußtheit seiner Gestaltung macht ja gerade die Faszination des Jüngerschen Stiles aus“. 3 Diese neue Theologie wird als ein weltanschaulich-ästhetisches Phänomen betrachtet. Der Dichter stelle keine „Lehre“ auf, sondern praktiziere eine „Schau“, die an mystische Praktiken gemahne. Hilsbecher pointierte diese neue Theologie als die Wiederkennung der menschlichen Existenz in einem absoluten Prinzip; bei Hölderlin: die versuchte Synthese von Christentum und Hellenismus; bei Nietzsche das absolute Diesseits, das amor fati, der Übermensch; bei Rilke: der reifende Gott der Engel, das Zuhausesein in den „beiden Bereichen“; bei Valery: der bittere Gang durch die letzte Illusion; bei Sartre: die absolute Freiheit, die absoluter Verantwortung gleichkommt; bei Jünger: das amor fati, die Bereitschaft zum Schmerz, die Theologie des Abenteuers, des Wunderbaren. 4
Eine weit kritischere Haltung zu den theologischen Aspekten im Werk Jüngers der ersten Hälfte der fünfziger Jahre vertrat Hans Blumenberg. Das Unzerstörbare zu gewinnen, wie Blumenberg 1955 in seinem „Fazit“-Aufsatz schrieb, „ist das Grundmotiv in Jüngers Metaphysik“. 5 Bei dieser Suche stehe aber Jünger dem Wagnis fern, „das im Begriff der Gnade beschlossen ist“. In „Heliopolis“ gelange er zu keiner „Verbindlichkeit“; dies auf Grund seiner experimentierenden Wendigkeit, „die Magie, Extase und Rausch nicht verschmäht“. Aus diesem Grunde lehnt Blumenberg den Roman schroff ab, der „die Wirkung und Glaubwürdigkeit“ Jüngers beeinträchtigt habe. Noch gewichtiger ist der Vorwurf des Gnostizismus: „Die gnostische Weltsicht ist radikal dualistisch, sie verschärft die Differenzen bis zu ihrer reinsten Formel, in der es keine Übergänge mehr gibt, aber sie macht zugleich die Gegensätze auch gegenseitig voneinander abhängig: das eine ist nur durch das andere“. So sei die Anwendung dieses Schemas mit der Konsequenz, „die Freiheit nicht nur gegen, sondern auch durch die Despotie existieren zu lassen“, 6 falsch. Die theologische bzw. religiöse Motivierung des Jüngerschen Werkes der fünfziger Jahre geht mit einer therapeutischen Funktion seines Schaffens einher: sich von den direkten Konsequenzen der Zeit, vor allem des Zusammenbruchs zu befreien. So ist für ihn das Symbol der Sanduhr auf Albrecht Dürers d.J. Kupferstich „Der heilige Hieronymus im Gehäus“ ein „Wahrzeichen der Beschaulichkeit und der Abgeschiedenheit von den Mächten der Zeit“. 7 In die3 Walter Hilsbecher, Ernst Jünger und die neue Theologie. Fragmente, Selbstverlag 1949, S. 20. Ich danke Herrn Tobias Wimbauer für die Scans der heute schwer zugänglichen Schrift von Hilsbecher. 4 Ebd., S. 6–7. 5 Hans Blumenberg, Ernst Jünger – ein Fazit, in: Ders., Der Mann vom Mond. Über Ernst Jünger, hg. v. Alexander Schmitz und Marcel Lepper, Frankfurt a. M. 2007, S. 26–27. Der Text wurde als Aufsatz unter dem Titel „Ernst Jünger – ein Fazit“ in den „Düsseldorfer Nachrichten“ (1955) erstmals veröffentlicht. 6 Ebd. 7 Jünger, Das Sanduhrbuch, S. 267.
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sem Sinne passt die Haltung Jüngers sehr wohl zum Klima der Adenauer-Ära mit ihrem Wirtschaftswunder, dessen Auswirkungen Jünger auch im Ausland (auf Sardinien oder in Antibes) beobachten kann; sie passt allerdings kaum zu der in Bezug auf Jüngers Werk oft gebrauchten Floskel von einer Verdrängung der (Zeit-)Geschichte, deren zweifelhafter Charakter auch in der vorliegenden Betrachtung gerade am Beispiel der Kriegsproblematik zu zeigen ist. 8
1. Jüngers Heidegger-Zwiegespräch in „Über die Linie“ Heidegger denkt die Metaphysik als Frage nach einer ursprünglichen Offenbarkeit des Nichts, ohne sie gäbe es kein Selbstsein und keine Freiheit. 9 „Metaphysik ist somit das Hinausfragen über das Seiende, um es als ein solches und im Ganzen für das Begreifen zurückzuerhalten“. 10 Das Nichts ist nicht das Nichtige, ihre Gleichsetzung bedeutet eine Absage ans Denken; 11 – eine Erkenntnis, die Jünger offensichtlich erst in „An der Zeitmauer“ aus der Diskussion mit Heidegger gewinnen wird, wenn er feststellt, beim Nihilismus handle es sich nicht um eine Nichtigkeit, sondern um den Angriff auf den Wert der „väterlichen Macht“. 12 Heidegger hat in seiner Analyse des Arbeiters die nihilistische Ausprägung der Jüngerschen Metaphysik wahrgenommen. Er glaubt, darin vor allem den Ausdruck des „Willens zum Willen“ gefunden zu haben. 13 „Das arbeitende Tier ist dem Taumel seiner Gemächte überlassen“. 14 So müsse die Metaphysik, die Verwüstungen verursacht habe, durch die Metaphysik überwunden werden,
8 Die umfangreiche Problematik der Jüngerschen Wende vom strammen Nationalisten und Apologeten des „Arbeiters“ zu einem reflektierenden, angeblich „konservativen“ Autor wird an anderer Stelle besprochen. Vgl. Penke, S. 104–108. 9 Martin Heidegger, Was ist Metaphysik?, in: Ders., Gesamtausgabe, Bd. 9: Wegmarken, hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt a. M. 2004, S. 115. 10 Ebd., S. 118. 11 Martin Heidegger, Nachwort zu „Was ist Metaphysik?“, in: ebd., S. 306. 12 „Es zeigt sich, daß man das Nichts nicht wollen kann. Um das Nichts zu wollen, muß man zunächst nicht wollen. Das trifft nicht für unseren Nihilismus zu. Er will nicht das Nichts, er will ein Etwas nicht: die väterliche Macht“. Ernst Jünger, An der Zeitmauer, in: Ders., Sämtliche Werke, Bd. VIII: Essays II, Stuttgart 1981, S. 637–638. 13 „Daß der Mensch als Animal rationale, d. h. jetzt als das arbeitende Lebewesen die Wüste der Verwüstung der Erde durchirren muß, könnte ein Zeichen dafür sein, daß die Metaphysik aus dem Sein selbst und die Überwindung der Metaphysik als Verwindung des Seins sich ereignet. Denn die Arbeit (vgl. Ernst Jünger, Der Arbeiter, 1932) gelangt jetzt in den metaphysischen Rang der unbedingten Vergegenständlichung alles Anwesenden, das im Willen zum Willen west“. Martin Heidegger, Überwindung der Mataphysik, in: Ders., Gesamtausgabe, Bd. 7: Vorträge und Aufsätze (1936–1953), hg. v. FriedrichWilhelm von Herrmann, Frankfurt a. M. 2000, S. 70. 14 Ebd., S. 71.
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um eine „jähe Weile des Anfangs“ 15 nach der sich bereits ereignet habenden Katastrophe zu ermöglichen. Nihilismus bedeutet für Jünger einen Niedergang der, wie Nietzsche formulierte, christlichen Werte. 16 Der Schriftsteller folgt Dostojewskij, wo er den Austritt aus der Gemeinschaft, aus der Gemeinde der Gläubigen als „Zuwachs an physischer und geistiger Macht auf Kosten des Heils“ 17 bezeichnet. Das Hauptmerkmal des Nihilismus sei die Verarmung und der Schwund, dort zum Beispiel, wo Gott als das Gute bezeichnet wird, oder dort, wo Ersatzreligionen entstehen, die Apostel ohne Auftrag sich zeigen. 18 Symbole würden auf entblößte Beziehungen reduziert: „Man konsekriert noch, obwohl man nicht an die Wandlung glaubt“. 19 Es ist markant, dass sich Jünger bei der Beschreibung der Seinsvergessenheit in erster Linie auf den Schwund der metaphysischen Substanz beruft und dabei theologische Kategorien bemüht, die als entleerte Hülsen, ohne symbolischen Bezug und lediglich als pure Funktionalität den Triumph des Nihilismus unter Beweis stellen. Mit dieser Entwertung verlieren auch andere Sphären ihren Sinn, wie z. B. jene des Soldaten und des Krieges: in der dynamischen Moderne, die bildhaft als „das schauerliche Horten von Geschossen“ 20 in der „Hortung der Raketen“ dargestellt wird, kommt es zur Verwandlung des Seienden in bloße Dynamik, innerhalb derer das Soldatische mit seinem Ehrenkodex allen Sinn verliert. 21 In der Atmosphäre einer starken Hinwendung zu den Kirchen, welche für die Nachkriegszeit in West- und Ostdeutschland charakteristisch war, distanziert sich Jünger vom religiösen Nihilismus, glaubt aber nicht, dass „sich die Phänomene sogleich als theologisch zu erkennen geben werden“. 22 Andererseits sei die Wiederbelebung des Glaubens durch den Schmerz 23 zu begrüßen, auch wenn es um die bloße Vermutung „gegenüber der völligen Indifferenz des späten Liberalismus und Schlimmerem“ 24 geht. Es sei kein Wunder, dass in den materialistisch geprägten, sozialistischen bzw. liberalen Systemen, schon ein Verdacht auf metaphysische Orientierung zum 15 Ebd., S. 72. 16 Ernst Jünger, Über die Linie, in: Ernst Jünger / Martin Heidegger, Briefwechsel 1949– 1975, hg. v. Simone Meier, kommentiert und mit einem Nachwort versehen von Günter Figal, Stuttgart 2008, S. 110: „Der Niedergang der Werte ist vor allem der Niedergang der christlichen Werte. . . “. 17 Ebd. 18 Ebd., S. 125. 19 Ebd., S. 126. 20 Ebd., S. 129. 21 „Es ist kein Zufall, daß hier die gleichen Kräfte wirken, die den Soldaten diskriminieren, der noch Regeln des Kampfes und den Unterschied zwischen Kriegern und Wehrlosen kennt“. Ebd. 22 Ebd., S. 128. 23 Vgl. ebd., S. 131 24 Ebd., S. 133.
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physischen oder zivilen Tod führen könne: „Es gibt Gebiete auf der Erde, auf denen man bereits das Wort ‚Metaphysik‘ als Ketzerei verfolgt. Daß jede Heroenverehrung und jede große menschliche Figur dort in den Staub zu ziehen ist, versteht sich von selbst“. 25 Der „metaphysische Hunger“ der Massen sei ein Anzeichen für die moralische Gesundung auf religiöser Grundlage. Die (protestantische) Theologie sei jedoch zu sehr verwickelt in den Streit um theologische Einzelfragen. 26 Der Mangel sei dort am geringsten, wo der reine Gottesdienst, also der orthodoxe Kern geblieben ist; aus diesem Grunde würden die Katholiken besser den nihilistischen Übergang überstehen als die protestantischen Kirchen. 27 So gibt es für Jünger drei mächtige Kräfte, die sich dem Nihilismus widersetzen können: es sind der Tod, der Eros und ein freies künstlerisches und philosophisches Schaffen, das in der musischen Lebensführung 28 gipfelt. Der Tod, verbunden mit einer Lehre, die „transzendiert“, 29 garantiert dem Einzelnen Macht, die in der metaphysischen Überzeugung von der Unzerstörbarkeit des Menschlichen wurzelt. Auch der Eros bietet Unzerstörbares – als Liebe und als Freundschaft (hier werden von Jünger Romane seines Pariser Bekannten, Henry Miller, 30 angeführt). Das mächtigste Instrument bei der Überwindung der Metaphysik, die von Heidegger als der Wille zum Willen bezeichnet wurde, ist nach Jünger die Kunst. Jünger nimmt nicht nur mit Schopenhauer einen metaphysischen Trieb im Menschen an, sondern er geht auch davon aus, dass sich dieser Trieb, der nach Heidegger die Maschinenwelt befeuert, in einen Kunsttrieb verwandeln kann. So wird der „metaphysische Antrieb“ im Kunstwerk „den höchsten Sinn erhalten“. 31
2. „Der Waldgang“ Der 1951 veröffentlichte „Waldgang“ distanziert sich vielleicht am stärksten von den bei Jünger angeblich bestehenden „Ideologemen“ des kalten Krieges, die sich offensichtlich eher in den Köpfen der Kritiker als in der Struktur des Textes selbst befinden. So lehnt er hier entschieden den Rüstungswettlauf ab: „Die Rüstung ist auf den Kriegsfall angelegt“ und führt zum „Bankrott“. 32 Auch von einer Diffamierung der Russen kann hier keine Rede sein, denn
25 26 27 28 29 30 31 32
Ebd., S. 142. Vgl. ebd., S. 135. Vgl. ebd. Ebd., S. 143: „Durchaus verwandt sind Freiheit und musisches Leben“. Ebd., S. 142. Ebd. Ebd., S. 144. Ernst Jünger, Der Waldgang, Stuttgart 2001, S. 46.
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„als Bolschewik befindet er sich auf dem Schiffe, als Russe ist er im Wald“. 33 Wahr ist, dass der Traktat als eine Auflehnungsschrift zu verstehen ist, die sich sowohl gegen den Stalinismus im Osten des Landes als auch gegen jegliche Form der Abhängigkeit im Westen, mithin gegen die westliche reeducation richtet und Deutschland als geteiltes und okkupiertes Land zur Voraussetzung hat. 34 Gerade diese durchaus politische Prämisse erlaubt es Jünger, sich mit der gängigen Propaganda des kalten Krieges nicht anzufreunden. 35 Hier werden – bei Festlegung der poetologischen Positionen – die Poesie, Theologie und Mythologie als stärkste Kräfte im Menschen apostrophiert, die es ihm ermöglichen, eine personalistische Haltung zu entwickeln. 36 Dabei müsse entschieden jeder „religiöse Nihilismus“ abgelehnt werden, d. h. eine Haltung, die eine göttliche Instanz herausstellt und das Humane ignoriert: „Man kann sich jedoch nicht darauf beschränken, im oberen Stockwerk das Wahre und das Gute zu erkennen, während im Keller den Mitmenschen die Haut abgezogen wird“. 37 Meint der Wald also etwas Metaphysisch-Transzendentes, das sich „über“ den mythologischen, philosophischen, konfessionellen Wirklichkeiten befindet und den Kirchen ihren sakramentalen Sinn verleiht? Jünger bedient sich bei der Umschreibung des Waldes auch neutestamentarischer Symbolik, es kommt u. a. das „Weizenkorn der christlichen Gleichnisse“ vor, da ist auch
33 Ebd. 34 Penke stellt fest, es gehe „hier um die Frage nach der deutschen Identität“. Penke, S. 158. 35 „Aber letztlich, so schließt Jünger, äußere er sich zu dergleichen Lösungen wie zum Kriegerischen überhaupt nur deshalb, um einen Krieg zu vermeiden: in diesem Falle durch das verstärkte Risiko“. Vgl. das Interview mit Arthur Rathke, Besuch auf dem Godenholm, in: Ernst Jünger, Gespräche im Weltstaat. Interviews und Dialoge 1929–1997, hg. v. Rainer Barbey und Thomas Petraschka, Stuttgart 2019, S. 76–79. Das Interview erschien zum ersten Mal unter dem Titel „Besuch auf Godenholm. Ein Nachmittag bei Ernst Jünger“ in „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ (1955). 36 Die kritischen Lesarten betonen erstens die Unverbindlichkeit des Waldgängers, d. h. seine Verschwommenheit in der Begriffswelt von Poetiken, Theologien, Mythologien (C. Schmitt) und zweitens eine tiefe Verankerung in den Ideologemen des kalten Krieges, die dazu noch das demokratische System der Bundesrepublik angreifen. „Die ‚unangreifbare Tiefe‘, derer sich der Waldgänger bewusst ist (SW 7, 374), resultiert aus der Abwehr jedes verbindlichen epistemischen Anspruchs, so dass Jüngers Thema trotz der symbolischen Aufladung der Figur ‚in einer abstrakten Allgemeinheit zergeht‘. Schmitt 1963, S. 26. Diese abstrakte Allgemeinheit, das hat Schmitt offenbar übersehen, verfügt trotzdem über eine Signatur, die man als politisch bezeichnen muss, denn selbst die radikale, ‚anarchische‘ Vereinzelung des Waldgängers, die ihn außerhalb der öffentlichen Ordnung und ihrer Ansprüche situiert, setzt ihn zugleich in ein Verhältnis nicht der individualistischen Indifferenz, sondern der äußersten Feindschaft zu dieser Ordnung“. Friedrich Balke, Der Waldgang, in: Ernst Jünger-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg. v. Matthias Schöning, Stuttgart 2014, S. 192. Mit „Schmitt 1963“ meint Balke: Carl Schmitt, Theorie des Partisanen. Zwischenbemerkung vom Begriff des Politischen, Berlin 1963. 37 Jünger, Der Waldgang, S. 36.
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„Gethsemane mit ihren Ölbäumen“, 38 neben vielen anderen Bildern aus den verschiedensten Mythologien und Legenden. Der Wald ist vor allem das Gebiet, in dem der Kampf zwischen dem Schrecken und dem menschlichen freien Willen ausgetragen wird. Die Schreckenslage des modernen Menschen wird für Jünger durch die Situation des Bürgerkrieges bedingt. Gehörte der Erste Weltkrieg noch in die Reihe der Völkerkriege, die Nationalstaaten geführt und gewonnen oder verloren haben, so ist der Zweite Weltkrieg bereits ein Weltbürgerkrieg mit allen schrecklichen Konsequenzen gewesen: „Der Zweite Weltkrieg unterscheidet sich vom Ersten nicht nur dadurch, daß die nationalen Fragen offen in die des Bürgerkrieges eingehen und sich ihnen unterordnen, sondern zugleich dadurch, daß die mechanische Entwicklung sich steigert und letzten Grenzen nähert im Automatischen“. 39 Auf jeden Fall lebt man nach dem durch den Zweiten Weltkrieg bestätigten Prinzip der totalen Mobilmachung in einer Situation, in der „Krieg und Frieden schwer zu unterscheiden sind“. 40 Im Angesichte dieser Entwicklungen, die dazu noch mit der nationalen Katastrophe Deutschlands verbunden sind, beruft sich Jünger auf den christlichen Personalismus: „Demgegenüber ist es wichtig, zu wissen, daß jeder Mensch unsterblich und daß ein ewiges Leben in ihm ist, unerforschtes und doch bewohntes Land, das er selbst leugnen mag, doch das keine zeitliche Macht ihm rauben kann“. 41 Der Waldgang zielt also nicht auf eine neue Rüstung, sondern auf die Möglichkeiten, die Katastrophe des latenten Weltbürgerkrieges zu ertragen, sowie die nationale Würde 42 zu wahren; dabei ist markant, daß sich der Dichter auf eine neue Theologie beruft, die eindeutig christliche Züge trägt. Der Traktat unterscheidet sich von „Heliopolis“ durch eine weitgehende Demokratisierung. Zum Waldgänger kann jeder werden, der das Bewusstsein der Freiheit in sich trägt. Und dazu eignen sich alle. Allerdings sollen die Theologen Zugang zu den Quellen verschaffen, die dem modernen Menschen schöpferische Kraft, Ausdauer und vor allem Hoffnung verleihen: „Mit Recht erwartet der also Dürstende vom Theologen, daß er sein Leiden stille, und zwar nach dem urtheologischen Vorbild des Stabes, der aus dem Felsen Wasser schlägt“. 43 38 39 40 41 42
Ebd., S. 49. Ebd., S. 24. Ebd., S. 79. Ebd., S. 92. „Der Deutsche mußte darüber nachdenken. Nach seiner Niederlage wurde die Absicht, ihn auf ewig zu entrechten, ihn zu versklaven, ihn durch Aufteilung zu vernichten, an ihm erprobt. Diese Prüfung war schwerer als die des Krieges, und man darf sagen, daß er sie bestanden hat, bestanden schweigend, ohne Waffen, ohne Freunde, ohne ein Forum auf dieser Welt. In diesen Tagen, Monaten und Jahren wurde eine der größten Erfahrungen ihm zuteil. Er wurde zurückgeworfen auf sein Eigentum, auf seine der Vernichtung entzogene Schicht. Hier liegt ein Mysterium, und solche Tage sind verbindender als eine gewonnene Entscheidungsschlacht“. Ebd., S. 87–88. 43 Ebd., S. 93.
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„Theologe ist jener, der über die niedere Ökonomie hinaus die Wissenschaft des Überflusses kennt, das Rätsel der ewigen Quellen, die unerschöpflich und immer nahe sind. Als Theologe ist der Wissende verstanden“. 44 Eine derart breit angelegte Definition des Theologen entspricht dem Jüngerschen Synkretismus, der in der personalistischen Perspektive des Christentums der „Unterbindung des metaphysischen Zustroms“ 45 vorzubeugen sucht.
3. Schwarzenberg und die Bedeutung des Theologischen in „Besuch auf Godenholm“ (1952) Der Ausgangspunkt ist eine Diagnose des Nihilismus, der sich als allgemeiner Werteverlust zeigt. Die Hauptfiguren der Erzählung lebten nicht mehr im Übermut, wie früher, sondern „mit apokalyptischer Angst“. So entstand der Plan, „die Lage in kleinen Gruppen zu erwägen“, 46 was nichts Außerordentliches darstellte: „Immer gab es ja ein Bewußtsein, eine Einsicht, die dem historischen Zwange überlegen war“. 47 Vermutete der Erzähler von „Heliopolis“, dass sich hinter den angeblich selbstorganisierten, bloß kontingenten Naturgebilden eine transzendente göttliche Macht verberge („Man würde vielleicht im Lauf der Jahre, der Jahrzehnte lernen, die Hand, den Odem des Schöpfers zu verehren im Geschöpf“ 48), sucht Schwarzenberg (eine nördliche Entsprechung von Nigromontanus) nach „Zeichen der großen und im Unaufgeteilten wirkenden Vernunft“. 49 So ist Jünger in der Ouvertüre seines zweiten Romans der Nachriegszeit weit zurückhaltender bei der Schilderung des Theologischen als etwa in der ersten Fassung von „Heliopolis“, er sucht hier einen symbolischen Zugang durch das Profane hindurch. Entsprechend gemahnt der Raum im Turm, in dem Schwarzenberg seine Gäste empfängt, an eine Kapelle, ein Sanktuarium mit seinen an der Wand aufgestellten Bänken, die „einem Chorgestühl mit hoher Rückenlehne“ 50 gleichen, er erinnert auch an eine Apsis, in der sich ein Kreis von Vertrauten versammelt, andererseits hat er etwas Nautisches in sich, was sich von der christlichen Symbolik nicht allzuweit entfernt. Auch die Tracht von Schwarzenberg gemahnt an den Ornat eines Priesters. Seine
44 Ebd., S. 64. 45 Ebd., S. 56. 46 Ernst Jünger, Besuch auf Godenholm, in: Ders., Sämtliche Werke, Bd. XV: Erzählende Schriften I, Stuttgart 1981, S. 371. 47 Ebd., S. 372. 48 Ernst Jünger, Heliopolis, Tübingen 11949, S. 48. 49 Ernst Jünger, Besuch auf Godenholm, Frankfurt a. M. 11952, S. 29. Jünger hat seine Texte wesentlich geändert, auch die Erstfassung von „Besuch auf Godenholm“ weicht an vielen Stellen von der Fassung der sämtlichen Werke (vgl. Anm. 46) ab. Deshalb werden weiter die beiden Fassungen berücksichtigt. 50 Ebd., S. 30.
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(männlichen) Gäste sind auf der Suche nach dem metaphysischen Sinn, die sich im Falle des rationalistischen Nervenarztes Moltner als eine zeitweilige Kirchenanhänglichkeit manifestierte: „Nach dem Zusammenbruche war er zur Kirche zurückgekehrt, im Grunde mehr aus dem Bedürfnis des Künstlers, der in ihm verborgen war“. 51 Die Ästhetik der kirchlichen Symbole schafft eine quasi-Transzendenz im Irdischen, wie etwa im Falle der Kathedrale in Chartres für Durtal, der Hauptfigur des Bekehrungsromans von Huysmans, 52 kann aber als Remedium gegen die „Entzauberung der Zeit“ 53 nicht lange anhalten. Nach dem Verzicht Moltners auf das Religiöse wandte er sich der Ästhetik der „jüngsten Franzosen und Amerikaner“ in ihrer „immer greller zelebrierten Impotenz“ 54 zu. Erst Schwarzenbergs Heruntersteigen zum Bedrohlichen 55 und dann die Enthüllung einer bildhaften und bedeutungslosen Schönheit des Anderen erlaubte die Vorahnung einer „schwerelosen Zone zwischen sinnlicher und geistiger Wirklichkeit“ 56 (in der späteren Fassung: „einem schwerelosen Gefilde“ statt „einer schwerelosen Zone“ 57). Folgerichtig entspricht die Bilderflut, die Moltner sieht, keineswegs den natürlichen Erscheinungen, sondern seiner geistigen, bildhaften Energie: „Das war kein Wasser, das waren keine Fische“. 58 Ob diese Bilder symbolisch zu deuten seien, ist eine Frage, die in „Besuch auf Godenholm“ dezent bejaht wird, wenn man z. B. die christlichen Bedeutungen des Wassers und des Fisches berücksichtigt: „Oder war ihm bislang verhüllt geblieben, was Fisch und Wasser bedeuteten?“. 59 Was für Pater Foelix in „Heliopolis“ die Gewissheit der Heilssendung war, ist in „Besuch auf Godenholm“ die Gewissheit einer geistigen Sphäre, des Metaphysischen, die sich in einer geordneten und hierarchisch aufgebauten Bilderflut Moltner und Einar zeigt. Und diese Sphäre des Geistes ist im Menschen selbst zu finden: „Die 51 Ebd., S. 44. 52 Es geht hier um den Roman „Die Kathedrale“ von Joris-Karl Huysmans (Berlin o. J.). Die Huysmans-Lektüren Jüngers sind ein separates Thema. Die Verwandtschaft zu Durtal, der in erster Linie aus ästhetischen Gründen das Religiöse akzeptiert, ist im Falle Moltners und seines Ästhetizismus unverkennbar. Zweitens ist das ganze erste Kapitel des Romans der sakralen Symbolik der Kathedrale gewidmet, was an die symbolisch-sakrale Aufladung der Darstellung des Hauses von Schwarzenberg gemahnt. 53 Jünger, Besuch auf Godenholm (1952), S. 42. 54 Ebd., S. 44–45. 55 „War es das Wissen, dass jeder Untergang ein Anfang ist?“. Ebd., S. 65. 56 Ebd., S. 68. 57 Jünger, Besuch auf Godenholm (1981), S. 404. 58 Ebd., S. 407. 59 Ebd. Peter Koslowski stellt mit Recht fest: „Zu bemerken ist, daß die Initiation sich an einem Freitag, den achtundzwanzigsten Dezember (Jünger, Besuch auf Godenholm, Frankfurt a. M. 1952, S. 94), vielleicht im Jahre 1951 ereignet. Diese genauen Angaben fallen aber in den beiden späteren Auflagen weg. Bedenken wir auch den eigentümlichen Wert des Freitags in der Christenwelt, des Tages, der den Christen an die Leiden Christi erinnert und zur inneren Einkehr, zur Buße auffordert!“. Peter Koslowski, Die großen Jagden des Mythos. Ernst Jünger in Frankreich, München 1996, S. 142.
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Harmonien, die kosmischen Systeme, die Götterhimmel steigen aus ihm empor und sinken auf ihn hinab“. 60 Die Poetik dieser einfachen Erzählung beruht auf der „Erinnerung“ und der „Prophetie“, 61 die in Hoffnung und Liebe übersetzt werden; das Prinzip des „Absaugens der Zeit“ 62 wird durch die Ausblendung des Geschichtlichen erzielt, des Zerfalls und der Zerstörung, die vor allem für Einar mit dem Zerfall des Reiches gleichbedeutend war. 63 Im Verhältnis zur ersten Fassung von „Heliopolis“ bedeutet der Text „Besuch auf Godenholm“ eine Abschwächung – aber keineswegs ein Dementi – des Religiös-Theologischen; er bedeutet nicht eine „religiöse Einweihung“, sondern, wie Gregor Streim richtig bemerkte, „eine metaphysische Erfahrung“, 64 wobei die „jenseitige“ Wirklichkeit sich im Menschen befindet und durch die Worte von Nigromontanus: „Sie wissen doch mehr“, mit Hilfe von psychoaktiven Substanzen, ergründet werden kann. Der Krieg erscheint in der Erzählung in doppelter Hinsicht. Erstens als „Belagerungs-Vergleich“, den Nigromontanus liebte. Man sieht zuerst Kärrner und Schanzer, Ingenieure und Werkmeister an dem Bau der Belagerungsbefestigungen wirken. „Wer aber war der Feldherr in diesem ungeheuren Plan? Wie hieß die Stadt, die zu erobern war?“. 65 Diese Unschärfe des Planes, die Ungeklärtheit des Stadtnamens erlaubt, von einer Depotenzierung der religiösen Eindeutigkeit sowie von der Unwissenheit des Meisters zu sprechen, der das Ziel und den Verlauf der Aktion nicht kennt, sie aber als Vorstoß über das bewusste Selbst hinaus begrüßt. Insofern ist Schwarzenberg nicht der Allwissende, sondern eher der Öffnende, der einmal auch „führen“ 66 mußte. Einar lebt nicht in den sakralen, sondern in den profanen Dimensionen des Krieges 60 Jünger, Besuch auf Godenholm (1952), S. 95. 61 Dies geht mit der Analyse der Zeitvorstellungen Jüngers in seinem späteren „Sanduhrbuch“ (1954) einher und bekommt eine konstitutive Bedeutung: „Die wiederkehrende und die fortschreitende Zeit sprechen zwei Grundstimmungen des Menschen, nämlich Erinnerung und Hoffnung an. Sie sind beide seine Palastbauer. In ihnen begegnen sich Vater und Sohn, konservativer und ändernder Geist“. Jünger, Das Sanduhrbuch, S. 135. 62 Ernst Jünger, Auf den Marmorklippen. Roman. Mit Materialien zu Entstehung, Rezeption und Debatte, hg. v. Helmuth Kiesel, Stuttgart 2017, S. 22. 63 Was durchaus nicht bedeuten muss, dass die durch die Drogen verursachte Bilderflut keine Reaktion auf den Zusammenbruch des Deutschen Reiches, auf die Zerstörung Berlins und auf die ungeheuren Menschenopfer darstelle. Denn: „Besuch auf Godenholm“ ist ein zeitgenössischer Roman, unabhängig davon, ob man seine Poetik als Konkurrenz zu der 1951 von Heinrich Böll dekretierten Trümmerliteratur betrachtet oder nicht. Vgl. dazu: Gregor Streim, Esoterische Kommunikation. Intention und Autorschaft in Ernst Jüngers „Besuch auf Godenholm“ (1952) und „Rückblick auf Godenholm“ (1970), in: Matthias Schöning / Ingo Stöckmann (Hg.), Ernst Jünger und die Bundesrepublik: Ästhetik, Politik, Zeitgeschichte, Berlin 2012, S. 119–134. 64 Ebd., S. 126. 65 Jünger, Besuch auf Godenholm (1952), S. 27; Ders., Besuch auf Godenholm (1981), S. 379. 66 Jünger, Besuch auf Godenholm (1952), S. 98.
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(vor allem des letzten, des Zweiten Weltkrieges, der die Enttäuschungen der beiden Freunde Moltner und Einar zur Folge hatte): „Er kannte starke Träume, kannte das Opfer, den Dienst an der Idee, der furchtlos, ja, grausam macht. Er kannte den Rausch endloser Märsche und die Entäußerung der Schlachtfelder. [. . . ] Er liebte den Schmerz als letzte Marke der Wirklichkeit“. 67 Einar bleibt mithin die Verkörperung des Erinnerten, des Archaischen innerhalb der Axiologie Jüngers bis 1939, also bis zu seinem theologischen Durchbruch in den „Marmorklippen“. Der Wert des Dienstes an der Idee, der er mit einem System (z. B. der Gestalt des Arbeiters) antwortet, wird nicht an der Präsenz der Götter, sondern jener des Todes und des Schmerzes gemessen.
4. Das Theologische in „Der Gordische Knoten“ Keine der Schriften Jüngers der fünfziger Jahre wurde einer vehementeren Kritik unterzogen als der 1953 veröffentlichte Großessay „Der Gordische Knoten“. Man warf dem Text schon damals arge Geschichtsfälschungen vor; 68 auch dezidierte Bewunderer Jüngers, wie Alfred Andersch, haben mit Sorge konstatiert, dass Jünger offensichtlich der offiziösen Propaganda des sogenannten kalten Krieges unterliege, 69 der dritte Vorwurf unterstellte einen Versuch Jüngers, den „deutschen Faschismus“ in die Sphäre des Ostens zu verschieben, um damit Entlastungsmöglichkeiten für die „heute“ westlich orientierte öffentliche Meinung der Deutschen zu schaffen. Letzten Endes bemühe sich Jünger, die Deutschen im und nach dem Zweiten Weltkrieg als Opfer darzustellen. Abgesehen davon, dass diese Kritik ironischerweise viele Übereinstimmungen mit den in der Epoche des Realsozialismus „im Osten“ angewandten Strategien aufweist, Ernst Jünger als Ewiggestrigen darzustellen, 70 werden bei
67 Ebd., S. 80–81; Ders., Besuch auf Godenholm (1981), S. 411. 68 Vgl. Gerhard Loose, Ernst Jünger. Gestalt und Werk, Frankfurt a. M. 1957, S. 347, wobei Loose arge Schnitzer unterlaufen sind, z. B. im Satz: „hinzufügen ließen sich Unstrut, Lechfeld, Liegnitz, Tannenberg (1241 und 1914), Poltawa, Moskau und Stalingrad“. Ebd., S. 346. Man möchte nur hinzufügen, dass Liegnitz dasselbe wie das von Loose vorher erwähnte Wahlstatt war; die erste Schlacht vor Tannenberg war eigentlich keine OstWest-Begegnung, sondern eher der Höhepunkt der Auseinandersetzung Polens mit dem Deutschen Orden, auf jeden Fall fand sie nicht 1241, sondern 1410 statt. All dies ändert nicht an der Tatsache, dass für Jünger „der Osten“ ein Land ubi leones war, deshalb war die damalige Kritik an den historischen Kenntnissen Jüngers nicht ohne eine gewisse Berechtigung. 69 Die Meinung Anderschs sowie viele andere Beispiele werden angeführt im Aufsatz von Kai Köhler, Nach der Niederlage. Der deutsche Faschismus, Ernst Jünger und „Der Gordische Knoten“, in: Lutz Hagestedt (Hg.), Ernst Jünger. Politik – Mythos – Kunst, Berlin 2004, S. 212. 70 Vgl. Helmut Kaiser, Mythos, Rausch und Reaktion. Der Weg Gottfried Benns und Ernst Jüngers, Berlin 1962.
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solchen ideologisch orientierten und im Grunde genommen die Ideologeme des kalten Krieges aufgreifenden Versuchen der Kritik vor allem die Felder der Stärke ignoriert, die sich in der ästhetischen Plastizität der mythologischen Erzählweise Jüngers verbergen. Auch trotz der geschichtlichen Tatsachen eröffnen sie immer wieder die Ausgleichschancen und Möglichkeiten innerhalb der auf religiöser, kultureller, mythologischer, sprachlicher Ebene vollzogenen „köstlichen Windstille“: „Man soll sich jedoch selbst vom gewaltigsten Schein nicht überwältigen lassen“, so Gerhard Loose, denn immer ist zu bedenken, „daß Morgen- und Abendland nicht als absolute Orte aufzufassen sind, sondern als Gleichnisse für zwei menschliche Grundhaltungen“. 71 „Es sind zwei Residenzen, zwei Schichten des menschlichen Seins, die jeder in sich trägt“. 72 Die Poetik Jüngers in diesem Essay ästhetisiert die Geschichte und entspricht etwa der mythologischen Schreibweise, wie sie von Friedrich Schlegel in dessen Rede über Mythologie postuliert wurde. Looses Einwand, „die mythische Weltansicht [. . . ] [sei] weder mit dem christlich fundierten noch dem westlich orientierten Humanismus vereinbar“, 73 trifft allenfalls mittelbar zu, weil sich der Verfasser des Großessays an keiner Stelle mit den jeweiligen Sichtweisen, etwa der theologischen, der mythologischen oder der politischen identifiziert. Das westliche Christentum betrachtet er in seinem Verhältnis zu den sichtbaren Formen und Manifestationen des Glaubens als eine Ausprägung des „Unsichtbaren“: „Das wird im Bau der Kirchen und in der Führung der theologischen Gerüste bis zu Milton, Klopstock und Händel sichtbar, dann in den Wissenschaften, die ohne diese auf ein Unendliches bezogene und von ihm abgehobene Freiheit undenkbar sind“. 74 Bei der (zugegeben vereinfachten) Sicht auf die europäische Freiheit mit ihrer theologischen Wurzel dominiert zwar nicht der „Humanismus“, sondern die Aufklärung, die auch als eine mythische Macht im Symbol des Schwertstreiches heraufbeschworen wird, mit dem Alexander den Gordischen Knoten zerschnitt: „In diesem Schwertstreich leuchtet ein neues Bewußtsein von Zeit und Raum. Er wirft ein helles Licht auf das Geschehen, das es gleich einem Prägstock ausmünzt und zur Geschichte macht. Es liegt auch Wissenschaft darin, ja frühe Aufklärung, die Schärfe des Zweifels, der die alte Welt entmachtet und in Stücke teilt“. 75 Diesem westlichen Christentum, dessen säkularisierte Folgen den Freiheitsbegriff begründen, wird allerdings die östliche Religiosität gegenübergestellt: „Daß aber Gott zuweilen ganz nah herantritt und sichtbar wird als Richter und Gesetzgeber, als Vater: darin kündet sich der alte Reichtum, die Dichte des Ostens an. Das
71 Ernst Jünger, Der Gordische Knoten, Frankfurt a. M. 21953, S. 35. 72 Ebd., S. 24; vgl. Loose, S. 349. 73 Loose, S. 345, unter Berufung auf Guardini, der das Mythische vom Theologischen unterscheidet. 74 Jünger, Der Gordische Knoten, S. 36. 75 Ebd., S. 12.
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ist ein großes Vorrecht; es weist den Westen immer auf den Osten an, so wie Begriffe auf Bilder angewiesen sind“. 76 Der Mittelpunkt des Essays (das 22. Kapitel) formuliert die These, dass die aktuelle Phase des Ost-West-Konfliktes gleichzeitig eine akute Phase des Weltbürgerkrieges darstelle. Im klassischen Krieg (im Nationen- oder Völkerkrieg) lebte noch der Wunsch, die Auseinandersetzung über die zoologische Ebene zu erheben, über die bloße Begegnung von Horden und Rudeln: „Es bleibt ein Opfer, ein Anteil für die Gottheit zurück“, 77 es bleibt noch das Bewusstsein des Dritten, des Gemeinsamen, 78 die Gefallenen ehrten sowohl die Menschen als auch die Götter. 79 Von einem theologisch geprägten Totenkult könne im Bürgerkrieg keine Rede mehr sein; als Beispiel wird die berüchtigte Tagung der Gauleiter in Posen angeführt, während der Himmler über die Behandlung der hingerichteten Opfer sprach. 80
5. Fazit In den Werken der frühen fünfziger Jahre zeigt Jünger seine Sorge im Zusammenhang mit dem veränderten Bild des Krieges, der nun mit Recht von ihm als „Weltbürgerkrieg“ bezeichnet wird. Das für einen Bürgerkrieg typische Bild des Krieges trägt nihilistische Züge; als Remedium wird die Theologie, verkleidet als Metaphysik, angeboten. Sie spielt die entscheidende Rolle für das Erkennen der Unzerstörbarkeit des menschlichen Wesens und erlaubt den Menschen, ihre Angst abzubauen. Jünger zeigt sich substanziell als Gegner des Krieges und des Rüstungswettlaufs zwischen Ost und West und glaubt, dass gerade das Theologische die bisherige und tief in die Geschichte hineinreichende Kluft zwischen dem Westen und dem Osten überbrücken könnte. 81 76 Ebd., S. 36. Jünger beruft sich auf die Meinung des russisch-deutschen Schriftstellers Eugen Gagarin, der auch in der Fassung der „Sämtlichen Werke“ irrtümlicherweise Gargarin genannt wird. Das Verhältnis Jüngers zu Russland ist ein sehr spezifisches und entspricht zum Teil den Sympathien der deutschen Konservativen, gepaart mit den Sympathien der Nationalbolschewisten um Ernst Niekisch, mit denen Jünger in den dreißiger Jahren verbunden war. Eugen Gagarin lebte von 1905 bis 1948, seit 1933 im Exil in München, er hat ein vielfältiges Werk hinterlassen. Er war ein Erzähler und politischer Schriftsteller, scharfer Verurteiler der bolschewistischen Revolution in Russland. Über sein Werk vgl. das russische Portal Literaturnaja Karta Archangelskoj Oblasti http://writers.aonb.ru/gagarin-e.a.html [letzter Zugriff: 09. 02. 2020]. 77 Jünger, Der Gordische Knoten, S. 55. 78 Vgl. ebd., S. 59. 79 Vgl. ebd., S. 58. 80 Vgl. ebd., S. 60–61. 81 Die Entstehung des vorliegenden Aufsatzes wurde durch die Arbeit am Projekt „Ernst Jüngers Theologie im Spätwerk“ ermöglicht, das vom KAAD (Katholischen Akademischen Ausländer-Dienst) in den Sommermonaten der Jahre 2018 und 2019 gefördert wurde.
Katarzyna Nowakowska (Uniwersytet Warszawski)
Von der Kriegskatastrophe zur persönlichen Krise „Der Weg nach Innen“ in Werken Hermann Hesses als Reaktion eines Einzelnen auf den Untergang der Millionen
Der Erste Weltkrieg verursachte viele verschiedene politische und ökonomische Umwälzungen, brachte nicht nur Veränderungen im Bewusstsein ganzer Gesellschaften mit sich, sondern war auch in vielen Fällen ein Auslöser für einen Umbruch in der privaten Sphäre des Einzelnen. Sowohl für die kleinen Leute als auch für die großen Persönlichkeiten, darunter Hermann Hesse (1877–1962), brachten die Erlebnisse des Krieges eine Neuorientierung im Leben. Seine Probleme und Konflikte fingen mit seiner von der Umgebung kritisch bewerteten Reaktion auf den Krieg an. Nachdem Hesse seine Missbilligung des Krieges zum Ausdruck gebracht hatte, wurde er als „vaterlandsloser Geselle“ bezeichnet. Seine pazifistischen Artikel haben die politische Hetze gegen ihn ausgelöst. Weitere Belastungen, die ihm der Krieg brachte, waren die Herausforderungen der Arbeit bei der Kriegsgefangenenfürsorge, die mit ersten finanziellen Problemen verbunden waren, und die weiteren Versuche, in seinen kritischen Texten die Intellektuellen zu überreden, sich der Teilnahme am Krieg – auch mit der Feder – zu verweigern. Zu einem ernsten Nervenzusammenbruch kam es nach dem Tod des Vaters und dem Zerfall von Hesses Ehe. Letzten Endes ließen den Schriftsteller die Erfahrungen mit der Psychoanalyse, mit der er während seiner tiefen psychischen Krise in Berührung kam, nicht nur seine privaten Probleme bewältigen, sondern auch seine bisherige literarische Produktion kritisch betrachten. Nach dem Ende des Krieges sah Hesse die Zukunft der nächsten Generationen im sogenannten „Weg nach Innen“, 1 dem er seine weiteren Werke widmete. Hermann Hesse, der seit 1912 in Bern in der neutralen Schweiz lebte, meldete sich Ende August 1914 auf dem deutschen Konsulat als Kriegsfreiwilliger, wurde aber wegen hochgradiger Kurzsichtigkeit zurückgestellt. Seine anfäng1 Den „Weg nach Innen“, so der Titel eines Bandes, veröffentlicht Hesse im Jahre 1931. Der Band enthält auch die Erzählungen: „Klingsors letzter Sommer“, „Klein und Wagner“, „Kinderseele“ und „Siddhartha“. Die folgenden Ausgaben enthalten zudem „Morgenlandfahrt“ und „Wanderung“, ferner Artikel, die in den meisten Fällen im Jahre 1918 entstanden sind.
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lich patriotische Einstellung kehrte sich schnell in ihr Gegenteil um. Noch im Jahre 1914, während seines Besuches in Stuttgart, erfuhr er im Freundes- und Bekanntenkreis von den unmittelbaren Folgen des Krieges: Alle Einzelheiten vom Krieg, die man hört, klingen gräßlich, und man steht immer wieder fassungslos vor dem Unglück, von dem man kein Ende sieht [. . . ]. Kaum ein befreundetes Haus [. . . ], von dem man im Vorbeigehen nicht weiß: die haben auch einen verloren [. . . ]. Auf einmal spüre ich als Reaktion auf diese zehn Tage voll Kriegsgeschichten und Schlachtberichten einen großen Ekel und sehe für Stunden wieder nur die Schweinerei und das furchtbare Leid, sonst nichts vom Kriege. 2
Anfang Oktober 1914 unterzeichneten 93 Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, unter ihnen die Schriftsteller Hermann Sudermann und Gerhart Hauptmann, der Komponist Engelbert Humperdinck sowie Max Planck, Max Liebermann, Friedrich Naumann, aber auch Adolf von Harnack, einer der bedeutendsten evangelischen Theologen des wilhelminischen Deutschlands, den Aufruf „An die Kulturwelt“, der ein Bekenntnis zur Politik Wilhelms II. war. Der Boykott kultureller Leistungen der „feindlichen“ Völker bewegte Hesse dazu, dass er mit seinem im November 1914 in der „Neuen Zürcher Zeitung“ veröffentlichten Artikel „O Freunde, nicht diese Töne!“ reagierte. Er rief seine Kollegen zu Zurückhaltung und Vernunft auf. Die Aufgabe der Künstler und Gelehrten erblickte Hesse nicht darin, zum Hass gegen die Fremden aufzurufen, sondern darin, Brücken zu schlagen, um eine Versöhnung und Verständigung im künftigen Europa zu ermöglichen. Er fragte: Wer soll dazu beitragen und daran arbeiten, daß es wieder anders wird, daß man sich wieder versteht, wieder anerkennt, wieder voneinander lernt – wer soll das tun, wenn nicht wir, die wir am Schreibtisch sitzen [. . . ]? Daß das Leben wert sei, gelebt zu werden, ist der letzte Inhalt und Trost jeder Kunst [. . . ]. Daß Liebe höher sei als Haß, Verständnis höher als Zorn, Friede edler als Krieg, das muß ja eben dieser unselige Weltkrieg uns tiefer einbrennen, als wir es je gefühlt. Wo wäre sonst sein Nutzen? 3
Für viele war Hesse tatsächlich ein „vaterlandsloser Geselle“, der es sich als deutscher Staatsbürger (noch bis 1924) in der Schweiz bequem macht. 4 Hesse hatte aber zahlreiche und langjährige Kontakte und familiäre Beziehungen zu diesem Land. Seine Großmutter, seine erste und zweite Ehefrau waren 2 Zit. nach: Michael Limberg, Hermann Hesse. Leben, Werk, Wirkung, Frankfurt a. M. 2005, S. 40. 3 Hermann Hesse, Sämtliche Werke, hg. v. Volker Michels, Frankfurt a. M. 2001–2007, Bd. 15, S. 10–14. 4 Zit. nach: Michael Limberg, „Brückenbauen zwischen Deutschland und seinen Feinden“. Hesses Publizistik im 1. Weltkrieg, in: Hermann Hesse Jahrbuch 8 (2016), S. 49.
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Schweizerinnen. Seine drei Söhne wurden schweizerische Bürger. Hesse hatte die schweizerische Staatsangehörigkeit schon in der Kindheit erworben, als er mit seinen Eltern in Basel wohnte (er musste sie bei der Aufnahme ins Maulbronner Seminar in Württemberg aufgeben). Die Tatsache, dass er im Jahre 1912 als seinen Wohnort die Schweiz wählte und 1923 die schweizerische Staatsangehörigkeit erneut erwarb, war jedoch auch Anlass für Kritik an seiner Person in Deutschland in der Zeit des Zweiten Weltkrieges. „Ich bin gern Patriot“, erklärte er, „aber vorher Mensch, und wo beides nicht zusammenhängt, gebe ich immer dem Menschen recht“. 5 Wenn man die Hochachtung vor anderen Menschen und Kulturen im Leben und Schaffen Hesses diskutiert, hier im Kontext des Ersten, aber auch des Zweiten Weltkrieges, muss man unbedingt das Problem seines Heimatverständnisses erwähnen. Vor allem sollte betont werden, dass der Dichter den Gedanken von der „Über-Nationalität und Internationalität des Geistes“ hervorzuheben versuchte. Mit der „geistigen Zusammenarbeit aller Völker“ meinte er nicht die Aufhebung der nationalen Charaktere, sondern die Offenheit gegenüber anderen Kulturen. 6 In seinem berühmten „Alemannischen Bekenntnis“ gibt Hesse eine Stellungnahme zum Thema der nationalen Identität ab. Heimat bedeutete für ihn immer mehr als Nation, „Menschentum und Natur mehr als Grenzen, Uniformen, Zölle, Kriege und dergleichen“. Die Heimat bildeten für ihn alle alemannischen Länder, in denen er wohnte – beide Seiten des Oberrheins, die Gegend um den Bodensee, alle südwestdeutsch-schweizerischen Gebiete von Bern bis zum nördlichen Schwarzwald. Im „Alemannischen Bekenntnis“ bezeichnet sich Hesse als „Schriftsteller des ganzen deutschsprachigen Gebietes“. Er bringt auch sein Misstrauen gegen Landesgrenzen zum Ausdruck, preist dagegen „eine innige, oft leidenschaftliche Liebe zu allen menschlichen Gütern, welche ihrem Wesen nach die Grenzen überfliegen und andere Zusammengehörigkeiten schaffen als politische“. 7 In späteren Jahren brachte Hesse immer weniger Vertrauen in die Institutionen des Deutschen Reiches auf. Vor dem Zweiten Weltkrieg bereitete er für die schwedische Zeitschrift „Bonniers Literära Magasin“ Berichte über Neuerscheinungen in der deutschen Literatur vor, in denen er Werke jüdischer Schriftsteller wie Robert Musil, Franz Kafka und Stefan Zweig besprach. In seiner „Bibliothek der Weltliteratur“ legte Hesse großen Wert darauf, dass in seiner Sammlung Texte aus aller Welt, darunter viele altchinesische Werke, besprochen und den Lesern empfohlen werden.
5 Zit. nach: Gunnar Decker, Hesse. Der Wanderer und sein Schatten. Biographie, Frankfurt a. M. 2013, S. 302. 6 Vgl. Hesse, Gesammelte Werke, Bd. 10, S. 102. 7 Hermann Hesse Lesebuch: Erzählungen, Betrachtungen und Gedichte, zusammengestellt von Volker Michels, Frankfurt a. M. 1992, S. 246–248.
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Hesse fand während des Ersten Weltkriegs einen Verwandten im Geiste und Befürworter. Der französische Schriftsteller Romain Rolland, der ebenso wie Hesse ab 1915 bei seinen Landsleuten als Nestbeschmutzer galt, weil er pazifistische Artikel veröffentlichte, reagierte auf Hesses Worte und schrieb: „Hesse gehört zu den Besten seines Volkes, und er sagt so manches, was ich unterschreiben kann“. 8 Auch Hesse schrieb über Rolland, es war für ihn „Rettung und Glück, einen zu wissen, der aus dem ‚feindlichen‘, dem französischen Lager her, denselben Protest des Gewissens gegen die Forderung des Sichduckens und Mitmachens bei den Orgien des Hasses und des krank gewordenen Nationalismus geleistet hatte“. 9 Um nicht passiv und ratlos zu bleiben, beschloss Hesse, einen humanitären Beitrag zu leisten, stellte sich dem Roten Kreuz zur Verfügung und gründete mit Richard Woltereck die Zentrale für Deutsche Kriegsgefangenenfürsorge in Bern. Seine Aufgabe war es, die fast 200.000 deutschen Gefangenen in Frankreich mit Lektüre zu versorgen. Um die benötigten Bücher bzw. Geld dafür herbeizuschaffen, wandte er sich an Kollegen, Freunde und Verleger, an Industrielle und Bankiers. Vom Januar 1916 bis zum November 1918 wurde fast eine halbe Million Bände in Internierungslager in Frankreich verschickt. 10 Hinzu kam Hesses anonyme Funktion als Redakteur der vom Roten Kreuz eingerichteten und von 1916 bis 1919 von Bern aus versandten „Deutschen Internierten-Zeitung“, deren Kulturbeilage, den „Sonntagsboten für die deutschen Kriegsgefangenen“ er selbst konzipierte. Hesse veröffentlichte auch Buchbesprechungen. Dabei versuchte er zur Verständigung zwischen den kriegführenden Völkern beizutragen. Es war ihm besonders wichtig, seinen Lesern die Kultur und Literatur Russlands und Frankreichs näherzubringen. Er schrieb über „Tolstoi und Russland“, das russische Volk dürfe „vom westlichen Europa weder als zurückgebliebenes Kind noch als fremdartiger Sonderling behandelt werden. Eine glückliche Synthese des Westens und Russlands würde vielleicht die Lösung aller europäischen Geistesprobleme bedeuten“. 11 Zur Rassenfrage in der wilhelminischen Politik äußerte er sich an einer anderen Stelle: „Europa braucht nicht bloß Germanen, es braucht auch Kelten und Gallier und andere, und die Verschmelzung der Rassen im Nordwesten Europas ist längst so kompliziert, daß reine Rassenansprüche heute immer einen Anflug von Abgestandenheit und Lächerlichkeit haben“. 12 Hesse veröffentlichte in jenen Jahren etwa zwei Dutzend Gedichte, in denen der Krieg thematisiert wurde, darunter: „Den Gefallenen“, „Tod im Felde“,
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Zit. nach: Limberg, „Brückenbauen zwischen Deutschland und seinen Feinden“, S. 47. Zit. nach: ebd., S. 48. Vgl. ebd. Hesse, Sämtliche Werke, Bd. 17, S. 450. Ebd., S. 438.
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„Sterbender Soldat“, „Einem im Felde gefallenen Freunde“. In ihnen wird der Frieden beschworen, es drückt sich das Mitgefühl für die Leiden der Soldaten und die Trauer um die Gefallenen aus. Gleichzeitig versuchte der Schriftsteller, mit seinen Artikeln gegen die Fortsetzung des Krieges zu intervenieren. Im Januar 1917 schrieb er, er habe die letzten zweieinhalb Jahre seines Lebens „damit hingebracht an den Opfern des Krieges zu kurieren und [. . . ] auf diesem Gebiet [. . . ] den Unsinn und die grausame Scheußlichkeit des Krieges bis auf den Grund kennengelernt“. 13 Und: „Jeder von uns, der den Krieg loben und rühmen hilft, ist ein Verbrecher“. 14 Hesse musste mit feindseligen Reaktionen „aufrechter“ Deutscher rechnen, er zog den Hass der Kriegsbefürworter auf sich. Im Oktober 1915 erschien in der „Neuen Zürcher Zeitung“ sein Aufsatz „Wieder in Deutschland“. Hesse schilderte hier seine Eindrücke bei einem Besuch in Stuttgart und Freiburg nach einem Jahr Krieg. Als Antwort publizierte am 24. Oktober 1915 im „Kölner Tageblatt“ ein anonymer Verfasser einen Text, der von vielen deutschen Zeitungen nachgedruckt wurde und eine Hetzkampagne gegen Hesse auslöste. In diesem Artikel wurde Hesse als „vaterlandsloser Geselle“ und „Drückeberger“ bezeichnet. Es wurde auch eine Aussage Hesses aus einem nicht für die Veröffentlichung bestimmten Brief zitiert: „Es ist mir nicht gelungen, mich literarisch dem Kriege anzupassen, und es ist meine Hoffnung, Deutschland möge weiterhin der Welt nicht bloß mit den Waffen imponieren, sondern vor allem in den Künsten des Friedens und im Betätigen einer übernationalen Humanität“. 15 Auf einen solchen Sohn könne das herrliche Schwabenland nicht stolz sein, schrieb der Verfasser am Schluss, und das deutsche Volk werde diese Haltung hoffentlich nicht vergessen. 16 Im November 1915 erhielt Hesse als Ausdruck der Missbilligung das Hassgedicht „An den Dichter Hermann Hesse“: Ich kann kaum Worte finden dich zu hassen! Du Mensch, du Wurm; bist du denn ganz verlassen Von deines Geists, von Deutschlands Heiligkeit Daß du nicht fühlst das Wehen dieser Zeit. . . Ein Streich, ein Schwert zu gut für dich, du Dichter! Es kommt für dich, es kommt ein andrer Richter. Der wird ins Mark dir mählings fahren ein glühender Stahl: Versieget sei dein Born! Verflucht, unfruchtbar sei zum Mal! 17
Inzwischen erhielt Hesse im Zusammenhang mit seiner Arbeit für die Kriegsgefangenenfürsorge den Rang eines Beamtenstellvertreters. Wegen seines Ar13 14 15 16 17
Hermann Hesse, Die Briefe, Bd. 3: 1916–1923, hg. v. Volker Michels, Berlin 2015, S. 71. Ebd., S. 112. Zit. nach: Limberg, „Brückenbauen zwischen Deutschland und seinen Feinden“, S. 49. Vgl. ebd. Zit. nach: Decker, S. 347.
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tikels „Soll Friede werden?“ aus dem Jahre 1917 wurde er beinahe seines Amtes enthoben. Man drohte ihm, die Zuschüsse für seine Aktivitäten zu streichen. Danach publizierte er seine politisch-kritischen Artikel unter dem Pseudonym Emil Sinclair. Hesse litt nicht nur unter den psychischen Belastungen des Krieges, sondern auch unter finanziellen und familiären Problemen. Seine Ehe war zerrüttet, seine Frau litt unter Depressionen und musste mehrfach in psychiatrischen Anstalten untergebracht werden, dazu kam die schwere Erkrankung seines Sohnes Martin. Am 8. März 1916 starb Hesses Vater Johannes. All diese Ereignisse führten bei Hesse zu einer schweren Nervenkrise. 1916 musste Hesse aus Überarbeitung die Tätigkeit bei der Gefangenenhilfe vorübergehend unterbrechen. Aufgrund der physischen und psychischen Störungen – er litt unter Kopfschmerzen, Schwindelgefühlen, Schlafstörungen und Angstzuständen – musste er schließlich psychoanalytische Hilfe in Anspruch nehmen. Er begab sich in die Luzerner Klinik Sonnmatt zu Dr. Josef Bernhard Lang. Der Schüler Carl Gustav Jungs versuche, in psychoanalytischen Sitzungen die Depression seines Patienten zu heilen. Lang ist zu dieser Zeit genau der richtige Gesprächspartner für Hesse [. . . ]. Er hat sich mit der Geschichte der Gnosis befasst, der Zwei-Welten-Lehre, die wie geschaffen scheint für Hesses Doppelgängerprinzip, dem Entwerfen gegensätzlicher, aufeinander bezogener Figuren, die Trennungen eines ursprünglichen Ganzen darstellen: so wie Tag und Nacht, Hell und Dunkel, Ordnung und Chaos. 18
Der Schriftsteller erfuhr während der Therapie, dass er die dunklen, wilden Seiten seines Ichs „zugunsten einer edlen Anständigkeit und Moral“ 19 unterdrückt hatte. Deswegen beruhte seine Aufgabe jetzt darin, das Chaotische, Wilde, Triebhafte des eigenen Wesens anzuerkennen. Lang ermutigte den Schriftsteller, alles zurückzulassen, was ihn an seiner Berufung hinderte. Ohne sich in ein falsches bürgerliches Leben zu sperren, sollte er Frau und Kinder verlassen und ganz er selbst werden. Der Tod von Hesses Vater spielte hier eine große Rolle, da er zu einem Rückblick auf die Konflikte in der Kindheit des Schriftstellers veranlasste. 20 Als Hesse Mitte April 1919 von seinen Pflichten bei der Kriegsgefangenenfürsorge entbunden wurde, löste er den Berner Haushalt auf und übersiedelte ins Tessin, in den Süden der Schweiz. Seine Werke, die nach dem Kontakt mit der Psychoanalyse entstanden sind, bedeuten einen völligen Bruch mit seinem bisherigen Schaffen. Nach den Erfahrungen des Krieges und den Erfahrungen mit der Psychoanalyse gewann in Hesses Werk der sogenannte „Weg nach Innen“ an Bedeutung; dies war sein Kurs zur Veränderung durch Selbstkritik,
18 Ebd., S. 305. 19 Hesse, Die Briefe, Bd. 1, S. 423. 20 Vgl. Decker, S. 306.
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er sollte aber nichts mit weltfremder Innerlichkeit gemein haben, sondern war eine Kampfansage gegen subalternes Mitläufertum. 1919 gründete Hesse mit Richard Woltereck das Monatsmagazin „Vivos voco“ („Ich rufe die Lebenden“). In dieser Zeitschrift plädierte Hesse für Brückenschläge zwischen Deutschland und den ehemaligen Gegnern und eine Abschaffung der Wehrpflicht. Angesichts des Zustands der Gesellschaft nach dem verlorenen Kriege war Hesses Anliegen eine Stärkung der individuellen Widerstandskräfte. Hesse schrieb einen Appell an die deutsche Jugend, nannte ihn, in Anlehnung an Nietzsches Werk, „Zarathustras Wiederkehr. Ein Wort an die deutsche Jugend von einem Deutschen“ und veröffentlichte ihn anonym. Hesse wusste, dass Nietzsches „Also sprach Zarathustra“ neben Goethes „Faust“ und der Bibel der meist gelesene Text der Frontsoldaten war. Zarathustra kehrt zurück, um sich in der tristen Nachkriegszeit an die Jugend zu wenden. Sie soll nicht denen glauben, die sie zu Gefolgsleuten machen wollen. „Ihr sollt Zarathustra nicht anbeten. Ihr sollt Zarathustra nicht nachahmen. Ihr sollt nicht Zarathustra werden wollen! In einem jeden von euch ist eine verborgene Gestalt, die noch im tiefsten Kinderschlummer liegt. Lasset sie lebendig werden! Es gibt keinen andern Gott, als der in euch ist“. 21 Im Gegensatz zu Nietzsche dachte Hesse nicht an aristokratisch-elitäre Führer-Menschen, sondern an ein Individuum, das sich seiner Möglichkeiten und Grenzen bewusst ist, an sich arbeitet, sich weiter bildet und sich nur von seinem Gewissen regieren lässt. 22 Er äußerte dabei seinen Ekel vor der Politik, lehnte auch konsequent Vorschläge ab, sich politisch zu engagieren und bei der Neuordnung Deutschlands mitzuarbeiten. Am 11. März 1919 bekam Hesse ein Angebot, der Regierung der Münchener Räterepublik beizutreten. „Die Verlockung, jetzt nach Deutschland zu gehen und im allgemeinen Elend und Betrieb mit unterzugehen, verspüre ich wohl, sehe aber eine Abart von Selbstmordgedanken darin. Meine Natur treibt ganz woanders hin“. 23 Sein „Dienst und göttlicher Beruf“ sei der der Menschlichkeit, und seiner Meinung nach schlossen Menschlichkeit und Politik einander aus. Politik fordere Partei, Menschlichkeit aber verbiete Partei, man könne nicht beiden dienen. 24 Hesses Appell an die Jugend war eine Absage an den Radikalismus von rechts und links. Wie Nietzsche wendet er sich an das Individuum, damit es sich selbst finde. Hesse spricht die Kriegsheimkehrer an, die als frühere Uniformierte nichts anders als Gehorsam gelernt haben. Sie sollen jetzt ihr eigenes Leben leben und die Verantwortung dafür übernehmen, nicht die Weltverbesserung soll ihr Ziel sein:
21 22 23 24
Hesse, Sämtliche Werke, Bd. 15, S. 245. Vgl. Limberg, „Brückenbauen zwischen Deutschland und seinen Feinden“, S. 77. Vgl. Decker, S. 344. Vgl. Hesse, Sämtliche Werke, Bd. 15, S. 206.
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Die Welt ist nicht da, um verbessert zu werden. Auch ihr seid nicht da, um verbessert zu werden. Ihr seid aber da, um ihr selbst zu sein [. . . ]. Sei du selbst, so ist die Welt reich und schön. Wenn jemals die Welt durch Menschen verbessert, durch Menschen reicher geworden, lebendiger, froher, gefährlicher, lustiger geworden ist, so ist sie es nicht durch Verbesserer geworden, sondern durch jene wahrhaft Selbstsüchtigen, zu welchen ich auch euch so gerne zählen möchte. Jene ernstlich und wahrhaft Selbstsüchtigen, welche kein Ziel kennen, welche keine Zwecke haben, denen es genügt, zu leben und sie selbst zu sein. 25
Auch andere nach dem Ausgang des Krieges entstandene Werke Hesses waren nicht zu denken ohne seine Erfahrungen mit dem Krieg und ohne den Kontakt mit der Psychoanalyse. Die Psychoanalyse hatte eine unmittelbare Auswirkung in der tiefgreifenden Wandlung in Hesses Bewusstsein, sie half ihm aber nicht nur die Ursachen seines Leidens zu verstehen, sondern wirkte sich auch auf die Herausbildung bestimmter Erzählstrukturen in seinen Romanen aus. Hesse erzählt in seinen Werken den ganzen Weg der Ausformung des Ichs. Auf diesem „Weg nach Innen“ gibt es einzelne Etappen – Wendepunkte, die den Übergang von einer Entwicklungsstufe zu einer anderen markieren. Der Gliederung dieses Weges entsprechen in jeder Phase bestimmte, von Hesse beschriebene Seelenzustände. Besonders wichtig ist jedoch die „Bekehrung“ des Helden in seinem Leben. Er fängt an, der inneren Stimme zu folgen: Demian etwa ist für Sinclair nicht nur sein wirklicher Freund, sondern auch die aus seinem Inneren kommende Stimme. Sinclair muss das Vorhandensein dieses Teils der eigenen Psyche als seine eigene „dunkle Seite“ anerkennen. Dieser Teil bildet schließlich die Ganzheit, nur mit seiner Anerkennung vom Protagonisten kann die Ganzheit der Persönlichkeit verwirklicht werden. Hesses Werke „Demian“, „Der Steppenwolf“ oder „Narziss und Goldmund“ beschreiben eben den Prozess der Erkennung und Anerkennung der unbewussten Inhalte und berichten über eine ideale Möglichkeit der Verbindung von zwei „Ichs“, zwei Bereichen der Psyche, vom Bewussten und Unbewussten. Dies ist auch einer der Hauptbestandteile des von Jung beschriebenen Individuationsprozesses. 26 Aus der Zeit der Begegnung mit der Psychoanalyse stammen auch die ersten Malversuche des Dichters. Während der Therapie sollte Hesse seine Träume nicht nur erzählen, sondern sie auch bildnerisch darstellen. Bereits im Sommer 1918 konnte der Dichter Handschriften seiner Gedichte, die er mit kleinen farbigen Motiven schmückte, Liebhabern und Sammlern zum Kauf anbieten. Auf diese Weise erschloss er eine zusätzliche Einnahmequelle für die Versorgung der Internierten. 27
25 Ebd., S. 240. 26 Vgl. Carl Gustav Jung, Über die Psychologie des Unbewußten, Zürich 1966, S. 72–74. 27 Vgl. Limberg, „Brückenbauen zwischen Deutschland und seinen Feinden“, S. 13.
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Im Jahre 1919 erschien „Demian“. Diese „Geschichte einer Jugend“ wurde wenige Monate später als Debütroman von Emil Sinclair mit dem Fontanepreis ausgezeichnet, dem ersten und letzten Literaturpreis, den Hesse (bis zu seinem Nobelpreis 1946) in Deutschland erhielt. Hesse wollte unter dem Pseudonym als „ein anderer Mensch, der Neues erlebt hatte und Neuem entgegenging“, 28 wahrgenommen werden. Er wollte seinen radikalen Neuanfang mit einem anderen Namen verbinden und zugleich die jungen Leser „durch den bekannten Namen eines alten Onkels“ 29 nicht abschrecken. Das Geheimnis um den Decknamen wurde aber im Mai 1920 von dem Schriftsteller Otto Flake gelüftet. „Der Roman mit seinem Aufruf zur Individualisierung und zum Nonkonformismus trug wesentlich mit zu Hesses Weltruhm bei, und Demian wurde zur Identifikationsfigur zahlreicher jugendlicher Protestbewegungen“. 30 Thomas Mann erinnerte sich noch 1947 an „die elektrisierende Wirkung, welche gleich nach dem Ersten Weltkrieg der ‚Demian‘ eines gewissen mysteriösen Sinclair hervorrief, eine Dichtung, die mit unheimlicher Genauigkeit den Nerv der Zeit traf“. 31 Hesse erzählt im „Demian“ die Geschichte einer Metamorphose, die zur Selbstwerdung führt. Max Demian, der Seelenführer Sinclairs, bringt seine bisherige Weltordnung, die auf den Begriffen „gut“ und „böse“ basiert, ins Wanken. Er zeigt ihm einen neuen Gottesbegriff, dank dem Sinclair seinen eigenen Schatten annehmen kann, um zur seelischen Ganzheit zu gelangen. Auch Pistorius – in dem Hesse seinen Analytiker Lang verewigt hat – klärt Sinclair über die gnostische Gottheit auf, die Männliches und Weibliches, Hell und Dunkel in sich vereinigt. Pistorius hilft Sinclair, seine Träume zu interpretieren, und macht ihn mit der Bedeutung des kollektiven Unbewussten bekannt. Mit der Geschichte von Emil Sinclairs Kindheit und Jugend öffnet sich Hesse dem Neuen und verabschiedet sich von seinem in Trümmern liegenden Selbstbild als Autor, Bürger, Ehemann und Vater. Er beginnt bei den Ängsten der Kindheit, das hatte er in seiner Therapie erlebt und es erlebt auch sein Held. 32 Auf dem Grabstein des im Jahr zuvor gestorbenen Johannes Hesse fand Hesse das Lebensmotto seines Vaters: „Der Strick ist zerrissen, der Vogel ist frei“. Im Sinne der Selbstwerdung macht Hesse daraus im „Demian“ die Überschrift eines Kapitels: „Der Vogel kämpft sich aus dem Ei“. 33 In seinen autobiografischen Schriften und Briefen erwähnt Hesse mehrmals, wie die Ereignisse des Ersten Weltkrieges ihn aus seiner neuromanti28 29 30 31 32 33
Hesse, Die Briefe, Bd. 3, S. 602. Zit. nach: Limberg, „Brückenbauen zwischen Deutschland und seinen Feinden“, S. 48. Ebd., S. 96. Zit. nach: ebd., S. 48. Vgl. Decker, S. 322. Vgl. ebd., S. 311.
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schen Schwärmerei gerissen haben. Während des Ersten Weltkriegs hat Hesse eine Art Erwachen erlebt. Es bestand in der Entdeckung des Pazifismus als Aufgabe für den Schriftsteller. In dieser Zeit forderte Hesse die deutsche Intelligenz auf, den Weg zur Verständigung zu suchen, Brücken zwischen verschiedenen Kulturen zu schlagen. Während des Ersten Weltkriegs erlebte Hesse aber auch ein weiteres Erwachen: mittels einer psychoanalytischen Therapie hat er den Ausweg aus seiner persönlichen Krise gefunden. Die Psychoanalyse half ihm, die unbewussten Inhalte, Träume, Ängste und das Unbehagen ins Erleben der Figuren seiner Romane einzuflechten. Die Revision seines Schaffens, die er nach dem Krieg vorgenommen hatte, rief eine abwertende Selbstkritik hervor, die sich in der im November 1921 in der „Neuen Zürcher Zeitung“ erschienenen „Vorrede eines Dichters“ zu seinen ausgewählten Werken ausdrückt: Von meinen Erzählungen [. . . ] war keine einzige als Kunstwerk rein genug, um noch erwähnt zu werden. Vieles, was mir einst, vor Jahren und Jahrzehnten, sehr schön und geglückt erschienen war, sah mich jetzt lächerlich und nichtswürdig an. Und keine von all diesen Erzählungen kam für die Auswahl in Betracht oder nicht in Betracht. Es gab da nichts auszuwählen. 34
So lässt sich in seiner Erzählprosa ab 1919 eine radikale Wende beobachten. Nach dem im Jahre 1914 entstandenen Roman „Roßhalde“, einem intimen Bericht vom Scheitern der eigenen Ehe, nimmt er Abschied von seinem bisherigen Stil. Eine Kombination von psychoanalytischen Motiven und fernöstlichen Elementen erlaubt ihm, Alternativen zu der westlichen „dekadenten“ Kultur zu formulieren und dem Leser einen befreienden „Weg nach Innen“ zu zeigen. Diese programmatische Flucht in das Reich des Geistes in seinen späteren Werken weist auf die Kontinuität von Hesses Ideen aus der Zeit des Ersten Weltkrieges hin. Angesichts der gesellschaftlichen Erschütterungen der Epoche, die viele beunruhigende Gedanken über Europas Untergang und über den Verfall der abendländischen Kultur erweckten, konzentrierte sich Hesse in seinem Schaffen auf die menschliche Innenwelt und sah darin eine Möglichkeit, die wichtigsten Werte wieder zu entdecken. Seine Werke waren für ihn selbst eine Flucht vor der Welt der Politiker und Kriege. Auch für seine Leser – unter ihnen besonders die jungen Menschen, die nach der Katastrophe des Ersten Weltkrieges nach neuen Lebensinhalten suchten, – sollte der von Hesse postulierte „Weg nach Innen“ eine Rettung bedeuten. Hesse begründete nämlich die Verzweiflung der Epoche mit der inneren Krise des Einzelnen. Der Grundsatz seiner Überlegungen lautete: „Die Schuld an meinem Leiden ist nicht außer mir, sondern in mir selbst“. 35 34 Hesse, Sämtliche Werke, Bd. 12, S. 190. 35 Hermann Hesse, Kurzgefaßter Lebenslauf, in: Hermann Hesse Lesebuch, S. 13.
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Eine Möglichkeit der Überwindung des kulturellen Niederganges und moralischen Verfalls liegt, Hesses Meinung nach, in der Neubewertung aller Seeleninhalte. 36 Hesse war voller Hoffnung, dass es auf diesem Weg zu einer Wiedergeburt des Menschen komme und die wahren Werte wieder entdeckt werden. Es sollte aber betont werden, dass „der Weg nach Innen“ bei Hesse nicht Weltflucht und Verachtung des Lebens in der Gemeinschaft bedeutet. Der Dichter verstand diesen Weg als eine Art des Widerstandes gegen gefährliche gesellschaftliche Massenreaktionen und die Suche nach neuen Kräften in der Gesellschaft. Die von Hesse präsentierte Haltung stimmte mit den Gefühlen vieler junger Menschen am Anfang des 20. Jahrhunderts überein. Hesses Ideen boten aber noch einige Male eine Alternative für die von der Wirklichkeit enttäuschten jungen Leser und all diejenigen, die unter verschiedenen existentiellen Krisen litten. Solche Reaktionen gab es immer in Umbruchszeiten, etwa nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg, aber auch in den sechziger Jahren, insbesondere in den Vereinigten Staaten von Amerika. Das Streben nach der Entfaltung der eigenen Individualität, das Vertrauen in sich selbst, der Protest gegen die herrschenden Verhältnisse und die daraus resultierende Suche nach moralischen Grundsätzen, die tief in unserer Seele verborgen sind, bedingen Hesses Popularität auch heute.
36 Vgl. Gotthilf Hafner, Hermann Hesse. Werk und Leben, Nürnberg 1970, S. 175–177.
Ute Oelmann (Stuttgart)
„Zu jubeln ziemt nicht: kein triumf wird sein“ Stefan George, der George-Kreis und der Erste Weltkrieg
Im Jahr 2018, dem 150. Geburtsjahr Stefan Georges, 1 möchte ich mit einem persönlichen Rückblick beginnen: Ich habe mehr als dreißig Jahre lang in einem Archiv gearbeitet, gesammelt, erschlossen und ediert. Mein vorrangiges Interesse galt immer der Dichtung, dem Werk Georges, nicht dem Mann, seinen menschlichen Vorzügen, Unzulänglichkeiten und Schwächen, d. h. vor allem der Entstehungs- und Überlieferungsgeschichte von Werken und somit Quellen jeglicher Art, vorrangig, im Falle eines vor 150 Jahren Geborenen, den schriftlichen Zeugnissen, Handschriften, Briefen und Notaten sowie den hinterlassenen Druckwerken, Büchern, Zeitschriften und Zeitungsartikeln. 2 Ein Leben ohne festen Wohnsitz, wie dasjenige Stefan Georges, lässt dann nur Bruchstückhaftes erwarten, nicht zuletzt angesichts seiner Abneigung gegen die Erhaltung und Publikation von Lebenszeugnissen. Ein Blick auf die Homepage des Stefan George Archivs in Stuttgart und auf die dort aufgelisteten Bestände, das dort abrufbare Verzeichnis seiner nachgelassenen Bücher und sonstiger Druckwerke, belegt dagegen einen erstaunlichen Bewahrungswillen. Aus diesem Archiv, aus Publiziertem und bislang Unpubliziertem, möchte ich für die folgenden knappen Ausführungen schöpfen. Georges berühmtes, ungewöhnlich umfangreiches, auf für ihn ungewöhnliche Weise im Juli 1917 in hoher Auflage als Sonderdruck veröffentlichtes Gedicht „Der Krieg“ (zwölf Strophen zu je zwölf Versen) 3 hat in den letzten Jahren der 100. Wiederkehr des Ersten Weltkriegs prominent Aufmerksamkeit und Deutung erfahren. Es sei hier nur auf die Aufsätze von Helmuth Kiesel „Stefan Georges Kriegstriptychon“ und Peter Sprengel „Stefan Georges Gedicht ‚Der Krieg‘“ hingewiesen; 4 im Rahmen dieses kleinen Beitrags wird es 1 Der Text geht zurück auf einen 2018 in Katowice gehaltenen Vortrag. 2 Zuletzt erschien: Stefan George, „Von Kultur und Göttern reden“. Aus dem Nachlass. Ergänzungen zu Georges „Sämtlichen Werken“, hg. v. Ute Oelmann, Stuttgart 2018. 3 Stefan George, Der Krieg, Berlin 1917. Die achtseitige Broschur erschien im Juli 1917 in Georges Verlag Georg Bondi in erster, noch im selben Jahr in zweiter Auflage. 1928 wurde die Dichtung in den letzten Gedichtband Georges „Das neue Reich“ aufgenommen. Vgl. Stefan George, Sämtliche Werke in 18 Bänden, Stuttgart 2001, Bd. IX, S. 21– 26. 4 Peter Sprengel, „Die Jugend ruft die Götter auf. . . “. Stefan Georges Gedicht „Der Krieg“ und das Kriegserlebnis der nächsten Generation (Otto Braun), in: George-Jahrbuch
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nicht möglich sein, auf ihre Thesen und Deutungen einzugehen; ich möchte auch nicht häufig Gesagtes wiederholen. Allerorten, bei Freund und Feind, und es gelang George immer wieder, seine Leser und Nichtleser, vor allem Letztere, zu Verächtern zu machen, war und ist zu lesen, dass der Dichter, anders als eine Mehrzahl der Deutschen, gerade auch der Künstler und Intellektuellen, von Anfang an diesen Krieg ablehnte, den fast ausschließlich kriegsbegeisterten, jungen, aber auch gleichaltrigen Freunden wie Karl Wolfskehl scharfe Verweise erteilte, vor allem auch dem glühenden Kriegsschwärmer Friedrich Gundolf, dem 34-jährigen auch den unsinnigen Franzosenhass verweisend. Was haben nun die überlieferten Dokumente, vor allem zahlreiche bislang unbekannte, zum Thema beizutragen? Können sie die These von Georges Kriegsgegnerschaft stützen? Welcher Art und welchen Ursprungs waren sie? Wer oder was lieferte George Gründe für seine Einstellung zu diesem Krieg? Diesen Fragen möchte ich nachgehen. Als der Krieg Anfang August 1914 ausbrach, die Nachricht von der Kriegserklärung samt Aufforderung zu sofortiger Rückkehr George in der Schweizer Sommerfrische erreichte, rührte ihn das wenig. Während die Jungen aus seinen Kreisen sich freiwillig meldeten oder sofort eingezogen wurden und ungeduldig auf ihren Einsatz warteten, blieb er in aller Ruhe in Saanenmöser in der Schweiz und kam erst am 1. September 1914 nach Deutschland, und zwar nach München zurück. George war 46 Jahre alt und hatte nicht gedient. Anders als seinen ein Jahr jüngeren Freund Wolfskehl drängte es ihn auch nicht zu irgendeiner Verwendung in diesem Krieg. Im Januar dieses Jahres 1914 war – sieben Jahre nach seinem letzten Gedichtband – ein neuer Band erschienen, „Der Stern des Bundes“ mit dreimal dreißig plus neun plus einem, also mit einhundert Gedichten, streng in Zyklen geordnet. Darin fand sich eine Gruppe von zehn zivilisationskritischen Spruchgedichten, beginnend mit den Versen: AUS PURPURGLUTEN SPRACH DES HIMMELS ZORN: Mein blick ist abgewandt von diesem volk.. Siech ist der geist! tot ist die tat! 5
Als fünftes Gedicht folgt der Spruch: Auf stiller stadt lag fern ein blutiger streif. Da zog vom dunkel über mir ein wetter Und zwischen seinen stössen hört ich schritte
11 (2016/17), S. 193–209; Helmuth Kiesel, Stefan Georges Kriegstriptychon: Über die Gedichte „Der Krieg“, „Der Dichter in Zeiten der Wirren“, „Einem Führer im ersten Weltkrieg“ und „Wenn einst dies geschlecht sich gereinigt von schande“, in: GeorgeJahrbuch 11 (2016/17), S. 109–131. 5 Stefan George, Sämtliche Werke in 18 Bänden, Stuttgart 1993, Bd. VIII, S. 28.
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Von scharen ⋅ dumpf ⋅ dann nah. Ein eisern klirren.. Und jubelnd drohend klang ein dreigeteilter Metallen heller ruf und wut und kraft Und schauer überfielen mich als legte Sich eine flache klinge mir aufs haupt – Ein schleunig pochen trieb zum trab der rotten.. Und immer weitre scharen und derselbe Gelle fanfaren-ton. . . Ist das der lezte Aufruhr der götter über diesem land? 6
Eine Vision apokalyptischer Reiterheere. Sie wird wieder aufgenommen und verstärkt, mythologisch bebildert, und überblendet schließlich im neunten Spruch Vergangenes und Zukünftiges: Weltabend lohte.. wieder ging der Herr Hinein zur reichen stadt mit tor und tempel Er arm verlacht der all dies stürzen wird. Er wusste: kein gefügter stein darf stehn Wenn nicht der grund ⋅ das ganze ⋅ sinken soll. Die sich bestritten nach dem gleichen trachtend: Unzahl von händen rührte sich und unzahl Gewichtiger worte fiel und Eins war not. Weltabend lohte.. rings war spiel und sang Sie alle sahen rechts – nur Er sah links. 7
Mit diesen Gedichten lebten die Freunde Georges und weite begeisterte Leserkreise seit Januar 1914, mit der Verwerfung im ersten kurz zitierten Spruch schon seit Erscheinen der neunten Folge der Zeitschrift „Blätter für die Kunst“ im Februar 1910. Zumindest die eigenen Anhänger sahen in George Richter und Prophet zugleich, erst recht, als sich unter ihnen die Legende verbreitete, das Stadtgedicht gebe eine Vision Georges in München aus den Jahren 1912/13 wieder. Was Wunder, dass sie alle – Friedrich Gundolf, Norbert von Hellingrath, Friedrich Wolters, Ludwig Thormaehlen, Edgar Salin, Heinrich Friedemann, Robert Boehringer, Hans Brasch, Josef Liegle und der 18-jährige Percy Gothein – begeistert in diesen Krieg ziehen wollten und zogen, den sie für „Georges Krieg“, für die große Reinigung des deutschen Volkes, für eine Schicksalsmacht, für gottgesandt hielten. Ziel war die lebendige Tat aus lebendiger Volksgemeinschaft und geistige Erneuerung. Allein Norbert von Hellingrath glaubte nicht an diesen Krieg, er stritt sich ganze Abende lang in der Kaserne mit Franz Marc, dem Kriegsbegeisterten, ihm war die Freiwilligkeit nur
6 Ebd., S. 32. 7 Ebd., S. 36. George spielt an auf den Einzug Jesu in Jerusalem und dessen Vision vom Untergang der Stadt (Lukas 19, 41–44).
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Adelspflicht. 8 Karl Wolfskehl wiederum veröffentlichte in der „Frankfurter Zeitung“ vom 29. August 1914 einen Brief an Romain Rolland, der jene glorifizierende Sicht des Krieges wortreich verteidigt: „Was uns Schicksal ist, geheimnisvolle Not, das ist Ihnen fatalité, ein unentrinnbarer Alp“. Und er fährt fort: „Unser dichter hat ihn gewusst. Er hat diesen Krieg und seine Not und seine Tugenden gesehen und verkündet, lange ehe noch ein böses Ahnen durch das Jahr fuhr [. . . ]. Der ‚Stern des Bundes‘ ist dies Buch der Weissagung, [. . . ] der Notwendigkeit und Überwindung“. George aber wies die Gundolfs, Wolters, Wolfskehls zurück, sie hatten ihn alle falsch verstanden, nur der Niederländer Albert Verwey hatte aus der Distanz des Auslands die richtige Sicht geäußert: „Daß George mit dem Krieg der dem Gottesreich vorausgehen wird, diesen Krieg gemeint hat, wage ich zu bezweifeln“. 9 Aber wer hatte wirklich recht? George glaubte jedenfalls nicht, dass dieser Krieg, dieses historische Ereignis, die geistige Lage Deutschlands und Europas verändern werde, und wenn doch, dann zum Schlechteren. Friedrich Gundolf schrieb am Tag nach der Kriegserklärung an Russland voll Begeisterung: Ich fühle (wie man auch zu den Preussen bisher stand) dass es sich jetzt um unser Deutschland handelt. . . und ich bin froh, dass die ungeheure Entscheidung auch für uns alle nun sichtbar wird, auch das geheime Deutschland. [. . . ] Was auch kommt, Geschäft, Geschwätz und Spielerei haben ein Ende, und das Grauen ist besser, als die Leere – das was uns Ewigkeit ist wird durch diesen Augenblick nicht vernichtigt, sondern bestätigt, da auch über die Kleinsten, Stumpfsten ein Schauer des Ungeheuren kommt! 10
George erwiderte, er teile seine politischen Auslassungen im Einzelnen nicht. „eine maasslose dummheit der deutschen Staatskunst hat diesen krieg so gefährlich gemacht, und diese dummheit wird im lager wo sie gemacht wurde auch weiter grassieren!“. Dies sei auch Ursache dafür, dass es nach dem Krieg „wieder zu denselben böcken fehlern ja tragischen ausgängen“ kommen werde. Darauf folgt der alles entscheidende Satz: „Der welt die erst kommen soll und die den wirklichen feind + widerdämon besiegen soll – der welt gehört heut noch keiner an der den mund aufmacht. . . “. 11
8 Dies belegen seine bis heute nicht veröffentlichten Briefe an die Braut Imma von Ehrenfels. Vgl. Ute Oelmann, Hellingrath und der George-Kreis, in: Jürgen Brokoff u. a. (Hg.), Norbert von Hellingrath und die Ästhetik der europäischen Moderne, Göttingen 2014, S. 147–160. 9 Karl Wolfskehl / Albert Verwey, Die Dokumente ihrer Freundschaft 1897–1946, hg. v. Mea Nyland-Verwey, Heidelberg 1968, S. 126. 10 Stefan George – Friedrich Gundolf. Briefwechsel, hg. v. Robert Boehringer und Georg Peter Landmann, München 1962, S. 254–255. Der Brief wurde am Tag der Mobilmachung geschrieben und erreichte George am 2. August 1914. 11 Ebd., S. 263–264. Brief vom 5. Oktober 1914 aus Spremberg.
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Den Mund hatte, wie erwähnt und zitiert, vor allem Karl Wolfskehl aufgemacht in jenem offenen Brief an Romain Rolland, an den sich weitere, auf Georges Wunsch schließlich nicht veröffentlichte Briefe des Franzosen und Deutschen anschlossen. Und Wolfskehl hatte es, horribile dictu, ohne vorangehende Genehmigung Georges getan. Diese kam dann erstaunlicherweise doch acht Tage später, allerdings nicht von eigener Hand. Widersprach sich George damit nicht selbst? Eine ausführliche Vorstellung dieses Textes ist im Rahmen dieser knappen Überlegungen nicht möglich, erinnert sei aber an die Kernaussage von Wolfskehls zitiertem Brief: Dieser Krieg ist Georges Krieg und er ist deutsches Schicksal. Die von Robert Boehringer übermittelte Genehmigung fiel äußerst knapp aus: „Das Rollandsecho hat er erhalten und alles gebilligt“. Wirklich alles? Es folgt noch eine Begründung für die Billigung: „Er meint es wäre schon wunders genug ‚dass sie das fressen‘. Im allgemeinen ist er gegen öffentliche auslassungen ⋅ nur ist vielleicht erlaubt in diese fülle von un- und schwachsinn der schreibemenschen einmal ein vernünftges wort erschallen zu lassen“. 12 Damit richtete sich George an erster Stelle gegen die von ihm verachtete Tagespresse und gegen den ungeliebten Gerhart Hauptmann, Vertreter deutscher Schreiberlinge. Rolland hatte den Krieg als ein der „Schwäche und Dummheit der Völker“ geschuldetes Verbrechen bezeichnet und das lag Georges Einschätzung weit näher als Wolfskehls „schicksalhafte Fügung“. Die Zerstörung der belgischen Stadt Leuven aber, Anlass für Rollands ersten öffentlichen Brief, wie später jene von Reims, jeweils den Deutschen als Barbarentum vorgeworfen, rührte George wenig. Er, der schon 1889 Bomben auf Deutschland werfen wollte, entwarf immer wieder auch in seiner Dichtung Vernichtungsfantasien und -szenarien, bejahte Zerstörung als Reinigung, nicht zuletzt in dem wohl mehrere Jahre nach Kriegsausbruch entstandenen Gedicht „Der Brand des Tempels“. 13 Ich verweise hier auch zurück auf die zuvor erwähnte Gedichtgruppe im „Stern des Bundes“, auf so erschreckende Verse wie: Der lacht: zu spät für stillstand und arznei! Zehntausend muss der heilige wahnsinn schlagen Zehntausend muss die heilige seuche raffen Zehntausende der heilige krieg. 14
Georges Radikalität, sein Aufrührertum, seine Bejahung von Zerstörung als Voraussetzung für grundlegende Erneuerung, seine Kritik musealer Bewahrung als Verunmöglichung von Zukunft, es sind die antibürgerlichen Impulse
12 Von Menschen und Mächten. Stefan George – Karl und Hanna Wolfskehl. Der Briefwechsel 1892–1933, hg. v. Birgit Wägenbaur und Ute Oelmann, München 2015, S. 718. 13 George, Sämtliche Werke, Bd. IX, S. 61. 14 George, Sämtliche Werke, Bd. VIII, S. 31. Der erste Vers lautet: „Ihr baut verbrechende an maass und grenze“.
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eines gesellschaftlichen Außenseiters, und sie dürften bis heute in ihrer Bedeutung für Leben und Werk des Dichters unterschätzt sein. Aber George war auch ein Mensch, war Freund und Liebender, und obwohl er keinen der jungen Männer 1914 von Krieg und Soldatentum abzuhalten versuchte, trafen ihn die frühen Verluste schwer. 1915 wurde Albrecht von Blumenthal vermisst gemeldet, Josef Liegle 1916, Ostern 1915 fiel der so sehr für seine Platonstudie bewunderte Heinrich Friedemann, zuletzt fiel auch Wolfgang Heyer noch 1917, nachdem er kurz zuvor George geschrieben hatte, er wolle sich fürs Vaterland opfern oder „stählen“ für einen anderen heiligen Krieg. 15 1915 kam die Nachricht von der schweren Kopfverletzung des jungen Percy Gothein und schließlich jene vom schauerlichen Bombentod Norbert von Hellingraths im Dezember 1916. Als 1916 auch Friedrich und Ernst Gundolfs Einberufung drohte, Friedrich im November 1916 tatsächlich einrücken musste und den Kriegsdienst als Schipper an der Front nicht ertrug, war George bereit, sich für dessen Befreiung einzusetzen. Die Freisetzung gelang schließlich tatsächlich im Februar 1917, allerdings durch George unliebsame Kräfte, durch die Vermittlung von Reinhold Lepsius und Walter Rathenau. Gundolf wurde zum Generalstab in Berlin abgeordnet und schließlich ausgerechnet in der Nachrichtenabteilung zur Beobachtung der ausländischen Presse eingesetzt. George war schwer erbost: auch in Kriegszeiten und zur Rettung des eigenen Lebens sollten nicht alle Mittel erlaubt sein. Was aber wusste George überhaupt von den Realitäten dieses Krieges, den auch der kriegsenthusiastische Ludwig Thormaehlen nicht ertrug, was wusste er über den neuen Stellungskrieg in Schützengräben? Er, der sich im Herbst 1914 vorrangig um das Erscheinen der zehnten Folge seiner Zeitschrift „Blätter für die Kunst“ gekümmert hatte, was auch die Korrespondenzen widerspiegeln, er, der auch den Sommer 1916 wieder in der Schweiz (Klosters) verbringen konnte und sich mit Gundolfs „Goethe“-Buch beschäftigte sowie mit den Nietzschestudien Ernst Bertrams. Schon am 18. November 1914 hatte er an Ernst Morwitz geschrieben, er lerne mehr über den Krieg aus den Briefen der Jungen als aus allen Zeitungen, und auch später betonte er, wie viele ausführliche Nachrichten er von den Jungen aus dem Feld erhalte, so von Gothein, Heyer oder Brasch. Viele dieser Briefe sind im George Archiv erhalten. Wichtige Schilderungen finden sich in Briefen von Ernst Morwitz, der sich zum Roten Kreuz gemeldet hatte, um dem Landsturm zu entgehen, und in Belgien eingesetzt war. Sie dürften George stark beeindruckt haben, standen sie doch in direkter Opposition zu dem verklärten Schwulst Berthold Vallentins aus demselben Jahr 1915. Ich möchte im Folgenden aus beider unbekannten Briefen die widersprüchlichen Passagen zitieren.
15 Handschrift im Stefan George Archiv (fortan: Hs StGA).
„Zu jubeln ziemt nicht: kein triumf wird sein“
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Zuerst den Juristen Berthold Vallentin (Jahrgang 1877): Das soldatisch unfreie, das grob uniforme ist in der wendung in ein freier kriegerisches geschmeidig männliches begriffen. Es fehlt noch viel zur ganzen umbildung, aber von allem sonstigen und bisherigen volk sind doch die erfreulichsten typen die jungen freiwilligen die eben aus der schule oder den hörsälen hierher gekommen sind und von denen der eine oder andere mit freude anzusehen – ja sogar anzuhören ist. Ich glaube nicht zu übertreiben auch nicht die grenzen und bedingtheiten dieses zustandes zu verkennen: aber ich hatte nie so viel für möglich gehalten, nicht für möglich dass ich in meinem alter und meinem wesen nicht beengt und deprimiert würde. Ich bin es aber garnicht und frischer und geistig bewegter als je im juristischen alltag. 16
Die Euphorie währte nicht lange und Vallentin verließ die Feldartillerie, wurde als Dolmetscher eingesetzt und gehörte schließlich ab 1916 nur noch dem Reservecorps der 4. Armee an. Andere Eindrücke vermittelte Morwitz am 6. April 1915: Ich wohne jetzt hier in einem verlassenen Hause und lerne hierdurch zum ersten Mal den Krieg kennen, denn die Angst der fliehenden Belgier muss unbeschreiblich gewesen sein, wie aus dem Durcheinander der Sachen zu schliessen ist. Ich brenne in meinen gelb- und lachsfarbenen Rokkokosälen elektrisches Licht und „speise“ in einem Esszimmer mit Oberlicht und Wintergarten! Die deutschen Soldaten wirken hier unter dem Volk durch die Wucht ihrer Erscheinung wie barbarische Eroberer – es ist kaum zu glauben, wie kindlich naiv diese Soldaten selbst noch in ihrer manchmal durchbrechenden Rohheit sind. 17
Kurze Zeit später, am 19. April 1915 berichtete er ergänzend: Ich bin jetzt im Operationsgebiet, nicht mehr Etappe. Nur deutsche Bären! Endlose Kolonnen, täglich feindliche Flieger und man muss sich gerade am Bahnhof, wo ich arbeite, sehr vor den deutschen Schrappnells, die auf die Flieger geschossen werden, in Acht nehmen – während man sich vor den Bomben, die schauderhaft gestern geknallt haben, überhaupt nicht schützen kann. Es ist mir gelungen, mich nach Paschendaele – im feindlichen Feuerbereich – 1/2 Stunde hinter dem Schützengraben – hineinzuschleichen (einige Zigarren tun viel!). Ich habe nun Soldaten in den Artillerieunterständen gesehen und die deutschen maskierten Batterien. Vielleicht gelingt es mir noch einmal in den Schützengraben selbst zu kommen – dann habe ich alles gesehen und weiss, dass durch diesen Krieg nichts neues in die Welt gekommen ist. [. . . ] Das Geknalle wird so gleichgültig und abstumpfend, dass es wirklich kein Heldenmut ist, wenn man in der Geschosslinie in vernichteten Dörfern spazieren geht. Der Dienst ist bisher recht leicht und lässt viel Zeit. Doch erwartet man Grosses (giftige Gase!). 18 16 Berthold Vallentin an Stefan George (vom 6. März 1915), Hs StGA. 17 Stefan George – Ernst Morwitz. Briefwechsel (1905–1933), hg. v. Ute Oelmann und Carola Groppe, Berlin 2020, S. 249–250. 18 Vgl. ebd., S. 252–253.
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Auch berichtet der Sanitäter Morwitz von den Verwundeten, die bei ihm am Bahnhof ankommen und mit Lazarettzügen ins Hinterland gebracht werden. Allein bei der ersten Panzerschlacht von Cambrai zwischen 20. November und 7. Dezember gab es ca. 95.000 Verwundete. Direkt aus dem Schützengraben „bei Augustowo“ schrieb der junge Binger Otto Peil 1915 seinen letzten Brief an George, bevor er fiel. 19 Geradezu zynisch klingen da Georges Worte an den vom Kriegsdienst befreiten Ernst Glöckner vom 26. April 1917 aus Heidelberg: „Das leben hier geht leidlich ⋅ Münchner schwierigkeiten giebt es nicht ⋅ die lezte wurde durch deinen reichtum behoben [Glöckner hatte Tabak geschickt]. [. . . ] Die berührte zeitgeschichtliche wirrnis erregt mich wenig ⋅ ich muss ans grimme wort jenes sultans denken vom hund u. vom schwein. . . Vielleicht muss diesm[al] alles sich gegenseitig aufreiben“. 20 Und doch schreibt dieser Zyniker in den frühen Maitagen jenes Jahres 1917 das große Kriegsgedicht, in dem Klage und Anklage dominieren, nachdem der Dichter jene Begeisterung und jene Hoffnungen der ersten Kriegstage benannt, ja gegeißelt hat: So in zerspaltner heimat schlossen sich Beim schrei DER KRIEG die gegner an.. ein hauch Des unbekannten eingefühls durchwehte Von schicht zu schicht und ein verworrnes ahnen Was nun beginnt. . . Für einen augenblick Ergriffen von dem welthaft hohen schauer Vergass der feigen jahre wust und tand Das volk und sah sich gross in seiner not. 21
In der Rolle des alles seit langem überblickenden „Siedlers auf dem berg“ weist der Dichter die Beschuldigung mangelnder Teilnahme zurück, beruft sich auf sein langjähriges Leiden aus Wissen, Vorauswissen: „Am streit wie ihr ihn fühlt nehm ich nicht teil“. Er pocht auf seine Visionen und ruft die Schrecknisse dieses modernen Krieges auf, rekurrierend auf die Erlebnisberichte in den Briefen seiner Freunde. Zehn Strophen einer hämmernden Scheltrede, der Verdammnis dieses fortwährenden Krieges, seiner Anführer und Teilnehmer auf allen Seiten. Dann aber steigt, völlig unerwartet, die Vision einer Zukunft auf: Deutschland, dessen Name nicht genannt wird, ist das Land dem viel verheissung Noch innewohnt – das drum nicht untergeht! 22
19 20 21 22
Otto Peil an Stefan George, Hs StGA. Stefan George an Ernst Glöckner, Hs StGA. George, Sämtliche Werke, Bd. IX, S. 22. Ebd., S. 26.
„Zu jubeln ziemt nicht: kein triumf wird sein“
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Es ist das Land, Wo die allblühende Mutter der verwildert Zerfallnen weissen Art zuerst enthüllte Ihr echtes antlitz. 23
Am 1. Juni ist der „Krieg“ beendet, wie George Friedrich Gundolf verkündet und sich sogleich sorgenvoll fragt, ob er es wohl auch „in wirklichkeit“ 24 ist. Dieses Gedicht, seine Botschaft, ist von äußerster Wichtigkeit für ihn. Er lässt es Erich Boehringer auswendig lernen und so den Freunden in der Schweiz bringen, er liest es Glöckner vor und über dessen Freund Ernst Bertram gelangt es zu Thomas Mann. Friedrich Gundolf und Freundin Elli Salomon lesen es Alfred Weber in Heidelberg vor. Als Georg Bondi den Druck verzögern will – ihm fehlen im Krieg die notwendigen Mitarbeiter –, droht George umgehend mit einem Verlagswechsel und erreicht es, dass „Der Krieg“ noch gegen Ende des Monats Juli in hoher Auflage erscheint. Am Ende dieser Skizze möge der Brief eines unbekannten Soldaten mit einer Reaktion auf das Gedicht aus dem Felde stehen, der George erreicht hat und so erhalten blieb: vor Verdun, den 15. Juli 1918 An Stefan George Im Innersten gepackt von Ihrem „Krieg“ treibt es mich als einer, der dieses furchtbare Weltunheil am eigenen Leibe verspüren muss Ihnen Liebe und Bewunderung auszudrücken. Wohl nicht der Einzige im Lande, der so empfindet, sind Sie der einzige doch, der es wagt, dem Ausdruck zu verleihen, und der die Brücke schlug zu uns hier draußen. Der Einzige der diesen Krieg verlogener Heldenreden entkleidet, Uranfang und Schuld nicht Fremden, sondern sich selbst zuschreibt, – und gleich empfindet mit uns, die wir 4 Jahre schon im Blute unsrer Brüder kämpfen! 25
Georges Worte und Bilder eines notwendigen, geradezu mythischen Endzeitkampfes waren von der jungen Generation der Anhänger und Leser missverstanden worden, sie waren in den falschen Krieg gezogen, viele in ihm umgekommen. Die Schlussvision im „Krieg“-Gedicht von 1917 mag 1939 dazu beigetragen haben, dass auch der Zweite Weltkrieg von manchen als Krieg Georges verstanden wurde.
23 Ebd. 24 Stefan George – Friedrich Gundolf. Briefwechsel, S. 305. Brief Georges an Gundolf vom 1. Juni 1917. 25 Hs StGA.
Ewa Jarosz-Sienkiewicz (Uniwersytet Wrocławski)
Zerstörte Generationen Erich Maria Remarques „Im Westen nichts Neues“ und Wolfgang Borcherts „Das ist unser Manifest“. Ein Vergleich
Wolfgang Borcherts „Das ist unser Manifest“ (1947) ist ein Prosastück. Mit seiner kurzen Form, ohne festgelegte Handlung, nähert es sich einem Essay an und wird mit seinen expressionistischen Zügen allgemein als, wie es Hans Mayer bezeichnet, „ästhetisches Programm der Nachkriegsgeneration“ um 1945 gesehen. 1 Mayer nennt es sogar eine „Echowirkung“ 2 des bereits in der Tradition um 1910–1920 Vorhandenen. Lesen wir Remarques „Im Westen nichts Neues“ (1929), fällt die Tatsache ins Auge, dass nach dem Zweiten Weltkrieg einige Schriftsteller, vor allem die, die zu der sogenannten verlorenen Generation gehörten, ähnliche Motive der Verzweiflung, Verirrung, des Todes der jungen Soldaten angeschnitten haben. Besonders der bekannte Dramaturg, Prosaiker und Dichter Wolfgang Borchert (1921–1947) spricht Tatsachen an, die Erich Maria Remarque (1898– 1970) literarisch verarbeitet hatte. Der vorliegende Beitrag ist eine detaillierte Vergleichsstudie des Textes „Das ist unser Manifest“ und des bekannten Antikriegsromans „Im Westen nichts Neues“, dessen Handlung in der Zeit des Ersten Weltkrieges spielt. Es ist vollkommen berechtigt, diese Texte zusammenzustellen. In beiden Fällen werden nämlich allgemein neben der Lage der jungen Männer im Krieg die Situation und seelische Zustände der Soldaten unmittelbar nach dem Krieg oder wenigstens die Vorstellung ihrer Empfindungen danach geschildert. Remarque hat auch nach dem Zweiten Weltkrieg Werke geschrieben, die sich gegen den Krieg und Militarismus wandten. Zu denken ist dabei an den bekannten Roman „Zeit zu leben und Zeit zu sterben“ (1954). Die Betrachtung wird zeigen, dass das Werk „Im Westen nichts Neues“ einen allgemeingültigen Antikriegscharakter besitzt, obwohl Remarque es nicht pazifistisch nennen wollte. 3 Bereits die Einführung in Remarques Roman hebt hervor, dass die junge Generation um ihre Sorglosigkeit und ihre Entwicklungsmöglichkeiten ge1 Vgl. Hans Mayer, Die umerzogene Literatur. Deutsche Schriftsteller und Bücher 1945– 1967, Berlin 1988, S. 20–21. 2 Ebd., S. 21. 3 Vgl. Erich Maria Remarque. Ein militanter Pazifist. Texte und Interviews 1929–1966, hg. v. Thomas F. Schneider, Köln 1994, S. 55.
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bracht wurde: „Dieses Buch soll weder eine Anklage noch ein Bekenntnis sein. Es soll nur den Versuch machen, über eine Generation zu berichten, die vom Kriege zerstört wurde – auch wenn sie seinen Granaten entkam“. 4 In der „Vossischen Zeitung“ vom 31. Januar 1929 heißt es über den Roman „Im Westen nichts Neues“: „Die wahren Sachkenner, die ehemaligen Frontkämpfer, die selbst mit dem Stahlhelm auf dem Kopf im Granattrichter gelegen haben, bekannten sich erschüttert zu Remarques Erinnerungen“. 5 Obwohl nach Bärbel Schrader der Roman kein „persönliches Erlebnisbuch“ 6 Remarques sei, verneinen manche Leser 7 die Feststellung Remarques, das Buch sei kein Bekenntnis und keine Anklage. Sie meinen, das Werk sei Anklage und Bekenntnis, wenn es auch unabsichtlich geschehe. Es ist eine Anklage, die gegen die den Militarismus fördernde alte Generation, die Mächtigen der Welt gerichtet ist, weil sie die Jungen in den Krieg getrieben haben. 8 Thomas Becker verweist in diesem Zusammenhang auf eine in „Der Türmer“ von 1929 verwendete Bezeichnung des Werkes. In einer Rezension wird es „ein Denkmal des unbekannten deutschen Frontsoldaten“ 9 genannt. Auch Borcherts Text ist eine Anspielung auf eine junge, von den Alten betrogene Generation, obwohl am Ende des Manifests doch ein Aufruf erklingt, trotz der grausamen Kriegserlebnisse als junge, aus dem Krieg heimgekehrte Soldaten ganz Deutschland mit seinen Vorteilen und Schwächen zu lieben. 10 Bereits auf den ersten Seiten des Romans von Remarque erfährt man, dass einige der an die Front geschickten Soldaten 19-jährige Schulkameraden sind. 11 Das geringe Alter einiger Soldaten der deutschen Armee spricht auch Borchert in seinem 1947 verfassten Prosastück „Das ist unser Manifest“ an. „Männlicher Männergesang – hat keiner die Kinder gehört?“, 12 heißt es dort in einem Ton der Verzweiflung. Eine ähnliche Assoziation zu einem in den Krieg geschickten Kind wird in dem Werk „Im Westen nichts Neues“ geweckt, obwohl es das mittelbar und ohne das bei Borchert auftretende Pathos ausdrückt. Der Ich-Erzähler denkt an den sterbenden Kemmerich: „Franz Kemmerich sah beim Baden klein und schmal aus wie ein Kind“. 13 Einige Seiten später ist die 4 Erich Maria Remarque, Im Westen nichts Neues, Berlin 1968, S. 5. 5 Zit. nach: Bärbel Schrader (Hg.), Der Fall Remarque. Im Westen nichts Neues. Eine Dokumentation, Leipzig 1992, S. 18. 6 Vgl. ebd., S. 9. 7 Vgl. Bernhard Kellermann, in: ebd., S. 20. 8 Vgl. ebd., S. 22. 9 Vgl. Thomas Becker, Literarischer Protest und heimliche Affirmation. Das ästhetische Dilemma des Weimarer Antikriegsromans, Butzbach 1994, S. 22. Becker erwähnt hier eine Rezension von Hans Malberg u.d.T. „Der Krieg als Erlebnis“. 10 Vgl. Wolfgang Borchert, Das ist unser Manifest, in: Klaus Wagenbach (Hg.), Deutsche Literatur zwischen 1945 und 1959, Berlin 1980, S. 15–16. 11 Vgl. Remarque, S. 8. 12 Borchert, Das ist unser Manifest, S. 12. 13 Remarque, S. 27.
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Rede von Ersatzsoldaten, die an die Front gekommen sind. Kropp spricht den Ich-Erzähler an und fragt ihn: „Hast du die Kinder gesehen?“. 14 Die Rekruten, von denen viele im Krieg sterben, sind bloß oberflächlich ausgebildete Soldaten, deren Mangel an Erfahrung sie bald den Tod finden lässt. Sowohl Remarque als auch Borchert verstärken den Eindruck der kindlichen Unbeholfenheit der Soldaten im Krieg mittels des Muttermotivs. In „Das ist unser Manifest“ entspringt dieses Motiv dem Archetyp der Mutter als Beschützerin. Die Aufmerksamkeit auf die von Soldaten „gegrölten“ Marschlieder richtend, fragt der Text: „Hört keiner den Schrei nach der Mutter? Den letzten Schrei des Abenteurers Mann?“. 15 In Remarques „Im Westen nichts Neues“ beschreibt der Ich-Erzähler die kämpfenden Rekruten. Dabei zeigt sich der Erzähler nicht als Teilnehmer, sondern als subjektiver Wahrnehmer des Geschehens: Die blassen Steckrübengesichter, die armselig gekrallten Hände, die jammervolle Tapferkeit dieser armen Hunde, die trotzdem vorgehen und angreifen, dieser braven, armen Hunde, die so verschüchtert sind, daß sie nicht laut zu schreien wagen und mit zerrissenen Brüsten und Bäuchen und Armen und Beinen leise nach ihrer Mutter wimmern und gleich aufhören, wenn man sie ansieht! 16
In beiden Fällen (bei Borchert und Remarque) wird von den jungen Soldaten als Folge des Militarismus die Sehnsucht nach der eigenen Mutter geheim gehalten, um im Soldatenmilieu nicht als Schlappschwanz zu gelten. Natürlich wiederholt sich das Motiv der jungen Generation in mehreren Werken Borcherts, besonders in seinem Drama „Draußen vor der Tür“ (1947). Wie im Roman „Im Westen nichts Neues“ gibt es in Borcherts Werken eine Anspielung auf die Rolle der alten Generation, die die jungen Männer in den Tod geschickt hat. In „Das ist unser Manifest“ weist bereits die Frage: „hat keiner die Kinder gehört?“ 17 auf die Gleichgültigkeit der Älteren hin, die die Wahrheit über den Krieg und sein Grauen den jungen Soldaten vor dem Einzug in die Armee nicht mitgeteilt hatten. Danach aber ließen sie die in den Krieg Geschickten mit ihren Erlebnissen alleine. Da „Das ist unser Manifest“ ein Aufruf ist, der an die jungen Soldaten nach dem Krieg gerichtet ist, verurteilt der Autor die Praktiken der älteren Generation in Kriegszeiten: „nein, dafür haben die Toten ihr Blut nicht in den Schnee laufen lassen [. . . ]: Daß dieselben Studienräte ihre Kinder nun benäseln, die schon die Väter so brav für den Krieg präparierten“. 18 Die vorliegende Feststellung entspringt zugleich der Notwendigkeit, vor einer Wiederholung des Vergangenen zu warnen. In
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Ebd., S. 31. Borchert, Das ist unser Manifest, S. 12. Remarque, S. 96. Borchert, Das ist unser Manifest, S. 12. Ebd., S. 14.
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Borcherts „Lesebuchgeschichten“ ist übrigens eine Konfrontation der jungen und älteren Generation zu finden, die noch deutlicher als im Text „Das ist unser Manifest“ mit Remarques „Im Westen nichts Neues“ übereinstimmt. 19 Im Roman „Im Westen nichts Neues“ berichtet der Erzähler über einen Freund, der nicht in den Krieg wollte: Diese Erzieher haben ihr Gefühl so oft in der Westentasche parat; sie geben es ja auch stundenweise aus. Doch darüber machten wir uns damals noch keine Gedanken. Einer von uns allerdings zögerte und wollte nicht recht mit. Das war Josef Behm. [. . . ] Er ließ sich aber dann überreden. [. . . ] Vielleicht dachten noch mehrere so wie er; aber es konnte sich niemand gut ausschließen, denn mit dem Wort „feige“ waren um diese Zeit sogar die Eltern rasch bei der Hand. [. . . ] Sonderbarerweise war Behm einer der ersten, die fielen. 20
Einen ähnlichen Einfluss der alten auf die junge Generation und seine Auswirkung in Kriegszeiten deutet Borchert in seinen „Lesebuchgeschichten“ an: Kegelbahn. Zwei Männer sprachen miteinander. Nanu, Studienrat, dunklen Anzug an. Trauerfall? Keineswegs, keineswegs. Feier gehabt. Jungens gehen an die Front. Kleine Rede gehalten. Sparta erinnert. Clausewitz zitiert. Paar Begriffe mitgegeben: Ehre, Vaterland [. . . ]. Mein Gott, Studienrat, hören sie auf. Das ist ja gräßlich. Der Studienrat starrte die anderen entsetzt an. Er hatte beim Erzählen lauter kleine Kreuze auf das Papier gemacht. 21
Im Werk Remarques wird die Enttäuschung, die bei den Jüngeren den älteren Autoritäten gegenüber wächst, ebenso klar wie bei Borchert ausgedrückt. Die Älteren, denen man geglaubt hatte, verlieren mit den ersten Schlachten in den Augen der Jungen ihre Glaubwürdigkeit. Die eingeflößte Weltanschauung hat sich in der Konfrontation mit dem Tod als falsch erwiesen. Eine Gegenüberstellung der jungen und alten Generation erfolgt im Roman in der Konfrontation des Erzählers mit einem Major, dem er in seiner Heimatstadt begegnet, und mit dem eigenen Vater. Der Erzähler verbringt in der Heimat seinen Urlaub. Er vergisst, den Major zu grüßen und weckt damit die Empörung des Vorgesetzten. Darauf reagiert der Soldat mit Wut: „ich möchte ihm ins Gesicht schlagen“. 22 Es offenbart sich in diesen Worten Hass und ein Schwund an Respekt dem Vorgesetzten gegenüber. Das Unwissen über die wahren Kriegserlebnisse, die Verflachung des Kriegsbildes und die Auswirkung der Propaganda auf die ältere Generation
19 Vgl. Wolfgang Borchert, Lesebuchgeschichten, in: Peter Glotz / Wolfgang R. Langenbücher, Versäumte Lektionen. Entwurf eines Lesebuches, Frankfurt a. M. 1971, S. 327–328. 20 Remarque, S. 14. 21 Borchert, Lesebuchgeschichten, S. 327. 22 Remarque, S. 118.
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präsentiert der Erzähler am Beispiel seines Vaters. Als sich der junge Soldat im Urlaub Zivilkleidung anzieht, gesteht er: „mein Vater hätte lieber, daß ich Uniform anzöge, er möchte so mit mir zu seinen Bekannten gehen“. 23 Wie Beckmann, der in Borcherts „Draußen vor der Tür“ sich in der Nachkriegswelt nicht mehr zurechtfinden kann, kann es auch nicht der den Urlaub im Elternhaus verbringende Erzähler Remarques. In einer Welt voller Zivilisten, voll von Lehrkräften, die keine Ahnung von den Realien des Ersten Weltkrieges haben, und von vom Krieg besessenen Vätern, fühlt er sich unwohl und fremd. In einem Gespräch unter Freunden in „Im Westen nichts Neues“ werden die Gründe des Krieges auf Vorteile der Mächtigen der Welt reduziert: der Kaiser und Generäle werden berühmt durch den Krieg. 24 Eine in ihrer Schlussfolgerung ähnliche Anspielung auf die mächtigen Vertreter der älteren Generation, die den Krieg auslösen, findet man in den „Lesebuchgeschichten“ Borcherts. Dort wird die ökonomische Seite des Krieges angeschnitten: Alle Leute haben eine Nähmaschine, ein Radio, einen Eisschrank und ein Telefon. Was machen wir nun? – fragte der Fabrikbesitzer. Bomben, sagte der Erfinder. Krieg, sagte der General. Wenn es denn gar nicht anders geht, sagte der Fabrikbesitzer. 25
Remarque formuliert in seinem Roman einige Fragen, die die jüngere Generation den Älteren stellt, von denen sie betrogen worden ist: Ich bin jung, ich bin zwanzig Jahre alt; aber ich kenne vom Leben nichts anderes als die Verzweiflung, den Tod, die Angst und die Verkettung sinnlosester Oberflächlichkeit mit einem Abgrund des Leidens. Ich sehe, daß Völker gegeneinandergetrieben werden und sich schweigend, unwissend, töricht, gehorsam, unschuldig töten. Ich sehe, daß die klügsten Gehirne der Welt Waffen und Worte erfinden, um das alles noch raffinierter und längerdauernd zu machen. Und mit mir sehen das alle Menschen meines Alters hier und drüben, in der ganzen Welt, mit mir erlebt das meine Generation. Was werden unsere Väter tun, wenn wir einmal aufstehen und vor sie hintreten und Rechenschaft fordern? Was erwarten sie von uns, wenn eine Zeit kommt, wo kein Krieg ist? Jahre hindurch war unsere Beschäftigung Töten – es war unser erster Beruf im Dasein. Unser Wissen vom Leben beschränkt sich auf den Tod. Was soll danach noch geschehen? Und was soll aus uns werden? 26
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Ebd., S. 119. Vgl. ebd., S. 146. Borchert, Lesebuchgeschichten, S. 327. Remarque, S. 184–185.
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Diese Fragen gelten der Zukunft der jungen Soldaten, die sich über ihr weiteres Leben im Frieden und die Möglichkeiten, das Versäumte nachzuholen, Gedanken machen. Das Werk Remarques hat von Anfang an Kontroversen ausgelöst, weil manche dem Autor vorgeworfen haben, bei der Schilderung des Lebens und der Motivation der Soldaten den Patriotismus der jüngeren Generation völlig ausgespart zu haben. 27 Man meinte, es sei tendenziös, den einzigen Beweggrund der jungen Männer zum Kämpfen in der Angst zu erblicken, selbst getötet zu werden. 28 Die Unterstellung einer unechten Darstellung wurde mit Angaben aus dem Leben Remarques und der Frage untermauert, ob er überhaupt an der Front gewesen ist. 29 Die Tatsache, dass Remarque in der Art und Weise, über Soldaten zu schreiben, auch nach dem Zweiten Weltkrieg Nachfolger und Leser unter ehemaligen Soldaten fand, zeugt aber davon, dass die allgemein gegen Krieg und Militarismus gerichtete Aussage seines Werkes anerkannt wurde. Krieg erzeugt Entmenschlichung. An der Front, heißt es in „Im Westen nichts Neues“, sind die Soldaten zu „Menschentieren“ 30 mit dem „Instinkt des Tieres“ 31 geworden. Die ihnen von Studienräten beigebrachte Ideologie schwindet, sie kämpfen nicht mehr fürs Vaterland, sondern ums Überleben: „Aus uns sind gefährliche Tiere geworden. Wir kämpfen nicht, wir verteidigen uns vor der Vernichtung“. 32 Bereits am Anfang des Romans „Im Westen nichts Neues“ wird die Entmenschlichung und Desensibilisierung der jungen Männer geschildert, als nach einer Schlacht von hundertfünfzig Mann, für die gekocht wurde, nur achtzig geblieben sind, die anderen ins Lazarett kamen oder gefallen sind. Der Verlust erweckt in manchen Soldaten ein auf sich bezogenes Denken. Den hungrigen Tjaden lässt der Gedanke an den Tod der Kameraden gleichgültig. Er freut sich, infolge der Geschehnisse eine doppelte Portion Essen zu bekommen. 33 Dasselbe vom Selbsterhaltungsinstinkt getriebene Denken zeigt Müller, der am sterbenden Kemmerich Schuhe erblickt, die er brauchen kann. 34 Die Gewissensbisse schwinden. Es entwickelt sich die sogenannte Kriegsmoral, man gibt die früheren Wertsysteme auf und setzt eigene, dem Krieg angemessene Prioritäten. 27 Vgl. Erich Limpach, Neudeutsche Kriegsliteratur. „Jahrgang 1902“, „Soldat Suhren“, „Im Westen nichts Neues“, „Krieg“ – Kriegsbücher, aber keine Soldatenbücher, in: Schrader, S. 36–38; Graf von Schlieffen, Im Westen nichts Neues, in: ebd., S. 34–35. 28 Freiherr von der Goltz nennt das Werk „pazifistische Propaganda“. Vgl. Freiherr von der Goltz, Erich Maria Remarque: „Im Westen nichts Neues“, in: ebd., S. 84. 29 Vgl. Dr. Frosch, Die Einkreisung Remarques, in: ebd., S. 80. 30 Remarque, S. 45. 31 Ebd. 32 Ebd., S. 84. 33 Vgl. ebd., S. 9. 34 Vgl. ebd., S. 17.
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In den „Lesebuchgeschichten“ von Borchert wird eine Szene beschrieben, in der ein Soldat im Frieden nicht verstehen kann, warum der Brotbesitz nicht – wie im Krieg – dazu berechtigt, einen Menschen zu töten. 35 Wird bei Remarque die Kriegsmoral verdeutlicht, konfrontiert sie Borchert mit der Moral zu Friedenszeiten. Da die im Krieg erworbenen Kenntnisse zu Friedenszeiten nicht mehr brauchbar sind, fühlen sich die jungen Soldaten nach dem Ersten Weltkrieg ähnlich. Sie sind wie Beckmann in Borcherts „Draußen vor der Tür“ verwirrt und verunsichert. Die Tatsache, dass die Soldaten ohne einen festen Beruf und ohne konkrete Vorstellungen über ihre Zukunft in den Kampf gehen, verdeutlicht auch Remarque: „Wir hatten keine festen Pläne für die Zukunft, Gedanken an Karriere und Beruf waren bei den wenigsten praktisch bereits so bestimmt, daß sie eine Daseinsform bedeuten konnten“. 36 „Im Westen nichts Neues“ ist ein Werk, in dem die Zukunft nach dem Krieg bei den Soldaten Bedenken auslöst. Sie zweifeln bereits im Krieg daran, sich in den neuen Zeiten zurechtfinden zu können. Ohne Beruf stehen sie ratlos der neuen Realität gegenüber und unterscheiden sich darin von ihren älteren Kameraden, die bereits einen Beruf erlernt haben. Albert sagt in einem Gespräch mit seinen Freunden: „Das ist es ja. Kat und Detering und Haie werden wieder in ihren Beruf gehen, weil sie ihn schon vorher gehabt haben. Wir haben keinen gehabt. Wie sollen wir uns da nach diesem hier – er macht eine Bewegung zur Front – an einen gewöhnen. [. . . ] Der Krieg hat uns für alles verdorben“. 37 Der Erzähler setzt den Gedanken fort: „Wir sind abgeschlossen vom Tätigen, vom Streben, vom Fortschritt. Wir glauben nicht mehr daran; wir glauben an den Krieg [. . . ]. Denn das können wir: Kartenspielen, fluchen und Krieg führen“. 38 Und weiter: Wenn wir jetzt zurückkehren, sind wir müde, zerfallen, ausgebrannt, wurzellos und ohne Hoffnung. Wir werden uns nicht mehr zurechtfinden können. Man wird uns auch nicht verstehen – denn vor uns wächst ein Geschlecht, das zwar die Jahre hier gemeinsam mit uns verbrachte, das aber Bett und Beruf hatte und jetzt zurückgeht in seine alten Positionen, in denen es den Krieg vergessen wird. 39
Dies sind Passagen, die an „Draußen vor der Tür“ erinnern. Beckmann kann den Beruf des Schauspielers im Theater nicht ausüben, weil er nicht hinreichend ausgebildet ist und seine Auftritte, immer noch vom Krieg geprägt, den Erwartungen des Direktors als eines Vertreters der älteren, noch vor dem Krieg ausgebildeten Generation nicht entsprechen. Der Oberst, der zu Frau
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Vgl. Borchert, Lesebuchgeschichten, S. 328. Remarque, S. 21. Ebd., S. 66–67. Ebd., S. 67–68. Ebd., S. 203.
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und Kindern zurückgekehrt ist, versteht Beckmanns Schuldgefühle nicht, weil er den Krieg längst verdrängt und vergessen hat. Sowohl bei Remarque als auch bei Beckmann tritt der junge Soldat, wie bereits gesagt, als Kind auf, das, wie es Rühmkorf in Bezug auf „Draußen vor der Tür“ formuliert, „sich in dieser Welt der Erwachsenen nicht zurechtfindet“. 40 In einer Welt der auf das Hier und Jetzt, die Bewältigung des Alltags konzentrierten Leute ist der von seinen Erinnerungen an den Krieg geplagte, sensible junge Soldat verloren. In „Das ist unser Manifest“ versucht der Autor, die bei den Soldaten aufkommenden Emotionen und das Weinen als einen im Krieg aus Scham verdrängten Zustand zu schildern, der trotzdem gegenwärtig bleibt: „Heldischer Männergesang – bezeichnet er das Singen der Marschlieder – hat keiner das Schluchzen der Herzen gehört?“. 41 Weiter heißt es: „Denn der Krieg hat uns nicht hart gemacht, glaubt doch das nicht, und nicht roh und nicht leicht. Denn wir tragen viele weltschwere, wächserne Tote auf unseren mageren Schultern. Und unsere Tränen, die saßen niemals so lose wie nach diesen Schlachten“. 42 Einen Hang zum Weinen verraten auch, obwohl es im Werk nicht so stark hervorgehoben wird, trotz ihrer vorgeblichen Härte bestimmte Figuren Remarques, z. B. der sterbende Kemmerich, der sich in seinen letzten Lebensstunden nach seinem Zuhause sehnt. 43 Die Desensibilisierung der Soldaten manifestiert sich dafür in ihrer nach außen gerichteten, Härte vortäuschenden Sprache. Was Borchert in seinem Manifest mit der dort angewandten Sprache des Ich-Erzählers direkt verdeutlichen will, besorgt bei Remarque „das erzählende Ich“. 44 Es berichtet: „Dem Soldaten ist sein Magen und seine Verdauung ein vertrauteres Gebiet als jedem anderen Menschen. Dreiviertel seines Wortschatzes sind ihm entnommen, und sowohl der Ausdruck höchster Freude als auch der tiefster Entrüstung findet hier seine kernige Untermalung“. 45 „Wir werden weinen, scheißen und singen, wann wir wollen“, 46 heißt es unverblümt in „Das ist unser Manifest“. Die Stelle bestätigt die von Remarque angesprochene Art und Weise zu kommunizieren und Begriffe anzuwenden, die mit Verdauung und Defäkation verbunden sind und von kämpfenden Soldaten und auch heimgekehrten Soldaten noch viele Jahre nach dem Krieg für ein angemessenes, ihren Emotionen freien Lauf lassendes Vokabular gehalten wer-
40 Peter Rühmkorf, Wolfgang Borchert in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek bei Hamburg 1962, S. 135. 41 Borchert, Das ist unser Manifest, S. 12. 42 Ebd., S. 14. 43 Vgl. Remarque, S. 28. 44 Vgl. Becker, S. 39. 45 Remarque, S. 12. 46 Borchert, Das ist unser Manifest, S. 11.
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den. „Nein, unser Wörterbuch, das ist nicht schön. Aber dick. Und es stinkt. Bitter wie Pulver. Sauer wie Steppensand. Scharf wie Scheiße“. 47 Nach außen gerichtet sind neben den groben Ausdrücken ebenfalls die Marschlieder. An sie knüpft nicht nur Borchert in „Das ist unser Manifest“, sondern auch Remarque an. Singen wird in seinem Werk mit der Ausführung eines Befehls assoziiert und von Soldaten negativ als etwas dem Individuum Gewalt Antuendes verstanden. Kat sagt: Nimm nur die einfachste Sache: wir kommen vom Exerzierplatz und sind hundemüde. Da wird befohlen: Singen. Na, es wird ein schlapper Gesang, denn jeder ist froh, daß er sein Gewehr noch schleppen kann. [. . . ] Beim Rückmarsch heißt es wieder: „Singen“, und jetzt wird gesungen. Was hat das Ganze für einen Zweck? Der Kompanieführer hat seinen Kopf durchgesetzt, weil er die Macht dazu hat. 48
Viele Soldaten hat der Drill, der die Soldaten prägte und sie um ihre Freiheit und individuelle Geistesentwicklung brachte, vernichtet. Der Roman „Im Westen nichts Neues“ setzt sich mit der inneren Umgestaltung der jungen Männer, die für Kriegszwecke unternommen wird, auseinander: Wir wurden zehn Wochen militärisch ausgebildet und in dieser Zeit entschiedener umgestaltet als in zehn Jahren Schulzeit. Wir lernten, daß ein geputzter Knopf wichtiger ist als vier Bände Schopenhauer. Zuerst erstaunt, dann erbittert und schließlich gleichgültig erkannten wir, daß nicht der Geist ausschlaggebend zu sein schien, sondern die Wichsbürste, nicht der Gedanke, sondern das System, nicht die Freiheit, sondern der Drill. [. . . ] Mit unseren jungen wachen Augen sahen wir, daß der klassische Vaterlandsbegriff unserer Lehrer sich hier vorläufig realisierte zu einem Aufgeben der Persönlichkeit. 49
Zugleich wird aber die Wachsamkeit der jungen Generation unterstrichen, die in dem von der alten Generation propagierten Drill bald ein Mittel sah, die Jungen zum unbedingten, im Militär geforderten Gehorsam zu bringen. Gegen den Drill spricht sich Borchert in seinem Manifest aus, indem er in der unmittelbaren Nachkriegszeit mit Freude feststellt: „Wir werden nie mehr antreten auf einen Pfiff hin und Jawohl sagen auf ein Gebrüll. Die Kanonen und die Feldwebel brüllen nicht mehr“. 50 Wie bereits gesagt, warf man Remarque vor, dass er die Angst als den einzigen die Soldaten zum Kampf an der Front antreibenden Beweggrund ansah. Bei Borchert manifestiert sich die Angst in der Erzählung „Der viele viele Schnee“, 51 bei Remarque in „Im Westen nichts Neues“. Hier gesteht der 47 48 49 50 51
Ebd., S. 14. Remarque, S. 37. Ebd., S. 21–22. Borchert, Das ist unser Manifest, S. 11. Vgl. Wolfgang Borchert, Der viele viele Schnee, in: Gerhard Kirchhoff, Deutsche Gegenwart. Ein literarisches Lesebuch, Teil I: Wurzeln und Anfänger, München 1972, S. 75.
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Erzähler, dass für manche ein verletzter Arm mit Freude aufgenommen werde, weil man so, anstatt zu kämpfen, nach Hause fahren könne. 52 Kein Heldentum der Soldaten, sondern das authentisch Menschliche rückt bei Remarque und Borchert in den Vordergrund. Bei ihnen kommen ähnliche Motive zu Wort. Es wird verständlich, warum der aus dem Krieg zurückkehrende Beckmann sich nicht von seiner Gasmaskenbrille trennen kann. Im Krieg entscheidet nämlich die Ausrüstung des Soldaten über Leben und Tod. Bei Remarque heißt es: „Diese ersten Minuten mit der Maske entscheiden über Leben und Tod: ist sie dicht?“. 53 Das Individuum steht vereinzelt „draußen vor der Tür“. Im gleichnamigen Werk offenbart sich die Frage, ob nach dem Krieg, in der neuen Wirklichkeit, im jungen Menschen der Hang zum Leben oder zum Sterben Oberhand gewinnt. Zusätzlich kann man bei Borchert die Gasmaskenbrille mit der Tatsache verbinden, dass Beckmann die vorgefundene Nachkriegswirklichkeit, trotz des angebrochenen Friedens, immer noch durch das Prisma des Krieges betrachtet. Diese Deutung konkretisiert den Grund, aus dem sich die Hauptfigur nicht mit ihrem Leben im Frieden zurechtfindet. Wie in „Der viele viele Schnee“ hat der Soldat bei Remarque Angst vor der Einsamkeit. Der Rekrut mit einem Bauchschuss in „Im Westen nichts Neues“ will, dass die Kameraden bei ihm bleiben. 54 In „Das ist unser Manifest“ erinnert sich der Erzähler nach dem Krieg an das Glück, das, obwohl der Krieg selbst schrecklich war, daraus entstand, dass ein Kamerad an seiner Seite war: „Nie werden wir wieder so glücklich sein, daß ein anderer neben uns ist. Warm ist und da ist und atmet und rülpst und summt – nachts auf dem Vormarsch“. 55 Remarque zeigt Tote, Verwundete und Irrsinnige als Ergebnis der Kämpfe. Im Kampf verlieren die Soldaten das sonst so oft in der Kriegspropaganda angesprochene Zusammenhaltsgefühl, die vor der Schlacht so deutlich werdende Kameradschaft. Jeder kämpft einzeln ums Überleben: „Wir haben alles Gefühl füreinander verloren, wir kennen uns kaum noch, wenn das Bild des anderen in unseren gejagten Blick fällt. Wir sind gefühllose Tote, die durch einen Trick, einen gefährlichen Zauber noch laufen und töten können“. 56 In „Das ist unser Manifest“ bekommt die Vereinzelung des Soldaten eine doppelte Bedeutung; zu Kriegszeiten wird sie negativ gewertet, weil man sich zusammen sicherer fühlt und spürt, dass auch andere noch am Leben sind. Nach dem Krieg dagegen bildet die Vereinzelung einen Gegensatz zum verhassten Drill und zur Entpersönlichung des Menschen im Militär: „Denn wir werden nie wieder zusammen marschieren, denn jeder marschiert von nun an allein“. 57
52 53 54 55 56 57
Remarque, S. 42. Ebd., S. 54. Vgl. ebd., S. 56. Borchert, Das ist unser Manifest, S. 11–12. Remarque, S. 86. Borchert, Das ist unser Manifest, S. 12.
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Der individuellen Entwicklung wird mit diesen Worten erneut Bedeutung zugeschrieben. Sowohl Remarque als auch Borchert wenden sich vom Nationalismus ab und sprechen das allgemein Menschliche an, wenn sie die gegnerischen Soldaten mit den eigenen Soldaten konfrontieren. Sie sehen auf beiden Seiten infolge des Kampfes verängstigte bzw. dem Tod ausgelieferte Menschen. In „Das ist unser Manifest“ heißt es: „Gut, Herr Jesus, warum? Wir haben mit den toten Iwans vorm Erdloch genauso gut in Gott gepennt. Und im Traum durchlöchern wir alles mit unseren M.Gs.: Die Iwans. Die Erde. Den Jesus“. 58 Remarque fügt hinzu: „Ein junger Franzose bleibt zurück, er wird erreicht, hebt die Hände, in einer hat er noch den Revolver – man weiß nicht, will er schießen oder sich ergeben – ; ein Spatenschlag spaltet ihm das Gesicht“. 59 Weiter beschreibt der Erzähler eine Situation, in der die Menschlichkeit über den Völkerhass siegt. Er berichtet, wie er einem verwundeten und sterbenden Franzosen, einem früheren Buchdrucker, in dessen Qual beistand. 60 Hier und da offenbart sich die Frage nach der Menschlichkeit und den rein menschlichen Gefühlen des Zusammenhalts über Nationen und Grenzen hinweg, die die Kriegsmoral zerstört hatte. Wie in Borcherts „Der viele viele Schnee“ überkommen den Erzähler von „Im Westen nichts Neues“ Erinnerungen an die heile Welt und die heimatliche Gegend von früher, obwohl er sich dessen bewusst ist, dass diese Welt nach dem Krieg nicht mehr existieren wird, nur als Erinnerung wieder auftauchen kann und dem vom Krieg veränderten Soldaten kein Geborgenheitsgefühl mehr schenken wird. 61 In beiden Fällen verbinden die Schriftsteller die Erinnerungen mit Stille. Borchert versetzt die Handlung in eine stille und verschneite einsame Gegend, irgendwo in Russland; Remarque schreibt die Stille der Erinnerung selbst zu: „es ist seltsam, daß alle Erinnerungen, die kommen, [. . . ] immer voll Stille [. . . ] [sind], das ist das Stärkste an ihnen“. 62 Sowohl „Im Westen nichts Neues“ als auch „Das ist unser Manifest“ sind im Grunde genommen auf die jeweilige Nachkriegszeit orientiert. Zwischen beiden Werken gibt es darum viele Berührungspunkte. Bei Remarque umreißt der Erzähler eine Situation, die in „Das ist unser Manifest“ nach dem Krieg als gegenwärtig erscheint. Die Kriegserlebnisse dringen tief in das Bewusstsein der Soldaten ein und werden sehr viel später wieder wach. Remarque führt dies als Überzeugung des Erzählers dem Leser vor Augen: Und ich weiß: all das, was jetzt, solange wir im Kriege sind, versackt in uns wie ein Stein, wird nach dem Kriege wieder aufwachen, und dann beginnt erst die
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Ebd., S. 14. Remarque, S. 86. Vgl. ebd., S. 156–169. Vgl. ebd., S. 89–90. Ebd., S. 89.
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Auseinandersetzung auf Leben und Tod. Die Tage, die Wochen, die Jahre hier vorn werden noch einmal zurückkommen, und unsere toten Kameraden werden dann aufstehen und mit uns marschieren, unsere Köpfe werden klar sein, wir werden ein Ziel haben, und so werden wir marschieren, unsere toten Kameraden neben uns, die Jahre der Front hinter uns: – gegen wen? 63
Dies ist eine Passage, die an den Soldaten Beckmann erinnert, der in Borcherts Stück „Draußen vor der Tür“ nach dem Krieg vergeblich die Verantwortung für den Tod seiner Kameraden mit der älteren Generation teilen möchte. Die Nachkriegszeit voller Traumata, die dem Krieg entsprungen sind, beschreibt Borchert in „Das ist unser Manifest“: „Und die Nacht ist voll Tod: Unsere Nacht. Denn unser Schlaf ist voll Schlacht. Unsere Nacht ist im Traumtod voller Gefechtslärm“. 64 Er sieht ebenfalls ein klares Ziel vor den zurückgekehrten Soldaten: „Und erzähl deinen Kindern nie von dem heiligen Krieg: Sag die Wahrheit, sag sie so rot, wie sie ist: voll Blut und Mündungsfeuer und Geschrei“. 65 Dies ist ein Ziel, das sowohl der Pazifist Remarque als auch der Pazifist Borchert mit ihren gattungspoetisch unterschiedlichen Werken erreicht haben.
63 Ebd., S. 103. 64 Borchert, Das ist unser Manifest, S. 13. 65 Ebd., S. 15.
Arnold Zweig und der Krieg
Agnieszka Klimas
(Uniwersytet Opolski)
Vom Kriegsbegeisterten zum Pazifisten: Arnold Zweig Textliche und weltanschauliche Korrekturen Denkt man an das Echo des Ersten Weltkriegs in der deutschen Literaturgeschichte, erscheint sofort der Name Arnold Zweigs. Dieses komplexe Thema beschäftigte den deutsch-jüdischen Autor sein Leben lang und spiegelte sich sowohl in seinen berühmten kriegskritischen Romanen als auch in seinen weniger bekannten Novellen und Essays wider. Dass gleichzeitig Zweig einen radikalen Wandel von einem Kriegsbegeisterten zu einem führenden Pazifisten erlebte, ist jedoch nur jenen bekannt, die sein früheres Werk kennen. In diesem Beitrag wird der Versuch unternommen, die Hintergründe der Zweigschen Kriegsbegeisterung darzustellen, wie sie sich aus seinen literarischen Werken und autobiografischen Äußerungen ergibt. In diesem Zusammenhang werden frühe Novellen Zweigs behandelt, die noch Spuren nationalistischer Abgrenzung tragen. Anschließend werden diese Novellen mit Texten Zweigs verglichen, die nach dem Krieg überarbeitet erschienen, und Zweigs Eingriffe analysiert. Zunächst eine kurze biografische Skizze. Den Kriegsausbruch im Juli 1914 erlebte Zweig als 26-jähriger Student und bereits angesehener Schriftsteller, dessen erster bekannter Roman „Novellen um Claudia“ 1912 erschienen war. Er teilte die Begeisterung in der deutschen Gesellschaft, die sich zu Beginn des Krieges verbreitete. Zweig meldete sich als Freiwilliger an die Front, wurde aber wegen seiner starken Kurzsichtigkeit zurückgestellt, um schließlich im April 1915 als Armierungssoldat einberufen zu werden. Zum entscheidenden Wendepunkt für seine Haltung wurde die Schlacht um Verdun. Die Verarbeitung seiner gründlichen Desillusionierung vollzog sich ab Mai 1917 in der verhältnismäßigen Ruhe der östlichen Etappe. 1 Dass Zweigs Reaktion auf den Kriegsausbruch kein Einzelfall unter den deutschen Intellektuellen, vor allem jenen jüdischer Abstammung, war, zeigen historische Belege. Der deutsch-jüdische Dichter war einer von vielen deutschen Juden, die am Krieg teilgenommen haben. Nach der deutschen Kriegserklärung vom 1. und 3. August 1914, zuerst an Russland und dann an Frankreich, dienten 100.000 Juden – oft als
1 Vgl. David R. Midgley, Arnold Zweig. Eine Einführung in Leben und Werk, Frankfurt a. M. 1987, S. 3.
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Freiwillige – in der deutschen Armee. Mehr als 12.000 von ihnen fielen. Die Kriegsteilnahme der deutschen Juden war eine Manifestation ihrer kulturellen Identifikation mit dem Land, das sie als (theoretisch) gleichberechtigte Bürger anerkannt hatte. 2 So hoffte auch Zweig, in diesem historischen Moment am Ziel der generationenlangen Suche nach einer deutsch-jüdischen Symbiose angelangt zu sein. 3 Auf diesen Umstand verweist schon sein Bekenntnis zur deutschen Kulturgemeinschaft im August 1914: Ich habe viel, viel neue Gedanken über das Wesen der Nation gehabt, die ich noch nicht fixieren kann. So hat mich die im tiefsten verbindende Kraft der Kulturgemeinschaft, die mir früher nicht so gegeben war, geradezu überfallen. Ich weiss nicht ganz genau – und Sie wissen, dass das zu meinem Glück gehört – : ich nehme meinen leidenschaftlichen Anteil an unseres Deutschlands Geschick als Jude, auf meine mir eingeborene jüdische Art mache ich die deutsche Sache zu meiner Sache; ich höre nicht auf Jude zu sein, sondern ich bin es immer mehr, je wilder ich mich freue, je tiefer ich empfinde, je heftiger ich nach Aktivität dränge. 4
Zweigs Identifikation mit der intellektuellen Rechtfertigung des Krieges zeigt sich deutlich in seiner Rezension von Max Schelers „Der Genius des Krieges und der Deutsche Krieg“, die im April 1915 in der „Schaubühne“ erschien. In diesem Werk, welches den Krieg als „eine Fatalität [. . . ], als Geschick, als Tragik“ preise, sei nach Zweig der „deutsche Geist [. . . ] beschworen von der Größe des Augenblicks“ erneut „aufgestanden, um Zeugnis abzulegen von sich“. 5 Auch Zweigs kriegsbegeisterter Brief an Helene Weyl vom 27. August 1914 enthüllt seine Motivation, sich am Kampf für Deutschland zu beteiligen und dadurch gegen alle antisemitischen Stimmen einen angemessenen Platz der Juden in der deutschen Gesellschaft zu erringen: Das grosse Deutschland ist wieder da, die klare ungeheuer geniale Kälte der Kantischen Intuition und das Feuer Beethovenscher Allegretti und Scherzi spukt in der deutschen Kriegsführung, die tragende Ordnung „romanisch“-deutscher Fassaden und der gefasste, schweigsame Griffel holbeinscher Zeichnungen gibt sich kund im Rythmus [sic!] des organisatorischen Lebens der Daheimgebliebenen – und über allem hängt die furchtlose Nähe des Todes (und des Teufels =
2 Vgl. Manuel Wiznitzer, Arnold Zweig. Das Leben eines deutsch-jüdischen Schriftstellers, Königstein 1983, S. 23. 3 Vgl. Wilhelm von Sternburg, Um Deutschland geht es uns. Arnold Zweig: Die Biographie, Berlin 1998, S. 89–90. 4 Arnold Zweig an Helene Weyl (vom 27. August 1914), in: Ilse Lange (Hg.), Komm her, wir lieben Dich: Briefe einer ungewöhnlichen Freundschaft zu dritt. Arnold Zweig, Beatrice Zweig, Helene Weyl, Berlin 1996, S. 78. 5 Arnold Zweig, Der Genius des Krieges, in: Die Schaubühne 16 (1915), S. 369.
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Schreckens) aus Dürers großem Blatt. Der Ritter reitet. Dass Liliencron dieses Deutschland nicht mehr erlebte! 6
In diesem Geiste verfasste der Autor eine Reihe von Kriegserzählungen, die 1914 und 1915 im „Simplicissimus“ und bei Albert Langen in München erschienen sind. Die bekannteste dieser Erzählungen u.d.T. „Die Bestie“ zeigt, wie ein belgischer Bauer drei deutsche Soldaten, die ihm für die Übernachtung in seinem Haus bezahlt haben, betrunken macht und wie Tiere abschlachtet. Zweig stellt diesen symbolischen Feind der deutschen Nation so drastisch wie möglich als Bestie dar: einem nach dem andern durchschnitt er rasch und obenhin kalt, innerlich glühend, den Hals über dem Adamsapfel, vermied den heißen roten Guß, der aufsprang, und warf sich, als der dritte, zu hinterst liegend, von dem Röcheln und Zappeln der Sterbenden ein Viertel erweckt, vergeblich versuchte sich aus der Betäubung zu retten, auf ihn mit einem Sprunge der Raserei, der ihm das Messer durchs Herz trieb, so daß die Spitze, hinten heraustretend, sich an den Ziegeln des Fußbodens verbog. 7
Zweigs analphabetischer belgischer Bauer macht keinen Unterschied zwischen Schwein und Mensch und hat dabei seinen Spaß: „Schnell schleppte er nun das große Schaff herein, in dem er das Schweineblut aufzufangen pflegte, und lehnte die Körper über seine Rante, so daß sie sich, die Köpfe schief an den Muskeln der Halswirbel hängend, reinlich ausbluten konnten“. 8 Weiter wird erzählt, wie der Belgier die deutschen Husaren, die sich sehr höflich und gesittet benommen haben, ausweidet und vollends entmenschlicht: „Noch immer wach wie am Vormittag kehrte er in den Keller zurück, in die Kammer, die nach Tod roch, besah seine Opfer aufmerksam, hatte einen Einfall, band sich die Schlächterschürze um und nahm ihnen aus der geöffneten Bauchhöhle die Eingeweide heraus, die Lunge, das Herz, geschlossenen Mundes grinsend, weil’s im Menschen überraschend fast so aussah wie im Schwein“. 9 Dabei gab
6 Lange, S. 77. Der Krieg bedeutete für Zweig auch eine Überprüfung und Revidierung dieser Meinungen über die Rolle der Juden im Krieg. Dies kommt beispielsweise in seiner Korrespondenz mit Martin Buber zum Ausdruck. Am 15. Februar 1917 skizziert er die Handlung der „Judenzählung vor Verdun“: „‚Judenzählung‘ war eine Reflexbewegung unerhörter Trauer über Deutschlands Schande und unsere Qual; kein Essay sondern ein Bild; und zudem: damals, Anfang November, hatte ich die Tage frei weil ich jede Nacht Wache machte. [. . . ] Wenn es keinen Antisemitismus im Heere gäbe: die unerträgliche ‚Dienstpflicht‘ wäre fast leicht. Aber: verächtlichen und elenden Kreaturen untergeben zu sein! Ich bezeichne mich vor mir selbst als Zivilgefangenen und staatenlosen Ausländer“. Georg Wenzel, Arnold Zweig 1887–1968. Werk und Leben in Dokumenten und Bildern, Berlin 1978, S. 74. 7 Arnold Zweig, Die Bestie. Erzählungen, München 1914, S. 16. 8 Ebd. 9 Ebd., S. 17.
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ihm der Mord so viel Energie und Lebenslust, dass er bedauerte, die 14-jährige Angèlique verabschiedet zu haben, denn er „fand sich jung und voller Stärke“. 10 Als später andere deutsche Soldaten bei dem belgischen Bauern ankommen und das Verbrechen aufdecken, wird der Mentalitätsunterschied zwischen den Deutschen und ihren Gegnern hervorgehoben: „In einer ganz tiefen innerlichen Stille voller unendlicher Schwermut hörte der junge Offizier das Wort Vergeltung; aber er fühlte gleich, es gab keine Vergeltung, auch wenn er die Bestie schinden ließe, es gab überhaupt keine Vergeltung in der Welt“. Symbolcharakter hat auch die Szene, in der der Belgier „in die Ecke zu den Malven“ 11 geführt wird, um dort ein Grab für seine Opfer zu graben. Zweifellos bezieht sich Zweig hier auf die zeitlich nahen Massaker an der Zivilbevölkerung auf belgischem Gebiet, namentlich die Massaker von Tamines und Dinant im August 1914, indem er die Märsche der deutschen Truppen, die Flucht der belgischen Frauen und Kinder beschreibt, sowie mit dem Hinweis auf die „heiße Schwere der Augustnacht“. 12 So verdankte die deutsche Propaganda von 1914, die belgische Widerstandskämpfer ebenfalls zu „Bestien“ stilisierte, 13 dem Schriftsteller Zweig viel. Deutsche Truppen, die Anfang August 1914 durch Belgien marschierten, wurden vom starken Widerstand der belgischen Armee überrascht. Es kam zu massenhaften Exekutionen von belgischen Zivilisten, was in Deutschland als Vergeltung für Angriffe durch Freischärler dargestellt wurde. Deutsche Zeitungen und Zeitschriften berichteten über hinterhältige Akte der Belgier gegen deutsche Soldaten und Angriffe auf in Belgien lebende deutsche Zivilisten. Zahlreiche Artikel mit propagandistischen Titeln wurden veröffentlicht, deren Schlagzeilen u. a. „Die Antwerpener Unmenschen“, „Deutschenhaß in Belgien“ oder „Die Bestie in Belgien“ 14 lauteten. Auch Kaiser Wilhelm II. schrieb in
10 11 12 13 14
Ebd., S. 16. Ebd., S. 21. Ebd., S. 15. Vgl. Michael Epkenhans, Der Erste Weltkrieg 1914–1918, Paderborn 2015, S. 155. Vgl. Lars-Broder Keil / Sven Felix Kellerhoff, Gerüchte machen Geschichte. Folgenreiche Falschmeldungen im 20. Jahrhundert, Berlin 2006, S. 27, 30. Die in Deutschland verbreiteten Informationen beruhten auf Mitteilungen des halbamtlichen „Wollf ’schen Telegraphen-Bureaus“ und des Generalstabes, der die Lage folgendermaßen darstellte: „Die von den Kämpfen um Lüttich vorliegenden Meldungen lassen erkennen, daß die Landesbewohner sich an dem Kampfe beteiligt haben. Truppen sind aus dem Hinterhalt, Ärzte bei der Ausübung ihrer Tätigkeit beschossen worden. Gegen Verwundete wurden Grausamkeiten von der Bevölkerung verübt“. Ebd., S. 30. Dagegen verweist Ulrich Keller auf die Tatsache, dass beide Seiten Krieg geführt hatten, und zweifelt die seit Dezennien etablierte Version eines „vermeintlichen“ deutschen Angriffs an. Vgl. Ulrich Keller, Schuldfragen. Belgischer Untergrundkrieg und deutsche Vergeltung im August 1914, Paderborn 2017, S. XXX.
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einer Notiz, dass die Belgier sich angeblich „viehisch“ und „teuflisch“ 15 benehmen würden. So verwundert kaum, dass der damals wegen seiner starken Kurzsichtigkeit noch nicht einberufene Zweig, der den Krieg bloß aus Pressemitteilungen kannte und geringe Kenntnisse über die im Krieg herrschenden Verhältnisse hatte, sich von der Propaganda so stark beeinflussen ließ. Zweig revidierte seine Einstellung, nachdem er im Frühjahr 1915 an die Front geschickt worden war. Die 15 Monate in der Hölle des Krieges bewirkten bei ihm eine diametrale Änderung seines Standpunkts. Die vergeblichen Kämpfe bei Verdun und an der Somme, das Elend der Soldaten sowie das arrogante und opportunistische Verhalten der Führungseliten brachten ihn auf das Grundthema seines Gesamtwerkes. 16 Einen wichtigen Schritt auf Zweigs Weg zum Pazifismus bildete der am 11. Oktober 1916 vom deutschen Kriegsministerium veröffentlichte Erlass, der eine Zählung jüdischer Soldaten 17 anordnete. Das Kriegsministerium unterstellte, dass die jüdischen Soldaten nicht hinreichend tapfer kämpften oder sich in die Etappe verdrückten. Die Erhebung, der Zweig 1917 die Novelle „Judenzählung vor Verdun“ 18 widmete, verdeutlichte den deutschen Juden, dass der Ausbruch des Ersten Weltkriegs den Antisemitismus nur verdeckt, nicht aber zu überwinden geholfen hatte. „Denn mit dieser kalten bürokratischen Maßnahme mußten die deutschen Juden alle Hoffnungen aufgeben“, so der Historiker Volker Ullrich, „im Kaiserreich jemals als gleichberechtigte Staatsbürger behandelt zu werden“. 19 Aus dem Kriegsbefürworter Zweig wurde ein Pazifist. Zweigs Briefe an Agnes Hesse, Beatrice Zweig und weitere Bekannte zeigen das Ausmaß der Belastung, die der Krieg dem jungen Zweig brachte. Am 23. August 1917 schreibt der verzweifelte Schriftsteller an Agnes Hesse über seine Pläne, die Tragik des Krieges künftig literarisch zu bearbeiten: Ich bin ausgelaugt, fast verzweifelt und nach 28 Monaten, in denen ich 14 Tage Urlaub hatte, am Ende meiner Kraft. So ist es. Ich habe keinen Grund, es zu leugnen. Ich will Ihnen nur sagen, daß das ganze Heer, von der hintersten Etappe
15 Die eigenhändige Randnotiz des Kaisers auf einer Botschaft der belgischen Regierung lautete: „Die Bevölkerung Belgiens hat sich geradezu teuflisch, um nicht zu sagen viehisch benommen, nicht ein Haar besser als die Kosaken“. Zit. nach: Keil / Kellerhoff, S. 27. 16 Vgl. Sternburg, S. 93. 17 Das Ergebnis der Zählung wurde trotz des Drängens der jüdischen Organisationen nicht veröffentlicht, da es wohl gezeigt hätte, dass die antisemitischen „Drückeberger“-Vorwürfe der Wirklichkeit entschieden widersprachen. 18 Die Novelle wurde im Februar 1917 in der „Schaubühne“ veröffentlicht. In einem der vielen an Martin Buber gesendeten Briefe berichtet Zweig von der Schande und Qual der „Judenzählung“. In dieser Korrespondenz sind auch deutliche Hinweise auf Zweigs Desillusionierung enthalten. Vgl. Sternburg, S. 98. 19 Volker Ullrich, „Dazu hält man für sein Land den Schädel hin!“, in: Die Zeit 42 (1996), S. 46.
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bis zum vordersten Graben von den giftigsten und niedrigsten moralischen Fäulnisstoffen durchseucht ist, und daß ich eines Tages mit einem vielleicht ruchlosen und unerhörten Buche die Wahrheit gestalten werde. Als Rache, das leugne ich nicht – als Rache dafür, daß man mein bis dahin reines und zurückgezogenes Leben in diese Kloake gezerrt hat. 20
Schon im Februar 1917 erklärte Zweig seine Absicht, sich nicht mehr aktiv am Kriege zu beteiligen, und beschrieb seine Desillusionierung: Meine Haltung zum Deutschen Problem ist nicht einfach. Im August 14 stellte ich mich freiwillig, weil mir die Erhaltung deutscher Kultur mein Leben wert schien, mir und meiner Frau. Ich sah, daß ich ohne die Existenz Hölderlins, Goethes, Kleists, Eta Hoffmanns, Stifters nicht zu leben vermochte, noch weniger aber, ohne Bach, Beethoven, Mozart, Händel, Brahms, Gluck, Bruckner, Mahler in vollkommener Gestaltung zu hören. Ich sah noch Ende Juli bis zur Erschütterung beglückt den Straßburger Dom, ich schreibe deutsch, ich bin erwachsen im Zauber deutscher Landschaften: Süddeutschland und Oberösterreich machten mich zum Schriftsteller, Südtirol zum Dichter. [. . . ] Aber der Staat und seine Maßnahmen, die widerliche Verlogenheit des öffentlich agierenden Bürgertums treiben mich in jede Opposition. 21
Eine essayistische Reaktion auf die jüngste Entwicklung im Denken des Schriftstellers liefert der im Juni 1917 erschienene Aufsatz „Juden und Deutsche“, in dem er sich deutlich gegen ein allzu pathetisches Verständnis von Staat und Nation wendet. Zweig folgend, seien überall Abstammung, Nation und Blut als Kriterien eines wahrhaftigen Patriotismus bzw. der Bindung an das jeweilige Land und dessen Kultur anzusehen, doch dabei sollte es „gelassen auszusprechen“ sein: „Blut ist dicker als Wasser, das ist wahr, das ist banal; aber Geist ist mächtiger als Blut, und Schicksal ist von formenderer Gewalt als Abstammung und Geburt“. 22 Zweigs anfänglicher „Hurrapatriotismus“ der nationalistisch geprägten Novellen und Gedichte wurde von ihm nicht schamhaft ignoriert. Er schrieb seine kriegsbejahenden Werke um und gab die bisherigen deutschen Opfer als brutale Angreifer zu erkennen. Dies geschah auch mit der bekanntesten antibelgischen Novelle „Die Bestie“, die mit der viel ausführlicheren „Westlandsaga“ (1951) 23 ein zweites Leben erhielt. Dass Zweig sich längere Zeit mit der Neubearbeitung dieses Stoffes beschäftigte, beweisen seine erhaltenen 20 21 22 23
Arnold Zweig an Agnes Hesse (vom 23. August 1917), in: Wenzel, S. 78. Arnold Zweig an Agnes Hesse (vom 22. Februar 1917), in: ebd., S. 75. Arnold Zweig, Juden und Deutsche, in: Der Jude 3 (1917), S. 204–207, hier S. 205. Im Nachbericht zur „Westlandsaga“ gesteht Zweig, dass er schon im Jahre 1926 versucht habe, „dem Stachel zu entkommen, den die Existenz dieser Novelle“ in seiner „Schublade bedeutete und Zeugnis abzulegen von der Verwandlung all der Perspektiven, die zu ihr geführt hatten“, jedoch nahm ihn die Arbeit an „Der Streit um den Sergeanten Grischa“ in Anspruch. Vgl. Arnold Zweig, Nachbericht, in: Wenzel, S. 608–611, hier
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Notizen. Schon in der Agenda für das Jahr 1926 notiert Zweig seine Pläne für die Umarbeitung der ihm inzwischen peinlichen Novelle. Fast zwanzig Jahre später – im Jahre 1942 – bettet der Schriftsteller erstmals den umgeschriebenen Stoff in die Novelle „Westlandsaga“ ein. In seinem Taschenkalender notiert er: „Es geht gut was draus zu machen. . . “, 24 jedoch verlängert sich die Arbeit bis in die fünfziger Jahre. In der neueren Novelle werden nicht nur die Opfer zu brutalen Tätern. Auch die erstmalige Stilisierung des belgischen Bauern als eines analphabetischen und brutalen Mannes, dessen unmenschliches Verhalten wohl für das ganze Volk der Belgier stehen sollte, wird korrigiert. Der in der früheren Fassung als nahezu apokalyptisch-gespensterhaft dargestellte Radfahrer, der in sehr einfacher, fast primitiver Sprache mitteilt, dass die Deutschen in der Nähe seien, und mit einer vielsagenden Waffen-Geste wegfährt, gewinnt in der späteren Fassung an Formulierungsgabe und Intellekt und warnt den Bauern, er solle seine Flinte abliefern, denn der Krieg gehe nur das Heer an, er sei nichts für Zivilisten. Die titelgebende „Bestie“ erhält in der späteren Fassung weit menschlichere Züge, denn auf die alarmierende Mitteilung reagiert der Bauer nicht mehr mit dem Gedanken an seine Flinte, sondern mit Sorge; er blickt mit Hoffnung auf die Bildnisse von Heiligen und der Jungfrau Maria. Die in der „Bestie“ als sittsame Gäste charakterisierten deutschen Soldaten werden in der „Westlandsaga“ zu hemmungslosen Kriegsverbrechern, die ganze Dörfer abgebrannt haben, obwohl sie wussten, dass sich hinter den Fenstern, aus denen Schüsse fielen, belgische Soldaten versteckten. Sie bekennen sich zu ihren Kriegsverbrechen und rühmen sich ihrer in Geschichten, die sie betrunken dem belgischen Bauern erzählen. In der neueren Fassung werden die ursprünglich namenlosen deutschen Husaren Will Demes und Otto Ladert – der Dritte im Bunde bleibt weiterhin namenlos – nicht von dem Belgier geschlachtet, sondern sie töten sich gegenseitig in einer sinnlosen Prügelei unter Alkoholeinfluss. Ihre nackten, „heidnischen“ 25 Körper entdeckt der Bauer Labrousse am nächsten Tag in seinem von Blut besudelten Haus. Er sieht diesen S. 609. Zweigs Abrechnung mit deutschen Kriegsverbrechen fällt in die DDR (auch SBZ) der Nachkriegsjahre, als Verbrechen deutscher Soldaten an der Zivilbevölkerung zum Thema einer breiten Debatte wurden. Man darf annehmen, dass die Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs die Ereignisse während des Ersten Weltkriegs überblendet haben, denn Zweig reformuliert und remodelliert seinen Text auch im Lichte dieser Erfahrungen. Des Weiteren liefert das Arnold-Zweig-Archiv interessante Einblicke in den Entstehungskontext der überarbeiteten Novelle: Zweigs Ideen und Skizzen zu der „Westlandsaga“ wurden auf den Rückseiten des Romans „Das Beil von Wandsbek“ geschrieben. Beide Texte behandeln nicht nur das gleiche Motiv (die Tötung von Menschen), sondern sie sind auch in räumlicher Nähe gebunden, denn sie wurden auf demselben Materialträger verfasst. 24 Arnold-Zweig-Archiv, Signatur 2630, S. 136. 25 Arnold Zweig, Westlandsaga, in: Ders., Was der Mensch braucht. Erzählungen, Leipzig 1987, S. 327.
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Moment als seinen Todestag an. Denn auch in der neueren Novelle werden die Leichen von deutschen Husaren entdeckt. Dabei korrigiert Zweig aber die Beschreibung des Fundes. Obwohl der deutsche Rittmeister Boltrup weiß und der Trompeter Klinsch bestätigt, dass zwischen den toten deutschen Soldaten ein Konflikt bestand, kalkuliert der Offizier kalt: „die Ehre der Kompanie, der ganzen Armee steht auf dem Spiel“. 26 Er verurteilt den belgischen Bauern zum Tode. 27 Gleichzeitig setzt der Autor seiner Desillusionierung, was den Krieg angeht, ein Denkmal, indem Klinsch in Gedanken diesmal nicht das Wort „Vergeltung“, sondern „Aufklärung“ hört: „In einer ganz tiefen innerlichen Stille voll unendlicher Schwermut hörte Klinsch das Wort Aufklärung: aber er fühlte gleich, es gab überhaupt keine Aufklärung in der Welt, nur Befehl“. 28 Des Weiteren lässt Zweig in der neueren Novelle keine nationalistische, auf falschen Informationen basierende Propaganda zu. Er korrigiert den in die Erzählung eingehenden geschichtlichen Hintergrund. Vor allem die Kriegserklärung Englands als Reaktion auf den deutschen Durchmarsch durch Belgien habe das „deutsche Blut zum Sieden“ gebracht, denn dieses Land, „in dessen Grenzen der deutscheste Strom mündete, der Rhein!“, 29 gehöre selbstverständlich traditionellerweise zum Deutschen Reich, ironisiert Zweig. Unter Bezugnahme auf englische Belege, zu denen Notizen im Arnold-Zweig-Archiv 30 vorhanden sind und von der Gewissenhaftigkeit des Autors bei seinen Korrekturarbeiten zeugen, erzählt Zweig von Meldungen aus dem besetzten Gebiet, die von „Feuer, Mord und furchtbaren Ausschreitungen der Eindringlinge berichteten“ und aus „durchaus vertrauenswürdigen Quellen“ 31 stammen. Brutale Akte der deutschen Armee werden detailliert aufgezählt, um von den deutschen Kriegsverbrechen so getreu wie möglich zu berichten. Gleichzeitig erkennt der Autor, wie die Manipulation des deutschen Volkes vonstatten ging: „Das deutsche Volk aber und seine Anhänger in den neutralen Staaten ließen sich alsbald belehren, daß die belgische Zivilbevölkerung, statt sich den Genfer Abmachungen zu fügen, auf Anstiften ihrer Regierung Partei und Waffen gegen die einmarschierenden Heere ergriffen habe und so den Zorn der Truppen und ihre gerechte Vergeltung feiger Überfälle heraufbeschworen“. 32 26 Ebd., S. 334. 27 Der Justizmord, der das barbarische Verhalten der deutschen Soldaten verdecken soll, hat gleichzeitig das Ziel, die deutsche Machtüberlegenheit gegenüber den Belgiern zu manifestieren. Die Schuld wird auf einen Belgier geschoben, dessen Volk von der Propaganda ohnehin als Barbaren dargestellt wird. 28 Zweig, Westlandsaga, S. 334. 29 Ebd., S. 318. 30 Vgl. Arnold-Zweig-Archiv, Signatur 655, S. 1: „Über Grausamkeiten der deutschen Truppen während des Durchmarsches durch Belgien und Luxemburg im Jahre 1914“. Die Notiz enthält viele Zahlen und detaillierte Angaben. 31 Zweig, Westlandsaga, S. 318. 32 Ebd., S. 318–319. Zweig bemüht sich hier, die Deutschen als brutale Mörder zu kennzeichnen, jedoch zeigen neuere Studien, dass deutsche Soldaten keine Möglichkeit zu
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Für Zweig war der Krieg eine „vollkommen erledigte und sinnlos gewordene Lebensform“. 33 Er stellte sich in seinem Aufsatz über „Kriegsromane“ als profilierten Gegner „des Krieges als Einrichtung“ 34 dar, hinter dem „nicht das heroische Opfer, sondern der Profit der Großgrundbesitzer, des Industriekapitals, der Banken“ 35 stehe. Im Jahre 1950 gesteht er in seinem Essay „Bekehrung zum Frieden“, der den Einfluss stalinistischer Herrschaft nicht verleugnen kann, dass er an der Front Monat für Monat immer „klarer und am eigenen Leibe [erfahren hatte], daß der Krieg die Ausprägung“ 36 der „Klassengesellschaft darstellte, Ausbeutung in Reinkultur war und zu Gunsten einer herrschenden Schicht selbst das Geborenwerden und die Lebenssubstanz all der vielfältigen Gruppen von Untertanen in Nutzeffekte umwandelte“. 37
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erkennen hatten, wer die Schüsse abgab. Heute bietet die Forschung für diese Vorgänge zwei Erklärungen an: Erstens besaßen damalige Infanteriewaffen eine Schussweite von 1600 Metern. Auf eine solche Entfernung war nicht erkennbar, wer die Waffe gebraucht hatte. Zweitens lassen Dokumente (z. B. Feldpostbriefe) erkennen, dass nervös gewordene deutsche Soldaten aufeinander geschossen hatten. Ein bekanntes Beispiel hierfür liefert die Zerstörung der Universitätsstadt Löwen. Historiker glauben heute, dass deutsche Soldaten versehentlich eigene Kameraden beschossen haben. Man behauptete damals jedoch, dass hinter der Attacke Belgier gestanden hätten und so wurden 200 Einwohner hingerichtet. Vgl. Simone Salden, „Horde von Barbaren“. Die Zerstörung von Löwen im August 1914, in: Annette Großbongardt u. a. (Hg.), Der Erste Weltkrieg: Die Geschichte einer Katastrophe, München 2014, S. 96–98. Arnold Zweig, Kriegsromane, in: Weltbühne 16 (1929), S. 597–599, hier S. 598. Ebd., S. 597. Ebd., S. 598–599. Arnold Zweig, Bekehrung zum Frieden. 8. November 1950, in: Wenzel, S. 82–83, hier S. 82. Ebd., S. 82–83.
Krzysztof Kłosowicz
´ aski (Uniwersytet Sl ˛ w Katowicach)
Arnold Zweigs Briefe von der Front Der im Jahre 1887 in der schlesischen Festungsstadt Glogau (heute Głogów) geborene und in seinen Jugendjahren mit Katowice verbundene Schriftsteller Arnold Zweig ist dem breiten Publikum hauptsächlich als Autor hervorragender Romanwerke bekannt, u. a. „Der Streit um den Sergeanten Grischa“ (1928), „Erziehung vor Verdun“ (1935) und „Das Beil von Wandsbek“ (1943). Darüber hinaus umfasst seine annähernd 60-jährige Schriftstellerlaufbahn zahlreiche Erzählungen und Novellen, Schauspiele, Gedichte, sowie Hunderte von Aufsätzen, Reden und Essays. Einen weniger bekannten Teil seines Nachlasses bildet Zweigs Briefsammlung, die er kraft testamentarischer Verfügung der Deutschen Akademie der Künste in Ost-Berlin übergab. Sie besteht aus etwa 30.000 Briefen, worunter ein Drittel aus seiner Feder stammt. 1 Dazu gehört Zweigs Briefwechsel mit Familie, Verwandten, Freunden, sowie mit mehreren Verlagen, Zeitschriftenredaktionen, Veranstaltern von kulturellen Ereignissen und verschiedenen staatlichen Institutionen und Organisationen. Aus diesem Grund wird er vom Germanisten und Literaturwissenschaftler Jost Hermand als „letzter großer Briefsteller des 20. Jahrhunderts“ 2 bezeichnet. Seine Korrespondenz bietet eine wichtige Quelle für Literaturforscher und Biografen, da sie einen Einblick in die intimsten Bereiche des Lebens und des künstlerischen Schaffens Zweigs gewährt. Den sehr persönlichen Charakter ihrer Inhalte betont der Schriftsteller selbst, indem er gesteht: „Nur im Brief lasse ich mich gehen und überlege kein Wort, bevor ich es schreibe“. 3 Einen besonderen Teil der genannten Sammlung bildet Zweigs Korrespondenz aus der Zeit des Ersten Weltkriegs, an dem er als einfacher Soldat teilnimmt. Im vorliegenden Beitrag wird anhand ausgewählter Briefe aus den Jahren 1914–1918 der Entwicklungsweg des Schriftstellers vom engagierten Militaristen zum radikalen Pazifisten verfolgt und auf die wichtigsten Stationen seiner Verwandlung hingewiesen. Als Deutschland am 1. August 1914 dem Großen Krieg beitritt, ist Arnold Zweig genau 26 Jahre alt. Er lebt zusammen mit seiner Cousine und Freundin Beatrice in dem kleinen Dorf Solln bei München, wo die beiden ein
1 Vgl. Ludger Heid (Hg.), „Das nenne ich ein haltbares Bündnis!“. Arnold Zweig, Beatrice Zweig und Ruth Klinger. Briefwechsel (1936–1962), Bern 2005, S. 20. 2 Jost Hermand, Dita, Arnold und Lady Helen. Der Versuch einer Liebe zu dritt, in: Ilse Lange (Hg.), Komm her, wir lieben dich: Briefe einer ungewöhnlichen Freundschaft zu dritt. Arnold Zweig, Beatrice Zweig, Helene Weyl, Berlin 1996, S. 433. 3 Brief an Helene Joseph (vom 24. Oktober 1912), in: Lange, S. 39.
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recht jugendlich-unbekümmertes Dasein führen. Zunächst neigt Zweig anno 1914 dazu, die verkündete Mobilmachung zu bagatellisieren, und begrüßt den Kriegsausbruch mit pathetischen Worten. Der Schriftsteller verkennt die politisch-wirtschaftlichen Hintergründe des Krieges und äußert sich hierzu in einem dem Rausch von Macht verfallenen Ton, wie in einem Brief an seine Kommilitonin Helene Weyl vom Ende August 1914 gelesen werden kann: Wir, Menschen die so gerne achten und das Achtbare und Echte überall suchten, sehen mit einem manchmal wahrhaft heissen Glück plötzlich, über Nacht, aus einem Volke ichsüchtiger Krämer und patriotisch-politischer Phrasendrescher das große tüchtige deutsche Volk erwachen; der fette Bürger, unser Antagonist, lernt plötzlich wieder sich einordnen, opfern, echt fühlen – er verliert seine moralische Hässlichkeit, er wird schön! [. . . ] Das grosse Deutschland ist wieder da. 4
Angesichts der veränderten politischen Umstände entscheidet sich Zweig, das bayerische Dorf zu verlassen und sich zu seinen Eltern nach Katowice zu begeben, „um dort, den Ereignissen näher [. . . ], seinen Landsturmdienst zu tun“. 5 Die Einberufung zum Militär kommt jedoch nicht sofort, was auf Zweigs mangelnde Sehkraft zurückzuführen ist. Noch im August 1914 schreibt er an Helene Weyl: Ich wäre als Kriegsfreiwilliger gegangen, aber ausser meiner Verpflichtung gegen Bice 6 war es vor allem meine körperliche Zartheit, die mich abhielt. Ich habe mit dem Gedanken und Entschluss eine lange Woche schwer gerungen: aber ich sehe ja nichts! Auf 400 Meter schiesse ich, selbst mit Brille, ja an einem Hause vorbei, weil ich es schlecht sehe – und 400 Meter ist das normale Minimum. 7
Erst nächsten Frühling erreicht den Schriftsteller sein Einberufungsbefehl. Am 24. April 1915 wird Zweig Soldat. Er wird zu einer Armierungs-ErsatzKompanie nach Küstrin abkommandiert, die Straßen- und Transportarbeiten im Feld zu verrichten hat. Trotz der Trennung von seinen Angehörigen und Freunden bleibt er zunächst voller Optimismus. Die Eltern in Katowice erhalten kurz darauf eine Postkarte, in der er schreibt: „Meine Lieben, nun gehe ich also als Schipper nach Küstrin. Die Sache kam fabelhaft rasch, gestern um 4 Befehl, heute früh 8 Antreten, jetzt 3 Uhr 10 weg. Ich ärgere mich nur, daß ich schippen muß und keine Kanone kriege. Laßt es Euch gut gehen; ich schreibe Euch bald meine Adresse. Herzlich Euer Arnold“. 8 Einen Monat nach Dienstantritt teilt er dem Schriftsteller Willi Handl, der wie Zweig an der Zeitschrift „Die Schaubühne“ mitgearbeitet hat, freudig 4 Brief an Helene Weyl (vom 29. August 1914), in: Lange, S. 77. 5 Ebd. 6 Es handelt sich um Zweigs Cousine und spätere Gattin, Beatrice Zweig (1892–1971). In seinen privaten Briefen bezeichnete er sie oft als „Bice“ oder auch als „Dita“. 7 Brief an Helene Weyl (vom 29. August 1914), in: Lange, S. 78. 8 Zit. nach: Wilhelm von Sternburg, Um Deutschland geht es uns, Berlin 1998, S. 92.
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mit: „Jetzt bin ich in gewissem Sinne schon aktiv, Soldat, überdies der festen Gewißheit nur vorübergehend, nur zur Vorbereitung des Körpers Armierer zu sein, und in gehöriger Zeit werde ich mich freiwillig zur Waffe überschreiben lassen, meinethalb zur Infanterie“. 9 Optimistische Stimmung herrscht ebenfalls in den Botschaften, die in dieser Zeit seine Freundin Beatrice erreichen: „Wenn wir in Galizien vorwärts gehen wie in den letzten Wochen, so können wir im August Frieden haben, denn niemand hält, wenn unser Ostheer frei wird, im Westen auch nur der Möglichkeit der Weiterführung stand – auch England nicht“. 10 Zugleich kann man dem Briefwechsel zwischen den Beiden einiges über das Prosaische des Soldatenlebens entnehmen. Mit der Akribie eines Chronisten berichtet Zweig über seine täglichen Pflichten, Aufgaben und Pläne, oft in Form einer Kurzmeldung: „Liebling, ich werde morgen viel Zeit haben, dir zu schreiben und habe heute wenig. Ich war zu ermüdet in jedem Sinne um zu schreiben. Zu Gedanken – aber du weißt ja. Auf morgen also. Gruß und Dank für Marie“. 11 Oder ein anderes Mal: Wir sind auch heute nicht auf Wache gekommen (es geht alphabetisch), werden morgen wohl endlich dafür kommen, sodass du die Angaben meines gestrigen Briefes um einen Tag verschieben musst; vermutlich werde ich Sonnabendmittag – bis Sonntagmittag, sodass du am Sonntagmittag zeitig genug hier ankommst, aber bis Montagabend oder Dienstag früh bleiben musst. 12
Während der ersten Dienstwochen begleitet Zweig die Überzeugung, dass seine augenblickliche Beschäftigung andauern werde. Er gräbt Schanzen, exerziert auf dem Kasernenhof und setzt seine Schriftstellertätigkeit fort, indem er mehrere kleinere Novellen schreibt und neue Romanentwürfe skizziert. Die Nachricht über den erhaltenen Kleistpreis „speist sein Herz mit einer jubelnden und verjüngenden Heiterkeit“. 13 Im August 1915 meldet er sich freiwillig zum Dienst als Landsturmmann im mobilen Armierungsbataillon. Seine Schipperkompanie wird zunächst in Flandern, später in Südungarn und bis April 1916 in Serbien eingesetzt. Zu Zweigs Aufgaben gehören ab nun Straßeninstandsetzung, Erdekarren und Munitionstransport – eine „harte und undankbare Arbeit“, 14 wie er selbst zugibt. Seine ersten Kontakte mit der unter deutscher Besatzung lebenden Zivilbevölkerung lassen ihn langsam an dem „gerechten Krieg“, den seine Landsleute führen, zweifeln. 9 Brief an Willi Handl (vom 16. Mai 1915), Arnold-Zweig-Archiv der Akademie der Künste in Berlin. 10 Brief an Beatrice Zweig (vom 6. Juni 1915), ebd. 11 Brief an Beatrice Zweig (vom 5. Juni 1915), ebd. 12 Brief an Beatrice Zweig (vom 14. Juni 1915), ebd. 13 Brief an Willi Handl (vom 21. Juni 1915), ebd. 14 Arnold Zweig, Früchtekorb. Jüngste Ernte. Aufsätze, Rudolstadt 1956, S. 156.
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Es zeigen sich bei ihm erste Anzeichen einer Desillusionierung. In einem Brief an Willi Handl vom 3. Februar 1916 beschwert sich Zweig über die Behandlung der Soldaten im niedrigsten Dienstgrad: Aber wenn ich an Ihrer Stelle wäre, mit meinen jetzigen Erfahrungen, ich würde mich freuen, an einer Stelle zu wirken, wo ich meinen Fähigkeiten entsprechend verwendet werde, anstatt hier in Mist und Verdrießlichkeit langsam (Quartier ofenlos, feucht, liege auf der Diele) die Gesundheit einzubüßen. [. . . ] Es ist gramvoll für einen empfindlichen Menschen, bei einer Truppe zu sein, die so durchaus als Scherbenhaufen behandelt wird wie wir. 15
Seine eigentliche Erziehung im Krieg sollte jedoch erst kommen. Nachdem die deutschen Truppen am 21. Februar 1916 die Schlacht vor Verdun begonnen haben, wird auch Zweigs Einheit an die Westfront verlegt, zunächst nach Lille, dann in die „Hölle vor Verdun“, wo der Schriftsteller in der bald einer Kraterlandschaft gleichenden Umgebung über ein Jahr lang, um Eberhard Hilscher zu zitieren, „die Schrecken der Materialschlacht in ihrer furchtbaren Unerbittlichkeit“ 16 kennenlernt. Während dieser Monate zerrinnen sämtliche Illusionen Zweigs. Stattdessen prägen sich ihm unvergessliche Bilder ein: die Kämpfe um das Fort Douaumont, um die Höhe 304, um den Toten Mann, der Opfergang der deutschen Soldaten, die Arroganz und Korruptheit der Führungseliten. Die Erlebnisse an der Westfront schärfen seinen Blick für die soziale Lage der Soldaten. Die Last dieser Erfahrungen bringt sein in der DDR-Zeit verfasstes Bekenntnis zum Ausdruck: „Dies war die schwerste Zeit meines Lebens; ich brauchte meine ganze Kraft und Zähigkeit, um zu widerstehen“. 17 Auch in seinen Briefen findet man nun nichts mehr von dem Hurrapatriotismus, den er in den Monaten zuvor angestimmt hat. In Zweigs Korrespondenz aus dieser Zeit spiegelt sich das ganze Ausmaß seiner tragischen Lage wider – seelische Verzweiflung, ein Gefühl der Einsamkeit, Erschöpfung, Resignation. Im Mai 1916 schreibt er an Beatrice: Ich bin langsam gezwungen, in eine seelische Defensive gegen mein Dreckquartier, gegen das stete Getöse (Gehämmer, Blechgeklapper, Dröhnen geworfener Kästen, Klirren von messingen Kartuschen, Gepfeife, Gerede, Knirschen von Metall auf Metall) bei der Arbeit, gegen die Hast der Arbeit und den völligen Mangel an Muße einzutreten, die mich zum Schreiben unfähig macht. Was soll ein strafgefangener Fabrikarbeiter dir auch schreiben und sagen können! 18 15 Brief an Willi Handl (vom 3. Februar 1916), Arnold-Zweig-Archiv der Akademie der Künste in Berlin. 16 Eberhard Hilscher, Schriftsteller der Gegenwart. Arnold Zweig: Leben und Werk, Berlin 1978, S. 53. 17 Zweig, Früchtekorb, S. 156. 18 Brief an Beatrice Zweig (vom 14. Mai 1916), Arnold-Zweig-Archiv der Akademie der Künste in Berlin.
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Und weiter: Du bist die helle blühende Hoffnung meines Lebens. Bleib mir bei Kräften der Seele und des Leibes, liebe mich und gedulde dich. Ich will versuchen zu tun was ich kann um Urlaub zu bekommen, schon jetzt. [. . . ] Und was ist denn auch wichtig zwischen Dir und mir, außer daß wir beide krank und wild vor Sehnsucht nacheinander, getrennt durch Hunderte Kilometer, vereint im Gefühl, im Denken, im ganzen seelischen Sein, umhergehn und einander in den Dingen suchen, in den Blumen, den Wolken, überall. 19
Als das Paar am 5. Juli 1916 in Berlin heiratet, werden dem Schriftsteller lediglich vier Tage Urlaub gewährt. Danach muss er zurück an die Front. Die körperlichen Strapazen und die seelischen Qualen werden für Zweig zu einer kaum noch erträglichen Last. Sein Denken radikalisiert sich. Er entlarvt die großen politischen Strömungen, die sich hinter den schön dekorierten Kulissen der Kriegspropaganda verbergen. Seine veränderte Anschauung drückt sich u. a. in Briefen an die befreundete Agnes Hesse aus: Im August 14 stellte ich mich freiwillig, weil mir die Erhaltung deutscher Kultur mein Leben wert schien, mir und meiner Frau. Ich sah, daß ich ohne die Existenz Hölderlins, Goethes, Kleists, Eta Hoffmanns, Stifters nicht zu leben vermochte, noch weniger aber ohne Bach, Beethoven, Mozart, Händel, Brahms, Gluck, Bruckner, Mahler in vollkommener Gestaltung zu hören. Ich sah noch Ende Juli bis zur Erschütterung beglückt den Straßburger Dom, ich schreibe deutsch, ich bin erwachsen im Zauber deutscher Landschaften: Süddeutschland und Oberösterreich machten mich zum Schriftsteller, Südtirol zum Dichter. [. . . ] Und ich kenne das deutsche Volk, den gemeinen Mann mit dem ich jetzt schon fast 2 Jahre mein Leben friste. Aber der Staat und seine Maßnahmen, die widerliche Verlogenheit des öffentlich agierenden Bürgertums treiben mich in jede Opposition. 20
Sein staats- und kriegskritischer Ton wird in den darauf folgenden Monaten noch schärfer: „Ich halte jeden, der von dem ‚großen Erlebnis‘ des Krieges spricht und draußen war, für einen Schwindler“. 21 Gleichzeitig nimmt das Leben an der Front für Zweig bedrohliche Formen an. Sein Brief an den Bruder Hans stellt unter Beweis, dass der Schriftsteller vor dem körperlichen und seelischen Zusammenbruch steht. Anfang April 1917 schreibt er: Wir arbeiten wieder mit Munition, schwere, lange Arbeitszeit (7–7 mit einer Std. Mittag, darinbegriffen 3 St. Marsch) und vor allem gefährlich, weil der Mist aus dem Felde zurückkommt und oft gefährlich ist. Wir hatten gleich am
19 Ebd. 20 Brief an Agnes Hesse (vom 22. Februar 1917), Arnold-Zweig-Sammlung der Staatsbibliothek Berlin. 21 Brief an Agnes Hesse (vom 18. Juni 1917), ebd.
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2. Tag 2 Tote und 3 Verwundete. Bei alledem ist es kein Wunder, daß meine Nerven dünn werden. Ich beobachte mich und nehme mich zusammen, kann aber nicht hindern, daß mich alberne schwarze Gedanken plagen, d. h. daß ich in den dümmsten Kleinigkeiten Vorzeichen des Todes bemerke. 22
Zwei Wochen später berichtet er Agnes Hesse: „Man raubt uns raffiniert jede freie Minute, wir leben wie Rekruten in den Pausen, wie Schwerstarbeiter im Dienst. Genug davon; schon der Gedanke daran erbittert mich“. 23 Dank dem Einsatz wohlgesinnter einflussreicher Kameraden und der Vermittlung seiner Frau gelingt es Zweig noch rechtzeitig, an die Ostfront versetzt zu werden. Somit entkommt er aus dem Grabenkrieg in die östlichen Etappengebiete. Im Hauptquartier Ober Ost in Białystok, später auch in Kowno und Wilna arbeitet er als Redaktionsmitglied der Presseabteilung. Für den erschöpften und depressiven Schriftsteller ist die Möglichkeit, wieder im Kreise von Gleichgesinnten (Dichtern, Malern und Journalisten) verweilen zu dürfen, von unschätzbarer Bedeutung. Während regelmäßiger Gesprächsrunden wird über Musik, Literatur, Malerei und Philosophie debattiert, Dichtungen werden vorgelesen und zu späteren Stunden auch politische Themen angesprochen. Voller Hoffnung schreibt er Ende Mai 1917 an Agnes Hesse: „Es wird mir hier sehr gut gehen, mag sein, daß ich sogar werde arbeiten können“. 24 Trotzdem stellt sein Leben in Ober Ost keine Idylle dar. Die Bilder des Todes verfolgen ihn in Nachtträumen, depressive Zustände kehren immer wieder zurück. Da die Presseabteilung die Aufgaben einer Propaganda- und Zensurbehörde erfüllt, kommt der Schriftsteller mit manchen pazifistischen Werken in Berührung, die ihn tief beeindrucken und zum Wegweiser für seine eigenen Gedanken über den Krieg werden. Darüber hinaus kann er nun „aus der Perspektive des obersten Stabs sehen, was er vorher von ganz unten durchgestanden hatte“. 25 Mit wachsendem Abscheu beobachtet er die Gier und Korruption unter den hohen Militärs, die die ihnen unterstellten Gebiete skrupellos ausplündern. Das führt ihn zur Überzeugung, dass der Krieg „durchaus keine schicksalhafte Notwendigkeit darstellte, und daß an dessen Ursachen, Gründen, Anlässen und Ausbruch die leitenden Deutschen einen durchaus unheimlichen Anteil haben“. 26 Im August 1917 schreibt er resigniert an Agnes Hesse:
22 Brief an Hans Zweig (vom 8. April 1917), Arnold-Zweig-Archiv der Akademie der Künste in Berlin. 23 Brief an Agnes Hesse (vom 22. April 1917), Arnold-Zweig-Sammlung der Staatsbibliothek Berlin. 24 Brief an Agnes Hesse (vom 26. Mai 1917), ebd. 25 Zweig, Früchtekorb, S. 156. 26 Brief an Agnes Hesse (vom 25. April 1918), Arnold-Zweig-Sammlung der Staatsbibliothek Berlin.
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Ich bin ausgelaugt, fast verzweifelt und nach 28 Monaten, in denen ich ganze 14 Tage Urlaub hatte, am Ende meiner Kraft. So ist es. Ich habe keinen Grund, es zu leugnen. Ich will Ihnen nur sagen, daß das ganze Heer von der hintersten Etappe bis zum vordersten Graben von den giftigsten und niedrigsten moralischen Fäulnisstoffen durchseucht ist, und daß ich eines Tages mit einem vielleicht ruchlosen und unerhörten Buche die Wahrheit gestalten werde. Als Rache, das leugne ich nicht – als Rache dafür, daß man mein bis dahin reines und zurückgezogenes Leben in diese Kloake gezerrt hat. 27
Man kann also schlussfolgern, dass Zweigs Pläne für den Romanzyklus „Der große Krieg der weißen Männer“, dessen erster Band „Der Streit um den Sergeanten Grischa“ im Jahre 1928 herauskommt, bereits im Herbst 1917 zu keimen beginnen, da seine „Erziehung im Krieg“ schon damals als abgeschlossen gelten darf. Der sechsbändige Zyklus, dessen Fortschreibung den Schriftsteller bis zum Ende seiner Tätigkeit beansprucht, bietet nicht nur – wie Eberhard Hilscher meint – „eine der umfassendsten, tiefgründigsten Analysen der Geisteslage, der Gesellschaftsschichtungen und des Rückfalls in die Barbarei im zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts“. 28 Er ist zugleich eine Art persönliche Abrechnung des Autors mit dem Prozess seiner Desillusionierung und Ernüchterung im Krieg. Der Protagonist des Zyklus Werner Bertin, der autobiografische Züge des Schriftstellers trägt, erkennt nach und nach die Sinnlosigkeit der Kriegsopfer und den Missbrauch der Macht durch die Führungseliten. Aus diesem Grund ist es gerechtfertigt, den Beitrag mit einem Zitat aus dem im Hinblick auf das Veröffentlichungsdatum vorletzten Band des Zyklus u.d.T. „Die Feuerpause“ (1954) abzuschließen, wo Zweig sein alter ego feststellen lässt: Ich war ein gläubiger, zutraulicher junger Hund mit warmer, weicher Schnauze und glattem Fell [. . . ]. Ein Intellektueller, [. . . ] ein Studierter, ungeheuer bereit, sich dem Dienst am Volke hinzugeben [. . . ]. Ich war ein Narr, denke ich heute, ich hatte zu Hause einiges angerichtet und hinterlassen, aber ich wußte nichts davon, wollte offenbar nicht hinsehen. Außerdem glaubten wir alle, der Krieg werde doch nicht mehr sehr lange dauern [. . . ]; aber ich habe gelernt, woher der Wind weht und was in Menschen vorgeht, [. . . ] welcher Größe und welcher Gemeinheit Menschen fähig sind, und ich bedauere nicht einen Tag, den ich dort verbracht habe – in einem Krieg, der uns noch als Verteidigung der Heimat vorgespielt wurde und der von uns Arbeitssoldaten, die wir nicht zu den Herrschenden gehörten, unbedingten Gehorsam und den vollen Einsatz unserer Körperkräfte verlangte. 29
27 Brief an Agnes Hesse (vom 23. August 1917), ebd. 28 Hilscher, S. 113. 29 Arnold Zweig, Ausgewählte Werke in Einzelausgaben, Bd. V: Die Feuerpause, Berlin 1967, S. 24–32.
´ Wienczysł aw Niemirowski
(Uniwersytet Marii Curie-Skłodowskiej w Lublinie)
Der Roman „Der Streit um den Sergeanten Grischa“ von Arnold Zweig Über die Grenzen der Absurdität
Der junge Arnold Zweig gehörte zu denen, die den Ausbruch des Ersten Weltkrieges mit Vehemenz begrüßten. Wegen einer Sehschwäche nicht einberufen, begann er noch im Sommer 1914 an sieben Kurzgeschichten zu arbeiten, die dem Geist der offiziellen Kriegspropaganda verpflichtet waren und Ende 1914 bei Albert Langen in München u.d.T. „Die Bestie. Erzählungen“ erschienen. 1 In der Titelerzählung schildert der Verfasser einen belgischen Bauern, der meuchlerisch drei deutsche Soldaten umbringt, die bei ihm in Quartier sind. Nachdem er sie mit einem Messer abgeschlachtet hatte, band [er] sich die Schlächterschürze um und nahm ihnen aus der geöffneten Bauchhöhle die Eingeweide heraus, die Lunge, das Herz, geschlossenen Mundes grinsend, weil’s im Menschen überraschend fast so aussah wie im Schwein; er warf das Herausgelöste in die Wanne und trug das Ganze schließlich in den Schweinestall, schüttete es in den Trog und sah befriedigt zu, wie die Tiere gierig fraßen; ihr habt’s verdient, dachte er dabei. 2
Eine Bestie! In Zweigs Erzählungen bleiben die deutschen Soldaten Menschen, die Belgier und Franzosen werden hingegen als heimtückische Schurken dargestellt, die es zu „vertilgen“ gilt. Der Erzähler Arnold Zweig sät in seinem Prosabändchen Hass. Die chauvinistische Kriegsbegeisterung beseelte Zweigs erzählerisches Schaffen bis 1916. 3 Die Motive seiner Haltung erläuterte er im August 1914 in einem Brief an Helene Weyl: „Ich nehme meinen leidenschaftlichen Anteil an unseres Deutschlands Geschick, als Jude, auf meine mir eingeborene jüdische Art mache ich die deutsche Sache zu meiner Sache; ich höre nicht auf, Jude zu sein, sondern ich bin es immer mehr, je wilder ich mich freue, je tiefer ich empfinde, je heftiger ich nach Aktivität dränge“. Arnold 1 Vgl. Robert Cohen, Lernprozeß mit offenem Ausgang. Arnold Zweigs Kriegsnovellen von 1914 und ihre Fassungen, in: Arthur Tilo Alt u. a. (Hg.), Arnold Zweig: Berlin – Haifa – Berlin, Bern 1995, S. 137–152. 2 Arnold Zweig, Die Bestie. Erzählungen, München 1914, S. 17. 3 Vgl. Hans-Harald Müller, Der Krieg und die Schriftsteller. Der Kriegsroman der Weimarer Republik, Stuttgart 1986, S. 127.
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Zweig wähnte in den Monaten der Erhebung des Jahres 1914, Zeuge der lange ersehnten deutsch-jüdischen Symbiose zu sein. Zum Ausdruck brachte er dies im hier bereits zitierten Brief: „Ich habe viel, viel neue Gedanken über das Wesen der Nation gehabt, die ich noch nicht fixieren kann. So hat mich die im tiefsten verbindende Kraft der Kulturgemeinschaft, die mir früher nicht so gegeben war, geradezu überfallen“. 4 Im April 1915 bekommt Arnold Zweig eine Einberufung und kommt zu einer Armierungs-Ersatz-Kompanie, einer Einheit also, die schwere technische Arbeiten im Felde ausführt. Jetzt kann er seine Vorstellungen vom Krieg an der Wirklichkeit überprüfen. Der schmächtige „Schipper“, der von einem Einsatz mit der Waffe träumt, gelangt über die Festung Küstrin nach Südungarn und nach Serbien, im Frühjahr 1916 dann über Lille für 15 Monate vor Verdun, wo es in direkter Konfrontation mit dem Krieg zur ersten Ernüchterung kommt. Unumwunden schildert er seine Lage vor Verdun im Februar 1916 in einem Brief an Willi Handl: ich würde mich freuen an einer Stelle zu wirken, wo ich meinen Fähigkeiten entsprechend verwendet werde, anstatt hier in Mist und Verdrießlichkeit langsam (Quartier ofenlos, feucht, liege auf der Diele) die Gesundheit einzubüßen. [. . . ] Es ist gramvoll für einen empfindlichen Menschen, bei einer Truppe zu sein, die so durchaus als Scherbenhaufen behandelt wird wie wir. In der Tat bin ich der einzige Mensch meiner Klasse in dieser Kompanie, ich meine, der einzige „Akademiker“. 5
„Dies war die schwerste Zeit meines Lebens; ich brauchte meine ganze Kraft und Zähigkeit, um zu widerstehen“, schrieb er Jahre später im „Lebensabriß“. 6 Nicht zu „widerstehen“ hätte wohl den Selbstmord bedeutet. Zum Erkalten der Kriegsbegeisterung trug ebenfalls der immer unverhohlener in Erscheinung tretende Antisemitismus bei, der die Zweigsche Vorstellung einer „Kulturgemeinschaft“ der Deutschen und Juden zunehmend als Schimäre entblößte. Seinen krassesten Ausdruck fand er im Erlass des Kriegsministers vom 11. Oktober 1916, der die Zählung der jüdischen Soldaten in der Armee anordnete, angeblich um der Öffentlichkeit zu zeigen, dass die Juden sich vor dem Frontdienst nicht drückten. Literarisch reagierte Zweig darauf mit der kurzen Erzählung „Judenzählung vor Verdun“, die am 1. Februar 1917 in der „Schaubühne“ erschien. 7 Verbal brachte er seine Empörung über die obrigkeitliche Demütigung der Juden in einem Brief an Martin Buber vom 4 Brief an Helene Weyl (vom 27. August 1914), in: Arnold Zweig 1887–1968. Werk und Leben in Dokumenten und Bildern. Mit unveröffentlichten Manuskripten und Briefen aus dem Nachlaß, hg. v. Georg Wenzel, Berlin 1978, S. 62–63. 5 Brief an Willi Handl (vom 3. Februar 1916), in: ebd., S. 71. 6 Arnold Zweig, Früchtekorb. Jüngste Ernte. Aufsätze, Rudolstadt 1956, S. 153–162, hier S. 156. 7 Arnold Zweig, Judenzählung vor Verdun, in: Schaubühne 13 (1917), S. 115–117. Auch in: Jüdische Rundschau: allgemeine jüdische Zeitung 51 (1916), S. 424–425.
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15. Februar 1917 zum Ausdruck: „Wenn es keinen Antisemitismus im Heere gäbe: die unerträgliche ‚Dienstpflicht‘ wäre fast leicht. Aber: verächtlichen und elenden Kreaturen untergeben zu sein! Ich bezeichne mich vor mir selbst als Zivilgefangenen und staatenlosen Ausländer“. 8 Als Jude entfremdet sich Arnold Zweig 1917 seinem Deutschtum und seinem Europäertum, was einen Niederschlag im Aufsatz „Jude und Europäer“ für Martin Bubers Zeitschrift „Der Jude“ findet: Alle intimeren und höheren Wesenheiten, besonders die religiösen: Gott, Seele, Unsterblichkeit, Gerechtigkeit, Gesetz, Gebet, Umkehr (Buße), und alles was auf ihnen in der Sphäre des Lebens sich aufbaut, obwohl mit denselben Worten bezeichnet, stellen dem Juden sich in ganz anderem Aufbau, in anderer Intensität, Beleuchtung, ja in anderen seelischen Schichten und mit anderen und heftigeren Gefühlsgraden verbunden dar als dem Europäer. [. . . ] Wohin immer der Jude gehöre: Europäer ist er nicht, das ist damit in einem sehr tiefen Sinne festgestellt. 9
Ein paar Monate später verkündet Zweig in derselben Zeitschrift, dass er sich auch nicht mehr als ein Deutscher empfindet: Und hat der Deutsche je nach den Gefühlen der Juden für ihn gefragt? Hat er nicht vielmehr unaufhörlich das Trennende betont – um nichts Schlimmeres zu sagen? [. . . ] Wir warten nicht darauf, daß sie uns rufen, haben wir doch unsere Sache, und ganz und gar nicht denken wir daran, uns ihnen anzubieten; das glauben sie wohl nicht, nach all dem Pöbel, den sie unwidersprochen in ihrem Namen haben sprechen lassen. 10
Seinen 27-monatigen Leidensweg als Armierer beendete Arnold Zweig im Mai 1917. Wir lesen davon in seinem fröhlichen Brief an die Freundin Agnes Hesse: „Ich bin nämlich sehr gut gelaunt heute, um nicht zu sagen glücklich, denn ich bin gestern vom Kriegs-Presse-Quartier Ober Ost angefordert worden und fahre heute noch nach Bialystok“. 11 Die Arbeit als Redaktionsmitglied in der Presseabteilung des Landes Ober Ost rettet Zweig vor völligem seelischem und körperlichem Zusammenbruch, es beginnt für ihn die Zeit friedlichen Dienstes in Białystok und (ab Okto-
8 Brief an Martin Buber (vom 15. Februar 1917), in: Arnold Zweig 1887–1968, S. 74. 9 Arnold Zweig, Jude und Europäer. Entgegnung an Max Hildebert Boehm, in: Der Jude 1/2 (1917/18), Jg. 2, S. 21–28, hier S. 23. Der Text war eine Reaktion auf Boehms Beitrag „Geistiger Zionismus und jüdische Assimilation“ in den „Preußischen Jahrbüchern“ 167 (1917), S. 319–324. 10 Arnold Zweig, Juden und Deutsche (Ein Nachwort an M.H. Böhm), in: Der Jude 3 (1917/18), Jg. 2, S. 204–207, hier S. 205, 207. 11 Brief an Agnes Hesse (vom 19. Mai 1917), in: Arnold Zweig 1887–1968, S. 75.
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ber 1917) Kowno. 12 Es kommt zum direkten Kontakt mit dem Ostjudentum. Der Schriftsteller sammelt auch Beobachtungen, die später ihren Niederschlag in einem Roman finden sollten. Die ideelle Geburt des Buches bald nach der Versetzung an die Presseabteilung Ober Ost bestätigte Zweig in der Nachbemerkung zu seinem mit der Jahreszahl 1928 auf dem Titelblatt erschienenen Werk: „‚Der Streit um den Sergeanten Grischa‘, dessen Fabel nicht erfunden ist, wurde im Jahr 1917 konzipiert, 1921 als Drama, im Jahre 1926/27 als Roman niedergeschrieben“. 13 Mit dem Roman erzielte der Verfasser einen bedeutenden Erfolg. Die Auflage in Deutschland betrug bis 1933 300.000 Exemplare, bis 1931 erschienen Übersetzungen in zwölf Sprachen. 14 1930 erfolgte eine amerikanische Verfilmung (Regie: Herbert Brenon), eine nächste entstand 1968 in der DEFA (Regie: Helmut Schiemann). Dreißig Jahre nach dem Erscheinen des Buches, aus Anlass der Aufführung des Grischa-Dramas in Halle an der Saale, bestätigte Zweig ein weiteres Mal, dass er den Stoff des Romans aus dem echten Leben geschöpft habe: „Das Spiel vom Sergeanten Grischa“ entstand als Eingebung im Herbst 1917. [. . . ] Als mir ein Unteroffizier unserer Justizabteilung Ober Ost den Fall eines entwichenen und wieder aufgegriffenen russischen Kriegsgefangenen berichtete, der erschossen wurde, obwohl der kommandierende General eines Armeekorps sich dafür einsetzte, daß Recht und Gerechtigkeit im deutschen Heer keinerlei politischen Erwägungen untergeordnet würden, auch nicht der damals gerade aufkommenden Angst vor dem Bolschewismus, der soldatischen Revolution gegen die Fortdauer des Krieges. Dieser Bericht öffnete mir die Augen, wie man zu sagen pflegt. Ich erkannte zunächst, daß der Mißbrauch des Menschen durch den Menschen im Kriege unbedingt bekämpft und beendet werden müsse. 15
I Soviel Arnold Zweig. Wir wenden uns im nächsten Schritt seinem Buch zu, das uns – es sei im Voraus gesagt – an so mancher Stelle wegen psychologischer Flachheit, Inkohärenz, wegen des Fehlens einer transparenten Idee und der inneren Logik konfus machen muss. Die Probleme mit der Logik des Ge-
12 Die zeitweilige Verlegung des Sitzes des Oberquartiermeisters und des Verwaltungsapparates von Ober Ost aus Kowno nach Białystok erfolgte auf Anordnung von Max Hoffmann im Januar 1917. Vgl. Karl Friedrich Nowak (Hg.), Die Aufzeichnungen des Generalmajors Max Hoffmann, Berlin 1929, Bd. 1, S. 152; Sammy Gronemann, Hawdoloh und Zapfenstreich. Erinnerungen an die ostjüdische Etappe 1916–1918. Mit Zeichnungen von Magnus Zeller, Berlin 1924, S. 124, 189. 13 Arnold Zweig, Der Streit um den Sergeanten Grischa, Potsdam 1928, S. 553. 14 Vgl. Bibliographie Arnold Zweig, Bd. 1: Primärliteratur, hg. v. Maritta Rost u. a., Berlin 1987, S. 66–72. 15 Arnold Zweig, Entstehungsbericht, in: Bühne und Jugend 2 (1957/58), S. 1.
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schehens beginnen bald nach dem Ausbruch des Kriegsgefangenen Nummer 173 in der Gefangenenkompanie 2, Grischa Iljitsch Paprotkin, der etwa Mitte März 1917 aus dem Holzverarbeitungslager Nawarischki westlich von Kowno flieht. Die unbändige Sehnsucht nach Frau und Kind veranlasst ihn, einen Fußmarsch über die Frontlinie nach der Heimatstadt Wologda nördlich von Moskau zu wagen. Zunächst versteckt er sich in einem mit Holz aus seinem Lager beladenen Güterzug, dann setzt er den Weg zu Fuß durch tiefen Urwald fort, wo er in die Gesellschaft von zwielichtigen Wegelagerern gerät, deren Anführerin (und bald seine Geliebte) Babka ihn zur Übernahme der Identität eines verstorbenen Deserteurs aus Wilna überredet, was ihm später zum Verhängnis wird. Hier die schlichte Argumentation der Frau: Mußt du jedem auf die Nase binden, wer du bist? Kommen jetzt nicht schockweise Überläufer durch die Stellungen, russische Soldaten, die genug haben, heim wollen wie du zu Frau und Kind? [. . . ] In der Baracke verwahre ich Hose und Rock von Ilja Pawlowitsch Bjuschew, der hier mit mir war und starb [. . . ]. Seine Marke, wie ihr sie um den Hals tragt, liegt in der Schublade dort im Tisch. Kappen sie dich und hast du Pech, sagst du einfach, Ilja Pawlowitsch Bjuschew seist du aus Antokol [Stadtteil von Wilna – W.N.], vom 67. Schützenregiment, 5. Kompanie, und willst nach Hause zu deinem Mütterchen; durch die Stellungen kämst du, ein Überläufer. Und alles ist in Ordnung. 16
Naiv und ohne Zögern akzeptiert Grischa den Vorschlag, obwohl er weiß, dass er als flüchtiger Kriegsgefangener, würde er gefasst (was eher eine geringe Gefahr ist), 17 glimpflich davonkommen würde. 18 Er hat Pech. Bei Merwinsk, rund 100 Kilometer von der Frontlinie entfernt, 19 aufgegriffen und „nach dem klaren Ergebnis der Verhandlung schuldig befunden, sich spionierend unbe16 Zweig, Der Streit um den Sergeanten Grischa, S. 67–68. 17 „Auf rund 143 Quadratkilometer und 4173 Einwohner“ entfiel im Land Ober Ost im Jahr 1917 nur „eine Patrouille“. Diese bestand üblicherweise aus drei Gendarmen. Vgl. Das Land Ober Ost. Deutsche Arbeit in den Verwaltungsgebieten Kurland, Litauen und Bialystok-Grodno, hg. im Auftrage des Oberbefehlshabers Ost, bearbeitet von der Presseabteilung Ober Ost, mit 23 Lichtbildern, 3 Karten und 13 Federzeichnungen, Stuttgart 1917, S. 149. 18 Dies resultiert aus Grischas Gespräch mit einem Freund am Beginn des Buches: „Was du vorhast, das wird nicht, entgegnet Aljoscha bittend. [. . . ] Bist du ausgerissen, und sie fassen dich wieder – paar Jahre nach Friedensschluß noch mußt du für sie arbeiten wie ein Ochs, Grischa“. Zweig, Der Streit um den Sergeanten Grischa, S. 13. 19 Der Erzähler nimmt es mit der Topografie nicht so genau. Als Grischa sich von den Angehörigen der Bande von Babka trennt, begeben sich diese westwärts nach Grodno, er marschiert hingegen – mit einem Kompass versehen, entlang der Memel – ostwärts zur Ehefrau Marfa Iwanowna nach der nordöstlich von der russischen Hauptstadt Moskau gelegenen, knapp 1500 km entfernten Stadt Wologda. Vgl. ebd., S. 85. Nach einiger Zeit muss sich aber Sergeant Grischa (trotz Kompass) umgewendet haben, denn in die Hände der Deutschen gerät er 100 km westlich von der Front in der Stadt Merwinsk, die topografisch eindeutig Grodno entspricht. Den südlichen Frontabschnitt des Landes Ober
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stimmte Zeit hinter der deutschen Front umhergetrieben zu haben“, 20 wird er zum Tode verurteilt. Das Urteil fällt der Kriegsgerichtsrat Posnanski, der sich dabei nicht dadurch beirren lässt, dass er es mit einem Analphabeten 21 zu tun hat, dessen Äußeres: „ein schmutziger, kalkblasser Kerl [. . . ]. Mit einem Rucksack und in russischer Uniform, [. . . ] das Gesicht fahl und schmutzig mit wochenaltem Barte“ 22 und dessen Auftreten mit der Rolle eines Spions nicht im Geringsten korrespondiert. Das Todesurteil bestätigt durch seine Unterschrift Otto Gerhard von Lychow, der „General der Division, einer selbständigen Kampfgruppe, [. . . ] oberster Gerichtsherr in Stellvertretung des Kaisers, der in diesem Zusammenhang Gottes und des Schicksals Anteil verwaltet“. 23 Er tut das zwar mit schwerem Herzen, doch mit unbeirrbarer Überzeugung, dass die Duldung der Desertion russischer Soldaten eine Ermunterung zur Desertion in den eigenen Reihen wäre. Von Lychow blätterte leicht in den Akten. Der Sachbericht der beiden Verhöre und der Verhandlung fesselte ihn anscheinend. [. . . ] „Lieber Gott, wer darf im Grunde hier von Spionage reden? [. . . ] Der Mann wird erschossen, weil er ohne Erlaubnis von seiner Truppe wegläuft, um nach Hause zu kommen, und unserer Mannschaft ein schlechtes Beispiel gibt. [. . . ] Wir haben die größeren Dinge zu bedenken: Mannszucht, Preußen, Reich. Was kommt es da auf einen Rußki mehr oder weniger an?“. Und man hörte in der Stille der werdenden Dämmerung die Federzüge kratzen, mit denen der oberste Gerichtsherr der Division den Fall Bjuschew seiner natürlichen Erledigung zuführte. 24
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Ost besetzte 1917 die Armeeabteilung Scheffer, deren Befehlshaber (die Entsprechung der Zweigschen Exzellenz von Lychow) Generalleutnant Reinhard von Scheffer-Boyadel war und die der Heeresgruppe Woyrsch unterstand. Der Stab der Armeeabteilung befand sich nahe der Frontlinie, in Lida. Vgl. Geschichte der Ritter des Ordens pour le mérite im Weltkrieg, hg. v. Hanns Möller u. a., Bd. 2: M-Z, Berlin 1935, S. 249–250; Hermann Cron, Geschichte des Deutschen Heeres im Weltkriege 1914–1918, Berlin 1937, S. 47–52 (besonders S. 51), 393. Zur Heeresgruppe Woyrsch vgl. ebd., S. 67–68, 83, 393. Zweig, Der Streit um den Sergeanten Grischa, S. 114. Im Jahre 1914 waren 75 % der Bevölkerung Russlands Analphabeten. Vgl. Lutz Raphael, Imperiale Gewalt und mobilisierte Nation. Europa 1914–1945, München 2011, S. 90. Im Landesdurchschnitt waren bei den Männern 1897 ca. 70 % Analphabeten, bei den Frauen sogar 87 %. Vgl. Christoph Schmidt, Russische Geschichte 1547–1917, München 22009, S. 178. Auch der Erzähler des Grischa-Romans weiß, dass die überwiegende Masse der (ländlichen) Bevölkerung von Ober Ost des Lesens unkundig ist: „Die Eingeborenen können [. . . ] nicht lesen“. Zweig, Der Streit um den Sergeanten Grischa, S. 93. Die gängige Methode der Verbreitung von Verordnungen der Verwaltung Ober Ost war ihre Verkündung im Anschluss an die Gottesdienste in Kirchen und Synagogen. Ebd., S. 104. Ebd., S. 113. Ebd., S. 128, 129–130.
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Die Grundlage des Spruchs ist der Erlaß des Oberstkommandierenden von Ende Februar dieses Jahres [1917]. [. . . ] Danach ist jeder russische Überläufer, der sich nicht innerhalb dreier Tage nach seinem Übertritt auf das von den deutschen Heeren besetzte Gebiet bei der nächsten Ortskommandantur, dem nächsten Truppenbefehlshaber oder Feldwachtkommando meldet, unverzüglich vors Kriegsgericht zu stellen und innerhalb von vierundzwanzig Stunden nach Urteilsfällung als der Spionage überführt zu erschießen. 25
Der Leser des „Streits um den Sergeanten Grischa“ muss an dieser Stelle staunen. Er erfährt nämlich, dass eine Armeeführung zum ersten Mal in der Militärgeschichte das erdenklich Äußerste tut, um der Auflösung einer feindlichen Armee entgegenzuwirken. Der Erzähler bietet dem Leser eine Begründung dafür an: Wie General von Lychow erklärt, verberge sich hinter dem Erlass die tiefere Überlegung des Oberquartiermeisters von Ober Ost: „Das ist Schieffenzahn [. . . ] und sein gesunder Sinn. Drüben zersetzt sich das Heer, und der Generalmajor sucht unter allen Umständen Ansteckung unserer Leute durch Kriegsmüdigkeit, Aufruhrgeist, die freche Insubordination zu verhindern. Soldatenräte! Er will Bazillenträger ausrotten!“. 26 Grischa Paprotkin bleibt im Zuge des Romans als Häftling plausiblerweise eine passive Gestalt. Nicht er streitet, es wird um ihn gestritten. Ein Kuriosum ist, dass die führende Rolle dabei zwei Männer übernehmen, die gestern noch den unschuldigen Russen, ohne mit der Wimper zu zucken, dem Tod preisgegeben haben: Kriegsgerichtsrat Posnanski und General von Lychow. Wie es zu einer solch radikalen Wandlung in der Seele jenes ersteren kommt, bleibt ein Rätsel. Jedenfalls schlägt Posnanski bereits bei der Verkündung des Urteils an Grischa Paprotkin in der Untersuchungshaft weiche Töne an: „Der Kriegsgerichtsrat Dr. Posnanski sieht weiß aus wie der Bogen dienstlichen Papiers, der in seiner Hand hin und her schwankt. [. . . ] Eisige Kälte perlt um seine Stirn. [. . . ] Und mit seiner Zivilstimme, der er vergeblich Gleichmut oder Festigkeit zu geben sich bemüht, kurz, von Atemnot behackt, liest der Kriegsgerichtsrat“ das Todesurteil: „Im Namen Seiner Majestät des Kaisers: Auf Grund der Verordnung E.V.Nr. 14/211 wird der Überläufer Ilja Pawlowitsch Bjuschew, nach eigenem Geständnis der Spionage überführt, am dritten Mai 1917 zum Tode verurteilt. Gegen dieses Urteil, das mit der Verkündung rechtskräftig wird, steht dem Verurteilten Berufung nicht zu“. [. . . ] Als er diesen Kloß von Worten ausgespien hatte, fühlte sich der Gerichtsrat Dr. Posnanski wie ausgeleert und bereit, in sich zusammenzufallen. 27
25 Ebd., S. 127. 26 Ebd. 27 Ebd., S. 142–144.
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General von Lychow wird zu einem eifrigen Fürsprecher des Russen nach einem Besuch in seiner Zelle, der für die weitere Handlung von zentraler Bedeutung ist. Sein Unterbewusstsein entdeckt in Grischas Zügen eine frappante Ähnlichkeit mit dem treuen Gesellen seiner Kinderjahre, der Ordonanz seines Vaters, und sein Herz wird weich: Inzwischen geschah zwischen Lychow und dem Russen ein Akt des Verbundenwerdens, tiefer als beider Bewußtsein verstand. Senfkes Augen und Gestalt! erinnerte sich von Lychows Seele, nicht er. Sein waches Ich zog aus diesen frühesten Schichten im Augenblick keine Spiegelung; aber die nie auslöschbare Vergangenheit in ihm sah durch Grischas lebendige Gegenwart den treuen Grenadier Senfke schimmern, den eigentlichen Erzieher des kleinen Otto [. . . ] mit diesem Grischa verwandt, ja identisch. Hätte der General im Augenblick sein Gedächtnis durchstöbert: den Senfkekarl hätte er nicht darin gefunden, und dennoch regierte sein lebendiges Nachbild diesen Augenblick aus unsichtbarem Zenit her. „Prachtvoller Kerl“, sagte Exzellenz. 28
Wie die Beweggründe irrational sind, die bei von Lychow zum Umdenken führen, so ist auch sein weiteres Auftreten in Sachen Grischa Paprotkin mit logischen Kategorien kaum fassbar. Er verfügt sich u. a. nach Kowno und spricht bei Oberquartiermeister von Ober Ost Albert Schieffenzahn persönlich vor, um ihn zu einer Nichtigkeitserklärung des Todesurteils umzustimmen: „Sie [. . . ] opfern [. . . ] einen stadtbekannt unschuldigen Mann, weil Sie damit, Ihren menschlichen Zwecken entsprechend, dem Staate zu dienen glauben. [. . . ] Der Russe aber, um den es sich hier handelt, soll mittels Rechtswegs ungerecht ermordet werden“. 29 Wie im Falle anderer entscheidender Wendepunkte im Roman (Grischas Entschluss, Bjuschews Identität anzunehmen; seine Verhaftung; sein aus zwei Verhandlungen bestehender, von Kriegsgerichtsrat Posnanski geführter Spionage-Prozess) behandelt der Erzähler nur flüchtig, wie es dazu kommt, dass der erste Mann im Land Ober Ost (über ihm stand nur noch der Oberbefehlshaber Ost) sich mit dem Fall eines angeblichen russischen Deserteurs beschäftigt: „Die Akten gingen an Ober Ost zur Ermittlung der Zuständigkeit“. 30 Mit anderen Worten – sie gingen an das Obergericht 31 des Landes Ober Ost in Kowno, ein Zivilgericht übrigens. Halten wir an dieser Stelle kurz inne: Der Erzähler will im „Streit um den Sergeanten Grischa“ dem Leser vorgeben, dass die Fälle der geflüchteten 28 Ebd., S. 183–184. 29 Ebd., S. 356. Auch Schieffenzahn entgeht die Absurdität der Handlungen von Lychows nicht: „Er habe in den letzten Tagen die Akten selber nochmals durchgesehen, und er begreife nur nicht, was Exzellenz an der Entscheidung auszusetzen habe, die sein Kriegsgerichtsrat ihm nach genauer Überlegung vorgeschlagen, und die er billige“. Ebd., S. 353. 30 Ebd., S. 262. 31 Zur Struktur der Gerichtsbarkeit im Land Ober Ost vgl. Das Land Ober Ost, S. 108–114.
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und aufgegriffenen Kriegsgefangenen im Lande Ober Ost in die Zuständigkeit der Justiz fielen, dass diese Kriegsgefangenen Anspruch auf eine gerichtliche Verhandlung hatten, dass der Militärapparat in der Garnisonsstadt Merwinsk mitten im dritten Kriegsjahr keine Vorstellung darüber hatte, wie ein festgenommener Flüchtling aus dem Kriegsgefangenenlager zu behandeln sei, und dass das Obergericht Kowno, an das man sich um eine juristische Aufklärung in Sachen eines solchen Flüchtlings wandte, bei seiner Antwort einer Gegenunterschrift des Oberquartiermeisters Ober Ost bedurfte. Der Rest ist Schweigen. Der Gerichtsrat Posnanski erhält seine Antwort: Nach Kenntnisnahme zurück. In Übereinstimmung mit dem Herrn Generalquartiermeister ersucht der Oberbefehlshaber Ost, es bei dem einwandfrei gefällten Urteil des Kriegsgerichts der Division bewenden und den Verurteilten behufs der Vollstreckung der Todesstrafe auf dem üblichen Wege der Ortskommandantur Merwinsk zuführen zu lassen. [. . . ] Im Interesse des Ansehens unserer Rechtsprechung und unter dem Gesichtspunkt der militärischen Disziplin muß die für den Angeklagten eingelegte Revision als unbegründet und dem Gesamtinteresse schädlich verworfen werden. [. . . ] Für den Oberbefehlshaber Ost: Der Generalquartiermeister, im Auftrage: Wilhelmi, Kriegsgerichtsrat. 32
Eine wichtige Wende ist im Roman der Moment, als Grischa der Welt verkündet, er heiße nicht Bjuschew, sondern Paprotkin. Der Leser erfährt, dass es für Dr. Posnanski einen fundamentalen Unterschied bedeutet, ob er einen russischen Deserteur oder einen ausgebrochenen Kriegsgefangenen dem Tode weiht. Es werden nunmehr alle Hebel in Bewegung gesetzt, um dem Russen das Leben zu retten. Vergeblich. Generalmajor Schieffenzahn, an den die juristischen Unterlagen gelangen, ist in seinem Standpunkt nicht zu erschüttern: „Er habe klar und unzweideutig seinen Willen mitgeteilt, den unerträglichen Zustand zu beseitigen, daß da ein Mann, als Aufwiegler verurteilt, als stinkender Bolschewik, immer noch lebe“. 33 Über Grischas Kopf hängt zwar ein Schwert, aber mehrere Monate lang gönnt man ihm Bewegungsfreiheit, die erst kurz vor der Hinrichtung abrupt beschränkt wird. Er kann sich in der Kaserne frei bewegen, während er dem Juden Täwje bei der Herstellung von Särgen hilft. Bald wird er zur Ordonanz des Rechtsanwalts Posnanski bestellt. Beim Herrenabend, gegeben von von Lychow in der von ihm beschlagnahmten, von einem großen Park umgebenen Villa des Fabrikanten Tamshinsky, bedient Grischa am Tisch. Es nimmt einen schlechten Ausgang für ihn, da er sich dabei hoffnungslos betrinkt. Ganz ohne Überwachung wird er als Hilfskraft im Zentrum der Stadt in der Kantine eingesetzt. Es kommt zu Verbrüderungen. Am spektakulärsten ist allerdings das Verfahren der Bestätigung von Grischa Paprotkins Identität. Nach Merwinsk werden zwei Soldaten aus dem 32 Zweig, Der Streit um den Sergeanten Grischa, S. 263. 33 Ebd., S. 355.
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Gefangenenlager Nawarischki geholt. Nicht um Grischa zurück ins Lager zu holen, was bestimmt sehr plausibel wäre, sondern nur, um ihn zu identifizieren. Ihr Erscheinen wird zur Festivität: dann schrie Grischa, indem er die Arme wie ein tanzender Kranich seine Flügel halb lüftete: „Boshe moi, mein Gott, Unteroffizier Fritzke!“. Und auf einen Wink Posnanskis hin antwortete ihm sein früherer Aufseher: „Na, Paprotkin, alter Vogel, haben wir dich nu wieder beim Schlafittchen!“, und dann schüttelten sie sich die Hände, strahlend vor Wiedersehensfreude, weil sich Männer, die miteinander einmal unangenehme Zeitläufe durchlebten, immer anfunken, wenn sie beim Wiedersehen feststellen dürfen, jeder von ihnen habe die böse Zeit überdauert. 34
Anschließend schickt Posnanski die beiden Soldaten mit Grischa weg, damit sie sich Merwinsk ansehen, im großen Soldatenheim essen und sich einen Schnaps gönnen. Wir sind Zeugen einer friedlichen Idylle. Die Deutschen bieten also Grischa Paprotkin Dutzende von Gelegenheiten, zu fliehen. Das Geheimnis, warum er sie nicht nutzt, hat er leider mit ins Grab genommen. Der Alltag des Inhaftierten im „Streit um den Sergeanten Grischa“ ergibt also ein recht komisches Bild. Wir versuchen uns aber in die unglückliche Lage des Verfassers zu versetzen, der die Absurdität eines sich frei bewegenden Häftlings kaum vermeiden konnte: Hätte der Russe vom Mai bis zum November, dem Monat der Hinrichtung, nur in der Zelle gesessen, wie es der gesunde Menschenverstand verlangt, wäre Zweigs „Streit um den Sergeanten Grischa“ lediglich ein Roman über den Streit und nur rudimentär über Grischa Paprotkin.
II Im Folgenden wollen wir die Handlung des Romans mit einigen Tatsachen aus der Geschichte konfrontieren: Im Spätsommer 1915 vertrieben die deutsch-österreichisch-ungarischen Truppen die russische Armee aus Polen. Die eroberten zentralen polnischen Gebiete wurden als „Generalgouvernement“ unter Zivilverwaltung gestellt, während die nordöstlichen Gebiete unter die Militärverwaltung eines deutschen Oberbefehlshabers Ost (als „Land Ober Ost“) kamen mit dem Hauptquartier in Kowno. 35 Ober Ost hatte eine Fläche von rund 110.000 km2 (fast so groß wie England) mit einer Bevölkerungszahl von
34 Ebd., S. 187. 35 Vejas Gabriel Liulevicius, Ober Ost, in: Gerhard Hirschfeld u. a. (Hg.), Enzyklopädie Erster Weltkrieg. Eine aktualisierte und erweiterte Studienausgabe, Paderborn 2014, S. 753–754.
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etwa drei Millionen (darunter ca. 800.000 Polen). 36 Es gab keine Vertretungsorgane der lokalen Bevölkerung. In Kowno wurde eine große Zentralverwaltung eingerichtet. Sie koordinierte die Hauptziele der Besatzer: die rücksichtslose wirtschaftliche Ausbeutung des Landes und die Zwangsrekrutierung von Arbeitskräften. Mit der Funktion des Oberbefehlshabers im Land Ober Ost wurde im November 1915 Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg betraut. Ende Juli 1916 wurde entschieden, dass Hindenburg (trotz der Widerstände des österreichischen Militärs) den Oberbefehl über die ganze Ostfront, von der Ostsee bis zu den Karpaten, übernimmt. Nach Brest-Litowsk, dem neuen Hauptquartier, folgte ihm sein Generalstabschef Erich Ludendorff. Die Aufsicht über die Militärverwaltung im Land Ober Ost, nunmehr lediglich die „Zweigstelle Ober Ost“, ruhte seitdem in den Händen des Oberquartiermeisters Oberst Ernst von Eisenhart-Rothe, 37 dessen Nachfolger am 2. Januar 1917 Oberst Hans von Brandenstein wurde. 38 Als Hindenburg Ende August 1916 die Oberste Heeresleitung übernahm, wurde Generalfeldmarschall Prinz Leopold von Bayern sein Nachfolger im Osten. Chef des Generalstabes des Oberkommandos, seine rechte Hand, wurde Major (seit Oktober 1917 Generalmajor) Max Hoffmann. Die einzige Person, die befugt war, im Land Ober Ost Verordnungen und Befehle zu erlassen, war der Oberbefehlshaber Ost. 39 Der wichtigste Mann in seinem Hauptquartier in Brest-Litowsk, der Chef des Generalstabes, und der Oberquartiermeister Ober Ost erhielten lediglich die Ermächtigung, diese Verfügungen mit Ausführungsanweisungen und Erläuterungen zu versehen. 40 Im Dezember 1915 erschien das erste Heft des „Befehls- und Verordnungsblatts des Oberbefehlshabers Ost“. Im September 1916 veröffentlichte
36 Klaus Richter, ‚Go with the hare’s ticket‘ mobility and territorial policies in Ober Ost (1915–1918), in: First World War Studies 6 (2015), S. 150–170, hier S. 159. 37 „Nachdem der engere militärische Stab infolge der Erweiterung des Befehlsbereichs nach Brest-Litowsk übergesiedelt war, blieb in Kowno nur die Verwaltung neben einigen anderen Formationen unter dem Oberquartiermeister Oberst von Eisenhart als ‚Zweigstelle Ob. Ost‘ zurück“. Nowak, S. 188. 38 Jan Snopko, Rzady ˛ niemieckie w Grodnie i okolicy, in: Studia Podlaskie XXII (2014), S. 163–185, hier S. 165. 39 Die Befugnis der Militärbefehlshaber zum Erlaß von Verordnungen, in: Befehls- und Verordnungsblatt des Oberbefehlshabers Ost, Königsberg, Pr.: Leupold, Nr. 40 (24. Januar 1916), S. 91–96. Die Hefte wurden im Hauptquartier in Brest-Litowsk redigiert. Ich benutzte eine Kopie des „Befehls- und Verordnungsblattes“, die sich in den Beständen der Staatsbibliothek zu Berlin befindet. Über Original-Ausgaben dieses Titels, die für die Leser zugänglich sind, verfügen: Universitätsbibliothek Potsdam (1.1915-120.1918), Martin-Opitz-Bibliothek Herne (1.1915-96.1917). 40 Vgl. die Ermächtigungen im Befehls- und Verordnungsblatt des Oberbefehlshabers Ost, Nr. 74 (4. Februar 1916), S. 123 und Nr. 378 (7. September 1916), S. 412.
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man darin die Verordnung 41 über die Behandlung von Spionen, als die allerdings nur jene Personen erachtet werden konnten, die „bei der Begehung der Tat die Zeichen ihrer Zugehörigkeit zur feindlichen Wehrmacht abgelegt oder verdeckt haben“. 42 Eine Verordnung vom Dezember 1916 regelte auch die Behandlung der die Frontlinie überquerenden Deserteure der russischen Armee: „Alle ehemaligen russischen Heeresangehörigen, die im Kriege gegen Deutschland oder seine Verbündeten Uniform oder Waffe getragen haben, sind aus dem Operationsgebiet nach wie vor grundsätzlich abzuschieben und zwar entweder in Gefangenenlager des Inlandes oder in das Etappengebiet“. 43
III Eine Verordnung („E. V. Nr. 14/211“), aus der man im „Streit um den Sergeanten Grischa“ zitiert und die zur Verhaftung und zur Erschießung des Titelhelden Grischa Paprotkin führt, findet man im „Befehls- und Verordnungsblatt des Oberbefehlshabers Ost“ nicht. Es durfte sie auch nicht geben, weil sie einen Widerspruch zur angeordneten Behandlung russischer Überläufer, wie aus den hier von uns zitierten Stellen erhellt, ausmachen würde. Es durfte sie ferner deshalb nicht geben, weil der Generalmajor Schieffenzahn als 41 Im Text findet man deutliche Bezüge auf die kaiserliche Verordnung über das außerordentliche kriegsrechtliche Verfahren gegen Ausländer von 1899. Vgl. Die Kaiserlichen Verordnungen vom 28. Dezember 1899 über 1. die Strafrechtspflege bei dem Heere in Kriegszeiten und 2. über das außerordentliche kriegsrechtliche Verfahren gegen Ausländer und die Ausübung der Strafgerichtsbarkeit gegen Kriegsgefangene erläutert von G. Rotermund, Hannover 1916, S. 27–49. 42 „Gegen Ausländer, die nicht zu den Truppen des Feindes gehören, einschließlich der Zivilbeamten der feindlichen Regierung, sowie gegen solche zu den Truppen des Feindes gehörende Ausländer, die bei Begehung der Tat die Zeichen ihrer Zugehörigkeit zur feindlichen Wehrmacht abgelegt oder verdeckt haben, findet, wenn sie sich einer verräterischen Handlung gegen die deutschen oder verbündeten Truppen schuldig gemacht haben, in der Regel das außerordentliche kriegsrechtliche Verfahren nach der Kaiserlichen Verordnung II vom 28. Dezember 1899 statt. Werden jedoch die genannten Personen bei Begehung verräterischer Handlungen auf frischer Tat betroffen, so können sie auch ohne vorgängiges gerichtliches Verfahren nach Kriegsgebrauch behandelt werden (d. h. sofortige Exekution ohne Urteil). [. . . ] Hauptquartier, den 20. September 1916. Der Oberbefehlshaber Ost. Leopold Prinz v. Bayern. Generalfeldmarschall“. Befehl betreffend Aufhebung des Erlasses Ob. Ost II b 5004 vom 22. Juni 1915, in: Befehls- und Verordnungsblatt des Oberbefehlshabers Ost, Nr. 381 (20. September 1916), S. 414. 43 „Es dürfen im Etappengebiet belassen werden: [. . . ] Ehemalige russische Heeresangehörige, die nicht Uniform, sowie solche, die Uniform (nicht jedoch die Waffe) getragen haben, wenn sie: a) den Nachweis eines festen Wohnsitzes bzw. einer festen Arbeitsstelle erbringen können oder sich bereit erklären, in einem Militär- oder Verwaltungsbetrieb Arbeit zu nehmen; b) politisch und sonst unverdächtig sind“. Behandlung ehemaliger russischer Heeresangehöriger und kriegsverwendungsfähiger Personen, in: Befehls- und Verordnungsblatt des Oberbefehlshabers Ost, Nr. 451 (1. Dezember 1916), S. 503–504.
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Oberquartiermeister der „Zweigstelle Ober Ost“ nicht befugt war, dergleichen Verordnungen zu erlassen. Zudem wäre der Erlass einer solchen Verordnung sowohl unwirksam – wie hätte man deren Inhalt den russischen Soldaten, die übrigens eher ostwärts desertierten, vermitteln sollen? – als auch im Hinblick auf die psychologische Kriegsführung komplett widersinnig gewesen. Es ist in diesem Kontext auf die Frage einzugehen, ob Zweigs Roman eine bewusste komplette Erfindung ist. Die Antwort müsste wohl lauten: nein. Eine Erfindung bzw. eine Konfabulation war vielmehr das (szenisch infantile) Drama „Das Spiel um den Sergeanten Grischa“ (1921), das kein Theater fand, um es aufzuführen, und keinen Verlag, der es druckte. 44 Gleich in der ersten Szene überfällt hier den Generalquartiermeister Generalmajor Schieffenzahn „vom Stabe des Oberbefehlshabers“ in der Zitadelle von Brest-Litowsk (im Folgenden residiert er allerdings in Kowno) die jähe Idee, in Anbetracht der Auflösung der russischen Armee einen (unsinnigen) Befehl betreffend die Überläufer von der Ostfront zu erlassen, der diesen bei Todesstrafe verbietet, „unsere Leute [zu] beeinflussen“. 45 Diese Verordnung bringt eine Kette von Ereignissen ins Rollen, deren Höhepunkt die Hinrichtung des Russen Paprotkin ist. Die wichtigsten Wendepunkte, die man aus dem Roman kennt, sind bereits im Drama enthalten. Unsere Feststellung ist, dass der Schriftsteller Zweig bei der Niederschrift seines Grischa-Romans 1926/27 sich ohne Korrekturen auf das Drama von 1921 stützte. Das gilt in erster Linie für die angebliche Verordnung eines Oberquartiermeisters Albert Schieffenzahn, die der Auslöser allen weiteren Geschehens ist. Für die Konfabulation sprechen die eingangs referierten Versicherungen von Zweig, dass die „Fabel nicht erfunden“ (1928), sondern ein wirklicher „Fall eines entwichenen und wieder aufgegriffenen russischen Kriegsgefangenen“ gewesen sei, über den ihm einmal ein Unteroffizier in Kowno berichtete (1957/58). In der Forschung liegen zwei krass entgegengesetzte Thesen darüber vor, was das ideelle Anliegen Zweigs bei der Verfassung seines Romans gewesen sei. Die erste stammt vom Nestor der Zweig-Forschung Eberhard Hilscher, wonach es die Intention des Verfassers war, „die herrschenden Klassen und
44 Max Reinhardt brachte schließlich das Stück 1930 als Gastspiel des Deutschen Theaters unter der Regie von Alexander Granowsky am Theater am Nollendorfplatz zur Uraufführung. Zur zweiten Aufführung kam es am 3. November 1957 im Theater der jungen Garde in Halle an der Saale. Im Druck erschien das Drama im Band: Arnold Zweig, Dramen, Berlin 1962, S. 325–413. 45 „An alle Befehlsstellen der Ostfront. Um das Übergreifen von Unruhen zu verhindern, wird hiermit befohlen: Alle Überläufer von jenseits unserer Gräben haben sich binnen vierundzwanzig Stunden bei der nächsten Ortskommandantur als solche zu melden. Wer sich länger hinter unseren Stellungen herumgetrieben hat, ist vor das nächst zuständige Kriegsgericht zu bringen und als Spion zu erschießen. Vollstreckung des Urteils an mich zu berichten. Brest-Litowsk, 29. März 1917, Schieffenzahn“. Ebd., S. 331.
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ihr ausführendes Organ, die Oberste Heeresleitung“, die sich „vor dem Roten Oktober fürchten“ und „den Befehl zur standrechtlichen Erschießung aller verdächtigen Personen“ und „russischen Überläufer“ 46 geben, in einem wahren, ergo negativen Licht zu zeichnen. Hilschers Behauptung ist wohl doch skeptisch zu begegnen. Erstens tritt nämlich die „Oberste Heeresleitung“ im Roman gar nicht in Erscheinung und zweitens stellt der Erzähler „die herrschenden Klassen“ in durchaus sympathischer Beleuchtung dar. Zwar sind die vordersten Vertreter dieser „Klassen“ – General von Lychow, Kriegsgerichtsrat Posnanski und Lychows Adjutant Paul Winfried – jene Gestalten, die am Anfang über Grischa Paprotkins Leben den Stab brechen, doch sie tun dann das menschlich Erdenkliche, um das Schicksal des Russen abzuwenden. Sogar der „schwarze“ Charakter des Romans, Oberquartiermeister Schieffenzahn, besinnt sich am Ende eines Besseren und nur technische Probleme mit der Telefonleitung hindern ihn daran, Grischa Paprotkins Erschießung doch noch zu verhindern. So neigen wir vielmehr der These David R. Midgleys zu, der bereits in Zweigs Grischa-Drama die Idee erblicken will, „die moralische Rechtschaffenheit preußischer Militärtraditionen zelebrieren zu wollen“. Dafür stehen die „Bemühungen einer Gruppe idealistisch veranlagter Menschen (darunter ein Divisionsgeneral), den zu Unrecht Verurteilten vor dem Räderwerk des Kriegsrechts zu retten“. 47 Einem aus dem Kreis dieser edlen Leute, dem Hauptmann Winfried, legt der Erzähler in den Schlusspartien des Romans Worte in den Mund, die als Leitfaden ihres tadellosen und selbstlosen Auftretens gedeutet werden können: Um Deutschland geht es uns, [. . . ] daß in diesem Land, dessen Rock wir tragen, und für dessen Sache wir in Dreck und Elend zu verrecken bereit sind, Recht richtig und Gerechtigkeit der Ordnung nach gewogen werde. Daß dies geliebte Land nicht verkomme, während es zu steigen glaubt. Daß unsere Mutter Deutschland nicht auf die falsche Seite der Welt gerate. Denn wer das Recht verlässt, ist erledigt. 48
Was bleibt? Es sind die Geschichtsschreiber, die die Vergangenheit beschreiben. Diese bleibt im Bewusstsein der Nachgeborenen als die Geschichte. Die erfolgreichsten Historiker sind aber im Hinblick auf die Ausstrahlung ihrer Version des historischen Geschehens die Filmemacher und die Schriftsteller. Dieser letzteren gibt es drei, deren Werke über den Ersten Weltkrieg die Probe der Zeit gut bestanden haben: Ernst Jünger mit „In Stahlgewittern“ (1920), Erich Maria Remarque mit „Im Westen nichts Neues“ (1929) und Arnold Zweig mit „Der Streit um den Sergeanten Grischa“. Unsere Recherche zeigt,
46 Eberhard Hilscher, Arnold Zweig. Leben und Werk, Berlin 1968, S. 91–92. 47 David R. Midgley, Arnold Zweig. Eine Einführung in Leben und Werk, Frankfurt a. M. 2 1987, S. 35–36. 48 Zweig, Der Streit um den Sergeanten Grischa, S. 480.
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dass im Falle Zweigs das Gleichgewicht zwischen dem Recht des Schriftstellers auf Fiktionalität und seiner ethischen Verpflichtung zur Wahrung grundlegender historischer Wahrhaftigkeit deutlich gestört ist. 49 Möge das ein Postulat an die literaturgeschichtliche Forschung 50 sein, literarischen Stoffen mit der Geschichte im Hintergrund mit gehöriger Distanz und wissenschaftlicher Nüchternheit zu begegnen. 49 Die Lektüre des Dramas „Das Spiel um den Sergeanten Grischa“ zeigt, dass die von uns zitierte, historisch belegte Verordnung über die Behandlung russischer Überläufer (vgl. Anm. 43) dem Verfasser mehr oder weniger bekannt war. Im Schauspiel kommen nämlich zwei voneinander abweichende Fassungen derselben Verordnung Schieffenzahns vor: die hier bereits angeführte (vgl. Anm. 45) und eine andere, die für die Presseabteilung Ober Ost in Kowno bestimmt ist und Arnold Zweigs Wissen davon verrät, dass die russischen Deserteure grundsätzlich in Kriegsgefangenenlager eingewiesen wurden. „An alle Ortskommandanturen, Feldpolizeistationen, Feldpostämter und Befehlsstellen wie unter F. O. P. 72 näher angegeben zum Aushang. Text: Um das Spionenwesen zu steuern, das durch das Auftreten zahlreicher Überläufer – in Klammern: sogenannter Heimkehrer –, die Sicherheit der Besatzungstruppen und der Kriegsführung gefährdet, wird angeordnet: Absatz 1: Jeder Überläufer, der die deutschen Gräben überschreitet, hat sich sofort bei der nächsten Befehlsstelle zu melden. Diese vernimmt ihn und veranlaßt seine Festsetzung in dazu bestimmten Gefangenenlagern. Absatz 2: Jeder Überläufer, der sich dieser Meldepflicht länger als drei Tage entzieht, ist vor das nächste Kriegsgericht zu stellen und als der Spionage überführt innerhalb vierundzwanzig Stunden nach gefälltem Urteil zu erschießen. Die Ortskommandanturen regeln den Vollzug des Spruches. Kowno [. . . ] für den Oberbefehlshaber Ost der Generalquartiermeister“. Zweig, Das Spiel um den Sergeanten Grischa, S. 343. 50 Der ästhetische und literaturwissenschaftliche Diskurs über historische Stoffe und Themen in der schöngeistigen Literatur wird in den letzten Jahrzehnten intensiv geführt. Verwiesen sei hier nur auf einige bedeutende deutschsprachige Quellen neuesten und älteren Datums: Daniel Fulda u. a. (Hg.), Romanhaftes Erzählen von Geschichte: vergegenwärtigte Vergangenheiten im beginnenden 21. Jahrhundert, Berlin 2019; Ders., Historiografie als Erzählen, in: Martin Huber u. a. (Hg.), Grundthemen der Literaturwissenschaft: Erzählen, Berlin 2018, S. 433–446; Stephanie Catani, Geschichte im Text. Geschichtsbegriff und Historisierungsverfahren in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, Tübingen 2016; Beatrix van Dam, Geschichte erzählen. Repräsentation von Vergangenheit in deutschen und niederländischen Texten der Gegenwart, Berlin 2016; Daniel Fulda u. a. (Hg.), Literatur und Geschichte: ein Kompendium zu ihrem Verhältnis von der Aufklärung bis zur Gegenwart, Berlin 2010; Ders., Literarische Thematisierungen von Geschichte, in: Sabine Horn u. a. (Hg.), Geschichte und Öffentlichkeit. Orte – Medien – Institutionen, Göttingen 2009, S. 209–218; Ders., Geschichte als Literatur. Tendenzen und Probleme der Forschung, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift 51 (2001), S. 95–113; Hayden White, Literaturtheorie und Geschichtsschreibung, in: Herta Nagl-Docekal (Hg.), Der Sinn des Historischen: geschichtsphilosophische Debatten, Frankfurt a. M. 1996, S. 67–106; Daniel Fulda, „Nationalliberaler Historismus“. Politische Motivation und ästhetische Konsequenzen einer Konvergenzphase von Geschichtsschreibung und historischem Roman, in: Ders. u. a. (Hg.), Faktenglaube und fiktionales Wissen: zum Verhältnis von Wissenschaft und Kunst in der Moderne, Frankfurt a. M. 1996, S. 169–210; Ansgar Nünning, Von historischer Fiktion zu historiographischer Metafiktion, Bd. 1: Theorie, Typologie und Poetik des historischen Romans, Trier 1995.
Monika Tokarzewska
(Uniwersytet Mikołaja Kopernika w Toruniu)
Der Streit um den Oberst Miassojedow und der Fall des Sergeanten Grischa Józef Mackiewiczs und Arnold Zweigs literarische Spionageaffären im Ersten Weltkrieg
„Nichts hängt von objektiver Beurteilung ab, alles von einer subjektiv erzeugten Stimmung“. 1
I Die letzte Szene in Józef Mackiewiczs Roman „Der Oberst. Die Affäre Miassojedow“ 2 spielt kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs in Wien, an einer Straßenbahnhaltestelle am Schubert-Ring. Klara Szatkowski, aus erster Ehe Klara Miassojedow, erblickt einen Menschen, der ihr plötzlich bekannt zu sein scheint und an einen gewissen Katzenellenbogen, einen russischen Juden, erinnert, mit dem ihr erster Mann, der nicht mehr lebende Oberst Sergei
1 Józef Mackiewicz, Der Oberst. Die Affäre Miassojedow. Ein historischer Roman, übers. v. Wolfgang Grycz, München 1967, S. 239. 2 Die polnische Originalausgabe erschien 1962 als „Sprawa Pułkownika Miasojedowa“ im Londoner Exilverlag Kontra. Über die „Affäre Miassojedow“ schrieb Mackiewicz bereits Mitte der 1930er sowie Ende 1940er Jahre in Presseartikeln. Vgl. Józef Mackiewicz, W 105-tym orenburskim, in: Słowo 97 (1935), S. 2; der Artikel wurde wiederabgedruckt in: Lwów i Wilno 110 (1949); Grzegorz Eberhardt, Pisarz dla dorosłych, Wrocław 2010, S. 515–516. Zur Aufnahme der einzelnen Werke Mackiewiczs durch zeitgenössische Intellektuelle und Kritiker, u. a. auch des „Oberst“, vgl. Marek Zybura (Hg.), Józef Mackiewicz i krytycy. Antologia tekstów, Łomianki 2009. Man kann aufgrund des Materials vermuten, dass die fremd anmutende Materie (Geschichte eines zaristischen Gendarmen, anspruchsvolle, sehr detailreiche Erzählweise) zur Folge hatte, dass der Roman weniger stark die Aufmerksamkeit der Kritiker auf sich lenkte, als das bei den anderen Werken der Fall war, in denen man auch leichter einen unmittelbaren Gegenwartsbezug erblicken konnte. Interessant ist der Beitrag von Marek Adamiec, in dem der hyperrealistischen Erzählweise Mackiewiczs in „Der Oberst“ viel Aufmerksamkeit gewidmet wird. Vgl. Marek Adamiec, Sprawa pułkownika Miasojedowa – czyli opowie´sc´ „o tym, co było“, in: Zybura, S. 225–240.
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Nikolajewitsch Miassojedow, vor dreißig Jahren geschäftlich zu tun hatte. Der vermeintliche Bekannte steht in einer Gruppe von ärmlichen, geschundenen Gestalten, „alle hatten lappige Davidsterne angesteckt“. 3 Klara ertappt sich bei dem unwillkürlichen Gedanken, ob Juden eigentlich Straßenbahn fahren dürfen, denn sie hatte bisher keine Juden mit Davidstern in einer Straßenbahn gesehen. Ihr Blick fällt „auf das Gesicht des Alten. Dieser stand da mit jenem kaum wahrnehmbaren Lächeln um den Mund, das so charakteristisch ist für Menschen, die aus der Gesellschaft verstoßen sind, einem Lächeln des Verzeihungheischens, weil man da ist, weil man existiert, weil man Platz wegnimmt auf dieser Welt“. 4 In Klaras Kopf findet daraufhin folgendes Selbstgespräch statt: Aber vielleicht ist es doch Katzenellenbogen, schrecklich gealtert und körperlich heruntergekommen?. . . Natürlich kann er es sein, wie jeder andere in diesem Alter. [. . . ] Was wäre wohl, wenn sie drei Schritte machte und fragte: „Sind Sie es, Herr Katzenellenbogen? Was machen Sie hier?“. [. . . ] Und vielleicht würde sie ihn fragen: „Herr Katzenellenbogen, waren Sie damals deutscher Spion?“. Und er würde antworten: „Nein, gnädige Frau, ich war es nicht“. Oder: „Ja, gnädige Frau, ich war es“. – Und sicher würde er hinzufügen: „Da sehen Sie, was man jetzt mit mir gemacht hat“. 5
Klaras Gesicht verrät nicht, was in ihr gerade vorgeht, und lediglich der Leser wird Zeuge des imaginierten Dialogs, den sie innerlich mit sich selbst führt. Weder sie noch der Leser erfahren in dieser letzten Szene, ob jener Jude tatsächlich Katzenellenbogen war, und noch weniger, ob er „damals“, also vor Beginn des Ersten Weltkriegs, ein deutscher Spion im zaristischen Russland gewesen war. Gewissheit in dieser Angelegenheit wäre dreißig Jahre früher für Oberst Sergei Miassojedow, den zaristischen Gendarmen und Offizier der Armee des Russischen Reiches, und für seine Frau Klara von größter Bedeutung gewesen. Bekanntschaften und geschäftliche Kontakte mit Juden spielten eine beachtliche Rolle, als um Miassojedow Gerüchte entstanden, er habe Kontakte mit Feinden Russlands und gar mit deutschen Spionen gehabt. Da es Juden im Zarenreich erheblich erschwert wurde, eigene Unternehmen zu gründen und zu führen, vor allem wenn sie größeren Gewinn einbrachten, suchten sie bei angesehenen und in besseren Kreisen verkehrenden Russen eine schützende Hand. Auf diese Weise war Miassojedow als eine Art reichlich bezahlter Strohmann Vorstandsvorsitzender der Schiffslinie Libau-England von Samuel Frejdberg geworden. Diese Tätigkeit war eine der Ursachen, dass Sergei Miassojedow 1915 wegen Spionage zugunsten der Deutschen zum Tode verurteilt
3 Mackiewicz, S. 527. 4 Ebd. 5 Ebd., S. 527–528.
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und hingerichtet wurde. Das Urteil wurde am 20. März 1915 im damals russischen Warschau im Zitadelle-Gefängnis vollstreckt. Klara Miassojedow, geborene Holstein, Tochter einer alteingesessenen deutschen Kaufmannsfamilie aus Wilna, war seine Frau. Sie galt von nun als Witwe eines Verräters. Als eine solche wurde sie nach Sibirien verbannt, wo sie die Machtergreifung durch die Bolschewiki aus der Ferne erlebte, sowie ihren zweiten Ehemann, den Polen Szatkowski, kennenlernte, dessen Namen sie von nun an trug. Zusammen mit ihm kehrte sie nach Wilna zurück, das nach dem Ende des Ersten Weltkriegs polnisch wurde. Als die Sowjets 1939 Wilna besetzten, nutzte Klara ihre deutsche Herkunft, um mit ihrem Mann die Sowjetunion, die den beiden als vermeintliches Arbeiterparadies auf Erden und de facto totalitäres Regime äußerst zuwider war, zu verlassen. Ihre erste Station ist Königsberg, bis sie 1943 in Dresden ankommen und sich dann im Frühjahr 1945 erhoffen, in die Schweiz zu gelangen. Klaras letztlich ungestellt gebliebene Frage an den vermeintlichen Katzenellenbogen klingt für den Leser befremdlich; angesichts des Zweiten Weltkriegs scheinen der Ausbruch des Ersten Weltkriegs sowie der Prozess und die Hinrichtung ihres Mannes einer versunkenen Welt anzugehören. Diese wirkt nach alldem, was inzwischen an Grausamkeiten geschah, noch wie eine heile Welt. Der gejagte Jude würde vor dem Hintergrund dessen, „was man mit [ihm] gemacht hat“, 6 einen Teil seiner menschlichen individuellen Souveränität wiedererlangen, wenn ihm die Rolle eines Spions und Intriganten zuteil werden sollte. Für die an der Wiener Straßenbahnhaltestelle wartende Klara Miassojedow ist jedoch die nicht laut gestellte Frage an den vermeintlichen Katzenellenbogen von schwerwiegender Bedeutung. Die halbvergessene Spionageaffäre entscheidet erneut über ihr Leben. Das Ehepaar hält sich im Frühjahr 1945 in Dresden auf, zusammen mit einer großen Welle von displaced persons aller Art und Herkunft. Für die Weiterreise in Richtung Schweiz brauchen sie dringend gefälschte Pässe. Klara überredet ihren Mann, der sich keiner guten Gesundheit erfreut, in Dresden auf sie zu warten. Sie unternimmt eine Reise nach Prag, wo ihr dank ihrer Kontakte zu russischen „weißen“ Emigranten eine konspirative Adresse genannt wird. Dort werde ihr und ihrem Mann geholfen. Als Klara sich an die genannte Geheimadresse begibt, erwarten sie zwei Russen, ein gewisser Iwanow, an dessen „Bewegungen und der Art zu sprechen [. . . ] man noch die Umgangsformen des Offiziers der alten russischen Armee“ 7 erkennt, sowie ein älterer Unbekannter. Der Unbekannte erkennt in Klara, die sich als Polin auszugeben beabsichtigt, die Witwe Miassojedow. In der plötzlichen Befürchtung, dass hier falsch gespielt werden könnte, fasst Iwanow die Entscheidung, den Hintergründen ihres Besuchs genauer nachzugehen.
6 Ebd., S. 527. 7 Ebd., S. 515.
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Er bittet Klara, wegen der Pässe am übernächsten Tag wieder zu kommen. Selbstverständlich wird dann dem damaligen Vorfall keine Bedeutung zugemessen, Klara werden die ersehnten falschen Pässe gegen recht viel Gold und mit der Bemerkung ausgehändigt, sie möge die kleine Unannehmlichkeit, die „verknöcherten Phantasien verknöcherter Leute“ 8 verschuldet war, verzeihen. Allerdings kommt Klara nun um zwei Tage zu spät nach Dresden zurück. In dem gerade durch die Bombenangriffe der Alliierten zerstörten Stadt kann sie so gut wie sicher sein, dass ihr Mann samt tausenden anderen Opfern in den brennenden Ruinen den Tod gefunden hat.
II Ob Miassojedow tatsächlich ein Spion war, ist bis heute nicht klar. Paweł Rzewuski zitiert Nikolaj Breszko-Breszkowski, einen ehemaligen OchranaOffizier, der in der Zwischenkriegsperiode eine populäre Broschüre zu diesem Fall erschienen ließ. Breszkowski behauptet, Miassojedow sei offensichtlich ein deutscher Spion gewesen. 9 In Mackiewiczs Roman ist er kein Verräter; Mackiewicz folgt hier teilweise der Erklärung des Obersts Walter Nicolai, der im Ersten Weltkrieg die Militärspionage des Deutschen Reiches leitete. Nicolai zufolge waren es Frauenbekanntschaften, die Miassojedow zum leichten Ziel von Intrigen und letztendlich zum Sündenbock für die Niederlagen der Armee machten. 10 Mackiewicz ist allerdings anderer Meinung als Nicolai. Seine eigenen Überlegungen wollen ergründen, wie ein solcher Fall infolge einer Reihe unzähliger kleiner und großer Entscheidungen, von Zufällen und Intrigen, von teils richtigen, teils falschen Urteilen über die Situation, in der die jeweiligen Menschen agieren, zustande kommt. Zwar ist Mackiewicz der Autor der vielzitierten Phrase, nur die Wahrheit sei interessant, dies sollte jedoch nicht irreführen – ein Roman ist für ihn keine Wiedergabe bloßer Fakten. Ein Roman eignet sich vielmehr ausgezeichnet dafür, subtile und schwer ergründbare zwischenmenschliche Beziehungen und deren Dynamik zu erfassen. Zu Recht bemerkt Magdalena Koy, dass „die Form des Romans [. . . ] laut
8 Ebd. 9 Vgl. Nikolaj Breszko-Breszkowski, Szpiegostwo Wielkiej Wojny. Podpułkownik Miasojedow, Warszawa 1926; Paweł Rzewuski, Czy pułkownik Sergiusz Mikołajewicz Miasojedow był szpiegiem?, in: Teologia Polityczna 5 (2014), S. 4–7, hier S. 6. 10 Mackiewicz, S. 8. Vgl. Oberst W. Nicolai, Geheime Mächte. Internationale Spionage und ihre Bekämpfung im Weltkrieg und heute, Leipzig 1924, S. 19. Zu Oberst Nicolai, seiner Biografie sowie seinen Aufzeichnungen aus den Jahren des Ersten Weltkriegs vgl. die neulich erschienene Studie von Michael Epkenhans u. a. (Hg.), Geheimdienst und Propaganda im Ersten Weltkrieg. Die Aufzeichnungen von Oberst Walter Nicolai 1914–1918, Berlin 2018. Nicolai führte u. a. die berühmte Spionin Mata Hari, seine Aufzeichnungen wurden aus den Moskauer Archiven zu Tage gefördert.
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Mackiewicz [. . . ] dazu besonders geeignet [ist], weil sie auch eine ‚emotionale‘ Komponente der vergangenen Ereignisse abbilden kann“. 11 Allerdings greift die Phrase „emotionale Komponente“ etwas zu kurz, man müsste es eher die emotional-intellektuelle Komponente nennen, denn Mackiewicz beobachtet, wie Menschen sich verhalten, Urteile fällen und Entscheidungen treffen. Die Gründe für solche Verhaltensformen sind selten rein emotionaler Natur. Miassojedow, Sohn eines Gutsbesitzers aus dem Gouvernement Smolensk, später lange ein vom Staat bestellter Adelsmarschall für den Wilnaer Kreis, hatte früh den Dienst in der Armee quittiert und war in ein Gendarmeriekorps eingetreten. Auf die Weise bekam er den Kommandanturposten der Bahnabteilung der Gendarmerie in Wirballen, einer Grenzbahnstation an der russisch-preußischen Grenze. Dank diesem Posten lernte er viele bedeutende Persönlichkeiten kennen, wurde sogar zur Teilnahme an einer Jagd mit dem deutschen Kaiser und seiner Hofgesellschaft auf der preußischen Seite der Grenze eingeladen. Es war eine Zeit, in der das gegenseitige Misstrauen der Mächte enorm zunahm. Die Technik machte Fortschritte, auch solche, die – wie die Funktechnik – den Nachrichtendiensten neue Perspektiven eröffneten. Im Zarenstaat vollzog sich ein bedeutender Wandel der Meinungsbildung und -äußerung, der sich immer mehr als Meinungszwang und -lenkung erwies, obwohl die öffentliche Meinung den Anschein einer Demokratisierung des Denkens verhieß. Dafür hatte aber die Krise des Russischen Reiches zu große Ausmaße angenommen. Die Erzählerstimme in Mackiewiczs Roman kommentiert: Jetzt [nach dem Krieg gegen Japan – M.T.] begann jene Gesellschaftsschicht ihr Haupt zu erheben, die sich jenseits der Grenzen der absoluten Monarchie um die parlamentarische Demokratie scharte und in Rußland durch die sogenannte Inteligentsia vertreten wurde. Immer häufiger sprach man von der „öffentlichen Meinung“ und von der Notwendigkeit, die bisherigen staatlichen Normen durch die Idee des Allgemeininteresses zu ersetzen. [. . . ] Es entstanden zahlreiche Gruppierungen und politische Parteien. 12
Darunter war auch die Partei der „Oktjabristen“, die „jene Ankündigungen konstitutioneller Freiheiten zur Grundlage ihres politischen Programms machte, die im Zarenmanifest [. . . ] erwähnt worden waren“. 13 Der Führer dieser Partei war Alexander Gutschkow, er war u. a. ein wichtiger Zeitungsredakteur und Gegner Miassojedows. Zu den kollektiven Meinungen und organisierten Stimmungen gehörte auch der wachsende Antisemitismus, der in 11 Magdalena Koy, Fakten und Fiktionen. Zur Modellierung historischer Ereignisse im Roman „Droga donikad“ ˛ von Józef Mackiewicz, in: Nina Friess u. a. (Hg.), Grenzräume – Grenzbewegungen: Ergebnisse der Arbeitstreffen des Jungen Forums Slavistische Literaturwissenschaft, Potsdam 2016, S. 99–109, hier S. 99. 12 Mackiewicz, S. 53–54. 13 Ebd., S. 54
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den Kriegsjahren weiter zunahm. Er wurde durch die Geheimpolizei Ochrana heraufbeschworen, wie auch die Ochrana sich der kollektiven Stimmung angepasst und sie maximal für sich genutzt hatte. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs und die Niederlagen der Zarenarmee beschleunigten die Krisenprozesse. Vor ihrem Hintergrund wurde der Fall Miassojedow ausgetragen. Als 1915 nach der Niederlage der Zarenarmee in Ostpreußen eine Jagd nach Schuldigen und Sündenböcken begann, erinnerten sich viele an Miassojedow, der Kontakte mit Juden nicht scheute, mit wichtigen Ochrana-Leuten in Streit geraten war, zumal der Großfürst und Oberbefehlshaber Nikolai Nikolajewitsch Romanow sein Gesicht nicht verlieren durfte. Dies sind nur einige der Ursachen, Zufälle, Interessenspiele und Intrigen, die zum Fall des deutschen Spions Miassojedow beitrugen bzw. ihn mitgestalteten. Ohne die neue Öffentlichkeit wäre es nach Mackiewicz nie zu diesem Fall gekommen. Seiner Auffassung nach kam es infolge der Wirrungen in den letzten Jahren des Zarenreiches zu einer paradoxen Situation: die Staatsmacht und die öffentliche Meinung fielen – durch den Krieg am rationalen unabhängigen Urteilen gehindert – in eins, so dass die schwache Staatsmacht nicht mehr imstande war, den Fall objektiv zu verhandeln, sondern der Versuchung erlag, die herrschende Stimmung zu bedienen. Eine Figur im Roman bringt dies wie folgt auf den Begriff: Der „Fall Miassojedow“ ist in gewisser Hinsicht eine Umkehrung des „Falles Dreyfus“ [. . . ]. Ich will ein Paradox gebrauchen: Er ist ein Zeugnis für die Unvollkommenheit einer Ordnung, die dennoch [. . . ] demokratisch ist. Ein von der Macht Verurteilter kann durch die öffentliche Meinung geschützt werden. Ein von der öffentlichen Meinung Verurteilter kann durch die staatliche Macht geschützt sein. Aber wenn die öffentliche Meinung plötzlich zur Macht im Staate wird. . . nun, an wen wollen Sie sich dann wegen der Verteidigung wenden? 14
III Im sozialen Leben sind nicht bloß äußerliche Fakten entscheidend, sondern auch die Reaktionen der Menschen auf sie, ob diese Fakten nun wirklich oder auch nur in der Vorstellung bestehen. Auch solche Sätze, von denen niemand mit Gewissheit weiß, ob sie der Wahrheit entsprechen, können einen entscheidenden Einfluss auf das Zwischenmenschliche haben, den Beziehungen der Menschen miteinander eine bestimmte Richtung oder Färbung verleihen, um eine Formulierung im Stil Georg Simmels aufzugreifen. 15 Kollektive Vorstel-
14 Ebd., S. 381. 15 Vgl. Georg Simmel, Soziologie, Frankfurt a. M. 1992, S. 103: „Aus dem gleichen strukturellen Grunde sind auch eigentlich nur Verhältnisse zu zweien der eigentümlichen Färbung oder Entfärbung, die wir als Trivialität bezeichnen, ausgesetzt“.
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lungen und vermeintliche Fakten, auch solche, die in Wirklichkeit keine sind, können weitreichende Folgen haben. Diese Einsicht, kontaminiert mit der politischen Dimension sowie mit der Reflexion über die innere Lage im untergehenden Zarenreich, ist das eigentliche Thema des Romans von Mackiewicz. Ihm gelingt es, verschiedene Ebenen von kollektiver Stimmung, von der mikrosozialen bis hin zu derjenigen politischer Entscheidungsträger miteinander zu verknüpfen. Der Fall Miassojedow stellt hier einen Angelpunkt dar, an dem sich Zerfallstendenzen manifestieren, die Mackiewicz zufolge nicht nur im Hinblick auf das untergehende Zarenreich relevant sind, sondern auch in jenem auf die weitere Geschichte Europas im 20. Jahrhundert. Deshalb endet der Roman erst im Jahre 1945. Der Fall Miassojedow, der im Frühling 1945 nur noch als entfernte Erinnerung vereinzelter ehemaliger zaristischer Offiziere herumspukte, war der europäischen und amerikanischen Öffentlichkeit zur Zeit des Ersten Weltkriegs und noch unmittelbar danach sehr bekannt. In dem kurzen Vorwort, das Mackiewicz seinem Roman voranstellt, teilt er dem Leser mit, er sei auf den Gedanken, den Roman zu schreiben, durch eine Zeitungsnotiz in „The Times“ vom 5. April 1915 gekommen, in der über die Hinrichtung des deutschen Spions Miassojedow informiert wird sowie über die Erleichterung der russischen Öffentlichkeit, dass der Verräter seiner gerechten Strafe nicht entkommen sei. 16 Diese kurze Bemerkung zur Genese des Romans sagt meines Erachtens mehr aus, als Mackiewicz kundgeben wollte. Es ist kein Zufall, dass politische Ordnungen seit der Entstehung der Presse im Aufklärungszeitalter so viel Wert auf die Medien legen und immer wieder der Versuchung nachgeben, diese unter ihre Kontrolle zu bringen oder zumindest zu versuchen, sie zu beeinflussen. Den Medien wohnt seit dem Beginn dieses Prozesses ein genuines Machtpotenzial inne, da sie Informationen nicht nur weitergeben, sondern auch auswählen, gewichten und gestalten. 17 Der Erste Weltkrieg war in bisher ungekanntem Maße auch ein Medien- und Propagandakrieg, der insbesondere die Intelligenz in den Bann kollektiver Stimmung zog, wie auch die Intelligenz auf kollektive Stimmungen zurückwirkte. Bernd Hüppauf fasst dieses Phänomen wie folgt zusammen: Dieser Krieg wurde nicht nur mit Waffen und Soldaten auf den Schlachtfeldern ausgetragen, sondern bezog wie kein Krieg zuvor die beteiligten Gesellschaften als Ganze ein und schuf die Propaganda. Auch in Wissenschaft und Forschung, in den Universitäten als Institutionen mit einem öffentlichen Auftrag, sowie in Publizistik, Literatur und Kunst fand Krieg statt. In Deutschland entstand das viel bemühte Wort vom „Krieg der Geister“. Neben literarischen Werken der
16 Mackiewicz, S. 7. Der vollständige Bericht aus „The Times“ wird von Mackiewicz angeführt. 17 Vgl. Friedrich A. Hayek, The Intellectuals and Socialism, in: The University of Chicago Law Review 16 (1949), S. 417–443.
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konventionellen Gattungen zeugte eine Flut von Reden, Flugschriften, Manifesten, Denkschriften und Predigtsammlungen von der Kriegsbeteiligung der geistig Schaffenden. Die Propaganda schuf weltweit ein Schlachtfeld der Bilder und Worte, auf dem stereotypisierte Feindbilder und affektive Parolen um Sympathien, Geld und Verbündete kämpften. 18
Die seit Jahrzehnten zunehmend in die Aufmerksamkeit der Geschichtsforschung rückende Perspektive „von unten“, welche auf das Leben und Verhalten der Bevölkerungen und einzelnen Bevölkerungsgruppen den Hauptakzent legt, hat auch die Untersuchung von kollektiven Vorstellungen und des Mentalitätswandels durch den Krieg befördert: „Die Historiographie der Mentalitäten als Variante einer Darstellung von Alltagskultur, einer ‚Geschichte von unten‘, wie sie die Forschung der 1980er Jahre geprägt hat, wird also seit einiger Zeit modifiziert und erweitert durch die auch im internationalen Maßstab dominierende ‚Kriegskultur-Forschung‘“. 19 Zu den kollektiv-mentalen Aspekten des Ersten Weltkriegs gehörte nicht zuletzt die Verdachts- und Spionageparanoia, die sowohl an den Fronten als auch in Teilen der Bevölkerungen grassierte bzw. als Propagandamaßnahme bewusst verbreitet wurde. Einen Vorfall, der aus dem Geiste solchen kollektiven Vertrauensschwundes geboren ist, nahmen sowohl Józef Mackiewicz als auch Arnold Zweig zum Anlass ihrer Romane: des 1927 erschienenen „Der Streit um den Sergeanten Grischa“ und den 1962 im Münchener Exil veröffentlichten „Oberst“. In Zweigs Werk ist es der einfache Soldat Grischa Paprotkin, der einer Unklugheit wegen als Spion hingerichtet wird – er desertiert aus der russischen Armee, getrieben von dem Gefühl der Sinnlosigkeit dieses Krieges und von der Sehnsucht nach Frau und Kind, nimmt dabei zur Tarnung eine falsche Identität an. Dieser Figur und dem Plot des Romans liege nach Zweigs eigener Auskunft ein wirklicher Fall zugrunde, von dem der Schriftsteller als Schreiber in Presseabteilung des Oberbefehlshabers erfahren haben will. Dagegen ging Mackiewicz dem Fall Miassojedow mit ausgiebigen Recherchen auf den Grund. Bezüge auf den Fall Miassojedow, diese russische „Affäre Dreyfus“, 20 finden sich in der Publizistik aus der Zeit des Ersten Weltkriegs reichlich, sowie auch noch unmittelbar danach. Charakteristischerweise wird die Angelegenheit nicht selten am Rande erwähnt, wenn über andere Ereignisse die Rede ist. Der Bezug dient dann als eine Art Folie, deren allgemeine Kenntnis vorauszusetzen ist. Insofern kann man Mackiewiczs Verwunderung teilen, dass diese Affäre, die die Öffentlichkeit so sehr beschäftigt hatte, dermaßen in Vergessen-
18 Bernd Hüppauf, Kriegsliteratur, in: Gerhard Hirschfeld u. a. (Hg.), Enzyklopädie Erster Weltkrieg, Paderborn 2014, S. 177–191, hier S. 181. 19 Gerd Krumeich / Gerhard Hirschfeld, Die Geschichtsschreibung zum Ersten Weltkrieg, in: ebd., S. 304–315, hier S. 312. 20 Mackiewicz, S. 7.
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heit geraten war und keine Flut von Publizistik sowie schöner Literatur nach sich zog. 21 So berichtete etwa die deutschsprachige Thorner Tageszeitung „Die Presse“ am Mittwoch, den 5. September 1917, also bereits nach der FebruarRevolution, über den Prozess des ehemaligen Kriegsministers Suchomlinow. Ihm wurde vorgeworfen, die Schuld an der Niederlage der russischen Armee zu tragen. Sein Feind Gutschkow sagte gegen ihn aus, wobei er insbesondere den hingerichteten Miassojedow, den Suchomlinow einst gefördert hatte, ins Spiel brachte. Die Zeitung gab einen ausführlichen Bericht über die Verhöre, wobei gewiss beabsichtigt wurde, die moralische Niederlage der Kriegsgegner zu betonen und in den zerstrittenen Koterien zu suchen, die verbissen gegeneinander kämpften und nach Sündenböcken suchten, um ein Bild vom Zerfall des Großreiches zu zeichnen: „Er [Gutschkow] berichtete darauf, wie er sich über den Spion Miassojedow habe unterrichten können, den Suchomlinow offen begünstigt habe, und schloss mit der Erklärung: Russland ist in den großen Krieg ohne die geringste Vorbereitung eingetreten, wofür die Schuld vollkommen Suchomlinow zufällt, der der einzige Verantwortliche für alle russischen Niederlagen ist“. 22 Wie groß der Widerhall des Falles Miassojedow war, kann man auch an einem langen Artikel erkennen, der einige Zeit vor dem Ende des Ersten Weltkriegs in Maximilian Hardens Zeitschrift „Zukunft“ erschien. Wir erhalten hier eine wenig wohlgesinnte Beschreibung der politischen Tätigkeit Alexander Kerenskijs zur Zarenzeit, der sich mittlerweile schon im englischen Exil befand: In dem selben Monat, als der Landesverrath des Oberst Miassojedow in der Reichsduma bekannt geworden ist, fordert er [Kerenskij] in einem Offenen Brief an den Kammerpräsidenten Rodzianko schleunige Säuberung der Ministerien des Innern und der Justiz, die Verräthernester seien, und endgiltige Abkehr von den schmählichen Versuchen, den Kriegszustand zur Knechtung der Arbeiter, zu [sic!] Ächtung der Sozialisten auszunutzen. „Die russische Gesellschaft weiß genau, in welchen Ministerien die Begünstiger des bei uns noch immer regen Wunsches sitzen, so schnell wie möglich sich mit der Berliner Regierung zu verständigen und die festeste, die unentbehrliche Stütze innerer Reaktion wiederherzustellen. Die Beamten dieser Ministerien werden die von den Militärbehörden durch Zufall entdeckten Spuren der Verrathorganisation gewiss nicht eifrig verfolgen. Die Reichsduma muss alles Erdenkliche thun, um die Nation vor Anschlägen zu schützen, die sie hinterücks bedrohen“. 23
Mit einer solchen Rhetorik geraten wir in die Atmosphäre jener Jahre, wie sie nicht nur in Russland herrschte, denn tatsächliche oder vermeintliche Spionagefälle und entsprechende Gerüchte ergriffen alle kämpfenden Staaten. Im 21 Ebd. 22 N.N., Prozess Suchomlinow, in: Die Presse 207 (1917), S. 2. 23 Maximilian Harden, Nach vier Jahren, in: Die Zukunft 34 (1918), S. 100–101.
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untergehenden Zarenreich sowie in dem durch die darauffolgenden Revolutionen und Bürgerkriege erschütterten Russland war diese Stimmung jedoch besonders ausgeprägt. 24 Ein gutes Zeugnis davon gibt etwa das bereits erwähnte Buch von Walter Nicolai, dem Chef des militärischen Nachrichtendienstes des Deutschen Reichs. Er betont die wachsende Rolle dieser „unsichtbaren Front“, beklagt, dass das Deutsche Reich hier Franzosen und Russen weit unterlegen gewesen sei, weil die Deutschen keine große Erfahrung hinsichtlich wirtschaftlicher und politischer Spionage gehabt hätten. Deren Aufbau sei keine leichte Aufgabe gewesen, denn „ein Nachrichtendienst lässt sich auf Geld allein nicht aufbauen, wenn er nicht anstatt Nutzen schweren Schaden zeitigen soll. Das Wesentliche des Nachrichtendienstes ist die Persönlichkeit der in ihm Tätigen. Und an Vorgebildeten fehlte es infolge des Versäumnisses vor dem Kriege Deutschland vollkommen“. 25 Demgegenüber hätten die Franzosen oftmals dank ihrer Geheimdienste vermocht, das Geschehen zu lenken; so spielten sie eine Rolle dabei, das Zarenreich in den Krieg zu stürzen und hätten wohl Einfluss gar auf den Ausbruch der Revolution gehabt. Man sollte das Buch Nicolais selbstverständlich als Dokument seiner Epoche lesen und seinen Urteilen zur damaligen Situation nicht unreflektiert Glauben schenken. Jedoch erkennen wir hier einen anderen Krieg als den, welchen wir gewohnt sind: den der Schlachtfelder und Schützengräben. 26 In den Passagen, die dem nordosteuropäischen Kriegsschauplatz gewidmet sind, kommt Nicolai auf die (angebliche) Taktik „des Russen“ zu sprechen: „Er griff zu dem Mittel, Spione in den vor den Deutschen geräumten Gebieten unauffällig zurückzulassen oder sie als Überläufer in die deutschen Reihen zu schicken“. 27 Wie dem auch gewesen sei, es gab offensichtlich unter den deutschen und österreichischen Truppen sowie deren Militärverwaltung ein verbreitetes Misstrauen gegenüber solchen Gestalten wie Arnold Zweigs Grischa. Misstrauen herrschte auch zwischen einzelnen Bevölkerungsgruppen dieses Vielvölkergebietes und insbesondere bei den Deutschen bezüglich der Bewohner der neu besetzten Gebiete. Einige solcher Gerüchte und Vorurteile gibt Nicolai wieder oder versucht, sie seinem besten Wissen nach zu widerlegen:
24 Vgl. William C. Fuller, The Foe Within: Fantasies of Treason and the End of Imperial Russia, Ithaca 2006. 25 Nicolai, S. 71. 26 Jörg Hillmann bemerkt im Vorwort zu den Aufzeichnungen Nicolais aus der Zeit des Weltkriegs, dass die Erforschung der Nachrichtendienste zu den Seltenheiten der Weltkriegsforschung gehört, was in der Natur der Sache liege. Vgl. Jörg Hillmann, Vorwort des Kommandeurs, in: Epkenhans u. a. (Hg.), Geheimdienst und Propaganda im Ersten Weltkrieg, o. S. 27 Nicolai, S. 80.
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Der Krieg im Osten wurde kaum auf russischem Boden, sondern auf polnischen oder russifizierten Gebieten geführt. Die leidenschaftliche Unterstützung durch die Bevölkerung, die wir auf dem westlichen Kriegsschauplatz kennen lernen werden, fand die russische Kriegführung daher nicht. Und auch von einem Hass der Bevölkerung im Osten gegen die Deutschen konnte im Großen und Ganzen [. . . ] nicht gesprochen werden. 28
In Bezug auf die Haltung der Polen fasst er zusammen: Ganz falsch ist die im Kriege auch an der deutschen Ostfront vielfach verbreitet gewesene Ansicht, dass die Polen eine ausgedehnte Spionage zugunsten der Russen geleistet hätten. Der Pole verhielt sich mit Ausnahme der Intelligenz in den Städten und der Gutsbesitzer zunächst neutral und versuchte in keiner Weise, den Deutschen zu schaden. Erst als die Selbstständigkeit Polens winkte, entwickelte sich eine polnische Spionage und ein eigener polnischer Nachrichtendienst, der aber nicht den Russen zugute kam, sondern vielmehr polnischen Zwecken diente. 29
Von den russischen Juden schreibt Nicolai wiederum, dass sie den Krieg als nicht den ihrigen betrachtet hätten, und wenn sie Spionagedienste geleistet hätten, hätten sie es vorwiegend als Geschäft betrachtet. 30 Zu den interessantesten Bemerkungen in Nicolais Buch zählen diejenigen, welche darauf hinweisen, dass die Verbreitung von Spionagemaßnahmen und insbesondere das Rekrutieren von Menschen als Spione eine erhebliche moralische Gefahr für die ganze Gesellschaft darstelle, da sie das gegenseitige Vertrauen aushöhle – deshalb sollte man es möglichst vermeiden, eigene Landsleute für solche Tätigkeiten zu engagieren.
IV Während Mackiewiczs Roman eine weite Zeitspanne von 1900 bis zum April 1945 umfasst, sind die Ereignisse in Zweigs „Der Streit um den Sergeanten Grischa“ auf das Jahr 1917 verdichtet. Der russische Soldat Grigorij Paprotkin, der in deutsche Kriegsgefangenschaft gerät und sich aus Sehnsucht zur Flucht in seine Heimat entscheidet, das weit im Osten liegende Wologda, stößt auf der Flucht durch die litauischen Wälder auf eine kleine Partisanengruppe, bei der er sich kurz aufhält. Um Grischa zu helfen, rät ihm die Partisanin Babka, sich als der Deserteur Bjuschew auszugeben, der vor kurzem verstorben ist. Es stellt sich jedoch heraus, dass Grischa mit dieser Tarnung
28 Ebd. 29 Ebd., S. 81. 30 Ebd.
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eine noch größere Gefahr auf sich zieht. General Schieffenzahn ordnet an, dass jeder russische Deserteur sich nach drei Tagen in deutsche Gefangenschaft begeben müsse, sonst werde er als Spion erschossen. Grischa weiß von diesem Befehl nichts. Er wird gefangengenommen und erhält ein Todesurteil. Er gibt die angenommene Tarnidentität auf und erzählt die wahre Geschichte, kann sich jedoch nicht mehr retten und wird hingerichtet. Das Gros der Handlung spielt in dem kleinen Städtchen Merwinsk, wo Grischa gefangengehalten wird und schließlich den Tod findet. Einige deutsche Militärs, allen voran General von Lychow, der „aus preußischem Traditionsbewusstsein“ 31 handelt, suchen ihm zu helfen, da sich dessen Angaben mit etwas gutem Willen problemlos überprüfen lassen, doch vergeblich.
V Das Schicksal Grischas wird zum Bild einer tiefgreifenden allgemeinen mentalen und moralischen Krise, die sich in ihm wie in einem Brennglas gebündelt widerspiegelt. In Russland fand gerade die Oktoberrevolution statt, das Echo der Ereignisse ist in den Gesprächen etwa eines jungen jüdischen Verlobtenpaares zu vernehmen, das miteinander über die Zukunft der Gesellschaft diskutiert. Die Soldaten der beteiligten Armeen sind kriegsmüde, es mehren sich Fälle von Desertion, insbesondere in der russischen Armee, aber auch deutsche Soldaten nehmen den Krieg zunehmend als sinnlos wahr. Im Osten gibt es kaum noch Kämpfe, die Deutschen halten die lang sich dahinziehende Front, verwalten die besetzten Gebiete. Die Stimmungen und Haltungen des deutschen Heeres, insbesondere der Führung, schildert Zweig sehr differenziert, sie reichen von einer liberal-konservativen Haltung bis zu den Befürwortern eines harten imperialistischen Kurses. Vertreter der letzteren Einstellung ist vor allem General Schieffenzahn, der von der Vision eines deutschen bzw. preußischen Imperiums getrieben wird. Er fürchtet die Senkung der Ausdauer und der Kampfmoral in der deutschen Armee. Er bemüht sich um die Verhinderung jeglicher Kontakte zwischen deutschen und russischen Soldaten im Fall von Desertierenden und Kriegsgefangenen, da sie demoralisierend auf die Deutschen wirken und die Russen zudem Spione oder Vermittler revolutionärer Ideen sein könnten. Seine Ethik ist die eines Staatskultes, der für sich selbst steht, auf keinen höheren Instanzen beruht. Daher besteht Schieffenzahn darauf, Grischa Paprotkin hinzurichten. Die abschreckende Wirkung ist ihm wichtiger als die Schuld bzw. Unschuld des Gefangenen. Zu den Schlüsselszenen des Romans gehört ein Gespräch zwischen Schieffenzahn und von Lychow über den Staat und die Prinzipien der Macht. Das Gespräch wird am Telefon
31 Frank Hörnigk, Entstehung und Wirkung, in: Arnold Zweig, Der Streit um den Sergeanten Grischa, Berlin 2006, S. 515–532, hier S. 524.
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geführt; von Lychow erhofft sich noch, Grischa im Namen der Gerechtigkeit zu retten: „Wenn ich so leben müsste, käm ich mir wie ein Dackel vor. Schafft der Staat das Recht? Nee, aber Rechttun erhält die Staaten, Herr. [. . . ] Ich aber, Herr General Schieffenzahn, weiß, dass Rechttun und Auf-Gott-Vertrauen die Säulen Preußens gewesen sind, und will nicht hören, dass man sie von oben her zerbröckelt“. [. . . ] Aber durch nichts in der Welt könne belegt werden, dass ein Staat den mächtigen Apparat seiner Justiz gegen Unschuldige in Bewegung setzen und das Rechtsgefühl des Volkes zerstören dürfe. Das Rechtsgefühl des Volkes, sagte er zitternd, bleibe das Abbild himmlischer Gerechtigkeit, und wenn man es in eine Ecke schmeiße aus politischen Gründen, so könne niemand wissen, ob nicht mit solchem Frevel das Urteil des Staates selber falle in den ewigen Sphären der göttlichen Gerechtigkeit, und nicht das Mene-tekel-upharsin hier unsichtbar an der Wand des Zimmers glimme, in dem ein General aus Gründen seiner armseligen Vernunft die göttlichen Gebote lächerlich machen wolle. 32
Der Fall Grischa verwandelt sich also in einen Streit, bei dem es um Gerechtigkeit, Wahrheit und Moral unter den Bedingungen der Militärjustiz geht. Da an Grischa als Unschuldigem das Todesurteil vollstreckt wird, erweist sich die Besatzungsverwaltung als ein Ort der Gewalt- und Willkürherrschaft.
VI Was wollten Mackiewicz und Zweig erreichen, als sie zwei vermeintliche Spionagefälle als Hauptproblem wählten, um das herum sie ihre Werke aufbauten? Die Protagonisten beider Romane sind unschuldig, sowohl Grischa als auch Oberst Miassojedow. Darüber hinaus scheinen sich die beiden Figuren in jeglicher Hinsicht zu unterscheiden. Miassojedow ist russischer Offizier, Mitglied der Elite des Zarenreiches. Der Erzähler berichtet über das Schicksal Miassojedows und vergleichbarer Figuren aus der Innenperspektive des Reiches. Mit Grischa hingegen macht Zweig einen einfachen Soldaten aus dem gegnerischen Lager zum Protagonisten. Die Stellung in der gesellschaftlichen Hierarchie hat Folgen für den Handlungsspielraum der beiden Figuren. Grischa ist einfältig bis naiv, er glaubt an das Gute im Menschen sowie daran, dass die Wahrheit gewinnen und ihm Gerechtigkeit widerfahren werde. Doch scheitert er an einer Wirklichkeit, die sich nicht an diese Prinzipien hält, und geht zugrunde. Diese Wirklichkeit ist eine durch den Krieg zerstörte, es geht Zweig aber nicht um die materielle Zerstörung durch Kriegshandlungen, so wie wir sie aus den unzähligen Schilderungen des Stellungskriegs und der Materialschlachten an der Westfront kennen. Hier geht es um Machtprakti-
32 Zweig, Der Streit um den Sergeanten Grischa, S. 307–308.
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ken. Die Ostfront bleibt – anders als es im Zweiten Weltkrieg der Fall sein wird – die weniger grausame und ruhigere Front. Die siegreichen Deutschen und Österreicher stehen vor der Aufgabe, die besetzten Gebiete zu verwalten. Wie Zweig zeigt, misslingt der Versuch, eine stabile und gerechte Ordnung aufzubauen. Willkür und Kämpfe zwischen Parteiungen und Persönlichkeiten in der Führung nehmen Oberhand. Und das Opfer dieser aus den Fugen geratenen Machtpolitik wird Grischa. Er durchläuft allerdings im Laufe des Romans einen Prozess der inneren Wandlung, den man ein Reifen zum Tode nennen könnte. Als er allmählich die Ausweglosigkeit seiner Situation erkennt, will er kein willenloser Spielball des Geschehens, d. h. der Konflikte und Machtkämpfe mehr sein, die über seinen Kopf hinweg von den Entscheidungsträgern der Besatzungsmacht ausgetragen werden. Er entscheidet sich bewusst dafür, sein Schicksal aus freiem Willen auf sich zu nehmen und von dem Fluchtangebot, das ihm die Partisanin und Geliebte Babka macht, keinen Gebrauch zu machen: „Und Grischa streichelte ihr die Hand und hörte zu. Ja, das klang ganz gut; man konnte es nicht leugnen. Es würde also ein Leben wieder in Verstecken sein. Wieder in Angst, wenn man so wollte; jedenfalls hinterm Rücken der Sonne und der wirklichen Freiheit – aber ein Leben, fügte er nachdrücklich hinzu, um sie zu trösten“. 33 Man könnte somit Grischa in die Reihe jener Helden und Heldinnen der klassischen deutschen Literatur stellen, die aus moralisch-vernünftiger Einsicht ihr Schicksal frei wählen, anstatt sich ihm bloß zu fügen: Emilia Galotti, das von Naivität bis hin zur Selbstüberwindung im Kerker reifende Gretchen oder auch Schillers Karl Moor, dessen bekannter Ausspruch „Dem Manne kann geholfen werden“ in Zweigs Roman zitiert wird. Es besteht eine grundlegende Verwandtschaft zwischen Grischas Entscheidung und dem Handeln dieser Figuren. Zweigs Interesse an Kleist, bei dem wir allerdings einen solchen Wandel von naiver Haltung zur Einsicht in das Schicksal und dessen bewusste Akzeptanz nicht finden, ist der Forschung bekannt. Daher liegt es nahe, einen breiteren Kreis von klassischen Figuren als Kontext heranzuziehen. 34 Interessant ist, dass Miassojedow und Grischa psychologisch einen umgekehrten Wandel durchmachen. Der Oberst verkennt bis zum Ende seine katastrophale Lage und die Macht der geschichtlichen Prozesse, ist oft leichtsinnig und hat bis zur Hinrichtung noch die Hoffnung, dass er als Unschuldiger freigesprochen wird. 35
33 Ebd., S. 393. 34 Zweigs Beschäftigung mit den Klassikern der deutschen Literatur ist etwa durch seine Studie zu Lessing, Kleist und Büchner belegt, vgl. Arnold Zweig, Lessing – Kleist – Büchner. Drei Versuche, Berlin 1925. 35 Zur Verflechtung von Individuum und Geschichte an der Figur Miassojedows vgl. Alfred Gall, Der Oberst. Die Affäre Mjassojedow – zur literarischen Modellierung des Spannungsfeldes von Individuum und Geschichte, in: Krzysztof Ruchniewicz / Marek
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Arnold Zweigs Thema, das er an der Figur des vermeintlichen Spiones auszuloten versucht, ist die Macht bzw. die Staatsmacht und die Gerechtigkeit, insbesondere das Problem des Begründet-Seins der Macht in tieferen Prinzipien. An dem Prozess des Heranreifens Grischas zu einer nicht mehr naiven Einsicht in die Willkür jener Machthaber demonstriert Zweig auch die individuelle Freiheit als wichtigste Instanz, an der die Geschehnisse im Roman gemessen werden. Das Schicksal Grischas appelliert an das Gerechtigkeitsgefühl des Lesers. „Der Streit um den Sergeanten Grischa“ wurde aus diesem Grunde als einer der wichtigsten Antikriegsromane gelesen; an seiner Botschaft entfachte sich in der Weimarer Republik eine heftige Diskussion. Grischa als einfacher Soldat kann, obwohl oder gerade deshalb, weil er als Russe dem gegnerischen Lager angehört, stellvertretend für jeden einfachen, kriegsmüden Kämpfer stehen, der – ganz gleich, in welchem Heer und an welcher Front – in diesem Krieg keinen Sinn erblickt. Exemplarisch für die Festlegung des Romans auf eine pazifistische Kriegsdeutung steht die bekannte Rezension Kurt Tucholskys, in der folgende Passage enthalten ist: Der Sergeant Grischa wird, obgleich er doch gar nicht unter jenen Befehl fällt, erschossen, weil Division und Oberkommando sich nicht riechen können, weil die beiden maßgebenden Offiziere sich im Aktengang anstänkern, weil Ressortkämpfe aufflackern, erlöschen, wieder aufbrennen. . . Grischa steht am grasigen Abhang und wird, du deutsches Gemüt, er wird „umgelegt“. Da liegt er. Und es ist gar nichts. Ein Russe, du lieber Gott. . . 36
Die Missstände und die Unfähigkeit, eine stabile Herrschaft des Rechts in den besetzten Gebieten zu etablieren, bemerkt Tucholsky durchaus, er fokussiert dann jedoch vollständig auf den unschuldigen Grischa, nicht auf das System. Allerdings ist eine solche pazifistische Lesart des Romans auch eine Reduzierung seiner Potenziale. Arnold Zweig war die Machtdynamik in Ober Ost aus nächster Nähe bekannt; er beobachtete die durch das deutsche Militär aufgebaute prekäre Ordnung im Osten als Augenzeuge. Frank Hörnigk kommentiert im Nachwort zu der kritischen Ausgabe des Werkes Zweigs dessen Gefühl der Ohnmacht über einen ihm bekannten Vorfall der Hinrichtung eines Unschuldigen wie folgt: Es war für ihn ein Erkenntnisschock ohnegleichen, in die offen liegende Mechanik dieses Verbrechens selbst nicht nur nicht eingreifen zu können, sondern zu erfahren, dass niemand innerhalb dieser Ordnung von Gewalt imstande war, deren Logik mit dem Argument aufgeklärter Vernunft auch nur für einen Moment außer Kraft zu setzen. Vor dem Hintergrund solcher Erfahrung musste
Zybura (Hg.), Zwischen (Sowjet-)Russland und Deutschland. Geschichte und Politik im Schaffen von Józef Mackiewicz (1902–1985), Wrocław 2012, S. 213–236. 36 Kurt Tucholsky, Der Streit um den Sergeanten Grischa, in: Die Weltbühne 23 (1927), S. 892–899, hier S. 893.
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die in der Öffentlichkeit immer wieder beschworene Behauptung einer aus dem Rechtsverständnis bürgerlicher Zivilgesellschaften abgeleiteten Garantie von „Gerechtigkeit und Humanität“ selbst im Kriege, von sittlichem Anstand selbst im Krieg, als bloße Farce erscheinen. 37
Eine Lesart, die nicht bloß auf die Gestalt Grischas abhebt, sondern auch auf das Funktionieren der Verwaltung in den besetzten Gebieten, wird der Erfahrung Zweigs gerechter. 38 Im Gegensatz zur Westfront, die durch ihre Materialschlachten eine nachhaltige Schock-Erfahrung produzierte, lag das Spezifische der Erfahrung im Osten in etwas anderem: hier haben wir es mit Gebieten zu tun, die Anspruchsgebiete von Großmächten sind und die es samt ihrer vielen kleineren und größeren Völker zu beherrschen gilt. Die Fragen kollektiver Erwartungen, Stimmungen und Ängste, der Gerechtigkeit und des Machtmissbrauchs stellen sich gerade vor dem Hintergrund des östlichen Kriegsschauplatzes in aller Deutlichkeit. Mackiewicz interessieren weniger als Zweig Gerechtigkeit und Bewahrung der Moral im Angesicht des Krieges. Größere Aufmerksamkeit widmet er den Prozessen der Kollektivierung des Denkens und den Dynamiken, die diese Prozesse entfalten. Die Macht ist in Mackiewiczs Roman ein zerstreutes Phänomen, vieles hängt vom Zufall ab. Beide Autoren haben jedoch denselben geografischen Raum vor Augen, der in beiden Werken die Bühne des Geschehens darstellt sowie das Material für Versuche, wie dieser machtpolitisch zu gestalten sei. Ostmitteleuropa wird von Imperien beansprucht, die kurz vor ihrem Untergang stehen, jedoch noch nichts davon wissen. Hier findet ihr Zerfall statt: des Zaren- und des Habsburger-Reiches, in einiger Nähe bricht die Oktoberrevolution aus, hier entstehen nach dem Ende dieses Krieges neue Grenzen und Staaten, hier wird der nächste Weltkrieg beginnen. Sowohl Arnold Zweig als auch Józef Mackiewicz haben es sich vorgenommen, mittels eines vermeintlichen Spionagefalles und in der Form eines in einer eher traditionellen Poetik gehaltenen historischen Romans dieser Prozesse auf ihre Art habhaft zu werden.
37 Hörnigk, S. 516. 38 Eine solche Interpretation des anderen Ober-Ost-Romans Zweigs „Einsetzung eines Königs“ unternehme ich an einem anderen Ort. Zweigs „Einsetzung“ vergleiche ich dort mit Mackiewiczs „Oberst“ im Hinblick auf die Darstellung der Geschichte im Roman. Vgl. Monika Tokarzewska, Der Roman als Schauplatz der Geschichte. Józef Mackiewiczs und Arnold Zweigs Sicht auf den Ersten Weltkrieg in Ostmitteleuropa, in: Małgorzata Klentak u. a. (Hg.), Literarische Erinnerung an den Ersten Weltkrieg in Regionen Mitteleuropas, Frankfurt a. M. 2017, S. 65–83.
Östlich der Oder
Steffen Dietzsch
(Humboldt-Universität zu Berlin)
Dwinger und der russische Bürgerkrieg 1919/20: Zwischen Weiß und Rot „Wenn Puschkin von seinen Landsleuten sagt: ‚Teurer als die bittere Wahrheit ist uns der erhabene Wahn‘, so war das als Paradoxon, nicht aber als Calembour gemeint“. 1
I An einem Sonntag in Paris, am 29. Oktober 1933, schreibt der deutsche Emigrant Harry Graf Kessler in sein Tagebuch. Er klebt einen Zeitungsausschnitt aus der „Frankfurter Zeitung“ vom Vortag hinein; der Artikel trägt den Titel „Kundgebung deutscher Schriftsteller. ‚Gelöbnis treuester Gefolgschaft‘“. Hier werden 88 Namen von deutschen Dichtern und Schriftstellern notiert, die sich zustimmend zum neuen nationalsozialistischen Deutschland äußern. Kessler nun schreibt nach der Kenntnisnahme an den Rand die Bemerkung: „Wo bleiben Stefan George, Gerhart Hauptmann, Hans Carossa, Ricarda Huch, Jünger, Ernst v. Salomon“ 2 und er nimmt verwundert Kenntnis davon, dass auch der Autor Edwin Erich Dwinger bei der Ergebenheitsadresse fehlt. Das Fehlen Dwingers in dieser Liste ist aus der Sicht von Dwingers Buch von 1930 „Zwischen Weiß und Rot. Die russische Tragödie 1919–1920“ auch ganz verständlich. Erstens: Sein existentielles Erleben Russlands, einer ihm geistig und kulturell doch fremden Welt, namentlich das Erleben der russischen Kriegskultur und vor allem dann des Bolschewismus hat Dwinger natürlich zum Kritiker jener Zeit- und Lebensumstände gemacht, aber: das hat seine Identität als Deutscher niemals mit rassistischer Überlegenheit den Völkern Russlands gegenüber kontaminiert. „Ich bin einst“, schreibt Dwinger in einer Denkschrift (Sommer 1944), „mit der Weißen Armee Admiral Koltschaks von Sibirien aus gen Moskau gezogen“ und musste bemerken, „was die westlichen 1 Ernst Jünger, Federbälle, Stuttgart 1980, S. 48–49. 2 Harry Graf Kessler, Das Tagebuch 1880–1937, Bd. 9: 1926–1937, hg. v. Sabine Gruber und Ulrich Ott, Stuttgart 2010, S. 612. Vgl. dazu neuerdings Karsten Dahlmanns, Georgeanische Totenmesse. Dwingers „Die letzten Reiter“ und Stefan George, in: Studia Niemcoznawcze LV (2015), S. 467–480.
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Steffen Dietzsch
Generale schon damals [1920] außeracht ließen: Koltschak hatte diesen Krieg nicht nur gegen die Rote Armee, sondern auch gegen ein revolutioniertes Volk zu führen“. 3 Mit dieser Haltung gegenüber Russen hat er sich immer in einen Gegensatz zur nationalsozialistischen Herrenmenschenmentalität gebracht – so auch noch zu Beginn des deutschen Angriffs auf die Sowjetunion Juni 1941 als Kriegsberichterstatter. Allerdings wurde er im Oktober 1941 schon wieder abberufen, wie auch Curcio Malaparte nach seinen Kriegsberichten von der Ostfront, die dann als „Il Volganasce in Europa“ publiziert wurden. Dwinger schrieb von der Gleichwertigkeit und Tapferkeit des russischen Gegners und seiner Spiritualität, er fragte, ob nicht deren Menschheitsideologie, mag sie auch noch so irrig sein, ihnen immer ungeahnte Kräfte verlieh, zudem ihr ältestes Axiom, vom großen Dostojewskij geprägt, eben „so alt wie die Menschheit selbst sei, zum wenigsten so alt wie Christus und seine Lehre?“. 4 Schon 1930 in „Zwischen Weiß und Rot“ erinnerte er am Ende daran: „Vergeßt nicht, daß Rußland sich immer berufen fühlte, die Menschheit zu erlösen. . . “. 5 Und: „So gibt es auch nur noch eine Wahl: Entweder wird Europa russisch – oder es gelingt uns – Rußland europäisch zu machen“. 6 Und gerade das ist Dwingers Grundmotiv für alle seine Russlandtexte; ganz deutlich noch 1943 in seiner Denkschrift „Der russische Mensch“. 7 Über diese Denkschrift Dwingers urteilte Iring Fetscher (der als Offiziersanwärter mit ihr in Berührung kam), dass sie ihn und Seinesgleichen damals schon „als Zeichen einer veränderten, positiven und verständnisvollen Einstellung gegenüber dem russischen Volk beeindruckt und erfreut“ 8 habe. Zweitens: Dwinger hat noch im Fortgang des Russlandfeldzuges, als der russische Widerstand immer stärker wurde, darauf insistiert, nun doch endlich den Rassismus gegenüber allen Slawen ein für alle Mal zu beenden, um sich dann der militärischen und politischen Kompetenz gefangen genommener sowjetischer Generäle im Kampf gegen Stalin zu versichern und z. B. General Andrej Wlassow als Verbündeten zu gewinnen. Dwinger hat nach dem Krieg eine große Würdigung Wlassows 9 geschrieben; wegen seiner Beziehungen zu 3 Edwin Erich Dwinger, Die 12 Gespräche 1933–1945, Velbert 1966, S. 70. Vgl. Morgan Philips Price, Die russische Revolution, Hamburg 1921, S. 466–468, 479–495. 4 Edwin Erich Dwinger, Zwischen Weiß und Rot, Überlingen 1950, S. 67. 5 Ebd., S. 459. 6 Edwin Erich Dwinger, Wiedersehen mit Sowjet-Rußland. Tagebuch vom Ostfeldzug, Jena 1942, S. 24. Vgl. auch Curcio Malaparte, Die Wolga entspringt in Europa, Karlsruhe 1967. 7 Zuerst publiziert in: Wille und Macht. Halbmonatszeitschrift 4 (1943), dann in: Dwinger, Die 12 Gespräche, S. 42–48. 8 Iring Fetscher, Bewunderung wurde Stalin nicht versagt, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 301 (2002), S. 34. 9 Edwin Erich Dwinger, General Wlassow. Eine Tragödie unserer Zeit, Überlingen 1951; Ders., Die 12 Gespräche, S. 97–110, 115–118, 142–153.
Dwinger und der russische Bürgerkrieg 1919/20: Zwischen Weiß und Rot
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Wlassow und seiner Kritik an der Ostpolitik des NS-Staats wurde Dwinger im Herbst 1943 unter Hausarrest gestellt.
II Dwingers Bericht über den russischen Bürgerkrieg wurde bei seinem Erscheinen 1930 von allen Seiten gewürdigt: „Kaum jemand hat in Deutschland das Bild vom ‚Russen‘ über Generationen hinweg so nachhaltig geprägt wie Dwinger. Er galt als ‚Russland-Experte‘ und ‚Russlandkenner‘, der das ‚Rätsel der roten Sphinx‘ zu lösen verstand, als der Interpret der ‚russischen Seele‘ und des ‚russischen Menschen‘ schlechthin“. 10 In Dwinger, so lobte ihn die deutsche Linkspresse jener Zeit, habe man nicht nur „einen Mann von beachtlichem Talent zu sehen, sondern auch einen, der eigentlich auf ihre Seite gehöre“. 11 Schon sein literarisches Debüt „Die Armee hinter Stacheldraht“ wurde 1929 einer der großen Bucherfolge der Weimarer Republik. Mit der Fortsetzung „Zwischen Weiß und Rot“, der aufwühlenden Darstellung des russischen Bürgerkrieges, wurde der Autor als Kandidat für den Literaturnobelpreis ins Gespräch gebracht. Denn Dwinger war es gelungen, beide Bürgerkriegsparteien authentisch zu schildern, in ihrem Wollen und Wüten, und ihre Ideale ebenso wie ihre Ratlosigkeit und Grausamkeit. Seine Chronik dieses Schreckens ist auch deshalb so authentisch, weil sie ganz auf die objektivierende Beobachterseite in der Darstellung verzichtet. Sein Schreiben ist in allem geprägt von dem einen Grundsatz, nämlich zu schreiben, „um an mir zu zeigen, wieviel ein Mensch ertragen kann, bevor er. . . Dann ist es voll, mein Maß, bald, bald [. . . ]. Ich lebte zeitweise eher unter Toten, als Lebendigen. Ich kenne Durst und Hunger und Pervertierung“. 12 In Moskau bereitete Karl Radek eine Übersetzung von Dwingers Trilogie „Die deutsche Passion“ 13 über die deutschen Armeen in Russland ins Russische vor; davon ist allerdings nur der erste Band „Armee hinter Stacheldraht“ erschienen. 14 Den Kontakt zum Moskauer Staatsverlag stellt Georg Lukács her, und „Lukács hat auch noch später, als es über die weltanschauliche Zugehörigkeit von Dwinger für ihn keinen Zweifel mehr gab, ihn als einen Realisten wider Willen herausgestellt“. 15 Noch 1947 reihte Johannes R. Becher den
10 Karl Schlögel, Das russische Berlin. Eine Hauptstadt im Jahrhundert der Extreme, Berlin 2019, S. 458. 11 Werner Mittenzwei, Die Mentalität des ewigen Deutschen. Nationalkonservative Dichter 1918–1947 und der Untergang einer Akademie, Leipzig 2003, S. 205. 12 Dwinger, Zwischen Weiß und Rot, S. 53. 13 „Die Armee hinter Stacheldraht. Das sibirische Tagebuch“ (1928), „Zwischen Weiß und Rot“ (1930) und „Wir rufen Deutschland“ (1932). 14 Vgl. Dwinger, Die 12 Gespräche, S. 160. 15 Mittenzwei, S. 205.
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Roman unter die zwanzig wichtigsten deutschen Bücher der ersten Jahrhunderthälfte ein. Der polnisch-deutsche Literaturkritiker Marceli Ranicki (später bekannt als Marcel Reich-Ranicki) allerdings registrierte 1955 (in seiner polnischen „Geschichte der deutschen Literatur 1871–1954“) Dwinger, neben Ernst Jünger, Ernst von Salomon, Hans Grimm u. a., pauschal als „führende faschistische Schriftsteller“. 16
III In Deutschland wurden mit Dwingers „Zwischen Weiß und Rot“ und mit Jüngers „In Stahlgewittern“ zwei maßgeblich analytische Texte zum Thema „Krieg“ vorgelegt. Aber beide Texte thematisieren auch ganz unterschiedliche Perspektiven des Phänomens „Krieg“. Jünger gibt uns einen Einblick ins anthropologisch Innere eines Teilnehmers am Großen Krieg, denn: „Die Katastrophe ist nicht mehr historisch, sie ist elementar“. 17 Jünger belässt es also nicht nur bei der Klage über das Nihilistische dieser Menschheitskatastrophe, wie etwa Erich Maria Remarque („Im Westen nichts Neues“, 1929) oder Gabriel Chevallier („La Peur“, 1930). Bei Dwinger wird eine ganz andere Perspektive des Krieges eröffnet: jetzt wird öffentlichkeitswirksam dargestellt, dass die militärischen Auseinandersetzungen im Anschluss an den Großen Krieg in Russland nicht etwa bloß große Bauernaufstände waren, so wie sie alle 100 Jahre in Russland aufflammen (Stepan Rasin um 1670 und Emelian Pugatschoff um 1770 oder im Gefolge der „Bauernbefreiung“ nach 1861), sondern dass das der Vorschein zukünftiger Kriege sei, die unsere Welt insgesamt neu erschüttern werden. Der neue Begriff dafür stammt von den Kombattanten dieser Konfrontation selber: „Welt-Bürgerkrieg“. 18 Einer ihrer neuen Centurionen betont es: „Wir stehen am Vorabend des Weltbürgerkriegs, dessen Führung von Seiten des Proletariats die Kommunistische Internationale übernehmen wird“. 19 Auf der anderen Seite der Front benutzt ihn auch Ernst Jünger, wenn er betont: „Die Weltkriege, scheinbar als Nationalkriege beginnend, enthüllten sich in
16 Marceli Ranicki, Z dziejów literatury niemieckiej 1871–1954, Warszawa 1955, S. 299. Vgl. auch Krzysztof Polecho´nski, Casus: Dwinger. Kilka uwag o polskiej recepcji niemieckiego pisarza w kategoriach politycznych, in: Orbis Linguarum 23 (2003), S. 265– 271. Zur polarisierten polnischen Rezeption Dwingers neuerdings Karsten Dahlmanns, Dwinger lesen, in: Studia Neofilologiczne 14 (2018), S. 9–31, besonders S. 10–14. 17 Ernst Jünger, Siebzig verweht II, Stuttgart 1981, S. 179 (Eintrag vom 10. Juli 1974). 18 Vgl. Nikolai Bucharin / Ewgenij Preobraschensky, Das ABC des Kommunismus, Hamburg 1921, S. 120. 19 Michail Tuchatschewski an Grigorij Sinowjew (vom 18. Juli 1920), in: Michail Tuchatschewski, Vojna klassov. Stat’i 1919–1920, Moskva 1921, S. 140.
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ihrem Verlaufe und während ihrer Pausen als bewaffnete Akte im weit ausgedehnteren Rahmen des Weltbürgerkriegs, der sie einspannte“. 20 Neuerdings haben auch die beiden polnischen Historiker Włodzimierz Borodziej und Maciej Górny von diesem russischen (Bürger-)Krieg gesagt, er sei die Endphase jenes „vergessenen Weltkrieges“, 21 der 1912–1923 Osteuropa erschütterte. Aber gerade dieser Ausklang verdichtet noch einmal alles Grauen des Krieges und Dwinger gibt dem eine Sprache und Gestalt: „Denkt euch das Grauenhafteste, was ihr nur denken könnt – ihr werdet das Schaudern nicht erfühlen, das er umfaßt!“. 22
IV Edwin Erich Dwinger (1898–1981), Sohn eines deutschen Marineoffiziers und einer russischen Mutter, geht wie viele seiner Generation im August 1914 freiwillig in den Großen Krieg. Er gerät dann schon 1915 in russische Gefangenschaft. Hier sieht er in den zwei Jahren der Haft seine Kameraden und sich in hoffnungsloser Lage mit Hunger, Krankheit und Tod konfrontiert. Das stürzt die Männer in tiefe existentielle Krisen: „Nein! Nein! Nein! Habe ich alles überlebt, was es an Grauenhaftigkeiten auf dieser mitleidlosen Erde gibt, um so zu enden? Heißt man das Gerechtigkeit, Schicksal, Fügung, Gott?“. 23 Inzwischen haben 1917 zwei Regierungsumstürze die Romanow-Dynastie und die provisorische parlamentarische Demokratie in Russland beseitigt und den Bolschewismus an die Macht gebracht. Ein sich vier Jahre hinziehender, verheerender Bürgerkrieg beginnt. Jetzt gelingt Dwinger die Flucht aus der Gefangenschaft der „Roten“; er erreicht die Linien der (zarentreuen) „Weißen“. Er schließt sich den Einheiten des Regenten Russlands an, des Admirals Alexander Wassiljewitsch Koltschak (1874–1920), die versuchen – unterstützt von fast allen Siegermächten des Ersten Weltkriegs – die Roten Rebellen aus dem alten Russland hinauszujagen. „Beide Seiten, die ‚Weißen‘ des Admirals Koltschak und des Generals Denikin, die das alte christlich-orthodoxe, bäuerliche und zaristische Rußland repräsentieren, und die ‚Roten‘, Lenins und Trotzkis Revolutionsgarden, kämpfen mit gnadenloser Härte“. 24 Nach dem Scheitern Koltschaks und seinem heroischen letzten Auftritt vor dem Erschießungs-Peloton 25 in Irkutsk (seine Leiche „wird in ein Eisloch in der Angara versenkt“ 26)
20 Ernst Jünger, Der gordische Knoten, Frankfurt a. M. 1953, S. 69. 21 Vgl. Włodzimierz Borodziej / Maciej Górny, Der vergessene Weltkrieg. Europas Osten 1912–1923, Darmstadt 2018. 22 Dwinger, Zwischen Weiß und Rot, S. 145. 23 Ebd., S. 53. 24 Werner Olles, Mörderisches Chaos, in: Junge Freiheit 51 (2006), S. 14. 25 Vgl. Dwinger, Zwischen Weiß und Rot, S. 397. 26 Ebd., S. 443.
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gerät Dwinger wieder in Gefangenschaft; wieder kann er entkommen und schafft den Heimweg nach Ostpreußen.
V Dwingers „Zwischen Weiß und Rot“ ist nun das Tagebuch dieses ersten asymmetrischen Krieges in der neueren Weltgeschichte. Dwinger schildert, beobachtet und kommentiert seine Begegnung mit jener fremden Welt des Ostens „aus der Sicht eines soldatischen Kreises“. 27 Und deshalb kann man diese literarische Darstellung Dwingers auch – nach Xenophon – eine „Anabasis“ (ἀνάβασις – Hinaufmarsch) nennen. Diesen „Hinaufmarsch“ nach Sibirien 28 durch den russischen Bürgerkrieg erlebt Dwinger als eine gegenüber den Fronterfahrungen von 1914–1918 ganz neue militärstrategische Situation. War im Westen ein mehr oder weniger stabiler Stellungskampf im Gange, so war der Krieg im Osten von einer unerwarteten Dynamik und Dislozierung geprägt. Legendär wurden Operationen aus Eisenbahnzügen heraus (das kann man bei Pasternak im „Doktor Schiwago“ nachlesen). Das war eine Bedingung und Konsequenz des Bürgerkriegs. Denn: „Im Weltbürgerkrieg muß jeder Angreifer damit rechnen, daß sein Hinterland schwierig wird. Und jedes neue Gebiet, das ihm anheimfällt, vergrößert das Hinterland“. 29 Eine operativ-taktische Folge war deshalb bei allen Kriegsparteien, dass sie kaum noch Gefangene gemacht haben. Dwinger berichtet von einer Gefangennahme, einem Kompanieführer: „‚Offizier gewesen?‘, ‚Nein, Feldwebel, Starschi‘, ‚vom Zaren her, im Krieg befördert‘“. Dwingers Ataman (Vereniki) „ließ ihn durch zwei Kosaken erdrosseln. Seine letzten Worte waren: ‚Mich könnt ihr wohl stumm machen, aber nicht die Revolution! Denn für mich werden Tausende erstehen, die mit euch tun werden, was ihr mit mir tatet! Die Erhebung der Menschheit marschiert. . . ‘“. 30 Eine derartig individuell tiefe Verankerung revolutionärer Überzeugung bei diesen Hungerleidern, die Dwingers Kameraden von der Weißen Armee gegenüberstehen, findet sich bei vielen Szenen von Gefangenschaft und Tod in seinem Bericht. Dwinger hat dabei durchaus einen Blick für die sozialen Gründe solcher irdischen Erlösungshoffnungen seiner damaligen Gegner: „Wir Roten müssen doch“, so gibt
27 Helmuth Kiesel, Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1918–1933, München 2017, S. 361. Kontrovers dazu: Georg Wurzer, Die literarische Verarbeitung des Kriegserlebnisses E.E. Dwingers, in: Quaestio Rossica 1 (2014), Vol. 2, S. 94–111. 28 Vgl. Karl Schlögel, Sibirien ist eine deutsche Seelenlandschaft, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 105 (1998), S. 44 und neuerdings Ders., Das russische Berlin, S. 457–478, 637–641. 29 Ernst Jünger, Der Waldgang, Stuttgart 1980, S. 76. 30 Dwinger, Zwischen Weiß und Rot, S. 213–215.
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er ein Gespräch mit einem Gefangenen wieder, „die Verheißung des Jenseits abschaffen, wir sind doch Menschen – und Russen. . . Und nur wenn wir Russen glauben, daß diese Erde alles und das Jenseits nichts ist, werden wir uns aufraffen, schon im Diesseits soviel zu erreichen wie irgendwie möglich!“. 31 Und weiter: „So bettelten wir – jahrhundertelang! Man lachte – nie wären wir frei geworden. . . Und nun fragst du: Gewalt? Und nun sagst du: Gewalt gedeiht nicht?“. 32 Dwinger versteht hier 1919 in Russland genau den Sachverhalt, der im selben Jahr 1919 in den „Süddeutschen Monatsheften“ als „Vorgeschichte des Bolschewismus“ begriffen wurde: „Das verprügelte Russland nimmt seitdem Rache an dem prügelnden Russland und lässt auch seinerseits nach dem Brauch der Väter Gewalt vor Recht gehen“. 33 Dwinger hat auch einen Blick für die mediale Neuartigkeit, mit der die neuen kommunistischen Ideen in die Köpfe der analphabetischen Massen gebracht wurden: comic-artige, knallbunte, grafisch moderne Plakate erzählen Unterdrückungs- und Befreiungsgeschichten. Und einmal muss Dwinger mit seinen Freunden tagelang durch eine Stadt reiten, um solche Plakate abzureißen. Die Botschaft war einfach: „Keine Ausgebeuteten mehr. Und Gerechtigkeit überall“. 34 Das besonders Berührende an dieser dem deutschen Fähnrich unbegreiflichen feindlichen Widerständigkeit ist für ihn und seine anderen zarentreuen Kämpfer, dass viele rote Gefangene noch nicht einmal Russen waren, sondern ehemalige Kameraden, Kriegsgefangene, die sogenannten „Internationalisten“ (aus Deutschland, Österreich, Ungarn). Sie alle entgehen nicht der Exekution. Das führt Dwinger zu einer anthropologischen Einsicht, die jene Unglücklichen und auch ihn selber als künftige Gefangene eint: „Aber wir haben hier nicht nur unsere Stärken erkannt, wir haben hier auch unsere Schwächen gefunden, unsere und die unseres Volkes. Wir wurden objektiv, bekamen, viele zum erstenmal, ein Gefühl für andere Völker. [. . . ] Und daß die Erde groß genug für alle ist und wir Versöhnung üben müssen und jedes seine Lebensrechte hat“. 35 Dwinger hat aber auch ein ideologisches Syndrom am russischen Bolschewismus wahrgenommen, das dessen Wirklichkeits-Wahrnehmung seinerseits sozusagen „idolatrisch“ entscheidend beeinträchtigen wird. Er bemerkt dort ein Transzendenzbegehren, was man auch die politisch-theologische Verkehrsform des Kommunismus nennen könnte:
31 Ebd., S. 214. 32 Ebd., S. 215. 33 Kurt Aram, Zur Vorgeschichte des Bolschewismus, in: Süddeutsche Monatshefte (Sonderheft: Bolschewismus) 1 (1919), Jg. 16, S. 222–226, hier S. 225. 34 Dwinger, Zwischen Weiß und Rot, S. 456. 35 Ebd., S. 452.
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Rußlands Unglück war, daß die Ausführung des Versuches einer kommunistischen Staatsordnung aus den Händen von Experimentierenden in die Hände von Gläubigen geriet. Wenn der Versuch in der Hand lediglich herzkalt Rechnender geblieben wäre, hätte man ihn nach einem halben Jahr, nach dem Gewinn der Erkenntnis, daß er keinerlei Lebensmöglichkeit besitzt, sicher wieder abgebrochen. Dadurch jedoch, daß er den Zügeln dieser Rechnenden entglitt und in die starke Hand Lenins und seiner Gläubigen geriet, wurde aus einem wissenschaftlichen Experiment eine Glaubenslehre, ein Dogma, das im Sinn religiöser Fanatiker nur mit dem Tode fallen gelassen wird. 36
Dies erklärt für Dwinger den mentalen Hintergrund vieler der ihn verstörenden Begegnungen mit todesbereiten Kämpfern oder Hilfswilligen auf der Gegenseite. Der Bolschewismus „könnte uns Geistigen gleichgültig sein“, so lässt Dwinger einen seiner Kameraden sagen, „wenn er den Kollektivismus nicht auf seine Fahne geschrieben hätte“, 37 – darin läge die Bedrohung Europas. In seine (deutsche) Heimat nimmt Dwinger dann die Einsicht mit, „daß der Bolschewismus kein russisches Problem ist, sondern mit seinen Armen die ganze Welt umfassen will“. 38 Das war auch eine Erfahrung, die viele Antikommunisten dann kritisch gegenüber dem Nationalismus werden lässt. Dwinger stand – wie Ernst Jünger oder sein philosophischer Freund Hugo Fischer 39 um 1930 – dem Nationalismus kritisch gegenüber: „Der Nationalismus ist seit dem Zusammenbruch [1918] ein Privilegium der Reichen geworden, das musste ihn automatisch noch um den letzten Kredit bringen. Die nationalen Parteien wurden zu Interessenvertretungen, hingen ihren Absichten aber das nationale Mäntelchen um“. 40
VI In Deutschland war man frühzeitig schon über die Dimensionen des russischen Umsturzes informiert. Man bemerkte von allem Anfang an: „Kollektivismus ist Rückkehr zur Urherde, Abstieg zum Primitiven, nicht Aufstieg zum Menschlichen!“. 41 In den Monaten, als Dwinger seine militärische Expedition durch Russland absolvierte, hat die einflussreiche Zeitschrift „Süddeutsche Monatshefte“
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Ebd., S. 67. Ebd., S. 449. Ebd., S. 459. Vgl. Hugo Fischer, Der Realismus und das Europäertum, hg. v. Steffen Dietzsch und Miloš Havelka, Berlin 2019. 40 Edwin Erich Dwinger, Auf halbem Weg, Jena 1939, S. 271. 41 Dwinger, Zwischen Weiß und Rot, S. 457.
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alle Aufsätze Maxim Gorkis aus seinem Wochenblatt „Neues Leben“ 42 (vom 31. Mai 1917 bis 6. Juni 1918) übersetzt und publiziert. Nach der Lektüre vieler dieser unfassbaren Berichte aus der sowjetrussischen Provinz stellt der deutsche Herausgeber Paul Nikolaus Cossmann die alle bewegende Frage, auch in Deutschland: „Was steht uns bevor?“. 43 Eine ähnliche Frage bewegt natürlich den Chronisten Dwinger, als er von dem erzählt, was da vom Osten über uns hereinkommt. Er wird durch seine Begegnungen dort mit den Akteuren des Bürgerkriegs von beiden Seiten der Front zu zweierlei Überlegungen gebracht. Zum ersten vermag er dem, was sich (durch den Bolschewismus) in Russland entwickelt, nichts zivilisatorisch Zukünftiges abzugewinnen; es scheint zudem als Alternative für das, was sich durch den Großen Krieg selber zerstört hat – nämlich unsere herkömmliche („westliche“) Zivilisation –, auch völlig ungeeignet zu sein. Dwingers Zeitgenosse, der Schriftsteller Essad Bey (Lev Nussimbaum, 1905–1942), schrieb 1932 über das Schicksal des weißen Russland: „Der Bolschewismus dagegen bedeutete ein Ende des altrussischen Reiches, ein Ende der staatlichen Maschinerie und das Ende aller Merkmale des bisherigen Staates“. 44 Aber, wie immer beim Nihilismus: es bleibt nicht beim Nichts! Und Dwinger identifiziert in den entfesselten zerstörerischen Operativkräften des kommunistischen Aufstands und seiner Akteure etwas, was man die Nachtseite von Produktivität, Auflehnung und Improvisation nennen könnte. „Ihr [der Roten] Unterbau war die Empörung des ganzen russischen Volkes über die Verschacherung ihres Landes durch alle Parteien [der alten Duma] an die Interventionisten. [. . . ] Trotzdem grenzte es an ein Wunder, was sie leisteten, zu welchen Taten sie die Idee der Ideenlosigkeit befähigte“. 45 Denn, so fragt ein Mitstreiter Dwingers (Ilja, „der sich selber einen Grünen nennt“ 46): was heißt denn eine Revolution? Wann macht man sie? „Immer nur in Zeiten, in denen das Individuum seelisch kollektiviert, die freie Meinungsäußerung unterdrückt wurde! Das ist ihr Sinn, solange es Revolutionen gab. . . Wo aber alleingültiges Denken diktiert wird, beginnt bereits der Keim einer neuen [Revolution] zu sprossen!“. 47 Hier liegt dann die Chance einer in Deutschland so genannten „konservativen Revolution“. Zum zweiten, und das macht den Band „Zwischen Weiß und Rot“ so zeitübergreifend bedeutsam, macht uns Dwinger die verschiedenen Akteure in
42 Maxim Gorki, Ein Jahr Russische Revolution, mit einem Nachwort von Paul Nikolaus Cossmann, in: Süddeutsche Monatshefte 10 (1918), Jg. 15, S. 6–62. 43 Paul Nikolaus Cossmann, Nachwort, in: Gorki, S. 63–72. 44 Essad Bey, Das weiße Rußland. Menschen ohne Heimat, Leipzig 1991, S. 51. 45 Dwinger, Zwischen Weiß und Rot, S. 372. 46 Ebd., S. 131. Die „Grünen“ waren im russischen Bürgerkrieg politisch nicht festgelegt auf entweder die „Roten“ (Sowjets) oder die „Weißen“ (Monarchisten), sondern waren lokale, auch anarchistische, Selbstverteidigungskräfte. 47 Ebd., S. 319.
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diesen fast naturgeschichtlichen Umwälzungen verständlich, ohne sie vordergründig moralisch abzuqualifizieren. Die Zeitgenossen begriffen an Dwingers Erinnerungen über die russische Revolution wie in keinem anderen Buch der Nachkriegszeit, was Bürgerkrieg, was die radikale „Abrechnung“ mit sogenannten morsch gewordenen Staatsordnungen und die Beseitigung der sozialen Ungerechtigkeit für die Welt bedeutet. Dwinger wächst in diesem Buch über alles Persönliche hinaus – überall bricht die Weltgeschichte hinein. Mit einer historischen Novität: „Nein, dieser Krieg ist kein Krieg mehr, er ist eine Mörderei in Massen, ist eine sadistische Orgie. [. . . ] Ich habe die Weißen verachtet, als ich ihre Taten sah – ich kann es nicht mehr, ich verstehe sie jetzt. Wer aber hat begonnen? [. . . ] Wer will hier richten? Ich steh mitten drin und kann es nicht. . . “. 48 Unser anthropologisches Wissen sieht dann Ernst Jünger durch Dwingers Tagebücher insofern erweitert, als, wie er in einer Rezension schreibt, hier „selbst ein Leser, der vorbereitet ist, in ihm der kalten, feindlichen und qualvollen Seite des Lebens zu begegnen“, 49 befürchten muss. Denn: „Für Dwingers Publikum standen nicht die ‚Stahlgewitter‘ und das Heldentum des Krieges, sondern die Zerstörung der Menschen durch den Krieg und in der Gefangenschaft im Zentrum“. 50 Dwingers Text ist – wie die Texte Jüngers – ein von unerwarteter Seite kommendes Zeugnis von der Leidensfähigkeit des Menschen, von seiner doppelten Passionsnatur (leiden zu können und leidenschaftlich zu sein), inmitten einer Machbarkeits- und Fortschrittsidolatrie, die bis heute unsere gegenwärtige Welt bestimmt. Nämlich, wie schon Goethe wusste: „Das Schaudern ist der Menschheit bestes Theil“. 51
48 Ebd., S. 144–145. 49 Ernst Jünger, Politische Publizistik 1919–1933, hg. v. Sven Olaf Berggötz, Stuttgart 2001, S. 495. 50 Schlögel, Sibirien ist eine deutsche Seelenlandschaft, S. 44. 51 Johann Wolfgang von Goethe, Werke, Erste Abt., Bd. 15.1: Faust. Zweiter Teil, Weimar 1888, S. 72.
Edward Białek und Justyna Radłowska (Uniwersytet Wrocławski)
Bilder aus der russischen Gefangenschaft in Hans Zuchholds Erinnerungsbuch „Aus der Hölle empor“ (1917) 1. Biografisches Hans Zuchholds autobiografische Aufzeichnungen 1 über das Leben deutscher Offiziere in einem sibirischen Gefangenenlager stellen eines der ersten und damit relevantesten Ego-Dokumente dar, die Aufschluss geben über die Lagerwirklichkeit in der Eingangsphase des Ersten Weltkrieges. Zu Wort kommt hier ein aufmerksamer Beobachter, dessen Bericht – auch wenn zuweilen das mit dem Deutschnationalen verbundene Subjektive die Sachlichkeit der Schilderung in Frage stellen mag – selbst einem anspruchsvollen Historiker als ergiebige Informationsquelle dienen kann. Zuchhold gehört zu den umstrittensten Literaten des ausgehenden wilhelminischen Zeitalters und der Weimarer Republik. Einerseits gepriesen als angesehener Repräsentant christlicher Lyrik und Bezugsfigur für viele aus der Mark Brandenburg und aus Niederschlesien vertriebene Deutsche, 2 andererseits abgelehnt als national bis chauvinistisch gesinnter Intellektueller, der einen nicht unbedeutenden Beitrag zur politischen und ideologischen Vereinnahmung der Texte Joseph von Eichendorffs geleistet habe 3 und – wie Wojciech Kunicki eingehend belegt – durch Gutachten sowie positive Stellungnahmen zum Geburtshelfer einer jungen nationalsozialistischen Literatur im Gau Schlesien geworden sei, 4 bleibt er eine janusköpfige Figur des ostdeutschen Schrifttums der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Als Vertreter der vorexpressionistischen Generation fand er keinen Anschluss an den Naturalismus, der in der Provinz als verpönt galt; die
1 Vgl. Hans Zuchhold, Aus der Hölle empor. Erlebnisse eines aus russischer Kriegsgefangenschaft Ausgetauschten, Berlin 1917. 2 Vgl. Edward Białek, Ein Dichter der Heide. Anmerkungen zu Leben und Werk von Hans Zuchhold. Mit einem Verzeichnis seiner Schriften, in: Manfred Durzak / Beate Laudenberg (Hg.), Literatur im interkulturellen Dialog. Festschrift zum 60. Geburtstag von Hans-Christoph Graf von Nayhauss, Frankfurt a. M. 2000, S. 155–168. 3 Vgl. Martin Hollender, Die politische und ideologische Vereinnahmung Joseph von Eichendorffs. Einhundert Jahre Rezeptionsgeschichte in der Publizistik (1888–1988), Frankfurt a. M. 1997, S. 52 und 132. 4 Vgl. Wojciech Kunicki, „. . . auf dem Weg in dieses Reich“. NS-Kulturpolitik und Literatur in Schlesien 1933 bis 1945, Leipzig 2006, S. 76, 184, 204, 457–458, 573.
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Edward Białek und Justyna Radłowska
subversive expressionistische Stimmung war zu seiner Jugendzeit noch nicht ganz aufgebrochen. So kann es nicht wundern, dass sich der promovierte Philologe der um die Jahrhundertwende aufstrebenden Heimatkunstbewegung angeschlossen hatte, wobei ihm der schlesische Realist Gustav Freytag 5 mit seinem nationalistisch geprägten Konservatismus stets ein Vorbild blieb. Zuchhold wurde am 14. Juni 1876 im niederlausitzischen Tzschecheln im Kreis Sorau, Provinz Brandenburg, geboren. Sein Vater Johann Friedrich Ernst Zuchhold, geboren am 31. Mai 1845 in Kanig (Kreis Guben), gestorben am 16. Februar 1922 in Berlin-Britz, wechselte 1877 als Pastor von Tzschecheln nach Kanig und war von 1885 an Oberpfarrer und Gefängnisgeistlicher in Triebel, einer ebenfalls im Kreis Sorau gelegenen Kleinstadt. Er war seit 1871 mit Klara Hamdorff verheiratet, Tochter des Justizkommissars Gustav Wilhelm Hamdorff. In seinen „Kindheitserinnerungen aus einem fröhlichen Pfarrhaus“ wird Hans Zuchhold viele Jahrzehnte später das Elternhaus wie folgt verklären: Unter diesem Dache herrschte der ewige Frieden. Ich habe zwischen Vater und Mutter niemals Zorn und Zank erlebt. Und ich glaube, mit meiner Mutter sich zu verzürnen war ganz unmöglich. Sie war frei von jedem Geltungsbedürfnis und von jeder Eitelkeit. Und doch beherrschte sie mit ihrer stillen Gelassenheit den Tageslauf und Lebensgang der Familie mehr als sie selber wusste. Über manche Verdrießlichkeit trug der Sinn für Humor sie hinweg, den auch der Vater besaß. 6
Zuchhold unterstreicht oft den Einfluss des Elternhauses auf seine intellektuelle Entwicklung: mehrere Wohnortswechsel ließen nämlich die Schulbildung vorübergehend in den Hintergrund treten. Den Eltern oblag es somit ziemlich oft, die Rolle der Wissensvermittler zu übernehmen; dieser Herausforderung stellten sich aber beide gern und wussten, wenigstens einen Teil des schulischen Unterrichts auszugleichen. Was ich an geistigem Besitz gewann, rührte aus dem Elternhause. Es kam von der Mutter her, die uns die Grimmschen Märchen erzählte, es kam erst recht vom Vater her, der im Herbst und im Winter an den langen Abenden, während wir Äpfel und Nüsse verzehren durften, uns gern eine Stunde vorlas. Der Robinson Crusoe, der Lederstrumpf, die schöne Magelone und die Haymonskinder, Till Eulenspiegel und Faust, der hürnene Siegfried und der Herzog Ernst, der Meyer Helmbrecht und Michael Kohlhaas wurden auf diese Weise früh vertraute Gestalten. 7
5 Dem Leben und Werk des „Soll und Haben“-Autors hat Zuchhold mehrere Aufsätze und ein Buch gewidmet: Gustav Freytag. Ein Buch von deutschem Leben und Wirken (Breslau 1926). 6 Hans Zuchhold, Bruder der Wolken und Winde. Kindheitserinnerungen aus einem fröhlichen Pfarrhaus, München 1956, S. 8. 7 Ebd., S. 8–9.
Bilder aus der russischen Gefangenschaft
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Dem Elternhaus verdankte er darüber hinaus seine tiefe Religiosität, die ihn einerseits zu einem bedeutenden Autor christlicher Lyrik werden und andererseits in einem Zustand geistiger Enge erstarren ließ. Auf diesen seinen Konservatismus schien er aber sein Leben lang stolz gewesen zu sein: „Ich bin gewiß, daß die frohe und feste Gläubigkeit von Vater und Mutter mir einen großen Schatz für das Leben mitgegeben hat, daß sie Schutzstoffe in meiner Seele schuf, die mich instand setzten, mich des Anfalls geistiger Epidemien zu erwehren. Ich bin gewiß, daß ich in Gottesferne mich verloren hätte, wenn nicht die stillen und inbrünstigen Gebete meiner Mutter mir geholfen hätten, mich unter das Kreuz zu stellen“. 8 Nach dem Abitur ging Zuchhold nach Halle, wo er sich an der dortigen Universität als Student der Theologie und Philologie einschreiben ließ. 1900 absolvierte er die Lehramtsprüfung in Deutsch, Geschichte und Religion. Anschließend promovierte er im Jahre 1905 über die lateinischen Predigten von Nikolaus von Landau. Er wirkte als Lehrer hauptsächlich in Schlesien (u. a. in Ratibor, Lauban und Jauer) und in Berlin (1906–1909). Im Frühling 1909 kam er in dem von seinem Sorauer Land nicht weit entfernten Liegnitz an. Am 1. April 1909 begann seine fast dreißigjährige Laufbahn als Lehrer und anschließend Oberstudiendirektor an der Städtischen Wilhelm-Oberrealschule und als Leiter des Städtischen Gymnasiums, die erst mit seiner Pensionierung am 1. April 1938 zu Ende war. Wenige Monate später zog sich Zuchhold in das abgelegene Riesengebirgsdorf Haselbach bei Landeshut zurück, wo seit einiger Zeit seine Freundin Käthe Figowski lebte, eine Laiendichterin. Bis zum Kriegsende arbeitete er am Gymnasium in Landeshut. Nach dem Ersten Weltkrieg gehörte Zuchhold zu den Gründern des Logaubundes Liegnitz, 9 einer Literaten- und Künstlervereinigung, die zwischen 1918 und 1923 die Entwicklung des niederschlesischen Kulturlebens wesentlich mitgeprägt hatte. Er veröffentlichte mehrere Gedichtbände und Erzählungen, galt auch als angesehener Literatur- und Theaterkritiker. Am 8. Mai 1945 heiratete Zuchhold seine Lebensgefährtin Käthe Figowski; einige Monate später am 22. Dezember passierten sie in Görlitz die neu errichtete Grenze. Von hier gelangten sie zunächst einmal nach Rothenburg in der Oberlausitz, wo ein Bruder seiner Frau gewohnt haben soll. In Bad Essen bei Osnabrück, wohin es die Zuchholds wenige Wochen später verschlagen hatte, entstehen Erzählungen und lyrische Bilder, in denen die nur zeitweise verloren geglaubte ostdeutsche Heimat wieder erscheint. Der einstige Reserveoffizier und Kriegsgefangene ernennt sich zum Ankläger, der die Belange der Vertrie-
8 Ebd., S. 117. 9 Näheres bringt die Monografie von Edward Białek, Der Logaubund Liegnitz und die Zeitschrift „Die Saat“ in der literarischen Kultur Niederschlesiens nach dem Ersten Weltkrieg, Dresden 2012.
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benen wahrnehmen will. 10 Der ungeheure Akt der Vertreibung ruft bei ihm Trauer und Wut über das Unrecht, das der ostdeutschen Bevölkerung angetan worden sei, hervor. Eine Wiederentdeckung Zuchholds nach dem Zweiten Weltkrieg erschien in vielerlei Hinsicht erschwert oder gar unmöglich: zu den üblichen Beschwernissen eines Vertriebenen kamen noch Sanktionen seitens der Besatzungsbehörden hinzu: sein 1937 erschienener Roman „Vier Soldaten der Roten Armee. Roman aus Sibirien“ wurde auf den Index gesetzt. 11 Man kann nur staunen über den Elan des alliierten Zensurapparates, dessen Beamte sich höchstwahrscheinlich lediglich mit dem „bolschewistisch“ anmutenden und im übrigen nicht besonders glücklichen Titel dieses in der Tat recht harmlos wirkenden Abenteuerromans vertraut gemacht haben. Im Zentrum des äußerst spannenden, am Rande der Russischen Revolution spielenden Romans stehen schließlich keine etwa antiamerikanisch gesinnten Rotarmisten, sondern vier als Soldaten der Roten Armee verkleidete deutsche Kriegsgefangene, die trotz ihrer hoffnungslosen Lage eine Flucht aus dem im Bürgerkrieg versunkenen Russland wagen. Was man dem Autor eventuell vorhalten könnte, ist eine sich zur Tendenz steigernde Verherrlichung der „deutschen“ Tugenden, wobei gleich gesagt werden muss, dass hier die „russische Seele“ ähnlich glorifiziert wird.
2. In der sibirischen Hölle. Darstellungen des Alltags in einem russischen Gefangenenlager Zuchholds erste Berührung mit dem Soldatenleben begann im Anschluss an sein Studium an der Universität Halle: am 1. April 1901 kam er als EinjährigFreiwilliger in Cottbus an. „Nach sechs Monaten wird er Gefreiter, vier Jahre später, am 28. September 1905, erfolgt die Beförderung zum Unteroffizier der Reserve. Mit Kriegsausbruch sehen wir ihn als Leutnant, und zum Kriegsende ist er als Träger des Eisernen Kreuzes I. und II. Klasse Oberleutnant der Reserve“. 12 Erst viele Jahre nach der Beendigung des Freiwilligen-Dienstes macht er die Cottbuser Erinnerungen zum Gegenstand seines literarischen Schaffens: 1918 erscheint ein „Manövernacht 1901“ betiteltes Gedicht, in dem das Kameradschaftsgefühl der Sehnsucht nach dem geliebten Menschen restlos
10 Vgl. etwa Gedichte: Gebet der Vertriebenen, in: Schlesier-Jahrbuch (1956); Am Heerweg, in: Hanns Gottschalk (Hg.), „Und die Welt hebt an zu singen“. Anthologie schlesischer Lyrik, Buxheim a.d.I. 1958, S. 88. 11 Sebaldus-Verlag (Nürnberg 1937); die zweite Auflage erschien u.d.T. „Der Weg zum Vaterland“. Vgl. Deutsche Verwaltung für Volksbildung in der sowjetischen Besatzungszone. Liste der auszusondernden Literatur, Nr. 13274. Unter: http://www.polunbi.de/ bibliothek/1946-nslit-y.html [letzter Zugriff: 11. 02. 2020]. 12 Hans Lindemann, Hans Zuchhold – Dichter und Lehrer. Skizzen seines Lebens, Hofheim a.T. 2010, S. 50–51.
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unterliegt. 13 Bereits im ersten Kriegsjahr wurde er als Leutnant der Landwehr (3. Ersatz-Maschinengewehrkompanie) am Totensonntag, d. h. am 20. November 1914, in der Nähe von Lodz schwer verwundet und geriet in russische Gefangenschaft. Es verschlug ihn nach Kasan, wo er beinahe eineinhalb Jahre blieb. Im Frühling 1916 konnte er im Austausch über Schweden nach Deutschland zurückkehren. Nach der Heimkehr konnte er seine Offizierslaufbahn erst nach einem Aufenthalt im Posener Festungs-Lazarett, in dem er monatelang behandelt wurde, fortsetzen. Als Oberleutnant ist er dann im Bezirkskommando Liegnitz tätig und gegen Kriegsende gelangt er nach Sprottau, wo er in einem Kriegsgefangenenlager dient. Und so schließt sich der Kreis: der einstige Gefangene wird zum Aufseher, der nun das Lagerleben von der anderen Seite beobachten kann. Nach der Auflösung des Lagers blieb Zuchhold noch bis zum 1. Mai 1919 im Garnisonsdienst in Liegnitz. Nach dem Ausbruch des dritten oberschlesischen Aufstands begab sich der patriotisch gesinnte Oberlehrer nach Kreuzburg, wo seinerzeit der von ihm verehrte Gustav Freytag lebte. Nach seinen eigenen Angaben habe er während seines ganzen oberschlesischen Einsatzes die Stadt nicht verlassen und an den Militärgefechten am Fuße des zur Legende gewordenen Annabergs nicht teilgenommen. Ein durchaus falsches Bild des Dichters, das eines zum Krüppel zerschossenen deutschen Soldaten, der – trotz seiner im Kampf gegen den Feind erlittenen Verstümmelung – zu Pferde nach dem von polnischen Insurgentenhaufen bedrohten Oberschlesien eilt, entwirft dagegen Hans Christoph Kaergel, ein Schriftsteller und Kulturfunktionär, der sich schon früh mit den Nationalsozialisten zu alliieren wusste. Er versucht, indem er seinen Liegnitzer Kameraden vom Logaubund nach dem Vorbild des einarmigen Generals Hoefer zu einem tapferen Annabergkämpfer stilisiert, dem Dichter vor allem „den soldatischen Geist“ zuzuschreiben. 14 Für ihn ist Zuchholds Buch „Aus der Hölle empor“ lediglich ein Beispiel für Memoiren eines in seinem Handwerk gescheiterten Kriegers: Mit zerschossenem Bein geriet er in sibirische Gefangenschaft, und das erste, was wir aus dieser Hölle hörten, in die unsere Krieger hineingerissen wurden, stammte von Hans Zuchhold. [. . . ] In knapper, ausgesparter Sprache, fast mit soldatischer Genauigkeit, berichtete er aus dieser Leidenszeit. Das Heldentum des Kriegers, der ohne Waffe hinterm Stacheldraht durch aufrechte Gesinnung sich nur als deutscher Mensch beweist, ist hier einmalig gestaltet worden. Es wird dieses Buch „Aus der Hölle empor“ mit zu den Standardwerken unserer Kriegsbücher gehören und ein Heldenlied bleiben, auch wenn es nur ein Lied des Leides ist. 15
13 Hans Zuchhold, Manövernacht 1901, in: Ders., Drei Kränze. Ausgewählte Gedichte aus zwanzig Jahren, Glogau 1918, S. 84–85. 14 Vgl. Hans Christoph Kaergel, Schlesische Dichtung der Gegenwart, Breslau 1939, S. 118. 15 Ebd., S. 117.
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Zuchhold selbst beurteilt eher sarkastisch seine vorgebliche „militärische Veranlagung“, die er als Kind in sich entdeckt habe: „Ich hätte ein zweiter Moltke werden müssen, der Marschallstab schien mir angeboren zu sein. Doch habe ich später als Einjährig-Freiwilliger nicht ohne Mühe es geschafft, einen Zug Soldaten richtig über den Rinnstein zu bringen“. 16 In ihren Erwägungen über den Stellenwert von Kriegstagebüchern innerhalb des umfangreichen Schrifttums, in dem auf individuelle Wahrnehmung von nicht selten dramatischen und auf militärische Einsätze zurückgehenden Geschehnissen fokussiert wird, unterstreicht Tatjana Kuharenoka die didaktische Funktion von derartigen Ego-Dokumenten: Unter den verschiedenen Formen der autobiographischen Äußerungen – der eigentlichen Autobiographien, Memoiren, Tagebüchern, Briefen, die sich in ihrer Vielfalt von Formen, Inhalten und Funktionen wesentlich unterscheiden – nehmen die Aufzeichnungen, in denen große gesellschaftliche Ereignisse, darunter auch der Erste Weltkrieg, reflektiert werden, einen besonderen Platz ein. Sie bilden nach wie vor einen wesentlichen Bestandteil der aktuellen Auseinandersetzungen über die Geschichte des Kriegs und helfen nicht zuletzt, diese historischen Ereignisse besser zu verstehen. 17
Es müsste aber noch ein weiterer Aspekt der Erinnerungsliteratur genannt werden – sie lässt nämlich die individuelle Biografie wesentlich ergänzen, was im Falle von historischen Persönlichkeiten sich als besonders wichtig erweisen kann. Spezifische Umstände, in die ein Kriegsteilnehmer gerät, stellen an ihn ganz neue Erfordernisse, er sieht sich neuen Herausforderungen, Gefahren und einem bislang nicht erfahrenen Entscheidungszwang ausgeliefert. So können selbstdarstellenden Aufzeichnungen viele wertvolle Daten entnommen werden. Deswegen sollten die aus der neuen Situation resultierenden Haltungen, die von dem Betroffenen gewählten Lösungen, die Art und Weise, wie er sich in den Kriegsalltag einlebt, eingehend untersucht werden – nur dann können neue Erkenntnisse gewonnen werden. Diese Überzeugung liegt auch der im Folgenden vorzunehmenden Interpretation von Hans Zuchholds Kriegserinnerungen zugrunde. Die in ihrem Titel angekündigte „Hölle“ wird durch zahlreiche Beispiele von Regungen des Mitleids, der Menschlichkeit, die – mitten im Kriegsgeschehen – etwas befremdend anmuten können, relativiert. Der Ich-Erzähler ist bestrebt, all diese Splitter der Humanität sorgfältig aufzulesen und dem Leser mitzuteilen. So entstand eine Schilderung, die nicht einmal der Einseitigkeit bezichtigt werden könnte. Vielmehr handelt es sich um eine in jeder Hinsicht sachliche Darstellung des durchaus tragischen 16 Hans Zuchhold, Bruder der Wolken und Winde, in: Ders., Bruder der Wolken und Winde, S. 54. 17 Tatjana Kuharenoka, Erleben und Erinnern. 1914 in der österreichischen Diaristik, in: Milan Tvrdík / Harald Haslmayr (Hg.), Frieden und Krieg im mitteleuropäischen Raum. Historisches Gedächtnis und literarische Reflexion, Wien 2017, S. 51.
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Schicksals von Kriegsgefangenen, in der relativ oft auch der deutschnationale Gedanke entschieden in den Vordergrund tritt. Seine zum Teil dramatischen Erlebnisse in Russland brachte Zuchhold bereits 1917 zu Papier, was ihn wohl in die Reihe der ersten Weltkriegsberichterstatter stellt. An die Genese des hier zu besprechenden autobiografischen Buches sei noch einmal kurz erinnert: 1914 zog der Nationalgesinnte voller Enthusiasmus als Kompanieführer in den Krieg. Wegen einer schweren Verwundung, die er im Herbst des ersten Kriegsjahres bei Lodz erlitt, war seine militärische Laufbahn vorerst abgebrochen. Er geriet anschließend in russische Gefangenschaft und wurde nach Sibirien verschleppt. Die Heimkehr konnte erst 1916 im Verwundeten-Austausch über Schweden erfolgen. Im Januar 1919, also zwei Jahre nach dem Erscheinen seines Berichts über die russische Gefangenschaft, schied er aus dem Heer aus. Seine Erinnerungen, „Aus der Hölle empor. Erlebnisse eines aus russischer Kriegsgefangenschaft Ausgetauschten“ überschrieben, die die „ersten Veröffentlichungen dieser Art waren und deshalb viel Aufsehen machten“, 18 stellen einen Versuch dar, die Tragik des individuellen Schicksals dem Los des Volkes unterzuordnen. Dies lässt sich schon in der ersten Szene an der Beschreibung der verhängnisvollen Verwundung erkennen: es handelt sich nämlich um einen sehr sachlichen Bericht, ohne dass daraus die Folge einer Heldentat gemacht wird. Das Grausame des Kriegsgeschehens wird dem Leser mit aller Intensität vor Augen geführt: Der Richtschütze neben mir stößt plötzlich einen gellenden Schrei aus, dann, den Kopf nach vorn, fällt er schwer in die Ackerfurche. Ganz mechanisch greife ich in die Kufe des Maschinengewehrschlittens, als wollte ich ihn vorwärts schieben. Dabei wende ich im Knien den Kopf. Wie kann ein Mensch so furchtbar schreien, denke ich. In dem Augenblick schlägt mir der Schmerz wie ein Hammer vor die Stirn. Ganz langsam, lautlos sinke ich nach der Seite um. [. . . ] Während ich falle, sehe ich, wie das Blut unter der Handwurzel vorschießt, aber ich fühle auch, daß der Hammerschlag gegen die Stirn ein Schuss in das Bein war. Es ist so, als ob das Bein vom Knie ab losgerissen wäre. 19
Der Schwerverwundete wartet zunächst einmal auf den Tod: „Ich lege mich wieder zurück und warte auf meine Kugel. Es ist kein gleichgültiges Warten mehr, es ist ein dumpfes Hoffen auf die Erlöserin. Schrapnelle singen über uns hin, aber keins kommt zu uns“ (S. 8). Aber bald keimt ein starker Lebenswille wieder auf: „Ich setze mich auf und tue ein paar tiefe Züge. Und mich durchrieselt ein ganz sonderbar warmes und nie vorher empfundenes gewaltiges Gefühl: ‚Ich lebe noch!‘. Ich denke in dieser Sekunde gar nicht an das Elend der Gefangenschaft, nicht an meine Verwundung, ich empfinde nur staunend
18 Arno Lubos, Geschichte der Literatur Schlesiens, München 1967, Bd. II, S. 488. 19 Zuchhold, Aus der Hölle empor, S. 7. Alle Zitate sind dieser Ausgabe entnommen. Sie werden durch Angabe der entsprechenden Seite im Haupttext nachgewiesen.
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und unsagbar froh, daß ich das Leben habe“ (S. 9). Die Gefangennahme wird als ein jede Konvention verletzender Akt des Terrors des russischen Feindes betrachtet: „Ein deutscher Offizier ist eingeliefert worden, ausgeplündert bis aufs Hemd, von Kolbenhieben auf den Schädel bewusstlos hat er die Nacht im Schnee gelegen. Gehirnerschütterung zeigt sich bald unverkennbar, er ist nur noch zeitweise klar. Er wird sterben; jung verheiratet!“ (S. 16). In die Beschreibung seines eigenen Schicksals blendet der Erzähler mehrmals Erzählungen seiner ebenfalls verwundeten Kameraden ein, die Aufschluss über die meist tragischen Umstände der Gefangennahme geben. Einer ist nur durch Zufall der Ermordung entgangen, ein Fähnrich von der Kavallerie. Er lag, verwundet und gefangen, mit ein paar Dutzend Kameraden in einer Scheune. Da kamen Kosaken, drangen ein und stachen mit ihren Lanzen solange auf die Wehrlosen ein, bis sie sie alle tot glaubten. Der Fähnrich, der nur ein paar verhältnismäßig harmlose Stiche erhielt, stellte sich leblos. Aber als die Kosaken am anderen Morgen fortritten und er herauskam aus der Scheune, war er der einzige Überlebende. (S. 16–17)
Zuchholds klassisch-humanistische Gesinnung lässt ihn selbst die flüchtigsten Begegnungen mit zu Hilfe eilenden Menschen dankbar aufzeichnen. Da sich die Handlung zum Teil in dem von Russen besetzten Landstrich zwischen Lodz und Warschau abspielt, kommt es immer wieder zu Kontakten des IchErzählers mit Polen. Polnische Bauern, Priester, adelige Damen und Krankenschwestern, denen er auf seinem Leidensweg begegnet, sind fast ausnahmslos positive Gestalten. Der Verwundete wird zunächst auf einem Pferdewagen Richtung polnische Hauptstadt befördert. „Manchmal rufe ich meinem polnischen Jüngling, der die Rosse lenkt, daß er mir die Füße zudecken soll. [. . . ] Die Decke, die er nun drüber schiebt, nützt aber nicht viel“ (S. 13). Mehr als der arme Bauernjunge können für ihn andere Polen tun. „Eine polnische Lehrerin kommt zu uns, sie besorgt mir warme Schuhe, ich werde in ein anderes freundlicheres Zimmer gebracht, da steht sogar ein Bett für mich. ‚Fräulein X.‘, sagt sie, ‚hat Ihnen für diese Nacht ihr eigenes Bett herbringen lassen, und morgen kommen Sie in ein richtiges Spital, mit russischen Offizieren zusammen‘“ (S. 15). Toleranz bescheinigt er einem polnischen Geistlichen, der – im Unterschied zu einem griechisch-katholischen Kaplan, der sich um Andersgläubige gar nicht kümmert – sich des leidenden deutschen Leutnants freundlich annimmt: „Der römisch-katholische Geistliche besucht uns, die Gefangenen. Obwohl ich nicht seines Glaubens bin, unterhält er sich gern mit mir. Da ich sein Polnisch nicht verstehe, bringt er mir einen EsperantoSprachführer. Er selbst ist begeistert dafür. Also reden wir halb Latein, halb Esperanto“ (ebd.). Die in dem von Russen besetzten Teil Polens verbrachte Zeit ist für den Gefangenen eine Zeit der Hoffnung. Von der Zivilbevölkerung erfährt er nämlich, dass die Deutschen in der Nähe seien. Die Hoffnung regt sich, doch bald geht der Transport weiter ostwärts. „Die Deutschen kommen! Aber uns können sie nicht mehr einholen; es ist endgültig vorbei mit aller
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Hoffnung. Immer ferner dem Getöse der Schlacht trägt uns der Zug nach Osten: Polens Hauptstadt entgegen“ (S. 18). Der Traum von einem baldigen Ausbruch aus der Hölle konnte vorerst nicht in Erfüllung gehen. Drei Nächte und Tage verbringt der Verwundete in polnischen Bauernhütten, die nun die fehlenden Lazarette ersetzen. Dann kommt die erste längere Fahrt Richtung Osten; als Beförderungsmittel dient ein Pferdewagen, gelenkt von dem bereits erwähnten „polnischen Jüngling“. In einem auf der Strecke nach Warschau gelegenen Ort begegnet er wieder hilfsbereiten polnischen Menschen: „Auch Damen aus der Stadt besuchen uns, bringen uns Wäsche, warme Handschuhe, Obst, Zigaretten. Eine von ihnen wäscht uns Gesicht und Hände und Füße. Die Blutkruste kommt endlich herunter. Sie merken sich unsere Namen“ (S. 16). Auch hier wimmelt es von widerspruchsvollen Gerüchten, die die Situation an der Front betreffen. „Wir erfahren, daß die Deutschen nicht mehr weit sind. Frische Hoffnung regt sich. Neue Verwundete treffen ein. Zwei deutsche Korps sind umzingelt, heißt es. Und dann wieder sagt ein russischer Offizier: ‚Nein, es besteht die Gefahr, daß wir eingeschlossen werden‘. ‚Eins von beiden wird gewiss geschehen‘, erwidert der russische Arzt“ (ebd.). Auf dem Bahnhof in Warschau, wo er auf Einweisung ins Lazarett beinahe zwei Tage lang warten muss, begegnet er u. a. polnischen Helfern und Helferinnen vom Roten Kreuz, die ihm Tee bringen. „Unter diesen Damen sah ich Frauen von ganz ungewöhnlicher Schönheit, von großer Anmut und königlicher Haltung“ (S. 19). Allerdings bildet der Aufenthalt in der polnischen Metropole „keine erfreuliche Erinnerung“ (ebd.). Auf dem langen Weg nach Kasan stellt der Erzähler genaue Beobachtungen an: er registriert nicht nur das Elend seiner Leidensgenossen, der deutschen, österreichischen und ungarischen Kriegsgefangenen, sondern auch die Tragödie von vielen Flüchtlingen, darunter auch Polen, deren Schicksal ihm nicht gleichgültig ist: Unsere unglücklichen Schicksalsgefährten, die hier schon an Hungersentkräftung und Kälte oder an Seuchen starben, bilden doch nur einen kleinen Teil von den Abertausenden, die dort verscharrt liegen. Da liegen an der Bahnstrecke, an der Straße nach Smolensk und Moskau viele, viele Greise, Frauen und Kinder, Flüchtlinge aus Wolhynien und Polen und Litauen und Kurland, welche die unbarmherzige Entschlossenheit des russischen Heerführers zwang, obdachlos und bettelnd in den Winter hineinzuwandern. (S. 65)
Polnischen Menschen begegnet der Erzähler auch im Gefangenenlager von Kasan. Er erwähnt z. B. einen jungen polnischen Kadetten, der „nachts sich in Krämpfen schüttelt und tagsüber nur an schöne Frauen denkt. [. . . ] Auch eine polnische Freiwillige, Studentin von Hause, jetzt in der kleidsamen Uniform eines österreichischen Korporals, klein, das Haar kurz geschnitten, mit energischen, fast männlichen Zügen, teilt einige Tage mit uns die Herberge“ (S. 117). Polen gibt es auch unter den Zivilgefangenen, mit denen er beim Einkaufen in Berührung kommt. „Es sind aus Galizien fortgeschleppte Deutsche, Polen und Juden. Ihnen geht es weit schlechter als uns, der russische Staat gibt ihnen
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monatlich ganze zehn Rubel! Oft mögen sie nicht einmal das bekommen, sind auf Almosen, auf barmherziger Menschen Hilfe angewiesen!“ (S. 93). Das Gefangenenschicksal verbindet also Angehörige verschiedener Nationen. Was aber die deutschen Gefangenen so richtig vereint, ist ihre Abneigung gegen die Franzosen, die der Erzähler abschätzig „Franzmänner“ (S. 118) nennt, und die er wenige Jahre später als Polens Komplizen im Kampf um Oberschlesien der Verschwörung gegen Deutschland bezichtigen wird. In Zuchholds Aufzeichnungen wird auch der vermeintliche deutsch-polnische bzw. deutschslawische Gegensatz thematisiert. Der Erzähler berichtet nämlich über einen alten Bekannten aus der ersten Zeit der Gefangenschaft. Weil er einen polnischen Namen trägt, hat der Hauptarzt ihn mehrfach schon gedrängt, er solle sich als Pole ausgeben, dann würde er in ein besseres Hospital kommen. Er hat aber jedesmal rund heraus abgelehnt und erklärt, er sei ein Deutscher und wolle das Los aller Deutschen teilen. [. . . ] Auch ein tschechischer Kamerad hat sich ebenso brav benommen und ist wohl schon nach Sibirien unterwegs. (S. 28– 29)
Dieses Thema nimmt Zuchhold in der 1934 erschienenen Kurzgeschichte „Deutscher oder Pole“ wieder auf. Auch hier wird das Schicksal eines deutschen Kriegers mit polnischem Nachnamen geschildert, der in russische Gefangenschaft gerät und nicht bereit ist, die Privilegien in Anspruch zu nehmen, die polnischstämmige Soldaten des wilhelminischen Heeres genießen können. Hier erhält der Protagonist auch einen konkreten Namen. Man schaffte den Todkranken in die Baracke der Aufgegebenen. Dort starb er einen qualvollen Tod. Nur ein Aufenthaltswechsel und eine andere Kost hätte ihn retten können. Vierzehn Tage lang litt er, ehe er erlöst wurde. Aber bis zum letzten Atemzuge blieb Katschinski ein Deutscher. Für Deutschland ist er gestorben. Viele starben vor ihm, mit ihm, nach ihm! Wir wollen sie nicht vergessen, die vielen, deren Namen wir nicht einmal wissen. 20
So suchte Zuchhold, bald nach der nationalsozialistischen Machtübernahme, sich dem neuen Regime als dienlich zu erweisen. Den Ich-Erzähler begleitet von Anfang an der Gedanke an die Flucht. Nachdem er wieder zur Besinnung gekommen ist, sucht er sofort nach seinem Revolver: „Er ist schon weg. Gefangen also? Wehrlos gefangen! [. . . ] Ich denke an Flucht, aber ich bin zu schwach, und die geringste Bewegung verursacht unbeschreibliche Schmerzen“ (S. 8, 11). Auch später, selbst kurz vor der Entlassung aus der Gefangenschaft, ist der Gedanke an einen Ausbruch aus der sibirischen „Hölle“ stets präsent. Während einer Dampferfahrt erwägt er die Flucht, doch er lässt die Idee fallen, sobald er sich die Erzählungen seiner Leidensgenossen in Erinnerung bringt: 20 Hans Zuchhold, Deutscher oder Pole?, in: Schlesische Monatshefte. Blätter für nationalsozialistische Kultur des deutschen Südostens 7 (1934), Jg. 11, S. 257.
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Wie sie aufblitzen und leuchten, die schäumenden Kämme der Wolgawogen! Breit war der Strom schon, als unser Dampfer die Fahrt begann, aber noch blieben die Ufer uns sicher zur Seite, jetzt aber scheint das Wasser ins Unermessliche sich zu weiten. [. . . ] Plötzlich durchzuckt mich der Gedanke: Flucht. Über Bord springen. Niemand wird es sehen oder hören. Aber käme ich in dieser Wasserwüste an das Ufer? Mir fällt die Geschichte zweier Kriegsgefangener ein, die den Versuch gemacht haben, glücklich an den Strand gelangten und dort von den Bauern festgenommen wurden. In den sibirischen Lagern sind Fluchtversuche an der Tagesordnung, beinahe Sport. Aber sie gelingen fast nie. Denn die Händler, die für viel Geld die falschen Pässe beschaffen und die Bauernkleider, verdienen das Doppelte, wenn sie die Flüchtlinge an die russische Polizei verraten. Hier, in meiner gegenwärtigen Lage, wäre der Versuch zu entkommen, Wahnsinn. (S. 76–77)
Als eine Art Kompensation der intendierten, jedoch nie in die Tat umgesetzten Flucht kann wohl das in dem bereits erwähnten Roman „Vier Soldaten der Roten Armee“ dargestellte Bild von vier deutschen Ausbrechern gelten, die Zuchhold der „russischen Hölle“ entkommen und glücklich ins ersehnte Vaterland zurückkehren lässt. Viel Platz widmet der Ich-Erzähler der Beschreibung von Aktivitäten der Gefangenen, die ihnen eine Art Normalität gewährleisten könnten. Gern verbringen sie die Zeit beim Liedersingen: Wenn es dämmert, beginnt des Tages schönste Stunde, die Singstunde. Kommerslieder, Wanderlieder, Soldaten- und Liebeslieder, auch manches Lied unserer Kirche, werden angestimmt. Wir haben ein paar gute Stimmen drunter und ich kenne wenigstens viele Texte: „Ein feste Burg“, „Wir treten zum Beten“, „Es braust ein Ruf wie Donnerhall“, das sind unsere feierlichsten Weisen, die nicht jeden Tag gesungen werden dürfen. (S. 90)
Unter den Kartenspielen wird Whist bevorzugt: „Wir machen vorher aus, ob mit oder ohne Mogeln gespielt werden soll. Um Geld wird nie gespielt. Denn Geld hat nur unsere Kasse, keiner von uns besitzt auch nur eine Mark für sich“ (ebd.). Unter den gefangenen Offizieren gibt es viele, die sich ihre Zeit mit der Lektüre von literarischen Texten vertreiben. „Zum Hinbringen der langen grauen Tage stehen uns deutsche Bücher zur Verfügung: Kellermanns ‚Tunnel‘ ist da. Ich selber lese in aller Gründlichkeit Goethes ‚Wilhelm Meister‘ und Shakespeares ‚Königsdramen‘“ (S. 121). Literarische Anspielungen findet man wohl in jedem der 14 Kapitel; selbst in einigen Kapitelüberschriften, wie etwa in der „Robinsonade“, lassen sich Spuren von Zuchholds früheren Lektüren erkennen. Eine davon stellt ein Zitat aus Homers „Odyssee“ dar, und zwar das Klage- und Ermannungswort des Odysseus: „Dulde auch dies, mein Herz“ 21
21 Vgl. Joachim Wohlleben, Die Sonne Homers. Zehn Kapitel deutscher Homer-Begeisterung von Winckelmann bis Schliemann, Göttingen 1990, S. 11.
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(S. 112); ein anderes Kapitel dagegen ist „Frühlings Erwachen“ (S. 123) überschrieben. Während der Zugfahrt in Schweden stellt der Ich-Erzähler beglückt fest: „Eine Bücherei ist da, ich kann die Novellen der Selma Lagerlöf lesen oder den neuesten Ganghofer“ (S. 141). Lagerlöf erwähnt er noch einmal, als der Zug Dalekarlien verlässt: „Das Land der schönsten Erzählungen der Selma Lagerlöf bleibt hinter uns“ (S. 142). Zum Alltag der gefangenen Offiziere gehört die Sehnsucht nach Frauen. Man verlangt nach körperlichem Kontakt, zumal es in der Umgebung von willigen Damen wimmelt; man beneidet die wenigen Glücklichen, denen es gelang, ihren Wächter zu bestechen und die Nähe einer Frau zu genießen. Recht viel Anteil an uns nimmt auch das weibliche Geschlecht. Aber unsere Fenster sind fest verschlossen. Man kann wohl sehen, daß „man“ Briefe für uns in der Hand hält, jedoch der einzige Versuch, vom Hoftor her einen schriftlichen Verkehr anzuknüpfen, wurde von unserem Wehrmann vereitelt. Hätten wir Geld, würden wir rasch einen bequemeren Ersatzmann erhalten. Österreichische Kameraden, die ja monatlich über fünfzig Rubel verfügen, haben manche Freiheit heimlich genossen, weil es ihnen auf ein paar Rubelchen nicht anzukommen brauchte. So bleiben die Beziehungen zur Frauenwelt platonisch. (S. 95–96)
Wem die körperliche Liebe vorenthalten bleibt, den kann immer noch seine Heimatliebe stärken. So ergeht es auch dem Ich-Erzähler. Immer wieder wird in seinem Bericht die Erinnerung an Schlesien bzw. an die lausitzische Landschaft wach. Wir überschreiten die Wolga in ihrem Oberlauf, wir begegnen hier und da einer größeren Stadt, aber immer wieder hüllt Wald uns ein. Am Nachmittage erinnert mich diese Kiefernlandschaft mit ihren welligen Sandhügeln, ihren schmalen Wasserläufen, Talfurchen, ihren Birken an meine Heimat. [. . . ] Wer im Frühlingsbeginn am Südrande der Mark Brandenburg oder im nördlichen Schlesien mit einer Kleinbahn durch die Heide fährt, hat kaum ein anderes Bild. Das Bild eines Gebirges, das langsam und tief, tief im Sande verschüttet ist, dessen Grab die Kiefern überragen. (S. 130–131)
Die schlesische Gebirgslandschaft kommt dem Ich-Erzähler auch in Schweden in den Sinn: „Mit Kiefern und Fichten bestandene Bergzüge begleiten uns zur Rechten und zur Linken, Granitblöcke ragen überall aus dem Schnee. Ich denke an mein schlesisches Isergebirge. Wenn eine Bahn quer hindurch zwischen den Kammwellen liefe, würde das Bild im Winter kaum anders sein als dies“ (S. 140). Das Heimweh überkommt den gläubigen Pastorensohn und seine Leidensgenossen mit besonderer Intensität in der Adventszeit. Außer den Liedern und dem Christbaum soll es auch traditionelle schlesische Gerichte geben. Wir stimmen schon manchmal das alte Weihnachtslied an: „Es ist ein Ros’ entsprungen“. Und fühlen etwas von vorweihnachtlicher Kindererwartung. Oh, wenn wir uns doch einen Tannenbaum kaufen könnten und Lichter daran an-
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zünden! Vielleicht, vielleicht! Wenn ein Tannenbaum hier überhaupt aufzutreiben ist. Und wenn Geld da ist. Unser Vergnügungsrat sagt: „Der Baum muss sein! Und schlesisches Himmelreich mit Rauchfleisch muss es geben zum ersten Feiertag. Und Kaffee hinterher und Kuchen“. (S. 97)
Der Ich-Erzähler registriert dankbar jedes Solidaritätszeichen seitens der russischen Menschen. „Hass oder Abneigung treten uns hier von keiner Seite entgegen, einfache Leute, deren Söhne in Deutschland gefangen sind, treten oft mit Fragen an uns heran, sind uns in kleinen Diensten gefällig“ (S. 92 – 93). Einer der ersten Russen, der ihm Hilfe anbietet, ist ein Jude: „Einmal schlich sich ein russischer Soldat heran und gab mir einen Bissen Brot, dick mit Honig belegt, den er in einer Büchse in einem Sack trug. Er setzte sich zu mir und sah zu, wie es mir schmeckte. ‚Ich bin a Jid‘, sagte er. ‚Sind Sie ach a Jid?‘. Den Gefallen konnte ich ihm allerdings nicht tun. Aber wir unterhielten uns eine ganze Weile, obwohl es mir schwer fiel, sein Jiddisch-Deutsch zu verstehen“ (S. 20). Russische Menschen seien „oft so naiv wie Kinder! Es führt einer sein Grammophon vor. Lächelnd streicht er den Beifall ein und fragt: ‚U was tosche?‘ (Gibt es das bei euch auch?). Wie oft habe ich diese Frage gehört! Sie haben so gar keine Vorstellung, wie es in andern Ländern zugehen kann. Sie würden sich wirklich wundern, daß bei uns auch die Sonne scheint“ (S. 93). Der Russe wird in den Augen des Erzählers zum Inbegriff des naiv-religiösen Menschen, der große Achtung „vor alledem hat, was mit dem Himmlischen in Zusammenhang steht“ (S. 91). Es wimmelt aber in Zuchholds Erinnerungen auch von klischeehaften Bildern, die den Russen als Betrüger und Dieb darstellen, darunter auch als den beinahe sprichwörtlichen Uhrendieb: „Die Kameraden erzählen, wie es ihnen bei der Gefangennahme ging. Den meisten hat man Uhr und Geld genommen“ (S. 16). Russland erscheint in den einzelnen Beschreibungen als ein im Chaos versunkenes Land, als eine Stätte wirtschaftlicher und geistiger Rückständigkeit. An der ökonomischen Misere der Bevölkerung, so erfährt wenigstens der Ich-Erzähler in seinen zahlreichen Gesprächen mit den Einheimischen, sei die allgegenwärtige Korruption schuld. Er führt dem Leser Beispiele von Bestechungsaffären an, von denen keine aufgedeckt werden konnte, da die legendären russischen Revisoren entweder bestechlich seien oder sich einfach an der Nase führen ließen. Was ihm überall auffällt, ist die uneingeschränkte und unkontrollierbare Macht der Beamten, die den einzelnen Bittstellern viel versprechen, aber nichts tun, um dem entstandenen Übel abzuhelfen. In Russland sei „das Papier heilig. Wer seine ‚Bumaga‘ in Ordnung hat, wandelt ungestraft unter Palmen. Niemand fragt, wie es in die Papiere hineingekommen ist, wieviel Rubel die gute ‚Bumaga‘ gekostet hat. Wer viel Geld besitzt, kann von heute auf morgen ein zuverlässiger Mensch werden, kann einen anderen Namen tragen“ (S. 60). Der Russe erscheint in Zuchholds Erinnerungen als kriegsmüde, er sei „so leicht geneigt, an Mißerfolg zu denken!“ (S. 125). Die zunehmende Kriegsmüdigkeit der russischen Bevölkerung, Niederlagen in der militärischen Ausein-
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andersetzung mit Deutschland führten, so der Ich-Erzähler, zu Ausschreitungen gegen in Russland lebende Deutsche. An mehreren Stellen äußert er sich über die Lage der Deutschen in Russlands Großstädten und in der Provinz: Einmal gerät einer von uns ins Gespräch mit einem blassen, noch recht jungen Mädchen. [. . . ] Es ist eine Deutsche gewesen, die in einem guten Hause Erzieherin war, im Kriege hat man sie wie viele tausend andere ins Innere Rußlands verschleppt, überall hat sie hungern müssen, und jetzt eben wird sie wieder in eine ihr noch unbekannte Stadt geschickt. [. . . ] Welch Elend mag hinter ihr liegen, und welch entsetzliches Los steht ihr vielleicht bevor! (S. 109)
In Moskau, wo der Ich-Erzähler eine Zeitlang in einer „Invalidensammelstelle“ verbringt, sind die Krankenhäuser überfüllt, es gibt nicht genug Lebensmittel, eine Hungersnot droht. Man fürchtet, es könne wieder zu einer Volkserhebung wie der vom Juni 1915 kommen. „Damals entlud sich durch die geschickte Hetze der Polizei die Wut der Masse gegen die kümmerlichen Überbleibsel des Deutschtums und brandete auch gegen die Mauern eines Gefangenenspitals“ (S. 116). Auch in Petersburg, wo sich der Ich-Erzähler auf seiner langen Reise in den Norden aufhält, findet er vermeintliche Spuren von gegen Deutsche gerichteten Exzessen: „Wir fahren durch breite, schöne Straßen hin, in denen ein Gewimmel von eleganten Wagen und von Spaziergängern uns umgibt. Einmal, zweimal entdecken wir auch leerstehende Häuser mit zerschlagenen Fenstern, vernagelten Türen, mit Rauch und Brandfahnen im Gelände. Letzte Spuren von Gewalttätigkeiten des Pöbels gegen deutsche Besitzer“ (S. 132). Der Erzähler stellt oft seine religiöse Toleranz unter Beweis, auch den in Russland lebenden Muslimen gegenüber. Von auffälliger Freundlichkeit gegen uns im Verkehr sind hier die Tataren. Ein gutes Drittel der Bevölkerung mögen sie in diesem Städtchen bilden. Als Kaufleute sind sie klug und gewandt; viel fleißiger und unternehmender als die Russen, bringen sie es auch vorwärts. In ihren Händen liegt der ganze Wagen- und Warenballenverkehr. Viele Dörfer zwischen diesem Flecken und der Gouvernementshauptstadt sind reine Tatarendörfer. Sie sind alle fleißig, und in jedem Tatarenhause gibt es eine Badestube. Die Frauen, nach mohammedanischem Brauch, zeigen sich nur mit dem Schleier über dem Antlitz. [. . . ] Die Gesichter der Tataren sind so charakteristisch scharf geprägt, daß man auch abgesehen von der eigentümlichen Tracht im allgemeinen sofort erkennt, mit wem man es zu tun hat. (S. 94–95)
Die Verwundeten nehmen jede Gelegenheit wahr, sich über den Verlauf der Kriegshandlungen unterrichten zu lassen. Aus vagen Erzählungen von Kameraden, die noch vor kurzem an der Front kämpften, machen sie sich ein Bild vom Kriegsgeschehen. Eines Tages kommt es in dieser Hinsicht zum Durchbruch: Wir haben die Erlaubnis erhalten, russische und polnische Zeitungen zu lesen. Was gab das für einen Jubel! Mit welcher Spannung wartet jeder am Morgen auf
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den neuen Heeresbericht! Mit welcher Erregung verfolgt das Herz die erbitterten Kämpfe vor Verdun, die der Einnahme der Panzerfeste von Douaumont folgenden Schlachten um Baux, um den „Toten Mann“! Oh, wie strahlt unser Bayer über das ganze Gesicht, als er von den Stürmen bei Avocourt erfährt, von dem „boarischen“ Löwenzorn! (S. 124)
Man kann annehmen, dass es im Lager viele Gefangene mit Polnischkenntnissen gab, allen voran Angehörige der preußischen Armee aus Großpolen und Oberschlesien. Nach etwa eineinhalb Jahren bekommt der Ich-Erzähler ein ärztliches Zeugnis, aus dem hervorgeht, dass er endlich entlassen werden darf. Meine „Bumagi“ sind glänzend. Es steht darauf, daß ich Invalide bin, weder feldnoch garnisonsdienstfähig. Eine ärztliche Kommission hat mich untersucht und dies Urteil gefällt. Der Vorsitzende hat mir wohlwollend zugenickt und dazu nur ein Wort gesagt: „Damoi!“. Wie die herrlichste Musik war mir das eine Wort. [. . . ] Es war mir, als sänke langsam eine quälende Last von meinem Herzen. Den Kurs nach Westen gewandt! Nicht weiter in die unbegreifliche Weite asiatischen Ostens. Nach Westen! Nach Hause! Zurück zu allem, was licht ist und lieb! (S. 98)
Im Gedicht „Heimkehr“, das unmittelbar vor dem auf schwedischem Boden erfolgten Gefangenenaustausch entstand, tauchen alle Zuchholdschen Symbole der Freiheit auf: Wolken, Wind und Wald. Mir klingt mein Schellengeläute wie Lerchengesang so lind, Mir ist, als flöge mein Schlitten so leicht wie Wolke und Wind. Hei, wie er den Schnee durchschneidet, wie er mit jähem Sprung Sich stürzt zum Strome nieder, mächtig wie Adlerschwung. So springt das Kind aufjubelnd, wenn ihm die Mutter winkt, Dem schützenden Arm entgegen, der tröstend es umschlingt. So fliegt zum Wald der Vogel, der seiner Haft entfloh, Noch scheu vor dem Verfolger und doch schon freiheitsfroh. Es poltert unter den Kufen das Eis, es knirscht wie Sand. Sprung um Sprung rückt näher das freie Schwedenland. Mich grüßt die flatternde Flagge wie der Giebel vom Vaterhaus. O Herz, das ist die Freiheit! All deine Not ist aus! (S. 139)
Während der langen Zugfahrt durch Finnland und Schweden in die ersehnte Freiheit bringt der Ich-Erzähler oft seine Begeisterung für die „Schönheit dieser Nordlandswelt“ (S. 140) zum Ausdruck, auch für die Vollkommenheit des nordischen Menschen. Dass dabei Klischees und Vorurteile verbreitet werden, lässt sich kaum leugnen. Es geht vor allem um den vermeintlichen Ost-Westbzw. Ost-Nord-Gegensatz, den der Erzähler nicht nur in der Architektur, sondern vor allem im Menschenschlag zu erblicken glaubt. Zwei Nächte und zwei Tage fahren wir durch Finnlands Nadelholzwälder, an Seen vorüber und an Weideflächen, an freundlichen Dörfern und kleinen Städ-
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ten. Schmucke, rotgestrichene Holzhäuser mit blanken Fenstern, blütenweißen Vorhängen und Gardinen, frische blonde Kinder vor den Türen, alle sauber und hübsch gekleidet, erblicken wir, durch die Vorhänge spähend, an jedem Ort. Es ist eine ganz andere Welt, die uns hier umgibt. Rußlands Bevölkerung und diese hier, Rußlands Dorfbilder und die finnländischen, es sind Gegensätze wie Tag und Nacht. Hier die peinlichste blitzblanke Reinlichkeit und dort unsäglicher Schmutz. (S. 136)
Die Sauberkeit und Ordnung, die der Ich-Erzähler in schwedischen Städten und Dörfern feststellt, verstärken noch seine Überzeugung von der Überlegenheit der nordischen Welt. Den Höhepunkt erreicht aber seine Begeisterung beim Anblick von schwedischen Männern und Frauen: Unvergeßlich prägt sich die Herrlichkeit des schwedischen Nordens in mein Herz. Und die Herrlichkeit der Menschen, die hier ihre Heimat haben, die Gradheit der Männer, die Anmut der Frauen. Kann es etwas Lichteres, Lieblicheres geben als unsere Schwester Gunhild? Blauäugig und blond, von königlichem Wuchs ist sie, so wie sich dem deutschen Stubengelehrten wohl das Bild der Heldinnen unserer Sage vor das innere Auge malt, das Bild einer Hilde, einer Gudrun. Und den gleichen Adel der Gesinnung, die gleiche Anmut der Bewegungen besitzt auch unsere zweite dunkeläugige Schwester Greta. (S. 140)
Der Rassengedanke, der sich in diesen Worten offenbart, kommt auch an anderen Stellen zur Sprache: „Die Bauart und das Aussehen der Häuser ist die gleiche wie in Finnland. Blauäugige, hellhaarige Kinder gehen zur Schule“ (S. 139–140). Mit dem Passieren der finnisch-schwedischen Grenze ist der Ausbruch aus der Hölle vollzogen, rasch kehrt nämlich die schon verloren geglaubte Kriegseuphorie wieder: „Wir erfahren aus dem Munde schwedischer Kameraden den ergänzenden Bericht über den Verlauf des Krieges während der letzten Monate, mit Jubel erkennen wir, welche gewaltigen Fortschritte der Kampf bei Verdun gemacht hat“ (S. 140). Mit Erstaunen und Genugtuung registriert der Ich-Erzähler die feierliche Begrüßung deutscher Kriegsgefangener in Schweden: „Schwedische Offiziere begrüßen uns, Militärmusik spielt uns unsere Vaterlandslieder und Märsche vor, zu Hunderten steht das Volk auf den Bahnhöfen, hinter den Schranken, an allen Straßen. Aus jedem Fenster grüßt es und winkt. Überall flattert die blaugelbe Flagge uns zu Ehren, ein kleiner Junge hat die Pickelhaube aufgesetzt und Kürassieruniform angetan, er schwenkt eine kleine schwarzweißrote Fahne“ (S. 142).
3. Ein Nachspiel Der wegen einer schweren Verwundung misslungene persönliche Kriegseinsatz und dann die für Deutschland recht ungünstige Situation nach der Beendigung des Ersten Weltkriegs, allem voran die Teilung Oberschlesiens und die Ruhrbesetzung, ließen Zuchhold eine Reihe von patriotischen Gedichten
Bilder aus der russischen Gefangenschaft
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verfassen, in denen er in hymnischem Ton einige der zahlreichen siegreichen Schlachten des deutschen Heeres besingt. Angesichts der von allen nationalgesinnten deutschen Bürgern als Schmach und Schande empfundenen Niederlage im Kampf gegen die alliierten Streitkräfte bringt er nun militärische Gefechte in Erinnerung, die das Nationalgefühl der Deutschen wiedererwecken bzw. stärken sollten. Als Bewohner der niederschlesischen Stadt Liegnitz bevorzugt er schlesische und als konservativer Christ religiöse Motive. Zur Darstellung kommt z. B. die im August 1813 ausgetragene Schlacht an der Katzbach; im gleichnamigen Gedicht 22 werden zwei preußische Helden, die weitbekannten Heeresführer Yorck und Blücher glorifiziert. Verspottet wird dagegen der „ewige Feind“, der Welsche, auch Franzmann genannt, dem der Autor Listigkeit und Feigheit nachsagt. In mehreren lyrischen Texten, wie etwa im Gedicht „Abschied ins Feld“, wird eine Verherrlichung deutscher Tugenden betrieben – Religiosität, Treue und Tapferkeit gelten etwa als Werte, die die Deutschen zusammenhalten, das nach dem Krieg vermisste Einheitsgefühl wiederherstellen sollten. 23 Von Stereotypen wimmelt es auch in einem epischen Gedicht über die in der Besetzung der polnischen Hauptstadt gipfelnde militärische Auseinandersetzung zwischen polnisch-litauischen und schwedisch-brandenburgischen Streitkräften. Im Epos „Warschau 1656“ erscheint der Pole als „zäh, tückisch lauernd, wie zum Sprung entschlossen“. 24 Der brandenburgische Kurfürst Friedrich Wilhelm wird zum eigentlichen Sieger erkoren: Märkische Klinge mäht auf beiden Flügeln Blutige Schwaden in den breiten Schwall Flüchtender Polen auf den Weichselhügeln. [. . . ] Das ist der Sieg, der dröhnt durch die Lande: Brandenburg sprach von alter Schmach sich los! Brandenburgs ist des dritten Schlachttags Ehre! Die Hofburg zittert: Einen Sieg so groß! Seit wann steht Brandenburg so blank in Wehre? Vom Schlachtfeld steigt ein Adler kampfbereit. Von Osten her naht eine neue Zeit Und deutscher Not ersteht ein deutscher Retter. 25
Gleiche Themen, d. h. siegreiche Schlachten deutscher Ritter bzw. preußischer Soldaten behandelt Zuchhold auch in seiner Nachkriegspublizistik. Darin äußert er seine Überzeugung von einer besonderen Sendung Schlesiens: es sei ein Bollwerk des zu beschützenden Grenzlandes zwischen Asien und Europa,
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Hans Zuchhold, Die Schlacht an der Katzbach, in: Ders., Drei Kränze, S. 87–89. Hans Zuchhold, Abschied ins Feld, in: ebd., S. 89–90. Hans Zuchhold, Warschau 1656, in: ebd., S. 82–84, hier S. 82. Ebd., S. 83–84.
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Liegnitz sei als Feldwache dessen Mittelpunkt. Seinen Stil beherrschen militärische Ausdrücke, die den Kampfgeist wecken sollten; darüber hinaus fällt die auf eine Einheit von Mensch und Natur abzielende und von biologistischem Denken nicht freie Beschwörung der „deutschen Art“ sowie die Hervorhebung der angeblichen kulturellen Rückständigkeit der Slawen auf: Denn nicht in dem Bruch oder Sumpf, sondern vor ihm und über ihm, nicht als Sumpfstadt, sondern als festes Lager gegen Osten, auf der Höhe über der Talmulde, ist das alte Liegnitz erbaut worden. [. . . ] Asien und Europa, liebliche deutsche Mittelgebirgswelt und düstere, osteuropäische, slawisch-asiatisch getönte Heidelandschaft – hier liegen sie, hier liegen ihre Postenketten einander gegenüber auf jahrtausendalter Wacht, und Liegnitz selbst gehört zur deutschen Wehrmacht; der Liegnitzer und das Gebirge sind eines Blutes. 26
Der Osten als die abzuwehrende tödliche Gefahr und die Blutsymbolik tauchen auch im Gedicht „Vormarsch nach Osten“ auf. Der Osten steht hier stellvertretend für all das Bedrohliche, das Mörderische, das es zu bezwingen gilt: Wir reiten durch die stumme Nacht, durch tote Felder fort und fort, von Osten hallt’s wie ferne Schlacht, von Osten heult’s und schreit’s wie Mord. [. . . ] Gottes Werkzeug reiten wir, und wenn wir fallen, ist es gut. Das Leben gehört nicht dir, nicht mir, Gott und dem Kaiser gehört mein Blut! 27
Dieses und viele andere Gedichte patriotischen und nationalistischen Inhalts sind wohl als Hans Zuchholds Versuche zu deuten, sich von den traumatischen Kriegserinnerungen freizuschreiben, als ein Abgesang auf die Zeit der sibirischen Gefangenschaft. Dass dabei ein stumpfer Chauvinismus und Kriegsverherrlichung betrieben werden, ist kaum von der Hand zu weisen: die Verwundung, die alle Kampfpläne zum Scheitern brachte, das Leid des Gefangenen sowie der verlorene Krieg sollen nun wettgemacht werden. Der Weg, den der verstümmelte Liegnitzer Dichter eingeschlagen hat, erwies sich als ein Irrweg, was er sich wohl erst als Vertriebener vergegenwärtigen konnte.
26 Hans Zuchhold, Die Liegnitzer Landschaft, in: Wilhelm Müller-Rüdersdorf (Hg.), Schlesien. Ein Heimatbuch. Mit Zeichnungen von M. Klein-Hähnichen, L. Jaekel, W. Krain und A. Mirau, Leipzig 1922, S. 224–225. 27 Hans Zuchhold, Vormarsch nach Osten, in: Ders., Drei Kränze, S. 90–92, hier S. 92.
Anna Gajdis
(Uniwersytet Wrocławski)
Der Große Krieg in der „zerbrechenden Welt“ Ernst Wiecherts Prosawerk der zwanziger und dreißiger Jahre
1. Der Dichter und der Große Krieg Der Osten des Deutschen Reiches und insbesondere seine ostpreußische Provinz, „deren Erde sich fruchtbar und nicht ohne Reize auf viele Meilen zwischen großen Wäldern und Mooren erstreckte; die statt entstellender Städte nur ruhig gelagerte Gutshöfe und schmale Bauerndörfer enthielt, durch schlechte Straßen verbunden und durch weite Felder und Wiesen getrennt“, 1 wurde vom Ersten Weltkrieg bekanntlich nicht verschont. 2 Das Ziel dieses Beitrags ist es jedoch nicht, die historischen Kriegsereignisse in Masuren zu schildern, sondern auf den Ersten Weltkrieg aus der Perspektive eines ostpreußischen Inneren Emigranten hinzuweisen und seine Kriegsdarstellung von zwei unterschiedlichen Gesichtspunkten zu erläutern. Der aus dieser Region stammende Schriftsteller Ernst Wiechert (1887– 1950), einer der populärsten deutschen Autoren der dreißiger Jahre und namhafter Vertreter der Inneren Emigration, meldete sich 1914 als Freiwilliger zum Kriegsdienst, wurde aber wegen seines mangelhaften gesundheitlichen Zustands entlassen. Ein Jahr später kam er dennoch an die Front und erlebte den Krieg als Soldat und Offizier, nahm u. a. an der Schlacht von Verdun teil und wurde zweimal verwundet. Wenn man einen Blick auf die Autoren der Weimarer Republik wirft, macht sich ein besonderer Autortypus bemerkbar. Kriegsdichter ist nämlich derjenige, der mit seinen an der Front des Großen Krieges erworbenen Erfahrungen für die Authentizität seiner Werke steht. Der kämpfende Schriftsteller, wie ihn Florian Brückner nennt, verbindet das im Krieg wahrgenommene Militärische mit der Literatur. 3 Wenn er die realen Erlebnisse mit den fiktiven verbindet, ist
1 Ernst Wiechert, Der silberne Wagen. Sieben Novellen, Hamm 1938, S. 193. Der Band enthält folgende Erzählungen: „Der silberne Wagen“, „Geschichte eines Knaben“, „Die Legende vom letzten Wald“, „Die Schmerzensreiche“, „Der Kinderkreuzzug“, „Der Wolf und sein Bruder“ und „Die Flucht ins Ewige“. 2 Vgl. dazu Hartmut Boockmann, Deutsche Geschichte im Osten Europas. Ostpreußen und Westpreußen, Berlin 1992; Jürgen Petry, Ostpreußen. Geschichte eines unbekannten Landes von den Anfängen bis 1945, Leipzig 1996. 3 Florian Brückner, Dichtung und Wahrheit: Authentifizierungsstrategien, Verschleierung von Fiktionalität und politisierender Wahrheitsanspruch im Kriegsroman der Weimarer
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er poeta vates und poeta faber zugleich. Der von Gott mit literarischem Talent beschenkte poeta vates musste nicht nur die historischen Begebenheiten und das militärische Fachwissen, sondern auch die Normen der neuen literarischen Strömung, und zwar der Neuen Sachlichkeit, in Betracht ziehen. 4 Wenn man die Ausführungen Brückners zu den Autoren der populären Kriegsromane der zwanziger Jahre berücksichtigt, lässt sich Wiechert problemlos unter ihnen verorten. Wie oben angemerkt, gehört er zu denjenigen Autoren, die am Krieg teilnahmen und von ihren Erlebnissen berichteten. Der Dichter weigerte sich, seinen Lesern einen politischen Orientierungs- und Handlungsrahmen zu geben. Er bestand eher darauf, ihnen mithilfe der Literatur Trost zu spenden, worauf später eingegangen wird. Am Vorabend des Ersten Weltkrieges manifestierten sich zwei grundsätzliche Erfahrungen, die laut Klaus Vondung entscheidend für das Erleben des Krieges waren. Erstens machte sich in fast allen am kommenden Krieg beteiligten Ländern eine gesellschaftliche Desintegration, d. h. die Spaltung in „zwei Nationen“, in Bürgertum und Proletariat, bemerkbar. Erwartet wurde die Wende hin zu einer neuen gesellschaftlichen Einheit, die infolge des Krieges entstehen sollte. Zweitens bemächtigte sich der jungen Generation ein Gefühl der Trägheit, der Langeweile und der existenziellen Sinnlosigkeit. Die Teilnahme am Krieg sollte in diesem Fall ein Abenteuer sein, das dem Leben einen neuen Sinn gibt. 5 Wiecherts Werk legt kein Zeugnis über solche Erfahrungen ab, obwohl er die soziale und wirtschaftliche Realität in Deutschland wahrnahm und in seinen Romanen aus der Zwischenkriegszeit, wie z. B. im Werk „Das einfache Leben“ (1939), kritisch reflektierte. Was auf Wiechert nicht zutrifft und ihn von manchen Vertretern seiner Generation unterscheidet, ist das Gefühl von Langeweile und Sinnlosigkeit des Lebens. Sein ganzes Leben lang war Wiechert auf die didaktische und schriftstellerische Arbeit konzentriert und an keiner Stelle seiner Autobiografie erwähnte er die Sinnlosigkeit seines Lebens. Die Kriegsbegeisterung aus dem Jahre 1914 dauerte nicht lange an, schnell schlichen sich Gefühle wie Unsicherheit und Desorientierung ein und der Krieg wurde zu einer zerstörerischen Gewalt erklärt. 6
Republik, in: Claudia Glunz / Thomas F. Schneider (Hg.), Dichtung und Wahrheit. Literarische Kriegsverarbeitung vom 17. bis zum 20. Jahrhundert, Osnabrück 2015, S. 55– 56. 4 Ebd., S. 57–58. 5 Vgl. Klaus Vondung, Propaganda oder Sinndeutung?, in: Ders. (Hg.), Kriegserlebnis. Der Erste Weltkrieg in der literarischen Darstellung und symbolischen Deutung der Nationen, Göttingen 1980, S. 12–29. 6 Gangolf Hübinger unterscheidet drei Phasen des Krieges. Zu Beginn des Krieges herrschte eine kurze Siegesgewissheit und die Hoffnung auf Befreiung von der russischen Knute und dem britischen Kapitalismus. In den Jahren 1915–1916 mussten die deutschen Intellektuellen gegen Vorwürfe, dass die Deutschen einen barbarischen Krieg führen, kämpfen und diese mithilfe von Schlagworten wie „Weimar und Potsdam“ und
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Wiecherts Einstellung dem Krieg gegenüber war ambivalent und in den ersten zwei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts unterlag sie einer tiefgreifenden Veränderung. Als der Schriftsteller in den ersten Kriegsjahren an der Ostfront war, erlebte er „eine leise Wandlung“, 7 die einen Wendepunkt bezüglich seiner Meinung über den Krieg ankündigte. Im autobiografischen Werk „Jahre und Zeiten. Erinnerungen“ (1949) setzte er sich kritisch mit der Realität des Krieges auseinander, bekannte sich zur Einsamkeit an der Ostfront, beobachtete eine gewisse Distanzierung der jungen Soldaten den Kriegsereignissen gegenüber und gestand, dass die Soldaten keineswegs von einem Heldentod träumten. Er selbst war vom Krieg nicht besessen und betrachtete ihn eher als eine Krankheit, die man mit Demut erduldet, während man auf seine Genesung wartet. Als er später an der Schlacht von Verdun teilnahm, vertiefte sich seine Bitterkeit über den Krieg und er berichtete vom Verfall aller bürgerlichen Werte, von der Entfernung vom echten Leben und vom Gefühl der Fremdheit in der Heimat. Der Niedergang aller ihm vertrauten Werte war so fortgeschritten, dass er seine Existenz an der Front für den einzig stabilen Ort hielt, an dem man noch so handeln konnte, dass man „keinen Schmutz an der Uniform trägt“. 8 Der einzige Sinn des Krieges bestand darin, den Hilflosen zu helfen, so Wiechert in „Jahre und Zeiten“. Er erinnerte sich an eine Situation an der Westfront, in der er einem unbekannten Unteroffizier mit zerschmettertem Knie half. Da dem Unteroffizier niemand zu Hilfe kam, hielt er seine Soldaten an, verband den schwer verletzten Mann und ließ ihn auf einer Zeltbahn über lange Strecken tragen. 9 „Ich kehrte ohne Ruhm und Lorbeer zurück, aber ich war auch nicht ausgezogen, um sie zu erwerben“, 10 schrieb Wiechert über seine Rückkehr aus dem Krieg. Deutlich formulierte er seinen Hass auf den Krieg und war stolz, den Krieg überstanden zu haben, ohne irgendwelche Schandtaten zu begehen. Er wurde jedoch von dem Gefühl begleitet, dieser Taten verdächtig zu sein, und konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Mitmenschen ihn für einen Mann hielten, dessen Inneres der Krieg zugrunde gerichtet hatte. 1918 ging
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„die Ideen von 1914“ abwehren. In der zweiten Phase des Krieges stand der Streit um die politische Ordnung und eine Rechtfertigung des deutschen Weges in die Moderne gegenüber den „westlichen Demokratien“ im Vordergrund der öffentlichen Debatte. In der dritten Phase des Krieges, die mit dem amerikanischen Kriegseintritt im April 1917 begann, standen Fragen nach der politischen, sozialen und kulturellen Neuordnung Deutschlands nach dem Krieg im Zentrum des Interesses. Vgl. Gangolf Hübinger, Die Intellektuellen und der „Kulturkrieg“ (1914–1918), in: Notger Slenczka (Hg.), Faszination und Schrecken des Krieges, Leipzig 2015, S. 12; Alexander Honold, Einsatz der Dichtung. Literatur im Zeichen des Ersten Weltkrieges, Berlin 2015, S. 273–305. Ernst Wiechert, Jahre und Zeiten. Erinnerungen, in: Ders., Es sprach eine Stimme, Wien 1959, S. 314. Ebd., S. 346. Vgl. ebd., S. 351–352. Ebd., S. 356.
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der Krieg seiner Meinung nach nicht zu Ende. Auf Schritt und Tritt spürte er Hass oder Verachtung. Die Kriegsereignisse steckten tief in den menschlichen Herzen und wurden bald zum Keim einer neuen Krankheit. 11 Alle bisherigen Werte, wie Familie, Berufsleben und das individuelle Leben, verloren ihre Bedeutung, stattdessen wurden laut Wiechert die Primitiven befördert: „Massen werden zusammengefügt und zusammengeschmiedet und gehorchen nicht mehr den Richtlinien ihrer Individuen, sondern einem übergeordneten, kalten und nur berechnenden Befehl, der sie lenkt und verschiebt und sie in das Leiden oder den Tod werfen kann, wenn es ihm nötig erscheint“. 12 In seiner Autobiografie distanzierte sich Wiechert mehrmals vom Krieg. Er fühlte sich so, als ob er aus der vertrauten Welt des Geistes und der Liebe hinausgeworfen worden wäre und vor einer großen und schwierigen Prüfung gestanden hätte. Deshalb stellte er zum wiederholten Male die Frage, ob er im Krieg untergegangen oder ob der Krieg für ihn eine Art Heilung und Wandlung gewesen sei. In den zwanziger Jahren engagierte sich Wiechert im Kreis der konservativen Revolution. 13 Nach der Rückkehr aus dem Krieg kritisierte er Kultur und Zivilisation stark aus völkisch-nationalistischer Sicht, stellte das bürgerliche Wertesystem infrage und plädierte für die Rückkehr zur Natur. 14 Trotz seiner Distanz dem Krieg gegenüber versuchte er in seinen beiden Romanen „Der Wald“ (1922) und „Der Totenwolf“ (1924), den Krieg als etwas Glorreiches zu verherrlichen. Seinen ersten Roman „Die Flucht“ (1916) und die oben genannten Werke der früheren Schaffensphase beurteilte er nach Jahren äußerst kritisch, glaubte jedoch, dass ein Roman wie „Die Flucht“ für seine spätere schriftstellerische Entwicklung von Belang gewesen sei. 15 Die Romane „Der Wald“ und „Der Totenwolf“, in denen er Krieg, Töten und Gewalt entschieden verherrlichte, bezeichnete er in seinem autobiografischen Werk als Irrtum und empfahl, dass man sich von ihnen mit Widerwillen abwenden sollte. Dort würden vor allem „die Besessenen, die Berauschten, die großen Tötenden“ hervorgehoben, gestand er in der Autobiografie „Jahre und Zeiten“. 16 Sollte es eine Rechtfertigung für diese Romane geben, sei sie im Ausdruck der Suche nach dem zerstörten inneren Gleichgewicht zu finden. Durch Kunst und Phantasie 11 Ebd., S. 357. 12 Ebd., S. 362. 13 Das Engagement Wiecherts in den Kreisen der konservativen Revolution bleibt bisher unerforscht. In der umfangreichen Monografie „Die konservative Revolution in Deutschland 1918–1932“ geben die Autoren zwar zu, dass es erstaunlich sein mag, Wiechert in diesem Band aufzuführen, aber sein Roman „Totenwolf“ (1924) mit Hakenkreuz auf dem Einband sei „eines der extremsten und zügellosesten ‚neuheidnischen‘ Dokumente“. Vgl. Armin Mohler / Karlheinz Weissmann, Die konservative Revolution in Deutschland 1918–1932, Graz 2005, S. 376–377. 14 Wojciech Kunicki, Ernst Emil Wiechert, in: Marek Zybura (Hg.), Pisarze niemieckoj˛ezyczni XX wieku. Leksykon encyklopedyczny, Warszawa 1996, S. 335. 15 Wiechert, Jahre und Zeiten, S. 305–306. 16 Ebd., S. 364.
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habe er das gewinnen wollen, was er in der Wirklichkeit nicht erreicht habe. Auch wenn er diese Bücher gegen seine Natur geschrieben habe, hielt er den gesamten Schreibprozess für „ein reinigendes Fieber“. 17 Ende der zwanziger Jahre erlebte Wiechert den sogenannten „Durchbruch der Gnade“, der eine religiöse Wende im Leben des Dichters bedeutete, und griff andere Themen auf, denen er treu bleiben sollte. Seine Welt bestand zwar nach wie vor aus der masurischen Landschaft, die von einfachen bibelkundigen Landwirten, Waldläufern, Fischern und Torfarbeitern bewohnt wurde. Der Gewalt, dem Töten und der Aggression wurde aber kein Platz mehr eingeräumt. Im Laufe der Zeit brachte Wiechert immer deutlicher Kritik am Krieg zum Ausdruck. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs fasste er seinen Standpunkt bezüglich des Krieges zusammen. In „Jahre und Zeiten“ schrieb er: Langsam traten die Konturen des Krieges aus dem glühenden Nebel heraus. Langsam wurde er zu dem, was er in Wirklichkeit für mich war: eine schwere Erschütterung der ganzen Existenz, eine Kette unauslöschlicher Erfahrungen und Erlebnisse, von Leid, Grauen, von Jammer erfüllt, aber auch leise überstrahlt von der Summe dessen, mit dem ich ihn überstanden hatte: mit Gehorsam, mit Güte, mit Menschlichkeit und mit dem großen Erbarmen, das ich für alles Leidende unverlierbar gewann. 18
2. Retrospektives Schreiben über den Ersten Weltkrieg Der Ausbruch der „Urkatastrophe Europas“ 19 im 20. Jahrhundert, wie George Kennan den Ersten Weltkrieg bezeichnete, musste in der literarischen Öffentlichkeit großes Aufsehen erregen. Schon zu Kriegsbeginn veröffentlichten viele professionelle Literaten und Publizisten und auch Amateure Texte, in denen sie ihren Patriotismus zum Ausdruck brachten, wobei Lyrik und andere Kurzformen, wie der Aphorismus oder die Erzählung, den vorherrschenden Platz einnahmen. Die Qualität dieser Schriften wurde zwar mitunter von namhaften Schriftstellern kritisiert, aber in der Anfangsphase des Krieges erkannten nur wenige die drohende Katastrophe. Viele waren vom Kriegseifer besessen und wollten ihrem Enthusiasmus literarisch Ausdruck verleihen. 20 Zu der großen Quantität der publizistischen und literarischen Schriften über den Krieg gesellten sich verschiedene Ansichten, Genres und eine stilistische Mannigfaltig17 Ebd. 18 Ebd., S. 364–365. 19 Zit. nach: Astrid Erll, Gedächtnisromane. Literatur über den Ersten Weltkrieg als Medium englischer und deutscher Erinnerungskulturen in den 1920er Jahren, Trier 2003, S. 103. 20 Vgl. Martin Neubauer, Zerstörung und Verstörung. Literarische Perspektiven auf den Ersten Weltkrieg, in: Slenczka, S. 46.
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keit. Unter den Einstellungen zum Krieg lassen sich ästhetisierende, sachliche, verharmlosende und heroische Perspektiven finden. Unter den Genres sind u. a. Tiergeschichten oder Kinderbücher vertreten. Der Große Krieg ebnete den Künstlern den Weg zur Avantgarde und zur Popularisierung der vor 1914 begonnenen Moderne. Das Zerbrechen einiger Werte, das auch von Wiechert schmerzlich empfunden wurde, geht Hand in Hand mit einem Umbruch in vielen Bereichen der Kultur und dem Ende der traditionellen Ästhetik. 21 Wenn am Anfang des Krieges die Lyrik bevorzugt wurde, so beherrschte das Erzählen, beherrschten insbesondere die sogenannten „Kriegsbücher“, Frontmemoiren und Romane, die Nachkriegszeit. 22 Das traumatische Erlebnis des Ersten Weltkriegs musste noch viele Jahre nach dem Krieg verarbeitet werden. Dies führte dazu, dass der Krieg die Literatur thematisch beherrschte. Nach Alexander Honold ist in den Romanen der Weimarer Republik ein doppelter Diskurs über den Krieg präsent. Zum einen mussten die Schriftsteller auf Periodisierung und Historisierung des Stoffes bedacht sein, zum anderen wurden der Aktualitätswert des Dargestellten und seine Bedeutung für die Überlebenden hervorgehoben. Die Romane sollten den Eindruck vermitteln, dass die aktuellen politischen Meinungen aller Parteien, d. h. sowohl der Verfechter des Nationalismus als auch der Anhänger der Republik, aus der Erfahrung von Krieg und Niederlage schöpften. 23 So hat man es mit einer ganzen Reihe von Romanen zu tun, in denen der soldatische Mikrokosmos geschildert wird. Der Wandel vom Zivilisten zum Soldaten, die erschreckende Wirkung der Waffen, Krankheiten, die Beschreibung der einzelnen Frontabschnitte und der weit entlegenen Schlachtfelder, die Anonymisierung des Todes und vor allem die Macht des Zufalls, der entscheidet, wer den Krieg überlebt und wer dem Krieg zum Opfer fällt, bilden das Repertoire möglicher Motive. 24 Wiecherts Prosawerk der zwanziger und dreißiger Jahre ist reich an den tradierten Bildern des Krieges. Im Roman „Jedermann. Geschichte eines Namenlosen“ (1931) präsentiert der Schriftsteller die Geschichte des jungen Mannes Johannes Karsten, der mit anderen jungen Männern an die Front geschickt wurde und als einer von wenigen in die Heimat zurückkam. In der Erzählung „La Ferme Morte“ aus dem Erzählungsband „Der Todeskandidat“ (1934) wird der Leser mit einer realistischen und sehr detaillierten Beschreibung eines Überfalls deutscher Soldaten auf einen Bauernhof in der französischen Provinz vertraut gemacht. Nicht der Kampf selbst, sondern die Sinnlosigkeit des Krieges tritt in den Vordergrund der Erzählung. Jons Ehrenreich, die Hauptfigur des Romans „Die Jerominkinder“ (1945–1947), ähnelt 21 22 23 24
Ebd., S. 51. Vgl. Honold, S. 138. Ebd., S. 139. Vgl. Jörn Leonhard, Die Büchse der Pandora des 20. Jahrhunderts. Der Erste Weltkrieg als Umbruch von Erwartungen und Erfahrungen, in: Slenczka, S. 124–129.
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den anderen literarischen Gestalten von Wiechert. Er meldet sich als Freiwilliger, an der Front befindet er sich in einer Gruppe junger Männer, er marschiert von einem Schlachtfeld zum anderen und erkennt bald die Sinnlosigkeit des Krieges. Wiecherts Roman „Jedermann. Geschichte eines Namenlosen“ reiht sich unter jene Werke über den Ersten Weltkrieg ein, in denen eine fiktive Hauptgestalt oder eine Gruppe zumeist junger Menschen die kämpfenden Massen vertreten und ihre Erlebnisse sowie Gefühle auch für andere stehen. Die Figur des jungen Soldaten Johannes Karsten, der die Schrecken des Krieges erlebt und glücklich heimkehrt, lässt an das Motiv der „verlorenen Generation“, den Mythos der Jugend und den Roman „Im Westen nichts Neues“ (1929) von Erich Maria Remarque denken. 25 Genau wie Paul Bäumer, der Hauptprotagonist des Romans von Remarque, erfährt Karsten die Kriegswirklichkeit, die ihm wie eine verkehrte Welt erscheint. Die Sozialisation der jungen Männer verläuft nicht mehr in Schule und Familie, in vertrauter Umgebung, sondern an der Front. Die jungen Soldaten haben keine Ausbildung und keinen Beruf. 26 Mundus inversus, der Topos von der verkehrten Welt, verbindet sich hier mit dem Topos der zu früh gealterten Jungen, mit dem puer senex. 27 Die Erinnerungen an das Zuhause werden von der bitteren Frontrealität überdeckt. Die jungen Männer müssen allzu schnell erwachsen werden, sie distanzieren sich von den Eltern und Lehrern, ihren bisherigen Autoritäten, und verlieren ihre Begeisterungsfähigkeit. 28 „Jugend? Das ist lange her. Wir sind alte Leute“, 29 sagen Remarques Protagonisten. Zum Schluss dieses Teils der Ausführungen bleibt noch ein charakteristisches Merkmal von Wiecherts Roman zu erwähnen. Seine Figuren stehen an der Peripherie des Geschehens. „Der Krieg läuft ohne sie“, konstatiert Holger M. Klein in seinen Ausführungen zur Typologie des Kriegsromans, und aus den oben genannten Gründen bewertet er den Roman „Jedermann. Geschichte eines Namenlosen“ als Repräsentationstyp. 30 Mit Recht behauptet Alexander Honold, dass das Kriegserlebnis eine relevante Ursache für das spätere Scheitern und Zerbrechen einer ganzen Generation sei. Die Figuren von Heimkehrern oder Deserteuren, die zu den oft porträtierten Gestalten Wiecherts gehören, waren nach Honold historisch und biografisch gesehen Verlierer. 31 Michael Fahrenholz, die Hauptfigur des 25 26 27 28 29
Vgl. Honold, S. 140. Ebd., S. 152. Vgl. Erll, S. 269–270. Vgl. Honold, S. 149. Erich Maria Remarque, Im Westen nichts Neues, Berlin 1929, S. 24. Vgl. auch Honold, S. 149. 30 Unter den Romanen, die wegen des Darstellungsmodus zum Repräsentationstyp gehören, nennt er auch die Werke von Walter Benjamin, Henri Barbusse, Jean des Vignes Rouges, Jean Giono, Herbert George Wells und Erich Maria Remarque. Vgl. Holger M. Klein, Zur Typologie des Kriegsromans, in: Vondung, S. 212. 31 Honold, S. 148.
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Anna Gajdis
Romans „Die Majorin“ (1934), kam nach Ostpreußen zurück und versuchte in der masurischen Landschaft, sein inneres Gleichgewicht wiederzugewinnen. Die Erlebnisse des Krieges ließen sich nicht leicht aus dem Gedächtnis löschen, zumal Fahrenholz in seinem Dorf für gefallen erklärt worden war. Aber mit Hilfe der Majorin, der Herrin des Landes, und inmitten der Natur fand er den Weg in ein zufriedenes und arbeitsames Leben zurück. 32 Die Ereignisse des Großen Krieges in der „zerbrechenden Welt“, worunter Wiechert vor allem die politische und soziale Situation Deutschlands am Anfang des 20. Jahrhunderts verstand, spielten sich nicht nur auf den weit entfernten und fremden Schlachtfeldern ab, sondern sie bezogen sich auch direkt auf seine masurische Heimat. In der Autobiografie „Jahre und Zeiten“ schrieb Wiechert über den Krieg, wie er durch das Prisma seiner Heimat gesehen wurde: Und selbst der Krieg, so tief eingegraben in meine Seele, spiegelt sich nicht im Raume der fremden Länder wider, sondern ist da zu Hause, wo ich zu Hause war. Unter den alten Erlen stehen die Geschütze eingegraben, aus dem Rand meiner Wälder tauchen die Schützenketten auf, und alles Große und Grausige seines Geschehens geht über mein Kinderland hin, als hätte es den ersten Anspruch auch auf diesen so ernsten und düsteren Teil meines Lebens. 33
Im Gegensatz zur dramatischen Realität der Zwischenkriegszeit im Zentrum des Deutschen Reichs schien Masuren ruhig und abgelegen zu sein. An dieser Stelle wäre es angebracht, noch einmal auf die Position Wiecherts als Inneren Emigranten einzugehen und seine literarische Raumgestaltung in Erwägung zu ziehen. Seine Zugehörigkeit zur Inneren Emigration ist nach neuester Forschung unumstritten. Laut Magdalena Kardach lassen sich heutzutage mindestens zwei Gründe nennen, die ihn in der Gruppe der Inneren Emigranten verorten. Wiecherts distanzierte Haltung in Bezug auf die nationalsozialistische Ideologie, die von Hubert Orłowski im Nachwort zur polnischen Edition des Romans „Das einfache Leben“ hervorgehoben wurde, 34 sowie sein fester Entschluss, seit den späten zwanziger Jahren bewusst am Rande des Zeitgeschehens zu bleiben, erlauben es heutigen Wissenschaftlern, den Dichter für einen Inneren Emigranten zu halten. Nicht ohne Bedeutung bleibt zudem die Tatsache, dass Wiechert 1930 von Königsberg nach Berlin übersiedelte. 1933 ließ er sich in Ambach am Starnberger See nieder. Von 1936 bis 1948 wohnte er in Gagert-Hof. Seit dem Verlassen der ostpreußischen Heimat besuchte der
32 Vgl. Anna Gajdis, O powrocie do z˙ycia. „Pani majorowa“ Ernsta Wiecherta, in: Orbis Linguarum 23 (2003), S. 179–185. 33 Wiechert, Jahre und Zeiten, S. 164. 34 Vgl. Hubert Orłowski, Posłowie. Ernst Wiechert a tradycje konserwatywne i emigracja wewn˛etrzna, in: Ernst Wiechert, Proste z˙ycie, przeł. Tadeusz Ostojski, Olsztyn 2001, S. 339–359.
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Dichter Masuren kaum. Diese Tatsachen machen ihn auch zu einem äußeren Emigranten. Der Verlust der Heimat musste sowohl literarisch verarbeitet als auch kompensiert werden. In dieser schwierigen Situation und weit weg von seiner realen Heimat konzipierte Wiechert einen eigenen imaginären Raum, der durch Ostpreußen, insbesondere durch dessen kulturelle und natürliche Landschaft, verkörpert wird und innerhalb eines realen Zeitgeschehens verläuft, so Magdalena Kardach. 35 Von Bedeutung ist hier der Foucaultsche Begriff der Heterotopie, der von Kardach in Bezug auf das Narrative des ostpreußischen Raumes aufgerufen wird. Laut Kardach lässt sich im Anschluss an Foucault die ostpreußische Landschaft Wiecherts als ein imaginärer Raum, als „eine tatsächlich realisierte Utopie“, 36 als Wiechertsche Heterotopie interpretieren. Angesichts des Zeitgeschehens erlaubte ihm dieser alternative Ort, Rettung und Zuflucht zu finden. Kompensiert wird der Verlust seiner Heimat durch einen von ihm geschaffenen Raum, in dem mithilfe von Erinnerung ein anderer Ort mit alternativen Abläufen konzipiert wird. 37 Kardach ergänzt ihre Bemerkungen zur Heterotopie bei Wiechert, indem sie auch auf den Schreibprozess des Schriftstellers hinweist. Das alltägliche Schreiben wird zum Ausdruck der Rettung ebenso wie die mentale Reise in die verlorene Heimat. Die Vorstellung Ostpreußens als einer abgetrennten Insel steht im direkten Zusammenhang mit dem Konzept eines heterotopischen Landes. Die Inselmetapher griff der Autor häufig auf, um seiner Heimat ein besonderes Antlitz zu verleihen. Einerseits porträtierte er die kleinen einsamen Inseln, auf denen seine Protagonisten ungestört ihr bescheidenes Leben führten, andererseits übertrug er diese Metapher auf die ganze Provinz, die wie eine Insel im Osten des Reiches wirkte. Die Vorstellung Ostpreußens als einer einsamen Insel, als eines Bollwerks, das sich gegen die slawischen Völker verteidigen musste, wurde von der deutschen Propaganda nach dem Versailler Vertrag in diversen Medien intensiv vermittelt. 38 Wiechert verstand diese Metapher anders. In seinem Prosawerk lassen sich keine aggressiven Bilder, keine Ablehnung der nichtdeutschen Einwohner der Provinz, kein Aufruf zur Verteidigung des Landes vor dem slawischen Feind erkennen. Wiecherts Insel war und ist ein Zufluchtsort für diejenigen, die keinen Platz im Leben finden können und politischen Wirren ausweichen möchten.
35 Magdalena Kardach, Exil als Heterotopie. Die Dimensionen der Inneren Emigration und des Exils am Beispiel des literarischen Schaffens von Ernst Wiechert, in: Studia Germanica Posnaniensia XXXVII (2016), S. 149–163. 36 Ebd., S. 155. 37 Ebd., S. 157. 38 Zur Insellage Masurens vgl. Agnieszka Grochocka, Masuren – vom Naturparadies zum Atlantis des Nordens. Funktion und Geschichte eines literarischen Mythos, Marburg 2015, S. 38–66.
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Wiecherts Ostpreußen ist eine Insel, die sakralen Charakter besitzt. In den dunklen Wäldern lebten einfache Menschen, die sich nach den biblischen Geboten richten. Für die Protagonisten bedeutete die Rückkehr nach Masuren die Veränderung von Zeit und Raum. 39 Die masurische Landschaft mit ihren charakteristischen Ikonen, wie kristallenen Seen oder dunklen Wäldern, verkörperte den unberührten Raum, der von Wiechert oft literarisch verklärt wurde. Seine Figuren kamen aus einer lauten Welt in eine Region, in der sie sich von der politischen Situation in der Weimarer Republik und den Kriegserinnerungen abzugrenzen suchten. Die Konsequenzen des Krieges und die schwierige wirtschaftliche Lage Deutschlands nach Kriegsende schienen keinen Zugang in die ostpreußische Provinz zu finden, von dessen plötzlicher Lage als Exklave abgesehen. Im Prosawerk der zwanziger und dreißiger Jahre verwendete Wiechert eine zweite Metapher, die des Waldes. Er verglich das Deutschland der Zwischenkriegszeit mit einem kranken Wald. Im Roman „Das einfache Leben“ schilderte er die Gestalt des Korvettenkapitäns Thomas von Orla, der nach dem Ersten Weltkrieg in eine große laute Stadt zog, diese schnell verließ und auf der Suche nach Ruhe nach Masuren umsiedelte. Die namenlose Stadt, durch deren Straßen der Korvettenkapitän von Orla irrte, wurde im Krieg zerstört und erinnerte an die Gesichter der Blinden. 40 Überall herrschten Chaos, Not und Elend, in der Stadt handelte man illegal mit vielen Waren, es kam zu Streiks und Morden. Wiechert beschrieb die Stadt und das Land folgendermaßen: Es sterben so viele in dieser Zeit, nicht nur an Krankheiten, sondern an der Armut, an der Verzweiflung, ja am Hunger. Die Zeit hat den Besitz gefressen, schwindelnd schnell, und nun, da die Scheine schon zehnstellige Zahlen tragen, kommt die Nachernte. Sie trifft die alten Exzellenzen wie die neuen Reichen, nur daß jene leiser dahinzugehen pflegen als diese. Das Land ist wie ein kranker Wald, in dem die Bäume gezeichnet werden, und die Glocken läuten jeden Tag. 41
Dieses Konzept des Landes wird in der Erzählung „Die Legende vom letzten Wald“ aus dem Erzählungsband „Der silberne Wagen“ (1928) fortgesetzt. Der Erzähler präsentiert eine symbolische Geschichte von einem Wald, der von den Menschen, den Bewohnern der Steinhäuser, gefällt wurde. Es bildete sich ein großer Kreuzzug von Menschen, die aufbrachen, um den Wald in Besitz zu nehmen. Sie schlugen den Wald so, dass ein Ring des Todes um ihn herum entstand. Die symbolische Darstellung des Krieges und des Todes schließt der Erzähler mit den Worten „Nun sind wir verflucht“ 42 ab. Im Gegensatz zu dieser Welt bot die masurische Landschaft ihren Protagonisten Stille, ein
39 40 41 42
Wiechert, Der silberne Wagen, S. 228. Ernst Wiechert, Das einfache Leben, München 1939, S. 21. Ebd., S. 93–94. Wiechert, Der silberne Wagen, S. 123.
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bescheidenes Leben und „keine Erlebnisse, keine Heldenrolle, keinen Glanz um die Stirn“ 43 an.
3. Das Weibliche und Kindliche Eine andere Dimension der Kriegsdarstellung im Werk Wiecherts ist die Perspektive des Weiblichen und des Kindlichen. Die Frauenbilder in den Kriegsromanen der Weimarer Republik wurden oft aus zweifacher Perspektive gezeichnet. Zum einen war die Frau Opfer von Vergewaltigung, zum anderen wurde sie als „Hort der Gefahr, der emotionalen Instabilität, der Verführung und Verführbarkeit“ 44 charakterisiert. Wiechert schafft eine dritte Perspektive, die der Leben spendenden und nehmenden Mutter. Es ist nicht auszuschließen, dass das Interesse Wiecherts am Mutterrecht mit der zweiten Phase der Bachofen-Rezeption, 45 die mit dem Ende des Ersten Weltkriegs, den Neuausgaben der Werke Bachofens 46 und dem modernen Geschlechterdiskurs begann, einherging. Nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg befanden sich die Veteranen des Krieges in einer äußerst schlechten Position. Sie waren oft krank, verkrüppelt, traumatisiert und nicht in der Lage, ihre Familien zu versorgen. Dieser besorgniserregenden Lage vieler Männer und ihrer allgemeinen Verunsicherung verlieh Thomas Mann in der Erzählung „Unordnung und frühes Leid“ (1925) und im Briefessay „Über die Ehe“ (1926) Ausdruck. 47 Die Frauen nutzten dagegen schnell die Chance, sich in der Gesellschaft zu etablieren, emanzipierten sich rasch und profitierten vom Bild der „Neuen Frau“. 48 Wiechert, dem die Schriften von Bachofen höchstwahrscheinlich bekannt waren, nahm an der öffentlichen Debatte über das Mutterrecht nicht teil, aber Spuren der Bachofenschen Philosophie sind in seinem Werk zu erkennen. Was Wiechert ansprechen musste, war das Postulat, dass die Frau als solche wesentlich besser als ein Mann zur Erkenntnis des Mysteriums des Werdens und des Vergehens disponiert sei. 49 Die Mutter von Johannes Karsten, der 43 Wiechert, Das einfache Leben, S. 76. 44 Leonhard, S. 131. 45 Zur Wiederentdeckung Bachofens durch Ludwig Klages und Bachofens Rezeption im Kreis der Schwabinger „Alternativen“ vgl. Ulrich Boss u. a., Einleitung, in: Ders. u. a. (Hg.), Matriarchatsfiktionen. Johann Jakob Bachofen und die deutsche Literatur des 20. Jahrhunderts, Basel 2018, S. 21–29. 46 Nach dem Sommer 1925 erschienen die Schriften Bachofens, die von Albrecht Bernoulli, Manfred Schröter und Alfred Bäumler herausgegeben wurden. Vgl. ebd., S. 24. 47 Ebd., S. 22–25. 48 Vgl. Gesa Kessemeier, Sportlich, sachlich, männlich. Das Bild der „Neuen Frau“ in den zwanziger Jahren. Zur Konstruktion geschlechtsspezifischer Körperbilder in der Mode der Jahre 1920 bis 1929, Dortmund 2000. 49 Boss, S. 10.
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Hauptfigur des Romans „Jedermann. Geschichte eines Namenlosen“, rief ihren Sohn dazu auf, in den Krieg zu gehen. Sie war diejenige, die den Sohn in den Krieg schickte und geduldig wartete, bis er aus dem Krieg zurückkam. Ihre psychische Kraft, ihre grenzenlose Hingabe und Liebe halfen dem Sohn, die furchtbarsten Kämpfe und Kriegserlebnisse durchzustehen sowie später körperlich und geistig zu genesen. So beruft sich Wiechert auf die oben umrissene Figur der das Leben spendenden und nehmenden Mutter, die für die Figur der archetypischen Großen Mutter und die Imaginationen des Urweiblichen steht. 50 Wie Mirosława Czarnecka betont, verbindet der Archetyp der Großen Mutter sowohl positive als auch negative Attribute. Sie ist eine gute und eine schreckliche Mutter, die zugleich Liebe, Geborgenheit und Glück sowie Tod, Rache und Kampf versinnbildlicht. 51 Johannes Karsten ist sich der Todesgefahr und der Bedeutung der Mutter bewusst. Zu seiner Mutter sagt er einmal: Wenn ich falle, dann falle ich nicht für das Vaterland oder den Kaiser oder eine Idee, sondern für dich. Alle, die draußen sterben, sterben für ihre Mutter. . . Nicht daß das Heldische bleibe, das Männliche oder das Furchtlose, sondern daß das Mütterliche bleibe. Es gibt keine Ewigkeit ohne die Mutter. . . „Das Regiment beklagt den Verlust. . . “, schreiben sie. Nein, tausend Mütter beklagen den Verlust ihrer Söhne. 52
An dieser Stelle sei hinzugefügt, dass die Gestalt der Großen Mutter mindestens in einem weiteren literarischen Werk der Region präsent ist und dort eine ähnliche Schattierung bekommt. Margarete Regina Louise Gräfin von Krockow (1749–1803), die Verfasserin der „Briefe einer Vaterlandsfreundin an ihre Lieblinge“ (1794), belehrt ihre Söhne bezüglich staatsbürgerlicher Tugenden und eines eventuell kommenden Krieges. 53 Zwar sollen die Söhne ihren Mut und ihre Standhaftigkeit auf dem Schlachtfeld beweisen, doch schließt die Mutter den Tod nicht aus. Sie hofft aber auf ihre glückliche Rückkehr vom Krieg. Zurückkommen sollen sie als Helden, nicht als Verräter oder Versager. „Kehre verstümmelt, kehre nackt – und bloß in meine Arme wieder“, ermahnt
50 Vgl. Anna Gajdis, „. . . warum schläft denn nimmer nur mir in der Brust ein Stachel?“. Ernst Wiecherts Prosawerk der 30er Jahre, in: Folia Germanica 11 (2015), S. 173. 51 Mirosława Czarnecka, Wieszczki. Rekonstrukcja kobiecej genealogii w historii niemieckiej literatury kobiecej od połowy XIX do ko´nca XX wieku, Wrocław 2004, S. 72–75. 52 Ernst Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 3: Jedermann. Geschichte eines Namenlosen (1929/30), Wien 1957, S. 448–449. 53 Obwohl die besprochene Schrift 1794 erschien, ist es anzunehmen, dass sie früher entstanden ist. Charakteristisch für die Literatur von Frauen um 1800 war der Bescheidenheitstopos. Die Frauen wollten gar nicht ihre Schriften publizieren und weigerten sich mehrere Jahre, ihre Werke in den Druck zu geben. Vgl. dazu Anna Gajdis, Baltische Sirenen: Repräsentanz, Relevanz und Identitätsbildung der deutschen Autorinnen im östlichen Ostseeraum um 1800, Leipzig 2014, S. 89–94.
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die Mutter ihre Söhne und damit erwartet sie eine baldige Rückkehr vom Schlachtfeld, auch wenn sie verletzt und verstümmelt wurden. 54 Die Ehefrau Irene, Hauptgestalt von Wiecherts Erzählung „Die Schmerzensreiche“ (1928), muss die Tatsache akzeptieren, dass ihr geliebter Mann in den Krieg ging. Sie kann sich damit nur schwer abfinden. Ihrer Meinung nach steht der Krieg für die Sehnsucht nach dem Mann, Weinen, Unsicherheit und Trauer. Ihre Gedanken kreisen nur um „Krieg und Tod und Heldentum“. 55 Als ihr Mann Günther lange nicht von der Front zurückkehrt und das neugeborene Kind stirbt, glaubt sie, zwei Leben verloren zu haben. Zwar kommt nach einer gewissen Zeit Günther gesund zurück, aber Irenes Gemüt ist längst zerrüttet. Aus Verzweiflung, Trauer über das verstorbene Kind und Zweifeln an Gott stößt Günther ein Schwert in eine Holzfigur der Muttergottes. Die einzige Erzählung der zwanziger Jahre, die den Krieg aus der Perspektive von Kindern zeigt und auf die bekannte Tradition der mittelalterlichen Kinderkreuzzüge eingeht, ist „Der Kinderkreuzzug“ (1928). Schon in der Autobiografie „Jahre und Zeiten“ wies der Schriftsteller auf ein gewisses Merkmal des Krieges hin, das den Ersten Weltkrieg mit dem Mittelalter vergleichbar macht. Laut Wiechert ersetzte der moderne Krieg die mittelalterlichen Beutezüge und Seefahrten und galt als „Stahlbad“ für die Soldaten, die ihre körperliche Kraft und ihren großen Siegeswillen unter Beweis stellen wollten. 56 Aber die peregrinatio puerorum des Jahres 1212 erfährt bei Wiechert eine wesentliche Änderung. Während die mittelalterlichen Knaben in das Heilige Land ziehen wollten, um es mit ihren reinen Herzen von den Muslimen zu befreien, machen sich die hungrigen Kinder der Wiechertschen Erzählung auf den Weg, um Essen vom Großvater zu holen. Da der Vater im Krieg war 57 und die Mutter ihre Kinder kaum versorgen konnte, beschließen die Kleinen, den wohlhabenden Großvater zu besuchen und ihn um ein wenig Essen für die Familie zu bitten. Der lange und anstrengende Fußmarsch von zwölf Kindern lässt sich sicher als Marsch ins Land Kanaan interpretieren. Der Hunger war groß, die Hoffnung auf Hilfe vom Großvater noch größer. Der Besuch enttäuscht die Kinder jedoch. Die Bitte wird abgelehnt, und wie vor 700 Jahren scheitert der Kinderkreuzzug. Den zwölf Kindern wird dennoch geholfen. Ein fremder Priester und ein unbekannter Hirte bieten ihnen Verpflegung und Unterkunft an. Sie laden die kleinen Wanderer zu einem Abendmahl ein, an dem alle zwölf Kinder teilnehmen, und sie geben ihnen auch Geld für Bahnfahrkarten. So
54 Vgl. Anna Gajdis, Eine vergessene Spur des weiblichen Schreibens um 1800: Margarete Regina Louise Gräfin von Krockow (1749–1803) und ihre pädagogischen Schriften, in: Anna Gajdis / Monika Ma´nczyk-Krygiel (Hg.), Der imaginierte Ort, der (un)bekannte Ort. Zur Raumdarstellung in der Literatur, Bern 2016, S. 29–44. 55 Wiechert, Der silberne Wagen, S. 135. 56 Wiechert, Jahre und Zeiten, S. 362. 57 Zum Motiv der Vaterlosigkeit vgl. Lu Seghers, „Vati blieb im Krieg“. Vaterlosigkeit als generationelle Erfahrung im 20. Jahrhundert – Deutschland und Polen, Göttingen 2013.
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können die Kinder erhobenen Hauptes nach Hause zurückkehren, nachdem sie ihr gelobtes Land anders als erwartet gefunden haben. Das dramatische Schicksal der hungrigen Kinder im Ersten Weltkrieg lässt eine gewisse Parallele zum Zweiten Weltkrieg herstellen. Deshalb ist es sinnvoll, an dieser Stelle auf Bertolt Brechts Gedicht „Kinderkreuzzug 1939“ (1941) und auf das Schicksal der ostpreußischen Wolfskinder zu rekurrieren. Während Brechts Gedicht bekannt ist, wird dem Schicksal der ostpreußischen Kriegskinder in der Forschung und Belletristik erst seit einigen Jahren Augenmerk geschenkt. Unter dem Begriff „Wolfskinder“ versteht man die Kinder und Jugendlichen aus dem nördlichen Ostpreußen, die 1945 auf der Flucht nach Litauen ihre Eltern und Verwandten verloren und ihre deutsche Identität verschweigen mussten. 58 Diesen Kindern wurde nicht nur die Zwangstrennung von der engsten Familie, sondern auch Gewalt, Einsamkeit, Hunger und Tod zuteil. So bildet Wiecherts Erzählung eine interessante Projektionsfläche für weitere Parallelen des Kriegskindermotivs. Die Figuren des Priesters, guten Herrn, Hirten oder Säers durchziehen das Werk des ostpreußischen Dichters. Der Hirte ist nicht nur eine Person, die für die Tiere, sondern auch für eine kleine Gemeinde von Menschen sorgt. Der Sämann ist nicht nur ein einfacher Feldarbeiter, sondern auch jemand, der sich um das Wohl seiner Gemeinde kümmert. Es werden ihm geradezu biblische Aufgaben zuteil. Die Gestalt eines Säers, der im Krieg bloß äußerlich die Rolle eines Soldaten spielen muss, steht im Mittelpunkt der Erzählung „Die Flucht ins Ewige“ (1928). Michael Anders hat in Frankreich den Grabenkrieg kennengelernt. Die Sehnsucht nach der Heimat, der mühsamen Feldarbeit und der geliebten Familie treiben ihn zur Fahnenflucht. Er hält sich zunächst in den Niederlanden auf und hilft bei der Feldarbeit auf einem Bauernhof. Nach Kriegsende kommt er in eine große Stadt (damit ist wahrscheinlich Köln gemeint) und beabsichtigt, seine Situation zu klären. Ein Gespräch mit einem Major lässt keinen Zweifel daran, dass die Aufgabe Michaels nicht im Kampf, sondern im Säen besteht. Michael soll säen und nicht töten. Genau wie Michael Fahrenholz wendet sich Michael Andres vom Schießen ab und fragt nach dem Sinn des Lebens. Der Krieg bedeutete nicht nur weit entfernte Schlachten auf entlegenen Kriegsschauplätzen, sondern auch das Eindringen der Kämpfe in die masurische Landschaft und die Zerstörung der bisherigen Idylle. Als Musterbeispiel kann die Erzählung „Die Hirtennovelle“ (1935) dienen, in der der Schriftsteller ein Ereignis aus dem Ersten Weltkrieg schildert. Es ist die Geschichte des Knaben Michael, der sich um seine Mutter und den gesamten Bauernhof
58 Vgl. Christopher Spatz, Ostpreußische Wolfskinder. Erfahrungsräume und Identitäten in der deutschen Nachkriegsgesellschaft, Osnabrück 2016; Sonya Winterberg, Wir sind die Wolfskinder. Verlassen in Ostpreußen, München 2012; Alvydas Šlepikas, Mano vardas – Maryte˙, Vilnius 2011.
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kümmern muss, nachdem der Vater von einem Baum erschlagen worden ist. Das Leben in dem verlassenen Dorf ist nicht einfach, zumal dem Jungen die symbolische Rolle des Hirten, d. h. die Verantwortung für die ganze Gemeinde, zugeschrieben wird. In das ruhige Leben des Dorfes drängt plötzlich der Krieg und Michael findet bald einen unerwarteten Tod. Er will ein Lamm aus seiner Herde retten und wird von einem russischen Soldaten mit einer Lanze erstochen. Mit der Figur des braven Landkindes wurde nicht nur dessen Rolle als symbolischer Retter und Bewahrer des Dorfes veranschaulicht, sondern auch eine mögliche Parallele zum damaligen Zeitgeschehen und zur Position des Dichters dem Dritten Reich gegenüber versinnbildlicht. Friedrich Denk stellt die Zugehörigkeit Wiecherts zu den Schriftstellern der Inneren Emigration infrage und behauptet, Wiechert gehöre zu den Autoren, die sich „nicht zurückgezogen, sondern als Autoren immer wieder eingemischt haben“. 59 In diesem Text von Wiechert finden sich jedoch keine Hinweise auf Ereignisse des Jahres 1935, und so bestreitet Manfred Franke die Argumentation Denks und weist auf eine weitere mögliche Deutung der Erzählung hin. Das Schicksal des Jungen, der im Krieg im Dorf blieb, für andere eintrat und diese Entscheidung mit dem eigenen Leben bezahlte, ähnelt dem Leben Wiecherts, der Deutschland nicht verließ, aber in vielen Situationen seinen Mut unter Beweis gestellt hat. 60
4. Schluss Die Analyse der ausgewählten Werke aus den zwanziger und dreißiger Jahren führt zur Erkenntnis, dass Wiechert seine Kriegserlebnisse literarisch verarbeitet hat und dabei mehrmals auf die üblichen Kriegsmotive einging. In seinem Werk lassen sich aber auch andere Parallelen sehen, und wie die exemplarische Interpretation der „Hirtennovelle“ beweist, wird sein Schaffen im Kontext des Dritten Reiches erforscht. Die dunklen Jahre des Ersten Weltkrieges, die die vertraute Welt aus den Angeln gehoben hatten, gingen wie ein tiefer Pflug durch die Existenz des Dichters. Er bekannte sich dazu, die Spuren des Krieges auch nach Jahrzehnten noch erkennen zu können. 61 Wiechert behauptete, dass er die Jahre des Großen Krieges in Würde überstanden habe, und den Sinn seines Schaffens begriff er unverändert so, wie er ihn verstanden hatte: Es war „der Trost der Welt, der aus dem ergriffenen Wort und aus dem ergriffenen Herzen kam, das Licht, das immer noch blieb, auch wenn das ganze Leben sich bis in eine unendliche Zukunft zu verdunkeln schien“. 62 59 Manfred Franke, Jenseits der Wälder. Der Schriftsteller Ernst Wiechert als politischer Redner und Autor, Köln 2003, S. 35–39. 60 Ebd., S. 36–37; vgl. auch Anna Gajdis, Odległa prowincja. Prusy Wschodnie w prozie pisarzy niemieckich (1866–1945), Wrocław 2014, S. 58–60. 61 Wiechert, Jahre und Zeiten, S. 361. 62 Ebd., S. 507.
Tobiasz Janikowski
(Uniwersytet Pedagogiczny im. KEN w Krakowie)
„. . . der Krieg war nur für die Kapitalisten, aber schade ist’s trotzdem“ Der Erste Weltkrieg und die Emotionalisierungsstrategien in der Literatur und Publizistik des oberschlesischen Grenzlandkampfes
„Der große Krieg“ wurde von Anfang an von großen Emotionen begleitet. Vor diesem Hintergrund wundert der Umstand nicht, dass affektvolle Wahrnehmungen und Interpretationen von historischen und politischen Ereignissen eine stark ideologisierte Literatur und Publizistik entstehen ließen, in welchen – bei aller thematischen Vielfalt – die unmittelbare Auswirkung der Kriegshandlungen auf Oberschlesien 1 ganz deutlich zum Vorschein kommt. Die soziotechnisch konzipierten, affektvollen Darstellungen des Kampfes sowie die literarisch und publizistisch 2 forcierte Mythisierung des Krieges waren imstande, die kollektive Identität der Einwohner des ehemaligen deutschen 1 Die regional und überregional bezogenen sozialpolitischen Kontexte schildert u. a. Wilhelm Volz in der publizistischen Abhandlung „Oberschlesien und die oberschlesische Frage“ (1922). Schon im Vorwort zu der stark propagandistisch konzipierten Broschüre wird explizit Bezug auf die Kompliziertheit der politischen Situation genommen, wobei dem globalen Hintergrund und der geopolitischen Lage Oberschlesiens viel Aufmerksamkeit geschenkt wird. Auffällig ist des Weiteren die Berufung auf eine scheinbar objektive Instanz, die Meinung des amerikanischen Forschers Sidney Osborne: „Die oberschlesische Frage geht in ihrer Bedeutung weit über den Rahmen lokalen Interesses hinaus; sie ist mehr als eine Grenzfrage zwischen Deutschland und Polen – sie ist ‚vollbeladen mit europäischen Komplikationen‘, schreibt der Amerikaner Sidney Osborne. [. . . ] Welche Seite des Problems wir auch beschauen, alles ist Geographie! [. . . ] Oberschlesien ist praktische, angewandte Geographie, die ja das Kind der rein- oder nur-wissenschaftlichen Geographie ist“. Wilhelm Volz, Oberschlesien und die oberschlesische Frage, Breslau 1922, S. 4. Eine auf solche Weise kreierte Deutung der lokalen Problematik veranlasst den Publizisten zu einer äußerst pessimistischen Zukunftsprognose. Der Bezug auf die Teilung des Landes und auf den Krieg hat dabei eine stark emotionalisierende Wirkung: „Ein blutiger Schnitt wird jetzt durch Oberschlesien gezogen; Jahre feindlicher Besatzung gehen vorauf, die das ganze wirtschaftliche und völkische Leben in Mitleidenschaft zogen; vorher der Weltkrieg, der anomale Zeiten brachte. So sind die letzten Jahre vor dem Kriege der ruhige Maßstab der Wirtschaft; sie sind also als der Normalstand betrachtet worden. Seither ist alles in gärender, unfaßbarer Unruhe, eine Art Manometer – zu kritischer Würdigung oft wertvoll“. Ebd. 2 Was die Publizistik dieser Zeit betrifft, ist eine eindeutige Zuordnung und Definition der Begriffe sowie eine überzeugende Abgrenzung zwischen den damals populären Gat-
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Ostens bedeutend mitzuprägen. Zahlreiche Texte von Autoren wie Wilhelm Wirbitzky, Hans Wolfgang Emler, Wilhelm Volz oder Robert Kurpiun speisen sich konsequent aus dem Mythos der Jahre 1914–1918, die als Bezugsebene zur Beschreibung der sozial-politischen Lage in der oberschlesischen Region in den 1920er und 1930er Jahren dienen. Wenn man einleitend die regionale Perspektive verlässt und sich globalen sozialpolitischen Kontexten und Umständen dieser Zeit zuwendet, erkennt man deutlich das Ausmaß der vieldimensionalen Veränderungen, die La Grande Guerre nach sich gezogen hat. 3 Dies lässt sich u. a. am Beispiel der staatlichen Strukturen und Systeme veranschaulichen: Im Sommer 1914, noch vor dem Ausbruch des Krieges, zählte man in Europa drei Republiken (die Schweiz, Frankreich und Portugal). Nach der Pariser Friedenskonferenz kam man auf dreizehn. Angesichts solcher demografischer – und, wie sich später herausstellen sollte, auch emotionaler – Verschiebungen, dienten die Karten, sosehr sie die spätere Wirklichkeit vorwegnahmen, auch dazu, diese Wirklichkeit erst einmal zu verstehen. 4
tungen keine einfache Aufgabe. Dies lässt sich sogar am Beispiel der Unterscheidung zwischen Zeitungen und Zeitschriften zeigen. Bernhard Gröschel konstatiert diesbezüglich nicht zu Unrecht: „Selbst in der Publizistikwissenschaft existiert bislang kein allgemein akzeptierter Kriterienkatalog für eine Abgrenzung zwischen Zeitung und Zeitschrift. Zahlreiche Definitionsversuche weisen darauf hin, daß die Schwierigkeit einer stringenten Unterscheidung verschärft wird durch die historische Perspektive, die auch in unserer Darstellung präsent ist. Unter dem Gesichtspunkt der sowohl von Zeitungen als auch von Zeitschriften wahrgenommenen Funktion als Vermittler politischer Tendenzen ist die Subsumtion beider Typen von Periodika unter den Begriff ‚Tendenzpresse‘ bzw. ‚Tendenzpublizistik‘ gerechtfertigt“. Bernhard Gröschel, Studien und Materialien zur oberschlesischen Tendenzpublizistik des 19. und 20. Jahrhunderts, Berlin 1993, S. 12. Im oberschlesischen Kontext ist des Weiteren die Existenz der damals äußerst populären Plebiszitpresse von Bedeutung, die von beiden Seiten des Konflikts – oft unabhängig von politischen Allianzen und Antagonismen – herausgegeben wurde: „Ein Spezifikum der oberschlesischen Presseregion bilden die Plebiszitblätter, die vor der Volksabstimmung von 1921 Anhänger für den Verbleib Oberschlesiens beim Deutschen Reich, für seinen Anschluß an Polen oder für einen ‚dritten Weg‘ in Gestalt einer Freistaatlösung zu mobilisieren suchten, wobei sie in ihrer Agitation herkömmliche parteipolitische Ausrichtungen innerhalb ihrer Adressatengruppen als irrelevant in den Hintergrund zu drängen trachteten“. Ebd. 3 Bernd Küster betont vor allem die Bedeutung der Wechselbeziehungen zwischen den Kriegshandlungen und der sich neu formierenden Kulturentwicklung: „Der Erste Weltkrieg zog nicht nur einen Schlussstrich unter eine Epoche geordneten bürgerlichen Wohlergehens, unter eine Phase der Prosperität, der Betulichkeit, hinter deren Fassade Militarismus und Selbstherrlichkeit machtvoll gediehen, er riss gleichzeitig alle Stränge auseinander, die das kulturelle Bild der Kaiserzeit so facettenreich machten“. Bernd Küster, Vorwort, in: Ders. (Hg.), Der Erste Weltkrieg und die Kunst. Von der Propaganda zum Widerstand, Gifkendorf 2008, S. 6. 4 Kersten Knipp, Im Taumel. 1918 – ein europäisches Schicksalsjahr, Darmstadt 2018, S. 184.
„. . . der Krieg war nur für die Kapitalisten, aber schade ist’s trotzdem“
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Die Erweiterung der politischen Kontexte und Interpretationen angesichts der Präsenz des Krieges in den damaligen Medien, insbesondere in Literatur und Publizistik, führt zu dem Befund, dass die militärische Auseinandersetzung zwischen den Großmächten kontinuierlich ein bedeutendes Emotionalisierungspotenzial entwickelte. Die vor dem Hintergrund der Kriegshandlungen entstandenen Affekte 5 waren dabei intern äußerst stark ausdifferenziert. Es reicht, allein auf unterschiedliche Reaktionen auf das Ende der Kriegshandlungen zu verweisen, um den Prozess der Emotionalisierung mehr oder weniger plausibel zu veranschaulichen. In der oben zitierten Monografie von Kersten Knipp „Im Taumel. 1918 – ein europäisches Schicksalsjahr“ wird – was eine deutlich sichtbare darstellerische Polarisierung herbeiführt – die Atmosphäre in Paris beschrieben, wo die kriegsmüden Bürger und Soldaten den lang ersehnten Waffenstillstand enthusiastisch begrüßten: Um Punkt 11 Uhr läuten die Glocken – ebenso wie 1914, mit dem Unterschied, dass sie nun nicht vom Anfang, sondern vom Ende der Kämpfe künden. Sie setzten eine gewaltige akustische Kakophonie in Gang: In den Fabriken lässt man aus Freude die Sirenen heulen, die Feuerwehren von Paris geben 1200 Kanonenschüsse ab, derweil die Bürger auf ihre Kochtöpfe eindreschen. Und überall sind Menschen. Laut singend, schreiend, ziehen sie durch die Straßen, man umarmt sich, man weint, man lacht. 6
Völlig anders gestalten sich zu dieser Zeit die kollektive Wahrnehmung des Waffenstillstands und die damit verbundene Affektbildung in Deutschland, was ebenso auf die ethnisch und kulturell uneinheitliche Region am rechten Oderufer zutrifft. Robert Kurpiun, ein oberschlesischer Publizist und Schriftsteller, zeichnet in seinen Tagebucheinträgen am 17. November 1918 im Kapitel „Der letzte Schuß“ ein pessimistisches Bild der ersten Nachkriegsstunden: „Am 11.11. um 11 Uhr vormittags ist auf dem Kriegsschauplatz der letzte Schuß gefallen. Der letzte Schuß? Ich habe das Gefühl, der Krieg wird noch lange kein Ende nehmen, ein zweiter, dritter werden sich anschließen um Oberschlesien, den deutschen Osten, der schlimmste im Innern gegen uns 5 Emotionen und Affekte hängen, worauf Eirini Tsiknaki verweist, „mit Prozessen des Wahrnehmens, des Verstehens, des Erlebens und des Handelns zusammen und sie tragen dazu bei, dass man sich der Welt anpasst und Entscheidungen über sich und andere trifft“. Eirini Tsiknaki, Literatur und Persönlichkeitsentwicklung. Eine empirische Erfassung des Zusammenhangs zwischen literarischem Lesen und emotionaler Intelligenz, München 2005, S. 15. In Bezug auf eine adäquate Begriffsanwendung ist auch darauf zu verweisen, dass die Kategorie „Gefühle“ einen Überbegriff für sämtliche affektive Phänomene darstellt: „Dazu zählen neben den Emotionen auch Stimmungen und Launen, affektive Einstellungen wie Sympathie, Antipathie, Vertrauen und Misstrauen sowie lokalisierbare und diffuse Empfindungen und sogar Intuitionen“. Christiane Voss, Narrative Emotionen. Eine Untersuchung über Möglichkeiten und Grenzen philosophischer Emotionstheorien, Berlin 2004, S. 12. 6 Knipp, S. 23.
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selbst; Bruderkrieg“. 7 Auch im Tagebucheintrag „Tanzende Grenzen“ vom 4. November 1918 lässt sich die von Kurpiun gezeichnete Atmosphäre der Verzweiflung deutlich spüren: „Ich fürchte, die Bedingungen von Waffenstillstand und Frieden werden so ungeheuerlich ausfallen, daß auch unsre ärgsten Miesmacher und Pazifisten darob in die Mauselöcher kriechen werden“. 8 Nicht zufällig bedient sich der Autor des Romans „Der Mutter Blut“ einer äußerst affektvollen, emotionsbeladenen Rhetorik, die zweifelsohne auch auf Erreichung eines pragmatischen, sozialpolitischen Ziels gerichtet ist. Schließlich verzahnen sich die Emotionen gewöhnlich mit der kognitiven und rationalen Sphäre, sie werden nicht allein von angeborenen Reflexen und Instinkten geprägt, sondern sind auch, so Christiane Voss, als „Akte der sprachabhängigen und normativen Reflexion“ 9 wirksam. Die unabwendbare Katastrophe ist in der Wahrnehmung von Robert Kurpiun – eines aus Ostpreußen stammenden und nach Oberschlesien zugewanderten Autors – allgegenwärtig; sie bezieht sich nicht nur auf mentale und geistige Aspekte, sondern auch auf wirtschaftliche Zusammenhänge, die mit dem schicksalhaften, verhängnisvollen Alltag eng verbunden sind: „Die Tischler machen nur noch Särge“, schreibt der zu dieser Zeit in Tarnowitz (heute Tarnowskie Góry) lebende Literat und Bergschullehrer. „Als ob hier innere Zusammenhänge bestünden, rafft der Tod auffallend viel junge Mädchen hinweg. Will er sie auf diesem Wege mit jenen zahllosen jungen Männern vereinigen, die der Krieg draußen gebettet hat?“. 10 Der oben zitierten Passage ist zu entnehmen, dass der Krieg selbst eine so einschneidende gewaltige kollektive und individuelle Erfahrung war und die bisher gültigen Normen der Zivilisation und Kultur auf derart erschütternde Weise untergraben hat, dass „jene, die aus den Schlachten zurückkehrten, allergrößte Schwierigkeiten hatten, in die gewohnte, nunmehr wieder befriedete Welt zurückzukehren“. 11 Auf die sich kontinuierlich verschlechternde
7 Robert Kurpiun, Am Abgrund. Das Jahr 1919 in einer oberschlesischen Grenzstadt, Breslau 1942, S. 49. 8 Ebd., S. 29. Bereits einige Wochen früher, Ende Oktober 1918, prophezeite Kurpiun einen bitteren Ausgang des Krieges, der nicht nur Millionen Opfer auf der deutschen Seite forderte, sondern ebenso die innere sozialpolitische Spaltung verursachte: „Das Lied ist aus. Deutsche haben Deutsche bezwungen. Wieder einmal hat Hagen Siegfried rücklings erschlagen. Schlußakkorde; Totengesang. Die Menschen sterben wie Fliegen. Weniger jetzt draußen im Feld. Da wird’s stiller um Siegfrieds letzten Atem“. Ebd., S. 9. 9 Voss, S. 5. 10 Kurpiun, S. 9. 11 Knipp, S. 34. Der Erste Weltkrieg ist als eine kollektive traumatische Erfahrung der um das Jahr 1900 geborenen Generation einzustufen. Vor diesem Horizont kann es ungewöhnlich erscheinen, dass er in den Texten mancher Autoren, wie in der 1922 erschienenen Broschüre „Schlesien unteilbar, deutsch, preußisch!“ von Paul Knötel, überhaupt nicht explizit erwähnt wird. Selbst in einer ausführlichen historischen Analyse werden die Kriegskontexte nicht thematisiert, was sich als ein mehr oder weniger
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Lage der Bevölkerung nicht nur Oberschlesiens, sondern auch anderer Regionen Deutschlands, macht auch Jochim Volz in der Abhandlung „Die deutsche Ostgrenze. Unterlagen zur Erfassung der Grenzzerreißungsschäden“ (1929) aufmerksam. In seiner Darstellung werden vor allem die territorialen Abtretungen in Oberschlesien, Posen und Westpreußen als ein bedeutender Faktor des sich kontinuierlich verschlechternden Lebensniveaus gesehen. 12 In der Literatur des oberschlesischen Grenzlandkampfes ist die häufig vorkommende Heranziehung von wirtschaftlichen Umständen und Hintergründen 13 besonders relevant, was nicht ohne Einfluss auf die Handlung zahlreicher Prosatexte bleibt, insbesondere wenn man bedenkt, dass die Einflechtung von eskapistischen Visionen und Projektionen sich äußerst stark auf die In-
bewusst vollzogener Verdrängungsprozess begreifen lässt. Vgl. Paul Knötel, Schlesien unteilbar, deutsch, preußisch!, Hannover 1922. 12 „Seit dem Weltkrieg ist die wirtschaftliche Lage im gesamten Deutschen Reich schlechter geworden als sie vor dem Kriege war und vor allem ist die Wirtschaft Ostdeutschlands durch die großen Abtretungen in Ost- und Westpreußen, Posen und Oberschlesien über die Belastung aus den Friedensverträgen hinaus empfindlich getroffen worden. [. . . ] Man kann heute gewissermaßen von einem vom Westen gegen den Osten immer stärker absinkenden wirtschaftlichen Gefälle sprechen, das dann nahe der Grenze in scharfer Neigung absackt. Dieser Grenzstreifen längs der neugezogenen langen Grenze gegen die neuen östlichen Nachbarstaaten ist durch die Abtretungen und durch die Grenzziehung besonders stark in Mitleidenschaft gezogen“. Jochim Volz, Die deutsche Ostgrenze. Unterlagen zur Erfassung der Grenzzerreißungsschäden, Langensalza 1929, S. 2. Auf die materielle Not, die den Krieg von Anfang an begleitete und folglich einen Umschlag der Gefühle sowie negative Emotionalisierung innerhalb der deutschen Gesellschaft verursachte, macht ebenso Wolfgang Kruse aufmerksam: „In der Folgezeit setzte vor allem die durch den Krieg ausgelöste materielle Not breiter Schichten der Bevölkerung der Begeisterung schon frühzeitig enge Grenzen. Bereits in der Entstehungsphase des Krieges hatten Panikreaktionen zu langen Menschenschlangen vor Sparkassen und Geschäften geführt. Nach Kriegsbeginn wurden die den Hamsterkäufen zugrundeliegenden Befürchtungen durch ein rapides Anwachsen der Arbeitslosigkeit, Lebensmittelteuerungen und mangelnde Unterstützungsleistungen für die Familien der Einberufenen noch übertroffen“. Wolfgang Kruse, Die Kriegsbegeisterung im Deutschen Reich zu Beginn des Ersten Weltkrieges. Entstehungszusammenhänge, Grenzen und ideologische Strukturen, in: Ders. (Hg.), Der Erste Weltkrieg, Darmstadt 2014, S. 185. 13 Die wirtschaftliche Lage Oberschlesiens und des ganzen deutschen Ostens überhaupt wird in der Publizistik häufig der geistigen und kulturellen Überlegenheit WestDeutschlands gegenübergestellt, was in der Abhandlung von Jochim Volz deutlich zum Vorschein kommt: „Einige kurze Worte noch über die kulturelle Seite des Ostproblems. Es ist eine bekannte Tatsache, daß Gunst der wirtschaftlichen Lage kulturfördernd wirkt. Und dem entspricht dann auch die Tatsache, daß im deutschen Westen und in Mitteldeutschland der kulturelle Lebensstandard ein höherer ist als gemeinhin im Osten. Ohne daß ich irgendwie auf die historischen und die inneren Gründe eingehen will, läßt sich als Beleg dafür unter anderem auch die Tatsache anführen, daß unsere Westgrenze mit einer doppelten Reihe von Hochschulen gepanzert ist, während der gesamte Osten nur zwei Hochschulstädte, Königsberg und Breslau, aufweist“. Volz, Die deutsche Ostgrenze, S. 13.
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haltsebene auswirkt. Eine solche Tendenz kann man am Beispiel der Erzählung „Johannes Kraft’s Reise nach Amerika“ (1928) von Wilhelm Wirbitzky veranschaulichen. Der Prosatext ist zwar zehn Jahre nach der deutschen Kapitulation von 1918 erschienen, trotzdem bedient er sich kontinuierlich bildhafter und affektvoller militärischer Parabeln. Sie zeigen, obwohl zum Teil verschlüsselt, dennoch verständlich, die Situation im Deutschen Reich unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg und geben die damals herrschende Atmosphäre wieder: Meister, ’s ist in unserem Vaterlande nichts mehr. Da kann ich schwitzen vom lichten Morgen bis zum grauen Abende, das deutsche Schwert ist einmal zerbrochen, und meine Kräfte langen nicht aus, es herzurichten, ’s muß riesengroß sein. Alle Schmiede vom Alpenrande bis zum schäumenden Meere müßten zusammen kommen – und sie würden es noch nicht schaffen. Darüber denke ich nach – und es macht mir zuviel Kopfschmerzen. Und da ich’s nicht kann und alle anderen auch nicht, da hab’ ich etwas anderes im Sinn’. Es lässt mich nicht los. Den Hammer halt’ ich wohl fest in den Fäusten, aber ’s geht alles ohne Seele. 14
Noch deutlicher erscheint die Kriegsparabel in der Antwort des Meisters, einer der Hauptfiguren der zitierten Erzählung, der aufgebracht die potenzielle Emigration anprangert, wobei die antiamerikanische Rhetorik seiner Aussage eine meinungsstiftende, emotionalisierende Rolle spielt: „Also die Schiffe haben sie uns zuerst – na – gestohlen. Diese Staatschiffe! Wir verloren die Arbeit – und dann ließen sie uns Granatenhülsen drehen. Verstehst du’s, Granaten, um damit meine Brüder in Deutschland totzuschießen“. 15 Wirbitzky, einer der prominentesten Schriftsteller der Literatur des oberschlesischen Grenzlandkampfes, bedient sich aber nicht nur mehr oder weniger verschlüsselter, literarischer Darstellungsmittel, um die Kriegs- und Nachkriegswirklichkeit zu schildern. In einem Mahnruf mit dem signifikanten Titel „Lasset die Kindlein zu mir kommen“, der als eine Erbauungspublizistik dieser Zeit eingestuft werden kann, prangert er sichtbar entrüstet die sittliche Verkommenheit der Nachkriegsgesellschaft an: „Armes Deutschland, um viele deiner Männer und Frauen ist es sehr, sehr schlecht bestellt! Deine Besten, Bravsten sind in blutigen Schlachten gestorben. Das waren die wahren Sieger. Aber die daheim haben Gott verloren. Das sind die, die den Krieg verspielt haben“. 16 Die subversive Kraft der voranschreitenden Zersetzungsprozesse und der indifferenten Weltanschauungen sowie der allgegenwärtigen Sittenlosigkeit erblickt der Publizist Wirbitzky vor allem in der moralischen Fehlentwicklung in mittleren und großen Städten. Als erfolgsversprechende Gegenmaßnahme
14 Wilhelm Wirbitzky, Johannes Kraft’s Reise nach Amerika, Schweidnitz 1928, S. 7. 15 Ebd., S. 16. 16 Wilhelm Wirbitzky, Lasset die Kindlein zu mir kommen, Breitenhain 1923, S. 6.
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schlägt er – wobei eine mit religiöser Symbolik 17 aufgeladene Rhetorik ganz deutlich zum Vorschein kommt – einen Kreuzzug gegen die Sünde und den Teufel vor. 18 In die Rolle eines eifrigen Predigers schlüpfend grollt er sichtbar entrüstet: „Um die Familie und die Schule ist ja gegenwärtig ein heftiger Kampf entbrannt. Freie Liebe und Religionslosigkeit schaufeln ihnen das Grab. Gelingt das Satanswerk, dann wehe unseren Kindern! Was dann groß wird, sind keine Kinder Gottes mehr, sondern fleischgewordene Teufelchen“. 19 Den Krieg als Ursache allen Übels betrachtet auch Kurpiun in seinen „Am Abgrund“ betitelten Tagebucheinträgen, wobei die Ähnlichkeit der angewandten rhetorischen Mittel besonders auffällig ist. In einem nicht geringeren Ausmaß als in der gerade zitierten Aussage von Wirbitzky werden auch hier die sittlichen Aspekte angesprochen: Der Krieg, der unser Volk bis auf den Grund ausschöpfte, bis auf den letzten Mann, der kämpfen konnte, hat auch die schlechtesten Elemente aus dem Sumpf heraus an die Oberfläche geholt und nicht selten an Plätze gestellt, die sie nicht verdienten; zum mindesten hat der Staat ihr Vordringen nicht scharf genug verhindert. So machen sich jetzt Personen, die man vorher als Verbrecher bezeichnet hätte, an maßgebender Stelle breit und prägen der Umgebung ihren Stempel auf. Der stinkende Schlamm des aufgewühlten Teiches steigt nach oben. 20
17 So erklärt Bernd Apke das massenhafte Erscheinen religiöser, wenn nicht gar mystischer Inhalte und Tendenzen in den Jahren 1914–1918, insbesondere bezüglich der bildenden Kunst: „Gerade während des Krieges verstärkt sich der Rückgriff auf religiöse Metaphern in den Bildern. Das verwundert nicht, greift der Mensch doch gerne auf religiöse Vorstellungen gerade in solchen Situationen zurück, in denen sich existentielle Übergänge abzuzeichnen scheinen oder vollziehen, z. B. vom Leben zum Tod. In den theoretischen Grundlagen bedient man sich in der Kunst dabei häufig modifizierter theologischer Kasuistik, litaneienhafter Wortkaskaden und eines vermeintlichen Argumentes, dass die Theologie in geschickter Weise letztlich dem Zugriff der Ratio entziehen soll: des Geheimnisses. Geheime Zusammenhänge kann man nicht hinterfragen, sondern nur glauben – eine Einladung für jeden Ideologen“. Bernd Apke, Krieg ist die einzige moderne religiöse Ekstase. Religiöse Ikonografie in der Kunst während des Ersten Weltkrieges, in: Küster, S. 191. 18 Wirbitzky, Lasset die Kindlein zu mir kommen, S. 7. 19 Ebd., S. 10. 20 Kurpiun, S. 42. Die Schilderung der sittlichen Verkommenheit ist bei Kurpiun auch an der Stelle präsent, wo er über die Rücksichtslosigkeit und Gier der für die Lebensmittelversorgung Zuständigen herzieht: „Auf Hunger und Not des Volkes ein Gewerbe zu gründen, ist Verbrechen und todeswürdig. Alle Maßnahmen gegen dieses Gesindel sind fehlgeschlagen, weil man von Anfang an nicht rücksichtslos genug zugriff und Exempel statuierte“. Ebd., S. 13. Die Stimmung in der Gesellschaft angesichts der sogenannten „Preistreiberei“ beschreibt ebenso Volker Berghahn: „Als auch deren vorrangige Versorgung nicht besser wurde und viele der Kriegerfrauen infolge des Massensterbens an der Front selber in Not geraten waren, richtete sich das Ressentiment zunehmend gegen die Produzenten, die des Hortens und der Preistreiberei bezichtigt wurden. Die Teuerung fraß die geringen Haushaltsmittel für das tägliche Essen einfach auf. Als Ausweg wur-
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Angesichts einer solchen, stark stigmatisierenden Rhetorik kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die extrem wirkenden, emotionalisierenden Stimmen in der oberschlesischen Literatur und Publizistik dieser Zeit als unmittelbare Konsequenz der politischen und wirtschaftlichen Lage Deutschlands nach 1918 zu betrachten sind. Gemeint ist vor allem die Auswirkung der verhängnisvollen Zeit, in der sich eine hochgradig zwiespältige, unentschlossene Gesellschaft gebildet hat, die hin und her schwankte zwischen der Freude über den beendeten Krieg und dem Unmut darüber, wie dieses Ende aussah. Knipp macht darauf aufmerksam, dass die Atmosphäre des Jahres 1918 einerseits von pessimistischen, düsteren Stimmen bestimmt wurde, andererseits vom spontanen Glücksempfinden, nach vier langen Jahren endlich nicht mehr kämpfen zu müssen. Ohne Zweifel durchlebte das Land „eine eigenartige Mischung zwischen Erleichterung und Depression, Zukunftserwartung und Endzeitgesängen, Aufbruchswillen und Revanchismus“. 21 Im Zuge einer unmittelbaren Anknüpfung an die Atmosphäre der Nachkriegszeit, unter gleichzeitiger Anwendung von erprobten Darstellungsschemata schreibt Wirbitzky den in der Wirklichkeit des Ersten Weltkriegs tief verankerten Roman „Heimattreu“. Wirbitzky, der nicht als Publizist, sondern vor allem als Prosa-Autor – insbesondere der in den 1930er Jahren äußerst populären „Trilogie Oberschlesien“ – berühmt wurde, eröffnet die Handlung des ersten Teils der Trilogie mit der Darstellung der Reise der aus Mecklenburg stammenden Protagonistin Maria Bernhard, die „im Rosenmonat des Jahres 1918“ 22 in Begleitung ihres Vaters nach Berlin und dann weiter nach Annagrube in Oberschlesien fährt, um die Eltern ihres Verlobten kennenzulernen. Bereits auf den ersten Seiten des Romans wird an den Beginn des Ersten Weltkriegs erinnert. Dies lässt sich als Emotionalisierungsstrategie begreifen. 23 Besonders signifikant ist der explizite Bezug auf die Worte der damaligen Machthaber: „Im heiligen Kampfe um das Sein unseres Volkes verspritzte noch so mancher deutsche Mann sein teures Blut. ‚Um Sein oder Nichtsein unserer Nation geht es‘, hatte Kaiser Wilhelm seinem Volke zugerufen“. 24 Dass die Perspektive der Affektbildung und Emotionalisierung im Roman eine bedeu-
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den Massenspeisungen eingerichtet, wo Bedürftige wenigstens eine reguläre Mahlzeit erhalten konnten“. Volker Berghahn, Der Erste Weltkrieg, München 2003, S. 84. Knipp, S. 202–203. Wilhelm Wirbitzky, Heimattreu. Roman aus dem oberschlesischen Hexenkessel, Myslowitz 1921, S. 4. „Der Weltkrieg“, so der auktoriale Erzähler, „hat wie in vielen anderen Dingen so auch hier Wandel geschaffen“. Ebd. Ebd., S. 5. Aus diesem Blickwinkel erscheint die spätere Abdankung des Kaisers als eine nationale Katastrophe. Dies wird auch in den Memoiren von Kurpiun im Kapitel „Am Abgrund“ akzentuiert: „Als wir den Saal verlassen, bringt Kreissekretär W. die soeben eingegangene amtliche Nachricht, der Kaiser habe zugunsten seines Enkels auf die deutsche und preußische Krone verzichtet. Einen Augenblick stehen wir wie gelähmt, dann fällt ein kalter Schauer über uns. Das Gefürchtete ist Tatsache geworden. Ein
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tende Rolle spielt, zeigt ebenso das Gespräch zwischen Maria und Bergdirektor Wermuth: „Schwiegervater, der Krieg dauert ja aber auch schon zu lange. Viele Leute haben die Nerven verloren“. „Kind, wer die stärkeren Nerven hat, wird siegen“. 25 Eine vergleichbare Darstellungstendenz, die konsequent auf Affektbildung gerichtet ist, zeigt sich auch in den 1918 verfassten Tagebuchnotizen von Kurpiun, wobei hier zusätzlich die Stigmatisierung des Feindes eine wichtige Rolle spielt: „Zunächst will man uns die Hände binden, um uns dann leichter und gefahrloser köpfen zu können“. 26 Kurpiun bedient sich dabei eines affektgeladenen Vokabulars, das gewöhnlich von Metaphern begleitet wird: „Noch nie hat der Wolf mit dem Hasen Frieden geschlossen; und wir sind die Hasen“. 27 Die bildhafte Sprache ist auch im Kapitel „Die neuen Herren“ (geschrieben am 11. November 1918) tonangebend: „Nicht einmal zu Verhandlungen hat man uns zugelassen. Vogel friß – oder stirb! Und wir fressen, um – zu sterben“. 28 Eine besonders starke Wirkung der affektvollen Darstellungen des Krieges in der Literatur des oberschlesischen Grenzlandkampfes ist aber erst dann möglich, wenn das Märtyrertum und das Leiden der Familien von gefallenen Soldaten und zivilen Kriegsopfern explizit veranschaulicht werden. Im Roman „Heimattreu“ von Wirbitzky wird dies in der Beschreibung der Trauer nach dem Tod des Leutnants und Batterieführers Edgar Wermuth, der am 28. Juni 1918 bei Soissons den Heldentod stirbt, stark akzentuiert. Das Datum ist in diesem Zusammenhang kaum zufällig, wenn man bedenkt, dass genau ein Jahr später, am 28. Juni 1919 – wodurch die Handlung um einen historischen Kontext erweitert wird – die deutsche Delegation zur Unterzeichnung des Versailler Vertrags gezwungen wurde. In der Schilderung der privaten Perspektive rückt ein auf Affekten basierender Darstellungsmodus in den Vordergrund: „Namenloses Weh durchzittert die Herzen der armen Eltern und Geschwister. Es spielen sich Szenen der Verzweiflung ab, deren Zeugen nur die stummen Wände sind. Ein stolzes deutsches Haus hat ein schweres Opfer fürs Vaterland gebracht“. 29 Die Emotionalisierung erstreckt sich anschließend auf die Darstellung der Tugenden des Vaters des gefallenen Soldaten. Bergdirektor Wermuth, der un-
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zehnjähriges Kind soll die Herrschaft antreten in einer Stunde, wo sie zusammenbricht!“. Kurpiun, S. 38. Wirbitzky, Heimattreu, S. 12. Kurpiun, S. 10. Ebd., S. 44. Ebd., S. 39. Emotionalisierende Kontexte und die Schilderung der Ermüdung der Gesellschaft, deren Verlangen nach Frieden immer deutlicher wird, sind bei Kurpiun auch an einer anderen Stelle sichtbar: „Krieg! Krieg! Wie kommen wir aus ihm heraus? Verzweiflung schießt ins Kraut, schiebt sich in Herz und Hirn, reißt Überlegung, Vernunft, Ehre, Mut, alles Mannbare mit den Wurzeln aus“. Ebd., S. 10. Wirbitzky, Heimattreu, S. 24.
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geachtet des privaten, zutiefst traumatisierenden Verlustes als eine emotional stabile Person geschildert wird, die ihr Leid mit gelassener Würde trägt, wird folglich zu jenem Protagonisten des Romans, der „stolz ist, sein Kind, sein eigenes Fleisch und Blut, dahingegeben zu haben, um das Höchste, das Vaterland, zu retten“. 30 Die im Roman inszenierte Trauer über das im Krieg gefallene Familienmitglied lässt sich dennoch nicht vollständig national-patriotisch vereinnahmen und rationalisieren, sowie dem heldenhaften Mythos bedingungslos unterordnen. Von Bedeutung ist vor allem eine auffällige, emotionsbeladene Rhetorik: „ – – Annchen, bete für diese – – nein, weine nicht! Der gute Junge hätt’ sonst keine Ruh. Seine Wunden könnten nicht heilen. Laß ihn ruhen! Er schläft nur und träumt von seinem lieben Vaterlande. Seine Seele weilt im Himmel! Annchen, wein’ nicht!“. 31 Der Kriegstopos erscheint auch im zweiten und dritten Teil der „Trilogie Oberschlesien“ von Wirbitzky. Im Roman „Gequältes Volk“ fällt insbesondere eine Darstellungsstrategie auf, in welcher die Soldaten in Zivilkleidung gezeigt werden, die der „gefallenen Brüder“ von 1914–1918 gedenken und sich auf mentaler Ebene inmitten eines fortdauernden, rücksichtslosen Kampfes befinden. 32 Im letzten Teil der Trilogie hingegen – im Roman „Die blutende Grenze“ – erscheint der Erste Weltkrieg im Zusammenhang mit dem am 30. Mai 1922 vom Reichstag ratifizierten oberschlesischen Abkommen. Auch hier ist die emotionalisierende Wirkung der angewandten Rhetorik erkennbar: „Die Zeitungen sprachen tagelang nur und allein von der deutschen Entrüstung. Das Bürgertum hatte dabei aber ganz und gar vergessen, in die Vergangenheit zu blicken, sich an die Novembertage von 1918 zu erinnern, die doch die eigentliche Ursache auch des oberschlesischen Dramas waren“. 33 Die Bearbeitung und Transformation des Heldenmythos, der in der Literatur und Publizistik des oberschlesischen Grenzlandkampfes explizit auf den Ersten Weltkrieg zurückzuführen ist, machen gleichzeitig auf das Problem des sogenannten „schwebenden Volkstums“ (also der Unbeständigkeit des weltanschaulichen Profils der Einwohner des Landstriches) aufmerksam. In einer Passage aus dem Roman „Oberschlesien in Not“ von Hans Wolfgang Emler wird auf überzeugende Art und Weise der Inhalt der damals populären politischen Meinungen rekonstruiert. Exponiert wird gleichzeitig die Bedeutung der regional aufgefassten sozialen Verhältnisse in der Nachkriegszeit: 30 Ebd., S. 25. 31 Ebd. Einer starken Emotionalisierung kommt man auch in der Darstellung der trauernden Mutter auf die Spur: „Wenn sie aber allein war, wenn die finstere Nacht ihre Schatten über die müde Erde warf, die Himmelsfenster sich öffneten und Engelsäuglein auf die hadernde, schlechte, sich mordende Welt herniederlugten, – da zogen ihre Gedanken in die Ewigkeit. Ihre nassen Augen irrten in die Ferne, um irgendwo im Feindeslande den Hügel zu erspähen, darunter ihr Kind, dem sie unter Schmerzen freudig das Leben einst geschenkt hatte, lag“. Ebd., S. 25–26. 32 Vgl. Wilhelm Wirbitzky, Gequältes Volk, Naumburg 1934, S. 108. 33 Wilhelm Wirbitzky, Die blutende Grenze, Naumburg 1932, S. 42.
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„Man ist doch Soldat gewesen, drei Jahre Soldat, der Krieg war nur für die Kapitalisten, aber schade ist’s trotzdem“. Was Sygor dort sagte, war sicher nicht seine feste Überzeugung. Für eine Buttel Schnaps würde er vielleicht auch das Gegenteil behaupten. Aber es sprach doch wieder etwas Gefühlsmäßiges aus seinen Worten, das Olbrich sich nicht erklären konnte. 34
In Emlers Roman spielt die Bildung des affektiven Potenzials auf Basis der angewandten sozialpolitischen Argumentation eine bedeutende Rolle. 35 Auffällig ist vor allem der Vorrang des Sozialen und Praxisbezogenen über die in den Hintergrund rückenden politischen und nationalen Aspekte. Weit von den damaligen Tendenzen der deutschsprachigen Presse und Publizistik entfernt beschreibt der Autor die Ursachen der misslungenen Integration und Inklusion der Einwohner Oberschlesiens, für welche eine eindeutige, polarisierte nationale und identitäre Formatierung sowohl zur Zeit des Ersten Weltkriegs als auch in den folgenden zwei Jahrzehnten des Grenzlandkampfes wenig überzeugend war. Sie war freilich auch nicht imstande, den kollektiven Erwartungen gerecht zu werden und – was damit zusammenhängt – die von oben bestimmten politischen Ziele erfolgreich umzusetzen.
34 Hans Wolfgang Emler, Oberschlesien in Not. Ein deutsches Schicksal, Berlin 1933, S. 17. 35 Dies zeigt sich besonders deutlich im Gespräch zwischen Olbrich und Sczeponik: „‚Meinetwegen müßte jetzt schon alles polnisch sein!‘. ‚Aber Sczeponik, du hast doch schließlich als Soldat für Deutschland gekämpft! Das kann man doch nicht vergessen‘. ‚Für Deutschland gekämpft? Nein Olbrich, wir haben gekämpft für die Gruben- und Hüttenbarone, für die Großagrarier. Der Arbeiter, der Bauer wird in Deutschland bloß mit Versprechungen gefüttert. Guck dir dort den Großvater an. Der hatte noch eine kleine Wirtschaft. Ich kann dir draußen die Felder zeigen, die uns gehören würden – alles Bruchdächer und Teiche – und die Entschädigungen, die wir ja trotz allem hätten kriegen müssen, die sind in den Prozessen draufgegangen‘“. Ebd., S. 11.
´ Maria Kłanska
´ (Uniwersytet Jagiellonski w Krakowie)
Der Erste Weltkrieg in der Lyrik und Essayistik Józef Wittlins In einem 35 Jahre nach der Veröffentlichung seines einzigen Romans „Das Salz der Erde“ verfassten Kommentar zu diesem Werk, dem Essay „Postscriptum zum ‚Salz der Erde‘“, behauptete der Autor rückblickend, er habe als Soldat der österreichisch-ungarischen Infanterie in den Jahren 1916–1918 „keinen Haß gegen die Feinde, die er in den Russen, Italienern, Serben und Rumänen sehen sollte“, empfunden. Im Gegenteil, er habe gegenüber den russischen Kriegsgefangenen, die ihn während verschiedener Aufenthalte in Lazaretten pflegten, Dankbarkeit verspürt sowie Sympathie für die italienischen Kriegsgefangenen, in deren Lager er zeitweise als Dolmetscher fungierte. Wittlin zeigt sich überzeugt davon, dass die Mehrheit seiner Kameraden diese Gefühle geteilt habe. 1 Trotz der schrecklichen Technisierung und Mechanisierung des Krieges, mit der er wohl weniger zu tun gehabt hatte, war der Erste Weltkrieg seiner Ansicht nach, nicht zuletzt rückblickend im Vergleich mit dem Zweiten Weltkrieg und insbesondere angesichts der Schoah, ein Krieg, in dem die kämpfenden Soldaten nicht aufgehört hatten, einander als Menschen zu betrachten. So heißt es ferner bei ihm: „Trotz aller Greuel des Krieges: Der ‚Feind‘ hörte – zumindest meiner Kenntnis nach – außerhalb der Kampfgebiete, wenn er entwaffnet und in Gefangenschaft geraten war, auf, Feind zu sein, und war nur noch unser Kamerad, der sich gleich uns danach sehnte, daß dieser Krieg so rasch wie möglich enden möge“. 2 Diese einfachen Worte drücken das Gleiche aus, was die Expressionisten, auch Wittlin selbst, rund fünfzig Jahre früher mit der pathetischen O-Mensch-Geste gemeint hatten, die Überzeugung von der Brüderlichkeit aller Menschen. Bei Wittlin ist diese Überzeugung mit der judäochristlichen Ethik unterbaut, dass jeder Mitmensch unser Nächster sei und dass wir diesen Nächsten wenn schon nicht lieben, dann doch respektieren, achten und für seine schmerzvolle Kreatürlichkeit Empathie aufbringen sollen. Die in den angeführten Zitaten durchweg spürbare Relativierung eines national geprägten „Feind“-Begriffs war von Anfang an charakteristisch für seine Einstellung zu den Gegnern Österreich-Ungarns im Großen Kriege. 1 Vgl. Józef Wittlin, Postscriptum zum „Salz der Erde“ nach 35 Jahren, übers. v. Friedrich Griese, in: Ders., Die Geschichte vom geduldigen Infanteristen. Das Salz der Erde. Roman, Ein gesunder Tod. Fragment, Essays, Gedichte, Frankfurt a. M. 1986, S. 388. 2 Ebd.
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Dennoch fühlte sich Wittlin, der 1896 als Jude auf dem ostgalizischen Landgut Dmytrów unweit der russischen Grenze geboren wurde, ein polnisches Gymnasium in Lemberg besuchte und 1914 der polnischen Ostlegion beitrat (die allerdings schon nach einem Monat aufgelöst wurde 3), als Pole, der somit im Ersten Weltkrieg eine schließlich auch genutzte Chance auf die Wiedererlangung der Eigenstaatlichkeit sah. Auch wenn er sich als Pazifist fühlte, unterschied er zwischen der aufgezwungenen Teilnahme am „österreichischen“, fremden Krieg und dem Krieg in der Art einer Insurrektion für die Rechte der polnischen (oder einer anderen unterdrückten) Nation. Diese Diskrepanz machte ihm besonders wegen des polnisch-ukrainischen Krieges um Lemberg und Ostgalizien zu schaffen, der am 1. November 1918 begann. Wittlin sieht im ostgalizischen Bürgerkrieg eine Folge der früheren historischen Konflikte. Zu erklären ist auch, warum ich mich auf Wittlins Lyrik und Essayistik anstatt auf seinen berühmten, ins Deutsche und in zwölf andere Sprachen übersetzten Antikriegsroman 4 beziehe, und damit auf Texte, die Nichtspezialisten kaum bekannt sind. Erstens gibt es in dieser Hinsicht vieles nachzuholen, denn nicht nur Polonisten sollten diese ästhetisch vollgültigen Texte kennenlernen, von denen leider nur zwei Gedichte und zwei Essays ins Deutsche übersetzt worden sind. 5 Zweitens gibt es zum „Salz der Erde“ eine nicht unbeträchtliche Menge an Sekundärliteratur, selbst einige Arbeiten in deutscher Sprache. Auch ich habe hierzu beigetragen und 2019 einen Aufsatz zu diesem Roman und seiner Darstellung des Ersten Weltkriegs verfasst, der unlängst von der Szegeder Germanistik herausgegeben wurde. 6 Daher mein Entschluss, hier den Blick auf einen weniger erforschten, aber bemerkenswerten Teil des Werks von Józef Wittlin zu richten. Da ich nicht sicher bin, ob alle Kolleginnen und Kollegen, selbst von polnischer Seite, Wittlin und sein Schaffen kennen, möchte ich anfangs kurz seine Biografie und sein quantitativ zwar eher spärliches, aber qualitativ durchaus beachtliches Werk vorstellen. Obwohl Wittlin, wie gesagt, in der ostgalizischen
3 Vgl. Józef Buszko, Wielka Historia Polski, Bd. 8: Od niewoli do niepodległo´sci (1864– 1918), Kraków 2000, S. 344–345. 4 Vgl. Ewa Wiegandt, Wst˛ep, in: Józef Wittlin, Sól ziemi, opracowanie Ewa Wiegandt, Wrocław 1991, S. LXXX. „Das Salz der Erde“ wurde bald nach seinem Erscheinen ins Deutsche (mit einer Vorrede Joseph Roths), Dänische, Russische, Englische, Französische, Schwedische, Ungarische, während des Zweiten Weltkriegs ins Hebräische und Kroatische und 1945 ins Spanische übersetzt. 5 Die Gedichte „Hymne über einen Löffel Suppe“ und die spätere „Litanei“ wurden von Karl Dedecius, die Essays „Krieg, Frieden und die Dichterseele“ sowie „Postume Schriften“ und „Das Postscriptum zum ‚Salz der Erde‘ nach 35 Jahren“ von Friedrich Griese ins Deutsche übersetzt. 6 Vgl. Maria Kła´nska, Das Individuum und die Masse im Antikriegsroman von Józef Wittlin „Das Salz der Erde. Die Geschichte vom geduldigen Infanteristen“ (1935), in: Detlef Haberland u. a. (Hg.), Literarische Bilder vom Ersten Weltkrieg. Exemplarische Analysen, Wien 2019, S. 143–158.
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Provinz aufwuchs, fühlte er sich als Lemberger, da er in der Metropole Galiziens 14 Jahre lang vor allem während der prägenden Gymnasialzeit gelebt hatte. Seine Erinnerungen an diese Stadt, „Mein Lemberg“ („Mój Lwów“), die er 1946 im amerikanischen Exil verfasste, geben ein suggestives, anschauliches Bild dieser Stadt vor 1939. Nach der Auflösung der polnischen Ostlegion ging er 1914 zusammen mit Fluten anderer ostgalizischer Flüchtlinge aus den Kriegsgebieten nach Wien, wo er einen Onkel hatte, besuchte dort zuerst ein polnisches Gymnasium, machte das Abitur und begann an der Philosophischen Fakultät der Universität zu studieren. Dort lernte er seinen Landsmann Joseph Roth kennen, der ein enger Freund werden sollte und dessen Werke er ausgezeichnet ins Polnische übersetzte. 7 Obwohl die beiden vom Kriegsdienst wegen zu schwacher körperlicher Verfassung suspendiert waren und sich als Pazifisten, Schüler von Karl Kraus, bekannten, traten sie 1916 freiwillig in die Armee ein. Während der Ausbildungszeit in Wien aber lernten sie die Rekrutenschinderei kennen und hatten schon genug vom Militär, bevor sie mit dem Krieg konfrontiert wurden. Dann wurde Wittlin einem Marschbataillon in Galizien zugeteilt. Wie Ewa Wiegandt, die Herausgeberin der Ausgabe von „Das Salz der Erde“ im renommierten Ossolineum-Verlag, die auch die Einleitung verfasst hat, nach der Memoirenautorin Zofia Starowieyska-Morstinowa angibt, erkrankte Wittlin bald am damals lebensgefährlichen Scharlach und so beschränkte sich seine Kriegsteilnahme auf Aufenthalte in verschiedenen Lazaretten und Rekonvaleszentenheimen, sowie später auf den Hilfsdienst, u. a. als Dolmetscher in einem italienischen Gefangenenlager. 8 Nach Kriegsende kehrte er nach Lemberg zurück und erlebte den Bürgerkrieg zwischen Polen und Ukrainern. In seinem Essay „Aus den Erinnerungen eines ehemaligen Pazifisten“ (1929) beschrieb er seinen Gewissenskonflikt: Wie idyllisch in seiner Einfachheit erschien damals dieser ganze monströse Weltkrieg, während dessen ich ein reines Gewissen hatte, da ich ihm gegenüber eine Widerstandshaltung einnehmen konnte. Dagegen stellte der polnischukrainische Krieg, mit seinem Lemberger Judenpogrom, mich auf Schritt und Tritt vor tragische Dilemmata, die weder mein Gewissen noch meine Vernunft beantworten konnten. Während ich den österreichischen Krieg mit ruhigem Gewissen als Verbrechen bezeichnen durfte, für das Monarchen, Diplomaten, Journalisten und Lieferanten Verantwortung trugen, wie sollte ich mich denn gegenüber den Kämpfen um Lemberg verhalten, deren Resultat mir keineswegs
7 Wittlin übersetzte folgende Romane Roths: „Hiob“ (1931), „Die Flucht ohne Ende“ (1931), „Zipper und sein Vater“ (1931), „Beichte eines Mörders“ (1937) und die „Kapuzinergruft“ (1939). 8 Vgl. Wiegandt, S. XI; Zofia Starowieyska-Morstinowa, Ci, których spotykałam, Kraków 1962, S. 83.
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gleichgültig war? Durfte ich dann – angesichts des von mir ersehnten polnischen Sieges – die Augen vor dem dreitägigen Judenpogrom verschließen? 9
Aus diesem verzweifelten Dilemma habe ihn ausschließlich die Dichtung gerettet. Nach seiner eigenen Aussage entsprangen seine „Hymnen“, sein erstes wichtiges Werk, ebendiesen Erlebnissen. 10 Im freien Polen versuchte Wittlin zuerst als Lehrer in Lemberg und dann als literarischer Leiter am Stadttheater in Lodz sein karges Brot zu verdienen. In der Zwischenkriegszeit reiste er als Stipendiat des polnischen Staates ab 1925 viel nach Italien, Frankreich und Jugoslawien und gab seine Eindrücke dann in den Reisebildern „Etappen“ („Etapy“, 1933) wieder. Seit er 1925 die Arbeit an seinem großen Roman über den Ersten Weltkrieg aufgenommen hatte, begab er sich immer wieder auf Recherchen ins Kriegsmuseum in Vincennes bei Paris und genoss die Arbeit in der Abgeschiedenheit der ehemaligen Abtei de Royaumont. 11 Die Auslandsreisen halfen ihm die Hetze gegen ihn als Kriegsgegner und Juden im Polen der dreißiger Jahre zu ertragen. 12 Er weilte gerade im Ausland, als der Zweite Weltkrieg ausbrach, was ihm als geborenem Juden wahrscheinlich das Leben rettete. Er blieb in Frankreich, es gelang ihm mit Mühe, Frau und Kind nachkommen zu lassen, es folgte eine Flucht auf der üblichen Flüchtlingsroute durch ganz Europa und schließlich mit dem Schiff in die USA. Da er nach dem Zweiten Weltkrieg den Polen aufgezwungenen „Kommunismus“ nicht mit seinem Gewissen vereinbaren konnte, blieb er bis zu seinem Tode im Jahre 1976 in New York, schwer unter der geistigen und materiellen Misere des Exils leidend, ohne wieder ein literarisches Werk schaffen zu können. Wittlin wird meist entweder als Verfasser nur eines Werkes wahrgenommen, und zwar des Romans über den Ersten Weltkrieg, der eigentlich eine Trilogie sein sollte, die aber entweder auf der Flucht verlorenging oder in weiteren Teilen nicht zustande kam, 13 oder dreier Werke, neben dem „Salz der Erde“ der expressionistischen „Hymnen“ und der Übersetzung der homerschen „Odyssee“. Die Wittlin-Kennerin Ewa Wiegandt behauptet: „Er [Wittlin] schrieb wenig, da ihn im Grunde sein Leben lang drei Werke interessierten: die polnische Fassung der ‚Odyssee‘, die ‚Hymnen‘ und ‚Das Salz der Erde‘“. 14
9 Józef Wittlin, Ze wspomnie´n byłego pacyfisty, in: Ders., Orfeusz w piekle XX wieku, Kraków 2000, S. 78. Wenn nicht anders angegeben, stammen alle Übersetzungen von der Autorin des Aufsatzes. 10 Vgl. ebd., S. 79. 11 Vgl. Józef Wittlin, Z walizy francuskiej, in: ebd., S. 228–234; Ders., Abbaye de Royaumont, in: ebd., S. 291–302. 12 Vgl. Wiegandt, S. XXXV. 13 Vgl. ebd., S. XLVII–XLVIII sowie Marian St˛epie´n, Inwalida pierwszej wojny ´swiatowej, in: Ders., W´sród emigrantów, Kraków 2007, S. 165–177, hier S. 173–174. 14 Wiegandt, S. XII.
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Auf „Das Salz der Erde“ werde ich in diesem Beitrag kaum eingehen, es sei lediglich erwähnt, dass es ein Kriegsroman ist, der nicht den Krieg selbst, sondern die Kriegserklärung, die Reaktionen darauf und die Einberufung und militärische Grundausbildung der Rekruten, zumeist einfacher ostgalizischer Bauern, darstellt. In Polen gilt der Roman als eine Art Epos in Prosa. Über das Handlungsmuster, die Form des Romans und seinen Protagonisten, einen Analphabeten aus der Huzulei, den Ostkarpaten, schrieb der Altphilologe Zygmunt Kubiak im Nachwort zur Ausgabe von 1979 u.d.T. „Der polnische Nachkomme Homers“: „‚Das Salz der Erde‘ ist eine Art ‚Odyssee‘, in der allerdings nicht der König Odysseus, sondern der Schweinehirt Eumaios der Held ist“. 15 Zunächst möchte ich kurz die „Odyssee“-Übersetzung ansprechen, da ihr Entstehen mit dem Ersten Weltkrieg und dem Bürgerkrieg von 1918/19 zusammenhängt. Wittlin war ein begabter, perfektionistischer Übersetzer, der drei poetische Fassungen des Epos veröffentlichte: 1924, 1931 und 1957. Der ersten Fassung stellt er ein Gedicht „Elegie an Homer“ („Elegia do Homera“) voran, wo die Sprecherinstanz in Ich-Form als Übersetzer der „Odyssee“ erklärt, sie habe während des Großen Krieges entdeckt, dass Homer keine Lektüre zum Quälen der Schüler sei, sondern dass man sich mit seinen Helden identifizieren könne: Und einmal im Lazarett, in einem schrecklichen Krieg Sprachst du zu mir ruhig davon, dass Städte brennen. In mein viehisches Leben drangst du ein mit dem König der Ithaker Er reichte die Hände meiner Qual. 16
Der Expressionismus ist in der polnischen Dichtung eine Randerscheinung, vor allem auf die Posener Gruppe Zdrój (Die Quelle) beschränkt. Das hervorragendste lyrische Werk dieser Richtung ist zweifellos Wittlins HymnenSammlung (1920). In diesem Jugendwerk ist die pazifistische Haltung des Autors besonders spürbar, was ebenfalls eine untypische Erscheinung in der polnischen Poesie war, denn nach der Wiedererstehung Polens nach 123 Jahren überwog in Bezug auf den Krieg die tyrtäische Siegesstimmung oder aber die Überzeugung, die Poesie müsse nun endlich nicht mehr ihre langjährige Bestimmung, das Gewissen der Nation zu sein, erfüllen. Die Stimme des jun15 Zygmunt Kubiak, Polski homeryda, in: Józef Wittlin, Sól ziemi. Powie´sc´ o cierpliwym piechurze, Warszawa 1988, S. 263. Ich erlaube mir, die Übersetzung des Zitats von Andreas Lawaty zu übernehmen. Vgl. Andreas Lawaty, Der Autor, in: Wittlin, Die Geschichte vom geduldigen Infanteristen, S. 393–401, hier S. 396. 16 Józef Wittlin, Elegia do Homera, in: Ders., Wybór poezji, wst˛ep i nota biograficzna Wojciech Lig˛eza, Kraków 1991, S. 99.
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gen Wittlin stellt eine Ausnahme dar, da sie stärker als die Daseinsfreude, obwohl auch diese in den Hymnen vorkommt, das erfahrene Leid des Krieges ausdrückt, in dem der Nächste willkürlich zum „Feind“, zum Anderen, Fremden abgestempelt wurde und die Brüder einander töten mussten. Nicht alle der ursprünglich 21 Hymnen 17 beziehen sich auf den Krieg. Ihr allgemeines Thema ist der Diskurs über den Sinn des menschlichen Lebens und Todes, das Hadern mit Gott und die Hoffnung auf eine moralische Erneuerung. Doch der Krieg, sowohl der Erste Weltkrieg und der polnisch-ukrainische Bürgerkrieg als auch der Krieg allgemein, ist eine wichtige thematische Komponente und Voraussetzung der Gedichte. Wiegandt macht auf die Nähe Wittlins zum deutschen Expressionismus in seiner aktivistischen und, wie sie es nach Krystyna Jakowska nennt, kommunionistischen Variante aufmerksam. Mit „Kommunionismus“ ist eine Variante des Expressionismus gemeint, die besonderen Nachdruck auf tätige Nächstenliebe und die Überzeugung von der Brüderlichkeit aller Menschen legt. 18 Den Hymnen wird als eine Art Proömium das Gedicht „Aufgesang“ („Przed´spiew“) vorangestellt. Der lyrische Sprecher erinnert darin in einer Geste der Menschheitsverbrüderung an die jüngste Vergangenheit, denn er habe noch den „Schrei der sterbenden Bataillone“ in den Ohren, in der Lunge Giftgas und Asche, und die Feuersbrunst Der Welt, die im Hals jedes Wort erstickt. 19
In der fünften Strophe wird die Hoffnung auf das Morgen ausgedrückt, denn er erwarte, dass die Klagen von ganz Europa nicht umsonst sein werden. Schlüssigerweise heißt die zweite der Hymnen „Die Todesfurcht“ („Trwoga przed ´smiercia“) ˛ und ihre Sprecherinstanz wendet sich in der Rolle des Soldaten direkt an Gott mit einem flehenden Ruf, der als Refrain erscheint: „Herr! Ich will nicht sterben!“. 20 Diese Bitte um Erbarmen erfolgt individuell und im Namen der ganzen Menschheit. Wittlin selbst zählte zu den Texten, die unmittelbar aus der Erfahrung des polnisch-ukrainischen Krieges entstanden, solche Hymnen, wie die zwei wohl bekanntesten, „Die Hymne über einen Löffel Suppe“ („Hymn o ły˙zce zupy“ 21) und „Das Begraben eines Feindes“ („Grzebanie wroga“). Ferner gehören 17 In der zweiten Auflage hat Wittlin sechs Texte nicht mehr abdrucken lassen, wahrscheinlich weil sie zu modernistisch („jungpolnisch“) klangen. In „Wybór poezji“ befinden sie sich unter „Z pierwszego wydania hymnów“, S. 162–197. Es handelt sich um die Hymnen: „Hymn nienawi´sci“, „Lament“, „Intermezzo nocy wiosennej“, „Hymn nad hymnami“, „Zapowied´z dnia jutrzejszego“, „Kantata dziecinna“. 18 Vgl. Wiegandt, S. XVI und XXI. Krystyna Jakowska benutzt diesen Begriff in ihrer Monografie. Krystyna Jakowska, Z dziejów ekspresjonizmu w Polsce. Wokół „Soli ziemi“, Wrocław 1977, S. 10, 16–17. 19 Józef Wittlin, Hymny, in: Ders., Wybór poezji, S. 29. 20 Ebd., S. 30–36. 21 Vgl. Wittlin, Die Geschichte vom geduldigen Infanteristen, S. 7–8.
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dazu „Hymne des Hasses“ („Hymn nienawi´sci“), „Wiegenlied“ („Kołysanka“), „Sehnsucht nach dem Freund“ („T˛esknota za przyjacielem“), „Todesfurcht“ („Trwoga przed ´smiercia“). ˛ Die Problematik des Krieges wird ebenfalls in dem allegorischen, ironischen „Lob des Schwertes“ („Pochwała miecza“) oder in der Hymne „An den Gegner“ („Do przeciwnika“) berührt. Gerade diese Hymnen haben, wie Wittlin in seinen „Erinnerungen eines ehemaligen Pazifisten“ schrieb, einen Gehalt voller „wörtlicher Authentizität“. 22 Damit meinte er die vielen naturalistischen, turpistischen konkreten Bilder und Situationen in den Gedichten, das direkte Benennen der entstellten Leichname oder gar abgerissener Körperteile und die Einfügung solcher Details, wie die roten Läuse, die die Soldaten bissen, das Trinken von vergiftetem Wasser, die tagelangen zermürbenden Märsche, das Kriechen in den Gräben, um nicht erschossen zu werden. Wiegandt weist darauf hin, dass solche Bilder zur pazifistischen Topik gehören. 23 Gleichzeitig stellt sie fest, dass die „Hymnen“ die philosophisch-ästhetischen Voraussetzungen des Expressionismus erfüllen: „Sie sind eine disharmonische, aus Widersprüchen und Kontrasten gebaute Expression der menschlichen Seele, die nach der Transzendenz, nach der Sphäre des Geistes strebt“. 24 So beschreiben die „Hymnen“ meist naturalistisch, manchmal allegorisch die Sphäre des Materiellen, Körperlichen und schweben darüber hinaus in die Sphäre des Geistes, der „Seele“, wie Wittlin sie im Einvernehmen mit der modernistischen und expressionistischen Begrifflichkeit nannte. 25 Was an den Hymnen am meisten beeindruckt, ist die darin ausgesprochene Überzeugung, dass derjenige, den die Befehlshaber oder auch das eigene Nationalgefühl als „Feind“ bzw. als Gegner betrachten lassen, nicht der Andere, 26 sondern unser Bruder, unser Nächster ist. Sie fußt in der jüdischen, von Christus übernommenen und auf alle Menschen erweiterten Ethik. Diese Verantwortungsgeste führt im Gedicht „Das Begraben eines Feindes“ („Grzebanie wroga“) dazu, dass sich der Sprecher „ein vergiftetes Herz“ zuschreibt, ausgehend von der konkreten Situation eines Soldaten, dem die Pflicht aufgetragen wurde, einen im Kampf gefallenen Gegner zu begraben. Der Gefallene wurde ihm als „Feind“ mit dem Finger gewiesen, der Sprecher beginnt aber zu grü-
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Wittlin, Ze wspomnie´n byłego pacyfisty, S. 79. Vgl. Wiegandt, S. XVIII. Ebd., S. XVI. Vgl. Maria Kła´nska, Der galizische Expressionismus, in: Klaus Amann / Armin A. Wallas (Hg.), Expressionismus in Österreich. Die Literatur und die Künste, Wien 1994, S. 353– 373, hier S. 360. 26 Vgl. Józef Olejniczak, Wittlin wobec „Innego“, in: Anna Frajlich (Hg.), Between Lvow, New York and Ulysses’ Ithaca. Józef Wittlin. Poet, Essayist, Novelist, Toru´n 2001, S. 113– 125, sowie Joanna Kosturek, die einen Zusammenhang mit der Philosophie von Levinas herstellt, Joanna Kosturek, Bli´zni w ´swiecie poetyckim Józefa Wittlina. Wokół zagadnie´n metafizycznych i moralnych, in: Wojciech Lig˛eza / Wojciech S. Wocław (Hg.), Etapy Józefa Wittlina, Kraków 2014, S. 90–113, hier S. 111–113.
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beln, wer sein Feind gewesen sein könnte. Mütze und Knöpfe, ein pars pro toto, dessen sich Wittlin auch im „Salz der Erde“ gerne bedient, weisen den Toten als Soldaten der gegnerischen Armee und damit als „Feind“ aus. Wie es Hubert Orłowski prosaisch übersetzt: Ich greife nach der Schaufel, obwohl ich nicht weiß, wer mein Feind ist: Bauer oder Herr, oder Arbeiter, ein böser Mensch oder ein edler. – Nur eines weiß ich: ein Feind. [. . . ] Obwohl die Hand, die die Waffe hält, [ebenso schmerzend und – M.K.] ebenso müde ist wie die Hand meines Bruders. Wie soll ich dich begraben, du mein verstummter Feind, da du bist wie [mein] Bruder? Wie soll ich dich begraben, du verkrümmte Leiche, da dich mein Bruder getötet hat? 27
Es folgt die Überlegung, dass sie beide auf derselben Muttererde, vielleicht gar auf derselben Scholle geboren und von ihr ernährt wurden. Die authentische Situation des polnisch-ukrainischen Krieges wechselt hier zur Perspektive des Ersten Weltkriegs, denn der getötete Feind erscheint als ein zwangsrekrutierter Soldat, der nach dem Willen der militärischen Führer (Monarchen und Politiker) und angeblich auch Gottes am Krieg auf der Gegenseite teilnahm. Die ökonomischen Gründe des Krieges werden hervorgehoben. Im Nachdenken darüber, was für ein Leben der „Feind“ in der Friedenszeit wohl geführt habe, stellt sich das Gefühl ein, es sei ein Leben wie das eigene gewesen. Daher kann das Ich sein „vergiftetes Herz“ nicht vergessen. Im zweiten Teil des Gedichts folgt mit einer Vision eines mystischen Jenseits, in dem alle gleich und verbrüdert sein werden, der Versuch, sich zu trösten. Der dritte Teil zeigt jedoch, dass sich das Ich nicht beruhigen kann, vor Groll den Leichnam zu beleidigen beginnt und dann in einer Rahmenschließung des Gedichts noch einmal die Klage um den Gestorbenen anhebt und zugleich um sein eigenes „vergiftetes Herz“. Auch die „Hymne über einen Löffel Suppe“ ist ein Du-Gedicht, in dem sich die sprechende Instanz an einen toten Kameraden, egal ob Freund oder Feind, wendet. Hier ist diese Identifizierung mit dem Du, mit dem Anderen noch deutlicher. Das Ich möchte, zu spät, wie es weiß, dem toten Soldaten einen Löffel warmer Suppe reichen, nach dem sich der in fremder Erde Erfrorene umsonst gesehnt hatte. In drei Langstrophen wird das existentielle Elend des ehemals marschierenden, wachestehenden und frierenden, nun aber toten Soldaten rekapituliert, der Bruder genannt wird. 28 Weder der Gestorbene noch die Ich-Figur wissen, warum er alle diese Qualen erlitten, wofür er gekämpft hat. Damit werden auch in diesem Gedicht die dem einfachen Soldaten unver27 Vgl. Wittlin, Grzebanie wroga, in: Ders., Wybór poezji, S. 37. Die Übersetzung des Zitats von Hubert Orłowski, Pazifismus und Kakaniens Untergang im Schaffen von Józef Wittlin, in: Klaus Amann / Hubert Lengauer (Hg.), Österreich und der Große Krieg 1914– 1918. Die andere Seite der Geschichte, Wien 1988, S. 260–265, hier S. 262. 28 Vgl. Józef Wittlin, Hymne über einen Löffel Suppe, übers. v. Karl Dedecius, in: Ders., Die Geschichte vom geduldigen Infanteristen, S. 7–8.
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ständlichen Kriegsgründe noch einmal evoziert, die mit dessen Bedürfnissen nichts zu tun hatten. Während der Kältetod sich ihm näherte, habe er weder nach Mutter noch Vater, noch nach seiner Frau gerufen, sondern nach einem Löffel warmer Suppe. Die körperlichen Bedürfnisse und Nöte überstiegen die geistigen und seelischen. Das Ich fühlt die Verantwortung für den Toten, daher möchte es ihm Hilfe leisten, von der es weiß, dass sie zu spät kommt. Nicht alle Hymnen drücken sich mit solcher Deutlichkeit aus, aber alle äußern, manchmal als expressionistischer Schrei, das Leid der Kreatur im Krieg oder in einer anderen existentiellen Grenzsituation. Der Gott des Alten Testaments wird dabei meist als eine bedrohliche, gerechte, aber unbarmherzige Instanz evoziert, die um Erbarmen angefleht wird, oder darum, wie in der „Hymne der Hymnen“ („Hymn nad hymnami“), zu existieren, sich nicht als eine bloße Erfindung des menschlichen Geistes zu erweisen und auch nicht tot zu sein, wie man nach dem Ersten Weltkrieg oft meinte. Christus erscheint dagegen nicht als Gottheit, sondern als Figur des Leids, als der Barmherzige, der aber selbst ein Opfer menschlicher Bosheit ist. Man kann die „Hymnen“ als den einzigen vollgültigen Ausdruck polnischer expressionistischer Dichtung betrachten, aber auch – wie bei Joanna Kosturek – als Ausdruck einer Verantwortung, die sich nicht im abstrakten Mitleid erschöpft, sondern nach einer konkreten Hilfeleistung für das Du, auch wenn es ein Kriegsgegner sei, verlangt. 29 Über diese drei Werke hinaus, die „Hymnen“, die „Odyssee“-Übersetzung und „Das Salz der Erde“, war Wittlin auch ein begabter Essayist und Feuilletonist. Die 1962 im Exil veröffentlichte umfangreiche Auslese seiner nicht-fiktionalen Texte umfasst sowohl frühere Sammlungen als auch verstreute Texte. Auf den Ersten Weltkrieg bzw. das Phänomen des Krieges überhaupt und die Nachkriegssituation rekurrieren besonders „Krieg, Frieden und die Dichterseele“ (1923/24) 30 und „Aus den Erinnerungen eines ehemaligen Pazifisten“ (1929). 31 Die beiden Essays sind in mehrere Unterkapitel geteilt und rekonstruieren systematisch die Haltung des Schriftstellers dem Krieg gegenüber. Der Posener Germanist Hubert Orłowski meint in seinem Aufsatz „Pazifismus und Kakaniens Untergang im Schaffen Józef Wittlins“, dass Wittlin im Essay aus den Jahren 1923/24 als erster Antikriegsautor zwei Dinge unternommen habe: Erstens habe er die „Zweckmäßigkeit pazifistischer Haltungen im Lichte zeitgenössischer Erfahrung“ 32 hinterfragt und zweitens eine ordnende Sichtung pazifistischer Literatur in Europa durchgeführt. Die Kenntnisse Wittlins bezüglich der zeitgenössischen Literatur, die sich mit dem Ersten Weltkrieg 29 Vgl. Kosturek, S. 90–113, hier S. 110. 30 Vgl. Józef Wittlin, Wojna, pokój i dusza poety, in: Ders., Orfeusz w piekle XX wieku, S. 16–44. Die deutsche Übersetzung von Friedrich Griese in: Ders., Die Geschichte vom geduldigen Infanteristen, S. 327–365. 31 Wittlin, Ze wspomnie´n byłego pacyfisty, S. 73–91. 32 Vgl. Orłowski, S. 263.
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auseinandersetzt, sind in der Tat imponierend. Dabei befasst er sich nicht nur mit den Autoren, die Pazifisten sind, sondern auch mit Kriegsbefürwortern und versucht selbst unter diesen zu differenzieren. Die einfachste Einteilung trifft er jedoch zwischen Dichtern, die als Soldaten am Ersten Weltkrieg teilnahmen, und solchen, die es nicht oder in privilegierter Stellung taten, z. B. als Presseberichterstatter. Seine Beobachtung ist, dass die überwiegende Mehrheit der Kriegsteilnehmer sich als Gegner des Krieges äußert, während unter denjenigen, die nicht aktiv teilgenommen haben, die Mehrheit den Krieg bejaht. Bevor der Autor zur Rolle der „Dichterseele“ angesichts des Krieges übergeht, beschreibt er die anfängliche allgemeine Kriegsbegeisterung und die aufhetzende Funktion der Presse bei Kriegsbeginn und kontrastiert damit die Ergebnisse des Krieges, die Millionen von Toten, die Kriegsversehrten und Schwerbehinderten sowie diejenigen, die der Krieg um den Verstand gebracht hat, die an verschiedenen Kriegstraumata leiden, schließlich diejenigen, die ihrer Taten wegen ihr Gewissen nicht beruhigen können. Wittlin kritisiert, wie aus der von staatlichen Institutionen kontrollierten, in Friedenszeiten nur von wenigen ausgeübten und meist mit schweren Strafen belegten Fähigkeit zu Töten eine Tugend gemacht wird, sobald ein Krieg ausbricht. Neben dem Staat, der plötzlich eine Umwertung der bisher geltenden Normen durchsetzt, werden die Kirchen und Religionen angeprangert, die Gott für die Sache der Kriegsparteien zu vereinnahmen, zu instrumentalisieren suchen und die Soldaten mit dem Segen und der Überzeugung in den Kampf entlassen, dass Gott auf ihrer Seite sei. Wo also die Religion nicht protestiert, ergreifen die Dichter als eine moralische Instanz das Wort, sie brechen mit dem Ästhetizismus der Moderne, der vor allem nach der Schönheit, der Vollkommenheit der Form fragte, und wollen Stellung beziehen. Wittlin kritisiert aber, dass dies meist in falscher Weise geschehe, entweder indem der Krieg befürwortet und der Hass gegen den „Feind“ geschürt werde, wobei er als ein krasses Beispiel Ernst Lissauers „Haßgesang auf England“ 33 anführt, oder aber ein naiver Pazifismus vertreten werde. Diese Haltung sei genauso dilettantisch wie die der Nationalisten, die die ethischen Probleme des Krieges auf eine nationale oder staatliche Notwendigkeit verengen. Dabei ist Wittlin weit davon entfernt, die beiden Haltungen in ethischer Hinsicht gleichzusetzen. Seiner Meinung nach bildet ja die ganze Menschheit eine Einheit, eine Gattung, folglich ist jeder Krieg ein Bruderkrieg und der Mensch das einzige Tier, das sich gegen die eigene Gattung wendet. 34 Seitdem aber die christliche Ethik als Maßstab von den meisten aufgegeben worden sei, sei dieses Problem unlösbar geworden. Die Angehörigen einer Nation würden darauf trainiert, den Nächsten jenseits der Grenze zu hassen und als „Feind“ zu bezeichnen, nur weil ihr Gebieter sein
33 Wittlin, Krieg, Frieden und die Dichterseele, in: Ders., Die Geschichte vom geduldigen Infanteristen, S. 334. 34 Vgl. ebd., S. 340, 354.
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Territorium erweitern möchte. Wittlin nennt diese Dressur, die dann vor allem auch bei der Ausbildung in der Armee erfolgt, die Mechanisierung des Menschen. Dieser Prozess wird von Wittlin später im Roman „Das Salz der Erde“ thematisiert, wo eindringlich gezeigt wird, wie aus individuell denkenden und fühlenden Menschen Automaten gemacht werden, die aus Angst vor Strafmaßnahmen ihren Vorgesetzten unbedingt gehorchen. Wittlin entblößt die patriotische Propaganda von allem Pathetischen und verweist darauf, dass die Gründe für den Ersten Weltkrieg keineswegs erhabener waren als diejenigen früherer Kriege: „Trotz aller erhabenen Ideale, die von den Machthabern und Führern verkündet wurden, kämpfte Europa in den Jahren 1914 bis 1918 um seine Nahrung, um den Besitz der Früchte der Erde und um Absatzmärkte für seine Waren. Es ging vor allem um materielle, kommerzielle Interessen“. 35 So dekonstruiert er die patriotische Mythologie des Krieges. Bereits in dieser Skizze differenziert Wittlin zwischen solchen Kriegen, an denen die Untertanen eines Staates gezwungenermaßen teilnehmen, und Befreiungskriegen. Als Beispiele eines Krieges „vom Typ des Aufstands“ 36 nennt er den Verteidigungskrieg der Serben, der Belgier gegen Deutschland, sowie den Kampf der Polnischen Legionen unter Józef Piłsudski um die Wiederherstellung des polnischen Staates. Dabei geht er auf das Unrecht der Teilungen Polens ein und klagt die damaligen Regenten Preußens, Österreichs und Russlands an, dass sie ganze Generationen von Polen gezwungen haben, „ihre unschuldigen Nächsten: die Russen, die Deutschen und Österreicher, zu hassen, und sie sind bis zum heutigen Tage von diesem Haß erfüllt! Möge uns die junge polnische Freiheit von der Todsünde des Brudermordes freisprechen, zu der ihr uns gezwungen habt!“. 37 Gegen Ende der Skizze wird die sprechende Instanz euphorisch. Sie behauptet, nach solch einer apokalyptischen Katastrophe, nach einem Völkermorden derart monströsen Ausmaßes, werde es keine Kriege mehr geben. Der eben entstandene Völkerbund, das internationale oberste Gericht seien dazu berufen, Streitigkeiten zwischen den Nationen auf friedlichem Wege beizulegen. Schon Immanuel Kant hatte ja den Plan einer Weltregierung ausgearbeitet, die für den Weltfrieden sorgen sollte. Zum Schluss geht der Sprecher von der politischen Vision wieder zu einer poetischen über. Er entwirft das Bild eines Friedensreiches, das alttestamentliche Wurzeln in der Vision des Jesaja hat. 38 Gleichzeitig drückt er die utopische Hoffnung aus, dass zum Kommen eines solchen messianischen Zustandes die Dichter beitragen werden. Der Essay aus dem Jahre 1929 trägt den programmatisch-polemischen Titel „Aus den Erinnerungen eines ehemaligen Pazifisten“, aus dem man gleich
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Ebd., S. 358. Ebd., S. 360. Ebd., S. 363. Vgl. Jesaja 65, 17–25.
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ersieht, dass Wittlin seine ambivalente Haltung zwischen Skepsis und Hoffnung aufgegeben hat. Er distanziert sich von seinem früheren, vor allem den „Hymnen“ zugrunde liegenden Pazifismus. Besonders stören ihn die Nachkriegspazifisten, die früher eine kriegsbefürwortende Haltung eingenommen hatten, infolge des verlorenen Krieges aber das Banner eines oberflächlichen, snobistischen, salonfähigen Pazifismus ergriffen. Er unterscheidet genau zwischen ihnen und denjenigen Pazifisten, die noch während des Krieges, als es gefährlich war, solche Ansichten zu verbreiten, den Krieg verurteilten. Unter ihnen nennt er mit Hochachtung Autoren wie Romain Rolland oder Henri Barbusse in Frankreich, Leonhard Frank, René Schickele, Fritz von Unruh, Kurt Hiller und Karl Kraus auf der deutsch-österreichischen Seite. Es wurden bereits Wittlins Äußerungen anlässlich des polnisch-ukrainischen Krieges um Lemberg angeführt. Der Sprecher des Essays macht hierzu Bemerkungen in seinem eigenen, biografisch haftbaren Namen sowie im Namen des früh an Tuberkulose gestorbenen polnisch-jüdischen Theoretikers und Dichters des Expressionismus Jan Stur. 39 Damals befanden sich beide in einem inneren Konflikt zwischen ihrem polnischen Patriotismus, der sie zu engagierter Stellungnahme auf polnischer Seite bewog, und ihrem Pazifismus, der dazu führte, dass sie an den Kämpfen nicht teilnahmen. Wittlin freute sich über den polnischen Sieg, litt aber unter dem Judenpogrom und verstand auch die Motivation der Ukrainer, die ebenfalls aus Heimatliebe um ihr Lemberg kämpften. So kommt er zu der Ansicht, der Hass, der auf den beiden kämpfenden Seiten vorhanden war, sei eben die Kehrseite ihrer Liebe zum Vaterland gewesen. Seine aktuelle Haltung erklärt er mit dem einfachen Gleichnis, er fühle sich trotz seines geringen materiellen Vermögens beruhigt, wenn er, auf einem Landgut wohnend, immer wieder feststelle, dass ein Nachtwächter über das Gut wache. So sei es auch mit dem europäischen Frieden. Denn Wittlin war zwar ein großer Anhänger des Franziskanismus, aber er machte sich keine Illusionen darüber, ob die absolute Armut, die Franz von Assisi im Gefolge Christi praktizierte, von anderen Menschen nachgeahmt werde. Jeder, der etwas besitze, werde es verteidigen wollen oder müssen. Das habe er inzwischen gelernt. Unter dem Begriff „Frieden“ stelle er sich konkret zwei aus eigenem Erleben bekannte Formen vor: den Frieden, der bis 1914 herrschte, und den seit 1918. Bezüglich des ersteren Falles sei er sich bewusst, dass er diesen Frieden vielleicht idealisiere, denn das sei ja seine Jugendzeit gewesen. Man ersieht auch aus anderen Texten Wittlins, dass er die Zeit Franz Josephs und Österreich-Ungarn als sein „Vaterland auf Zeit“ 40 im Nachhinein verklärt. 39 Jan Stur, eigentl. Hersch Feingold, lebte in den Jahren 1895–1923. Vgl. Maria Kła´nska, Jan Stur und der polnische Expressionismus, in: Hartmut Kircher u. a. (Hg.), Avantgarden in Ost und West. Literatur, Musik und bildende Kunst um 1900, Köln 2002, S. 177– 191. 40 Orłowski, S. 261. Zur Haltung Wittlins zu Österreich-Ungarn vgl. auch ebd., S. 260–265.
Der Erste Weltkrieg in der Lyrik und Essayistik Józef Wittlins
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Aber hier argumentiert der Essayist bewusst, der Friede bis 1914 sei nicht mit solchen Opfern und solchem Schuldbewusstsein erkauft worden wie der von 1918. Seiner Erinnerung nach hätten alle Soldaten 1914–1918 nichts mehr als den Frieden ersehnt und diesen erträumten Frieden mit der Zeit zu einem Idealzustand verklärt. Dann aber sei die große Enttäuschung gekommen, denn nichts an der menschlichen Moral, nichts an den politischen Strebungen habe sich verändert. Hass, Hochmut und Egoismus herrschten nach wie vor. Wittlin bezeichnet den Frieden der Zwischenkriegszeit als einen niederträchtigen. 41 Die durch die Leiden des Krieges erhoffte Katharsis habe nicht stattgefunden. Zu groß waren die Losungen, derentwegen man im Krieg einander mordete: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Gott, Vaterland, Kultur, Zivilisation, Gerechtigkeit, als dass wir sie verachten sollten. Wenn der Krieg diese Parolen unberechtigt benutzte, wenn er sie defraudierte, sollte ihnen der Friede ihren Währungswert in Gold wiedergeben. Es hat sich jedoch herausgestellt, dass diese Losungen nach wie vor geheuchelt sind, dass niemand oder fast niemand an sie glaubt. 42
So distanziert sich Wittlin von den „pazifistischen Empfängen und Paneuropäern“ 43 und rechtfertigt seinen Meinungswandel damit, nicht er habe die Fahne seiner Jugend verraten, sondern diese Fahne ihn, seine Hoffnungen und Erwartungen. Die Spanne von fünf Jahren zwischen den beiden Essays markiert die Evolution der Ansichten eines Autors, der tief enttäuscht und von der Entwicklung in Europa angeekelt ist. Außerdem sieht Wittlin Ende der zwanziger Jahre noch klarer, wie naiv und oberflächlich die pazifistischen Ideen seien. Wenn man damit noch die Vorrede zu „Orpheus in der Hölle des 20. Jahrhunderts“ vergleicht, die 1962, also bereits nach den Erfahrungen des noch viel schrecklicheren Zweiten Weltkriegs entstand, sieht man, dass der Schriftsteller jegliche Illusionen und Hoffnungen verloren hat. Während der Essayist in „Krieg, Frieden und die Dichterseele“ noch positive Seiten des Kriegsdienstes sieht und optimistisch hervorhebt: „In ihnen [den Soldaten] entsteht die Tugend der Tapferkeit, der Opferbereitschaft, der Ausdauer, der Selbstverleugnung, des Gehorsams, des Schweigens, der brüderlichen, kameradschaftlichen Liebe, vor allem aber die Fähigkeit, den Gegner zu achten“, 44 urteilt Wittlin 1962, dass die letztgenannte Fähigkeit, falls sie tatsächlich entstanden sein sollte, sehr kurzlebig und unter den Teilnehmern des Zweiten Weltkriegs nicht mehr zu bemerken gewesen sei. 45 Man kann also insgesamt im Laufe der Jahre einen
41 42 43 44 45
Vgl. Wittlin, Ze wspomnie´n byłego pacyfisty, S. 85. Ebd., S. 87. Ebd., S. 91. Wittlin, Krieg, Frieden und die Dichterseele, S. 330. Vgl. Józef Wittlin, Przedmowa, in: Ders., Orfeusz w piekle XX wieku, S. 9.
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Wandel in der Einstellung des Autors zum Krieg beobachten, von der Hoffnung, dass dem Ersten Weltkrieg ein ewiger, gerechter Friede folgen werde, bis hin zu Skepsis und Illusionslosigkeit. Dennoch bleibt Wittlin in seinem ganzen Schaffen ein überzeugter Kriegsgegner.
Nina Nowara-Matusik
´ aski (Uniwersytet Sl ˛ w Katowicach)
Zum Wechselverhältnis von Kriegsund Künstlerdiskurs Einige Streifzüge durch die deutsche Literatur in Schlesien
Das hier anvisierte Thema ist ein zu weites Feld, als dass man es dabei ohne einführende Bemerkungen und notwendige Einschränkungen belassen könnte. Gemeint ist nämlich die Literatur, welche den Ersten Weltkrieg und die Künstlerproblematik thematisiert und dabei aus der Feder (ober)schlesischer 1 Autorinnen und Autoren stammt, die in (ober)schlesischen Verlagen bzw. Kulturzeitschriften während des Krieges publizierten. Dass es sich dabei oft auch um Autoren handelt, die zugleich als Soldaten am Krieg teilnehmen, ist zwar ein Erkennungsmerkmal jener Literatur, nicht aber ein notwendiges Kriterium. Ein weiterer gemeinsamer Nenner der gewählten Texte ist ihre Form: Es geht um Kurzprosa, Skizzen oder Novellen, die sich unter den weit gefassten Terminus „Künstlergeschichte“ 2 einreihen lassen. Die Wahl eines so profilierten Forschungsgegenstandes resultiert dabei aus der Überlegung, dass die Thematisierung des Ersten Weltkriegs in der deutschen Literatur in Schlesien, insbesondere in Oberschlesien, in vielerlei Hinsicht noch weiterführender Forschungen und Kommentare bedarf, auch wenn entsprechende Ansätze bereits vorliegen. Hingewiesen sei in diesem Kontext auf die Pionierarbeiten von Gra˙zyna Barbara Szewczyk 3 und Wojciech
1 Das Adjektiv „schlesisch“ („´slaski“) ˛ hat heute im Polnischen eine andere Bedeutung als im Deutschen. Während es sich nämlich im Falle des Deutschen in erster Linie auf Niederschlesien bezieht, meint es im Gegenwartspolnischen vor allem Oberschlesien. ´ asku Vgl. Marek Kry´s, Literatura niemiecka na Górnym Sl ˛ w XIX wieku, in: Encyklopedia województwa ´slaskiego, ˛ Bd. 2, 2015, http://ibrbs.pl/mediawiki/index.php/Literatura_ niemiecka_na_G%C3%B3rnym_%C5%9Al%C4%85sku_w_XIX_wieku [letzter Zugriff: 07. 02. 2020]. 2 Unter dem Terminus „Künstlergeschichte“ will ich in meinen nachfolgenden Ausführungen einen kurzen Prosatext verstehen, dessen Protagonist ein Künstler ist oder sich zu einem Künstler erst entwickelt. Der Terminus soll mir lediglich als eine Hilfskonstruktion dienen und nicht im gattungsnormativen Sinne verwendet werden. 3 Vgl. Gra˙zyna B. Szewczyk, Pierwsza wojna ´swiatowa w literaturze niemieckiej na ´ asku, Górnym Sl ˛ in: Gra˙zyna B. Szewczyk / Ryszard Kaczmarek (Hg.), I wojna ´swiatowa ´ asku: na Sl ˛ Historia – literatura – kultura, O´swi˛ecim 2016, S. 178–186.
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Kunicki, 4 die synthetische Überblicke über die wichtigsten Ausdrucksformen und Themen jener Literatur vorgelegt haben und damit einen ersten, wichtigen Orientierungsrahmen schufen. Beide Forscher machen darauf aufmerksam, dass der Erste Weltkrieg in der deutschen Literatur in Oberschlesien sehr unterschiedlich thematisiert wurde und gerade die im Krieg entstandene und publizierte Literatur besonderer Aufmerksamkeit bedarf. Das Ziel der nachfolgenden Überlegungen besteht nicht darin, das Signifikante der deutschen Literatur aus (Ober-)Schlesien zu bestimmen, geschweige denn es zumindest in Umrissen anzudeuten. Wie aus dem weiteren Verlauf des Beitrags ersichtlich ist, kann man in Bezug auf die einschlägige Literatur Tendenzen und Vorstellungsbilder bemerken, die ebenfalls in der überregionalen deutschen Literatur dieser Zeit zum Vorschein kommen. Wenn der Forschungsgegenstand auf die Literatur aus (Ober-)Schlesien begrenzt wird, ohne dabei nach der regionalen Eigenart der zu untersuchenden Texte zu fragen, so resultiert dies aus der Überlegung, dass die „,regioninterne’ Betrachtung als Kriterium sehr praktisch [ist], da sie die Möglichkeit eröffnet, sich zunächst einen Überblick zu verschaffen“. 5 Eine solche Vorgehensweise schließt daher von vornherein den Versuch aus, den Forschungsgegenstand mit einer in solchen Fällen häufig verwendeten Nomenklatur, wie etwa „literarischer Regionalismus“, „Regionalliteratur“, „regionale Literatur“ 6 oder auch „Kulturlandschaft“ 7, definitorisch zu umzingeln, weil dies eine weitreichende Umorientierung und folglich einen anders gewichteten Ansatz 8 erfor-
4 Vgl. Wojciech Kunicki, Literatura górno´slaska ˛ wobec I wojny ´swiatowej, in: Bernard Linek u. a. (Hg.), Koniec starego ´swiata – poczatek ˛ nowego. Społecze´nstwo Górnego ´ ´ aska Sl ˛ wobec pierwszej wojny ´swiatowej (1914–1918). Zródł a i metody, Opole 2013, S. 136–138. 5 Oliver Ehrnstorfer, Einleitung, in: Bernd Witte (Hg.), Oberschlesische Literatur 1900– 1925. Historischer Umbruch und literarische Reflexion, Frankfurt a. M. 2000, S. 9–35, hier S. 16. 6 Vgl. dazu die grundlegende Monografie von Norbert Mecklenburg, Erzählte Provinz. Regionalismus und Moderne im Roman, Königstein 1982. 7 Wie sich die interdisziplinär angelegte „Kulturlandschaft-Forschung“ auf literarische Texte applizieren lässt, überlegt in ihrem informativen Beitrag Marta Jadwiga Bakiewicz, ˛ Ein Lebuser Palimpsest zwischen gestern und heute, in: Dies. (Hg.), An der mittleren Oder. Eine Kulturlandschaft im deutsch-polnischen Grenzraum, München 2016, S. 23– 39. 8 Wie weit das Spektrum der Ansätze gefasst ist, die in Bezug auf die Literatur aus (Ober-)Schlesien verwendet werden, beweist ein nur flüchtiger Blick auf die Forschungsliteratur: Während z. B. Wojciech Kunicki konsequent die ideologiekritische Optik verfolgt – vgl. die von ihm vorgelegte Studie „. . . auf dem Weg in dieses Reich“. NS-Kulturpolitik und Literatur in Schlesien 1933 bis 1945, Leipzig 2006 – bekundet Tobiasz Janikowski (Die blutende Grenze, Literatur und Publizistik zur oberschlesischen Teilung 1922, Berlin 2014) ein kulturwissenschaftliches Interesse, das mit sozialpsychologischen und rhetorischen Fragestellungen verbunden wird. Von den neueren Ansätzen scheint besonders die Geopoetik vielversprechend zu sein, da sie der regionalen Eigenart der
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dern würde. Darüber hinaus wird bewusst darauf verzichtet, dem angestrebten Überblick ein theoretisch-methodologisches Gerüst voranzustellen, das die literarischen Texte in ein vorgefertigtes Deutungsraster einordnen würde: Es geht vielmehr darum, die Texte aus dem übergeordneten Blickwinkel der weit aufgefassten Thematologie 9 zu betrachten und den inhaltlichen Aspekt zugunsten der Analyse der Poetizität der Texte in den Vordergrund der Analyse zu rücken. In meinen Ausführungen wird es sich demnach um zwei grundsätzliche Fragen handeln: 1. wie gestaltet sich in den gewählten Texten die Wechselwirkung zwischen dem Künstler- und Kriegsdiskurs? und 2. welche Grundvorstellungen (Topoi, Mythen, Stereotype) über den Künstler und die Kunst werden dabei aktiviert respektive modifiziert? Applizieren möchte ich diese Fragen auf fünf Erzähltexte: „Das Spiel vor den Toten“ von Richard Rieß, „Ein Held?“ von Carl Biberfeld, „Der Dichter“ von Elfriede Gärtner sowie „Ein halber Tag“ und „Hedwig und Edith“ von Alfred Hein. Alle fünf Texte sind im Zeitraum 1914–1919 entstanden, also unter dem unmittelbaren Einfluss des Kriegsgeschehens, was sie dazu prädestiniert, an ihrem Beispiel den Themenkomplex „Krieg in der Literatur, Literatur im Krieg“ zu diskutieren. Der Protagonist der Kurzgeschichte „Das Spiel vor den Toten“ von Richard Rieß 10 ist ein Gefreiter namens Teichmann, der im Zivilleben Organist ist. Zur Zeit befindet er sich in einem Lazarett, wo man seine physischen und psychischen Leiden zu heilen versucht. Als er jedoch dem Auftritt einer Sängerin beiwohnt, welche Hugo Wolfs „Gebet“ vor kranken Soldaten singt, erlebt er eine Erschütterung und bricht fast zusammen. Den Grund seines Leidens erfährt man aus der von ihm nacherzählten Binnengeschichte: Als er nach der (ober-)schlesischen Literaturproduktion wohl am besten Rechnung trägt. In dieses methodologische Paradigma reiht sich paradigmatisch Leszek Engelkings monografische Untersuchung des Bildes der Stadt Bytom (Beuthen) in der (vorwiegend polnischen) Literatur ein, vgl. Leszek Engelking, Bytom w literaturze. Dzieła, miejsce, zakorzenienie, to˙zsamo´sc´, mit, Bytom 2018. 9 In der Forschung wird zwischen der Thematologie im engeren und weiteren Sinne unterschieden. Während sich die Thematologie im engeren Sinne „auf die systematische und problemorientierte Untersuchung literarischer Stoffe, Motive und Themen im diachronen und interkulturellen Vergleich“ bezieht, wobei hier allerdings ebenfalls intermediale Vergleiche angestellt werden, ist die Thematologie im weiteren Sinne „generell“ an inhaltlichen Aspekten literarischer Texte interessiert. Vgl. Christine Lubkoll, Thematologie, in: Jost Schneider (Hg.), Methodengeschichte der Germanistik, Berlin 2009, S. 747–762, hier S. 747. 10 Richard Rieß (geb. 1890 in Breslau, gest. 1932 in München) studierte in München Germanistik und Philosophie. Er war Übersetzer, Journalist und Autor von Gedichten, Dramen und Novellen, u. a. von „Krank am Kriege“, „Im Felde und daheim“, „Schicksal Krieg“. Er gehörte zum Freundeskreis um Carl Hauptmann. Vgl. Krzysztof A. Kuczy´nski, Richard Rieß: pisarz i dziennikarz. Przyczynek do „kr˛egu przyjaciół“ Carla Hauptmanna, in: Studia Niemcoznawcze 57 (2016), S. 245–249.
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Schlacht bei Gorlice auf eine Patrouille geht und in ein verlassenes Dörfchen gelangt, bleibt er wegen Fußverstauchung in einem menschenleeren Haus über Nacht zurück. Da ihn ein dort stehendes Klavier nahezu magisch anzieht, beginnt er Wolfs „Gebet“ zu spielen. Dabei wird er jedoch von einem ekelhaften Geruch gestört: Als der Künstler in ein Nebenzimmer eintritt, entdeckt er die verwesenden Leichen dreier deutscher Soldaten, die seinem Konzert „in heiliger Andacht“ 11 lauschen, worauf er das Bewusstsein verliert und erst im Lazarett wieder zu sich kommt. Bereits diese kurze Inhaltswiedergabe macht darauf aufmerksam, dass hier nicht so sehr die Gestalt des Künstlers, sondern vielmehr die Kunstausführung im Vordergrund steht. Die beiden Geschichten – sowohl die Rahmen- als auch die Binnengeschichte – beschreiben ein bereits im Titel angekündigtes, grausames Spiel vor den Toten, das wortwörtlich und metaphorisch zu verstehen ist. In die Nähe der toten Soldaten aus Galizien werden nämlich die kranken Soldaten im Lazarett gerückt, die dem leidenden Teichmann wie leblose, bzw. zwischen Sein und Schein beheimatete Wesen vorkommen: „Die alle sind nicht das, was sie scheinen“, 12 diagnostiziert der erschütterte Protagonist. Das grausame Kriegserlebnis des Künstlers steht dabei in einem eklatanten Zusammenhang mit dem Musikerlebnis: „Wenn ich Musik höre, spür ich es immer wieder mit allen Sinnen. . . die Verwesung, das Grauen. . . und im Herzen rasende Hammerschläge“, 13 bekennt der kranke Musiker. Die zwei Schichten der Erzählung werden dabei deutlich in Bezug auf die Funktionen der Kunst kontrastiert und durch ein gemeinsames Element zusammengehalten, nämlich den Mythos von der erlösenden Funktion der Kunst, der in der Binnengeschichte einen Umschlag ins Negative erfährt. Die Idee von der heilenden bzw. rettenden Wirkung der Kunst ist bekanntlich auf Arthur Schopenhauer zurückzuführen, der in seinem grundlegenden Werk „Die Welt als Wille und Vorstellung“ den Künstler als Ausnahmemenschen und die Kunst als die einzige Macht darstellt, welche sich dem blinden Weltwillen zu entziehen vermag. In Rieß’ Kurzgeschichte wird jedoch nicht nur das Problem der Rettung des Künstlers, sondern auch des Kunstempfängers verbalisiert. Das Konzert der Sängerin erfüllt zwar im Falle des Publikums eine therapeutische Funktion, der Auftritt Teichmanns vor den Toten ist aber dessen genaue Umkehrung: Durch die Kunst wird er der grausamen Kriegsrealität nicht enthoben, sondern nur noch stärker in sie verwickelt, sodass man eher von der Verdammung oder sogar von der Vernichtung durch die Kunst sprechen müsste. Der durch den Krieg infizierte Künstler wird so unheimlichen Mächten ausgeliefert, was sich 11 Richard Rieß, Das Spiel vor den Toten, in: Paul Bartsch (Hg.), Ein Buch vom Kriege. Erzählungen und Dichtungen, Bd. 2: Die schlesischen Bücher, Schweidnitz 1916, S. 3– 14, hier S. 12. 12 Ebd., S. 14. 13 Ebd., S. 13–14.
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deutlich in dem hier verwendeten Vokabular zeigt: Teichmann erzählt eine „verteufelte Geschichte“ 14 nach, und das galizische Haus, in dem er übernachtet, wirkt „merkwürdig gut erhalten“, „wie von Gott“ oder „vom Satan“. 15 Somit liegt der Schluss nahe, dass das Kriegsgeschehen das Heiligste – die Musik, begriffen als eine Emanation des Sacrums und versinnbildlicht durch Wolfs „Gebet“ – profaniert und sogar den Künstler für den grausamen Weltwillen empfänglich gemacht hat. Die verderbte Kriegswirklichkeit ist daran schuld, dass nicht einmal eine temporäre Erlösung aus der Hölle des Krieges möglich ist. Im Falle des hypertrophen Künstler-Soldaten ermöglicht die Kunst keine realitätsentrückte Versenkung mehr, wirkt nicht wirklichkeitsenthebend, sondern vielmehr wirklichkeitsbindend bzw. -fesselnd, sie wird, mit einem Wort, wie der Krieg, zur Qual. Die kausale Verknüpfung zwischen Kunst und Krieg wird ebenfalls in Alfred Heins 16 Kurzgeschichte „Hedwig und Edith“ vorgeführt. Wie bei Rieß, konzentriert sich das Geschehen auch hier auf einen Künstler-Soldaten, genauer gesagt auf einen oberschlesischen Maler, dessen Künstlertum unter dem Einfluss des Krieges und des Todes einen sichtbaren Wandel erfährt. Zunächst als ein gottbegnadeter Künstler apostrophiert („Gott kam zu ihm nicht nur im Gebete. Gott gab ihm das Wunder der leichten, bildenden Hand und sprach in grober Stunde zu ihm: Schaffe! Da ward er ein Maler und einsam“ 17), gelangt er als Kriegsmaler nach Kurland, wo ihn von nun an die Kunst „verhext“, 18 sodass er „Tag und Nacht“ malt und sogar seine Angehörigen und seine Geliebte Edith vergisst. Von diesem Moment an scheint sich seine Kreativität aus der Erfahrung des Todes und des Sterbens zu speisen: Als er nämlich erfährt, dass Edith im Sterben liegt, ergreift ihn ein schöpferischer Impuls, dem er nicht widerstehen kann: Er schläft nachts sogar anfangs. Aber dann springt er plötzlich auf. Wilde Gedanken peitschen ihn zur Staffelei. Die höchste Stunde seines bisherigen Lebens kommt mit Urgewalt. Der Pinsel hastet wild über die Leinwand, er malt die Geliebte in reiner Schönheit, wie sie seine Phantasie träumt! Eine Göttin! Aus dem einen Anblick, aus dem einen Lied, aus dem einen Abend haben die Sehnsuchtsträume dieses Gemälde geformt. 19
14 Ebd., S. 9. 15 Ebd., S. 10. 16 Alfred Hein (Julius Beuthen), geb. 1894 im oberschlesischen Beuthen, gest. 1945 in Halle, war ein Schriftsteller, der heute vor allem für sein Gedicht „Eine Kompanie Soldaten“ bekannt ist. Sein umfangreiches Werk ist der Gegenstand einer Dissertation, die derzeit an der Schlesischen Universität Katowice vorbereitet wird. 17 Alfred Hein, Hedwig und Edith, in: Ders., Der Unerlöste. Novellen und Skizzen, Stettin 1919, S. 35–56, hier S. 38. 18 Ebd., S. 45. 19 Ebd., S. 47.
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Die gegenseitige Bedingtheit zwischen Kunst und Tod wird noch deutlicher in einer anderen Episode vor Augen geführt, in der der Maler seine schwerkranke Schwester Hedwig besucht: „Er ertappt sich plötzlich, wie nicht der Bruder an der Kranken nach den Augen sucht, sondern der – Künstler. Ihm ekelt vor sich selbst. Er möchte so gern nur liebender Mensch sein. Und bleibt grausamer Künstler“. 20 Der Maler scheint in einen Wahnzustand geraten zu sein, der seine Kreativität geradezu unmenschlich beflügelt: Und er fiebert neben der schlafenden Kranken das Bild auf die Leinwand. In einer Nacht. Die Welt ist nichts. Seine Schwester ist ihm nur – Modell. Grausam wagt der Pinsel das Furchtbarste. Er spürt, ihm gelingt Großes. Über ihn Wachsendes. Er malt, malt, malt. Er bricht zusammen, er wird wieder Mensch, er weint, er möchte das Bild zerreißen. . . Er schreit auf, die Kranke regt sich, da packt er sein Höllenwerk unter den Arm und flieht. 21
Von Gewissensbissen getrieben meldet sich der Protagonist wieder beim Militär, gelangt an die Front, will im Krieg fallen, kommt doch letzten Endes verwundet, aber lebendig nach Hause. Neben dem Topos des einsamen Künstlers, der übrigens als eine Konstante von Heins Künstlerauffassung anzusehen ist, wird hier der eklatante Zusammenhang von Künstler- und Menschentum thematisiert: Die zunächst als Gabe evozierte Kunst weidet sich an dem Unglück und dem Leid der Menschen, um sich schließlich als Fluch zu erweisen, der den durch den Krieg angesteckten Künstler immer mehr von dem Humanen entfremdet. Die Vorstellung vom Künstler als Gefangenem im Spannungsfeld zwischen Menschen- und Künstlertum wird ebenfalls in Heins Kurzgeschichte „Ein halber Tag“ evoziert, wobei jenes Verhältnis diesmal etwas nuancierter vorgeführt wird. Obwohl der Protagonist wiederum ein Künstler-Soldat ist, vermag er sich diesmal mit seiner Kunst über die grausame Kriegsrealität zu erheben: „Eine Seele ist über eine Geige gespannt. . . Und die Saiten erbeben: Denn Du, zu der alle diese Klänge hauchen, jubeln, weinen und entzückt taumeln, bist ewig. Darum fürchte ich mich nicht, Tod von Flandern. Donnere, Tod, schreie, Tod, reiße, raube, räche dies Glück, Tod! Du kannst es nicht. Dieses Glück ist und ist und ist! Es hat keine Stunde“. 22 Eindeutig wird hier der Triumph der Kunst über den Tod verbalisiert, welche sich als zeitenthebendes und zeitaufhebendes Moment zeigt. Sie wird mit positiven Attributen aufgeladen und deutlich gegen die grausame Kriegsrealität ausgespielt. Zugleich kommt der Kunst die Funktion zu, verborgene Gefühle auszudrücken, denn sie wird zum Sprachrohr der gequälten Seele – der Geiger bekennt nämlich mittels seines Spiels seine verbotene Liebe, die
20 Ebd., S. 49. 21 Ebd., S. 50. 22 Alfred Hein, Ein halber Tag, in: Ders., Der Unerlöste, S. 25–33, hier S. 30.
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wegen Standesunterschieden keinerlei Chancen auf Erfüllung hat. Somit büßt die Kunst nichts an ihrer elementaren Kraft und Funktion ein, Empfindungen und Emotionen auszudrücken, auch angesichts des drohenden Todes. Damit wird ein bis heute populärer Topos aktiviert, demzufolge die Musik die Sprache des Herzens sei und welcher besonders im 18. und 19. Jahrhundert in Literatur und Kunst weite Verbreitung gefunden hat (man denke etwa an die Figur Joseph Berglinger aus „Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders“ von Wilhelm Heinrich Wackenroder). Die Musik als eine metonymische Entsprechung der Kunst erweist sich aber nicht als Gegensatz des Menschentums; diesmal vermag sie es sogar, den Künstler auf die Pfade des Humanen zurückzuführen. Ein ähnlicher Gedanke findet sich in der Skizze „Der Dichter“ von Elfriede Gärtner. 23 Darin wird eine Episode aus dem Leben eines Schriftstellers erzählt, die zugleich eine Wende in seiner künstlerischen Entwicklung markiert: Martin Reichardt, denn so heißt der Künstler, kommt nach einem Nervenzusammenbruch aus einer Heilanstalt zurück. Nach wie vor fühlt er sich aber schlecht, denn die Ursache seines Leidens liegt nicht in der physischen Überarbeitung (er arbeitet als Beamter), sondern ist tieferen Ursprungs. Reichardt erlebt eine Schaffenskrise, die er nicht überwinden kann, seitdem er sich dem Geschmack des Massenpublikums verschrieben und um des Geldes und Ruhmes wegen seine wahren künstlerischen Neigungen aufgegeben hat. Mit sich selbst zerstritten reist er nun mit dem Zug nach Hause, als eine junge Kriegswitwe in sein Abteil einsteigt und sich in die Lektüre eines Buches, das sich später als sein Erstling erweisen wird, vertieft. Als der Künstler erfährt, dass sein Werk ihr Trost und Wärme gespendet hat in einer für sie schwierigen Zeit, steht ihm seine Berufung wieder klar vor Augen und er beschließt, nicht mehr der Gunst des Publikums zu gehorchen, sondern seiner inneren Stimme. In der Geschichte von Gärtner wird ziemlich deutlich die Vorstellung vom Künstler als einem gottbegnadeten Schöpfer vor Augen geführt, der die Stimme des Engels im Herzen hört und ein stiller Arbeiter im Garten Gottes sein soll. Damit beschwört Gärtner Platons Idee von dem göttlichen Ursprung der Kunst, derzufolge der Künstler das Werkzeug einer höheren Macht sei. Es wird deutlich, dass erst solch eine Haltung ihm ermöglichen wird, gegen die Kriegsgräuel anzustehen und in der durch den Krieg verwüsteten Welt zum Guten zu wirken: Martin Reichardt glaubte wieder an des Dichters heilige Bestimmung [. . . ]. Seine Losung hieß nun, weiter schaffen, aber schaffen wie einst, unbeirrt von den Stimmen der Welt, nur nach innen lauschend, und dem Ruf des Engels folgend, der da gebietet: „Schreibe!“. Vielleicht war es ihm dann wieder einmal beschieden, in
23 Elfriede Gärtner (geb. 1879 in Brieg, Sterbejahr und -ort unbekannt) war eine Breslauerin. Sie veröffentlichte u. a. die Gedichtbände „Aus Sehnsucht und Stille“ und „Daheim und draußen“.
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anderer Leben hinein zu leuchten, suchenden Seelen ein Licht zu entzünden, auf daß sie Pfade des Friedens fänden. 24
Unmissverständlich greift hier die Autorin ebenfalls den Mythos vom Künstler als religiösem Heilsbringer auf, der seinen Ursprung in der Romantik hat (man denke wieder an Wackenroders „Herzensergießungen. . . “), mit dem Unterschied jedoch, dass der Künstler nicht zum gottgleichen Schöpfer stilisiert und nicht auf gleiche Höhe mit Gott erhoben wird, sondern als Werkzeug Gottes eine untergeordnete, bzw. der Menschheit dienliche Rolle spielen soll. Es lässt sich ferner der Schluss ziehen, dass Reichardts Wiederentdeckung seiner künstlerischen Berufung auch dem Krieg zu verdanken sei – dieser Zusammenhang zwischen Künstlertum und Krieg wird aber deutlicher in Carl Biberfelds 25 Prosaskizze „Ein Held?“ zur Gestaltung gebracht. Die Geschichte beginnt unmittelbar vor dem Beginn des Ersten Weltkrieges, als ein Journalist und Dichter von seiner lange Zeit vermissten Geliebten zurückgewiesen wird und sich in seiner Verzweiflung für das Vaterland aufzuopfern beschließt. Sein Wunsch, „ein stumpfes, seelenloses Glied in einer riesenhaften Maschine“ 26 zu werden, erfüllt sich, als der Krieg ausbricht und er bei den Pionieren aufgenommen wird. Obwohl er sich den Tod inbrünstig herbeiwünscht, wird er von ihm nicht geholt. Erst, als er eine Heldentat vollbringt – bei einem Angriff hält er nämlich in einem einstürzenden Haus bis zu letzter Minute durch, um die ihm diktierten Befehle fortzuschicken –, kann er sein früheres Leben vergessen. Der in diesem Moment aus seiner Feder hervorgehenden „Flammenschrift“ 27 kommt dabei die Funktion einer symbolischen Schnittstelle zwischen dem Künstler- und Kriegsdiskurs zu, die eine Wende in seiner künstlerischen und menschlichen Entwicklung markiert. Der Protagonist wird zwar zum Kriegsversehrten, aber im Lazarett regt sich wieder sein schöpferischer Geist – das Einzige, was der Krieg nicht zerstört hat. Somit entpuppt sich hier der Krieg als kreativitätsförderndes Prinzip, quasi Auslöser des Schöpferischen, der den Künstler aus der schöpferischen Erstarrung befreit und durch welchen für ihn die Rettung kommt. Die im Grunde banale Geschichte über eine unglückliche Liebe mit dem Krieg als Kulisse des Geschehens erhält somit durch die Künstlerproblematik einen tieferen Sinn und liest sich beinahe wie eine Illustration für Thomas Manns These vom kathartischen und implizit aktivierenden Einfluss des Krieges auf den geistig
24 Elfriede Gärtner, Der Dichter, in: Schlesischer Musenalmanach. Ein poetisches Jahrbuch, hg. v. Wilhelm Wirbitzky, Schlesiengrube 1918, S. 10–15, hier S. 15. 25 C(K)arl Biberfeld (geb. 1856 in Breslau, gest. 1924 in Zuckmantel) war Bankbeamter, Schriftsteller und Herausgeber. Er war Schriftführer der Breslauer Dichterschule. Vgl. Franz Heiduk, Oberschlesisches Literatur-Lexikon. Biographisch-bibliographisches Handbuch, Berlin 1990, Teil 1, S. 31. 26 Carl Biberfeld, Ein Held?, in: Bartsch, S. 93–105, hier S. 102. 27 Ebd., S. 104.
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schöpferischen Menschen, welche der Schriftsteller zwei Monate nach dem Ausbruch des Krieges wie folgt formuliert hat: „Wie hätte der Künstler, der Soldat im Künstler nicht Gott loben sollen für den Zusammenbruch einer Friedenswelt, die er so satt, so überaus satt hatte! Krieg! Es war Reinigung, Befreiung, was wir empfanden“. 28 Betrachtet man das hier behandelte Problem der Verzahnung des Künstler- und Kriegsdiskurses aus einer übergreifenden Perspektive, so kann man sich dem Eindruck nicht entziehen, dass Künstler- und Soldatentum kein offensichtliches Abhängigkeitsverhältnis bilden. Die Kriegshandlungen stehen nicht im Zentrum der erzählten Welten; der Kriegsdiskurs ist zwar in ihnen präsent, er wird aber nicht zum vorherrschenden Narrativ. Eine wichtigere Rolle scheint hier der Konnex zwischen Künstler- und Menschentum zu spielen: Die in den Krieg verwickelten Künstler werden nämlich meist mit dem Problem der Dehumanisierung konfrontiert. Sie werden aber nicht zu weltfremden Sonderlingen oder Außenseitern; sie kapseln sich nicht von der menschlichen Gemeinschaft ab, verlassen sie zwar, doch sie bleibt für sie ein wichtiger Bezugs- bzw. Orientierungsrahmen. Darüber hinaus lässt sich noch bemerken, dass die hier analysierten Künstlerfiguren keine Exklusivfiguren sind. Ihr Künstlertum – auch wenn es als eine sichtbare Addition anzusehen ist – zeigt sich nicht als überragend. Wenn man dem Konzept des Künstlers von Maria Gołaszewska folgt, derzufolge der schöpferische Mensch allen voran als Ausnahmemensch und Grenzgänger aufzufassen sei, 29 so wird deutlich, dass die Probleme der einschlägigen Künstlerfiguren im Grunde die Probleme eines jeden Menschen im Krieg sind. Die Künstlerfiguren werden zwar in krisenhaften Situationen dargestellt, die Krise scheint aber mehr ihr Menschentum als ihr Künstlertum zu betreffen. Man könnte deswegen die These riskieren, dass der Krieg die Entzauberung und Deheroisierung des Künstlers bewirkt, ihn des Nimbus des Außergewöhnlichen beraubt, um ihn ins Prosaische, ja Banale herabzuführen. Die prosaisierte Künstlerfigur wäre demnach als ein Produkt der von Krisen erschütterten Zeit zu begreifen, ein wahrhaftes Signum Temporis eines epochalen Krisenbewusstseins.
28 Thomas Mann, Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, Bd. XIII: Gedanken im Krieg, Frankfurt a. M. 1990, S. 533. 29 Vgl. Maria Gołaszewska, Kim jest artysta?, Warszawa 1986, S. 50–57.
Elzbieta ˙ Nowikiewicz
(Uniwersytet Kazimierza Wielkiego w Bydgoszczy)
Die literarische Erinnerung an den Ersten Weltkrieg in der Provinz Posen Der vorliegende Artikel nimmt sich aus kulturwissenschaftlicher Perspektive die literarischen autobiografischen Reaktionen – oder auch Abwehrreaktionen – von Zeitzeugen auf den Großen Krieg zum Forschungsziel. Der Erste Weltkrieg ist ein globaler Krieg, doch sind seine Folgen immer auch regionaler und privater Natur. Abhängig von der Untersuchungsebene, sei sie lokal, (trans-)national oder global, ändert sich die Bedeutung eines Ereignisses. Im Vordergrund steht hier der Vorsatz, die regionale Dimension in den Mittelpunkt zu rücken und die Haltungen, die die deutschen, polnischen und jüdischen Einwohner der Provinz Posen 1 zu jenem Krieg einnehmen, vergleichend zu präsentieren. Zunächst muss der Blick von der Makroperspektive der historischen Ereignisse abgewendet werden, um auf die Perspektive des Individuums überzugehen und dessen Art der Wahrnehmung zu verstehen, die eine subjektive und oft mit starken Emotionen verbundene Repräsentation der Realität ist. Diese Arbeit knüpft an die These von Jan Röhnert an, dass sich zum Krieg kein in ihn verwickelter Autobiograf neutral verhalten könne. 2 Jede Autobiografie versucht, den Krieg anders „zu umkreisen; ästhetisch anders, mit anderen Ausdrucksmitteln und je eigener Zielsetzung dingfest zu machen, ihn anders in den Rahmen der eigenen Lebensgeschichte einzupassen oder ihn umgekehrt von der eigenen Lebensgeschichte abzugrenzen, ihn also zu bewältigen, indem Lebens- und Kriegsästhetik einander ins Verhältnis treten“. 3 Unterschiedliche Narrative über den Ersten Weltkrieg rühren also von gemachter Erfahrung, den politisch-historischen Faktoren sowie „dem zeitlichen und 1 Das von Polen und Deutschen national beanspruchte Großherzogtum Posen, nach 1848 Provinz Posen genannt, war von den Teilungen Polens bis zum Ende des Ersten Weltkrieges das preußische Teilungsgebiet. 2 Vgl. Jan Röhnert, Autobiographie und Krieg. Ästhetik, Autofiktion und Erinnerungskultur seit 1914. Ein Problemaufriss, Heidelberg 2014, S. 10. 3 Ebd., S. 13. Vgl. auch Jerzy Kała˙ ˛zny, Kategoria pami˛eci zbiorowej w badaniach literaturoznawczych, in: Kultura Współczesna 3 (2007), S. 87. Der Autor referiert u. a. Astrid Erll / Ansgar Nünning (Hg.), Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft. Theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven, Berlin 2005. Vgl. auch El˙zbieta Rybicka, Miejsce, pami˛ec´, literatura (w perspektywie geopoetyki), in: Teksty Drugie 1/2 (2008), S. 19–32.
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räumlichen Verhältnis des Autobiographen zu seinem Kriegs-‚Material‘“ 4 her. Da die Regionalforschung über die Provinz Posen bisher entweder (sehr oft) deutschsprachige oder (nur randständig) polnische autobiografische Zeugnisse behandelt hat, werden hier zum ersten Mal gleichzeitig drei Perspektiven sichtbar gemacht: deutsche, polnische und jüdische Schriftsteller aus der Provinz erinnern sich an den Großen Krieg. Die geopolitische und geschichtliche Situation und die heterogene Zusammensetzung der Bevölkerung in der Provinz ergaben die Auswahlkriterien für die Schriftsteller, die die literarische Bearbeitung ihrer Kriegserfahrung versucht haben. Alle wurden in diesem sprachlich und kulturell gemischten preußischen Teilungsgebiet geboren und waren gegen Ende des Großen Krieges mindestens an der Schwelle zum Erwachsenendasein (generationeller Kontext). Sie repräsentieren die drei hier wohnhaften Ethnien. Es sind: der deutsche Publizist und Reiseschriftsteller A.E. Johann (1901–1996) aus Bromberg, der aus Posen stammende polnische Journalist und Volksschriftsteller Maciej Wierzbi´nski (1862–1933), der deutschsprachige Expressionist jüdischer Herkunft Ernst Toller (1893–1939) aus Samotschin und der aus Bromberg stammende deutschsprachige Jude Alfred Cohn (1901–1961). Letzterer war kein Berufsschriftsteller, sondern Arzt, doch er verfasste Erinnerungen an die in Crone und Bromberg verbrachten Jahre 1901–1920. Alfred Cohn setzt sich nur sehr wenig mit dem Krieg auseinander und fügt sich dadurch völlig anders als Ernst Toller in den Untersuchungsrahmen ein. Toller passt nur sehr begrenzt in dieses Schema, denn er präsentiert ein höheres literarisches Niveau. Zudem verließ er schon 1914 Bromberg. Trotz der globalen Reichweite des Ersten Weltkrieges 5 ist die Kriegswahrnehmung der genannten Schriftsteller überwiegend lokal konnotiert (Ausnahme: Ernst Toller). Sie streben keine Synthese der Kriegsereignisse an, sondern liefern einen spezifischen, von regionalen und nationalen Sensibilitäten
4 Jan Röhnert, Selbstbehauptung. Autobiographisches Schreiben vom Krieg bei Goethe, Heine, Fontane, Benn, Jünger, Handke, Frankfurt a. M. 2014, S. 22. 5 Aus deutscher Sicht stellte der Erste Weltkrieg eine notwendige Antwort auf das Handeln feindlich gesinnter Nachbarn dar. Ein Sieg würde das materielle und kulturelle Überleben des deutschen Volkes sichern. Das andersartige Gedenken nach Kriegsende ist die Folge der Niederlage, des Übergangs von der Monarchie zur parlamentarischen Demokratie, der Gebietsverluste, die von nun an das deutsche nationale Erinnern bestimmen. Aus polnischer Sicht ist der Erste Weltkrieg ein Konflikt zwischen den drei Teilungsmächten, die jetzt beginnen, Angebote für die zukünftige Stellung Polens zu machen. Für die in der Provinz lebenden Juden ist es überwiegend selbstverständlich, dass das Deutsche Kaiserreich seine Interessen notfalls auch mit kriegerischen Mitteln vertritt und darum stehen sie auf seiner Seite. Sie sehen im Kampf für das sogenannte Vaterland eine neue Möglichkeit zur Assimilation. Vgl. Thorsten Unger, Die Zerschlagung der Integrationshoffnung des jüdischen Kriegsfreiwilligen in Ernst Tollers „Die Wandlung“, in: Maria Gierlak u. a. (Hg.), Literarische Erinnerung an den Ersten Weltkrieg in Regionen Mitteleuropas, Frankfurt a. M. 2017, S. 183.
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aufgeladenen Zugang zum „äußeren“ Kriegsgeschehen (zu den historischen Fakten), erzählen Geschichten über sich selbst, über das Trauma, das Versagen des Idealismus und ihre Desillusionierung. Verschiedene stilisierende Selbstdarstellungen verweisen auf andere Motivationen und Schreibsituationen. Johann, Wierzbi´nski, Toller und Cohn schöpfen jeweils aus anderen Traditionen, bedienen sich verschiedener künstlerischer und ästhetischer Mittel in unterschiedlichen literarischen Gattungen. 6 In allen Texten lassen sich leicht autobiografische Inspirationen entdecken. In Johanns autobiografischem Roman „Im Strom“ (Berlin 1942) weist der Werdegang des Protagonisten Ähnlichkeiten mit der fabularisierten Autobiografie des Schriftstellers „Dies wilde Jahrhundert“ (München 1989) auf. Durch die häufige Wiederkehr ähnlicher Motive und Episoden sind diese Texte eng miteinander verknüpft und werden nun abwechselnd zitiert und analysiert. 1925 erscheint der historische Roman „Wolno´sc´. Powie´sc´ z czasów odrodzenia Wielkopolski“ 7 („Freiheit. Ein Roman aus der Zeit der Wiedergeburt Großpolens“) von Wierzbi´nski. Auch Wierzbi´nskis Erzähltexte kann man als fabularisierte Geschichten über seine eigenen Erfahrungen in Großpolen bezeichnen. Er hat sie verfremdet und zugunsten der Dramaturgie und Witzigkeit überspitzt. Später verbindet der Schriftsteller thematisch verwandte Passagen auch anderer Novellen und Erzählungen mit dem genannten Roman und gibt den im vorliegenden Beitrag behandelten Roman „Syn kresów“ („Der Sohn der Westmark“) heraus. Diese Texte zählen zur Trivialliteratur. Ihr Vorteil beruht jedoch auf dem Transparentmachen der in der Gesellschaft bestehenden Klischees, deswegen werden sie für diese Arbeit wichtig. Wierzbi´nski schreibt in der Belletristik das national ausgerichtete Gedankengut seiner Publizistik („Idea niemiecka a Polacy“ 8 ) fort und nutzt in seinen literarischen Texten journalistische, reportageartige Stilmittel. Hier werden beide Textsorten besprochen. Bei Toller dient das autobiografisch gehaltene Stationendrama „Die Wandlung. Das Ringen eines Menschen“ (Potsdam 1919) 9 als Vorlage meiner Untersuchung. Ein Mann namens Friedrich, die Hauptfigur, 6 In Anlehnung an Georg Misch: „Autobiographische Schreibintentionen können grundsätzlich in allen literarischen Formen und Gattungen umgesetzt werden. Es ist keine Gattungsfrage, was die Autobiographie von anderen literarischen Texten unterscheidet, sondern ihr immanenter Bezug zur [. . . ] Wirklichkeit – und zur Subjektivität des Autors“. Vgl. Röhnert, Selbstbehauptung, S. 11. 7 In Folgen: Dziennik Bydgoski (1925/26), Jge. 19–20, http://kpbc.umk.pl/Content/ 186556/publikacja26135.pdf [letzter Zugriff: 10. 02. 2020]. 8 Vgl. Maciej Wierzbi´nski, Idea niemiecka a Polacy. Rozmy´slania Polaka wobec manifestu berli´nskiego z dn. 5 XI 1916 [Die deutsche Idee und die Polen. Überlegungen eines Polen zum Berliner Manifest vom 5. November 1916], Pozna´n 1919. 9 Zu den Ähnlichkeiten Friedrichs mit Ernst Toller vgl. Horst Denkler, Die Wandlung, in: Jost Hermand (Hg.), Zu Ernst Toller. Drama und Engagement, Stuttgart 1981, S. 116– 141, hier S. 119–122; Richard Dove, Ernst Toller. Ein Leben in Deutschland, Göttingen 1993, S. 34–47; Unger, S. 182.
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erfährt eine innere Wandlung vom anfänglich Kriegsbegeisterten zu einem entschiedenen Gegner des Krieges. Das Drama weist deutliche Ähnlichkeiten mit Tollers Autobiografie „Eine Jugend in Deutschland“ (Amsterdam 1933) auf. Der Text „Erinnerungen an Bromberg“ ist eine Familiengeschichte, die Alfred Cohn um 1934 verfasste. Da die erste Niederschrift im Zweiten Weltkrieg verbrannt war, schrieb er seine „Erinnerungen an Bromberg“ noch einmal – „etwas gekürzt und verallgemeinernd – ‚aus der Erinnerung‘“ 10 nieder.
1. Der Erste Weltkrieg in den Wahrnehmungen von A. E. Johann Johann nahm 1918/19 als freiwilliges Mitglied des Freikorps „Grenzschutz Ost“ an Freikorps- und Grenzschutzkämpfen gegen die Durchsetzung polnischer Gebietsansprüche in Posen und Schlesien teil. In der Weimarer Republik wurde er von den Ideen der „Geopolitik“ Karl Haushofers (des Herausgebers der „Zeitschrift für Geopolitik“) beeinflusst, den Volker Bendig für einen der Stichwortgeber der „‚Lebensraum-Doktrin‘ der Nationalsozialisten“ hält. Bendig sah in Johanns Wahrnehmung des Ersten Weltkriegs, des Versailler Vertrags, des Übergangs zur parlamentarischen Demokratie und der politischen Instabilität den Grund für dessen Empfänglichkeit für nationalsozialistisches Gedankengut. Für die Generation der unmittelbar vom Ersten Weltkrieg Betroffenen wurde das Trauma der deutschen Niederlage zu einem „verbindenden und identitätsbildenden Ereignis“. 11 Auffällig ist die (erfahrungsbedingte) Erzähldistanz Johanns. Sie wird im Roman „Im Strom“ durch die Annäherung des Erzählers an die Gedankenwelt der Hauptfigur Hans Rademacher kompensiert. Die Weltanschauung Rademachers ist noch von der Überzeugung geprägt, Krieg sei mit Heldentum und Abenteuer gleichzusetzen. Diese jugendliche Kriegsverherrlichung ging einher mit einer bornierten Siegesgewissheit und einer Verharmlosung der 10 Alfred Cohn, Erinnerungen an Bromberg. Wspomnienia o Bydgoszczy, hg. v. El˙zbieta Alabrudzi´nska und Barbara Janiszewska-Mincer, Toru´n 2003, S. 7. 11 Volker Bendig, A.E. Johann bei Ullstein und dem Deutschen Verlag. Das Amerika-Bild eines Publizisten und Reiseschriftstellers in der Weimarer Republik und im Dritten Reich, in: David Oels / Ute Schneider (Hg.), Der ganze Verlag ist einfach eine Bonbonniere. Ullstein in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Berlin 2015, S. 239–256. In seinem Aufsatz bezeichnet Bendig den Schriftsteller als einen Nutznießer des NS-Regimes und einen „willigen Mitläufer, der es verstand, sich mit seinen Büchern dem Zeitgeist geschickt anzupassen“ (S. 254) und „spannende Unterhaltung mit dezent belehrender politischer Propaganda“ (S. 240) zu verbinden. Zugleich wirft er Johann vor, nach 1945 eine kritische Auseinandersetzung mit seinen während der NS-Zeit veröffentlichten Schriften vermieden zu haben. Vielmehr hätten inhaltliche Kontinuitäten bis in die achtziger Jahre überwogen, bemängelt der Forscher.
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Gräuel des Krieges. Sie wurde nicht zuletzt durch Gymnasiallehrer hervorgerufen. Johann verdeutlicht damit, wie die preußische Erziehung zur Indoktrination der jungen Generation missbraucht wurde. 12 Die Folge war: Die jungen Menschen erwarteten Neues, Aufregendes. Doch sie überzeugen sich schnell vom Gegenteil. „Die Front ist anders, zermahlender, zermürbender, als wir uns vorstellten“, 13 schreibt die Figur Fritz Raabe in einem Brief an die Hauptfigur des Romans, Hans Rademacher. „Von ‚süß und ehrenvoll fürs Vaterland zu sterben‘ ist keine Rede mehr. ‚Heldentum‘ in diesem Eisenhagel, gegen den man sich nicht wehren kann . . . ? Quatsch! Wer am Leben bleiben will, muß Deckung nehmen. Tote Helden sind zu nichts mehr zu gebrauchen“. 14 Fritz und unter Einfluss seiner Frontbriefe auch Hans sind schnell ernüchtert: Zweihundertvierzig Stunden lang hat der Tod mit uns Katz und Maus gespielt. Manche wurden wahnsinnig [. . . ]. Ihre gepeinigten Gehirne revoltierten; leichter war es, zu sterben, Schluß zu machen, als diese Hölle weiter zu ertragen. Vielleicht verstehst Du jetzt, was es bedeutet, wenn ich Dir schreibe: Ich lebe noch! Jeder zweite unseres Bataillons ist tot, der Major ist tot, unser Hauptmann ist tot. Alle, mit denen ich zusammen in Jüterborg in die Kaserne rückte, sind tot oder verwundet. 15
Auch in dem 47 Jahre später erschienenen Band „Dies wilde Jahrhundert“ berichtet der Ich-Erzähler, wie der Große Krieg die Menschen verändert hat. Die Ich-Perspektive ist allerdings bei nachträglicher Narration durch den Zeitabstand von siebzig Jahren (1918–1989) mit Fremdwissen angereichert worden. Unter dem Aspekt einer mutmaßlichen Selbststilisierung des Schriftstellers ist noch festzuhalten, dass das (viel reifere) erzählende Ich das (noch naiv) erlebende Ich in seiner mangelnden Urteilsfähigkeit und der Naivität der jungen Generation, die bloß ideologischen Idealen huldigt und Propagandistisches unkritisch rezipiert, vorführt. Das Schreiben aus einer größeren zeitlichen Distanz ermöglicht Johann weitere Vorgriffe. Er setzt bestimmte Akzente oder verschweigt manche Ereignisse. Indem er in „Dies wilde Jahrhundert“ mit den Techniken der Collage oder kaleidoskopischen Anordnung von Geschichte und Politik, von Digressionen arbeitet, lenkt er die Aufmerksamkeit des Lesers auf Erwünschtes. Dies wird u. a. am Beispiel des Bromberger Gymnasialdirektors deutlich, der jede neue Woche mit einer etwa eine Viertelstunde dauernden „Andacht“ aller
12 Vgl. Wolfgang Promies (Hg.), 1870–1945. Erziehung zum Krieg – Krieg als Erzieher. Mit dem Jugendbuch für Kaiser, Vaterland und Führer, Oldenburg 1979, S. 11. 13 A.E. Johann, Im Strom, Augsburg 2006, S. 218. 14 Ebd. 15 Ebd., S. 219.
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Schüler und Lehrer in der großen Aula einleitete. 16 Als der einzige Sohn des Schulleiters in Frankreich gefallen war, konnten sich die Versammelten überzeugen, ob der Direktor imstande sein würde, „uns ein Beispiel dafür zu geben, wie sich preußische Disziplin auch unter hartem Druck bewährte“. 17 Diese Szene kann als eine Absage an eine Politik, die vollständig den Interessen der Mächtigen folgt und nur ihnen zugutekommt, gelesen werden. Den Preis dafür zahlt jeder Einzelne, der von der Gewalt, dem Blutvergießen und dem Schmerz direkt betroffen ist. Johanns literarische Auseinandersetzung mit dem Ersten Weltkrieg ist jedoch nicht so radikal, wie sie in logischer Konsequenz sein müsste. Vielmehr wird unterstrichen, dass wohl ein jeder in Anbetracht der Unmenschlichkeit des Krieges versagt. „Im Strom“ und „Dies wilde Jahrhundert“ führen über die Täuschung von 1914 zu schlagkräftiger Einsicht hin: „Ihn, den ‚Alten‘ [schreibt der Autobiograf – E.N.], so kläglich und unter Tränen versagen zu sehen, hatte mir blitzartig in greller Deutlichkeit enthüllt, was Krieg bedeutet“. 18 Als die zentralen Erlebnisse Johanns sollte man den Untergang des Kaiserreichs und den Verlust der Provinz Posen betrachten, was auch in anderen Erzähltexten Bestätigung findet. 19 Gerade die Erzähltexte Johanns zu politisch relevanten Themen können aufgrund wechselhafter Perspektiven nicht abschließend interpretiert werden. Sie sind im Kontext der ihnen gegenwärtigen Erinnerungskultur (Gedächtniskultur), der gängigen Versionen der Geschichte und der aktuellen Diskurse 20 zu verstehen. Im Erinnerungsprozess wird über die gemachten Erfahrungen so reflektiert, wie es im bestimmten Moment möglich ist. 21 Dadurch wird deutlich, wie sich diese Narrative im Laufe der Zeit gewandelt haben. Eine Kontextualisierung der Verweise und Anspielungen auf die Bedeutung des Großen Krieges, die sich mehrfach ändern kann, ist notwendig. In „Dies wilde Jahrhundert“ wurde Johann auf der Textoberfläche in den Formulierungen deutlich sachlicher als im autobiografischen Roman „Im Strom“.
16 17 18 19
Vgl. A.E. Johann, Dies wilde Jahrhundert, München 1989, S. 185. Ebd., S. 186. Ebd., S. 189. Vgl. A.E. Johann, Sehnsucht nach der Dobrinka. Eine Familiengeschichte aus Westpreußen, München 1988. 20 Vgl. Kała˙ ˛zny, S. 88. 21 Vgl. Maurice Halbwachs, Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, übers. v. Lutz Geldsetzer, Frankfurt a. M. 2006; Kała˙ ˛zny, S. 91.
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2. Der Posener Aufstand bei A. E. Johann Da für die vorliegende Arbeit die unmittelbaren Auswirkungen des Kriegs auf regionaler Ebene und dessen Folgen für die Einwohner entscheidend sind, muss an dieser Stelle kurz der Posener Aufstand als Konsequenz und Ende des Ersten Weltkriegs in Großpolen berücksichtigt werden. 22 Mitte Dezember 1918 wird Hans Rademacher als Freiwilliger in eine in Bromberg entstehende Grenzschutzformation aufgenommen. Die Polen in deutscher Uniform wollten „das verhaßte Kleid eiligst“ ablegen, „um ihre polnischen Ziele mit Politik oder Gewalt durchzusetzen“. 23 Der Aufstand wurde am 27. Dezember 1918 ausgerufen. Im Roman „Im Strom“ ist zu lesen: „Von Süden her [. . . ] begannen, erst vereinzelt, dann in immer dichteren Scharen, deutsche Flüchtlinge in die Stadt zu strömen“. 24 Man wollte, wie Johann schreibt, „das schützende Bromberg“ erreichen, denn „die Polen wären mit starken Kräften im Anmarsch, schon hätten sie deutsche Dörfer vernichtet und jeden erschlagen, der Widerstand zu leisten versuchte“. 25 Die Baronin, eine Bekannte von Hans Radmacher, die von ihrem Gut in Borkowo (zwischen Hohensalza und Bromberg) fliehen musste, äußerte sich abwertend über die polnischen Insurgenten: „Zum Kämpfen scheinen die Freiheitshelden keine Lust zu haben, sondern nur zum Plündern!“. 26 Eine weitere Figur – der Feldwebel Krüger – spricht von „sinnlosem Terror“. Der Erzähler schlussfolgert: „Der gesetzlose Krieg der Freischaren weckte unheimliche Instinkte“. 27 Die damalige politische Realität war kompliziert und schwierig. Durch den Aufstand wollte die polnische Seite in Großpolen Volksabstimmungen verhindern. Angesichts der deutschen Ansiedlungspolitik um die Jahrhundertwende wäre es sehr wahrscheinlich gewesen, dass die Deutschen in Folge der Abstimmungen die überwiegend von Deutschen bewohnten Gebiete Großpolens, mit Lissa und Rawitsch, zugesprochen bekommen hätten. Deswegen wurden im Frühling 1919 die Kämpfe erbitterter. Wie im Roman vermerkt, ähnelten sie immer weniger dem im Westen geführten Krieg. „Die Regeln soldatischen Anstandes und der Menschlichkeit“ 28 gerieten ins Wanken. Es wurden auch Folgen barbarischer Morde geschildert, die polnische Aufständische, darunter ein gewisser Stanislaw Grusinsky, verübt haben sollen. Hinzu kam die Dro-
22 In deutscher Sprache sind nur einige wenige Literaturzeugnisse zum Aufstand entstanden. Vgl. Michael Biebrach, Piroggen und Pistolen. Wie es war, als der Kaiser ging und der polnische Adler das Fliegen versuchte, Düsseldorf 1983. 23 Johann, Im Strom, S. 300. 24 Ebd., S. 304. 25 Ebd. 26 Ebd., S. 309. 27 Ebd., S. 314. 28 Ebd.
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hung: „So werden wir Euch alle ersäufen, wenn es soweit ist“, unterschrieben mit: „Die polnische Legion“. 29 Der Feldwebel Krüger sühnt den deutschen Kameraden, indem er das Urteil über Grusinsky allein fällt und sofort vollzieht. Der euphemistisch als Abrechnung bezeichnete Mord an Grusinsky steht in krassem Kontrast dazu, wofür die deutschen Soldaten bekannt gewesen sein sollen.
3. Der Erste Weltkrieg, der Aufstand und die polnischen Einwohner der Provinz Posen Der Volksschriftsteller und Journalist Maciej Wierzbi´nski (1862–1933) wird stellvertretend für den zahlenmäßig dominierenden polnischen Bevölkerungsteil der Provinz präsentiert. Er wurde in Posen geboren. Er war Redakteur der Wochenzeitung „Praca“ („Arbeit“) in der Provinzhauptstadt, außerdem Redakteur der Tageszeitung „Dziennik Kujawski“ („Kujavien-Zeitung“) in Inowrazlaw. 30 Wegen seiner deutschkritischen Publizistik wurde er zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt. Diese und andere negative Erfahrungen mit den deutschen Behörden veranlassten ihn dazu, nach Warschau umzuziehen. Wierzbi´nski gilt vor allem als Pionier der Romanliteratur über den Posener Aufstand, dessen Teilnehmer er war 31 und dessen Realien er kannte. Trotzdem wird der Roman „Syn kresów“ nicht explizit als autobiografisch deklariert. Literaturwissenschaftler bemängeln am literarischen Schaffen von Wierzbi´nski dessen publizistische Gewohnheiten. 32 Es ist eher journalistisch geprägte Literatur mit publizistischer Funktion und in publizistischem Stil verfasst, deren kulturwissenschaftliche Funktion von Bedeutung sein kann. Jedoch setzt die Häufigkeit, mit der bestimmte Beispiele und Stereotype immer und immer wieder gebraucht werden, Wierzbi´nskis Texte zu Trivialliteratur herab, was ihren Quellenwert keineswegs beeinträchtigt. Maria Gierlak beurteilt diese Textsorte als brauchbare Grundlage für die Rekonstruktion von im kollektiven Bewusstsein bestehenden Bildern. 33 29 Ebd., S. 319. 30 Vgl. N.N., Odczyt Macieja Wierzbi´nskiego, in: Dziennik Bydgoski 135 (1926), S. 7. 31 Vgl. Marian Olszewski, Powstanie Wielkopolskie w literaturze, in: Wielkopolski Powstaniec 1918–1919 4 (1998), S. 45, 48; Ders., Powstanie Wielkopolskie 1918/1919, Warszawa 2018. 32 Vgl. Zdzisław Mrozek, W kr˛egu autorów literatury popularnej. O twórczo´sci Macieja Wierzbi´nskiego, Jana Konrada Ma´ckowskiego i Franciszka Ksawerego Tuczy´nskiego, in: Zeszyty Naukowe Wy˙zszej Szkoły Pedagogicznej w Bydgoszczy. Studia Filologiczne. Filologia Polska 24/9 (1985), S. 18. 33 Vgl. Maria Gierlak, Fremdbilder und nationale Identität. Zum Bild des Deutschen in der polnischen Trivialliteratur der Zwischenkriegszeit, in: Joanna Jabłkowska / Małgorzata Półrola (Hg.), Nationale Identität. Aspekte, Probleme und Kontroversen in der deutschsprachigen Literatur, Łód´z 1998, S. 256.
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Der Roman „Syn kresów“ (mit Elementen der fiktionalen Reportage) spielt 1918/19. Von den wichtigen historischen Ereignissen werden erwähnt: die Flucht des deutschen Kaisers, die letzten Monate der Teilungszeit unmittelbar vor dem sogenannten Sejm Dzielnicowy (Teilungsgebietslandtag, der vom 3. bis zum 5. Dezember 1918 in Posen tagte), die Ankunft Paderewskis in Posen, der Ausbruch des Großpolnischen Aufstands und einige Schlachten im Norden Großpolens, u. a. bei Nakło im Januar 1919. Die historische Genauigkeit des Werks ist fraglich. Wierzbi´nski hält sich kaum an den von Historikern dokumentierten Verlauf der meisten Kämpfe. Da er vieles zuspitzt, wird er unglaubwürdig. Die Polen erringen ausschließlich Siege, deutsch-polnische Kontraste werden überbetont, die literarischen Figuren oft schablonenhaft gezeichnet. Das Buch strotzt von infantilen Beispielen polnischer Tapferkeit und polnischen Patriotismus im Kampf gegen die deutschen Kulturträger. 34 In grobem Schwarz-Weiß-Raster steht den heroisch um Großpolen und ihre Sprache kämpfenden Aufständischen ein durchweg brutales und arrogantes Preußentum gegenüber. Der Gegner ist in der Regel ein Abstraktum und erfährt keine konkrete Ausformung und kein klares Bild; der Feind bekommt ein einziges Mal in der Figur des Direktors Brotscheid aus Nakło Gesicht und Namen, wodurch eine nationalistische Trübung hervorgerufen wird. Im Zentrum der Aufmerksamkeit steht die Familie Prusinowski – Antoni Prusinowski mit seiner Frau Maria und Kindern Bogu´s und Aniela – vom Gut Chobielin bei Nakło. Diese polnische Familie hat sich über Jahrzehnte nicht germanisieren lassen. Die kompromisslose Abgrenzung von den Deutschen wird jedoch durch die Figur des Vaters Antoni abgemildert. Als Einziger unter den Gutsbesitzern und anderen Figuren des Romans verkörpert er eine germanophile Einstellung und behauptet, dass der polnischen Sache derjenige am besten diene, welcher sein Blut für den preußischen König vergieße. Seine Landsleute empfinden dies als Wahnsinn. 35 Prusinowski behauptet, dass die Polen unfähig seien, ohne deutsche Vormundschaft zu regieren. 36 Als ein Anhänger des Preußentums wird er im Roman als ein Mann dargestellt, der befürchtet, dass sein Gut in Chobielin in der neuen politischen Situation an Wert verliere. Am Ende des Kriegs steht er am Scheideweg und „wer weiß, wovor er Angst hat“. 37 Im zweiten Kapitel des Romans wird die Atmosphäre während des Teilungsgebietslandtags in Posen dargestellt. Schon die Kapitelüberschrift ´ eto Zmartwychwstania“ („Das Fest der Auferstehung“) spiegelt das „Swi˛ Ereignis überhöht wider. Bogu´s wird zu diesem Anlass von seiner Mutter und gegen den Willen des Vaters aus der Schule genommen. 34 Vgl. Mieczysław Dere˙zy´nski, Kilka słów o Macieju Wierzbi´nskim, in: Wici Wielkopolskie 11 (1933), S. 84–85. 35 Vgl. Maciej Wierzbi´nski, Syn kresów, Łód´z 1919, S. 9. 36 Vgl. ebd. 37 Ebd., S. 10.
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Wierzbi´nski lässt in diesem Zusammenhang Antoni Prusinowski in zahlreichen Dialogen zu Wort kommen, so z. B. mit der Auffassung, Bildung sei einer der wichtigsten Faktoren der zivilisatorischen Entwicklung. Deswegen sei es die Pflicht seines Sohnes, die Schule regelmäßig zu besuchen. Nicht einmal den Teilungsgebietslandtag in Posen sieht der Vater als ausreichenden Grund dafür an, nicht in die Schule zu gehen. Der Autor des Romans bedient sich der Prusinowski-Figur, denn dieser fleißige Großpole, der die Idee der „organischen Arbeit“ 38 versteht und in die Tat umsetzt, lädt zur Identifikation ein. Wierzbi´nski hebt zwar die Kampfbereitschaft in Form von militärischen Auseinandersetzungen deutlich hervor, ergänzt sie jedoch um Beispiele des großpolnischen Pragmatismus als eines modernen Vorgehens gegen die Teilungsmacht. Schon der Umstand, dass die Prusinowski-Figur vom Erzähler wegen ihrer germanophilen Haltung nicht angefeindet wird, zeigt, dass Wierzbi´nski bemüht ist, über verschiedene Arten des Patriotismus und dessen Optionen zu diskutieren. Eine weit von den Realien entfernte Politik war damals in Posen Objekt scharfer Kritik. Hier wollte man nicht mehr heldenhaft sterben, man wollte den Konflikt für sich entscheiden. 39 Vor 1914 und auch im Ersten Weltkrieg gab es keine über das jeweilige Teilungsgebiet hinausgehende, gemeinsame polnische öffentliche Meinung. Wierzbi´nski unterstreicht deshalb, wie vernünftig und äußerst modern die Großpolen für das zukünftige freie Polen wirken. Sie erreichen mehr als sentimentale und daher hilflose Patrioten. Prusinowski will effektiv für die polnische Sache arbeiten, da ohne ein gewisses Maß an rationalem Denken in jener schwierigen Zeit aller Patriotismus und alle Gelehrsamkeit wertlos seien. Feliks Koneczny bezeichnete eine solche Haltung als „erudycja współczesno´sci“ 40 („Einsicht in die gegenwärtige Lage“). Die Großpolen hätten bekanntlich immer alle Hände voll zu tun gehabt, während es andernorts jede Menge Patriotismus ohne inhaltliche Substanz 41 gegeben habe.
38 „Organische Arbeit“ bezeichnet eine Strömung, die eine „realpolitische“ Antwort auf die gescheiterten polnischen Aufstände des 19. Jahrhunderts darstellen sollte. Dieses positivistische Programm empfahl den Polen, ihre Existenz als Nation durch ökonomische, kulturelle und wissenschaftliche Eigeninitiative auch unter den Bedingungen fortwährender Fremdherrschaft sicherzustellen. Es inspirierte die polnische Bevölkerung, ihre Lage u. a. durch Bildung und Steigerung des ökonomischen Potenzials zu stärken. Vgl. Alina Hinc / Małgorzata Praczyk, Praca organiczna. Teoria i praktyki, in: Małgorzata Praczyk (Hg.), Pozna´n w działaniu. Społeczne inicjatywy dawniej i dzi´s, Pozna´n 2017, S. 15–38; Piotr Okulewicz, Trudna niepodległo´sc´ – co zostało z idei pracy organicznej w Poznaniu i w Wielkopolsce w okresie mi˛edzywojennym, in: ebd., S. 39–67; Hubert Gerlich, Organische Arbeit und nationale Einheit. Polen und Deutschland (1830–1880) aus der Sicht Richard Roepells, Münster 2004. 39 Vgl. Waldemar Łazuga, Wielkopolski kontynent, in: Tygodnik Powszechny. Wielkopolska niepodległa. Dodatek specjalny 43 (2018), S. 16–22. 40 Die Formulierung knüpft an Feliks Koneczny an. Vgl. Łazuga, S. 21. 41 Vgl. ebd.
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Sind Wierzbi´nskis Romane insgesamt von geringer schriftstellerischer Qualität, 42 so sind sie doch ein interessantes Zeitdokument, da sie einer um die Jahrhundertwende weit verbreiteten politischen Stimmung literarischen Ausdruck verleihen. So weit sie im Posenschen handeln, spiegeln sich in ihnen zudem zahlreiche Motive und Stereotype wider, die auch in der politischen Publizistik von Wierzbi´nski präsentiert und variiert werden. In „Idea niemiecka a Polacy“ wird der Kontrast zwischen den für die gute Sache kämpfenden Polen und der Arroganz der Preußen hervorgehoben. 43 Maria Gierlak schreibt in diesem Kontext, dass Feindseligkeit ein Zugehörigkeitsgefühl zu verstärken helfe. 44 Das Schaffen von Wierzbi´nski hielt der Probe durch die Zeit nicht stand. Nicht einmal seine Romane waren unter den damaligen Aufständischen populär. 45 Es ist symptomatisch für Texte der Unterhaltungsliteratur, dass sie nach der Veränderung der politischen Konjunktur, in die sie sich einfügen, an Popularität verlieren. 46 Es kam die Zeit der alltäglichen Arbeit, denn die drei sich stark voneinander unterscheidenden, nach der langen Teilungszeit nun wieder polnischen Gebiete mussten in finanzieller, wirtschaftlicher, politischer, rechtlicher, militärischer und sozialer Hinsicht erst einmal integriert werden. 47
42 Vgl. Adam Gajewski, Wolff, Maciaszek, Wierzbi´nski – postaci warte zapami˛etania . . . , http://www.bik.bydgoszcz.pl/index.php?option=com_k2&view=item&id=511 [letzter Zugriff: 18. 03. 2020]. Krzysztof Bła˙zejewski, A mówia, ˛ z˙eby du˙zo czyta´c, in: Express Bydgoski 110 (2012), S. 5. 43 Vgl. Roland Gehrke, Der polnische Westgedanke bis zur Wiedererrichtung des polnischen Staates nach Ende des Ersten Weltkrieges. Genese und Begründung polnischer Gebietsansprüche gegenüber Deutschland im Zeitalter des Nationalismus, Marburg 2001. 44 Vgl. Gierlak, S. 266. 45 Vgl. Janusz Karwat, Problematyka powstania wielkopolskiego 1918/1919 w wybranych dziedzinach kultury (w literaturze i twórczo´sci plastycznej), in: Studia Europea Gnesnensia 11 (2015), S. 99; Gierlak, S. 258–259; auch die Anthologie der polnischen antideutschen Texte von Antoni Trepi´nski (Hg.), Pot˛epie´ncy. Sad ˛ wieków nad Niemcami, Łód´z 1947, S. 305–312; Ewa Rohozi´nska, Wierzbi´nski Maciej, in: Literatura polska XX wieku. Przewodnik encyklopedyczny, Warszawa 2000, Bd. 2, S. 293. 46 Vgl. Gierlak, S. 266. 47 Vgl. Andrzej Chwalba, Sklejanie Rzeczypospolitej, in: Tygodnik Powszechny. Wielkopolska niepodległa. Dodatek specjalny 43 (2018), S. 26.
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4. Der Erste Weltkrieg und die deutschsprachigen Posener Juden Der Erste Weltkrieg wird nun in der autobiografischen Literatur deutschsprachiger Juden stellvertretend anhand von Texten Ernst Tollers und Alfred Cohns präsentiert. Der Bromberger Gymnasiast Toller wurde als deutschsprachiger Expressionist berühmt. Cohn ist dem Lesepublikum nur für seine „Erinnerungen an Bromberg“ bekannt. Da Toller und Cohn unterschiedliche Erfahrungen im Großen Krieg machten, gingen sie auch unterschiedlich an das Thema heran. Obwohl die Erfahrung des Krieges und der Nachkriegszeit in der Provinz Posen beleuchtet werden soll, wird mit der Biografie und den Werken von Toller, der an der Westfront kämpfte, ein Blick über die Provinz Posen hinaus gewagt. Es handelt sich bei ihm mehr um die langfristigen Auswirkungen des Krieges als um die Ereignisgeschichte. Der angehende Schriftsteller Toller reagierte auf die Generalmobilmachung (1. August 1914) mit Begeisterung. Für diese Selbstmobilisierung gibt es mehr als eine Erklärung. Toller fühlte sich doppelt unterprivilegiert, erstens als Jude und zweitens als Jude aus der Provinz Posen. Es galt zum einen, Loyalität den Deutschen gegenüber zu beweisen, zum anderen agierte Toller aus dem seit Ende des 19. Jahrhunderts stetig wachsenden Bewusstsein der Zugehörigkeit zur deutschen Kulturnation. Doch die Integrationshoffnung erfüllte sich im Krieg nicht. „Die Verwendung als Soldat im Krieg“ war weit entfernt „von der Integration in eine lebendige Gesellschaft“. 48 Als Jude steht Friedrich – die Hauptfigur in „Die Wandlung“ – gesellschaftlich am Rande; er leidet schwer darunter und fühlt sich innerlich zerrissen: wegen seiner ihm fremd gewordenen jüdischen Herkunft, wegen der deutschen Bürger, die er als die „drüben“ bezeichnet, und wegen seiner Heimatlosigkeit. „Länger schleppe ich nicht diese Zerrissenheit mit mir umher. Was sind mir die! Dass ihr Blut in mir strömt, was will das bedeuten? Zu denen drüben gehöre ich. [. . . ] Die drüben sind eins mit sich und ihrem Boden. . . frei von jener Zerrissenheit. [. . . ] Sie können lachen und frohen Herzens Tat tun. Sie haben ihr Land, in dem sie wurzeln. . . dem sie sich darbringen können“. 49 In der Forschung 50 wird einstimmig unterstrichen, Toller habe sich als ein „Ausgestoßener“ empfunden, der keine Zugehörigkeit zur Welt seiner Herkunft verspürt habe. Um der Isolation zu entkommen und seine Ergebenheit und Treue zum Vaterland unter Beweis zu stellen, meldet er sich als 48 Unger, S. 184. 49 Ernst Toller, Die Wandlung. Das Ringen eines Menschen, Potsdam 1919, S. 17–18. 50 Vgl. u. a. Cordula Grunow-Erdmann, Die Dramen Ernst Tollers im Kontext ihrer Zeit, Heidelberg 1994; Dieter Distl, Ernst Toller. Eine politische Biographie, Schrobenhausen 1993; Richard Dove, Ernst Toller. Ein Leben in Deutschland, übers. v. Marcel Hartges, Göttingen 1993.
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Kriegsfreiwilliger. Doch auch unter den Frontkameraden, mit denen er die unmenschlichen Gräuel teilt, findet er keinen Anschluss. Literarisch gehoben, verweist Tollers Drama darauf, dass die Diskussion über deutsche Soldaten jüdischen Glaubens allgemein bekannt war und besonders von den Betroffenen geführt wurde. 51 Toller schreibt sich mit seiner Denkweise und Urteilsfähigkeit in das damalige kommunikative Gedächtnis der Posener Juden ein, die als jüdische Soldaten täglich an der Front Schikanen und Demütigung erfuhren. Trotzdem ist die Hauptfigur im Drama mit beispielloser Tapferkeit an der Front bemüht, die Anerkennung der Kameraden zu gewinnen. Während auf gegnerischer Seite Tausende von Toten verzeichnet werden, werden Friedrich das Eiserne Kreuz verliehen und die ersehnten Bürgerrechte bescheinigt. Friedrich zweifelt jedoch im fünften Bild: „Zehntausend Tote! Durch zehntausend Tote gehöre ich zu ihnen. Warum quirlt nicht Lachen? Ist das Befreiung? Ist das die grosse Zeit? Sind das die grossen Menschen?“. 52 Die Gleichstellung blieb schließlich Illusion. 53 Schon der Titel „Die Wandlung“ deutet an, dass sich die Ideale, mit denen Toller und seine Hauptfigur Friedrich in den Krieg gezogen sind, verbraucht haben. Friedrich wandelt sich, wie der Dichter selbst, von der patriotisch-pathetischen Sichtweise zu einer realistisch-kritischen Perspektive auf die Ereignisse und Vorgänge des Großen Krieges. Die Wandlung beruht zum Teil auf Resignation. Friedrich erlebt einen Zusammenbruch, als er erkennt, was für Lügen nicht nur ihm eingebläut wurden. Desto größer ist am Ende seine Enttäuschung. Diese Wandlung hat Toller auch in der Autobiografie „Eine Jugend in Deutschland“ beschrieben, die in ihrer englischen Ausgabe den symptomatischen Titel „I was a German“ erhielt. Die folgenden chronologisch zitierten Aussagen des Erzählers illustrieren seinen Stimmungswandel gut: „Ich will in den Krieg“, 54 „Ich will ins Feld!“, 55 „Ich melde mich zum Fliegerkorps, nicht aus Tapferkeit, nicht einmal aus Lust am Abenteuer, ich will aus der Masse ausbrechen [. . . ], aus dem Massensterben“, 56„Ich will den Krieg vergessen“ und „die Frontsoldaten hätten den Krieg satt“. 57 51 Vgl. Gregor Pelger, Kampf an zwei Fronten. Patriotismus ohne Dank – Jüdische Soldaten im Ersten Weltkrieg, in: Kalonymos 3 (2016), Jg. 19, S. 7–10; Karol Górski, „Vergoldet von den Strahlen der Erinnerung“. Verlorene Heimat in der Erinnerung der Bromberger Familie Cohn (1918–1920), in: Kalonymos 3 (2016), Jg. 19, S. 11–14. 52 Toller, Die Wandlung, S. 39. 53 Vgl. Gerhard Schmolze, Schwierige Jahre in Deutschland. Ernst Tollers Weg von der Assimilierung zur Ausbürgerung, in: Frank-Lothar Kroll (Hg.), Deutsche Autoren des Ostens als Gegner und Opfer des Nationalsozialismus. Beiträge zur Widerstandsproblematik, Berlin 2000, S. 381. 54 Ernst Toller, Eine Jugend in Deutschland, Amsterdam 1933, S. 52. 55 Ebd., S. 56. 56 Ebd., S. 73. 57 Ebd., S. 103.
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Toller schreibt, der Krieg habe ihn zum Kriegsgegner werden lassen. Er habe erkannt, dass der Krieg das Verhängnis Europas, die Pest der Menschheit, die Schande des Jahrhunderts sei. 58 Nichts lehne er stärker ab als den Krieg, denn „die Politiker belügen sich selbst und belügen die Bürger, sie nennen ihre Interessen Ideale, für Gold, für Land, für Erz, für Öl, für lauter tote Dinge sterben, hungern, verzweifeln die Menschen. Überall. Die Frage der Kriegsschuld verblaßt vor der Schuld des Kapitalismus“. 59 Alfred Cohn wurde nicht eingezogen. Er erlebt die Zeit um Weihnachten und Neujahr 1918/19 vergleichsweise unbeschwert. Da er den Ersten Weltkrieg nicht auf den Schlachtfeldern wahrgenommen hat („Ich selbst hatte mich gerade zur Stammrolle gemeldet, als der Krieg zuende war“ 60), blendet er ihn beinahe aus. In weitgehender Zeitraffung – es werden die Jahre 1914–1918 auf einer Seite erzählt, sonst ist sein Text eine Sozial- und Alltagsgeschichte – reflektiert Cohn über den Großen Krieg kurz und lakonisch: „Gewiss viele unserer Verwandten waren im Felde gewesen. [. . . ] Gefallen war aber niemand aus der Familie“. 61 Er zeigt damit eine wenig heroische Heimatfront. Seine Darstellung lässt wenig Raum für nationalistische Emotionen. Erst die Loslösung des Netzedistrikts von Deutschland machte ihm bewusst, vor welcher Frage die Deutschen und Juden standen: „Soll man in Bromberg bleiben oder soll man nach Deutschland abwandern?“. 62 Ein Bekannter nach dem anderen sei aus der Stadt fortgegangen, fremde Menschen seien hinzugekommen, 63 erinnert sich der Autobiograf. Wie die damaligen Literaten und Publizisten unterstrichen, fragte man sich mit der Zeit gegenseitig nicht mehr: „Bleiben Sie hier?“, sondern „Wann gehen sie fort?“. 64 Cohn schrieb zwar noch von einer „gedrückten Stimmung“. Ihm sei jedoch der damalige Umbruch in der Stadtgeschichte nicht allzu schmerzlich zum Bewusstsein gekommen, 65 denn, wie er bemerkt, man habe sich auch in Berlin gut einleben können und „wäre dem Schicksal gegenüber undankbar, wollte man behaupten, die Jahre in unserer neuen Heimat wären nicht mehr schön gewesen“. 66 Mit großer Wahrscheinlichkeit konnte das Potenzial dieses Erlebnisses nachträglich nicht entfaltet werden, da die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs und die verhängnisvolle Holocaust-Erfahrung in Cohns Familie deutlich belastender waren. Bekannt ist auch, dass viele jüdische Familien
58 59 60 61 62 63 64 65 66
Vgl. ebd., S. 86. Ebd., S. 87. Cohn, S. 164. Ebd. Ebd., S. 180. Vgl. ebd., S. 185. Vgl. auch: N.N., Und doch wandern wir aus, in: Kalonymos 1 (2016), Jg. 19, S. 14. Vgl. Cohn, S. 190. Ebd., S. 187.
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aus ihrer pro-deutschen Einstellung kein Geheimnis machten und deshalb die Provinz Posen in Richtung Berlin verließen.
5. Schlussfolgerungen Es muss festgestellt werden, dass eine Schwierigkeit der Analyse im Auffinden polnischer Texte 67 bestand. Kaum vorhanden, sind sie zudem oft von geringem literarischen Wert. Wenn es um deutsche und deutsch-jüdische Schriftsteller ging, gab es ein üppigeres Ausgangsmaterial. Die dargestellten literarischen Eindrücke über den Großen Krieg mündeten in verschiedene Genres. Kriegserlebnisse wurden jeweils anders umrissen, mit anderen Mitteln und auf anderen Wegen. Dies gelang dem einen Autor manchmal heroisch oder abenteuerlich (Wierzbi´nski) und dem anderen mit einem humanistischen Ansatz, etwa inklusive expressionistischer Ausbrüche (Toller). Johann lieferte eine plastische Schilderung des frühen 20. Jahrhunderts mit einem sehr hohen Informationsgehalt und regionalspezifischen Akzenten. Sein Schaffen war gleichzeitig eine sehr engagierte Form der Abrechnung mit dem untergehenden Kaiserreich. Die sentimentale Familiengeschichte Cohns (ein Geburtstagsgeschenk für den Vater) wurde wahrscheinlich für die Schublade geschrieben; der Text ist erstmals posthum erschienen. Während bei Wierzbi´nski das Geschehen meist kollektiv erfahren wurde, setzte sich in den deutschsprachigen Texten das Kriegserleben des Individuums unmissverständlich durch. Jedoch stimmten die individuellen Erwartungen an den Großen Krieg mit den späteren Erfahrungen nicht überein. Die Ideale der literarischen Figuren scheiterten an seiner Realität. Der Krieg raubte ihre Illusionen, Hoffnungen und einen Teil ihres Lebens. „Glück gehabt“, schreibt Johann; „gestohlene Jahre“, behauptet Toller; „Fluch über den Krieg“, gestehen beide. Die menschliche Bilanz dieses Kriegs mag deswegen der Ausspruch Nie wieder! gewesen sein. Von keiner Seite wurden revanchistische Gedanken erhoben, sondern eher Reue, Enttäuschung und emotionaler Verlust gezeigt. Abschließend sollte es viel weniger um den Vergleich der Eindrücke der Schreibenden, sondern eher um eine Hervorhebung der regionalen Akzente gehen, die die Autoren gesetzt haben. Sie ermöglichen eine Vorstellung davon, welche Erfahrungen der Krieg und seine geopolitischen Konsequenzen in den Städten und Dörfern der Provinz Posen gebracht haben. Er war für diese Menschen nicht abstrakt, sondern zeitlich (Generationsidentität) und 67 Vgl. Stanisław Wachowiak, Czasy, które prze˙zyłem. Wspomnienia z lat 1890–1939, Warszawa 1983; Szymon Rudnicki„ Czasy, które prze˙zyłem. Wspomnienia z lat 1890– 1939, Stanisław Wachowiak, Warszawa 1983, in: Przeglad ˛ Historyczny 2 (1984), S. 377– 378; Ludwik Rzadkowski, ˛ Kartki z walk o niepodległo´sc´ ziem byłego zaboru pruskiego, ´ in: Kurier Sredzki (1933/34).
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räumlich (regionale Perspektive) erfahrbar, denn sie zahlten die Zeche und trugen die Folgen. Schwerwiegende Dilemmata traten in Form von Fragen nach Loyalität und Zugehörigkeit auf. Die daraus resultierende Spannung und Verunsicherung war prägend. Der Abstand zwischen einem Leben und seiner Beschreibung umfasst hier zehn bis siebzig Jahre. Die Autobiografen konnten entscheiden, welche „revidierte und korrigierte Version“ ihrer Vergangenheit, d. h. ihres „persönlichen Wesens“ 68 sie betonen möchten. Auch wenn eine spannungsfreie Synthese der polnischen, deutschen und jüdischen Kriegserfahrungen in der Region unmöglich ist, lässt sich die Vergangenheit im Mit- und Gegeneinander erkennen, wie sich auch die Perspektive der jeweils anderen Seite anerkennen lässt.
68 Georges Gusdorf, Voraussetzungen und Grenzen der Autobiographie, in: Günter Niggl (Hg.), Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung, Darmstadt 1998, S. 139.
Robert Rduch
´ aski (Uniwersytet Sl ˛ w Katowicach)
Deutsche Polenlyrik im Ersten Weltkrieg Polen als Motiv ist in vielen Werken der deutschen Literatur aus dem Ersten Weltkrieg vorhanden. Selten hingegen bildet Polen das Thema einer literarischen Darstellung während des Ersten Weltkrieges, obwohl sich viele Kriegshandlungen an der Ostfront auf einem Gebiet abspielten, das vor den Teilungen zu Polen gehörte. Das schwache Interesse deutscher Autoren an Polen resultierte nicht nur daraus, dass Polen damals generell im deutschen Geistesleben kaum eine Rolle spielte und lediglich an „Text-Rändern“ 1 registriert wurde, sondern auch aus unterschiedlichen Sichtweisen der Deutschen und Polen in der Auseinandersetzung mit dem Ersten Weltkrieg: „Andere Erwartungen, andere Erfahrungen, diametral unterschiedliche Folgen“, 2 so die Einschätzung des polnischen Historikers Robert Traba. Während die Herrscher in Deutschland und Österreich ihre politischen und wirtschaftlichen Positionen auf europäischer und globaler Ebene stärken wollten, betrachteten linke Gruppierungen den Krieg als Mittel zu sozialen Veränderungen und zur Demokratisierung beider Kaiserreiche. Polnische Eliten hingegen erblickten in dem internationalen Konflikt eine Chance für die Wiedererlangung nationaler Souveränität, wobei man auch die Tatsache im Auge behalten muss, dass in den drei Teilungsgebieten keine Einigkeit herrschte und unterschiedliche Konzepte eines neuen polnischen Staates entwickelt wurden. Diese Diskrepanzen fanden ihren Niederschlag auch in literarischen Texten. Im Folgenden beschränke ich mich auf Gedichte, die populärste und wirksamste literarische Form während des Ersten Weltkrieges, 3 in denen Polen von deutschen Autoren thematisiert wurde. In der Forschung zur Polenlite-
1 Zum Begriff „Textränder“ in der Literaturwissenschaft vgl. Jürgen Joachimsthaler, TextRänder. Die kulturelle Vielfalt in Mitteleuropa als Darstellungsproblem deutscher Literatur, Bd. 1: Schreib-Weisen, Heidelberg 2011, S. 62: „Unter Text-Rändern verstehe ich deshalb jene Zeichen, Signifikanten, Worte und Benennungen, die innerhalb des Textes eine Grenze dessen markieren, was im Text textualisiert wird“. An einer anderen Stelle heißt es: „Text-Ränder bilden sich oft über mehrere Texte hinweg um Inseln kollektiven Schweigens, um Tabubereiche einer Gesellschaft und ihres historischen Bewusstseins“. Ebd., S. 67. 2 Robert Traba, Der vergessene Krieg 1914–1918, in: Andreas Lawaty / Hubert Orłowski (Hg.), Deutsche und Polen. Geschichte – Kultur – Politik, München 22006, S. 53. 3 Zur Wirksamkeit der Lyrik im Ersten Weltkrieg vgl. Nicolas Detering, Kriegslyrik im Ersten Weltkrieg – germanistische Perspektiven, in: Ders. u. a. (Hg.), Populäre Kriegslyrik im Ersten Weltkrieg, Münster 2013, S. 9–40, hier besonders S. 10.
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ratur im Ersten Weltkrieg hat man sich bisher auf zwei Gedichtsammlungen konzentriert. Es handelt sich um die Anthologie „Neue Polenlieder“, die 1916 von Stanisław Leonhard herausgegeben wurde, sowie um den Gedichtband „Polnische Lieder“ von Rudolf Leonhard aus dem Jahre 1918. Aus der Analyse dieser bescheidenen Textbasis wurden pauschale Schlüsse gezogen. Tomasz Nawrot behauptete 1979, es habe im Ersten Weltkrieg „zwei Tendenzen in der deutschen Polenlyrik“ 4 gegeben: eine polenfreundliche und eine polenfeindliche. Die erstere repräsentiere der Band von Rudolf Leonhard, die zweitere die Anthologie „Neue Polenlieder“. Ein solcher Befund stellt eine grobe Vereinfachung der durch diese Publikationen vermittelten Inhalte dar. Man kann in diesem Fall sogar von einer Verzerrung des historischen Kontextes sprechen, denn eine genauere Analyse der beiden Gedichtsammlungen ergibt ein mehrdeutiges und differenziertes Bild. Bevor die Sammlung „Neue Polenlieder“ analysiert wird, muss kurz auf die populärsten polnischen Motive in der deutschen Kriegslyrik als einen weiteren Kontext des anvisierten Gegenstandes hingewiesen werden. Die von mir durchgeführte Klassifizierung basiert auf der Sichtung von über 100 Gedichtsammlungen sowie der Kriegssammlung der Österreichischen Nationalbibliothek. Berücksichtigt wurden auch die Bibliografie „Die Deutsche Kriegslyrik 1914–1918“ von Julius Bab, Bibliografien zur expressionistischen Literatur sowie die Zeitschriften „Polen“, „Polnische Blätter“, „Simplicissimus“, „Jugend“, „Der wahre Jacob“ und „Die Aktion“. Am häufigsten taucht die Erwähnung Polens als Kriegsschauplatz auf. „Polen“, „Weichsel“, „Warschau“ und andere geografische Namen, die eindeutig mit Polen verbunden sind, findet man in unzähligen Gedichten. 5 In vielen Gedichten wird Polen als Friedhof deutscher
4 Tomasz Nawrot, Zwei Tendenzen in der deutschen Polenlyrik in der Zeit des ersten Weltkrieges, in: Lubelskie Materiały Neofilologiczne 1979, S. 149–159. Nawrot stellt die folgende unberechtigte These über die deutsche Polenlyrik im Ersten Weltkrieg auf: „In dieser politischen Lyrik waren zwei extrem unterschiedliche Tendenzen vorhanden: Die polenfreundliche Lyrik, die die besten Traditionen der Polenlyrik fortsetzte, und die andere, die ich als ‚Literatur auf Bestellung‘ bezeichnen würde. Es war eine auf einem ziemlich niedrigen Niveau stehende Lyrik, die den militärischen Zwecken Deutschlands und der Donaumonarchie untergeordnet war“. Ebd., S. 150. Diese These ist nicht haltbar, weil sowohl die Textbasis als auch deren Analyse zu dürftig ausfallen. Ein Einzelfall, Rudolf Leonhards „Polnische Gedichte“, steht bei Nawrot für die polenfreundliche Tendenz, die er im Geiste der sozialistischen Propaganda sogar als Auftakt zur polenfreundlichen DDR-Lyrik betrachtet. Vgl. ebd., S. 158. Die Anthologie „Neue Polenlieder“ gilt ihm hingegen „als im gewißen Sinne polenfeindlich“ (ebd., S. 157), als „scheinbar polenfreundliche dichterische Produktion“ (ebd., S. 154), als „Literatur auf Bestellung“ (ebd., S. 157). 5 Vgl. Bruno Frank, Nach Warschaus Fall, in: Simplicissimus 21 (1915/16), Jg. 20, S. 242; Erich Mühsam, Barbaren, in: Ders., Brennende Erde. Verse eines Kämpfers, München 1920, S. 37; Edgar Steiger, Tsingtau, in: Ders., Weltwirbel, Berlin 1916, S. 138.
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Soldaten erwähnt. 6 Die aktive Teilnahme Polens und der Polen am Krieg ist ein selteneres Motiv. Noch seltener sind subjektive Impressionen deutscher Soldaten über ihre Begegnung mit der polnischen Fremde. 7 Äußerst selten nahmen deutsche Autoren das Leiden der polnischen Zivilbevölkerung auf. 8 Im Folgenden wird auf das Motiv polnischer Teilnahme am Krieg näher eingegangen, da dieses Motiv, wiewohl selten, in verschiedenen Gedichten zum Thema wurde und den engeren Kontext für die Anthologie „Neue Polenlieder“ bildet. Sowohl in der deutschen als auch in der österreichischen Armee kämpften einige hunderttausend deutsche und österreichische Bürger polnischer Nationalität. 9 Da in der Öffentlichkeit der beiden Kaiserreiche der Burgfrieden beschworen wurde, wollte man soziale und nationale Konflikte für die Zeit des Krieges beilegen und den gesellschaftlichen Status kleinerer Völker, die zum deutschen und österreichischen Staat gehörten, aufwerten, indem man die unangefochtene Einheit der Ethnien im kaiserlichen Dienst betonte. In diesem Zusammenhang wurde Polen vor allem zu Beginn des Krieges erwähnt. In Karl Schomlauers Gedicht „Prinz Eugen“ wird die Einheit der einig kämpfenden Nationen hervorgehoben: Ob nun Polen, ob Magyaren, Ob nun deutsch die Väter waren, Alle eint die ernste Stund’, gilt es doch mit unsren Waffen Ganz Europa Freiheit schaffen,
6 Vgl. Karl Dankwart Zwerger, Ich hab’ ein Hüglein im Polenland (Musik: Franz Lehár), Wien 1915; Georg Kutzke, Vom polnischen Tod, Leipzig 1916; Walter Flex, Sturm über Gräbern in Polen, Herbstabend in Polen, Chor der deutschen Toten in Polen, in: Ders., Gesammelte Werke, München 1925, Bd. 1, S. 28–29, 33–34, 38. 7 Vgl. Arthur Silbergleit, Die Balalaika, Berlin 1920, und Nina Nowara-Matusik, Schöne Polin in lyrischer Verkleidung. Zu zwei Gedichten von Arthur Silbergleit, in: Wortfolge. Szyk Słów 1 (2017), S. 25–38. Silbergleits polnische Impressionen sind durch seine Russophilie geprägt. Von den 27 Gedichten wird das Schicksal Polens im Ersten Weltkrieg nur in den Gedichten „Die Braut“ und „Schwarzer Schwan“ behandelt. Mit Hilfe erotischer Metaphorik wird dort die Befreiung der polnischen Sklavin von russischen Ketten als Vermählung mit dem deutschen Ritter gefeiert, wobei das lyrische Subjekt Russland über den Verlust tröstet. Vgl. Silbergleit, S. 5–6. Polnische Legionen werden nur als ein Detail im exotischen Stadtbild in dem Gedicht „Warschau“ erwähnt. Vgl. ebd., S. 12. 8 Vgl. Beda, Edle Seelen, in: Sammlung von Lyrik der k.k. Hofbibliothek Verschiedene 1914, http://digital.onb.ac.at/rep/access/open/10028975 [letzter Zugriff: 08. 02. 2020]. Das Gedicht wird im Archiv als Zeitungsausschnitt aus der Kriegszeit aufbewahrt und behandelt das Schicksal der polnischen Juden. 9 Vgl. Jerzy Holzer, Erster Weltkrieg. Großer Krieg – kleinerer Krieg, in: Hans Henning Hahn / Robert Traba (Hg.), Deutsch-Polnische Erinnerungsorte, Bd. I: Geteilt / Gemeinsam, Paderborn 2015, S. 318.
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Heil und Sieg dem Völkerbund! 10
Eine ähnliche Botschaft wird im „Zwei Kaiser-Marsch“ von Leo Stein und Bela Jenbach formuliert. Die Einheit der Kämpfenden erscheint dem lyrischen Subjekt als eine Selbstverständlichkeit: Ein jeder Stamm, ein jeder Stand ficht freudig für sein Vaterland! Es drängen sich in hellen Scharen, Die Polen, Tschechen und Magyaren, Ein jeder ist des Kaisers Sohn, Es gibt nur eine Nation! 11
Eine aufklärerisch ausgebaute Mahnung enthält das Langgedicht „Nun wollen wir sie dreschen!“ von Udo Beckert. Das lyrische Subjekt appelliert an die Loyalität der verschiedenen Ethnien des Vielvölkerstaates in dem Bewusstsein, dass sie nationale Souveränität anstreben. Das Versprechen des Wohlstandes unter kaiserlicher Obhut soll nationale Ambitionen aufwiegen: So manches Land ist todt, der Krieg gibt ihm das Leben, Es kann sich nur durch ihn aus seinem Sumpf erheben. Nun aber, Patrioten, zieht auch die Konsequenz, Lasst allen Hader fallen, es gilt die Existenz! An’s Vaterland, das teure, an Oestreich schliesst Euch an. Was Ihr mit Blut besiegelt, Euch Niemand rauben kann! Madjaren, Polen, Böhmen und Ruthenen, Kroaten, Deutsche, Italier und Rumänen, Walachen, Slowaken, Morlaken, Slovenen, Hier ein Rezept für Euer Sehnen: Nur an dem richtigen Wollen, an Energie gebricht’s: Mit Oestreich seid Ihr Alles – und ohne Oestreich nichts! Ihr sollt in Zukunft kopflos nicht auseinanderstreben, In Oestreich könnt Ihr Alle in Ruh’ und Frieden leben. Der Mutter AUSTRIA müsst Ihr gehorsam sein: Glück und Zufriedenheit kehr’ in die Herzen ein: Sie schützt Euch, liebet Euch und gibt Euch Brot und Geld: Auch wer bescheiden ist, kann trotzdem sein ein Held! 12 10 Karl Schomlauer, Prinz Eugen, in: Sammlung von Lyrik der k.k. Hofbibliothek, http://digital.onb.ac.at/rep/access/open/10012E41. Das Gedicht erschien am 26. September 1914 in der „Temesvárer Zeitung“. Die Bezeichnung „Völkerbund“ steht hier für Mittelmächte. 11 Leo Stein / Bela Jenbach, Zwei Kaiser-Marsch, in: Sammlung von Lyrik der k.k. Hofbibliothek, http://digital . onb . ac . at / rep / access / open / 10012A5E [letzter Zugriff: 08. 02. 2020]. 12 Udo Beckert, Nun wollen wir sie aber dreschen!, in: Sammlung von Lyrik der k.k. Hofbibliothek, http://digital.onb.ac.at/rep/access/open/10021B57 [letzter Zugriff: 08. 02. 2020].
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Während Polen in Deutschland keine gesonderten Truppenverbände bildeten, 13 entstanden in Österreich zu Beginn des Krieges polnische Legionen. 14 Militärisch unterstanden sie dem österreichischen Oberkommando, politisch dem Obersten National-Komitee (Naczelny Komitet Narodowy), das alle polnischen Parteien in Österreich vereinigte. Da die radikalsten polnischen Gruppierungen die völlige Souveränität Polens anstrebten, sollte das Komitee mäßigend wirken und die Treue der Legionen dem Kaiser gegenüber garantieren. Die polnischen Loyalisten sahen die Zukunft Polens als Teilstaat der österreichischen Monarchie. Das Oberste National-Komitee gab in Wien die Zeitschrift „Polen. Wochenschrift für polnische Interessen“ heraus. In der vierten Nummer der Zeitschrift vom 22. Januar 1915 erschien ein Aufruf zur Sammlung von Polenliedern und anderen Texten, „welche entweder ausschließlich den Krieg und die gegenwärtige Polenfrage behandeln oder sonst auf Polen irgendwelchen Bezug haben“. 15 Im Herbst 1916, in zeitlicher Nähe zur Proklamation eines neuen Königreiches Polen durch die Mittelmächte, wurde von Stanisław Leonhard im Verlag des Obersten National-Komitees die Anthologie „Neue Polenlieder 1914–1915“ veröffentlicht. Der Herausgeber hatte sich seit längerer Zeit mit deutschen Polenliedern aus dem 19. Jahrhundert beschäftigt und versuchte bereits durch den Titel, zeitgenössische lyrische Zeugnisse der deutschen Sympathie für Polen in den Kontext der deutschen Polenbegeisterung nach dem polnischen Novemberaufstand gegen den Zaren in den 1830er Jahren einzubinden. Im Vorwort veranschaulichte er die Opferbereitschaft der im Ersten Weltkrieg kämpfenden Polen mit dem Gedicht „An meine Söhne“ ˙ von Jerzy Zuławski, einem bekannten Dichter und Offizier der polnischen ˙ Legionen. Die von Zuławski angefertigte deutsche Version des Gedichtes war bereits in der ersten Nummer der Zeitschrift „Polen“ publiziert worden. 16 Die Botschaft des deutschsprachigen Gedichtes aus polnischer Feder war für das Periodikum programmatisch: Das um Polens Freiheit kämpfende Subjekt beruft sich auf die lange Tradition dieses Kampfes und überträgt sie auf weitere Generationen. Da im Gedicht die Feinde nicht beim Namen genannt werden, war Leonhard um den Nachweis bemüht, dass Polen, Deutsche und Österreicher in Russland einen gemeinsamen Feind haben. Die Betonung des Bündnisses der Polen mit Deutschland und Österreich wird von Leonhard auf die Solidarität der Deutschen mit den polnischen Aufständischen der Jahre 1830/31 bezogen, doch der Versuch, die deutsche Unterstützung des Novem-
13 Zu Polen in der deutschen Armee während des Ersten Weltkrieges vgl. Ryszard Kaczmarek, Polacy w armii kajzera. Na frontach pierwszej wojny ´swiatowej, Kraków 2014. 14 Zu den polnischen Legionen vgl. Andrzej Chwalba, Legiony Polskie 1914–1918, Kraków 2018. 15 N.N., Polenlieder 1914, in: Polen. Wochenschrift für polnische Interessen 4 (1915), S. 104. ˙ 16 Vgl. Jerzy Zuławski, An meine Söhne, in: Polen. Wochenschrift für polnische Interessen 1 (1915), S. 18.
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beraufstandes in Parallele mit den deutschen Reaktionen auf die Beteiligung polnischer Legionen am Ersten Weltkrieg zu setzen, wirkt gekünstelt. Leonhard beteuerte: „Zwar hat sich im Laufe der Zeit so manches geändert, aber jene Sympathien sind dennoch nicht ganz erloschen; auch in der Gegenwart haben die Heldentaten der jüngsten Polenkämpfer die Achtung und Bewunderung deutscher Dichter erregt, wie das vorliegende Bändchen zur Genüge beweist“. 17 Der von Leonhard poetisch formulierte Zweck der Anthologie bestand darin, den Kampf der Polen um ihre „gerechte Sache“ 18 unter deutschen Lesern zu propagieren. Der Geist der Polenlieder aus dem 19. Jahrhundert sollte dabei die Rolle eines Vermittlers zwischen Polen und Deutschen im Ersten Weltkrieg spielen. 19 Dass die Existenz und der heldenhafte Einsatz polnischer Legionäre in Deutschland wenig bekannt waren, war auf die Richtlinien der deutschen Zensur zurückzuführen, die Informationen über die polnischen Legionen streng reglementierte. 20 Deutschland und Österreich waren zwar Verbündete, aber in der polnischen Frage entwickelten sie konkurrierende Lösungskonzepte. 21 Die man-
17 Stanisław Leonhard, Vorwort, in: Ders. (Hg.), Neue Polenlieder 1914–1915. Erstes Bändchen, Krakau 1916, S. 13. Eine ähnliche Meinung vertrat ein polnischer Rezensent der Anthologie, vgl. ag., Neue Polenlieder 1914–1915. Gesammelt von St. Leonhard. Erstes Bändchen, Krakau 1916, in: Polen. Wochenschrift für polnische Interessen 79 (1916), S. 30. 18 Leonhard, Vorwort, in: Neue Polenlieder 1914–1915, S. 15. 19 Vgl. Witold Nawrocki, Wolno´sc´ Polski w poezji niemieckiej, in: Stanisław Dzikowski (Hg.), Nowina. Ksia˙ ˛zka zbiorowa, Warszawa 1914–1915, S. 165–169. Der Autor skizziert die Geschichte der deutschen Polenlieder aus dem 19. Jahrhundert, verweist auf die Diskrepanz zwischen der Polenbegeisterung deutscher Dichter und der preußischen Politik und betont das Ausbleiben deutscher Sympathie für Polen in der Gegenwart. Deutsche Polenlieder aus dem Ersten Weltkrieg bleiben unerwähnt. Die ganze Publikation, in der der Beitrag von Nawrocki erschien, repräsentierte die Perspektive polnischer Literaten im russischen Teilungsgebiet und wurde von der russischen Zensur zugelassen. Vgl. auch Eugen Meller, Polens Schicksal im deutschen Liede, in: Nord und Süd. Eine deutsche Monatsschrift 160 (1917), Jg. 41, S. 334–336. Der Autor skizziert die Geschichte der Polenlieder im 18. und 19. Jahrhundert; abschließend resümiert er seine Ausführungen propagandistisch im Sinne der deutschen Polen-Politik: „Heute, achtzig Jahre später, dürfen wir mit frohem und hoffnungsreichem Herzen rufen: ‚Lebe, Polonia, und bleibe treu deinen Beschützern!. . . ‘“. Ebd., S. 336. 20 Vgl. Hipolit Konstanty O˙zarowski (Hg.),Tajne dokumenty cenzury niemieckiej 1914– 1918, Warszawa 1919. In einer Verordnung des Gouverneurs von Beseler vom 2. Februar 1916 wurde zum Beispiel genauer bestimmt, wie man im besetzten Polen über polnische Legionen informieren darf. Vgl. ebd., S. 22. Über Piłsudskis Ausscheiden aus den Legionen sowie über internierte Legionäre durften keine Nachrichten verbreitet werden. Vgl. ebd., S. 32, 72. 21 Zu dieser Konkurrenz vgl. N.N., „Polnische Blätter“, in: Polen. Wochenschrift für polnische Interessen 42 (1915), S. 60–61. Der anonyme Autor verweist in der Präsentation der neuen Zeitschrift auf politische Differenzen in der Polen-Politik: „Ein ursprünglich für ‚Polen‘ bestimmt gewesener Aufsatz des Präsidenten des N. K. N.: ‚Unsere Aufgaben‘, der
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gelnde Berichterstattung über polnische Legionen in Deutschland monierte z. B. Stanisław Przybyszewski. 22 Er optierte für eine Annäherung an Deutschland. Einen ähnlichen Zweck verfolgte auch Leonhard mit seiner Anthologie. Mit der antirussischen Ausrichtung der Anthologie sollten deutsche und österreichische Zweifel an der Treue der polnischen Legionen zerstreut und die Notwendigkeit einer Lösung der polnischen Frage hervorgehoben werden. Viele Details der Veröffentlichung zeugen davon, dass sie keinesfalls eine neue Welle der Polenbegeisterung in Deutschland registrierte, sondern ein propagandistisches Produkt des Obersten National-Komitees in Krakau war. 23 Trotz der im Januar 1915 verkündeten Sammelaktion ist es Stanisław Leonhard lediglich gelungen, 17 Gedichte von wenig bekannten Autoren zusammenzustellen. Eines der Gedichte war bereits in der zweiten Nummer der Zeitschrift „Polen“ publiziert worden. 24 Die in der Anthologie angekündigte Veröffentlichung eines zweiten Bändchens mit neuen Polenliedern wurde nicht mehr verwirklicht. Im Vorwort versicherte der Herausgeber: „In dieser Sammlung sind Gedichte vereinigt worden, die im ersten Jahre des grossen Krieges entstanden und in deutschen Zeitungen und Zeitschriften, so weit sie uns zugänglich waren, erschienen sind“. 25 Sechs der siebzehn Gedichte stammen von
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aber von der Wiener Zensur in seinem ganzen Umfange gestrichen wurde, ist in Berlin unverkürzt erschienen. Ueberhaupt ist die erste Nummer der ‚Polnischen Blätter‘ fast ganz einer Frage gewidmet, die in unserer Wiener Wochenschrift kaum gestreift werden darf. Es ist die deutsch-polnische Verständigung“. Ebd. Vgl. Stanisław Przybyszewski, Polen und der heilige Krieg, München 1916, S. 81–82: „Es ist über alle Maßen erstaunlich, daß die Deutschen, die doch über alle Vorgänge in diesem Krieg aufs genauste orientiert sind, eine Tatsache nicht genügend zu würdigen scheinen, oder sie in ihrer ganzen Bedeutung nicht erfassen können, daß die Polen unabhängig von der Aushebung bei der allgemeinen Mobilisation (fünfhunderttausend militärpflichtiger Polen an Deutschland, mindestens ebensoviel an Österreich) noch dreißigtausend Freiwillige auf eigene Kosten mit einem unerhörten Aufwand von Opferwilligkeit gestellt haben in Form der polnischen Legionen: Gymnasiasten vom sechzehnten Lebensjahr an, fast die ganze akademische Jugend, Gelehrte und Künstler, überhaupt alles, was Polen an geistiger Aristokratie, an höchststehender Intelligenz, alles, was es an tatkräftigem, aufopferungsfreudigstem, zielbewußtem ‚Ver sacrum‘ besaß, in den heiligen Krieg gegen Rußland im engen Verein mit der deutschen Nation hinausgeschickt hat“. Es ist kein neues Phänomen in der Geschichte der polnisch-deutschen Beziehungen, dass die Verbreitung deutscher Polenlieder von Polen gefördert wurde. Bereits im 19. Jahrhundert, nach dem Novemberaufstand in Polen, förderte der polnische Dichter Wincenty Pol die Veröffentlichung der Anthologie „Auswahl von Polenliedern“ (1833), die sowohl deutsche Gedichte als auch polnische Gedichte in deutscher Übersetzung enthielt. Vgl. Piotr Roguski, Dzielny kosynier i pi˛ekna Polka. Powstanie listopadowe w poezji niemieckiej, Katowice 2004, S. 172–173. Vgl. Flora Torn, Neujahrsgruß ins Feld, in: Polen. Wochenschrift für polnische Interessen 2 (1915), S. 56. Die Redaktion informierte unter der Überschrift „Neue Polenlieder“, dass das Gedicht früher in der „Wiener Allgemeinen Zeitung“ erschienen war. Leonhard, Vorwort, in: Neue Polenlieder 1914–1915, S. 13.
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Siegmund Oswald Fangor. Leonhard gibt als Quellen die „Moderne Illustrierte Zeitung“ und die Zeitschrift „Pschütt! Caricaturen“ aus den Jahren 1914/15 an. Die Gedichte wurden jedoch schon 1908 in Rzeszów veröffentlicht, aber diese Information ist in der Anthologie nicht vorhanden. Die Gedichte Fangors stehen also in keinem direkten Zusammenhang mit dem Ersten Weltkrieg, nur in einem Gedicht, das für die Veröffentlichung während des Krieges modifiziert wurde, taucht eine Anspielung auf die polnischen Legionen und ein Bündnis mit Deutschland und Österreich auf. Es handelt sich um das Gedicht „Auferstehn!“, das ursprünglich „Wawel“ hieß und aus sechs vierzeiligen Strophen bestand. Die Aussage des Gedichtes von 1908 war durch einen zutiefst resignativen Ton gekennzeichnet. Die personifizierte Wawel-Burg, Symbol des Polentums, beklagte den Untergang der polnischen Staatsidee und vermisste Aktivitäten zur Wiederherstellung der nationalen Souveränität. In diesem Gedicht wurde auf fremde Machthaber 26 als Quelle des nationalen Unglücks hingewiesen. Darunter waren alle drei Teilungsmächte zu verstehen, auch Österreich, zu dem Krakau damals gehörte. Das Nachdenken über die polnische Unabhängigkeit aus der Wawel-Perspektive enthielt auch eine Anspielung auf etwaige Gebietsverluste der österreichischen Monarchie zugunsten eines neuen polnischen Staates. Diesen Gedanken hätte die Zensur während des Krieges nicht zugelassen. Wohl deshalb wurden die antideutschen und antiösterreichischen Akzente in der Version von 1915, die aus elf Strophen besteht, beseitigt. Der Raum der lyrischen Situation wird bedeutend modifiziert. Während des Ersten Weltkrieges ist mit der alten Königsburg der Warschauer Sitz der polnischen Könige gemeint und Russland wird zum einzigen polnischen Feind. Der resignative Ton wird durch Jubel gebrochen. Polnische Gebete werden erhört und Warschau wird mit deutscher und österreichischer Hilfe befreit. Die fünf weiteren Gedichte Fangors wurden zwar in der Version von 1908 abgedruckt, aber ihre allgemeinen Inhalte, die Ermutigung zum Kampf um die Unabhängigkeit sowie die Erinnerung an die polnische Kampftradition erwecken auch ohne Hinweise auf die polnisch-österreichische und polnischdeutsche Zusammenarbeit den Eindruck unmittelbarer Aktualität, zumal sie Anspielungen darauf enthalten, dass einzig Russland als Feind der Polen zu begreifen sei. In den übrigen elf Gedichten von Autorinnen und Autoren, die überwiegend aus Österreich stammen, werden die Polen zum Kampf gegen die Russen aufgerufen, es wird an einzelne Episoden des polnischen Freiheitskampfes erinnert, der Einsatz der polnischen Legionen wird thematisiert, aber die Grenzen der imaginierten Freiheit werden von der Zensur kontrolliert. Im Gedicht „Noch ist Polen nicht verloren!“ von Maximilian Alexius Finkelstein wurde die letzte Strophe von zwölf Versen Länge beseitigt. Wahrscheinlich erschien dem
26 Siegmund Oswald Fangor, Wawel, in: Ders., Polenlieder, Rzeszów 1908, S. 13: „Wird sie niemand von fremden Machthabern erretten?“.
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Zensor die Vorstellung kämpfender Polen, die von Gott die Verwirklichung ihrer eigenen Freiheitsvision erwarten, zu gefährlich. 27 Im Vorwort suggerierte Stanisław Leonhard, dass die Gedichte eine spontane Reaktion deutscher Dichter auf „Heldentaten der jüngsten Polenkämpfer“ darstellen. Der Leser konnte jedoch den berechtigten Eindruck gewinnen, dass die Nationalität mancher der präsentierten Autoren nicht eindeutig als deutsch zu bezeichnen wäre. Während des Ersten Weltkrieges publizierten auf Deutsch solche Autorinnen und Autoren wie Tadeusz Rittner, Eleonore Kalkowski 28 oder Starko Łodzia Lachowicz, 29 die zwischen Polen- und Deutschtum standen. 30 Zu dieser Gruppe könnten zwei der von Leonhard in der Anthologie präsentierten Autoren gezählt werden: der bereits erwähnte Siegmund Oswald Fangor, der in Rzeszów geboren worden war, sowie Grete von Urbanitzky-Woloszczuk. Bei anderen Autoren der Anthologie kann man wiederum von einer Nähe zu österreichischen Regierungskreisen sprechen, die die Spontaneität ihrer Polenbegeisterung fragwürdig erscheinen lässt. Gemeint sind Richard von Kralik, 31 Richard von Schaukal und Richard Seyß-Inquart. Nicht nur das Oberste National-Komitee in Krakau benutzte die Rhetorik der deutschen Polenlieder aus dem 19. Jahrhundert als Mittel politischer Kommunikation. Bereits 1915 erschien in Lemberg eine Broschüre mit 23 alten Polenliedern und der Zueignung: „Den tapferen Befreiern Lembergs zur Erinnerung an den 22. Juni 1915“. 32 Auch auf der deutschen Seite wurde zu aktuellen Zwecken an die deutsche Polenbegeisterung nach dem November-
27 Das vollständige Gedicht ist auf einem Flugblatt erhalten geblieben. Vgl. Maximilian Alexius Finkelstein (M. A. Stein), Kriegslieder, in: Sammlung von Lyrik der k.k. Hofbibliothek, http://digital.onb.ac.at/rep/access/open/10028F85 [letzter Zugriff: 08. 02. 2020]. 28 Vgl. Joanna Ławnikowska-Koper, W obronie sprawiedliwo´sci. Eleonora Kalkowska (1883–1937) – mi˛edzy Warszawa˛ a Berlinem, in: Roczniki Humanistyczne 5 (2015), Jg. LXIII, S. 143–158. ˙ 29 Starko Łodzia Lachowicz war Mitarbeiter der Zeitschrift „Pozdrowienia Zołnierskie. Pismo po´swi˛econe rozrywce z˙ołnierzy“, die in den Jahren 1915/16 erschien. Er übersetzte Rilkes Lyrik ins Polnische. Vgl. Starko Łodzia Lachowicz, Die Weichselwacht, in: Sammlung von Lyrik der k.k. Hofbibliothek, http://digital.onb.ac.at/rep/access/open/ 10012E41 [letzter Zugriff: 08. 02. 2020]. Das Gedicht von Lachowicz ist ein Lob auf die polnischen Legionen, die in einem Bündnis mit Deutschen und Österreichern gegen Russland kämpfen. 30 Zu Intellektuellen, die zwischen Deutsch- und Polentum standen, vgl. Karol Sauerland, Deutsch-polnische Symbiosen? Samuel Gottlieb Linde, Tadeusz Zieli´nski, Elida Maria Szarota, Ludwig Zimmerer, in: Matthias Weber (Hg.), Deutschlands Osten – Polens Westen. Vergleichende Studien zur geschichtlichen Landeskunde, Frankfurt a. M. 2001, S. 195–206. 31 In der Zeitschrift „Polen“ wurden seine Reden positiv besprochen. Vgl. X, Die Entscheidung im Weltkrieg. Drei Reden von Richard v. Kralik, in: Polen. Wochenschrift für polnische Interessen 16 (1915), S. 61–62. 32 Polenlieder deutscher Dichter, Lemberg 1915.
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aufstand angeknüpft. Hans von Beseler veranstaltete in dem von den Deutschen besetzten Warschau eine Ausstellung über den Novemberaufstand sowie eine Ko´sciuszko-Ausstellung und wollte damit der antideutschen Stimmung in der Stadt entgegenwirken. 33 In diesen Kontext passt die Anthologie „Deutsche Polenlieder“, die 1917 von dem deutschen Historiker Hans Delbrück herausgegeben wurde. 34 Sie enthielt die Widmung: „Zugeeignet dem Verkünder des neuerstandenen Königreichs Polen, dem General-Gouverneur General der Infanterie von Beseler“. Das Buch enthält Gedichte aus dem 19. Jahrhundert, die in der Einleitung propagandistisch in den Dienst der Tagespolitik gestellt wurden: Eine wahre Gesinnungs-Verbrüderung zwischen Deutschen und Polen vollzog sich während des polnischen Freiheitskampfes 1830/31 und hat bis in die 60er Jahre vorgehalten. Man hat dieser Polenschwärmerei vorgeworfen, daß sie eine schwere Verirrung darstelle, da das politische Interesse Deutschlands damals umgekehrt die Anlehnung an Rußland verlangt habe. Das ist vom Standpunkt des Realpolitikers unzweifelhaft richtig: man kann nicht Politik nach den Eingebungen des poetischen Enthusiasmus machen. Trotzdem gereicht jene edle Teilnahme an dem unglücklichen Schicksal der Polen dem deutschen Volke keineswegs zur Unehre, und heute, wo wir glücklich sind, unsere Nationalpolitik in Einklang mit der Befreiung einer Nachbar-Nation von schwerem Joche führen zu können, dürfen wir die alten Polenlieder wiedererstehen lassen als Zeugnis, daß nicht nur ein äußeres Bündnis, sondern auch eine innere, weit zurückreichende Gemeinschaft die beiden Völker miteinander verbindet. 35
Auch die Erinnerung an die alten deutschen Polenlieder durch Fritz Heeger enthielt neben der nüchternen Konstatierung, dass „die Polenlieder bis auf spärliche Reste in Vergessenheit geraten“ 36 seien, einen Hinweis auf das Tagesaktuelle: In allerjüngster Zeit jedoch ist durch die Beteiligung der polnischen Legionen am Weltkrieg an der Seite der Verbündeten und durch die Befreiung Polens von Rußlands Herrschaft eine Brücke zwischen beiden Völkern geschlagen. Und hof-
33 Vgl. Andrzej Szczepaniak, Zur Rolle der Polenlieder im Unabhängigkeitskampf polnischer Soldaten während des Ersten Weltkrieges, in: Ders. (Hg.), Vergessene Polenlieder. Deutsche Lieder und Gedichte über polnische Soldaten aus der Zeit des Ersten Weltkrieges. Neue Polenlieder 1914–1915, Warszawa 2011, S. 68. Der Titel des Buches verschleiert die Tatsache, dass es sich um eine neue, zweisprachige Edition der Anthologie von Stanisław Leonhard handelt. Auch der einführende Artikel von Szczepaniak wurde in zwei Sprachen publiziert. Vgl. auch N.N., Ko´sciuszko-Ausstellung in Warschau, in: Polen 68 (1916), S. 79. 34 Vgl. Szczepaniak, S. 86–87. 35 Hans Delbrück, Einleitung, in: Ders. (Hg.), Deutsche Polenlieder, Berlin 1917, S. 12–13. 36 Fritz Heeger, Polenlieder aus der Rheinpfalz, in: Blätter zur bayrischen Volkskunde. Jahrbuch des Vereins für bayrische Volkskunde und Mundartforschung 5 (1917), S. 16.
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fentlich folgen die Polen der Mahnung des alten Liedes, das ich vorhin mitgeteilt habe: Fliege, weißer Adler, Froh zu Deutschlands Bruderaar! 37
Alle am deutsch-polnischen Diskurs während des Ersten Weltkrieges beteiligten Parteien waren sich dessen bewusst, dass deutsche Lyrik über den polnischen Freiheitskampf aus dem 19. Jahrhundert kein zeitgemäßes Mittel zur Verständigung darstellte. Die von Stanisław Leonhard eingeführte Etikettierung „Neue Polenlieder“, mit der er deutsche Gedichte über die polnische Beteiligung am Ersten Weltkrieg und eine damit zusammenhängende Lösung der polnischen Frage meinte, war nur der Platzhalter für eine Polenbegeisterung, die es damals nicht gab. Allein die Anzahl der deutschen Gedichte, die in den Jahren 1914–1918 die polnische Frage thematisierten, ist im Vergleich zur lyrischen Produktion der dreißiger Jahre des 19. Jahrhunderts ernüchternd gering. 38 Die Entstehung der meisten Polengedichte war mit konkreten Kriegsepisoden verbunden. Den ersten Impuls gab der Ausbruch des Krieges und die Entstehung der polnischen Legionen, aber außer den von Stanisław Leonhard gesammelten wurden nur wenige Gedichte publiziert. 1914 erschien in der österreichischen Presse das Gedicht „Polen“ von F.C. Kuczynska. Im Untertitel wird die Zeitangabe genannt: „Am Tage des Abmarsches der 2. Kompagnie der Polenlegion aus Wien“. Polen wird von Österreich als Niobe angesprochen, die ihre Söhne im Kampf gegen „die russ’sche Bärenklaue“ 39 bluten sieht. Die Stimme der österreichischen Monarchie ermutigt die Polen zu diesem Kampf und verspricht den „Polenschützen“ ihre Unterstützung als Dank für Sobieskis Einsatz gegen die Türken vor Wien. 1914 entstand das Poem „Zwei Polen“ von Carl Schmidt vom Meere, aber es wurde erst 1917 veröffentlicht. 40 Der Text besteht aus 876 Versen und ist als ein Gespräch zwischen zwei polnischen Exilanten in Nordamerika konstruiert. Stanislaw und Mieczislaw sind siebzig Jahre alt, haben Polen nach 37 Ebd. 38 Stanisław Leonhard sammelte in seiner zweibändigen Anthologie 425 deutsche Polengedichte aus dem 19. Jahrhundert. Vgl. Stanisław Leonhard (Hg.), Polenlieder deutscher Dichter, Bd. 1: Der Novemberaufstand in den Polenliedern deutscher Dichter, Krakau 1911; Ders. (Hg.), Polenlieder deutscher Dichter, Krakau 1917, Bd. 2. Das Textkorpus der Polengedichte aus dem Ersten Weltkrieg, zu dem Stanisław Leonhards Anthologie „Neue Polenlieder 1914–1915“, Rudolf Leonhards „Polnische Gedichte“ sowie einige in Zeitungen und Zeitschriften publizierte Gedichte gehören, besteht aus rund sechzig Texten. 39 P. King (F.C. Kuczynska), Polen (Am Tage des Abmarsches der 2. Kompagnie der Polenlegion aus Wien), in: Sammlung von Lyrik der k.k. Hofbibliothek, http://digital.onb. ac.at/rep/access/open/1000431B [letzter Zugriff: 08. 02. 2020]. Die Besprechung eines Aufsatzes von Kuczynska in der Zeitschrift „Polen“ zeugt von einer Nähe der Autorin zu polnischen Kreisen in Wien. Vgl. N.N., Polen, von F.C. v. Kuczynska, in: Polen. Wochenschrift für polnische Interessen 40 (1915), S. 25–27. 40 Vgl. Carl Schmidt vom Meere, Zwei Polen, Mittenwald 1917.
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dem Januaraufstand 1863/64 verlassen, leben allein in einer gebirgigen Wildnis und hoffen, dass sie noch vor ihrem Tod die freudige Nachricht über Polens Freiheit erreicht. In einer Vision sieht Mieczislaw Polen in Krakau, die sich zum Kampf gegen die Russen vorbereiten. Er hört ein Lied, in dem an Sobieski, Poniatowski und Ko´sciuszko erinnert wird. Stanislaw hält Mieczislaws Vision für ein Wahngebilde. Erst das Treffen mit einem deutschen Wanderer, von dem sie erfahren, dass in Europa ein Krieg ausgebrochen ist, in dem die Deutschen zusammen mit den Polen gegen die Russen kämpfen, lässt ihn an die Worte des Freundes glauben. Einige weitere Gedichte entstanden 1916 im Zusammenhang mit der Proklamation eines von den Mittelmächten konzipierten Königreichs Polen. In den „Polnischen Blättern“ wurde am 20. September 1916 das Gedicht „Polens Befreiung“ von H. Hansen abgedruckt. 41 In ihm verkündet das lyrische Subjekt Polens Freiheit und ruft die Polen dazu auf, zusammen mit den Österreichern und Deutschen gegen „das Moskowitertum“ 42 zu kämpfen. Eine ähnliche Funktion hat das Gedicht „Kosciuszkos Erwachen“ von Edgar Steiger, das am 21. November 1916 im „Simplicissimus“ erschien. In ihm erwacht der polnische Nationalheld nach 100 Jahren und animiert seine Landsleute zum neuen Kampf. Am 24. November 1916 wurden in der Zeitschrift „Der wahre Jacob“ gleich zwei Gedichte publiziert, in denen die Entstehung eines polnischen Staates thematisiert wurde. Ernst Klaars „Freies Polen“ präsentiert das Ereignis als Befreiung eines Sklaven aus dem Kerker. 43 In dem anonymen Gedicht „Alles wundert sich“ wird die Proklamation des Königreichs Polen als ein außenpolitischer Schachzug Deutschlands gedeutet. Polens Wiederentstehung soll die Entente beunruhigen, weil sie Freiheitsbestrebungen auf französischen und britischen Gebieten verstärkt. 44 Einen ähnlichen Kommentar in lyrischer Form präsentierte Wilhelm Sporer im Gedicht „So von Herzen, so wie heute, hab ich lange nicht gelacht!“ in der Zeitschrift „Jugend“. Auch hier wird die deutsche Befreiung Polens als ein Streich gegen die Entente gefeiert. 45 Eine Woche später veröffentlichte „Der wahre Jacob“ das Gedicht „Polen“ von A. Titus. Unter diesem Pseudonym publizierte der sozialdemokratische Schriftsteller und Journalist Wilhelm Blos. In seinem Gedicht wird die Tradition der deutschen Polenlieder aus dem 19. Jahrhundert mit der Lage im Ersten Weltkrieg konfrontiert. Das lyrische Subjekt betont die Überlegenheit der „mächtigen Tat“, 46 gemeint sind „Deutschlands siegreiche Waffen“, über
41 Die Redaktion übernahm den Text vom Berliner „Reichsboten“. 42 H. Hansen, Polens Befreiung, in: Polnische Blätter. Zeitschrift für Politik, Kultur und soziales Leben 36 (1916), Jg. 4, S. 293. 43 Vgl. Ernst Klaar, Freies Polen, in: Der wahre Jacob 792 (1916), S. 9138. 44 Vgl. N.N., Alles wundert sich . . . , in: ebd., S. 9139. 45 Vgl. Wilhelm Sporer, So von Herzen, so wie heute, hab ich lange nicht gelacht!, in: Jugend 47 (1916), S. 994. 46 A. Titus, Polen, in: Der wahre Jacob 793 (1916), S. 9156.
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„der träumenden Dichter Begehren“ und formuliert eine realpolitische Lehre für den mit deutscher Hilfe entstehenden polnischen Staat. Um des Erfolgs willen sollen die Polen auf historische Abrechnungen verzichten und ihre Chance wahrnehmen, das heißt, die deutsche Lösung der polnischen Frage akzeptieren. In der pragmatischen Empfehlung werden mit „Brot und Freiheit“ auch soziale Akzente gesetzt: Das alte Polen geht unter, Ein neues soll nunmehr entstehen; Da mögt ihr Polen nur vorwärts Und nimmermehr rückwärts sehn. Und sorget, daß eure Zukunft, Wenn ihr die Zeit habt erkannt, Auch bringen mag Brot und Freiheit Im neuen Polenland.
Die lyrischen Kommentare zur Proklamation des Königreichs Polen verebbten schnell. Erst gegen Ende des Krieges, als die Frage nach den Grenzen des polnischen Staates unter veränderten politischen Umständen aufgeworfen wurde, formulierte ein anonymer Autor der Zeitschrift „Jugend“ in dem Gedicht „Noch ist Polen nicht – geboren!“ eine vorwurfsvolle Lehre: Und Polen ist wahrlich noch nicht geboren – Wir wünschen ihm ehrlich gesundes Ersteh’n, Doch soll’s nicht auf unsere Kosten geh’n! 47
Eine Sonderstellung in diesem Kontext verdient der Band „Polnische Gedichte“ von Rudolf Leonhard. Er wurde zwar erst 1918 publiziert, aber der Autor informierte im Nachwort darüber, dass die Gedichte bereits 1916 entstanden seien. Die Originalität dieser Lyrik besteht darin, dass in ihr jenseits der offiziellen Polen-Politik keine Reduktion der Aussage auf propagandistische Parolen praktiziert wird. Statt dessen wird hier im Geiste des Expressionismus eine Annäherung des deutschen Volkes an das polnische im europäischen Kontext angestrebt. 48 Der sozialistisch gesinnte Autor fordert, dass „das Nationalgefühl [. . . ] die freudige Anerkennung jedes fremden Nationalgefühls zur Folge haben“ 49 soll. Er widmet seine Gedichte jenen Deutschen, die sich für die Freiheit anderer Völker einsetzen. Damit wird deutlich, dass für den Dich-
47 O., Noch ist Polen nicht – geboren!, in: Jugend 36 (1918), S. 698. 48 Zu Rudolf Leonhards „Polnischen Gedichten“ vgl. Hermann Korte, Der Krieg in der Lyrik des Expressionismus. Studien zur Evolution eines literarischen Themas, Bonn 1981, S. 228. 49 Rudolf Leonhard, Nachwort des Verfassers, in: Ders., Polnische Gedichte, Leipzig 1918, S. 35.
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ter Polen sowohl einen konkreten Einzelfall darstellt, 50 als auch als Symbol des internationalen Freiheitskampfes zu betrachten ist. Bei diesem politischen Vorhaben sollte, so Leonhard, die literarische Qualität der Gedichte nicht vernachlässigt werden. Er war sich „der notwendig verführenden Wirkung aller Lyrik“ 51 bewusst. Unter den 25 Gedichten findet man keine, die die Polen zum Kampf gegen die Russen animieren. Auch das Bündnis zwischen Polen, Deutschland und Österreich wird in dem Gedichtband kaum thematisiert. Leonhards Sammlung ist ein Versuch, die Aufmerksamkeit der Deutschen für die Eigenart der polnischen Standpunkte im Krieg zu gewinnen. Sein Plädoyer für Polens Freiheit speist sich aus dem Glauben an eine neue, bessere Menschheit in Europa. Diese idealistische Haltung verdeutlichen die ersten beiden Gedichte der Sammlung. Deren Aussagen widersprechen dem politischen Kalkül des Deutschen Reiches, das vage Freiheitsversprechen als Belohnung für die Hilfe der Polen im Kampf gegen Russland formuliert hat. Im „Gespräch zweier Deutschen“ wird eine auch in der deutschen Öffentlichkeit geäußerte Befürchtung zur Sprache gebracht: „Ich bin ein Deutscher. Wird Polen sich gegen mich kehren?“. 52 Die Frage des Zweiflers wird von einem Befürworter der neuen Menschheitsideale beantwortet: Frage nicht, was sie werden. Wir leben auf Erden. Sie und wir, ein neues Geschlecht. Frag nicht nach Dir, nach ihnen nicht. Frag nach dem Recht! 53
Ein polnisches Subjekt im „Lied der Polen an Europa“ drückt die Selbstverständlichkeit der Wiedergeburt Polens noch deutlicher aus: Wenn in Polen die Schranken fallen, wenn den Polen Freiheit gegnadet würde – wir haben nicht einmal zu danken. Es ist die Zeit, es ist die Pflicht. Nicht uns – Ihr seid es selbst, und schuldet Euch: Gerechtigkeit! 54
50 Leonhards Geburtsort, die Stadt Lissa (Leszno) in Großpolen, kann als eine Erklärung für seine Kenntnisse polnischer Geschichte und Kultur gelten. Während des Ersten Weltkrieges veröffentlichte er zwei Aufsätze über Polen. Vgl. Rudolf Leonhard, Zur polnischen Kultur- und Wirtschaftsgeschichte, in: Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reiche 3 (1916), Jg. 40, S. 155–209; Ders., Zur Soziologie des Polentums, Stuttgart 1917. Zu Leonhards polnischer Kompetenz sowie seiner Sympathie für Polen vgl. Hubert Orłowski, „Polnische Wirtschaft“: zum deutschen Polendiskurs der Neuzeit, Wiesbaden 1996, S. 308–309. 51 Leonhard, Nachwort des Verfassers, S. 36. 52 Rudolf Leonhard, Gespräch zweier Deutschen, in: Ders., Polnische Gedichte, S. 6. 53 Ebd. 54 Rudolf Leonhard, Lied der Polen an Europa, in: ebd., S. 7.
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In „Polnische Erde“ richtet ein Pole deutliche Worte an die hier nicht namentlich genannten, aber gemeinten Teilungsmächte: Sie können Verfassungen meineidig machen, können Reiche verteilen und Grenzen beschwören. Wir treten die ewige Erde und lachen: Völker sind nicht zu zerstören! 55
Die Erwähnung der polnischen Legionen in einigen Gedichten dient nicht dem Lob der kriegerischen Traditionen Polens, sondern der Propagierung des Pazifismus und der Völkerversöhnung. Im „Lied des jungen Witold Napierogocki“ wird der Freiheitsgedanke an die Idee einer Völkergemeinschaft geknüpft. 56 Im „Gesang eines polnischen Dichters“ konstruiert Leonhard den Monolog eines Polen, der freiheitlich und demokratisch gesinnt ist, aber durch die Rolle des Legionärs in eine widersprüchliche Lage gerät. Das Kriegerische wird von ihm als Bedrohung für das Menschliche empfunden. Er will am Schicksal seines Volkes teilhaben und ist zugleich darum bemüht, es mit dem Schicksal der Menschheit zu verbinden. 57 Der polnische Soldat aus dem „Lied eines berittenen Legionärs“ distanziert sich von einem fassadenhaften Patriotismus und erblickt allein in der jugendlichen Aufopferung, versinnbildlicht durch den Leichnam eines Jünglings, den reinsten Ausdruck der Vaterlandsliebe. 58 Die Komplexität und Tragik der Lage der polnischen Nation während des Krieges veranschaulichen die Gedichte „Begegnung der Brüder“ und „Der Mischling“. Hunderttausende Polen mussten in der russischen, deutschen und österreichischen Armee gegeneinander kämpfen. 59 Die nationale Identität vieler Polen war infolge der Germanisierungspolitik nicht mehr eindeutig. Über einen Polen, der aus Indien nach Europa kam, um zu kämpfen, hieß es: er „war deutscher als ein Deutscher, polnischer als Polen“. 60 Leonhards kenntnisreiche Reihe von Einblicken in das polnische Verhältnis zu sich selbst und den europäischen Nachbarn während des Ersten Weltkrieges wird mit einem Appell zur Versöhnung abgeschlossen. Die Botschaft in dem Gedicht „Ein sterbender Minister hinterlässt den Polen“ lautet: Wer Dich zwang und besessen hatte, Polen, sollst Du vergessen. Aber, eh nicht der Stern zerfällt, Polen, vergiß die Russen nicht,
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Rudolf Leonhard, Polnische Erde, in: ebd., S. 11. Vgl. Rudolf Leonhard, Lied des jungen Witold Napierogocki, in: ebd., S. 13. Vgl. Rudolf Leonhard, Gesang eines polnischen Dichters, in: ebd., S. 14. Vgl. Rudolf Leonhard, Lied eines berittenen Legionärs, in: ebd., S. 16. Vgl. Rudolf Leonhard, Begegnung der Brüder, in: ebd., S. 18–19. Rudolf Leonhard, Der Mischling, in: ebd., S. 28.
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Polen, vergiß nicht die Deutschen, Polen, vergiß nicht die Welt! 61
Dieser kleine Überblick über die Polenlyrik während des Ersten Weltkrieges zeigt, dass man diese Literatur kaum mit den Kategorien „polenfreundlich“ und „polenfeindlich“ deuten kann. Eine solche Polarisierung wurde von Stanisław Leonhard bei der Herausgabe von Polenliedern aus dem 19. Jahrhundert praktiziert. 62 Sie wurde 1968 von Ludmiła Sługocka übernommen und pauschal auf die gesamte deutsche Polenlyrik bezogen. 63 Diese Klassifizierung benutzte Tomasz Nawrot 1979 in seiner Analyse der deutschen Polenlyrik zur Zeit des Ersten Weltkrieges. Er behauptete sogar, dass es zu dieser Zeit eine ganze Welle polenfeindlicher Lyrik gegeben habe, 64 aber sowohl Sługocka als auch Nawrot basieren ausschließlich auf der Anthologie „Neue Polenlieder“ von Stanisław Leonhard und dem Gedichtband „Polnische Gedichte“ von Rudolf Leonhard. Diese dichotomische Perspektive modifizierte 2011 Andrzej Szczepaniak, indem er erläuterte, dass die Anthologie „Neue Polenlieder“ auf eine polnische Initiative zurückzuführen ist. Für ihn stellt die Sammlung eine polenfreundliche Publikation dar. 65 Er ist allerdings auch von der Existenz einer polenfeindlichen Dichtergruppe in der deutschen Literatur während des Ersten Weltkrieges überzeugt, doch nennt er kein einziges Beispiel. 66 Bei der Fülle der lyrischen Produktion kann man nicht ausschließen, dass in der deutschen Literatur während des Ersten Weltkrieges einzelne polenfeindliche Gedichte entstanden. 67 Man kann aber mit Sicherheit feststellen, 61 Rudolf Leonhard, Ein sterbender Minister hinterlässt den Polen, in: ebd., S. 33. 62 1911 erwähnte Stanisław Leonhard „Lieder der Polengegner“ sowie „Polenfeinde“. Vgl. Stanisław Leonhard, Vorwort, in: Ders. (Hg.), Polenlieder deutscher Dichter, Bd. 1, S. XV. 1917 benutzte er die Bezeichnungen „Gedichte der Polengegner“, „polenfeindliche Poesie“ sowie „polenfreundliche Gedichte“. Vgl. ebd., Bd. 2, S. X, XII, XIV. 63 Vgl. Ludmiła Sługocka, Einleitung, in: Dies. (Hg.), Über die Grenzen hinaus. Deutsche Polenlyrik seit den Anfängen bis 1965, Warszawa 1968, S. 5: „Es gibt in der deutschen Polenlyrik zwei Richtungen: eine polenfreundliche und eine polenfeindliche. Es ist zu Ehren der deutschen Schriftsteller festzustellen, dass die erstere quantitativ und qualitativ vielgestaltiger und wertvoller ist als die zweite, die auch von den Literarhistorikern meistens unberücksichtigt bleibt“. 64 Vgl. Nawrot, S. 154. Über die Anthologie „Neue Polenlieder“ heißt es dort: „Diese Produktion beschränkte sich selbstverständlich nicht auf die zitierten Autoren und ihre Gedichte. Sie sind aber für die ganze Welle dieser Polenlyrik repräsentativ“. Ebd. 65 Ludmiła Sługocka vertrat noch die Meinung, dass die Anthologie militaristischen Zwecken Deutschlands und Österreichs diene. Vgl. Sługocka, S. 10–11. 66 Vgl. Szczepaniak, S. 50–99. Es handelt sich um das Vorwort zur zweisprachigen Edition der Anthologie von Stanisław Leonhard. Szczepaniak beleuchtet kompetent die historischen Hintergründe der Publikation von 1916, da er aber kein Literaturhistoriker ist, misslingt ihm die Erläuterung literarischer Kontexte. 67 Erst nach dem Ersten Weltkrieg wächst im Kontext der deutschen Gebietsverluste die Zahl antipolnischer Texte in der deutschen Literatur. Vgl. Jan Chodera, Die deutsche Polenliteratur 1918–1939. Stoff- und Motivgeschichte, Pozna´n 1966.
Deutsche Polenlyrik im Ersten Weltkrieg
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dass es keine Welle oder Tendenz dieser Art gab. Erstens war Polenlyrik in dieser Zeit in quantitativer Hinsicht ein randständiges Phänomen. Zweitens war die Verbreitung polenfeindlicher Gedichte während des Ersten Weltkrieges aus Gründen der Staatsräson unmöglich. Antienglische, antifranzösische und antirussische Gedichte waren erwünscht. Die Polen sollten für die deutschen und österreichischen Pläne gewonnen werden, deshalb durfte kein lyrisches Störfeuer die politische Atmosphäre vergiften.
Der Erste Weltkrieg in Österreich und der Schweiz
Aneta Jachimowicz
´ (Uniwersytet Warminsko-Mazurski w Olsztynie)
Romane für „Kanonenfutternachwuchs“ Der Kriegsroman in der „Neuen Freien Presse“ in den 1920er und frühen 1930er Jahren (mit einem Seitenblick auf die „Reichspost“)
Im Juli 1917 schreibt der Journalisten- und Schriftstellerverein „Concordia“ in Wien einen Wettbewerb um zwei Preise von je 10.000 Kronen aus, die für zwei Romane bestimmt sind, einen Armee- und einen Flottenroman. Zur Jury gehören Schriftsteller, ein Hofrat, ein Konteradmiral sowie ein Professor. Das Ziel der Preisausschreibung ist, einen österreichischen Kriegsroman hervorzubringen, den es – so die Presseanzeige – noch nicht gebe und den es eigentlich geben sollte, denn „das Erlebnis des Krieges hat, wie das Fühlen und Denken jedes einzelnen Österreichers, so auch die österreichische Literatur der letzten drei Jahre in mannigfacher Form fast ausschließlich beschäftigt“. 1 Der Roman brauche kein Soldatenroman im engen Sinne zu sein. Er solle sich nicht nur – so geht es in der Ausschreibung weiter – im Feuerbereiche des Kampfplatzes abspielen und über der Tat des Kriegers auch nicht die stummen Leistungen des Hinterlandes, die Tapferkeit unserer Frauen, die Hingabe der gesamten Bevölkerung an die große Aufgabe des Krieges außer Betracht lassen. Volkstümlichkeit und Menschlichkeit werden die besten Eigenschaften eines Buches sein, in denen sich das ernste Gesicht Österreichs in diesen geschichtlichen Tagen erkennbar spiegelt. 2
Da „nur ein Österreicher von Blut und Wesen [. . . ], aus einem österreichischen Herzen heraus, diesen Roman [wird] schreiben können“, 3 wendet sich das Preisausschreiben lediglich an die österreichischen Dichter. Der Roman müsse in deutscher Sprache abgefasst sein und solle den Umfang von 250 bis 300 Druckseiten zu je 30 Zeilen nicht überschreiten. Als Schriftsteller gelte dem Preisgericht nicht nur ein bekannter Schriftsteller, sondern jeder, der den Krieg fühlend und schauend miterlebt habe und der die Fähigkeit besitze, das Erlebte dichterisch zu gestalten. Die Einsender sollen anonym bleiben und die Arbeiten müssen bis spätestens Ende März 1918 eingelangt sein, damit die Preiszuerkennung spätestens Anfang Juli 1918 erfolgen kann. 1 N.N., in: Neue Freie Presse 19005 (1917), S. 10. Derselbe Text erscheint auch in: Illustrierte Kronenzeitung 6303 (1917), S. 9–10 und in: Wiener Zeitung 162 (1917), S. 4. 2 N.N., in: Wiener Zeitung 162 (1917), S. 4. 3 Ebd.
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Die Information über die Preisausschreibung erscheint in vielen populären Wiener Zeitungen, z. B. „Wiener Zeitung“, „Wiener Allgemeine Zeitung“, „Illustrierte Kronenzeitung“, „Neues Wiener Journal“, „Neues Wiener Tagblatt“, auch in der „Neuen Freien Presse“, einer zu dieser Zeit unter den Bürgerlich-Liberalen hochangesehenen, meinungsbildenden Tageszeitung mit einer der höchsten Auflagenzahlen und mit prominenten Feuilletonisten, von denen zwei – Raul Auernheimer und Armin Brunner – zu dem Preisgericht gehören. Da aber die Einläufe so zahlreich gewesen seien – berichtet die Presse einige Monate später – und die Preisrichter die Arbeit nicht bewältigen konnten, wurde die Schlusssitzung des Preisgerichts und die Bekanntgabe des Urteils auf den Herbst verschoben. Im November 1918 gibt aber die „Neue Freie Presse“ Folgendes bekannt: Bis zum Endtermin im März 1918 sind 32 Arbeiten eingelaufen. Da „keines der eingesendeten Werke den Bedingungen des Preisausschreibens voll entspricht, ist das Preisgericht nicht in der Lage, einen Preis zuzuerkennen“. 4 Zwei Romane, die in Erwägung zu ziehen gewesen wären, konnten aus diesem Grunde nicht bedacht werden. Diese zwei Romane, die als „hervorhebenswert befunden wurden“, die heutzutage jedoch vollkommen unbekannt sind, wurden von zwei Frauen geschrieben: von Elfriede Neumann aus Böhmen (Roman „Mütter“) und von Anna Luise Kurz aus Bad Ischl (Roman „Schwesternwege“). 5 Höchstwahrscheinlich war dies die einzige mediale Erwähnung dieser Namen, denn ansonsten ist keine Spur von diesen Autorinnen und ihren Romanen zu finden. Die Geschichte mit dem Preisausschreiben für den österreichischen Kriegsroman, die hier so ausführlich skizziert wurde, ist nicht so unbedeutend, wie man vielleicht denken könnte, denn sie führt uns so einiges vor Augen: Erstens wird deutlich, dass es in Österreich – zumindest in manchen Kreisen – noch gegen Ende des Ersten Weltkrieges ein großes Bedürfnis nach einer Kriegserzählung aus der österreichischen Perspektive gab. Zweitens fällt auf, dass dieses Bedürfnis immer noch stark mit den Heldentaten sowohl der Einzelnen als auch der ganzen österreichischen Bevölkerung verbunden ist – eine interessante Bewandtnis, wenn man sich vergegenwärtigt, dass der Preis ein Jahr nach dem Erscheinen des kriegskritischen Romans „Das Feuer“ von Henri Barbusse ausgeschrieben wurde. Barbusse hat bekanntlich als erster ein Werk ohne einen geschönten Blick auf den Alltag und die Not der Soldaten im Krieg, ohne verlogene patriotische Romantik geliefert. Ob der ConcordiaPreis eine Reaktion auf diesen Roman ist, bleibt dahingestellt. Erkennbar ist dagegen die Diskrepanz zwischen den von dem Preisgericht verkündeten Absichten und der kriegskritischen Literatur jener Zeit: 1917 erscheint z. B. die Erzählungssammlung des deutschen Autors Leonhard Frank „Der Mensch ist gut“, in der der Militarismus abgelehnt und die Grausamkeiten des Krieges
4 N.N., in: Neue Freie Presse 19483 (1918), S. 5. 5 Vgl. ebd.
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gebrandmarkt wurden. Die Sozialdemokraten ließen 500.000 Exemplare auf Zeitungspapier drucken und verschickten sie an die Frontsoldaten. 1917 wird auch der Novellenzyklus „Menschen im Krieg“ von Andreas Latzko veröffentlicht, der 1919 von der „Neuen Freien Presse“ als „einer der ersten dichterischen Ankläger des Weltkrieges“ 6 genannt wird. Kaum ist das Buch in der Schweiz erschienen, wird es in allen kriegführenden Staaten verboten. Während sich also in der Literatur eine Antikriegsatmosphäre durchzusetzen beginnt, schreibt der österreichische Schriftstellerverband einen Preis aus, der dem Krieg Sinn stiften und den Tod und das Leiden für das Vaterland legitimieren soll. Eine andere Sache ist hier der Schriftsteller Andreas Latzko: Da Latzko in Budapest geboren wurde und im Ersten Weltkrieg in der k.k.-Armee gedient hat, dürfte man dem Preisgericht, das behauptete, dass es zu dieser Zeit keine österreichische Kriegserzählung gegeben habe, widersprechen. Aber um ein Antikriegsbuch wie das von Latzko ging es im Wettbewerb sicherlich nicht. Der Grund dafür, dass sich das Preisgericht gegen die Preisverleihung entschieden hatte, war wahrscheinlich die unzulängliche künstlerische Gestaltung der gelieferten Manuskripte und nicht ihre ideologische Ausrichtung. Wie die Presse der Ersten Republik Anfang der 1930er Jahre rückblickend berichtete, hatten viele Autoren und Autorinnen in den Kampfjahren und unmittelbar danach das Bedürfnis, „den Gefühlen über die Zeit auf die [ihnen] gemäße Art Ausdruck verleihen zu müssen“. 7 Die Qualität der Texte ließ aber oft zu wünschen übrig. 8 Möglich ist jedoch darüber hinaus, dass die eingesandten Manuskripte für die Jury keine ausreichend kriegsbejahende Haltung aufwiesen, denn z. B. Hermann Bahr – eines der Jurymitglieder – machte kein Hehl aus seiner Kriegsbegeisterung, die sogar in seiner Nachkriegspublizistik nicht nachließ. Nicht weniger wahrscheinlich für die Verweigerung der Preisverleihung ist ebenfalls die Tatsache, dass sich im Herbst 1918 die politische Situation radikal geändert hatte. Als der Wettbewerb ausgeschrieben wurde, gab es nämlich noch die alte Welt, die aber gerade zu dem Zeitpunkt in einer Katastrophe endet, als der preisgekrönte Kriegsroman verkündet werden soll. Insofern hat in diesem Moment der bislang gültige Mythos vom Krieg als 6 Paul Zifferer, Feuilleton. Opfergang, in: Neue Freie Presse 19628 (1919), S. 1–3, hier S. 1. 7 Hans Georg Fellmann, Der Krieg im Buch, in: Reichspost 274 (1930), S. 7. 8 Über die Qualität der früheren literarischen Produktion über den Krieg schrieb der Rezensent des Bestsellerromans von Arnold Zweig wie folgt: „Der Weltkrieg hat, wie jedes Ereignis, das die Menschen tief erregt, in der Literatur der Zeit seine Spiegelung gefunden. Neben der eigentlichen Kriegsliteratur, neben den zahllosen Streit- und Untersuchungsschriften hat es an Versuchen freier künstlerischer Gestaltung oder dessen, was sich ihr nähern sollte, nicht gefehlt. Aber es ist in allen Ländern nur wenig Wertvolles dabei entstanden. Unzählige schrieben für die Zeitkonjunktur, bis Verbitterung und Überdruß ihr ein Ende machten; gerade die künstlerisch Empfindenden verschmähten dies, sie fühlten die Notwendigkeit der Distanz, wenn nicht einer, vom unmittelbaren Eindruck getroffen“. Karl Federn, Arnold Zweigs „Streit um den Sergeanten Grischa“, in: Neue Freie Presse 22977 (1928), S. 35–36.
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Heldentat und Aufopferung dem Vaterland gegenüber, der im Hintergrund der Preisausschreibung stand, seine Gültigkeit verloren. Der Staat hörte nun auf, dem Krieg eine einheitliche Erklärung und dem Tod seinen Sinn zu geben, die Narration von einer heroischen Aufopferung erschien in manchen Kreisen suspekt. Auf jeden Fall bleibt Österreich gegen Ende des Krieges ohne seinen großen österreichischen Kriegsroman, dagegen mit großem Erinnerungsstreit der konservativen und liberalen Kreise um die Kriegsschuld und die Bewertung des Weltkrieges, von dem bereits Alfred Pfoser in seinem Aufsatz „Der Krieg ist zu Ende, der Erinnerungskulturkampf beginnt“ berichtete. Kurz nach der Gründung der Ersten Republik entfachte ein Konflikt zwischen den Christlichsozialen und Sozialdemokraten. Die ersten verteidigten diejenigen, die bei Kriegsbeginn und im Kriegsverlauf Verantwortung trugen, die Sozialdemokraten dagegen setzten auf den Bruch mit der Vergangenheit und klagten im Namen der Millionen Toten die Schuldigen an. Diesen Konflikt zeigte Pfoser am Beispiel des Verhältnisses dieser beiden Lager den Kriegsdenkmälern und dem Allerheiligen-Fest gegenüber. Die Konservativen nahmen die Rhetorik der Heldenverehrung wieder auf, beschworen Gott, Heimat und Vaterland, für die das Leben gegeben wurde. Die sozialdemokratischen Kreise dagegen entwickelten eine republikanische Erinnerungspolitik, die ganz im Zeichen des Pazifismus stand, statt von „Helden“ wurde in den Reden von den „unglücklichen Opfern des Krieges“ 9 gesprochen. Wie viele andere gesellschaftliche Phänomene der Ersten Republik findet auch dieser Kriegserinnerungskonflikt in der Literatur und in der Rezeption der Literatur seine Widerspiegelung, was in diesem Beitrag am Beispiel der in den 1920er und frühen 1930er Jahren rezensierten Kriegsromane in den Tageszeitungen „Neue Freie Presse“ und – nur flüchtig und selektiv – in der „Reichspost“ gezeigt werden soll. Die „Neue Freie Presse“ hatte in der Ersten Republik eine große Ausstrahlungskraft und galt – trotz der wirtschaftlichen Krise, in die sie geriet – als repräsentative Zeitung Österreichs. 10 Weltanschaulich verwarf sie sowohl reaktionäre als auch radikal-demokratische Tendenzen, war deutschfreundlich und antiklerikal. Die katholisch-konservative und christlich-soziale Perspektive vertritt dagegen die „Reichspost“, die 1894 aus dem Bedürfnis nach der Gründung eines gut ausgestatteten Zentralorgans in katholisch-konservativen und christlich-sozialen Kreisen entstand, nachdem man bemerkt hatte, dass die Presse bei den Sozialdemokraten hohes Ansehen genoss und dass verstärkt 9 N.N., Arbeiter-Zeitung 96 (1920), S. 2. Vgl. Alfred Pfoser, Der Krieg ist zu Ende, der Erinnerungskulturkampf beginnt. Politik, Historiographie und Literatur in den ersten Jahren der Ersten Republik, in: Aneta Jachimowicz (Hg.), Gegen den Kanon – Literatur der Zwischenkriegszeit in Österreich, Frankfurt a. M. 2017, S. 53–82. 10 Vgl. Karl Woisetschläger, Die Rezeption neuer Erzählliteratur in der „Neuen Freien Presse“ und der „Frankfurter Zeitung“ 1918–1933, Wien 1991, S. 50, 214.
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kirchenfeindliche Strömungen auftraten. Die katholischen Kreise bemühten sich nun, in Politik, Philosophie und Literatur jeder stärkeren antikatholischen Strömung eine katholische entgegenzusetzen. 11 In der „Neuen Freien Presse“ werden die Kriegsromane von drei diese Gattung dominierenden Redakteuren rezensiert: Felix Salten, Ernst Lothar und Rudolf Jeremias Kreutz. Kreutz selbst war der Autor von zwei Kriegsromanen – „Die große Phrase“ (1919) und „Die einsame Flamme“ (1920). Den ersten schrieb er während seiner sibirischen Kriegsgefangenschaft von 1914 bis 1918, wo er zum überzeugten Pazifisten wurde. Über den Roman schrieb 1920 die „Neue Freie Presse“ wie folgt: „Dieses starke Buch [. . . ] zählt zu den bedeutendsten Erscheinungen der deutschen Kriegsliteratur“. Er ist ein Beweis dafür, „dass die Güte nicht völlig aus der Welt geschwunden ist“. 12 Es verwundert also nicht, dass Kreutz auf seine Empfehlungslisten nur jene Kriegsromane setzt, die ein unverklärtes Bild vom Krieg zeichnen, und dass er sich dem Schaffen derjenigen Autoren entgegensetzt, die in ihren Kriegserzählungen den Militarismus-Mythos propagieren. Über den von der „Reichspost“ empfohlenen Roman 13 „Bis zum bitteren Ende. Vier Jahre Stellungskrieg“ (1930) und seinen heute unbekannten deutschen Autor Gerhard Siegert (1892–1956) schrieb Kreutz beispielsweise, Siegert sei konservativ, der Roman dagegen entspreche dem „Geschmack breiter Leserschichten, die das Hohelied vom deutschen Mann, der als ‚Soldat und brav‘, schlicht, treu und pflichtbewusst durchhielt“. 14 Um seiner Abneigung der verklärten Heldenverehrung gegenüber Ausdruck zu verleihen, setzt Kreutz fort: Siegert macht sich weiter keine Gedanken. „Heiligkeiten“ sind ihm nun einmal Heiligkeiten, der „moralische Schweinehund“, den jeder in sich trägt, wird durch Anrufung des Vaterlandes, um das es geht, verscheucht. Am Schluß steht in gesperrten Lettern: „Arme deutsche Heldengeneration, was hast du alles ertragen müssen!“. Und ernstes Kopfnicken bejaht mit dem festen Vorsatz: Ein nächstes Mal wieder. [. . . ] Was aber nun diese Art von „Tatsachenepik“ betrifft, so sei der bescheidene Wunsch ausgesprochen, daß sie bald Makulatur werde. Des deutschen Volkes „Wunderhorn“ bedarf anderer Töne. 15
11 Vgl. August Jentsch, Der Kulturteil der Parteienpresse. Untersuchungen an Hand der kulturellen Rubriken in den Zentralorganen der österreichischen Großparteien zur Zeit der Pressefreiheit in der ersten Republik (von 1918 bis 1933), Wien 1952, S. 27. 12 St-g., Literarische Besprechungen. Rudolf Jeremias Kreutz: „Die große Phrase“, in: Neue Freie Presse 20066 (1920), S. 9–10. Das schriftstellerische Werk von Kreutz wurde auch 1923 positiv präsentiert. Vgl. Blanche Kübeck, Literarische Notizen: Menschen im Schutt. Novellen von Rudolf Jeremias Kreutz, in: Neue Freie Presse 21123 (1923), S. 26. 13 Vgl. Fellmann, Der Krieg im Buch, S. 7. 14 Rudolf Jeremias Kreutz, Neue Kriegsbücher, in: Neue Freie Presse 23810 (1930), S. 28– 29, hier S. 29. 15 Ebd.
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In der Besprechung des Romans „Heeresbericht“ (1930) von Edlef Köppen (1893–1939) drückt Kreutz seine Freude aus, dass das europäische Publikum die ungeschminkte Wahrheit über die „große Zeit“ 16 nicht verabscheue. Angesichts der hohen Konjunktur von Kriegsromanen gegen Ende der 1920er und Anfang der 1930er Jahre, die zu einem gewaltigen Phänomen herangewachsen ist, verzeichnet er die „Monotonie des Grauens“ 17 und berichtet von der Subjektivität der Kriegsromane, die durch nationale Ressentiments geprägt sind und häufig tendenziös wirken. Insgesamt zeigt nach Kreutz die „NachkriegsKriegsliteratur“ nur wenige Werke, die die Aussicht haben, „die Todesmoder zu überdauern“. 18 Der Roman von Köppen sei ein Gegenteil davon. Ebenfalls positiv bewertet Kreutz die Romane „Krieg“ (1928) und „Nachkrieg“ (1930) von Ludwig Renn (1889–1979), der „zu den ganz wenigen Erlebnisschilderern unserer Epoche [gehört], die von Rücksichten, wie sie Stand, Partei, Klasse, Gesinnung bedingen, frei sind“. 19 In derselben Rezension prangert Kreutz den Heroenkult in der nationalistischen Literatur an. Er schreibt: Alle haben den Krieg gesehen, viele ihn nachgezeichnet. Fast jeder nahm eine Warte ein, fand einen Standpunkt, von dem aus er das Chaos in seiner Seele zu ordnen sich vermaß. Der Nationalismus verdammte verklärend. Der Wehrhaftigkeitsgedanke, der ihn erfüllt, der Heroenkult, den er nicht missen mag, leiht seinen Kriegsbüchern das Gepräge romantisierender Schönfärberei. Ethos wird zum Pathos, das – mag es mitunter auch gutgläubig um ein Gemenge von Pietät und Begeisterung werben – bei denkenden Lesern wenig Glauben findet. Der radikale Pazifismus hinwieder überquellt das Grauen durch Psychologie. Das Leiden und Erleiden der Masse zeigt hysterische Züge, zeigt Hypertrophien haßerfüllter Unlust. Die Dumpfheit des Kollektivums „Frontsoldat“ wird nervig empfindsamer dargestellt, als sie jemals war. 20
Kreutz beunruhigt offensichtlich die in der Kriegsliteratur an Stärke gewinnende Heroisierung der Heldentaten, denn Anfang der 1930er Jahre thematisiert er dieses Phänomen in vielen Rezensionen für die „Neue Freie Presse“. Beklemmend findet er insbesondere die Tatsache, dass die junge Generation vom Krieg nichts als ein „vages Hörensagen“ vom „vierjährigen, ruhmreichen Elend“ 21 kennt und von einem Mythos genährt wird, der keineswegs zum Frieden führt. Dieser Mythos werde von jenen nacherzählt, die das Elend
16 Rudolf Jeremias Kreutz, Dreibund der Kriegsverdammnis, in: Neue Freie Presse 23584 (1930), S. 38. 17 Kreutz, Neue Kriegsbücher, S. 28. 18 Ebd. 19 Rudolf Jeremias Kreutz, Ein überparteiliches Zeitdokument, in: Neue Freie Presse 23777 (1930), S. 37. 20 Ebd. 21 Rudolf Jeremias Kreutz, Ein Jugendbuch vom wahren Wesen des Krieges, in: Neue Freie Presse 24193 (1932), S. 9.
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verschweigen, dafür aber das Heldentum preisen, dessen Zeugen sie gewesen sein wollen. Die jungen Leute nennt Kreutz „Kanonenfutternachwuchs“, denn sie sind von einer Menge von Büchern umgeben, in denen „bramarbasierende Schwatzsucht die ‚große Zeit‘ romantisiert, weil sie Ertüchtigung durch Wahrhaftigkeit in der Jugend wacherhalten und aus den kriegerischen Großtaten der Altvorderen neu beleben will“. 22 Und in demselben Feuilleton schreibt Kreutz: „Das heroische Ideal triumphierte, nachdem es in einem Meer von Blut und Tränen scheinbar versunken gewesen war. Nur wenige Bücher gibt es, die die Ächtung des Krieges vorbereiten, indem sie ihn schonungslos desillusionieren. Und die wenigsten unter ihnen sind ehrlich genug, um auch das scheinbar ‚Heilige‘ an ihm rückhaltlos zu verdammen“. 23 Zu diesen Romanen zählt der Journalist den Roman von Rudolf Frank „Der Schädel des Negerhäuptlings Makaua. Kriegsroman für die junge Generation“ (1931), der seiner Ansicht nach als ein Aufruf zum Frieden gelesen werden sollte. Schaut man dagegen auf die Feuilletons und Buchbesprechungen der katholischen „Reichspost“, so lässt sich nicht eindeutig sagen, dass die Zeitung – wie man anfangs vermuten kann – sich radikal gegen pazifistische Antikriegsromane einsetzt. Im Artikel „Der Krieg im Buch“ von 1930, der eine Rückschau auf die europäischen Romane über den Ersten Weltkrieg ist, listet der Literaturkritiker Hans Georg Fellmann auch jene Romane auf, die die Sinnlosigkeit des Krieges vor Augen führen und den Heroenkult desavouieren. Darunter werden solche Werke erwähnt, wie: Henri Barbusses „Das Feuer“ (1916), Fritz von Unruhs „Opfergang“ (1919), Andreas Latzkos „Menschen im Krieg“ (1917), Leonhard Franks „Der Mensch ist gut“ (1917), Arnold Zweigs „Der Streit um den Sergeanten Grischa“ (1927), Georg von der Vrings „Soldat Suhren“ (1927) und „Camp Lafayette“ (1929), Ludwig Renns „Krieg“ (1928), Erich Maria Remarques „Im Westen nichts Neues“ (1929), Werner Beumelburgs „Sperrfeuer um Deutschland“ (1929) sowie die Romane von – wie es im Feuilleton heißt – radikaler Gesinnung gegen den Krieg, wie Adam Scharrers „Vaterlandslose Gesellen: das erste Kriegsbuch eines Arbeiters“ (1930) und Theodor Plieviers „Des Kaisers Kulis“ (1929). Nichtsdestoweniger erkennbar ist die Distanz des Feuilletonisten zu den Romanen, die den Krieg satirisch und nicht mit vollem Respekt darstellen. Und so kritisiert Fellmann den Roman „Die Abenteuer des braven Soldaten Schwejk im Weltkrieg“ von Hašek für die „negierende“ und „bewußt sabotierende Haltung“ 24 und betont dessen Zynismus und die Hervorhebung des propagierten Antiheldentums. Als bestes Kriegsbuch nennt der Redakteur hingegen „Der Kampf als inneres Erlebnis“ (1922) von Ernst Jünger, das „bei aller Schilderung dessen, wie es wirklich war,
22 Ebd. 23 Ebd. 24 Fellmann, Der Krieg im Buch, S. 7.
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der Opfergedanke und der Geist positiven Glaubens als Grundmotiv durchzieht“. 25 Ernst Jünger wird in der „Neuen Freien Presse“ nicht rezensiert, was nicht viel heißen muss, denn selbst Karl Kraus wird von der Zeitung wegen seiner kritischen Stellung zu ihrem Profil und Herausgeber übergangen. 26 Nicht auszuschließen ist, dass die Grundstimmung des Buches der Grund dafür war, dass Jünger von den Kritikern nicht berücksichtigt wurde, was auch viele Kriegsromane betrifft, die in der „Reichspost“ positiv aufgenommen und eindringlich empfohlen wurden. Ein Beispiel dafür ist der Roman von Walter Bloem „Frontsoldaten“ (1930), der im nationalsozialistischen Grethlein Verlag erschienen ist. Während der Roman in der „Neuen Freien Presse“ keine Erwähnung findet, erhält er eine sehr positive Rezension in der „Reichspost“, die seine „sittliche Festigkeit“ 27 betont. Der Roman erzählt nämlich die Geschichte eines Zuchthäuslers und Landstreichers, „der durch die gewissenhafte Pflichterfüllung in der Kaserne und an der Front, sich wieder guten Namen, Ansehen und Ehre erwerben will“. 28 Ein ähnliches Beispiel ist der Kriegsroman „Als die Seele starb. 1914 bis 1918. Das Kriegserlebnis eines Unkriegerischen“ (1931) von Walter Scheller, der von der „Neuen Freien Presse“ übergangen, aber in der „Reichspost“ dafür gelobt wird, dass er „in edler, aufrichtiger Liebe zum deutschen Volke“ den rettenden Weg für sich und alle sucht, „welche die einzig große Kriegserfahrung zu gewinnen begnadigt sind: Es gibt Güter und Werte, welche auch dann noch Bestand haben, wenn die äußeren Erfolge ausgeblieben sind“. 29 Erkennbar wird, dass die Zeitung mit diesen Worten versuchte, der Niederlage im Krieg einen höheren Sinn zu geben. Das aussagekräftigste Beispiel der Auseinandersetzung zwischen den liberalen und konservativen Kreisen ist wohl der Konflikt von 1930/31 um die Aufführung des Hollywood-Films „Im Westen nichts Neues“, der – mit Ausnahme des Roten Wien – in den Bundesländern Österreichs verboten war. Die „Reichspost“ sprach sich eindeutig gegen den Film aus, der „die Jugend entweder zu Mutlosigkeit oder zu nebuloser pazifistischer Phantasterei“ 30 erzieht und eine „antideutsche Weltpropaganda“ 31 unterhält. Die konservativen Kreise warfen dem Film vor, als eine amerikanische Produktion von Deutschfeindlichkeit erfüllt zu sein. Außerdem unterstellte man den Filmproduzenten, dass es ihnen nicht um die Verbreitung des Pazifismus gehe
25 Ebd. 26 Karl Kraus’ Buch „Weltgericht“ wird in der „Neuen Freien Presse“ am 17. Juni 1919 lediglich angekündigt. 27 N.N., in: Reichspost 192 (1930), S. 8. 28 Ebd. 29 N.N., in: Reichspost 40 (1931), S. 8. 30 Walter Kotas, Apotheose des Katzenjammers, in: Reichspost 158 (1929), S. 19. 31 N.N., Allzu amerikanische Filmreklame. Die Niederlage der Remarquefilm-Agenten – Die Bundeshauptstadt gegen die Bundesländer?, in: Reichspost 853 (1930), S. 3.
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(was übrigens auch das Argument der den Film verteidigenden Linken war), sondern um „geschäftliche Ausbeutung vorhandener Stimmungen“, 32 wie es die „Reichspost“ im Artikel „Pazifismus oder Geschäft: Das Doppelgesicht des Remarquefilms“ formulierte. Anstatt den subjektiven Remarque zu lesen, der seine Kriegserlebnisse als die Kriegserlebnisse präsentiert habe, empfiehlt die „Reichspost“, nach dem Roman „Trotz allem“ (1931) von Helmut Stellrecht zu greifen, der im Gegenteil zu Remarque und ihm ähnlichen pazifistisch gesinnten Schriftstellern „nicht am Kriege zerbrach“. Stellrecht (den die „Reichspost“ sehr gut findet, dessen Namen sie aber falsch schreibt und anstatt Stellrecht den Autor Stellbrecht nennt) zeige all das Hässliche und Gemeine, aber auch das Große, Edle und Ewige, also den Heldentod fürs Vaterland, der ein Opfertod ist, einen Tod, von dem geschrieben steht: Größere Liebe hat keiner, als der das Leben hingibt für die Mitmenschen. All dies wahrhaft Große und Erhabene, nämlich den Opfergeist so vieler, die für die Heimat hinauszogen, bereit, alles zu geben für ihr Volk, all dies hat Remarque nicht gesehen, nicht wahrgenommen, nicht erlebt! Das ist seine Einseitigkeit, die Schwäche seiner Schilderung. 33
Remarque wird dagegen in der „Neuen Freien Presse“ sehr gelobt, vor allem von Ernst Lothar (1890–1974), einem zu dieser Zeit sehr bekannten, vielschreibenden Feuilletonisten. Dem Roman widmet Lothar zwei ausführliche Rezensionen. In der einen betont er die Tendenzlosigkeit der Darstellung, 34 in der anderen erhitzt er sich darüber, dass der Roman auf Grund einer Verfügung des Heeresministeriums aus allen Garnisons- und Soldatenbüchereien des österreichischen Bundesheeres verbannt wurde, da die Lektüre des Buches nur die Schattenseiten des Krieges schildere und allen Grundsätzen der Soldatenerziehung widerspreche. Lothar schreibt in seinem Feuilleton: Bei allem Respekt vor den militärisch-pädagogischen Erwägungen des Heeresministeriums, drängt sich doch unwillkürlich die Frage auf, ob denn der Krieg neben seinen uns nur allzu gut bekannten Schattenseiten auch noch andere Seiten habe. In einem Lande, für das der Friede so sehr eine Existenznotwendigkeit bedeutet wie für Österreich, ist eine Schönfärberei des Krieges, eine Glorifizierung seiner Schrecken vollkommen überflüssig. Das österreichische Volk hat so fürchterlich unter dem Kriege gelitten und bekennt sich so leidenschaftlich zum Frieden, daß man ein Buch, in dem der Krieg mit ruhiger Sachlichkeit so geschildert wird, wie er ist, wohl kaum als defaitistisches Gift für die Wehrmacht betrachten kann, die ja doch auch ein Teil des Volkes ist. 35
32 N.N., Pazifismus oder Geschäft: Das Doppelgesicht des Remarquefilms, in: Reichspost 350 (1930), S. 3. 33 N.N., Ein Gegen-Remarque, in: Reichspost 180 (1931), S. 6. 34 Vgl. Ernst Lothar, Im Westen nichts Neues, in: Neue Freie Presse 23149 (1929), S. 1–4. 35 Ernst Lothar, Die Schattenseiten des Krieges, in: Neue Freie Presse 23321 (1929), S. 7–8.
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Schaut man sich die Rezensionen und Besprechungen der in der „Neuen Freien Presse“ im Zeitraum von 1916 bis 1931 erschienenen Kriegsromane und -erzählungen an, so wird erkennbar, dass es bis 1919 ein gewisses Interesse für diese Texte gibt. Später, bis 1926, werden die Kriegserzählungen fast gar nicht mehr in die Rezensionssparte aufgenommen. Im Jahr 1927 beginnt sich etwas zu regen, den Höhepunkt erlebt der Kriegsroman jedoch erst 1929. Diese Zusammenstellung bestätigt nur das, was die Literaturforschung schon längst festgestellt hatte, und zwar, dass man nach dem Ende des Ersten Weltkrieges ungefähr zehn Jahre warten musste, bis das Interesse für die Kriegserlebnisse – zumindest in den demokratischen Kreisen, die u. a. die „Neue Freie Presse“ vertrat – wieder erwachte. 36 Wenn man sich aber die Einzelschicksale der Autoren von Kriegsromanen und -erzählungen vergegenwärtigt, wie sehr sie sich bemühen mussten, damit ihre Bücher erscheinen konnten, dann wird sichtbar, dass nicht unbedingt das Desinteresse der Autoren der Grund dafür war, dass diese Romane in der Presse nicht rezensiert wurden. Arnold Zweig gibt beispielsweise in einem Artikel für die „Neue Freie Presse“, in dem er über seine Arbeit am Roman „Der Streit um den Sergeanten Grischa“ reflektierte, die Antwort auf die Frage, was die Ursache dieser Situation war: „Ich bemerkte [. . . ], daß ich mich mit meinem Werke im Gegensatz zu dem damaligen Zeitgeist befand, der nur eine Tendenz hatte, den Krieg zu vergessen“. 37 Und in einem anderen Artikel positionierte er sich ausführlicher zum Desinteresse des Publikums für die Kriegsthematik: Zu Ende des Krieges und in den ersten Nachkriegsjahren wollte kein Verleger, kein Buchhändler, kein Theaterdirektor von Werken hören, die den Krieg zum Thema hatten. Wir hatten den Krieg verloren und daher sollte die Erinnerung an ihn aus dem Gedächtnis des Volkes getilgt werden. Angesichts dieser Mentalität hatte ich anfangs mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen, ehe ich meinen Roman „Der Fall des Sergeant Grischa“ veröffentlichen konnte. 38
Das ist die eine Seite. Die andere wird im 1926 in der „Neuen Freien Presse“ erschienenen Feuilleton des deutschen Schriftstellers Herbert Eulenberg über Grimmelshausen angedeutet. Eulenberg suggeriert nämlich, dass die Scheu gegen die Kriegsthematik in der Literatur weniger eine Frage der Abneigung ist, sondern vielmehr die des Zeitabstandes:
36 Vgl. Michael Gollbach, Die Wiederkehr des Weltkrieges in der Literatur. Zu den Frontromanen der späten Zwanziger Jahre, Kronberg / Ts. 1978; Hans-Harald Müller, Der Krieg und die Schriftsteller, Stuttgart 1986; Jörg Lehmann, Imaginäre Schlachtfelder. Kriegsliteratur in der Weimarer Republik, Norderstedt 2017. 37 Arnold Zweig, Wie ich den „Sergeant Grischa“ schrieb, in: Neue Freie Presse 23673 (1930), S. 11. 38 Arnold Zweig, Der Weltkrieg und der deutsche Roman, in: Neue Freie Presse 23983 (1931), S. 30–31.
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Noch fehlt uns der Epiker, der uns die Jahre des Krieges, den wir noch immer nicht überwunden haben, beschreibt. Dies Erlebnis brennt noch in uns allen derart nach, daß wir bis heute kaum ertragen, wenn daran im Spiegelbild der Bühne oder des Romans gerührt wird. „Gar nichts mehr vom Kriege wissen wollen!“, das galt und gilt auch jetzt noch auf dem Büchermarkt als Romanrezept. Darum müssen wir auch noch auf unseren Kriegsroman warten. Der „Simplicissimus“ des Grimmelshausen ist ja auch erst zwanzig Jahre nach dem bösen Westfälischen Frieden gedruckt worden. 39
Wahrscheinlich bestand einer der größten Fehler der demokratischen Kräfte Österreichs darin, aus dem Trauma des Ersten Weltkriegs kein „kollektives Gedächtnis“ 40 im Sinne Jan Assmanns werden zu lassen, sondern lediglich ein „kommunikatives Gedächtnis“, 41 das heißt eine Art der Erinnerungskultur, die nur gruppenbezogen ist. Das politisch motivierte Außerachtlassen von „Erinnerungsfiguren“, 42 die konservative Kreise hätten zufriedenstellen können, – z. B. die Erinnerung durch Texte oder Denkmäler sowie eine Institutionalisierung der Erinnerung – führte dazu, dass die (fehlende) Erinnerungskultur nicht „gemeinschaftsstiftend“, 43 sondern auflösend wirkte und die verschiedenen Gruppenressentiments immer stärker wurden. Zu Beginn der Republik wurden nämlich die Soldaten und Kriegsheimkehrer nicht genügend gewürdigt; sie wurden vielmehr verunglimpft, finanziell nicht unterstützt und in der öffentlichen Debatte außer Acht gelassen. Die heimgekehrten Soldaten mussten mit großen Prestigeverlusten rechnen, nicht selten mit Geringschätzung oder sogar Angriffen von Seiten der Bürger, die den Offizieren nach dem Verfall der Monarchie mit Gewalt die Dienstgrade und kaiserlichen Abzeichen von ihren Uniformen abrissen. Eine Unzahl von mittellosen Kriegsinvaliden, die noch vor Kurzem im Namen des Kaisers und für den Kaiser im Krieg ihr Leben aufs Spiel gesetzt hatten, erschien auf den Wiener Straßen. Über das Schicksal der Kriegsheimkehrer berichteten die zeitgenössischen Zeitungen auf verschiedene Art und Weise, auch auf eine humoristische, wie es z. B. die Wiener Wochenzeitschrift „Die Muskete“ tat. Dass insbesondere dieser vernachlässigende Umgang mit dem Kriegsende zum Untergang der Weimarer Republik geführt habe, ist die Ausgangsthese des neuesten Buches des Düsseldorfer Historikers Gerd Krumeich „Die unbewältigte Niederlage. Das Trauma des Ersten Weltkriegs und die Weimarer
39 Herbert Eulenberg, Grimmelshausen, in: Neue Freie Presse 22244 (1926), S. 1–2, hier S. 2. 40 Jan Assmann, Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität, in: Jan Assmann / Tonio Hölscher (Hg.), Kultur und Gedächtnis, Frankfurt a. M. 1988, S. 9–19. 41 Ebd., S. 10–11. 42 Ebd., S. 11. 43 Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, München 1997, S. 30.
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Abb. 1: Heimkehr aus Ungarn, in: Die Muskete 687 (1918), S. 7.
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Abb. 2: Das dankbare Vaterland, in: Die Muskete 694 (1919), S. 8.
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Republik“. 44 Diese Annahme kann am Beispiel der Kriegsromane verdeutlicht werden – während in den katholischen Kreisen das Problem der Kriegsheimkehrer und ihr patriotischer Heroismus thematisiert wurden, schlugen die linksorientierten Kreise eine andere Saite an. Und während diese pazifistische Saite aus heutiger Sicht vollkommen überzeugend ist, schien sie für die ehemaligen Soldaten benachteiligend zu sein.
Die in der „Neuen Freien Presse“ rezensierten Kriegsromane und -erzählungen (1916–1931) 1916/17 Hans Paasche, „Fremdenlegionär Kirsch“ (Berlin: Scherl) Paul Ilg, „Der starke Mann. Eine schweizerische Offiziersgeschichte“ (Frauenfeld: Huber) Leonhard Frank, „Der Mensch ist gut“ (Potsdam: Kiepenheuer) Andreas Latzko, „Menschen im Krieg“ (Zürich: Rascher) 1918 Victor Auburtin, „Was ich in Frankreich erlebte“ (Berlin: Mosse) Andreas Latzko, „Friedensgericht“ (Zürich: Berlin) 1919 Rudolf Jeremias Kreutz, „Die große Phrase“ (Zürich: Rascher) Karl Kraus, „Weltgericht“ (Leipzig: Kurt Wolff) Fritz von Unruh, „Opfergang“ (1916) (Berlin: Reiß) 1920 — 1921 — 1922 John Dos Passos, „Drei Soldaten“ (Berlin: Malik) 1923 — 1924 — 1925 — 1926 — 1927 Joseph Roth, „Flucht ohne Ende“ (München: Wolff) Arnold Zweig, „Der Streit um den Sergeanten Grischa“ (Potsdam: Kiepenheuer)
44 Vgl. Gerd Krumeich, Die unbewältigte Niederlage. Das Trauma des Ersten Weltkriegs und die Weimarer Republik, Freiburg 2018.
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1928 Ernst Glaeser, „Jahrgang 1902“ (Potsdam: Kiepenheuer) Leo Perutz, „Wohin rollst du, Äpfelchen. . . “ (Berlin: Ullstein) Siegfried Kracauer, „Ginster: Von ihm selbst geschrieben“ (Berlin: Fischer) Joachim Ringelnatz, „Als Mariner im Krieg“ (Berlin: Rowohlt) Jaroslav Hašek, „Die Abenteuer des braven Soldaten Schwejk im Weltkrieg“ (Prag: Adolf Synek) 1929 Alexander Frey, „Pflasterkästen: ein Feldsanitätsroman“ (Berlin: Kiepenheuer) Georg von der Vring, „Camp Lafayette“ (Bremen: Schünemann) Ernst Johannsen, „Vier von der Infanterie. Ihre letzten Tage an der Westfront 1918“ (Hamburg: Fackelreiter) Egon Erwin Kisch, „Als Soldat im Prager Korps“ (Leipzig: Andre) Rodion Markovits, „Sibirische Garnison. Roman unter Kriegsgefangenen“ (Berlin: Propyläen) Erich Maria Remarque, „Im Westen nichts Neues“ (Berlin: Propyläen) Kurt Münzer (alias Georg Fink), „Mich hungert“ (Berlin: Cassirer) Ludwig Renn, „Krieg“ (Frankfurt a. M.: Frankfurter Societäts-Druckerei) Paul Alverdes, „Die Pfeiferstube“ (Frankfurt a. M.: Rütten und Lönig) Alfred Polgar, „Hinterland“ (Berlin: Rowohlt) Karl Federn, „Hauptmann Latour. Nach den Aufzeichnungen eines Offiziers“ (Hannover: Sponholtz) 1930 Ernest Hemingway, „A Farewell to Arms“ (1929) / „In einem anderen Land“ (Berlin: Rowohlt) Adrienne Thomas, „Die Katrin wird Soldat. Ein Roman aus Elsaß-Lothringen“ (Berlin: Propyläen) Edlef Köppen, „Heeresbericht“ (Berlin: Horen) Ludwig Renn, „Nachkrieg“ (Wien: Agis) Konrad Seiffert, „Vormarsch im Osten. Brandfackeln über Polen“ (Hamburg-Bergedorf: Fackelreiter) Georg Bucher, „Westfront 1914–1918. Das Buch vom Frontkameraden“ (Wien: Konegen) Josef Hofbauer, „Der Marsch ins Chaos“ (Wien: Dr. Hans Epstein / Phaidon-Verlag) 1931 Max Brod, „Stefan Rott oder das Jahr der Entscheidung“ (Berlin: Zsolnay) Rudolf Frank, „Der Schädel des Negerhäuptlings Makaua. Kriegsroman für die junge Generation“ (Berlin: Müller & Kiepenheuer) Arnold Zweig, „Junge Frau von 1914“ (Potsdam: Kiepenheuer) Erich Maria Remarque, „Der Weg zurück“ (Berlin: Propyläen)
Alfred Pfoser (Wien)
Die Wiener Feuilletonisten ziehen in den Krieg Das Beispiel Ludwig Hirschfeld
1. Der Krieg und der Feuilletonismus 1 Das Wiener Feuilleton war um 1914 eine längst etablierte Gattung mit einer ehrwürdigen, Jahrzehnte alten Tradition, sie reichte von Joseph Richter über Daniel Spitzer und Ferdinand Kürnberger bis zu Peter Altenberg. Gerade in der Literatur des Wiener Fin-de-siècle genossen die kleinen literarischen Formen, die in Tageszeitungen eingebaut wurden, hohe Wertschätzung und eine neue Blüte. Der Feuilletonismus konnte sehr verschiedene journalistische Genres bedienen, wie Bericht, Reisebilder, Kritiken, Essay, Glosse, Wochenplauderei, Tagebucheintragungen, Interview, Reportage, Rezension, Porträt oder charakteristische Anekdoten. Feuilletonbeiträge zeichneten sich häufig durch eine subjektive, oft meinungsbetonte Schreibweise aus, gaben sich besonders plastischen, detailfixierten Schilderungen hin und loteten Stimmungen und Haltungen in der Gesellschaft aus. Der Autor konnte sich dabei durchaus gemäß den beiden Peter-Altenberg-Buchtiteln „Wie ich es sehe“ (1896) und „Was der Tag mir zuträgt“ (1901) in den Mittelpunkt stellen und seine subjektive Interpretation herausstreichen. Dabei spielten Humor und besonders gewitzte Formulierungen eine wesentliche Rolle; Feuilletons fassten Vorfälle und Beobachtungen in kurze Erzählungen und bauten rund um Anekdoten ein kleines Welttheater auf. Feuilletons waren, frei nach Peter Altenberg, „Extrakte des Lebens und der Seele“. 2 Gerade in der Wiener Tradition waren Feuilletons keine literarisch-künstlerischen Nebenprodukte, viele Verfasserinnen 1 Diese Studie ist Teil eines größeren Projekts über „Die Wiener Feuilletonisten und der Krieg“. Bisher fertiggestellt: Alfred Pfoser, „Was hat Ihnen der Krieg gebracht?“. Die Sozialreportagen des Max Winter im Ersten Weltkrieg, in: Werner Michael Schwarz / Ingo Zechner (Hg.), Die helle und die dunkle Seite der Moderne. Festschrift für Siegfried Mattl, Wien 2014, S. 30–37; Ders., Der Schmock funèbre. Die Kriegsfeuilletons des Felix Salten, in: Sema Colpan u. a. (Hg.), Kulturmanöver. Das k.u.k. Kriegspressequartier und die Mobilisierung von Wort und Bild, Frankfurt a. M. 2015, S. 111–126. 2 In Peter Altenbergs „Selbstbiographie“ heißt es: „Denn sind meine kleinen Sachen Dichtungen?! Keineswegs. Es sind Extrakte! Extrakte des Lebens. Das Leben der Seele und des zufälligen Tages, in 2–3 Seiten eingedampft, vom Überflüssigen befreit wie das Rind im Liebig-Tiegel!“. Peter Altenberg, Auswahl aus seinen Büchern von Karl Kraus, Wien 1932, S. 59.
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und Verfasser stellten sie ganz ins Zentrum ihres Schaffens und verschafften sich durch die regelmäßigen Zahlungen der Zeitungsredaktionen auch eine ökonomische Absicherung. Die Abgrenzung zwischen Feuilleton und anderen kleinen literarischen Formen fällt nicht zuletzt deshalb schwer, weil der Begriff „Feuilleton“ mehrdeutig ist. Einerseits definiert Feuilleton einen bestimmten Teil der Zeitung mit sehr unterschiedlichen Beiträgen, andererseits ist Feuilleton ein Gattungsbegriff, der sich aus stilistischen Kriterien ableitet und auf eine subjektive, assoziative und amüsante Darstellungsweise verweist. Davon abgesetzt, hat der Essay reflexiveren Charakter, betont die stilistisch krudere Sozialreportage den investigativen journalistischen Zugang oder streift die Glosse alles Überflüssige ab. Alle drei Gattungen lassen die für Feuilletons charakteristische Liebe zum Überflüssigen und Detail hinter sich und zielen auf soziale Anklage. Oft werden sie allerdings auch als Feuilletons gehandelt. 3 Was kann an Feuilletons der Kriegszeit interessieren? Sie sind eine bisher wenig entdeckte und genutzte Quelle, die zum Alltag, zu den Stimmungslagen, Propagandaanstrengungen oder besonderen Wahrnehmungsweisen in dieser für die Geschichte Wiens und Österreichs so dramatischen Zeit führt und wertvolle Hinweise für die Mentalitäts- und Alltagsgeschichtsschreibung liefert. Feuilletons können die historiografische Forschung unterstützen, indem sie die Aufmerksamkeit auf bisher wenig beachtete Phänomene lenken. Im Vergleich zu Autobiografien (etwa Stefan Zweigs vielzitierter „Die Welt von gestern“) haben sie den Vorteil, dass sie, ähnlich wie Tagebücher, zeitnah zum Geschehen publiziert wurden, dass sie deshalb unverfälschter eine bestimmte Zeit und Haltung widerspiegeln, weil weniger Bearbeitungsfilter eingebaut sind. Feuilletons geben Schichten der Entwicklung frei, die in der Autobiografie oft wegen der Kontinuitätsbehauptung verdeckt werden. Der Krieg stellte die Feuilletonisten vor eine komplett neue Aufgabe. Die Autorinnen und Autoren wurden, ob es ihnen gefiel oder nicht, gezwungen, sich zum Krieg und der „anbefohlenen schwarz-gelben Begeisterung“ zu verhalten, direkt oder indirekt. Sie konnten sich dem Krieg, der das Leben aller Schichten und Klassen umwälzte, nicht entziehen. Überdies mussten sie sich mit dem Zensurapparat und den Informationsstrategien des Kriegspressequartiers auseinandersetzen. Im Lauf des Krieges ließ sich immer weniger aufrechterhalten, was den Feuilletonismus ausgezeichnet hatte – die Beleuchtung des Abseitigen und Schrulligen, der Plauderton, der Humor, die Beiläufigkeit. Während Feuilletons vor 1914 als „unpolitisches Medium“ gesehen und gepflegt wurden, als Momentaufnahmen vom Alltag jenseits der Politik, erst recht der Parteipolitik, so offenbarte sich im Krieg die Unent-
3 Vgl. Metzler Lexikon Literatur, Stuttgart 32007, S. 237; Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte, Berlin 2007, Bd. 5, S. 582–587.
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rinnbarkeit des Politischen. Der Feuilletonismus behielt zwar seine Methode, das Interessante und das besondere Erlebnis in den Mittelpunkt zu stellen, weiterhin bei, aber das Ergebnis war angesichts des industriellen Krieges immer anachronistischer. Karl Kraus, dem der Feuilletonismus immer schon suspekt war, fand jetzt noch mehr Argumente, ihn zu attackieren: Selbst der von ihm verehrte Peter Altenberg musste wegen seiner Feuilletonsammlung „Nachfechsung“ (1916) und der darin enthaltenen Kriegsfeuilletons den Verwurf der „Verwahrlosung“ 4 einstecken. Viel schlimmer traf Kraus’ Zorn bekanntermaßen Alice Schalek, die er wegen ihres romantischen Kults des Heroischen und Authentischen sowohl in der „Fackel“ als auch in den „Letzten Tagen der Menschheit“ 5 ins Visier nahm. Das Feuilleton geriet, nicht zuletzt durch die Aktivitäten des Kriegspressequartiers, in das breite Geflecht der Mobilisierung. Feuilletons waren seit Kriegsbeginn ein Instrumentarium der Massenbeeinflussung, ihre Verfasser mutierten in der Mehrheit bereitwillig zu vaterländischen Propagandisten, auch um der eigenen Einberufung oder dem Frontdienst zu entgehen. Nicht zuletzt wegen des Prestiges und der Popularität der Autorinnen und Autoren waren Feuilletons ein wichtiger Teil des Kriegs-Diskurses, weil sie vom Kriegsregime angehalten wurden, dem Krieg einen Sinn zu geben. Es war gewiss kein Zufall, dass das Kriegspressequartier Schriftstellerinnen und Schriftsteller in seine Dienste nahm, sie für ihre Dienste in den Zeitungen bezahlte, sie auf Vortragsreisen schickte oder für die Frontberichterstattung engagierte. Die Zeitungen sollten darauf hinwirken, das Volk vor der Kriegsmüdigkeit zu bewahren und Begeisterung und Opferbereitschaft wachzuhalten. Je länger der Krieg allerdings dauerte, desto mehr geriet der Feuilletonismus in ein Dilemma. Der Niedergang ließ sich nicht mehr verschweigen, die Erfahrungen von Tod und Schrecken, von Hunger und Kälte forderten auch von den Feuilletonistinnen und Feuilletonisten neue literarische Strategien. Autorinnen und Autoren, die sich zu Beginn nur allzu gern im Sog des Patriotismus bewegten und sich in der zweiten Kriegsphase für Durchhalte-Parolen einspannen ließen, lavierten zunehmend in Grundsatzfragen, reagierten entsetzt auf die soziale Abwärtsspirale. Selbst Feuilletonisten, die sich wie Felix Salten der Ideologie eines heroischen Ausharrens verschrieben hatten, wandelten sich ansatzweise zu Sozialreportern. Die Siegrhetorik verfing nicht mehr angesichts von Verlustlisten, überfüllten Krankenhäusern und Flüchtlingselend. Feuilletonistische Harmlosigkeit passte nicht zur Realität des Niedergangs. In Feuilletons tauchten düstere Szenarios eines kompletten Zusammenbruchs auf, Feuilletons verbreiteten Kassiber der Verzweiflung und des Defätismus, setzten unterschwellige politische Manifestationen über die
4 Karl Kraus, Hunde, Menschen, Journalisten, in: Die Fackel 431–436 (1916), S. 6–12. 5 Karl Kraus, Die letzten Tage der Menschheit, Berlin 1978, S. 150; Ders., Die wackre Schalek forcht sich nit, in: Die Fackel 406–412 (1915), S. 15–19.
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Misere in Umlauf. Schriftsteller und Publizisten wie Karl Kraus fanden jetzt immer mehr Gehör, die Sozialreportagen eines Max Winter schwenkten offen auf eine kämpferisch pazifistische Linie ein, Alfred Polgar erfand eine neue, zeitgemäße Form des Feuilletons. Was Wunder, dass in einer Zeit, in der sich in Wien die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung tagtäglich um Brot und Kohle anstellte, als Krawalle, Aufstände, Streiks, Beschaffungskriminalität, Revolutionsparolen zunehmend die Stadt erschütterten, die Feuilletonistinnen und Feuilletonisten nachsetzten, die politische Agenda neu zu schreiben. Selbst in den kleinsten Kleinigkeiten waren für sie die Folgewirkungen des Krieges zu erkennen. Der Totale Krieg war auch im Feuilleton angekommen. Im Wien des Ersten Weltkriegs waren die kleinen literarischen Formen ein beliebtes Genre. Allein „Die Fackel“ von Karl Kraus kann als Ansammlung davon gesehen werden. In den Zeitungen waren fast alle Größen der österreichischen Literatur aktiv: Stefan Zweig, Hugo von Hofmannsthal, Hermann Bahr, Raoul Auernheimer, Bertha Zuckerkandl, Alfred Polgar, Anton Kuh, Egon Friedell, Stefan Großmann, Alice Schalek, Eugenie Schwarzwald, Else Feldmann, Bruno Frei, Karin Michaelis, Emil Marriot, Richard Kralik, Rudolf Lothar. Aber auch viele weniger bekannte oder unbekannt gebliebene Autoren haben sich im Feuilleton betätigt: Paul Zifferer, Franz Servaes, Karl Marilaun, Klara Mautner, Paul Czinner, Robert Scheu, Adam Müller-Guttenbrunn, Heinrich Leoster, Claire Patek, Heinrich Holek, Alois Ulreich, Helene ScheuRiesz, Fritz Stüber-Gunther, Rudolf Hawel, Hildegard Burjan, Margarete Müller. 6
2. Die Feuilletons unter Zensur und die Amnesie der Autoren Bald nach Kriegsbeginn fielen in den Zeitungen die Eingriffe der Zensur auf. Vertrauen erweckend war das nicht, gerade angesichts der militärischen Niederlagen, die dann doch ans Licht kamen. Verschweigen ließ sich nicht, was passierte. Das Publikum lernte in diesen Tagen zu verstehen, dass „Lemberg noch in unserer Hand“ die Nachricht vorbereiten sollte: „Lemberg verloren“. 7 Schon zu Kriegsbeginn generierten die Behörden Falschnachrichten und Gerüchte (über Spione, Agenten etc.), um Stimmung zu machen, zugleich hatten die Behörden jede Menge zu tun, um ungelegene Falschmeldungen und Gerüchte zu bekämpfen, was dazu führte, dass die Regierungsstellen selbst nicht mehr wussten, welchen Informationen sie trauen konnten. 8 6 Feuilletons der genannten Autorinnen und Autoren scheinen in der Zeitungsausschnittsammlung der Wienbibliothek im Rathaus auf: Zeitungsausschnittsammlung Erster Weltkrieg / Stimmungsbilder. Digital zugänglich: http://www.digital.wienbibliothek.at/ wk/nav/classification/498625 [letzter Zugriff: 10. 02. 2020]. 7 Vgl. Kraus, Die letzten Tage der Menschheit, S. 82–87. 8 Maureen Healy, Vienna and the Fall of the Habsburg Empire. Total War and Everyday Life in World War I, Cambridge 2004, S. 122–158.
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Wem konnte man glauben? Reichstag und Landtag waren sistiert, die freie Rede der Abgeordneten gab es nicht mehr. Die Zensur knebelte die Presse, was sich an den leeren Flecken in den Zeitungen zeigte. Nach und nach meldete sich auch Protest. Es wurde auf die größere Freiheit der Zeitungen in Deutschland und in Ungarn verwiesen. Die Feuilletonisten wichen auf die Zeitungen in Berlin und Budapest aus. Ludwig Hirschfeld berichtete in einem Feuilleton nach Kriegsende vom Wirken der Zensur im Feuilletonteil. „Der Lieblingsaufenthalt der Zensur war immer der Leitartikel, die politische Glosse zu den Kriegsereignissen“. 9 Aber auch das Feuilleton, so Hirschfelds Erfahrung, war von der Zensur betroffen. Journalistinnen und Journalisten waren konfrontiert mit amtlichen Zensurvorschriften, vertraulichen Zensurvorschriften, mit Vertretern der Ministerien, der Militärbehörden und der Staatsanwaltschaft, die den Zeitungen mündliche und schriftliche Anweisungen und „Ratschläge“ gaben. In den Redaktionskonferenzen wurden rote Linien festgelegt. Natürlich studierten die Journalisten die weißen Flecken in den Zeitungen und lernten daraus. Ein redaktioneller Zensor war als letzte Instanz eingeschaltet; er brachte sich bei den Bürstenabzügen mit roten und blauen Strichen ein. Die Zensur war nicht konstant, sondern Wandlungen unterworfen, wechselte ihre Vorgaben und Eingriffe, bald wucherten die weißen Flecke üppiger, bald bescheidener. Jedes Ding und jedes Ereignis mußte erst diese Geistesmühle passieren: Eisenbahnunfälle, Lawinenkatastrophen, Explosionen, Kriegshunde, Selbstmorde, ausländische Streiks und Wetterberichte. [. . . ] Auch die Erhöhung von Postgebühren und der Tabakpreise mußte geheim gehalten werden. [. . . ] Kein Wort über Lebensmittelpreise, kein Wort über das Anstellen. [. . . ] Und als die Ernährungsverhältnisse sehr arg wurden, half man sich einfach mit einer geradezu klassischen Zensurweisung: Über Lebensmittelmangel und Preissteigerungen darf überhaupt nicht geschrieben werden. [. . . ] Nur kein ungünstiger Eindruck im Ausland, nur keine Beunruhigung der einheimischen Bevölkerung. 10
Die Klagen über die Zensur bzw. die scharfen Anklagen nach Kriegsende waren auch eine Legitimationsstrategie. Die Medien präsentierten sich als Opfer der staatlichen Repression und versuchten zu verschleiern, dass sie über viereinhalb Jahre als Täter in der Informationspolitik fungiert hatten. Vergessen sollte werden, dass sich Journalisten und auch Feuilletonisten im Juli 1914 gerne in die von den Regierungs- und Militärbehörden in Betrieb gesetzte Propagandamaschinerie einreihten, Parolen ausgaben und ihr Prestige verwendeten, um die Leserschaft um das Vaterland zu scharen. Sie drängten damals ins Kriegspressequartier, um dem Fronteinsatz zu entfliehen, oder ließen sich vom Kriegspressequartier für publizistische Spezialaufträge engagieren. Felix
9 Ludwig Hirschfeld, Wo sind die Zeiten. . . Zehn Jahre Wien in Skizzen, Wien 1921, S. 214. 10 Ebd., S. 218–219.
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Salten etwa trat im Juli 1914 als intellektueller Einpeitscher für den Krieg auf; er berief sich auf die Kriegsbegeisterung in der Stadt, um selber für den Krieg zu begeistern. Obwohl er in den Jahren und Monaten zuvor in Pressetexten den Krieg als legitimes Mittel verabscheute, gab er nun in der prestigereichsten Zeitung des Landes, der „Neuen Freien Presse“ vom 29. Juli 1914, auf Seite Eins, direkt unter dem Kriegsmanifest des Kaisers, die Losung für das Land aus: „Es muß sein“. Dies ist eine Aufgabe für alle, die nun daheim bleiben, für Männer wie für Frauen, und wahrlich, sie haben noch keine höhere gehabt. Niemand von uns, die wir jetzt reife Männer sind, hat Tage erlebt wie diesen letzten. Niemand von uns kennt Tage wie die bevorstehenden. Halten wir den guten Geist, der uns jetzt alle durchdringt, fest. Seien wir besonnen, ruhig, aufrecht und nicht allzu laut in großen Worten. Seien wir bereit zu all den Opfern, die uns noch auferlegt werden. Es muß sein! 11
Pauschalurteile über den Feuilletonismus im Ersten Weltkrieg sind unangebracht. Es sind tunlichst die Feuilletonistinnen und Feuilletonisten im Einzelfall zu studieren und genau zu überprüfen, wer was zu welchem Zeitpunkt geschrieben hat. Es stimmt zwar, dass die meisten Autoren in die Kriegsbegeisterung einstimmten, aber erstens waren dies nicht alle, und zweitens waren die Autorinnen und Autoren in ihren Haltungen oft situationselastisch und veränderten ihre Positionen auffallend schnell. Arthur Schnitzler amüsierte sich über diesen journalistischen Opportunismus im Stück „Fink und Fliederbusch“ (uraufgeführt 1917). Selbst wenn sich viele Autoren auffallend lang der offiziellen politischen Linie des „Durchhaltens“ anschlossen, so überraschten sie hier und dort mit gänzlich anderen Botschaften. Das retrospektive Bekenntnis von Ludwig Hirschfeld klingt naiv, trifft aber in seinem ernüchternden Befund die Haltung vieler Kolleginnen und Kollegen: Die Illusion vom ersten Friedenstag hat sich von Jahr zu Jahr verändert. Zuerst, in der berauschten Torheit des Kriegsausbruches, hat man dabei an Sieg, Triumphpforten und Hurrahgeschrei gedacht. Bald ist man bescheidener geworden, hätte gern auf Triumph und Hurra verzichtet und sich mit einem erträglichen raschen Ende begnügt, und schließlich hat man sich vom Frieden überhaupt nichts mehr erhofft, als Heimkehr und Ruhe und Lebensmöglichkeit, Versöhnung, Menschlichkeit und Semmeln. Eine Illusion, eine Erwartung nach der anderen ist abgefallen, wie die Äste vom morschen Baum, bis von den ganzen Friedenshoffnungen nichts übrig geblieben ist, als ein hoffnungsloser Friedensvertrag. Ja, nicht nur der Krieg, auch der Friede sieht in der Nähe ganz anders aus, als wir uns damals vorgestellt haben. 12
11 Felix Salten, Es muß sein, in: Neue Freie Presse 17933 (1914), S. 1–3, hier S. 3. 12 Hirschfeld, Wo sind die Zeiten, S. 263.
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3. Ludwig Hirschfeld 13 Ludwig Hirschfeld war ein sehr produktiver Journalist und Schriftsteller, der sich auch als Komponist betätigte. Wie so manche Kollegen seiner Zeit war er in mehreren Metiers tätig; oft arbeitete er in Kooperation mit anderen Textdichtern. Sein Markenzeichen war die humoristische Unterhaltung. Er war 1910 einer der Gründer des Possentheaters „Max und Moritz“, wo Hans Moser und Armin Berg erste Auftritte hatten. 14 Er schrieb Komödien, die noch nach 1945 auf den Wiener Bühnen aufgeführt wurden. Er arbeitete mit Operettenkomponisten (etwa Oscar Strauss und Alfred Deutsch-German) und Revueproduzenten zusammen, etwa mit Paul Frank in „Stiefmama“ (1926) und „Geschäft mit Amerika“ (1930) oder mit Rudolf Österreicher in „Auslandsreise“ (1932) und „Zwei lachende Augen“ (1933). Seinen publizistischen Fleiß bewies er auch durch seine Herausgebertätigkeit: Die Zeitschrift „Die moderne Welt. Illustrierte Halbmonatsschrift für Kunst, Literatur, Mode“ (1918–1939) beeindruckte als anspruchsvolles, aufwändig gestaltetes Kulturmagazin. Seine Spezialität waren die humoristischen Wien-Feuilletons, die sich bei den Lesern der „Neuen Freien Presse“ großer Beliebtheit erfreuten und im leichten Parlando über Merkwürdigkeiten im Stadtgeschehen und die Marotten der Einwohner berichteten. Diese Feuilletons wurden teilweise zu Auswahlbänden zusammengefasst und in Buchform publiziert. Darüber hinaus wurde sein Stadtführer „Das Buch von Wien“ (1927) innerhalb der Reihe „Was nicht im Baedeker steht“ auf dem Buchmarkt zu einem außerordentlichen Erfolg; eine Fortsetzung und eine Übersetzung folgten. Auch die amüsanten Beziehungsgeschichten von „Manzi und Mully“ (1921) erreichten ein großes Publikum. Ludwig Hirschfeld ist heute nur mehr einem kleinen Kennerkreis bekannt, über seine Biografie wissen wir relativ wenig, eine ausführliche kulturgeschichtliche Würdigung seiner Person gibt es nicht. Er wurde am 21. Mai 1882 in Wien geboren, besuchte die Realschule und die Technische Hochschule. Ab 1906 widmete er sich ausschließlich der schriftstellerischen Tätigkeit, ab 1907 wurde er als regelmäßiger Mitarbeiter der „Neuen Freien Presse“ engagiert. Bei der „Modernen Welt“ arbeitete er 1918 bis 1926 als Chefredakteur, ab 1922 war er als Redakteur an die „Neue Freie Presse“ gebunden. 1938 wurde er ins KZ Dachau gebracht, weil er mit Oscar Hirschfeld, dem Herausgeber der Zeitschrift „Wahrheit“, verwechselt wurde; noch glückte es seiner Ehefrau, ihren Mann heraus zu bekommen. Laut Datenbank des Dokumentationsarchivs des
13 Vgl. Felix Czeike, Historisches Lexikon Wien, Wien 1994, Bd. 3, S. 199. Die Biografie in Czeikes „Historischem Lexikon Wien“ erscheint in manchen Details zweifelhaft. 14 Hans Veigl (Hg.), Luftmenschen spielen Theater. Jüdisches Kabarett in Wien 1890–1938, Wien 1992, S. 61.
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Österreichischen Widerstandes 15 wurde er am 6. November 1942 über Drancy nach Auschwitz abtransportiert. Über weitere Lebensdaten ist nur bekannt, dass er den Holocaust nicht überlebte. Ludwig Hirschfeld gehörte zu den wenigen Autoren, die die literarische Produktion der Kriegszeit nicht versteckten und auch nach 1918 nicht vergessen machen wollten; so war er einer der wenigen Feuilletonisten, die ihre Zeitungsarbeiten gesammelt herausbrachten. 1921 erschien sein Buch „Wo sind die Zeiten. . . Zehn Jahre Wien in Skizzen“, das einen Teil der 1909 bis 1919 in der „Neuen Freien Presse“ publizierten humoristischen Feuilletons abdruckte. Gleichzeitig schwindelte er sich in dem Sammelband über die eigene Beteiligung an der Propaganda hinweg; Feuilletons, die den üblichen Jargon der Kriegszustimmung und Kriegsbegeisterung reproduzierten, wurden verschwiegen und weggelassen. Für diesen Aufsatz wurden nicht nur die im Buch publizierten Beiträge berücksichtigt, sondern auch die, die nur in die „Neue Freie Presse“ Eingang gefunden hatten. 16 Gerade in der Phase des sukzessiven Zusammenbruchs in den Jahren 1917/18 wurde Hirschfeld von der Redaktion vermehrt herangezogen: Sie konnte bei seiner Schreibweise sicher sein, dass er selbst schwierigsten Situationen humorvolle Seiten abgewinnen konnte. Hirschfelds ironische Feuilletons waren die Antwort der „Neuen Freien Presse“ auf den angriffsfreudigen, sozialkritischen Ton der Feuilletons in der immer selbstbewusster auftretenden linken Presse („Arbeiter-Zeitung“, „Der neue Tag“, „Morgen“). Hirschfelds Publikation „Wo sind die Zeiten“ zielte darauf, voller Selbstmitleid den in der österreichischen Geschichte beispiellosen Abstieg der bürgerlichen Mittelklasse zu dokumentieren. In den vor Juli 1914 veröffentlichten Feuilletons war die Welt noch in Ordnung, auch wenn sie Menschen vorführten, die von Statussorgen und vom modernen Leben geplagt wurden. Hirschfeld beschäftigte sich mit Ausschnitten aus dem bürgerlichen Kosmos, die die kleinen Freuden und Vergnügungen des Alltags wiedergaben: Neue Autoomnibusse, die die alten Stellwagen ersetzen, chauffieren unter chaotischen Bedingungen die Stadtbewohner zu den Heurigen ins Ottakringer Liebhartstal. Die Stadtbahn bringt am Sonntag die Stadtbewohner der Natur näher, allerdings in Massen und in Begleitung von Grammofonen, die nun über voll besetzte, ehemals lauschige Wiesen plärren. Junge Männer müssen sich mit kaum bezahlbarer neuer Garderobe eindecken, um auf dem Beziehungsmarkt den Gentleman-Status zu behalten. Das gleiche Thema behandelt Hirschfeld in einem Feuilleton über die Derbys in Krieau und Freudenau: Wer etwas auf sich hält, muss seine Geldbörse strapazieren. Der neu konzipierte Naschmarkt 15 Vgl. http://www.doew.at/erinnern/personendatenbanken/shoah-opfer [letzter Zugriff: 10. 02. 2020]. 16 Ein erstes Sample bildeten die Feuilletons der schon genannten Zeitungsausschnittsammlung zum Thema: Erster Weltkrieg / Stimmungsbilder. Über diese Sammlung hinausgehend wurde die gesamte „Neue Freie Presse“ der Kriegsjahre durchgesehen.
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bringt die Hinterhof-Romantik des Freihaus-Viertels zur Strecke. Zu Schulbeginn lässt ein reger Bazar um alte und neue Schulbücher die Geschäftstüchtigkeit der Schulkinder blühen. Bei Theateraufführungen kassieren Regisseure und Schauspieler den Erfolg, während der Autor nur als Nebenerscheinung behandelt wird. Ehemänner landen bei der „kleinen Sommerfrische“ des südlichen Wienerwalds in den bescheidenen Idyllen der Kleinbürgerlichkeit. 17 Kurzum: Hirschfeld suchte in diesen Milieustudien liebevoll die Highlights der Mittelklassenexistenz zu ergründen, indem er ihren Behaglichkeiten und Genüssen Ironie überstülpte und die familiären Alltagskalamitäten liebe- und verständnisvoll ausmalte. Das aufkommende Freizeitsegment und der Kulturbetrieb bekamen viel Aufmerksamkeit. Die Arbeitswelt kam nur sehr, sehr peripher vor. Hirschfelds Humor machte aus den Mittelschicht-Studien Szenerien eines schrulligen Wohllebens, das sich am bescheidenen Luxus orientierte. Dienstboten und Kindermädchen erleichterten das Leben, aber sie waren die einzigen Lebewesen außerhalb dieser festgefügten, fast geschlossenen städtischen Welt, die komplett politikfern zu leben schien. Hirschfelds soziologische Investigationen bewegten sich ausschließlich im kleinbürgerlichen Globus der Reichshaupt- und Residenzstadt, hatten mit dem Großbürgertum und der Arbeiterklasse nichts zu tun. Besonders gern schilderten sie die Anstrengungen, denen junge Männer dieser Klasse auf dem Beziehungsmarkt ausgesetzt waren. In der Retrospektive wurde diese kleine „Welt von Gestern“ (Stefan Zweig) zum Heilsort. Der Erste Weltkrieg erschien als Vertreibung aus dem Paradies, „das republikanische Wien“ 18 mit der noch weiter verschärften Mangelsituation und der galoppierenden Teuerung wirkte in Hirschfelds Sicht nur als Steigerung der irdischen Hölle. Die politischen Parteien als verantwortliche Instanz bekamen seine ganze Verachtung ab. Der Satz: „So sieht also der Friede aus“ 19 fasste Verzweiflung und Entsetzen zusammen. Hirschfeld schrieb im Vorwort von „Wo sind die Zeiten“: Noch nie und nirgends hat sich wohl eine große Stadt, ein ganzer Menschenschlag in einer kurzen Zeit so gründlich verändert – verändert, um im Grunde dennoch unveränderlich und unverbesserlich zu bleiben. Zwischen dem Wiener von 1909 und dem von 1919 besteht nur eine Ähnlichkeit zwischen der ersten und der dritten Generation einer Familie. [. . . ] Weiß Gott, die Rasse hat sich nicht verbessert, die Familie hat sich bedenklich nach abwärts entwickelt. 20
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Vgl. den Vorkriegsteil von Hirschfeld, Wo sind die Zeiten, S. 15–87. So ist der dritte Teil von Hirschfelds Feuilletons in „Wo sind die Zeiten“ übertitelt. Hirschfeld, Wo sind die Zeiten, S. 262. Ebd., S. 9.
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4. Der ewige Feuilletonist Zu Kriegsbeginn gehörte Hirschfeld zum bürgerlichen Mainstream, der den Krieg willkommen hieß und das erhöhte österreichische Selbstgefühl genoss. Die Aussicht auf Krieg löste kein Gefühl der Beklemmung, sondern der Erleichterung aus. „Die Martialischen und Heftigen haben sich [nach der Ablehnung des Ultimatums – A.P.] gedacht: Endlich, jetzt geht’s los; die Bedächtigeren: Es muß so sein. Aber alle hatten die Empfindung, daß ein längst unerträglich gewordener Zustand jetzt aufhört, daß dies die Erlösung und Befreiung ist“. 21 Im Herbst, als es darum ging, die Mittelklassen für die Erste Kriegsanleihe zu mobilisieren, war Hirschfeld wieder dabei, um euphorisch die begeisternden Aussichten des Wertpapiererwerbs zu schildern: „Das sind jetzt Tage, wo sich jeder ein bißchen als Kapitalist fühlen kann; wo jeder einzelne, und wenn er auch nur mit kleinen Mitteln zu der großen Sache beizutragen vermag, sozusagen zum Bewußtsein kommt, welchen höheren ethischen Kurswert seine paar Gulden Ersparnisse haben“. 22 Nach dem Krieg war das vergessen, auch wenn er im Vorwort seines Feuilletonbandes hervorhob, dass er „einen instinktiven Abscheu vor allem hatte, was Krieg, Militarismus und große Zeit hieß“, und er zur „anbefohlenen schwarz-gelben Begeisterung nicht fähig war“. 23 Als Hirschfeld in den 1920er Jahren in einer Budapester Zeitung die Ignoranz der Wiener Presse gegenüber Karl Kraus beklagte, wies dieser eine Belobigung aus dessen Feder brüsk zurück und erinnerte daran, dass Hirschfelds Hass gegen Militarismus und Imperialismus „allerdings etwas verspätet eingesetzt hat“. 24 Bei allem Snobismus und allen ironischen Verzerrungen, die zu berücksichtigen sind, taugt Hirschfeld als ein brauchbarer kulturhistorischer Führer, der während des gesamten Kriegs die Veränderungen bei den Mittel- und Oberschichten in Miniaturen und Momentaufzeichnungen festhielt. Vielleicht eineinhalb Jahre lang ging es für das Bürgertum noch reichlich akzeptabel, aber schon 1915 konstatierte Hirschfeld, dass Verordnungen alte, liebgewordene Gewohnheiten abstellten und sich die Rituale und Gesprächsthemen in der feineren Gesellschaft veränderten. Niemals zuvor durfte man in der Wiener Gesellschaft so ungeniert und ausführlich über das Essen sprechen wie jetzt in der Kriegszeit; die Gespräche drehten sich selbst bei Männern um die Zubereitung von fleischlosen Menus oder die gestiegenen Preise von Zwiebeln, Eiern und Butter oder die vorrätigen Mehlmengen in der Küche. Spottend 21 Ludwig Hirschfeld, Die letzte Stunde. Zwischen Krieg und Frieden, in: Neue Freie Presse 17930 (1914), S. 13–14, hier S. 13. 22 Ludwig Hirschfeld, Wir zeichnen. Kleine Subskriptionsstudien, in: Neue Freie Presse 18056 (1914), S. 14. 23 Hirschfeld, Wo sind die Zeiten, S. 10. 24 Karl Kraus, Die letzte Nacht. Wien. Vom Mut vor der Presse, in: Die Fackel 613 (1923), S. 87.
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brachte Hirschfeld die neueste Stimmung humoristisch auf den Punkt: „Die Verlobungs-, Scheidungs- und Theaternachrichten hören auf, die einzig interessanten Themen zu sein [. . . ]. Die pikanteste Eheirrung verliert neben der bedrohlichen Situation auf dem Borstenviehmarkt, und der mangelnde Auftrieb an Beinlvieh ist entschieden wichtiger, als das Erscheinen sämtlicher Librettisten bei einer Operettenpremiere“. 25 Hirschfelds sonntägliche Feuilletons stimmten die Wiener Mittelschichten auf die neuen gesetzlichen Vorgaben in der Versorgung ein. Der Humor, der Überlegenheitsgestus, der Kalauer sollten dafür sorgen, ja keine Tragik aufkommen zu lassen. Wenn der Brotkorb am Wirtshaustisch abhanden kam, 26 der Speisezettel die vegetarische Küche aufdrängte, 27 die Brotkarte den Appetit des „starken Essers“ 28 limitierte oder die „fleischlosen Tage“ den „Carnivoren“ 29 bedrängten, dann waren diese Maßnahmen für Hirschfeld jedes Mal Anlass, die Wortmaschine in Betrieb zu nehmen und durch launige Details ironisch die frohe Botschaft von der heiteren Läuterung durch Simplizität, Einschränken und Maßhalten bereitzuhalten. Rhetorisch weniger anstrengen musste sich der Feuilletonist mit der notorisch guten Laune, als „der weibliche Kondukteur“ die Bühne des Wiener Hinterlandes betrat; „ich überlasse den Frauen gern alle Berufe, in denen man wirklich arbeiten muß“, 30 verkündete er lausbübisch. Als der Krieg die Mehrheit der üblichen Sommerfrischler zwang, in Wien zu bleiben, hielt er sich beim Heurigenbesuch an die alte Wiener Weisheit: „Man muß nur achtgeben, daß man nicht nüchtern und vernünftig wird, sonst kommt einem dies alles auf einmal unbegreiflich vor“. 31 Fast demonstrativ genoss Hirschfeld in der zweiten Jahreshälfte 1915 Journalisten-Privilegien, konnte ins Deutsche Reich und anschließend zu einem wochenlangen Aufenthalt in die Schweiz reisen, betonte dabei hoch erfreut die Fülle der Angebote, die ihm zur Verfügung standen, und produzierte sich in der Rolle des humorvollen, gut gelaunten Lebemenschen. Er mochte sich über die enorm gestiegenen Preise bei Taxifahrten echauffieren, aber 25 Ludwig Hirschfeld, Einkaufen. Ein Marktbericht, in: Neue Freie Presse 18201 (1915), S. 17–18, hier S. 18; vgl. ferner Ders., Das einzige Gesprächsthema. Einige Kostproben, in: Neue Freie Presse 18663 (1916), S. 18–19. 26 Vgl. Ludwig Hirschfeld, Der Brotkorb. Kriegsbetrachtung vom Semmelstandpunkt, in: Neue Freie Presse 18090 (1915), S. 17. 27 Vgl. Ludwig Hirschfeld, Der einfache Speisezettel. Winke für Hausfrauen und Esser, in: Neue Freie Presse 18118 (1915), S. 17. 28 Ludwig Hirschfeld, Die Brotkarte des Junggesellen. Erfahrungen eines starken Essers, in: Neue Freie Presse 18194 (1915), S. 16. 29 Ludwig Hirschfeld, Fleischlose Tage. Vegetarische Anwandlungen, in: Neue Freie Presse 18239 (1915), S. 13–14, hier S. 13. 30 Ludwig Hirschfeld, Der weibliche Kondukteur. Winke für männliche Fahrgäste, in: Neue Freie Presse 18249 (1915), S. 18. 31 Ludwig Hirschfeld, Urlaub zwischen Mauern. Stadtsommerstimmungen, in: Neue Freie Presse 18298 (1915), S. 17–18.
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letztlich setzte der Krieg dem Snob und Charmeur noch nicht wirklich zu. 32 In der Kaiserstadt Bad Ischl suchte er die Kaffeehäuser und Konditoreien auf und konstatierte zufrieden, dass die Stadt reichlich verproviantiert sei. 33 München gefiel ihm wegen der niedrigen Preise, 34 in Zürich fielen ihm die mageren, geschminkten Pariserinnen auf. 35 In den Vororten Wiens herrschte zur gleichen Zeit in Folge der mangelhaften Lebensmittelzufuhr bereits Hunger, stellten sich in den Nächten Tausende vor Geschäften und Marktständen an. Die Wiener Stadtverwaltung versuchte mit dirigistischen Maßnahmen, das Versorgungschaos einigermaßen in den Griff zu bekommen. Es war kein Wunder, dass Hirschfelds Ignoranz und provokante Entspanntheit Polemiken produzieren mussten. Die „Arbeiter-Zeitung“ höhnte über das Maß an „selbstgefälliger Schmockerei“ 36 und empörte sich über eine Haltung, die noch 1916 die Versorgungsprobleme kleinredete und die Klischees vom „feschen, gemütlichen Wiener“ 37 in neuen Abwandlungen tradierte. Mit Fortdauer des Krieges wurde Hirschfelds Ton nüchterner, elegischer. Der Steckrübenwinter 1916/17, vom Autor im Feuilleton „Die konfuse Woche“ verniedlicht, 38 war ein Vorgeschmack auf das Ende des Krieges. Bitterkeit und Verzweiflung wurden jetzt spürbare Ingredienzien der Humoresken, der Verdruss mischte die Ironie auf. Der Humor tendierte nun zum Galgenhumor, das arglose Feuilleton rückte näher an die Sozialreportage heran. 39 Das hatte natürlich damit zu tun, dass mittlerweile das Elend im Wiener Bürgertum und damit bei ihm selber angekommen war. Der Blick über die Standesgrenzen kam aber trotzdem nicht in Frage, seine Sozialisation und die ihm von der Zeitung zugewiesene Rolle gestatteten ihm nicht, über die eigene Herkunft hinauszublicken und den prekären Zustand der ganzen Stadt in seine feuilletonistischen Überlegungen einzubeziehen. Er versuchte bis zum Schluss und darüber hinaus, den Humoristen im bürgerlichen Reservat zu mimen, der die Verarmung am eigenen Leib, die Verwahrlosung Wiens und die Eingriffe des Kriegssozialismus in literarischer Distanz zu halten suchte. 32 Vgl. Ludwig Hirschfeld, Erster Reisetag. Notizbuch Wien-Ischl, in: Neue Freie Presse 18312 (1915), S. 17. 33 Vgl. Ludwig Hirschfeld, Ischler Brief an eine Dame, in: Neue Freie Presse 18326 (1915), S. 18. 34 Vgl. Ludwig Hirschfeld, Das billige München, in: Neue Freie Presse 18340 (1915), S. 16. 35 Vgl. Ludwig Hirschfeld, Wiener Brief aus Zürich, in: Pester Lloyd 349 (1915), Jg. 62, S. 1– 2, hier S. 2. 36 N.N., Der ewige Feuilletonist, in: Arbeiter-Zeitung 230 (1915), Jg. XXVII, S. 6 37 N.N., Der wohlgenährte Herr Ludwig Hirschfeld, in: Arbeiter-Zeitung 186 (1916), Jg. XXVIII, S. 4. 38 Vgl. Ludwig Hirschfeld, Die konfuse Woche. Stimme aus dem Publikum, in: Neue Freie Presse 18855 (1917), S. 15–16. 39 Vgl. z. B. Ludwig Hirschfeld, Frühling mit Hindernissen. Eine gereizte Schwärmerei, in: Neue Freie Presse 18904 (1917), S. 16; Ders., Die Neujahrsnacht eines Unglücklichen. Eine Geschichte mit Moral, in: Neue Freie Presse 19165 (1917), S. 10–11.
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Hirschfelds Feuilletons faszinieren noch heute, weil sie Details im Wiener Kriegsleben veranschaulichen: die abhanden kommende Sommerfrische, 40 die behördlichen Inspektionen der Haushalte, 41 die Marktbesuche, 42 die Einrichtung von Kriegsküchen, 43 die finsteren Abende, 44 die Rationierungen, 45 das neue „Hundeleben“, 46, die merkwürdigen Kuren in Marienbad, 47 der neue Beziehungsmarkt mit vergrämten, heiratsunwilligen Männern, 48 die Hamsterfahrten nach Preßburg, 49 das Ende des „Lebemannes“, 50 die simplifizierten Vergnügungen im Kriegsprater, 51 die Auswirkungen der Kleiderkarte, 52 die Fülle von Unannehmlichkeiten und Vorschriften, 53 die Verwandlung der
40 Vgl. Ludwig Hirschfeld, Sommerwohnung gesucht, in: Neue Freie Presse 18614 (1916), S. 15–16; Ders., Urlaub auf dem Gänsehäufel. Ein bescheidenes Erholungsprogramm, in: Neue Freie Presse 18677 (1916), S. 17–18; Ders., Erholung nach Möglichkeit. Sommerregeln für 1917, in: Neue Freie Presse 18945 (1917), S. 10; Ders., Gespräche vor dem Kaffeehaus. Kleine Dialoge aus dem vierten Kriegssommer, in: Neue Freie Presse 19007 (1917), S. 13; Ders., Auskunft über Sommerfrischen. Ratgeber für Erholungsbedürftige, in: Neue Freie Presse 19340 (1918), S. 11–12; Ders., Sommer in Wien. Ein Juliabendbummel, in: Neue Freie Presse 19368 (1918), S. 9; Ders., Ankunft im Wiener Hinterland. Die ersten Eindrücke, in: Neue Freie Presse 19028 (1917), S. 11–12. 41 Vgl. Ludwig Hirschfeld, Die verbotenen Dinge. Lebensweisheit eines Aengstlichen, in: Neue Freie Presse 18733 (1916), S. 15. 42 Vgl. Ludwig Hirschfeld, Der Ernährungsdetektiv. Ein Versuch im freiwilligen Marktdienst, in: Neue Freie Presse 19145 (1917), S. 12. 43 Vgl. Ludwig Hirschfeld, Ich esse zu viel. Blicke in verschiedene Kriegsküchen, in: Neue Freie Presse 18628 (1916), S. 16. 44 Vgl. Ludwig Hirschfeld, Die dunklen Abende. Betrachtungen im Finstern, in: Neue Freie Presse 18848 (1917), S. 16. 45 Vgl. Ludwig Hirschfeld, Die Karte für Alles. Vorschläge eines Hamsters, in: Neue Freie Presse 18979 (1917), S. 10–11. 46 Ludwig Hirschfeld, Hundeleben. Nahrungssorgen der Tiere, in: Neue Freie Presse 19132 (1917), S. 10–11, hier S. 10. 47 Vgl. Ludwig Hirschfeld, Verfettungskur. Diätbilder aus Marienbad, in: Neue Freie Presse 19035 (1917), S. 10–11. 48 Vgl. Ludwig Hirschfeld, Nur das Nötigste. Zeitgemäße Ehestudie, in: Neue Freie Presse 18789 (1916), S. 15; Ders., Der häusliche Mann. Junggesellenwirtschaft, in: Neue Freie Presse 19197 (1918), S. 11; Ders., Gute Köchin gesucht. Männliche Hausfrauensorgen, in: Neue Freie Presse 19417 (1918), S. 9–10. 49 Vgl. Ludwig Hirschfeld, Die Reise nach Preßburg. Hungrige Eindrücke eines Wieners, in: Neue Freie Presse 18938 (1917), S. 10–11; Ders., Der zeitgemäße Schulaufsatz. Eine Stilübung am Schulbeginn, in: Neue Freie Presse 19062 (1917), S. 12. 50 Ludwig Hirschfeld, Der letzte Lebemann. Eine Luxuselegie, in: Neue Freie Presse 19076 (1917), S. 10–11, hier S. 11. 51 Vgl. Ludwig Hirschfeld, Wurstelprater in Moll. Unterhaltungsversuch eines Melancholikers, in: Neue Freie Presse 19286 (1918), S. 10–11. 52 Vgl. Ludwig Hirschfeld, Die gutsitzende Kleiderkarte. Gebrauchsanweisung zur Bedarfsbescheinigung, in: Neue Freie Presse 19083 (1917), S. 11–12. 53 Vgl. Ludwig Hirschfeld, Der gereizte Konsument. Eine unwahrscheinliche Geschichte, in: Neue Freie Presse 19090 (1917), S. 11.
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Geldwirtschaft in den Tauschhandel, 54 die Kriegsgrobheiten, 55 den Nikotinentzug. 56 Noch immer mimte er den Lebemann, zumindest rhetorisch hielt er dem Einbruch der Kriegswirklichkeit stand, aber nimmt man die geschilderte materielle Ebene wörtlich, setzte ihm der Niedergang immer deutlicher zu. Der zunehmend spartanische Charakter des Alltags und der behördlich verfügte Kampf gegen den Luxus fanden in seinen Feuilletons energischen Einspruch. Was war die Welt wert, wenn sich sogar die Wiener Hoteliers freiwillig dazu entschlossen, so vieles aufzugeben: „Abschaffung der Speisenkarte, Einführung eines bescheidenen Einheitsmenüs, Schließung aller Teeräume, Bars, überhaupt aller Luxuslokalitäten, Verstummen der Nachmittags- und Abendkonzerte, Entlassung der überflüssigen Angestellten, wie Boys, Grooms, Türsteher und Neger“. 57 Es wirkt erstaunlich, welche Sorgen den Feuilletonisten in einem Wien plagten, das knapp vor dem totalen Kollaps stand und in dem sich die Regierung vor dem revolutionären Umsturz fürchtete. Am öftesten war jetzt von ihm die Klage über die Teuerung zu hören. Die Ersparnisse waren aufgezehrt, die Preise gestiegen, viele Waren wie Seifen nicht mehr erhältlich, gewohnte Serviceleistungen wie die Kleiderreinigung dürftig. 58 Der Vergleich zwischen den „kleinen Ausgaben einst und jetzt“ war immer Thema seiner Feuilletons; nach der vergleichenden Lektüre der Ausgabenbücher scheint es mir unfaßbar, daß ein Mensch und seine Lebensführung sich im Laufe von sieben Jahren bis zur Unkenntlichkeit verändern können. Von Zylindern, Dienstmännern, Redouten und Autos ist in dem Notizbuch von 1918 kein Wort enthalten, aber um so mehr vom Allernotwendigsten und Gewöhnlichsten, vom Kampf mit den größenwahnsinnig gewordenen Kleinigkeiten. Alles, was wir seit Jahresbeginn an Mindest-, Richt- und Höchstpreisverordnungen, Abbauversuchen, Irrtümern, Mißgriffen und Versäumnissen durchgemacht haben, das spiegelt sich ganz deutlich in dem kleinen Notizbuch. Diese bescheidenen privaten Aufzeichnungen werden plötzlich zu einem lehrreichen Wirtschaftsdokument, zu einem Sammelwerk unserer Steigerungen und Teuerungen, die man eigentlich in übersichtlichen Kurven darstellen müßte. Beispielsweise die Butterkurve: Sie beginnt bei 35 Kronen, 55, 70, 80 Kronen. [. . . ] Oder die Nachtmahlkurve: 14, 19, 27, 41 – es sind direkt Fiebertemperaturen der Teuerung. Auf diese Art ließen sich noch alle möglichen Kurven aufzeichnen: Obst-, Salami-, Handschuh-
54 Vgl. Ludwig Hirschfeld, Kettenhandel. Eine kostspielige Geschichte, in: Neue Freie Presse 19104 (1917), S. 13–14. 55 Vgl. Ludwig Hirschfeld, Umgang mit Lieferanten. Winke für Kunden, in: Neue Freie Presse 18754 (1916), S. 15. 56 Vgl. Ludwig Hirschfeld, Die rayonierte Leidenschaft. Gedanken über die Raucherkarte, in: Neue Freie Presse 19279 (1918), S. 9. 57 Hirschfeld, Der letzte Lebemann, S. 11. 58 Vgl. Ludwig Hirschfeld, Das Ausgabenbuch. Soll und Haben eines Junggesellen, in: Neue Freie Presse 18526 (1916), S. 13–14.
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und Krawattenkurven, eine graphische Darstellung der Kriegswirtschaft, in der sich nur ein Geometer oder ein Kriegsgewinner zurechtfindet. Und dabei habe ich noch nie so sparsam, zurückgezogen und schäbig gelebt, noch nie so einschichtig und ledig. Wer kann sich denn heutzutage noch ein Nachtmahl zu zweit erlauben. Nicht nur die Mayonnaisen und die Oberkellner, auch die Mädchen haben sich zu unserem Nachteile verändert. 59
Nur auf den ersten Blick mutet es etwas überraschend an, dass das Kriegspressequartier den Wiener Humoristen und Stadtchronisten engagierte, dem Hinterland Eindrücke von der Front zu liefern. Seine Verpflichtung war Garantie dafür, dass die Realität das Feuilleton nicht mit Tristesse und Brutalität füllte, sondern auch der Humor als Trostmittel zum Einsatz kam. Zumindest zweimal 60 war der zum Kriegsberichterstatter avancierte Ludwig Hirschfeld direkt hinter den Kampfgebieten im journalistischen Dienst, einmal zusammen mit Kaiser Karl in Südtirol im Suganer Tal, 61 einmal in Ostgalizien. 62 Hirschfeld löste ein, was sein Markenzeichen versprach: Den humoristischen Ton der Stadtreportagen behielt er auch in den Frontberichten bei, diesmal verstärkt durch eine Mischung von Realismus und zweckoptimistischem Patriotismus. Allerdings trug er im Fall seines Feuilletons über das wieder eroberte Lemberg zu viel an Schminke auf, so dass der Regierungskommissär gegen das Märchen vom heiteren, satten Lemberg lautstark in aller Öffentlichkeit protestierte. Karl Kraus hatte mit diesem Brief, der sich gegen das Eskamotieren von Not und Elend wendete, ein sprechendes Beweisstück für die Verkommenheit des Wiener Feuilletonismus in den Händen. 63 Im Herbst 1918 war dann der Verdruss über den urbanen Zusammenbruch auch bei Hirschfeld allgegenwärtig. Statt Humor setzte es jetzt zynischen Frohsinn: Es ist wirklich kein Grund zum Nörgeln und Raunzen. Man kann sich sehr gut vorstellen, wie lustig und gemütlich das Wiener Leben ohne Straßenbahn werden wird. Wien wird zum großen Dorf mit allen seinen Reizen, bis auf Milch, Butter und ähnliche Kleinigkeiten. Mit einem Wort, die gute alte Zeit der Trentsensky-
59 Ludwig Hirschfeld, Das alte Notizbuch. Kleine Ausgaben einst und jetzt, in: Neue Freie Presse 19424 (1918), S. 9–10, hier S. 9. 60 Ein Feuilleton verweist auf einen weiteren Frontaufenthalt. Vgl. dazu Ludwig Hirschfeld, Heimkehr. Letzte Eintragung ins Sommernotizbuch, in: Neue Freie Presse 18691 (1916), S. 16. 61 Vgl. Ludwig Hirschfeld, Suganer Tal. Kleine Frontbilder, in: Neue Freie Presse 19008 (1917), S. 1–3; Ders., Suganer Tal. Kleine Frontbilder, in: Neue Freie Presse 19015 (1917), S. 1–2. 62 Vgl. Ludwig Hirschfeld, Vormarsch. Fragmente aus Ostgalizien, in: Neue Freie Presse 19028 (1917), S. 4–5. 63 Karl Kraus, Man promeniert, politisiert, man knabbert Süßigkeiten, in: Die Fackel 462 (1917), S. 124–127.
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bogen 64 ist wieder da, nur die Bilder, Szenen und Typen sind anders: schlecht genährt, schlecht gelaunt, schlecht erzogen, gereizt, nervös, aber sonst sind es sehr nette, lustige Typen. 65
Voller Faszination bestaunte Hirschfeld im November 1918, wie Beginn und Ende des Krieges am gleichen Ort ihre geschäftige Kulmination fanden. „Im Bahnhof hat der Krieg begeistert und hochtrabend begonnen, hier geht er jetzt konfus und armselig zu Ende: Hier ist die Eingangs- und die Ausgangspforte des vierjährigen Inferno“. 66 Hirschfeld schlüpfte in die Rolle des Sozialreporters, der das Menschenchaos des Kriegschaos schilderte. Die Wiener Bahnhöfe waren zu Drehscheiben für hunderttausende heimkehrende Soldaten geworden. Hirschfelds snobistischer Humor fehlte hier völlig; zu Ende konstatierte er pathetisch-pazifistisch: „Nie wieder dürfen Zeiten wie diese kommen. Nie wieder darf es Menschenmaterial geben“. 67 Ludwig Hirschfelds Kriegsfeuilletons, die so detailverliebt über den Alltag der Wiener Mittelschichten erzählen, sind in der Mehrheit durchaus typische Produkte aus der „großen Zeit“. Am Anfang waren sie auf Begeisterung getrimmt, am Ende setzte sich fundamentale Ernüchterung durch. In der Mehrheit schwankten sie zwischen „Durchhalte“-Stimmung, Raunzerei über Teuerung, Klagen über Entbehrungen und Lamenti über Einschränkungen, aber auch ein Stück Pazifismus war enthalten. Sein schillernder Humor verstand es, verschiedene Komponenten zu vermischen und sich nicht eindeutig zu deklarieren. Gewitzte Distanz war gewissermaßen Hirschfelds Ressort in der Zeitung und diente als Kostümierung der Tristesse, um zumindest in einem Augenblick der Welt zu entfliehen. Wie politisch brisant dieser bürgerliche Jammer für die Akzeptanz der „jungen Republik“ und „sozialen Demokratie“ war, gab sein Feuilleton zur ersten Republikfeier am 12. November 1919 zu erkennen, das angesichts der jüngsten Vorfälle in den Bürgerhäusern und den Aktionen der Stadtverwaltung, den Wohnungskommissionen der Arbeiterund Soldatenräte und den Umbenennungen der Wiener Straßennamen, zum Schluss kam: „Weiß Gott, ich bin ein guter Republikaner, ich war es sogar schon zu einer Zeit, wo es noch keine Republik gegeben hat, aber meine Brust will sich heute absolut nicht froh schwellen. [. . . ] Gibt’s denn gar keinen Ausweg aus dieser beängstigenden Freiheit?“. 68
64 Bunte Bilderbögen mit historischen Figuren in lustigen Szenen und idealen Landschaften, produziert von der Firma Trentsensky. 65 Ludwig Hirschfeld, Wien ohne Straßenbahn. Altwiener Bilderbogen von heute, in: Neue Freie Presse 19389 (1918), S. 10. 66 Ludwig Hirschfeld, Die Heimkehr der Soldaten. Wiener Bahnhofbilder, in: Neue Freie Presse 19469 (1918), S. 1–2, hier S. 1. 67 Ebd., S. 2. 68 Ludwig Hirschfeld, Der verwirrte Bürger. Ein Mittelstandsmonolog, in: Neue Freie Presse 19836 (1919), S. 7.
Rico Largiadèr
(Universität Bern)
„Füsilier Wipf“ – eine Novelle im Geiste der nationalen Erziehung 1. Einführung und These 1917 erschien im zehnten Band der Sammlung „Schweizerische Erzähler“ im Schweizer Verlag Huber & Co. die Novelle „Füsilier Wipf. Eine Geschichte aus dem schweizerischen Grenzdienst“. 1 Erstmals wurde sie 1915 unter dem schlichten Titel „Füsilier Wipf“ in der vom Schweizerischen Schriftstellerverein herausgegebenen und der Schweizer Armee gewidmeten Anthologie „Grenzwacht“ 2 abgedruckt. Bereits in dieser Sammlung von ausgewählten literarischen Prosatexten hatte Robert Faesis 3 Novelle einen besonderen Stellenwert. Füsilier Wipfs Leben und Taten machen nicht nur ein Drittel der ganzen Anthologie aus, sondern die Geschichte wurde im Feuilleton der „Neuen Zürcher Zeitung“ von Eduard Korrodi 4 auch am ausführlichsten besprochen und 1 Robert Faesi, Füsilier Wipf. Eine Geschichte aus dem schweizerischen Grenzdienst, Frauenfeld 1917. 2 Robert Faesi, Füsilier Wipf, in: Grenzwacht. Der schweizerischen Armee gewidmet vom Schweizerischen Schriftstellerverein, Frauenfeld 1915, S. 21–125. 3 Robert Faesi (1883–1972) war ein Schweizer Schriftsteller und promovierter Germanist, der ab 1942 eine ordentliche Professur für neuere deutsche und schweizerische Literatur an der Universität Zürich innehatte. Sein literarisches Werk umfasst Tragödien, Gedichte und Romane. Zu seiner bekanntesten literarischen Produktion zählt die Novelle „Füsilier Wipf“. Faesi hatte großen Einfluss auf die schweizerische Kulturpolitik, so u. a. in seiner Funktion als Präsident des Schweizerischen Schriftstellervereins oder als langjähriger Aufsichtsrat der Schweizerischen Schillerstiftung. Vgl. Rosmarie Zeller, Robert Faesi, in: Historisches Lexikon der Schweiz, URL: https://beta.hls-dhs-dss.ch/ Articles/011779/?language=de [letzter Zugriff: 10. 02. 2020]. 4 Eduard Korrodi (1885–1955) war promovierter Germanist und nahm 1915 seine Tätigkeit als Feuilletonredakteur bei der „Neuen Zürcher Zeitung“ auf. In seiner 35 Jahre dauernden redaktionellen Arbeit bei der „Neuen Zürcher Zeitung“ schloss er nicht nur persönliche Bekanntschaften mit Größen der Weltliteratur, sondern war auch durch seinen Einsitz in kulturellen Vereinen und Kommissionen ein einflussreicher Entscheidungsträger auf nationaler Ebene, wenn es um Ehrungen, Preisverleihungen, Stipendien und dergleichen Unterstützungen für Schweizer Schriftstellerinnen und Schriftsteller ging. 1928 übernahm er die Leitung der Feuilletonredaktion der „Neuen Zürcher Zeitung“ und avancierte endgültig zum allmächtigen literarischen Richter, der über Sein oder Nichtsein entschied, was wiederum einer vielfältigen Polemik gegen seine Person den Weg ebnete. Vgl. Helen Münch-Küng (Hg.), Eduard Korrodi. Ausgewählte Feuilletons, Bern 1995, S. 11–38.
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als „geistreich“ sowie „besonders liebenswert“ 5 für die Leserschaft gepriesen. 1938, also etwas mehr als zwanzig Jahre später, als erneut dunkle Kriegswolken über Europa aufzogen, wurde auf der Grundlage der Novelle der erste Film im Dienst der Geistigen Landesverteidigung 6 produziert, der in allen Landesteilen der Schweiz zum Kassenknüller avancierte. Bereits drei Monate nach Kinostart hatte er 450.000 Personen angelockt und seither haben ihn über 1,2 Millionen gesehen. Bis dato hält er den Zuschauerrekord der gesamten schweizerischen Filmproduktion. 7 Gegen Ende September 1938, unmittelbar nach der Uraufführung, als der Streifen bereits an vielen Orten zu sehen war, ließ Faesi seine Novelle in veränderter Form und unter leicht angepasstem Titel erneut im Verlag Huber & Co. erscheinen. 8 Im Sinne der Filmhandlung erweiterte er sie um mehr als ein Drittel mit zusätzlich 16 Fotografien aus der Verfilmung zur Illustration der Handlung. Im Gegensatz zur früheren Fassung, die in der Mitte des Grenzdienstes abbricht, schildert die neue die Grenzbesetzung der Schweizer Armee bis zum Ende des Ersten Weltkrieges und thematisiert dabei „die kritische Zeit des Militärkollers, der Grippe-Epidemie, bis zum Friedensschluss“. 9 Faesi schrieb im Herbst 1915, während seines Aktivdienstes, die Novelle nieder. 10 Er war zu dieser Zeit Subalternoffizier im Vortragsbüro beim Stab der Schweizer Armee. 11 Das Vortragsbüro wurde von Gonzague de Reynold 12
5 Eduard Korrodi, Feuilleton. Grenzwacht, in: Neue Zürcher Zeitung 1696 (1915), S. 1. 6 Als Geistige Landesverteidigung wird eine in der Schweiz in den 1930er Jahren beginnende und in den sechziger Jahren endende politisch-kulturelle Bewegung bezeichnet. Sie sollte zur Stärkung der als schweizerisch deklarierten Werte beitragen und zur Abwehr der faschistischen, nationalsozialistischen und kommunistischen Totalitarismen dienen. Vgl. Marco Jorio, Geistige Landesverteidigung, in: Historisches Lexikon der Schweiz. 7 Vgl. Peter Neumann, Im patriotischen Dienst. „Füsilier Wipf“ als Film der Geistigen Landesverteidigung, in: Konrad J. Kuhn / Béatrice Ziegler (Hg.), Der vergessene Krieg. Spuren und Traditionen zur Schweiz im Ersten Weltkrieg, Baden 2014, S. 233–246, hier S. 233. 8 Vgl. Robert Faesi, Füsilier Wipf. Erzählung aus der schweizerischen Grenzbesetzung. Neue, weitergeführte Fassung, Frauenfeld 1938. 9 Robert Faesi, Erlebnisse – Ergebnisse. Erinnerungen von Robert Faesi, Zürich 1963, S. 273–274. 10 Vgl. Einleitung zur Radiovorlesung aus „Füsilier Wipf“ von Robert Faesi (am 24. Juni 1938), Zentralbibliothek Zürich: Nachlass Robert Faesi 27.8. 11 Reynold hat Faesi am 20. Oktober 1915 ins Vortragsbüro beordert. Vgl. Brief von Gonzague de Reynold an Robert Faesi (vom 29. September 1915), Zentralbibliothek Zürich: Nachlass Robert Faesi 245.1. 12 Gonzague de Reynold (1880–1970), ein Freiburger Aristokrat, Schriftsteller und Intellektueller, war einer der Gründerväter der Neuen Helvetischen Gesellschaft, die sich am ersten Februar 1914 in Bern konstituierte und sich den Wahlspruch „Pro helvetica dignitate ac securitate“ auf die Fahne schrieb. Mit einem ihrer nationalistisch gefärbten Grundsätze bezweckte die Neue Helvetische Gesellschaft, „das nationale Erbgut zu wah-
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geleitet, der in seiner Funktion direkt Ulrich Wille, dem Oberbefehlshaber der Schweizer Armee im Ersten Weltkrieg, unterstellt war. Trotz seiner Dienstuntauglichkeit wurde Reynold von General Wille mit dieser militärischen Aufgabe betraut und von ihm sogar zum Major befördert, wodurch er doch noch zu militärischen Ehren kam und die Familientradition fortführen konnte. 13 Faesi entstammte wie Reynold einem alten Patriziergeschlecht. Die gemeinsame soziale Herkunft mag identitätsstiftend zwischen beiden gewirkt haben und förderlich für die zeitlebens andauernde Freundschaft gewesen sein. 14 Jedenfalls offenbart Faesi in seiner Novellenkonzeption eine geistige Grundhaltung, die vollends im Zeichen der Zielsetzung des Vortragsbüros, „Schweizer zu erziehen, Schweizer im vollen Sinne des Wortes, und ganz besonders solche, die sich ihrer Pflichten gegenüber dem Vaterland, der Armee und dem Staate bewußt sind“, 15 steht und diesbezüglich seine Nähe zu Reynolds neohelvetischem Nationalismus 16 erkennen lässt.
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ren, die vaterländischen Gedanken zu stärken und der Schweiz eine würdige Zukunft zu gewähren“, was sie u. a. durch Förderung der nationalen Erziehung erreichen wollte. Catherine Guanzini / Peter Wegelin, Kritischer Patriotismus. Neue Helvetische Gesellschaft 1914–1989, Bern 1989, S. 16. Im ersten Kriegsjahr wurde das Vortragsbüro durch die Neue Helvetische Gesellschaft organisiert, wofür sie extra Reynold der Armeeführung zur Verfügung gestellt hatte. Vgl. Gonzague de Reynold u. a. (Hg.), Soldat und Bürger. Ein Beitrag zur nationalen Erziehung des Schweizers, mit einem Vorwort des Generals, Zürich 1916, S. VI–VII. In den 1930er Jahren avancierte Reynold „zum führenden Ideologen des autoritären Staates in der Schweiz“. Aram Mattioli, Gonzague de Reynold – Vordenker, Propagandist und gescheiterter Chef der „nationalen Revolution“, in: Ders. (Hg.), Intellektuelle von rechts. Ideologie und Politik in der Schweiz 1918–1939, Zürich 1995, S. 135–156, hier S. 139. Als Berater von Bundesrat Philipp Etter, Schweizer Innenminister und demzufolge für die Kulturpolitik der Schweiz verantwortlich, nahm er eine kulturpolitische Schlüsselposition in der Eidgenossenschaft ein. In dieser Funktion vermochte Reynold starke ideologische Akzente in der Geistigen Landesverteidigung zu setzen, und zwar im Sinne eines neohelvetischen Nationalismus, den er bereits am Vorabend des Ersten Weltkrieges vertreten und massgeblich geprägt hatte. Vgl. Aram Mattioli, Zwischen Demokratie und totalitärer Diktatur. Gonzague de Reynold und die Tradition der autoritären Rechten in der Schweiz, Zürich 1994, S. 242–244. Vgl. ebd., S. 91–92, 95. Vgl. Gonzague de Reynold, Mes mémoires, Genève 1963, Bd. III, S. 203–204. Reynold, Soldat und Bürger, S. VIII. Der neohelvetische Nationalismus ist aus einer kulturpessimistischen Zeitströmung in der Schweiz, die wenige Jahre vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges zurückreicht, entstanden. Dabei handelt es sich um ein von Reynold entwickeltes Konzept der nationalistischen Krisenbewältigung. Mit neuen helvetischen Werten sollte die Schweiz vor einer gefährlichen Existenz- und Wertekrise bewahrt werden, die Reynold bedrohlich für den inneren Zustand der Schweiz erschien und die er mit demjenigen der alten Eidgenossenschaft kurz vor ihrem Zusammenbruch im Jahr 1798 verglich. Im fortschreitenden Bedeutungsverlust der Bauern, die ihr Einkommen nun in Fabrikhallen verdienen mussten, sah er eine durch die Industrialisierung verursachte Fehlentwicklung, die ihn zu seiner Modernisierungskritik veranlasste. Im Bedeutungsverlust der Bauernschaft
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Faesis Novelle repräsentiert einen politischen Wandel in der damaligen Schweiz, der im Zeichen einer nationalen Integrations- und Identitätsideologie steht. Das Erstarken eines kollektiven Nationalbewusstseins ging im schweizerischen Bundesstaat mit dem Beginn des Ersten Weltkrieges einher. Später entwickelte es sich im Alpenréduit, einer im Zweiten Weltkrieg verwirklichten Militärstrategie, welche die Zuversicht im Schweizer Volk nähren und mit allen Mitteln stützen sollte, dass das Volksheer „im Gebirge auch dem besten seiner allfälligen Gegner gewachsen sei“, 17 weiter und weckte die Vorstellung von einer isolierten und geschützten Schweiz, die sich selbst genügt. Um die Voraussetzungen dafür schaffen zu können, musste der Fokus auf eine nationale Erziehung gelegt werden, die das Bewusstsein der Soldaten und Bürger so weit schärfte, „dass freiwillige Unterordnung des Individuums und seiner Interessen unter die Interessen der Gesamtheit Lebensbedingung der Demokratie ist“, 18 wie General Wille in seinem Vorwort zu „Soldat und Bürger. Ein Beitrag zur nationalen Erziehung des Schweizers“ ausführt. Die Ursache für das fehlende Bewusstsein in der damaligen Schweiz sah er in dem „egoistischen Individualismus und Partikularismus“, „der zu allen Zeiten der größte Feind der Demokratie gewesen ist“ und nicht nur zum „ruhmlosen Untergang der alten Eidgenossenschaft 1798“ 19 geführt habe, sondern unmittelbar nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs die Schweiz innenpolitisch zu zerreißen drohte, 20 was er wie folgt schildert: Während unser vom Krieg umtobtes kleines Land, in dem sich die drei Nationalitäten vereinigt finden, die jenseits unserer Grenzen den Vernichtungskampf gegeneinander kämpfen, die größtmögliche staatliche Kraft haben sollte, um aufrecht und von der ganzen Welt respektiert zwischen den brandenden Wogen zu stehen, durchleben wir keinerlei Daseinsberechtigung habende innere Kämpfe, die unser Staatswesen bis in seine Fundamente erzittern machen und die das
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glaubte er einen schleichenden Prozess der Denationalisierung zu erkennen, was nach seiner Ansicht für die Zukunft der Schweiz nichts Gutes verheißen sollte, da die Bauern für ihn das Rückgrat der Nation bildeten. Vgl. Mattioli, Zwischen Demokratie und totalitärer Diktatur, S. 72–73. Einen Ausweg aus dieser Krise konnte die Schweiz nach seiner Auffassung nur finden, „wenn sie das nationale Erbe zum Massstab zukunftsgerichteter Reformen machen würde“. Ders., „Au Pays des Aïeux“. Gonzague de Reynold und die Erfindung des neohelvetischen Nationalismus (1899–1912), in: Guy P. Marchal / Aram Mattioli (Hg.), Erfundene Schweiz. Konstruktionen nationaler Identität, Zürich 1992, S. 275–289, hier S. 285. Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung über die Organisation der Armee vom 3. Juni 1910, in: Schweizerisches Bundesblatt 62 (1910), Bd. IV, S. 87, URL: https:// www.amtsdruckschriften.bar.admin.ch/viewOrigDoc/10023804.pdf?id=10023804&action=open [letzter Zugriff: 10. 02. 2020]. Reynold, Soldat und Bürger, S. IV. Vgl. Anm. 16 und die Parallelen zwischen Willes geistiger Grundhaltung und Reynolds neohelvetischem Nationalismus. Reynold, Soldat und Bürger, S. III.
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Ansehen der Regierung und der Armee im Inlande erschüttern sollen, aber auch dem Ansehen unseres Landes im Ausland schweren Schaden zufügen. 21
Den Grund für diese existenzgefährdende Entwicklung der Schweiz sah Wille in der immer fortwährenden Beschäftigung und im Ausbau der „Rechte des Volkes“ sowie in dem damit einhergehenden Versäumnis, „von den Pflichten gegenüber der Allgemeinheit zu sprechen und zum Bewußtsein zu bringen, daß diese Pflichten nicht bloß zu den Rechten gehören, sondern beim freien Bürger der demokratischen Republik den Rechten voranstehen müssen“. 22 Diesem Leitgedanken, wonach die freiwillige Unterordnung des Individuums und seiner Interessen unter die Interessen der Gesamtheit zur obersten staatsbürgerlichen Pflicht gehört und die Pflichten den staatsbürgerlichen Rechten voranstehen müssen, fühlte sich Faesi verpflichtet. Darauf hat er, wie die These dieses Beitrages lautet, seine Novelle „Füsilier Wipf. Eine Geschichte aus dem schweizerischen Grenzdienst“ konzipiert, und zwar im Sinne des neohelvetischen Nationalismus. Diese These soll in diesem Beitrag gestützt werden, indem – unter Einbettung der Handlung in den sozio-politischen und historischen Kontext – aufgezeigt wird, wie sich der schmächtige, schüchterne und linkische Frisörgeselle namens Reinhold Wipf in den langen Tagen und Nächten des Aktivdienstes zu einem Soldaten entwickelte, der seine „Sonderinteressen jeglicher Art gegenüber den Interessen der Allgemeinheit“ 23 in den Hintergrund stellte, seit er sich auf das „nationale Erbe“ besonnen hatte. In einem ersten Schritt wird das romantisch verklärte Bild thematisiert, das Faesi in der Novelle von der Schweiz zeichnet. Obwohl das Bild von einer heilen, idyllischen Schweiz als Friedensinsel, die inmitten der Kriegswirren lag, den (kultur-)politischen Geist der damaligen Zeit widerspiegelte, entsprach es nicht der Realität. Anschließend soll in einem zweiten Schritt nachgewiesen werden, dass Willes Leitgedanke und Reynolds neohelvetischem Nationalismus eine wichtige Funktion in der Konzeption der Novelle zukam, indem der Entwicklungsprozess des Protagonisten nachgezeichnet wird. Der Beitrag schließt mit einem Schlusswort ab.
2. Eine heile, idyllische Schweiz inmitten des „modernen“ Kriegs Die Schweiz glich während des Ersten Weltkrieges einer Friedensinsel, umringt von Kriegswirren, denen Millionen von Menschen auf grausame Weise zum Opfer fielen. Das Bild der Schweiz als Insel bestand schon vor 1914
21 Ebd., S. IV. 22 Ebd. 23 Ebd., S. III.
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und lebte nach 1918 – bis in die heutige Zeit, beispielsweise als symbolische Abgrenzung gegenüber der Europäischen Union – weiter; doch wohl zu keiner Zeit war die Inselmetapher so omnipräsent wie während des Ersten Weltkrieges. 24 Auch in Faesis „Füsilier Wipf“ lässt sie sich nachweisen. Inmitten einer heilen, idyllischen Landschaft erfüllen die Wehrmänner ihre vaterländische Pflicht. In den friedvollen Tälern ist einzig das Geläut der Kuhglocken, das Zirpen der Grillen oder das süße Murmeln einer Quelle zu hören. 25 Die Soldaten führten ein Dasein, das in Einklang mit der Natur war. „Man lebte als Robinsons“, „die Tannen umher schienen als wuchtige unerschütterliche Grenadiere mitzuwachen“ und ein Eichhorn drang „wöchentlich immer eindringlicher auf gute Verpflegung“. Ein Igel dagegen „verhielt sich [. . . ] gegen alles Freundschaftswerben dauernd mißtrauisch, reserviert und widerborstig“, was ihm die Soldaten jedoch nicht übelnahmen. Er stand bei ihnen sogar „in Ehren als ein Sinnbild des Vaterlandes, das gleichfalls nach allen Seiten seinen Stachelschutz herauskehrte“. 26 Nichts erinnert in der Erzählung an die schrecklichen Wirrnisse jenseits der Schweizer Grenze. Einzig ein Warnschuss stört für einen Moment die friedvolle Stimmung, weil ein Zivilist, der sich spät abends auf dem Heimweg befindet und auf seinem Bockkarren eingenickt ist, die Haltrufe vom Füsilier Wipf missachtet hat. 27 Dieses romantisch verklärte Bild ist trügerisch. Unmittelbar nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges sah sich die Schweiz innenpolitisch einer existentiellen Zerreißprobe ausgesetzt. 28 Die öffentlichen Sympathiebekundungen vonseiten der Schweizer Bevölkerung und Presse für die eine oder andere kriegsführende Nation – aufgrund der Sprache und der darauf beruhenden Kultur – führten in der schweizerischen Eidgenossenschaft zu lebhaften kulturpolitischen Diskursen. Das 1915 im Verlag Rascher & Co. in Zürich erschienene Sammelbuch mit dem Titel „Wir Schweizer, unsere Neutralität und der Krieg“, das von namhaften Schweizer Intellektuellen verfasst worden ist, zeugt davon. Mit dieser Schrift verfolgten Verlag und Autoren u. a. das im Vorwort erwähnte Ziel. Das Sammelbuch soll [. . . ] uns Schweizern selbst die Formel zu geben versuchen, die wir unserem Denken und Fühlen zu Grunde legen müssen, wenn wir jene klare Ruhe behalten wollen, die unserer Eigenart in politischer Beziehung entspricht und die nötig ist für eine vorurteilslose und kraftvolle Vertretung unseres Staates und für eine
24 Vgl. Georg Kreis, Insel der unsicheren Geborgenheit. Die Schweiz in den Kriegsjahren 1914–1918, Zürich 2014, S. 284. 25 Vgl. Faesi, Füsilier Wipf, S. 43. 26 Ebd., S. 59–60. 27 Vgl. ebd., S. 55–56. 28 Vgl. Reynold, Soldat und Bürger, S. III.
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objektive und unverletzende Stellungnahme zu den ungeheuren Problemen, die heute jenseits unserer Grenzen sich abrollen. 29
Die erwähnte Problematik, die mit dem „Denken und Fühlen“ der Schweizerinnen und Schweizer einherging, gründete auf dem Kulturbegriff „Nation“ und der daraus resultierenden Frage, ob es eine schweizerische Nationalität neben der deutschen, französischen und italienischen überhaupt geben kann. 30 Noch 1875 unternahm der Staatsrechtler Carl Hilty 31 in seinen „Vorlesungen über die Politik der Eidgenossenschaft“ den Versuch, die Existenz einer schweizerischen Nationalität wissenschaftlich zu begründen. Dabei hob er besonders das auf einer politischen Idee beruhende und demzufolge „hoch über der blossen Bluts- und Sprachverwandtschaft“ 32 stehende schweizerische Nationalbewusstsein hervor, das sich erst in der Helvetischen Revolution, 33 die im Januar 1798 in Basel ihren Anfang nahm, manifestierte und somit weit in die Zeit nach 1291 fällt. 34 Also war die Nationalität für die Gründung des schweizerischen Bundesstaates (im Gegensatz zur italienischen oder deutschen Staatenbildung, die beide nach 1848 erfolgten) nicht Ursache, sondern Wirkung, woran sich der internationale Charakter der Schweiz erkennen lässt, der in den noch heute verwendeten kulturtopografischen Bezeichnungen „deutsche“, „französische“ und „italienische Schweiz“ verortet ist. 35 Diese „doppelte Zugehörigkeit“ 36 – einerseits zur Schweiz als Heimat, andererseits zum deutschen, französischen oder italienischen Sprach- und Kulturraum – machte sich denn auch im geistigen Schaffen der Schriftsteller bemerkbar, wovon der Essay „Der schweizerische Schriftsteller und der europäische Krieg“ des eidgenössischen Heimatschriftstellers Jakob Bosshart 37 Zeugnis ablegt: Die Lage des schweizerischen Schriftstellers ist, wegen der Zusammensetzung unseres Volkes, eine eigenartige, aber für alle im Grunde die nämliche, ob sie 29 Carl Bernoulli u. a. (Hg.), Wir Schweizer, unsere Neutralität und der Krieg. Eine nationale Kundgebung, Zürich 1915, S. 9. 30 Vgl. Johann Caspar Bluntschli, Die schweizerische Nationalität, Zürich 1915, S. 7–8. 31 Carl Hilty (1833–1909) war ein einflussreicher Schweizer Rechtsgelehrter und Politiker, der staatsrechtlich-historische und religiös-ethische Schriften verfasste. Vgl. Eva Petrig Schuler, Carl Hilty, in: Historisches Lexikon der Schweiz. 32 Carl Hilty, Vorlesungen über die Politik der Eidgenossenschaft, Bern 1875, S. 29. 33 Zur Erklärung dieses Begriffes vgl. Andreas Fankhauser, Helvetische Revolution, in: Historisches Lexikon der Schweiz. 34 Vgl. Hilty, S. 29. 35 Vgl. Bluntschli, S. 9. 36 Ursula Amrein, „Los von Berlin!“. Die Literatur- und Theaterpolitik der Schweiz und das „Dritte Reich“, Zürich 2004, S. 4. 37 Jakob Bosshart (1862–1924) war ein Schweizer Heimatdichter, der als Erster mit dem Gottfried-Keller-Preis ausgezeichnet wurde. In seinen letzten Lebensjahren distanzierte er sich jedoch mit seinen literarischen Schriften vom bisher Publizierten. Seine radikale Neubesinnung stellte die Rückkehr zur bäuerlichen Einfachheit als eine Utopie dar. Vgl. Charles Linsmayer, Jakob Bosshart, in: Historisches Lexikon der Schweiz.
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deutscher, französischer oder italienischer Zunge seien. Sie schauen nach verschiedenen Himmelsgegenden aus, aber sie wurzeln alle in ihrer Heimat, ihr gilt in der Regel ihr erstes Schaffen und Denken ausschließlich. Wie sie jedoch selber wachsen, dehnt sich ihr Wirkungsgebiet aus, zuweilen in solchem Maße, daß sein Schwerpunkt ganz ins Ausland fällt. Das zeigt sich schon daran, daß oft die ersten Werke in der Schweiz, die späteren im Ausland verlegt werden. Ist es ein Wunder, daß der Deutschschweizer zum deutschen, der Westschweizer zum französischen und der Tessiner zum italienischen Sprach- und Kulturgebiet engere Beziehungen hat, als zu den andern? Dieser Zustand ist in der Eigenart der schriftstellerischen Wirksamkeit begründet und birgt unter normalen Verhältnissen durchaus keine nationale Gefahr in sich; denn die Beziehungen des Schriftstellers zum Ausland sind solche der Kultur und nicht der Politik. Es wäre töricht, sie zu bekämpfen, sie bewahren unser vaterländisches Schrifttum vor Enge und Verknöcherung, auf sie verzichten, hieße sich der Verarmung aussetzen. 38
Das Ausdehnen des eigenen Wirkens über die Landesgrenzen hinweg in das angrenzende sprach- und kulturverwandte Ausland barg „unter normalen Verhältnissen durchaus keine nationale Gefahr in sich“. Außerhalb solcher angeblich „normalen Verhältnisse“ sind in der schweizerischen Kultur- und Literaturpolitik dagegen klare Akzente gesetzt worden, die sich unmittelbar auf das Wirken der Schriftstellerinnen und Schriftsteller ausgewirkt haben. So sollten sie sich mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges und den damit einhergehenden Wirren in den Dienst einer nationalen Erziehung im Sinne einer geistigen Unabhängigkeit stellen. Entsprechend mussten sie ihren kulturpolitischen Teil dazu beitragen, nicht nur die Schweizer Bevölkerung auf den Neutralitätsgedanken einzuschwören, sondern auch ihr eigenes Nationalitätsbewusstsein nachhaltig zu stärken. Der Schweizer Rechtswissenschaftler Johann Caspar Bluntschli 39 hat 1875 die Schrift „Die schweizerische Nationalität“ verfasst. In seinem Aufsatz schreibt er der schweizerischen Nationalität „in hohem Grade einen internationalen Charakter“ zu, weil sie „wesentlich aus Bestandteilen zusammengefügt und zusammengewachsen ist, welche ursprünglich verschiedenen Nationen angehörten und heute noch mit andern grösseren Nationalitäten in lebendiger Verbindung sind“. 40 Dieser internationale Charakter führte bei Kriegsausbruch zu starken Spannungen zwischen der deutschen und frankophonen
38 Jakob Bosshart, Der schweizerische Schriftsteller und der europäische Krieg, in: Bernoulli, S. 29–32, hier S. 29–30. 39 Johann Caspar Bluntschli (1808–1881) war ein Schweizer Politiker und Rechtsgelehrter, der auch in Deutschland lehrte und die kleindeutsche Lösung (ohne Österreich) befürwortete. Als Rechtshistoriker, Gesetzesredakteur und Förderer des Völkerrechts erlangte er internationales Ansehen. Vgl. Bruno Schmid, Johann Caspar Bluntschli, in: Historisches Lexikon der Schweiz. 40 Bluntschli, S. 18.
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Schweiz, die auf gegenseitigen Beschuldigungen und Misstrauen gründeten. 41 Daraus erwuchs die Gefahr einer „drohenden innern Entfremdung“, 42 was den Schweizer Bundesrat am 1. Oktober 1914 dazu veranlasst hatte, sich mit einem Aufruf an das Volk zu wenden. In seinem Bericht an die Bundesversammlung über die von ihm auf Grund des Bundesbeschlusses vom 3. August 1914 getroffenen Maßnahmen zum Schutze des Landes und zur Aufrechterhaltung der Neutralität rekapituliert er: Die Erfahrungen, die wir in den ersten zwei Monaten des Krieges machten, veranlassten uns, am 1. Oktober uns mit einem zweiten Aufrufe an das Schweizervolk zu wenden. Wir forderten die Bürger auf, in der Beurteilung der Ereignisse, in der Äusserung der Sympathien für die einzelnen Nationen sich möglichste Zurückhaltung aufzuerlegen, alles zu unterlassen, was die in den Krieg verwickelten Staaten und Völker verletzt, und eine einseitige Parteinahme zu vermeiden. Dabei leitete uns nicht nur das Staatsinteresse, die Pflichten, die die Neutralität in diesem Kriege uns auferlegt, getreu zu erfüllen und damit die guten Beziehungen unseres Landes zu den übrigen Staaten zu erhalten, sondern vor allem das Lebensinteresse unseres Staatswesens an kraftvoller Geschlossenheit und unerschütterlicher Einheit. 43
Den bundesrätlichen Aufruf mussten sich auch die schweizerischen Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die wiederum keinen Hehl daraus machten, wem von den kriegsführenden Nationen ihre Sympathie galt, zu Herzen nehmen, wenn sie den Staatsinteressen der Eidgenossenschaft nicht zuwiderhandeln wollten. In Tat und Wahrheit befanden sich die Schriftstellerinnen und Schriftsteller in einem Dilemma. Einerseits unterhielten sie seit jeher enge Beziehungen zu demjenigen Sprach- und Kulturraum, welchem sie sich zugehörig fühlten. Andererseits war es ihre staatsbürgerliche Pflicht, sich in diesen turbulenten Zeiten neutral zu verhalten. Folglich stand die politische und geistige Einheit des schweizerischen Bundesstaates bei Kriegsausbruch wie nie zuvor auf Messers Schneide. Daher „ist es nötig“, wie Jakob Bosshart in seinem Essay „Der schweizerische Schriftsteller und der europäische Krieg“ seinen Berufskolleginnen und -kollegen ins Gewissen redete, „sich darauf zu besinnen, daß trotz der Divergenz der Sympathien, weit mehr Bindendes als Scheidendes unter uns waltet, daß wir trotz der Verschiedenheit der Sprache dem gleichen Kulturideal zustreben“. 44 Dennoch vertrat er entschieden die Meinung, dass 41 Vgl. William Emmanuel Rappard, Zur nationalen Verständigung und Einigkeit, Zürich 1915, S. 7. 42 Ebd., S. 39. 43 Bericht des Bundesrates an die Bundesversammlung über die von ihm auf Grund des Bundesbeschlusses vom 3. August 1914 getroffenen Maßnahmen, in: Schweizerisches Bundesblatt 66 (1914), Bd. IV, S. 713, URL: https://www.amtsdruckschriften.bar.admin. ch/viewOrigDoc.do?id=10025583 [letzter Zugriff: 10. 02. 2020]. 44 Bosshart, S. 29–32, hier S. 31.
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ungeachtet der vom Bundesrat postulierten Zurückhaltung „keinem Schriftsteller zugemutet werden [kann], seine Beziehungen zu dem größeren Sprachgebiet, dem er angehört, zu lösen; aber in erster Linie müssen wir uns jetzt als Söhne unseres Landes fühlen, gerade als ständen wir unter seiner Fahne an der Grenze“. 45 Als Sohn seines Landes fühlte sich auch Faesi, wovon sein „Füsilier Wipf“ Zeugnis ablegt. So steht im Laufe der Erzählung sein Protagonist uneingeschränkt für die Schweiz und ihr „nationales Erbe“ ein, die er an der Grenze mit seinem Leben beschützen will, wozu er aus Überzeugung und nicht bloß aus Pflichtgefühl, aufgrund des von ihm geleisteten Kriegseides, bereit ist. 46 Selbstbewusst, unbeirrt und standhaft legt Wipf sogar – als er sich auf Urlaub befindet und seinen Arbeitsplatz aufsucht – gegenüber der für die Mittelmächte oder Entente einstehenden Kundschaft, den Honoratioren eines in der Erzählung nicht näher genannten Städtchens, das einen zwangsläufig an Gottfried Kellers Seldwyla erinnert, sein Neutralitätsbewusstsein offen. 47 Und am Ende der Geschichte erfährt die Leserschaft obendrein, dass Nachwuchs „auch fürs Vaterland“ 48 unterwegs ist, was wohl heißen soll, dass für die nächste Generation, die für „Vaterland“ und „nationales Erbe“ einstehen wird, gesorgt ist.
3. Füsilier Wipf – „ein Schweizer im vollen Sinne des Wortes“ Zum Zeitpunkt der allgemeinen Mobilmachung der Schweizer Armee vom 3. August 1914 fristete Reinhold Wipf, der kleingewachsene und im Umgang mit gestrengen Herren stotternde Frisörgeselle, ein Dasein, das darauf ausgerichtet war, sich so zu gebärden, dass jedermann mit ihm zufrieden war, damit er es ebenfalls mit sich selbst sein konnte. 49 Es galt, sich aufmerksam, höflich, ordentlich, reinlich, zierlich und manierlich zu benehmen, und darin konnte Reinhold seinen Mann stellen. [. . . ] Man lernte die Herren bei Titel und Namen zu nennen, sich ihre Vorliebe für dies oder jenes Haarwasser zu merken, von ihrem Bartschnitt und dem Aufforsten ihrer Glatzen mit der gebührenden Wichtigkeit zu reden, ihrem weisen Gespräch ein bescheidenes Wort beizufügen und ihren heiligen Überzeugungen mit verständigem Kopfnicken recht zu geben. 50
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Ebd. Vgl. Faesi, Füsilier Wipf, S. 34–35, 72. Vgl. ebd., S. 72–74. Ebd., S. 86. Vgl. ebd., S. 11–12. Ebd., S. 11.
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Seine militärischen Vorgesetzten waren dagegen alles andere als zufrieden mit ihm. Bereits am ersten Tag seines Aktivdienstes fasste er auf dem Sammelplatz des Regiments zwei Tage Arrest, weil er „total verhudelt eingerückt“ 51 war. Als er sich das Arrestlokal mit einem „Früchtchen“ teilen musste, das „mit sinnlosen und aufrührerischen Schimpfreden gegen Vaterland, Staatsgewalt und militärische Vorgesetzte“ auf sich aufmerksam machte und „sich seiner Widersetzlichkeit breitspurig“ rühmte, erkannte er, dass „zu viel Bedürfnis nach guter Sitte und Rechtlichkeit, zu viel Ordnungssinn und Bürgergeist in ihm“ 52 war, um mit einem solchen in einen Topf geworfen zu werden. „Er begann sich selbst und seine Nichtigkeit von Herzen zu hassen, und dieser Haß übertrug sich auf seine bisherigen Beschäftigungen und Liebhabereien; seine Gefühlsduselei“, was ihn dazu bewog, den Entschluss zu fassen, „bis zum Letzten“ 53 fürs Vaterland auszuhalten. Dieses einschneidende Erlebnis führte bei Wipf zur Selbstreflexion. Er erkannte, dass sein Dasein bis anhin für die Allgemeinheit wenig nutzbringend war. Zudem war er der permanenten Gefahr ausgesetzt, einem egoistischen Individualismus zu verfallen, weil er seit seiner Gesellenzeit in einem Milieu verkehrte, in dem der Gemeinsinn eine untergeordnete Bedeutung hatte, was sich besonders gut an seinem Arbeitgeber veranschaulichen lässt. Als beispielsweise der Bundesrat die allgemeine Mobilmachung ausgerufen hatte, monierte Herr Wiederkehr, der Frisörmeister, in seinem Salon: „Heiliger Strohsack, [. . . ] was meint denn eigentlich der Bundesrat? In diesem Augenblick, wo man alle Hände voll zu tun hat, einem den einzigen Angestellten wegholen!“. 54 Wipf hatte einen besonders schweren Stand bei seiner Truppe, denn zum „Kriegshandwerk schien er sich im geringsten nicht geschaffen“. 55 Eine Mitschuld an diesem Umstand hatten seine ängstliche Mutter und einige Gevatterinnen, die ihn – ohne Beisein des Vaters – zu „einem zarten Kraut“ in einer Kleinstadt „erzogen und verzogen“ hatten, das „den wilden Schlingeln auf der Gasse nie gewachsen“ war und sich daher in seiner Freizeit mit „einsamen Spielen“ 56 beschäftigen musste. Selbst die Unteroffiziere und Dienstkameraden schikanierten Wipf andauernd und stellten ihn bei jeder sich ihnen bietenden Gelegenheit vor der Kompanie bloß, was zu höhnischem Gelächter führte. Die bitteren Demütigungen nahmen kein Ende. „Er war manchmal der Verzweiflung nahe. Schon die Furcht trieb ihn dazu, sein Bestes zu geben; aber ihn schmerzten alle Glieder; er war schwach, ungelenk, langsam. Der Mut drohte ihm zu entfallen“. 57 Der Zugführer, ein Oberleutnant, erkannte den Lei51 52 53 54 55 56 57
Ebd., S. 29. Ebd., S. 32. Ebd., S. 33–34. Ebd., S. 13. Ebd., S. 9. Ebd., S. 10. Ebd., S. 38.
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denszustand seines Soldaten und beorderte kurzerhand die beiden Haupttäter, einen Korporal und einen Füsilier, einzeln zu sich. Dem Unteroffizier redete er folgendermaßen ins Gewissen: „Warum tränkt Ihr ihm denn ein, daß er ein Waschlappen ist? Am Ende wird er es glauben. Starke Knochen und eine sichere Hand sind nicht herzuzaubern; aber Selbstvertrauen und Zuversicht, die kann man pflanzen. Sie sollen an sich glauben, unsere Leute. Also schont mir dieses zarte Kraut. Kapiert?“. 58 Der Füsilier, der sich einen Spaß daraus machte, Wipf als seinen unmündigen Sohn zu betrachten, bekam vom Vorgesetzten den Befehl erteilt: „Ihr seid kein guter Vater gegen Wipf. Seine Kinder soll man beschützen, nicht tyrannisieren und beschämen. Ihr habt Euch die Vaterwürde selbst angemaßt; ich überbinde Euch den kleinen Kerl. Verstanden?“. 59 Von diesem Moment an besserte sich Wipfs Situation. Das Zusammengehörigkeitsgefühl wurde durch das pflichtbewusste Handeln des Offiziers gestärkt, was zur Folge hatte, dass die Wehrmänner füreinander einstanden. Sein Leben nahm jedoch erst eine Wende, als er im Dienst sein Vaterland kennen und dadurch lieben lernte. 60 So erblickte er an einem schönen Sommertag während einer Übung einen Obstgarten mit gelben Birnen, die aus dem Laub „frohlockend leuchteten“, und in „den Aesten anderer Bäume [. . . ] schmiegten sich die Aepfel mit brennend roten Backen aneinander“. Ein „gezimmertes Bauernhaus“ ragte mit seinen „blanken Fenstern über den Früchtesegen hinaus“ und zwischen „den Stämmen hindurch sprühte das bunte Feuerwerk eines ländlichen Vorgärtchens“. Auf einmal stand ein gebräuntes „Mädchen“ mit „kräftigen Oberarmen“ mitten unter den Wehrmännern und teilte Äpfel aus. Ab diesem Augenblick empfand Wipf etwas „Seltsames“: „Ein Bauernhof, eine leuchtende Sommerlandschaft, eine Dorfschöne, das hatten seine Augen schon oft erlebt. Warum war denn alles so ehrwürdig, so gewaltig, als hätte er ins gelobte Land geschaut? Vielleicht, weil seine Beine es erlaufen hatten? Mit einem Schlage ward es ihm lebendig. Jawohl, eine solche Heimat war der Mühsal und des Schutzes wert“. 61 Von da an wuchs er „jeden Tag fester in seine Marschschuhe hinein und jede Nacht kräftiger aus Hosen und Bluse heraus“ und sein „Selbstbewußtsein blühte fröhlich auf, und das neue Leben, das aus ihm brach, machte ihn glücklich“. 62 Dieser Entwicklungsprozess machte sich auch innerhalb der Kompanie bemerkbar und so hatte sich „die Verachtung erst zu Spott, dann zu harmloser Neckerei gemildert“, bevor endgültig „das Wohlwollen der Kameraden erobert“ 63 war. Wipf war dankbar dafür, „daß es [das Vaterland] ihn aus seinem 58 59 60 61 62 63
Ebd., S. 40. Ebd., S. 41. Vgl. ebd., S. 78. Ebd., S. 52–54. Ebd., S. 64. Ebd., S. 63.
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muffigen Winkel zur rechten Zeit in die Schule genommen und auf Wanderschaft geschickt“ hatte. Er „fühlte sich zugehörig, eins mit seinem Volk“. 64 Am Ende der Erzählung erfahren die Kameraden auf dem Sammelplatz, als sie, nachdem sie für ein halbes Jahr ins Zivilleben entlassen worden waren, erneut zum Aktivdienst einrücken mussten, dass Wipf seine Berufung gefunden hatte. Er heiratete das Bauernmädchen und ersetzte die Schere durch die Sense. 65 Der Schweizer Armee war es gelungen, bei Füsilier Wipf „das nachzuholen, was früher versäumt war“. 66 Er kam in den Genuss einer nationalen (Nach-)Erziehung und war von nun an ein „Schweizer im vollen Sinne des Wortes, und ganz besonders [ein] solcher“, der sich seiner „Pflichten gegenüber dem Vaterland, der Armee und dem Staate bewußt“ 67 war.
4. Schlusswort In seinen Memoiren äußert sich Reynold im Superlativ über Faesis „Füsilier Wipf“: „Ce portrait d’un simple soldat est l’une des plus belles œuvres, la plus belle peut-être, que la mobilisation a inspirées, et il est bon de savoir qu’elle en a inspiré beaucoup“. 68 Seine Begeisterung ist wohl der Tatsache geschuldet, dass General Willes erzieherischer Leitgedanke aus der Zeit des Vortragsbüros und sein eigener neohelvetischer Nationalismus die Novelle maßgeblich geprägt haben. Faesis Erzählung will bei der Leserschaft die als national deklarierten Werte, wie die Hochschätzung des bäuerlichen Lebens, nicht nur in Erinnerung rufen, sondern auch zu ihrer Stärkung beitragen, um gegen den „schleichenden Prozess der Denationalisierung“ 69 anzukämpfen. Sie sollte auf die Soldaten, die „hundertfach“ dem Frisörgesellen glichen „und aus diesen Zügen“ sich dem Autor „zu einer typischen Gestalt verdichtet“ 70 haben, einwirken. Mit „Füsilier Wipf“ wollte ihnen der Autor die „ländliche Unverdorbenheit“, ihre „patriarchalische Einfachheit und Frömmigkeit“ als „Regenerationsquelle“ gegenüber der „moralisch laxen, gesellschaftlich und sozial komplizierten und rationalistisch-skeptischen Überkultur der Städte“ 71
64 65 66 67 68
Ebd., S. 78. Vgl. ebd., S. 85–86. Reynold, Soldat und Bürger, S. IV. Ebd., S. VIII. Reynold, Mes mémoires, S. 203. In der Übersetzung vom Autor des Beitrags: „Dieses Porträt eines einfachen Soldaten ist eines der schönsten Werke, vielleicht das schönste, das die Mobilisierung inspiriert hat, und es ist gut zu wissen, dass es viele inspiriert hat“. 69 Vgl. Anm. 16. 70 Faesi, Erlebnisse – Ergebnisse, S. 190–191. 71 Robert Faesi, Gestalten und Wandlungen schweizerischer Dichtung, Zürich 1922, S. 14.
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vor Augen führen. Soldaten wie Bürger sollten für den Fortbestand dieser identitätsstiftenden „Regenerationsquelle“, die in das kollektive Nationalbewusstsein mündet, einstehen. Die Schweiz vor einer gefährlichen Existenzund Wertekrise, die sich zu Beginn des Ersten Weltkrieges abzeichnete, zu bewahren, war oberste staatsbürgerliche Pflicht, die über den staatsbürgerlichen Rechten stand. Diese staatsbürgerliche Pflicht wird gewissenhaft von Reinhold Wipf und später von seinem Kind oder seinen Kindern getreu erfüllt.
Ewa Mazurkiewicz
´ aski (Uniwersytet Sl ˛ w Katowicach)
Zwischen Schweigen und Engagement Die Deutschschweizer Literatur und der Erste Weltkrieg
1. Von der doppelten Zugehörigkeit zum helvetischen Selbstbewusstsein Nach 1848, als die erste helvetische Bundesverfassung verabschiedet und der Staatenbund Schweiz zum Bundesstaat wurde, festigte sich zunehmend das Selbstbewusstsein der Schweizer Nation. Im deutschsprachigen Teil der Eidgenossenschaft bemerkte man zugleich ein „Auseinanderdriften sowohl der Literaturen als auch der Gesellschaften Deutschlands und der deutschen Schweiz“. 1 Bis dahin hatte sich nämlich die deutschsprachige Schweizer Literatur durch ihre Bindung an den deutschen Kulturraum, ja durch die Konzeption ihrer doppelten Zugehörigkeit definiert. 2 Um die Jahrhundertwende machte sich unter den Schweizer Autoren und Intellektuellen die Tendenz bemerkbar, die kulturellen Verhältnisse des Landes nun vor dem Hintergrund des Schweizer Selbstverständnisses und der nationalen Ästhetik zu betrachten. Von der Überzeugung einer geschichtlich fundierten, unzertrennlichen Bindung der Schweiz an den deutschen Kulturraum ausgehend, betonte man in der Schweiz die Zäsur der helvetischen Staatsgründung 1848 als einen epochalen Umbruchsmoment nicht nur für die politische, sondern auch für die kulturelle Eigenständigkeit des Landes. Mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs bildete das Jahr 1914 eine weitere Zäsur, die die Schweizer dazu veranlasste, sich zu ihrer Identität zu bekennen. 3 Wie etwa Carl Spitteler mit seinem Appell „Unser Schweizer Standpunkt“ betonte, sollte die Schweiz bei der Aufrechterhaltung deutschschweizerischer Verbindungen von „Kunst und Literatur, [. . . ] von geschäftlichen Wechsel-
1 Rémy Charbon, Zweieiige Zwillinge? Schweizer Schriftsteller und Deutsches Reich 1871–1914, in: Corina Caduff (Hg.), Figuren des Fremden in der Schweizer Literatur, Zürich 1997, S. 109–129, hier S. 123. 2 Zum Selbstverständnis der Schweizer als einer im deutschen Sprach- und Kulturraum lebenden Nation vgl. Peter von Matt, Deutschland, die Schweiz und die Literatur, in: Ders., Das Kalb vor der Gotthardpost. Zur Literatur und Politik der Schweiz, München 2012, S. 178–182. 3 Zum Thema des Ersten Weltkrieges in der Schweiz vgl. Georg Kreis, Insel der unsicheren Geborgenheit. Die Schweiz in den Kriegsjahren 1914–1918, Zürich 2014.
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beziehungen, von geistigem Einverständnis, von Freundschaft [. . . ] bei aller Solidarität [. . . ] mit dem deutschen Geistesleben“ in schwierigen Momenten vor allem ihre politische Einheit aufrechterhalten und nach außen „die Stellung der neutralen Zurückhaltung in freundnachbarlicher Distanz diesseits der Grenze“ 4 einnehmen. Mit seinem wegweisenden Auftritt bestätigte der spätere Nobelpreisträger zwar den Willen der Schweizer, sich weiterhin zum kulturellen Großraum der deutschen Sprache zugehörig zu fühlen, motivierte seine Zeitgenossen jedoch dazu, bürgerliche Verantwortung für ihr Land zu übernehmen und als Willensnation einig zu bleiben. Neben dem Aufruf zur Einheit vermittelt „Unser Schweizer Standpunkt“ die von den Eidgenossen im Kriegsfalle zu befolgende Strategie des passiven Beobachters und verweist auf den Schweizer Staat als einen vom Kriegsgeschehen verschonten Zuschauerraum: „Nun wohl: eine Ausnahmegunst des Schicksals hat uns gestattet, bei dem fürchterlichen Trauerspiel, das sich gegenwärtig in Europa abwickelt, im Zuschauerraum zu sitzen“. 5 Die als richtig empfundene Haltung des neutralen und passiven Zuschauens gegenüber den europäischen Konflikten wurde bald durch den schweizerischen Staat und dessen Kulturpolitik im Rahmen des Programms der geistigen Landesverteidigung legitimiert und gefördert, einer Überlebensstrategie für die Schweiz, die bis in den Kalten Krieg hinein durchgesetzt wurde. Somit „wird die Spitteler-Rede zum Gründungsdokument der helvetischen Zuschauerposition bei den Weltkatastrophen“. 6
2. „Hinhören auf den fernen Donner“. 7 Schweizer Stimmen zum Krieg Viele Schweizer Autoren waren bemüht, sich mit der aktuellen Problematik auseinanderzusetzen, während sie topografisch zwar inmitten, politisch jedoch abseits des von allen Seiten als Katastrophe verstandenen Ersten Weltkrieges situiert waren. Obwohl für die meisten Schweizer Autoren jener Zeit die helvetische Heimatidyllik und der nationale Diskurs immer noch mehr Relevanz besaßen als das aktuelle außenpolitische Geschehen und somit vor allem die erstere Tendenz Einzug in die Literatur fand, sahen sich viele doch verpflichtet, als Außenstehende oder Engagierte zu diesem Krieg Stellung zu nehmen. Dabei ist zu bemerken, dass die in der Schweiz zum Kriegsgeschehen erhobenen Stimmen auch jene von Emigranten einschlossen, für die damals die Schweizer Grenzen noch offen standen, um sich mit der Zeit im Namen der Neutralität vor Hilfesuchenden immer mehr zu schließen. 4 Carl Spitteler, Gesammelte Werke, Bd. 8: Unser Schweizer Standpunkt, Zürich 1947, S. 579–594, hier S. 582, 585. 5 Ebd., S. 594. 6 Peter Utz, Hinhören auf den fernen Donner, in: Neue Zürcher Zeitung 242 (2014), S. 67. 7 Ebd.
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Mit der Beteiligung der eingewanderten europäischen Künstler und Intellektuellen am Schweizer Kulturleben nahm die literarische Landkarte der Eidgenossenschaft mehr Farbe an. Während sich die in Wien, Berlin und Prag vorherrschenden modernen Strömungen in Zürich kaum durchsetzen konnten, gelang es den Flüchtlingen aus Deutschland und Frankreich, in der Zeit des Ersten Weltkrieges mit dem Cabaret Voltaire und der Dada-Bewegung in der Limmat-Stadt die Aura von Avantgarde zu erzeugen. Die Emigranten erwiesen sich nicht nur als aufmerksame Beobachter ihres Gastlandes, sondern wirkten auch gesellschaftspolitisch mit. Hugo Ball etwa, dem Zürich „international und provinziell zugleich“ 8 vorkam, vermerkte in seinem Tagebuch „Die Flucht aus der Zeit“: „Die Schweiz ist die Zuflucht all derer, die einen neuen Grundriss im Kopfe tragen. Sie war und ist jetzt, während des Krieges, der große Naturschutzpark, in dem die Nationen ihre letzte Reserve verwahren“. 9 Ball, der einen Weg vom Kriegsbefürworter zum entschiedenen Pazifisten hinter sich gebracht hatte und in Zürich von der Arbeiterbewegung und von sozialistischen Ideen beeinflusst wurde, sah in der Schweiz ein Modell für Europa: „Von hier, von der Schweiz aus wird sich Europa wieder beleben“. 10 Entweder unmittelbar während des Ersten Weltkrieges oder erst aus zeitlicher Distanz entstehen in der Schweiz Texte als dokumentarische oder fiktionale Stellungnahmen zum Kriegsgeschehen auf beiden Seiten der helvetischen Grenze. Im Unterschied zu den an der Front kämpfenden Soldaten der anderen europäischen Länder leisteten die Schweizer Bürger den sogenannten Aktivdienst – eine in Zeitabständen erfolgende, u. a. mit Exerzier- und Marschierübungen verbundene Wachtpflicht an der Grenze. 11 Die Schweizer Literatur jener Zeit ist somit reich an Grenzdienst-Romanen, deren Kern das Erleben der Konflikte inner- und außerhalb der Schweiz als einer Zwangslage, die Einsatzbereitschaft und Verunsicherung über den andauernden Zustand des Wartens, die Besorgnis um die Zukunft sowie verschiedene Zerwürfnisse zwischen den aus verschiedenen Milieus stammenden Soldaten ausmachen. Jene Texte, von denen Meinrad Inglins „Schweizerspiegel“ (1938) als das repräsentative Beispiel für die Darstellung der Schweiz im Ersten Weltkrieg gilt, aber auch Robert Faesis „Füsilier Wipf“ (1917), Felix Moeschlins „Wachtmeister Vögeli“ (1914 geschrieben, 1922 erschienen) und Hans Zurlindens „Symphonie des
8 Christine Odermatt (Hg.), „Dieser Krieg ist uns zum Heil“. 1914 – Wortgefechte in Texten der Zeit, Zürich 2014, S. 180. 9 Zit. nach: ebd., S. 179. 10 Ebd. Eine Erwähnung verdient in diesem Kontext auch das Buch von Denis de Rougemont, Die Schweiz, Modell Europas. Der schweizerische Bund als Vorbild für eine europäische Föderation, Wien 1965. 11 Vgl. dazu Charles Linsmayer, Der Kaddisch für einen Juden, an dessen Grab ein Kreuz stand. Wie der Erste Weltkrieg zwischen 1914 und 2006 in der Schweizer Literatur zur Darstellung gelangte. Der Erste Weltkrieg in der Schweizer Literatur; www.linsmayer.ch [letzter Zugriff: 09. 02. 2020].
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Krieges“ (1919) schildern aus ähnlicher Sicht nicht nur die persönliche Not und die Ängste eines in Alarmbereitschaft wachenden Schweizer Soldaten, der den von fern herandringenden Donner der Kämpfe hört. In ihnen spiegelt sich immer wieder die von Spitteler postulierte große Schweizer Aufgabe und der Mahnruf, trotz innerer Spannungen angesichts einer Krise Kompromisse zu schließen, als Nation einig zu bleiben und Neutralität zu bewahren. In solchen Schweiz-Entwürfen manifestiert sich bereits die einige Jahre später formulierte Idee der geistigen Landesverteidigung, die in den letzten Jahren der Zwischenkriegszeit und während des Zweiten Weltkrieges, als die Eidgenossenschaft erneut einer Bedrohung von außen entgegenblickte, die Schriftsteller ihre Heimat mit literarischen Texten zu unterstützen veranlasste. Je nach Sprachraum spiegelt sich in den fiktionalen wie dokumentarischen Beiträgen zum Ersten Weltkrieg die Sympathie der Schweizer entweder für Deutschland oder für Frankreich bzw. für die ganze Entente wider. Rudolf von Tavel, Jakob Christoph Heer und Ernst Zahn etwa nahmen für Deutschland Partei. 12 Nachdem Letzterer als Präsident des 1912 gegründeten Schweizer Schriftstellervereins (SSV) in der deutschen Zeitschrift „Land und Meer“ ein gegen die Gegner Deutschlands gerichtetes Gedicht „Sturmlied“ veröffentlichte, wurde er vom Verein zum Rücktritt gezwungen. 1915 musste von Tavel unter ähnlichen Umständen als Präsident des SSV sein Amt niederlegen, nachdem im „Berner Tagblatt“ sein der welschen Schweiz gegenüber ablehnend gesonnener Artikel „Graben zwischen Deutsch und Welsch“ 13 erschienen war. Geistige Unterstützung wurde den helvetischen Soldaten durch die Texte von Jakob Bosshart, Meinrad Lienert, Felix Moeschlin, Robert Faesi, Carl Spitteler u. a. zuteil, die 1915 in dem vom SSV herausgegebenen Band „Grenzwacht. Der schweizerischen Armee gewidmet vom Schweizer Schriftstellerverein“ erschienen. Mit literarischen Mitteln vermittelte man den Wehrdienstmännern Worte der Bewunderung und Solidarität im Geiste der Willensnation. Erst 1934 wurde eine von Frauen verfasste und den Frauen gewidmete Anthologie „Der Grenzdienst der Schweizerin 1914–1918. Von Frauen erzählt“ veröffentlicht, in der auch die weibliche Erfahrung jener Zeit zum Ausdruck kommt und darüber berichtet wird, wie die Frauen zwischen 1914 und 1918 „den Platz der an die Grenze gerufenen Männer eingenommen und Familien, Betriebe und öffentliche Einrichtungen unter oftmals großen Opfern am Leben gehalten hatten“. 14
12 Vgl. Odermatt, S. 19; Linsmayer. 13 Vgl. Linsmayer. 14 Ebd.
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3. Die „leise Alternative zur lauten Kriegsliteratur“. 15 Robert Walsers Zeitkontexte Von einer weit höheren literarästhetischen Qualität sowie einem anderen Verständnis der Schweiz sind die Reflexionen Robert Walsers über den Krieg geprägt. Zwischen 1905 und 1913 hielt sich der Schriftsteller in Berlin auf und kehrte nach seinen ersten literarischen Erfolgen nur ungern in die Schweiz zurück. Aus der weltoffenen Metropole herausgerissen, vermisste der einsame Walser jene geistige Weite und betrachtete die Schweizer Wirklichkeit aus der Perspektive eines Abseitsstehenden. 16 Selbst mit Grenzdiensterfahrung ausgestattet, war er jedoch nicht geneigt, jene Erinnerungen gemäß dem im Land gerade geltenden Kanon literarisch zu verarbeiten. Dafür war er an der inneren Kondition eines Einsamen interessiert, der das Eigene und das Fremde, wie er selbst, aus der Distanz beobachtet. Walsers kurze Prosatexte, die er u. a. im „Berliner Tageblatt“, in der „Prager Presse“, in den Jahren 1914– 1918 jedoch vor allem in der „Neuen Zürcher Zeitung“ publizierte, unterscheiden sich wesentlich von literarischen Verlautbarungen anderer auf das Zeitgeschehen Bezug nehmender deutschsprachiger Autoren, etwa derjenigen Rainer Maria Rilkes, dem der Krieg als inkommensurabel 17 erschien oder der von Untergangsvisionen und Rebellion ergriffenen Expressionisten. Während des Krieges mehrmals in der Schweiz zum Militärdienst einberufen, verweigert Walser in seinen in jener Zeit entstandenen Texten eine klare Parteinahme und explizite Reflexion zum aktuellen Geschehen – zu dem von Schweizer Soldaten geleisteten Grenzdienst sowie der allgemeinen Weltlage. Anstelle von literarischer Heroisierung, Anteilnahme oder politisch-moralischer Verurteilung des Krieges präsentiert Walsers Kurzprosa – im Ton ostentativer Arglosigkeit – Alltägliches und scheinbar Belangloses mit nur versteckten Anspielungen an die Kriegsrealität. Die wenigen direkten Bezüge auf das Militärische sind von Spott, Ironie und Satire umhüllt. Walsers Rhetorik des Unheroischen und nahezu Idyllischen zeichnet sich nicht selten durch Heiterkeit aus, die angesichts der in ganz Europa herrschenden Kriegsstimmung provokativ anmutet und auf die Strategie des Dichters hinweist: auf ästhetische Selbstinszenierung durch Spiel, Trivialisierung sowie eine Pose der Veralltäglichung des Grau-
15 Peter Utz, Urkatastrophe, Ohropax und ferner Donner. Zur Literatur aus der Schweiz im Ersten Weltkrieg, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 59 (2015), S. 268–284, hier S. 279. 16 Zu Robert Walser und dem Außenseiterdiskurs in der Schweizer Literatur vgl. Zygmunt Mielczarek, Sonderwege in der Literatur. Schweizer Schriftsteller im Außenseiterdiskurs, Wrocław 2007. 17 Vgl. Sabine Eickenrodt, Gewaltige Freude. Robert Walsers „Genreszenen“ des Ersten Weltkriegs in der „Neuen Zürcher Zeitung“, in: Slovakische Zeitschrift für Germanistik 2 (2017), Jg. 9, S. 20–32, hier S. 23.
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samen. Mit den Mitteln „der Humoreske und des Slapsticks“ 18 mag Robert Walser die eigene Verzweiflung und Einsamkeit verhüllen, scheinbar naives Erzählen eröffnet ihm dagegen den Freiraum für die Erstellung von Gegenwelten: Traum und Realität, Klarheit und Verschwommenheit. Im November 1914 erschien in der „Neuen Zürcher Zeitung“ Walsers kurzer Prosatext „Denk dran“, der in seinem Klang und in seiner die Naturschönheit mit Todesnähe und Vergänglichkeit vereinigenden Stimmung an Mörikes „Denk es, o Seele!“ anzuknüpfen scheint. Umgeben von aktuellen Meldungen der Zürcher Zeitung zum Weltgeschehen stellt sich das Feuilleton an den Rand jener Kriegsrealität, indem es von der Affirmation der Existenz ausgehend in ein Memento mori mündet: Denke daran, wie du dich freutest über das süße, junge Grün im Frühjahr, wie du über den silberweißen und himmelblauen See entzückt warst, wie du die Berge grüßtest, wie du alles so schön fandest, was dir begegnete und dem du begegnetest, wie eine herrliche ungestörte weite Freiheit dich umschlag und wie du glücklich warst in der Umarmung, [. . . ] – denke dran, denke dran. Vergiß, vergiß es nicht. Vergiß nicht das Süße, vergiß nicht das Schwere. Wenn dich eine Gleichgültigkeit und Lieblosigkeit ankommen will, so spanne dein Gedächtnis an und denke an all das Schöne, denke an all das Schwere. Denke, daß es ein Leben gibt, und daß es einen Tod gibt, denke, daß es Seligkeiten gibt, und daß es Gräber gibt. Sei nicht vergeßlich, sondern denke dran! 19
Anstatt einer direkten Stellungnahme zum Krieg wählt Walser eine Position abseits und gibt lediglich der Aura jener Zeit Ausdruck. Auf der anderen Seite widerspiegelt der Text die Stimmung des Autors am Anfang der sogenannten Bieler Zeit – seiner Lebens- und Schaffensphase, die nach dem Berlinaufenthalt erfolgte und von 1913 bis 1921 dauerte. In die Heimatstadt Biel zurückgekehrt, wurde Walser sowohl von Nostalgie und Erinnerungen an die Kindheit und Jugendzeit ergriffen, als auch vom Kriegsausbruch berührt. Sich an vergangene Glücksmomente erinnernd, versucht der Erzähler angesichts der bevorstehenden Katastrophe jene Idylle zu bewahren. Unabhängig vom oder gerade gegen den allgegenwärtigen Kriegsdiskurs bemüht sich der Bieler Dichter, die grausame Realität mit Utopien und Träumereien zu unterlaufen, und lässt sich als ein Friedensmensch erkennen: „Unter Menschen, die sich frei fühlen, weil sie sich beschränken, möchte ich leben. Unter Menschen, die einander achten, möchte ich leben. Unter Menschen, die keine Angst kennen, möchte ich leben. Ich sehe wohl ein, daß ich phantasiere“, 20 schreibt Walser 18 Ebd. 19 Robert Walser, Kritische Ausgabe sämtlicher Drucke und Manuskripte, Bd. III: Drucke in der „Neuen Zürcher Zeitung“, hg. v. Barbara von Reibnitz und Matthias Sprünglin, Basel 2013, S. 7. 20 Robert Walser, Sämtliche Werke in Einzelausgaben, hg. v. Jochen Greven, Zürich 1985, Bd. 16, S. 99.
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1915 in dem Text „Phantasieren“ für die Münchner Zeitschrift „Zeit-Echo“. In dem klaren Plädoyer für den Frieden klingt Resignation mit, die auf den pessimistisch anmutenden Jetzt-Zustand schließen lässt. In Walsers den Krieg und das Militärische explizit thematisierenden Prosatexten manifestieren sich dagegen Banalisierung, Sarkasmus sowie ein provozierendes „Nebeneinander von anti- und pro-militärischen Argumenten“. 21 Auffällig ist dabei ein vorgespielter Enthusiasmus gegenüber der Soldatenexistenz, eine Art Verniedlichung des Militärs, 22 wie etwa in dem 1915 in der „Neuen Zürcher Zeitung“ erschienenen Feuilleton „Beim Militär“: Beim Militär ist manches ohne Frage riesig nett und hübsch, wie z. B. mit Musik durch friedliche, freundliche Dörfer marschieren, wo Kindergruppen, Gruppen von Frauen und blühende Bäume am Weg stehen. Was denkt ein Soldat viel so den ganzen Tag? Er hat ja überhaupt, damit das Ding klappt, das man Militarismus nennt, gar nichts oder absichtlich wenig zu denken. 23
Die in ihrem Ton heitere Darstellung der Soldatenexistenz mag vor dem objektiven Hintergrund der Weltkatastrophe als irritierende Trivialisierung des Krieges und der Gewalt erscheinen, lässt jedoch vielmehr auf eine hinter der fröhlichen Fassade gemeinte Weltflucht und Sehnsucht nach friedlichen Lösungen von Konflikten schließen. Indem Walser das Militär alles ernsthaft Militärischen zugunsten des oberflächlich Idyllischen beraubt, erschließt er darüber hinaus den helvetischen Zeitkontext und verweist auf eine Armee, die nicht zum Kriegseinsatz gekommen ist, und auf Soldaten, die statt zu Kriegern lediglich zu Wanderern und Spaziergängern wurden. In dem 1914 geschriebenen Text „Der Soldat“ ist die vom Autor beabsichtigte Ambivalenz des Ausdrucks und Verunsicherung des Lesers zu erkennen: Der Soldat ist ruhig, ehrlich, brav, bescheiden. Murren und zanken darf der Soldat nicht. Er muß gehorchen. Gehorcht er gern, so gehorcht er um so leichter, das fühlt jeder Soldat. Soldaten, die den Gehorsam verweigern, sind keine Soldaten, und der Gehorsam, der eine Grenze gesetzt haben will, ist nicht der, den jeder Soldat dem Vaterland schuldet. 24
Durch die nahezu mechanische, jeglicher Emotion beraubte, rhythmisch monotone Beschreibung der Soldatenpflicht, die die Figur nicht individualisiert, werden „die zeitgenössischen Kriegsdiskurse und Kriegseuphorien ad absurdum geführt“. 25 Walsers Strategie der scheinbar dilettantischen Darstel-
21 Lucas Marco Gisi (Hg.), Robert Walser-Handbuch: Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2015, S. 170. 22 Vgl. ebd. 23 Walser, Kritische Ausgabe sämtlicher Drucke und Manuskripte, Bd. III, S. 53. 24 Ebd., S. 10. 25 Gisi, S. 170.
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lung der Dinge, der Verweigerung einer Parteinahme könnte, in Bezug auf Schweizer Verhältnisse, als indirekte Anspielung an die von Spitteler lancierte „Rhetorik des Schweigens“ 26 gedeutet werden und auf einen Ort im helvetischen Zuschauerraum 27 verweisen. Einen diskreten Bezug auf das aktuelle Weltgeschehen nahm Walser in dem 1917 im Berner „Bund“ publizierten Feuilleton „Büren“. 28 Unter den für Walsers Figuren typischen Umständen eines Spaziergangs präsentiert sich der Erzähler, indem er die Aare entlang schlendert und, von den Mauern des kleinen Städtchen Büren umgeben, von Sehnsucht nach einem offenen Europa ergriffen wird: „auf der alten Aarebrücke stehend, phantasiert er sich dem Fluss und seinen Städten entlang bis zum Rhein und bis nach Amsterdam“. 29 Ohne dass ein direkter Bezug auf das Kriegsgeschehen erfolgt, spielt Walser auf die militärischen Beziehungen zwischen der Schweiz und den kriegführenden Mächten an. Die Aufmerksamkeit des Ich-Erzählers und sensiblen Beobachters des Kleinen und scheinbar Marginalen gilt dem Gewerbe des Ortes Büren. Die ihm gerade ins Auge fallende gute Konjunktur der dortigen Uhrenfabrik als Teil des britischen Unternehmens Williamson Ltd., eines strategischen Partners der britischen Armee, 30 dürfe er nur am Rande seiner Reflexionen erwähnen, um – an dieser Stelle schlägt die Walsersche Ironie politische Töne an – die Schweizer Neutralität nicht zu beeinträchtigen. Somit erhält Walsers 1917 verfasster Text eine Pionierfunktion für die erst nach 1945 erfolgende Diskussion über die Schweizer Beteiligung an den Weltkriegen. Durch seine literarische Darstellung der Beziehungen der 1914–1918 Rekordgewinne verzeichnenden helvetischen Uhrenindustrie zum kriegführenden Europa visiert Walser die spätere Debatte der Schweizer Schriftsteller und Intellektuellen über die eidgenössische Neutralität während der beiden Weltkriege an: „so zeigt sich die ummauerte Kleinstadt Büren – stellvertretend für den Kleinstaat Schweiz – in vielfacher Weise in den Krieg involviert“. 31
26 Dominik Müller, Grenzdienst. Literatur aus der deutschen Schweiz und der Erste Weltkrieg, in: Musil-Forum 34 (2015/16), S. 186–209, hier S. 200. 27 Vgl. Utz, Hinhören auf den fernen Donner, S. 68. 28 Vgl. ebd. 29 Ebd. 30 Vgl. ebd. 31 Ebd.
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4. Ein Kriegsroman ohne Krieg. Meinrad Inglins „Schweizerspiegel“ Inglins epochaler Roman „Schweizerspiegel“ ist ein Gesellschafts-, Familien-, Kriegs- und Generationsroman, der von der Kritik mehr als alle anderen Werke des Autors an den beiden Gegenpolen zwischen Modernität und Antimodernität situiert wird. Zu den vielen Stimmen der Anerkennung gehört auch diejenige Hermann Hesses, der das Werk als „Zeitspiegel und Mahnruf“ verstand: „Wie mitten in der Hölle des Krieges, des Hungers, der Seuche, der Revolutionsnähe das zarte edle Gebilde des Bundes schwankt und mitleidet und endlich doch besteht und seiner selbst bewußt bleibt, das ist ein schönes, unvergeßliches Bild“. 32 Als eine der wichtigsten Ideen des Romans erscheint Inglins Konzept einer Willensnation, die den sogenannten „Graben“, die aufgrund der politischen Unterschiede zwischen der deutschsprachigen Schweiz und der Romandie entstandene Kluft zu überwinden vermag. Mit seinem Werk wollte der Schriftsteller, wie er selbst betonte, jedoch vor allem erzählen, alles lebendig machen, die unheimlich friedliche Ruhe vor dem Sturm, den bestürzenden Anbruch der Katastrophe, die allgemeine fieberhafte Aufregung, die Mobilisation der Armee, die Eidesleistung, Auszug und Aufmarsch der Truppen an die Grenze, den langen Wachdienst mit seinen mannigfaltigen und merkwürdigen Erfahrungen, die andauernde Erschütterung des politischen, wirtschaftlichen und geistigen Lebens, den Generalstreik, die Grippe. 33
In seinem synoptisch erfassten Bild der Eidgenossenschaft schildert Inglin nicht nur das für seine Heimat unruhige Jahrzehnt, sondern entwirft vor allem eine Zukunftsvision der Schweiz als eines auf der Idee der Humanität erbauten neutralen Staates und einer ihre inneren Zerwürfnisse überwindenden Nation. Ähnlich wie Spitteler versuchte auch Inglin mit seinem Roman zur Überwindung des Schweizer Grabens beizutragen, indem er etwa die Schweizer Verhältnisse widerspiegelnde gespannte Familienbeziehungen, die öffentliche Unruhe sowie den Weg zur Wiederherstellung der Einheit exemplarisch aufzeigte. Die für die Schweizer zu einem wichtigen gesellschaftspolitischen Ereignis gewordene Rede Spittelers begleitet den „Schweizerspiegel“ wie ein roter Faden und wird explizit im Text angesprochen: Angesehene Männer traten auf, um das Volk zu warnen und zu belehren. Den Reigen hatte, denkwürdig genug, ein abseits lebender Dichter eröffnet, Carl Spitteler, der im Dezember 1914 mit einem besonnenen Wort an die entzwei-
32 Zit. nach: Beatrice von Matt, Meinrad Inglin. Eine Biographie, Zürich 1976, S. 187. 33 Zit. nach: Werner Günther, Meinrad Inglin, in: Ders., Dichter der neueren Schweiz, Bern 1986, Bd. 3, S. 340–417, hier S. 381.
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ten Eidgenossen unerwartet aus seiner wachen Einsamkeit herausgetreten war. Ihm folgten Professoren, Schriftsteller, Parlamentarier, Journalisten, Leute der verschiedensten Herkunft und Gesinnung, die sich nun freilich oft selber in die Haare gerieten. 34
Inglins Roman schildert eine umfangreiche politische Debatte der Schweizer Öffentlichkeit und des Schweizer Parlaments, in der die nationalen Gegensätze zwar in aller Schärfe auftreten, doch dann durch Lösungsvorschläge und Versöhnungsbemühungen gebändigt werden. Obwohl dem gesamten Romangeschehen unterschiedlich verflochtene Konfliktstrukturen eigen sind, dringt immer wieder die eigentliche These des Werkes durch – die auf Humanität fußende Schweiz als Einheit in der Vielfalt. Sie wird zum Schluss des Romans als die Botschaft schlechthin vermittelt, aber auch an vielen Stellen des Textes immer wieder angedeutet. In dieser Logik erklingt dort etwa der Aufruf des eidgenössischen Präsidenten Eugster zur Versöhnung der Schweizer Nation: „Wir wollen uns wiederfinden, uns wieder die Bruderhand geben [. . . ]. Laut möge dann die Botschaft durchs Schweizerland klingen, und freudigen Widerhall wird sie überall finden: Wir haben uns wiedergefunden. Wir wollen Schweizer sein, und nur Schweizer!“. 35 Seine Idee und sein Ideal der Schweiz als Vorbild für ein geeintes Europa band Inglin an die Weltanschauung Alfred Ammanns, der Hauptfigur des Romans, sowie seiner ähnlich gesinnten Landsleute. Mit „Schweizerspiegel“ verwirklichte der Autor „ein poetisches Schweiz-Projekt“, 36 bei dem er sich nicht des „vaterländischen Pathos’“ 37 bedienen wollte, sondern die Stärke der Schweiz in den Momenten ihrer Schwäche darstellte: in der Krise der individuellen Existenz, in der Zerrissenheit der helvetischen Nation, in der Bedrohung durch einen Krieg und im Grenzdienst der schweizerischen Soldaten, in der Unheil bringenden Grippe-Epidemie und dem als Bedrohung erkannten Bolschewismus, im „Zerbröckeln der bürgerlichen Absolutheit“. 38 Ein wichtiger Bestandteil des helvetischen Panoramas ist bei Inglin die Konfrontation der Weltanschauung der jungen Generation der Schweizer mit den Überzeugungen ihrer Väter. Der ideologische Ausgangspunkt einer der Figuren – Ammanns Sohn Paul – ist die schroffe Ablehnung von seines Vaters „bürgerlicher Umgebung, die ebenso fragwürdig ist wie er“. 39 Der sozialisti-
34 Meinrad Inglin, Schweizerspiegel. Roman. Ungekürzte Ausgabe, Berlin 1998, S. 489. 35 Ebd., S. 611. 36 Beatrice von Matt, Meinrad Inglin. Erzähler zwischen Wildnis und Menschengesellschaft. Mit einem Seitenblick auf seinen Westschweizer Zeitgenossen Guy de Pourtalès, in: Christian von Zimmermann / Daniel Annen (Hg.), Kurz nach Mittag aber lag der See noch glatt und friedlich da. Neue Studien zu Meinrad Inglin, Zürich 2013, S. 34. 37 Ebd. 38 Zit. nach: ebd., S. 35. 39 Inglin, S. 214.
Zwischen Schweigen und Engagement
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schen Weltanschauung folgend, sieht Paul sich moralisch dazu verpflichtet, sich von dem Umfeld seiner Herkunft zu distanzieren und der neuen Zeit mit einer neuen Gesinnung entgegenzuschreiten: „Wir sind die Söhne dieses Vaters [. . . ], aber wir haben seine Epoche hinter uns, und wir gestehen unsere Fragwürdigkeit ein, wodurch sie erst erträglich wird“. 40 Während die Vätergeneration den in Europa herannahenden Krieg und innerschweizerische Konflikte befürchten muss und gleichzeitig um friedliche Lösungen wie um die Aufrechterhaltung des schweizerischen status quo bemüht ist, ruft Paul mit nahezu expressionistisch anmutenden Tönen aus: „Es ist eure Welt, die zu brennen anfängt und hoffentlich einstürzen wird, eure zivilisierte, sichere, fortschrittliche Welt! Löscht jetzt, wenn ihr könnt!“. 41 Mit der Darstellung weltanschaulich unterschiedlich ausgerichteter Figuren der jungen Generation zeichnet Inglin die Entwicklung neuer bürgerlicher Tendenzen in der Schweiz nach, zum einen die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts immer stärker werdende sozialistische Faszination, zum anderen die Herausbildung eines neuen Bürgers, der – die Humanitäts- und Neutralitätsidee im Auge behaltend – ideologisch und parteipolitisch ungebunden ist. Mit den Augen der Jungen wird dem Leser auch ein breit angelegtes Kriegspanorama näher gebracht, obwohl der große Weltkonflikt der zweiten Dekade des 20. Jahrhunderts für die neutrale Schweiz „ein Krieg auf Abstand“ 42 war. Da der Krieg in „Schweizerspiegel“ das Schicksal einer jeden Figur prägt und somit zum zentralen Geschehen wird, lässt sich der Roman als Kriegsroman klassifizieren, „aber ein Kriegsroman zweiten Grades, denn er schildert die spezielle Situation des Krieges, an dem die Protagonisten gar nicht teilnehmen, durch den sie aber nichtsdestotrotz geprägt werden“. 43 In episch großangelegtem Format und mit militärischem, auf eigene Offizierserfahrung gestütztem Fachwissen schildert Inglin detailgenau die Mobilmachung und Grenzbesetzung der Schweiz, deren Soldaten zu Heldentaten bereit sind, sich des Heroismus jedoch zugunsten ihrer neutralen Sicherheit enthalten müssen. Der Zustand jener durch die Untätigkeit ausgelösten Lähmung einerseits und der durch Kampfbereitschaft verursachten Spannung andererseits ist an Fred, dem jüngsten Sohn Alfred Ammanns, zu erkennen, wenn etwa ein eidgenössischer Zivilist die Legitimität des schweizerischen Einsatzes in Frage stellt: „Tausende und Tausende von Soldaten setzen jetzt auf den Schlachtfeldern ihr Leben ein, sie leiden und sterben, ohne zu murren, und im Vergleich damit ist eure Grenzbesetzung nur ein friedlicher Ferienaufenthalt“. 44 Fred sieht sich als Soldat herausgefordert und erklärt sich in die40 Ebd. 41 Ebd., S. 182. 42 Nina Ehrlich, Meinrad Inglins „Schweizerspiegel“ und Jakob Paludans „Jørgen Stein“. Der Grosse Krieg an den Rändern, in: Zimmermann / Annen, S. 161. 43 Ebd. 44 Inglin, S. 435.
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ser Konfrontation zum Vertreter seiner Schicksalsgenossen, d. h. junger, vom Heldentum träumender Männer, die in ständiger Ungewissheit ihre Kräfte aufopfern und deren Engagement sich trotzdem immer wieder als überflüssig erweist. Er entgegnet auf die Worte des Zivilisten: Sie verstehen einen Dreck von alledem! schrie er ihm ins erschrockene Gesicht und machte sich damit zum Sprecher der Mannschaft, die für den Augenblick denn auch ihre handgreiflichen Absichten aufgab. Wir sind bereit gewesen, das Leben einzusetzen, und sind es jetzt noch. Dass wir es nicht tun dürfen und trotzdem ausharren müssen, das verlangt von jedem Soldaten mehr Opfersinn, als Sie in ihrem ganzen beschissenen Leben aufgebracht haben. Lieber kämpfen und meinetwegen sogar sterben, als monatelang weder leben noch sterben können! Und übrigens sind wir immer noch da und sorgen dafür, daß Sie hier ruhig herumschlitteln können, Sie Maulaffe! Abfahren! 45
In den Schilderungen der langen Tage des Wartens und Wachens an den Schweizer Grenzen wird Inglins Inspiration durch Lew Tolstojs „Krieg und Frieden“ besonders erkennbar, seine literarästhetische Faszination, ohne deren Impulse der Autor seine Arbeit an „Schweizerspiegel“ kaum für möglich hielt. 46 In vielen Kritiken und wissenschaftlichen Arbeiten zu Inglins Werk wird gerade der Aspekt der Kriegsdarstellung aufgrund ihrer paradoxen Beschaffenheit – eines Kriegsromans ohne Krieg – als die größte künstlerische Kraft des Werkes anerkannt. „Der große Krieg an den Rändern“ 47 veranlasst die Eidgenossen zu Reflexionen über ihr Land, prüft die Loyalität der deutschen und welschen Schweizer zu ihrer Heimat und bietet dem helvetischen Staat und Volk eine Alternative: anstatt „Größe ohne Würde [. . . ] eine Würde ohne Größe“. 48 Inglins Roman thematisiert die schwierige Zeit des Ersten Weltkrieges außerhalb und dessen Einwirkungen innerhalb der Schweiz, wo der Bürger sowohl unter äußeren als auch inneren Druck gesetzt wird und auf die Stimme seines Gewissens zu hören hat, „einer Instanz, die in der Zeit, wo alles nach Parteinahme schreit, Zurückhaltung gebietet“. 49 Mit „Schweizerspiegel“ zieht Inglin eine Epochenbilanz, indem er zuerst allerlei Defizite der Eidgenossenschaft entlarvt und die sozialpolitische Stimmung der Vorkriegszeit zeichnet, dann die helvetische Abwehrfront, den Aktivdienst und Gefechtsabbruch – die militärische Bereitschaft der Schweizer Armee ohne deren direktes Eingreifen in den Krieg – als humane Leistung präsentiert, um letztlich in die Zukunft der geeinten Schweiz vorauszuweisen und die Idee der Willensnation zu deren konstituierendem Element zu erheben. 45 46 47 48
Ebd. Vgl. Beatrice von Matt, Meinrad Inglin. Eine Biographie, S. 176. Ehrlich, S. 159. Adolf Muschg, Außer Spesen nichts gewesen? Adolf Muschg über Meinrad Inglin: Schweizerspiegel (1938), in: Marcel Reich-Ranicki, Romane von gestern – heute gelesen, Bd. 3: 1933–1945, Berlin 1990, S. 166. 49 Ebd.
Krieg als nationale Mission
Karsten Dahlmanns
´ aski (Uniwersytet Sl ˛ w Katowicach)
Scheler gegen England Schildern historische Überblickswerke die Beteiligung deutscher Intellektueller am ideologisch-propagandistischen Schlagabtausch während des Ersten Weltkriegs, wird oft Max Schelers 1915 erschienene Abhandlung „Der Genius des Krieges und der Deutsche Krieg“ genannt, um mit wenigen Sätzen charakterisiert und beurteilt zu werden. Dies geschieht zum Teil mit Hilfe einiger prägnanter Zitate, die nur selten ganze Sätze Schelers präsentieren, 1 und recht oft in der Nähe einer vergleichbaren Darstellung von Werner Sombarts weit schlanker und eleganter – wenn man möchte: journalistischer – geschriebe-
1 So schreibt Friedrich C. Sell, Die Tragödie des deutschen Liberalismus, Stuttgart 1953, S. 357: „Den Gipfelpunkt philosophischer Kriegsverherrlichung bildete Max Schelers Dythyrambus auf den Genius des Krieges. Der Krieg sei ein metaphysisches Erwachen aus dem dumpfen Zustand eines bleiernen Schlafes, geradezu der mächtigste Einheitsbildner unter den Menschen, eine Psychotherapeutik im großen, der Führer zu Gott. Si vis pacem para iustitiam, diese Devise des Haager Friedenspalastes sei phrasenhaft und nichtig. Belgien habe zwar ‚das Recht‘ für sich und doch sei das deutsche Verhalten so ‚sittlich‘ wie ‚gerecht‘“. Heinrich August Winkler, Der lange Weg nach Westen. Deutsche Geschichte I. Vom Ende des Alten Reiches bis zum Untergang der Weimarer Republik, München 2014, S. 339, konstatiert: „Der katholische Philosoph Max Scheler war einer der ersten, die die Behauptung aufstellten, der Krieg sei ‚zuerst und zuletzt ein deutschenglischer Krieg‘. [. . . ] Jeder Krieg gegen England als ‚das Mutterland des modernen Kapitalismus‘, schrieb er, sei auch ein ‚Krieg gegen den Kapitalismus und seine Auswüchse überhaupt‘. [. . . ] Scheler zitierte das von Treitschke überlieferte Wort vom Krieg als dem ‚examen rigorosum der Staaten‘. Er selbst nannte den Krieg die ‚Psychotherapeutik der Völker im großen‘ und behauptete vom ‚Genius des Krieges‘, er werde ‚wie von selbst zur Religion – zum Führer zu Gott‘“. Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866– 1918, München 2013, Bd. II, S. 779, lässt es ohne Zitat bewenden: „Der Krieg sei der Weg der Nation zu sich selbst, so redete der Philosoph Max Scheler, er erwecke, das war ein alter Topos, die sittlichen Kräfte des Menschen, ja gebe in aller Verflachung der Moderne dem Leben wieder Tiefe und Sinn. Die Deutschen verteidigten Seele und Kultur gegen die bloße Zivilisation des Westens und seinen individualistischen Utilitarismus“. Einen besonderen Weg geht Peter Watson, Der deutsche Genius. Eine Geistes- und Kulturgeschichte von Bach bis Benedikt XVI., München 42010, S. 552, 554, 628–629. Er nennt Scheler (neben Sombart) unter denjenigen, die den Krieg durch Schriften befürworteten, lässt jedoch keine Darstellung folgen. Dafür unterrichtet Watson an späterer Stelle über die seiner Meinung nach bedeutendsten philosophischen Leistungen Schelers – und darüber, dass Karol Wojtyła (der künftige Johannes Paul II.) eine Habilitationsarbeit über Scheler verfasst habe.
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nem Buch „Händler und Helden“. 2 Überblickswerke folgen eigenen Gesetzen; sie verkürzen, spitzen zu oder verwischen, ohne dass ihnen dergleichen zum Vorwurf gemacht werden könnte. Vor diesem Hintergrund scheint geraten, Schelers „Genius des Krieges“ ein wenig mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Denn es handelt sich um ein seltsames Werk, in kürzester Zeit fertiggestellt, 3 das neben Passagen grobschlächtigen Charakters einige tiefe Einsichten bereithält, 4 dazu Irrtümer auf achtbarem Niveau, deren Aufdeckung über den Charakter deutscher Anglophobie in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts Auskunft gibt: 5 die deutsche Englandfeindschaft jener Zeit dürfte nämlich, wie auch der deutsche Antiamerikanismus im späten 19. und dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, im Wesentlichen einer ablehnenden Haltung gegenüber dem Kapitalismus angelsächsischer Prägung – oder was dafür gehalten wird – entsprungen sein. 6
2 Vgl. Sell, S. 456; Winkler, S. 339; Aleksej M. Rutkeviˇc, The Ideas of 1914, in: Studies in East European Thought 66 (2014), S. 1–15, besonders S. 8–10. Volker Ullrich, Die nervöse Großmacht 1871–1918. Aufstieg und Untergang des deutschen Kaiserreichs, Frankfurt a. M. 22014, S. 496, vermerkt Sombart, nicht aber Scheler. Augenmerk verdient in diesem Zusammenhang auch die Besprechung Sombarts durch Friedrich August von Hayek, The Collected Works, Bd. 2: The Road to Serfdom, Chicago 2007, S. 183–184, in einem Überblickswerk eigener Art also. Scheler, mit dem Hayeks Mentor Ludwig von Mises in seinen Wiener Jahren bekannt war, kommt nur mittelbar vor; eine von Hayek herangezogene Quelle nennt ihn; vgl. ebd., S. 192. Zu den Ähnlichkeiten und Unterschieden zwischen Sombarts „Händler und Helden“ und Schelers „Der Genius des Krieges und der Deutsche Krieg“ vgl. Friedrich Lenger, Werner Sombart als Propagandist eines deutschen Krieges, in: Wolfgang J. Mommsen (Hg.), Kultur und Krieg: Die Rolle der Intellektuellen, Künstler und Schriftsteller im Ersten Weltkrieg, München 1996, S. 65– 76, besonders S. 71–75. Nach Lengers Einschätzung war Scheler „von der unmittelbaren Vorkriegszeit bis in die zwanziger Jahre hinein wohl der Sombart am tiefgehendsten beeinflussende Gelehrte“. Ebd., S. 71. 3 Herbert Spiegelberg, The Phenomenological Movement. A Historical Introduction, Dordrecht 1960, Bd. 1, S. 236, unterstreicht, Schelers Kriegsbuch sei „at top speed“ fertiggestellt worden. 4 D’accord Jan Patoˇcka, vgl. Christian Sternad, The Force of War. Max Scheler and Jan Patoˇcka on the First World War, in: Labyrinth 1 (2017), Jg. 19, S. 120–137, besonders S. 129. 5 Deshalb kann nicht die Rede davon sein, dass, wie Vittorio Cotesta meint, eine genauere Beschäftigung mit Schelers Kriegsschriften auf Zeitverschwendung hinauslaufe. Vgl. Vittorio Cotesta, Classical Sociology and the First World War: Weber, Durkheim, Simmel and Scheler in the Trenches, in: History 351 (2017), Jg. 102, S. 432–449, besonders S. 445. 6 Übereinstimmend Matthew Stibbe, German Anglophobia and the Great War, 1914– 1918, Cambridge 2001, S. 78. Von Interesse im gegebenen Zusammenhang ebenfalls Georg Lukács, Werke, Bd. 9: Die Zerstörung der Vernunft, Neuwied 1962, S. 414–415, wiewohl dabei Lukács’ eigene – und durchweg problematische – Agenda berücksichtigt werden sollte. Vgl. Roger Scruton, Fools, Frauds and Firebrands. Thinkers of the New Left, London 2016, S. 116–120.
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I Max Schelers „Der Genius des Krieges und der Deutsche Krieg“ gliedert sich in vier Teile. Der erste Teil trägt den Titel „Der Genius des Krieges“. Hier zeigt Scheler u. a., dass mit dem Krieg als Ereignis und Institution menschlicher Geschichte stets zu rechnen sei. Ein dauerhafter – „ewiger“ – Friedenszustand könne nicht erwartet werden, weil zwischen und auch innerhalb von Staaten Kräfte eine Rolle spielen, die sich durch kein Social Engineering der Welt befrieden lassen: „Ein Volk oder eine Gruppe, die wir ‚edel‘ nennen, zeigt die damit angedeutete Höhe seiner geistig-vitalen Artung eben durchaus nicht in gesteigerter Anpassungsfähigkeit an alle möglichen Verhältnisse der Natur und Herrschaft“. 7 Dieses Argument wirkt überzeugend, zumal es sich metaphysisch „schlanker“, d. h. ohne einen Rekurs auf geistig-vitale „Höhe“ reformulieren ließe. Ein Beispiel: Mohamed Atta und Ziad Jarrah, zwei der Attentäter vom 11. September 2001, die in privilegierten Verhältnissen aufwuchsen, also durch sozialtechnische Maßnahmen kaum zu besänftigen gewesen wären. Daraus folgt die schlichte und womöglich bedauerliche Tatsache, dass der Krieg als Element der menschlichen Geschichte erhalten bleiben werde. 8 Nachdem Scheler die Unabdingbarkeit des Krieges festgestellt hat, lobt er den Krieg dafür, bestimmte Gewohnheiten des Friedens durch (seiner Auffassung nach) bessere und höhere Motivationen zu ersetzen. Besonders wertvoll sei „das sich Öffnen und das sich Verklammern der Herzen“, 9 das Entstehen eines besonderen Zusammenhalts. Nun ließe sich einwenden, eine Annäherung der Menschen trete bei Katastrophen spontan auf, wie sie nach der Überwindung oder auch nur dem Abklingen der katastrophalen Umstände wieder verschwinde; jeder Krieg bilde eine Katastrophe, also sei selbstverständlich zu erwarten – und kaum bemerkenswert –, was Scheler als „das sich Verklammern der Herzen“ beschreibt. Doch Scheler will mehr. Seiner Meinung nach bewirkt der Krieg (in Gestalt des Ersten Weltkriegs) eine sehr tiefe, da bis hinab in die Ontologie reichende Veränderung in der Weltauffassung der Menschen in den kriegführenden Staaten. So werde „die in der leiblichen Egoität begründete [. . . ] Täuschungsform des nur atomistischen Sehens der geistigen Welt [. . . ]
7 Max Scheler, Der Genius des Krieges und der Deutsche Krieg, Leipzig 31917, S. 47. 8 Diese Tatsache sollte auch dort berücksichtigt werden, wo Schelers Wandlung zum Pazifisten diskutiert wird. Vgl. in diesem Zusammenhang Max Scheler, Das Ressentiment im Aufbau der Moralen, in: Ders., Gesammelte Werke, Bd. 3: Vom Umsturz der Werte. Abhandlungen und Aufsätze, Bern 51972, S. 33–147, besonders S. 92–93. Die dortige Passage ist bereits in der vor dem Ersten Weltkrieg veröffentlichten Fassung der Schelerschen Abhandlung enthalten, besitzt also keinen ad-hoc-Charakter. Vgl. Max Scheler, Über Ressentiment und moralisches Werturteil, Leipzig 1912, S. 45–46. 9 Scheler, Der Genius des Krieges, S. 119.
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zerbrochen. [. . . ] Jeder empfindet nun, es sei viel selbstverständlicher und sehr viel evidenter, daß die Nation ‚sei‘ als daß er selber ‚sei‘“. 10 Das Ergebnis eines solchen nicht mehr bloß „atomistischen Sehens“ zeige sich auf zwei Ebenen: auf einer basalen Ebene, die auch (und gerade) unter friedlichen und glücklichen Umständen zugänglich ist, erlaube das Erlebnis der „Verschmelzung“ von Seele und Leib im liebebeseelten Umfangen der Geschlechter die Erkenntnis der realen Einheit des Lebens, trotz seiner an organischen Körpern räumlich und zeitlich diskreten Erscheinungsweise. Auf höchster übernationaler Stufe aber geht uns in jener Gottinnigkeit heiliger Liebe, in der wir uns schon als Menschen, ja darüber hinaus als „Inbegriff aller persönlicher Geister“ alle als Brüder und als Kinder eines „göttlichen Vaters“ fühlen und sehen, die ganze Ausdehnung des geistigen Reiches auf. In diese Richtung der Anschauung, deren Gegenstand die christliche Kirche das „mystische Corpus Christi“ nennt, leitet uns aber der Krieg trotz alles Kampfes der Völker als der Glieder dieses Corpus mehr als der Friede. Denn die vorwiegende geistige Einstellung des Friedens ist jenes atomistische Sehen aller geistigen Einheiten und Realitäten, die diese Realitäten ganz als bloße anhangende Modi der sichtbar getrennten körperlichen Einheiten und deren Teilen und als bloße Komplexionen der leiblich noch lokalisierten Empfindungsgruppen auffaßt. 11
Der Krieg ist für Scheler das Remedium gegen etwas, das er als Atomismus der bürgerlich-liberalen Weltauffassung begreift. Seinem Argument unterliegt der Atomismus-Vorwurf gegen die bürgerliche Gesellschaft, d. h. die Idee, dass die Menschen dort „vereinzelt“ seien. 12 Dies bildet eine vielgebrauchte Denk- und Redeweise des philosophischen Antiliberalismus. 13 Scheler bewegt sich hier auf Pfaden, die derart ausgetreten sind, dass eine Übereinstimmung zwischen konservativer und marxistischer Kritik am Liberalismus und der bürgerlichen Gesellschaft ausgemacht werden kann. 14 Wo der Atomismus-Vorwurf vorgetragen wird, lässt der Egoismus-Vorwurf nicht lange auf sich warten. Letzterer will darauf hinaus, dass in einer liberal verfassten, bürgerlichen Gesellschaft unter Friedensbedingungen der weit überwiegende Anteil zwischenmenschlicher Interaktionen von Egoismus geprägt sei. Bei Scheler tritt diese Idee als Kontrastfolie auf, vor der die eigentümliche Leistung des Krieges hinsichtlich ethischer Dinge – dessen „Genius“ – hervortrete: „Die Liebe, die das künstlerische Schauen und Schaffen beflügelt, die den Geist heraustreibt aus dem egoistischen Ich und
10 Ebd., S. 120–121. 11 Ebd., S. 121. 12 Vgl. Scheler, Über Ressentiment und moralisches Werturteil, S. 90; Ders., Das Ressentiment im Aufbau der Moralen, S. 135. 13 Vgl. Stephen Holmes, The Anatomy of Antiliberalism, Cambrige (Mass.) 1993, S. 190– 197. 14 Vgl. Hayek, The Road to Serfdom, S. 182.
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aus der Konvention der gemeinen Natur- und Weltansicht – sie ist im letzten Keimpunkte ein und dieselbe Liebe mit jener, die der Genius des Krieges in der Seele hervortreibt“. 15 Krieg und Künstlertum haben gemeinsam, dass sie der „gemeinen“ – man darf vermuten, in beiderlei Sinne gewöhnlichen, also auch der bürgerlichen – Auffassung menschlicher und außermenschlicher Angelegenheiten entgegenstehen und jene überwinden. Genau deshalb lobt Scheler „die neue geistige Einstellung auf Leben und Welt überhaupt, welche der kriegerische Geist der feurigen Liebe und Hingabe an ein großes Ganzes (des Vaterlandes) und die neue Kraft der Opferfähigkeit aller selbstischen Interessen, auch im Künstler und Denker erzeugt“. 16 Wie Schelers Zusatz „auch“ zeigt, erwartet der Philosoph die umrissene Wandlung durch den Krieg nicht lediglich unter Künstlern und Geisteswissenschaftlern, Schriftstellern und Publizisten. Der Geist des Krieges werde in weiten Kreisen der Gesellschaft eine Hingabebereitschaft schaffen, die das zu Friedenszeiten gewöhnliche Maß übertreffe. Es bestürzt, ein solches Argument bei einem Denker vom Range Schelers zu finden. Denn natürlich sollte ein Philosoph, der so durchdringend wie Scheler über die Formen von Liebe und Aufopferung zu schreiben vermag, erkennen und angemessen berücksichtigen, dass auch dann, wenn die Waffen schweigen, Menschen nicht in ihrem „egoistischen Ich“ gefangen seien. Zwar gibt es solche Fälle, doch wirken die meisten Menschen nicht bloß für sich selbst, sondern gleichfalls und besonders für ihre Gemahlin oder ihren Gemahl und ihre gemeinsamen Kinder, für ihre vielleicht schon gebrechlichen Eltern und andere Verwandte, für Freunde und Bekannte, dazu per Spende, Stiftung und Ehrenamt für Menschen außerhalb des Familien- und Bekanntenkreises; darüber hinaus engagieren sie sich für Angelegenheiten, die sie für wichtig, nicht aber unbedingt für nützlich halten. All dies verschwindet unter Schelers Kontrastfolie. Schelers Vorgehen gleicht mithin dem Trick, der z. B. Stefan Georges Kulturkritik unterliegt: Das Bestehende wird in besonders düsteren Farben gezeichnet, um die Alternative, den eigenen Gegenentwurf, desto strahlender hervortreten zu lassen. 17 So urteilt Scheler ähnlich wie George über die Gesell-
15 Scheler, Der Genius des Krieges, S. 67. 16 Ebd., S. 65–66. Der Austromarxist Max Adler gab bereits 1916 zu bedenken, dass von „Liebe und Hingabe“ kaum die Rede sein könne, wo mit dem Gestellungsbefehl Freiheit und Freiwilligkeit ausgelöscht seien. Vgl. Max Adler, Zwei Jahre . . . ! Weltkriegsbetrachtungen eines Sozialisten, Nürnberg 1916, S. 85. In der Tat scheint Scheler dieses entscheidende „Detail“ übersehen zu haben, wiewohl zugestanden werden muss, dass viele Freiwillige am Ersten Weltkrieg teilnahmen. 17 Vgl. Karsten Dahlmanns, Das verfluchte Amerika. Stefan Georges Bildnis von Unternehmertum, Markt und Freiheit, Würzburg 2016, S. 255–261. Dass, von solchen Kontrastspielen abgesehen, auch der Schelersche Gegenentwurf selbst mit Problemen geschlagen
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schaft des Deutschen Reiches unter den Hohenzollern, sie sei „die zweifellos geistig tiefststehendste Epoche des ganzen neunzehnten Jahrhunderts: Überall niedrigster Materialismus“. 18 Der gedoppelte Superlativ („tiefststehendste“), ein logisch-sprachlicher Lapsus, bezeugt die Intensität von Schelers Abscheu. Der im Hinblick auf die Argumentform einzige Unterschied zum sechs Jahre älteren George besteht darin, dass Scheler sich explizit auf das erste Jahrzehnt nach Reichsgründung bezieht 19 – dasjenige Jahrzehnt übrigens, in dem der Philosoph geboren wurde, dessen „höhere“ Realien er somit nur vom Hörensagen kennt –, Georges Zorn eher den Jahrzehnten ab 1890 gilt, als der Dichter mit 22 Jahren ins kulturkampffähige Alter trat. Und wie bei George fehlt die Reflexion auf sich selbst: Das Schaffen eines George oder Scheler zeigt, dass im Deutschen Reich eben nicht nur „niedrigster Materialismus“ herrschte. 20 Der zweite Teil von Schelers Buch „Der Genius des Krieges“ heißt „Der deutsche Krieg“. Wie die Titel seiner beiden Unterkapitel – „Seine Gerechtigkeit“, „Der Glaube an unser höheres Recht in diesem Kriege“ – ankündigen, enthält er eine Rechtfertigung der deutschen Kriegsteilnahme. Das Deutsche Reich führe einen „Verteidigungskrieg“, in dem es nicht um einzelne territoriale Fragen wie etwa den Besitz des Elsass gehe, sondern „um Existenz, Selbständigkeit und Freiheit unseres Staates“. 21 Schelers Hinweis auf den aus deutscher Sicht defensiven Charakter des Konflikts sollte ernstgenommen und keinesfalls unter Bezug auf irgendwelche „verborgenen“ Interessen oder Beweggründe hinwegerklärt werden; aus seinem Buch spricht eine glaubhafte Besorgnis. Ob sie auf kritikwürdigen Prämissen beruht, ist eine andere Frage. Gegen wen oder was habe sich das Deutsche Reich zu verteidigen? Wie Scheler im vierten Teil unter dem Titel „Los von England!“ und dessen beiden Anhängen deutlich macht, sei Großbritannien der gefährlichste Gegner Deutschlands. Dies gelte nicht nur äußerlich, was Machtmittel und Kriegsführung angehe, sondern auch – und vor allem – im Reich des Geistigen. England 22 übe einen verderblichen Einfluss auf Kultur und Moral aus, gegen den sich das Deutsche Reich und sein Verbündeter Österreich-Ungarn verteidigen müssten – in ihrer Eigenschaft „als des festesten und durch den Kapitalismus
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ist, sich z. B. seine Ideen von Verklammerung (der Herzen) und Einheit auf der Ebene des Volks oder der Nation als illusorisch erweisen könnten, vermutet aus guten Gründen Hans Rainer Sepp, Die Grenze der Solidarität. Der Erste Weltkrieg und die Phänomenologie, in: Tijdschrift voor Filosofie 76 (2014), S. 761–793, besonders S. 776–777. Scheler, Der Genius des Krieges, S. 68. Vgl. ebd. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang Watson, S. 907, über Max Scheler und die „theologische Renaissance [. . . ] am Anfang des 20. Jahrhunderts in Deutschland“. Beide Zitate Scheler, Der Genius des Krieges, S. 219. Wo keine Auffassungen Roger Scrutons referiert werden, gebraucht der vorliegende Aufsatz, wie im deutschen Sprachraum üblich, die Bezeichnungen „Großbritannien“ und „England“ synonym, obwohl England bloß einen Teil des Vereinigten Königreichs ausmacht.
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englischer Herkunft noch am wenigsten in sich zerfressenen Kernes westlicher Kultur“. 23 Der Philosoph schreibt sein Buch, um diesen Einfluss deutlich zu machen und aufzuzeigen, was man dagegen unternehmen könne. Letzterem Zweck dient eine „Kategorientafel des englischen Denkens“ von zwei Druckseiten Länge, die dem Einzelnen bei der praktischen Bekämpfung „englischer“ Denkweisen behilflich sein soll. Sie besteht aus zwei Spalten, denen eine Warnung vorangestellt ist: Es besteht die Tendenz, zu verwechseln: Kultur Den Krieger
mit Komfort [. . . ] mit dem Räuber
Denken
mit Rechnen [. . . ]
Gottes ewige Rechtsordnung
mit den Interessen Englands
Das Gute
mit dem Nützlichen [. . . ]
Treue
mit Genauigkeit in der Einhaltung von Verträgen
Sittlichkeit
mit Recht [. . . ]
Adel
mit Reichtum, dessen Provenienz vergessen wurde
Menschliche Natur
mit Engländer [. . . ]
Person
mit Gentleman
Christliche Liebe
mit Humanität
Friedfertigkeit
mit Pazifizismus
Liebe
mit Interessensolidarität [. . . ]
Demokratie
mit Mißtrauen aller mit allen, die sich gegenseitig hierdurch in Schach halten. 24
Wie Scheler erläutert, seien die „linksstehenden Begriffe auf der Tafel [. . . ] jeweilig diejenigen, die Höherwertiges bedeuten und die der englische Geist mit den rechtsstehenden gleichzusetzen die Neigung“ 25 habe. Der Zweck der Tafel bestehe darin, daß man eine ernstliche Selbstprüfung sowie eine Prüfung seiner Freunde im sokratischen Sinne systematisch vornimmt, ob man nicht da und dort in seinem Bewußtsein Neigungen zu analogen Verwechslungen von Begriffen und Werten wahrnimmt [. . . ]. Findet man solche Neigungen vor, so verwerfe man sie nicht
23 Scheler, Der Genius des Krieges, S. 49. 24 Ebd., S. 413–414. 25 Ebd., S. 412.
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einfach oder kämpfe gegen sie an; englisches Denken kann ja dort und da mit rein vernünftigem Denken [. . . ] übereinstimmen. Aber man prüfe in diesem Falle genau zuerst die sachlichen Anschauungsgrundlagen der betreffenden fraglichen Begriffe; dann aber [. . . ] überlege man sich, auf welche historische Weise man wohl zur Neigung, englisch zu denken, gekommen sei. Diese Erkenntnis wird dann jeweilig befreiend und entlastend wirken. 26
Scheler empfiehlt seinen Landsleuten ein Instrument zur praktischen Ausmerzung „englischen“ Denkens. Dies werde zu einer Befreiung von geistiger Fremdherrschaft führen. Dabei ruht Schelers Augenmerk weniger auf der Austreibung bestimmter (materialer) pro-britischer Positionen als auf Schlüsselbegriffen, die die innere Organisation „englischen“ Denkens, dessen Argumentformen oder Struktur, bestimmen. Man könne, betont der deutsche Philosoph, auf „englische“ Weise englandfeindlich denken. 27 Die dem Einzelnen anempfohlene Purifikation soll tiefer reichen. Natürlich hält sich Scheler nicht ausschließlich bei Fragen „privateren“ Charakters auf. Seine Argumentation schreckt vor einschneidenden Urteilen über ganze Völker und Staatswesen nicht zurück und spricht deshalb auch Empfehlungen über den Umgang mit Völkern und Staatswesen aus. Scheler nennt die Engländer „das Urvolk des Kapitalismus“. 28 Die Orientierung auf das Nützliche und deren Philosophie, der Utilitarismus, sei „die ideologische und praktische Spezifizität des Inselvolkes“; 29 diese führe „zur Konsequenz eines schrankenlosen, volks- und landverwüstenden Industrialismus“, 30 dem mit allen Machtmitteln des Deutschen Reiches Einhalt zu gebieten sei. Der Erste Weltkrieg sei von deutscher Seite aus gesehen nicht ein Krieg, welcher der siegreichen Konkurrenz mit England in diesen neu- und hochkapitalistischen Formen, und Englands Überflügelung in ihnen dient. Dieser Konkurrenzgedanke ist nur Sinn und Ziel des englischen Krieges gegen uns! Unser Krieg gegen England hat vielmehr die viel tiefere und welthistorischere Bedeutung, daß er auf unsere Befreiung abzielt von jenen neukapitalistischen Lebensformen überhaupt, in denen mit England zu konkurrieren und sie leider dabei selbst über Gebühr anzunehmen, die welthistorische Situation uns zwang [. . . ]. Nicht also siegreiche Konkurrenz, sondern steigende Erlösung vom Zwang zu einer Konkurrenz mit England, dessen Druck uns allerdings zeitweise von unserem historischen Wesenscharakter abgefallen scheinen lassen konnte, ist das Hauptziel des englisch-deutschen Krieges in diesem Kriege. Denn jeder Krieg gegen England als gegen das Mutterland
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Ebd., S. 411. Vgl. ebd., S. 215–216, 343, 349–350. Ebd., S. 401. Ebd., S. 31. Ebd., S. 32.
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des modernen Hochkapitalismus ist auch Krieg gegen den Kapitalismus und seine Auswüchse überhaupt. 31
Die Befreiung vom „modernen Hochkapitalismus“ – was auch immer im Einzelnen darunter zu verstehen sei – bezeichnet das Fundamentalziel der Schelerschen Argumentation. Als Instrumentalziele fungieren der Krieg gegen Großbritannien einschließlich der Brechung der britischen Seeherrschaft und, als Ergebnis bei glücklichem Ausgang dieses Krieges, die Einbindung Englands in einen europäischen Zollverband, der gegen die USA gerichtet sein solle, 32 um nicht das Spiel nach einem Sieg über Großbritannien mit kaum besseren Karten erneut beginnen zu lassen – nun nicht mehr gegen das englische Kron- und Mutterland, sondern gegen dessen rebellische TochterRepublik. Dies hebt Scheler im dritten Teil seines Kriegsbuches hervor. „Alles weitere überlasse man [. . . ] dem deutschen Fleiße und deutscher Tüchtigkeit im friedlichen Konkurrenzkampf des deutschen und englischen Handels!“. 33 Es ist kurios: Scheler empfiehlt einen Krieg gegen die Supermacht jener Tage, das Vereinigte Königreich, um bei praktischen Empfehlungen zu landen, deren Schlichtheit frappiert, soweit sie sich jenseits der (oben beschriebenen) „privaten“ Ebene bewegen, auf der die „Kategorientafel des englischen Denkens“ anwendbar ist. Das soll es gewesen sein?
II Schelers ad-hoc-Werk „Der Genius des Krieges und der Deutsche Krieg“ steht in einem Spannungsverhältnis zu den auf Grundlegendes zielenden Forschungen des Philosophen. So fällt die prinzipielle Unvereinbarkeit eines phänomenologischen Denkens, das seinen Namen verdient, mit der partikularen – prodeutschen – Ausrichtung von Schelers Kriegsbuch auf. 34 Ein ähnlicher Einwand ließe sich gegen Schelers Argument vorbringen, das den Geist des Krieges dafür lobt, den die zwischenmenschlichen Beziehungen unter Friedensbedingungen bestimmenden Atomismus und Egoismus zu überwinden. Seinem Argument unterliegt die Annahme, dass der Wert einer Zuwendung mit der Menge der Menschen wachse, der sie gelte. Ebendies aber verneint Scheler in seiner berühmten Studie „Das Ressentiment im Aufbau der Moralen“ (und deren früherer Fassung unter dem Titel „Über Ressentiment und moralisches Werturteil“), wo er behauptet, dass ein beharrlicher Wider-
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Ebd., S. 73–74. Vgl. ebd., S. 313–315. Ebd., S. 347. Vgl. Sepp, S. 775. Über die Stellung Schelers innerhalb der phänomenologischen Bewegung vgl. Spiegelberg, S. 228–231.
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wille gegen die Beschränkung einer liebenden Zuwendung auf einen kleineren Kreis von Adressaten als Ausdruck von Ressentiment anzusehen sei. Rekapitulieren wir kurz das Argument in Schelers Ressentiment-Schrift. Dort wendet sich der Pionier der materialen Wertethik gegen einen unbedacht humanitären, mithin wahllosen Ansatz in der Moral. Wer immer nur „die Menschheit“ für dasjenige halte, dem zu dienen sei, werde laut Scheler von einem chronifizierten Groll daran gehindert, kleinere Einheiten zu lieben, z. B. das eigene Volk. 35 Das mag seinem Inhalt nach richtig sein. Nur lässt sich dieses Argument seiner logischen Struktur wegen auch gegen Scheler wenden, wo er die Zuwendung der Bürger zu ihren Familien und sonstigen ihnen nahestehenden Kreisen unter Friedensbedingungen – den Little Platoons Edmund Burkescher Provenienz bei Roger Scruton 36 oder die weniger umfänglichen der vielen verschiedenen ethischen Gemeinschaften im Sinne Rainer Forsts 37 – übersieht oder deren Existenz nicht für hinreichend erhebend halten will, um das Besondere am Kriegszustand gegenüber dem (vermeintlich bestehenden) Atomismus und Egoismus der Friedenszeit hervorzuheben. Warum sollte man in der Abwärtsbewegung bei Volk oder Nation haltmachen, wenn Schelers Kritik an der Vergottung der größtmöglichen Bezugsmenge, wo moralische Verpflichtungen oder menschliche Zuwendung in Rede stehen, als überzeugend zu gelten habe? 38 Was methodische Fragen angeht, die sich näher an der Oberfläche bewegen, sticht ins Auge, dass Scheler in seinem Kriegsbuch recht oft von Qualifikationen Gebrauch macht, die seine Argumente gegen sachliche Kritik immunisieren. 39 Dies lässt sich am Beispiel des Zusatzes „echt“ beobachten, wo Scheler von „dem echten Gemeinwillen“ 40 (im Gegensatz zu oberflächlichen Mehrhei-
35 Vgl. Scheler, Über Ressentiment und moralisches Werturteil, S. 51, 55; Ders., Das Ressentiment im Aufbau der Moralen, S. 97, 101. 36 Vgl. Roger Scruton, England: An Elegy, London 2006, S. 13–15, 118–119; Ders., How to be a Conservative, London 2015, S. 20–22, 120–123. 37 Vgl. Rainer Forst, Kontexte der Gerechtigkeit. Politische Philosophie jenseits von Liberalismus und Kommunitarismus, Frankfurt a. M. 1994, S. 388–390, 424–428. 38 Ein vergleichbares Argument zur Kritik an Schelers ad-hoc-Lob der Nation als Bindungseinheit führt Zachary Davis, The Values of War and Peace: Max Scheler’s Political Transformations, in: Symposium. Canadian Journal of Continental Philosophy / Revue Canadienne de Philosophie Continentale 2 (2012), Jg. 16, S. 128–149, besonders S. 143– 144. 39 Zum Begriff der Immunisierung (als gewollte, durch diesen oder jenen „Trick“ hergestellte Abschirmung von Aussagen gegen jedwede Kritik) vgl. Hans Albert, Traktat über kritische Vernunft, Tübingen 51991, S. 36–37, 41. Für Beispiele vgl. Karsten Dahlmanns, Wissenschaftslogik und Liberalismus. Mit dem Kritischen Rationalismus durch das Dickicht der Weltanschauungen, Berlin 2009, S. 84–93, 109–121. 40 Scheler, Der Genius des Krieges, S. 156. Hier und in den beiden folgenden SchelerZitaten werden die Hervorhebungen des Originals nicht wiedergegeben.
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ten) schreibt, Positivismus von „echter“ Philosophie unterscheidet, 41 Großbritannien „den prinzipiellen Verzicht auf die Verbreitung echter Kultur“ 42 (als etwas bloße Verwaltung und äußerliche Zivilisierung Überschreitendes) in seinen Kolonien vorwirft. Das Nämliche gilt, wo Scheler konstatiert: „Auf Erden suchen [. . . ] echte Macht und echtes Recht einander“. 43 In der Abhandlung über das Ressentiment, wie sie vor dem Ersten Weltkrieg erschienen ist, spielen derartige Qualifikationen kaum eine Rolle; wo sie, selten genug, auftauchen, sind sie nicht gegen das Vereinigte Königreich gerichtet. 44 Hingegen beschreibt der deutsche Philosoph in der vom Ersten Weltkrieg beeinflussten Fassung, wie eine in England (und den USA) besonders verbreitete „Prüderie den unermeßlichen Wert der echten Scham entwertet“. 45 Das Gemeinsame der aufgeführten Passagen besteht darin, dass die Einsetzung des Wortes „echt“ die Entscheidung erschwert oder verhindert, unter welchen Umständen der jeweilige Satz zutreffe, die vorgefundene Beschreibung angemessen sei. Mit dieser Technik fährt Scheler leicht und schnell Siege ein. Doch handelt es sich um Pyrrhussiege, weil er seine Argumentation so dem Verdacht des bloß Rhetorischen aussetzt. Damit wird eine Schwäche von Schelers „angriffslustigem“ Denk- und Schreibstil erkennbar. 46 Nun bestehen zwischen Schelers „Der Genius des Krieges und der Deutsche Krieg“ und seinen anderen Schriften nicht nur Spannungen, sondern auch Übereinstimmungen. Deshalb sollte Schelers Wandlung vom Kriegsbefürworter zu einem Denker, der den Frieden schätzt, 47 wie auch seine Einsicht, der eigene Widerwille Großbritannien gegenüber sei aus dem Ressentiment erwachsen, 48 nicht dazu veranlassen, Kontinuitäten zu übersehen. Als wesentliche Überstimmung von Schelers Kriegsbuch und seiner Abhandlung über das Ressentiment ist festzuhalten, dass sie dieselbe bête noire,
41 Vgl. ebd., S. 316. In diesem Zusammenhang verdient Aufmerksamkeit, dass Werner Sombarts „Händler und Helden“ die Berufsbezeichnung englischer Philosophen (und auch deren Erzeugnis, Philosophie nämlich) gern in Anführungsstriche setzt, um nahezulegen, dass es sich allenfalls um Philosophaster handle. Vgl. Werner Sombart, Händler und Helden. Patriotische Besinnungen, München 1915, S. 9–11. 42 Scheler, Der Genius des Krieges, S. 385. Zum Kultur-Topos als praktischer Schwierigkeit für die deutsche Propaganda während des Großen Krieges vgl. Eberhard Demm, Propaganda and Caricature in the First World War, in: Journal of Contemporary History 28 (1993), S. 163–192, besonders S. 175–176, 181. 43 Scheler, Der Genius des Krieges, S. 131. 44 Vgl. Scheler, Über Ressentiment und moralisches Werturteil, S. 41, 68. 45 Scheler, Das Ressentiment im Aufbau der Moralen, S. 53. 46 Vgl. Graham McAleer, The Conservative Moral Philosophy of Scheler and Kolnai, in: Modern Age 3 (2006), Jg. 48, S. 217–225, besonders S. 222, wo von Schelers „‚attacking‘ style“ die Rede ist. 47 Vgl. Sepp, S. 778–783; Davis, S. 137–142. 48 Vgl. Davis, S. 134.
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den „modernen“ Kapitalismus bekämpfen. 49 Beide Publikationen machen englisches Denken, namentlich seine Orientierung auf den Nutzen, für dessen Entstehen und Verbreitung, sowie dessen – wie Scheler oben äußerte – „Auswüchse“ verantwortlich. 50 Ein nicht weiter zu spezifizierender Anteil dieser Kritik betrifft als weitere angelsächsisch geprägte Macht die Vereinigten Staaten von Amerika. Was findet der deutsche Philosoph am „modernen“ Kapitalismus auszusetzen? Scheler unterstellt ihm, einen Umbruch der Werte hervorgerufen zu haben. „Heroische“ Ideale, Opferbereitschaft und Großzügigkeit träten zurück; „kalkulierender Verstand“ 51 trete hervor. Wo dennoch von Idealen oder tieferen Gefühlen geredet werde, stelle sich über kurz oder lang „organische Verlogenheit“ ein: „Wer ‚verlogen‘ ist, braucht nicht mehr zu lügen!“. 52 Scheler erkennt genau dies im englischen Cant der Kriegszeit: „Cant“ – das ist zunächst ein eigenartiger Zustand des Bewußtseins, der es erlaubt, alles dasjenige, was andere, denen dieser Zustand fehlt, nur in der Form der Lüge und mit „schlechtem“ Gewissen sagen und tun können ohne diese Form und nicht nur mit dem Tone der Biederkeit, dessen sich auch der gemeine Lügner bedienen kann – nein auch mit dem Erlebnis und der Überzeugung des „guten Gewissens“ und all seinen eigentümlichen nur schwer unterdrückbaren Ausdruckserscheinungen zu sagen und zu tun. Oder auch: cant ist die zu einem seelischen Habitus gewordene Kunst, alle Vorteile einzuheimsen, die eine Verletzung sittlicher und moralischer Grundsätze zuweilen mit sich bringen kann, ohne doch dem peinigenden und die Tatkraft hemmenden Gefühle zu unterliegen, daß man diese Grundsätze verletzte. Cant ist – ein „Lügenäquivalent mit gutem Gewissen“. 53
Natürlich mögen diese Zeilen Schelers selbst eine Art Cant sein, deutscher Cant eben. Gleichwohl machen sie deutlich, weshalb der englische Cant jener Jahre – und, wie man im zweiten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends festzuhalten gezwungen ist, mit ihm jede „moralische“ Erregung, die sich guten
49 Die 1915 und 1919 überarbeitete, in Schelers „Gesammelten Werken“ publizierte Fassung der Ressentiment-Schrift enthält einige Verweise auf Schelers Kriegsbuch. Vgl. Scheler, Das Ressentiment im Aufbau der Moralen, S. 92, 118, 126, 132, 142. 50 Vgl. Scheler, Über Ressentiment und moralisches Werturteil, S. 91–92; Ders., Das Ressentiment im Aufbau der Moralen, S. 136–137. 51 Scheler, Über Ressentiment und moralisches Werturteil, S. 87; Ders., Das Ressentiment im Aufbau der Moralen, S. 132. Für eine (äußerst) knappe Übersicht und Kontextualisierung vgl. Spiegelberg, S. 231–232. Was die Scare Quotes am Beginn des Satzes angeht, auf den sich die gegenwärtige Fußnote bezieht, vgl. Norbert Bolz, Der antiheroische Affekt, in: Merkur 724/725 (2009), S. 762–771, besonders S. 768. 52 Beide Zitate Scheler, Über Ressentiment und moralisches Werturteil, S. 16; Ders., Das Ressentiment im Aufbau der Moralen, S. 67. 53 Vgl. Scheler, Der Genius des Krieges, S. 357–358. Kursive geben hier und im folgenden Zitat bei dem Wort „Cant“ an, dass Antiqua im Fraktursatz enthalten ist.
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Gewissens gegen jeglichen Einwand immunisiert – nicht einfach als Propaganda aufgefasst werden sollte. Dergleichen liefe auf eine Trivialisierung der von Scheler ausgemachten Vorgänge hinaus, einschließlich einer (gewaltigen) Unterschätzung der Übel, in die sie führen können. Der Pionier der materialen Wertethik schließt eine amüsante und ebenfalls nicht-triviale Erwägung über das Verhältnis von Cant und Utilitarismus an: Der englische Utilitarist enthüllt das Geheimnis des englischen cant – würdigt aber freilich, da er seine Idee des Menschen zum Engländer verengte, die Moral selbst zum Nützlichen herab. Aber daß er so den cant enthüllt, – das ist nicht cant, das ist sein Gegenteil. Wohl aber wird der Utilitarier durch sein Verfahren in einen fast burlesken logischen Widerspruch getrieben, den der logisch konsequentere Mensch des cant gerade vermeidet. Dieser Widerspruch besteht darin, daß er selbst seinem eigenen utilistischen Prinzip praktisch widerstreitet. Und gerade darin widerstreitet er ihm, indem er den Akt der Aufstellung der These des Utilitarismus öffentlich vollzieht, der These: „das Gute ist das Nützliche“. Denn nicht nützlich, sondern schädlich ist es ja, das faktisch Nützliche nur „nützlich“ – und nicht wie der Mensch des cant, gerade es „gut“ und „gottgewollt“ zu nennen. So handelt zwar der Utilitarist noch im echten Sinne „gut“, indem er diese These aufstellt – aber er widerstreitet damit zugleich seinem Prinzip, indem er ja eben äußerst „Schädliches“ tut. 54
III Trotz der zuletzt referierten Beobachtungen Schelers bleibt „Der Genius des Krieges und der Deutsche Krieg“ ein unglückliches Buch. Die Achillesferse des Werkes bildet die Identifikation von Britentum und Utilitarismus, von England und „modernem“ Kapitalismus. Eine solche Ineinssetzung lässt wenigstens zwei fundamentale Sachverhalte außer Acht: Zunächst wäre festzuhalten, dass eine ausschließlich utilitaristisch und kapitalistisch ausgerichtete Zivilisation kaum lebensfähig wäre. Zählt Großbritannien vor dem Ersten Weltkrieg zu den bedeutendsten Mächten der Erde, muss es von weiteren Ressourcen gezehrt haben und zehren, die Scheler übersieht oder nicht sehen will. 55 Sodann sollte berücksichtigt werden, dass der Utilitarismus lediglich einer unter mehreren Versuchen ist, ethische Maßgaben zu explizieren. Ob er zu den gelungensten Theorie-Vorschlägen in diesem Bereich zähle, darf gegenwärtig unerörtert bleiben, solange sein Theorie- und somit hypothetischer Charakter im Auge behalten wird. Der Theorie-Vorschlag (oder die Menge ähnlicher Theorie-Vorschläge) namens Utilitarismus ist von seinem Gegenstand streng zu unterscheiden – im Falle des Schelerschen Kriegsbuches dem
54 Ebd., S. 382. 55 Vgl. in diesem Zusammenhang Adolf Hitler, Mein Kampf, München 1935, S. 158–159.
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Handeln einer ganzen Nation, wie es in seiner verwirrenden Verschiedenheit und der Mannigfaltigkeit der unterliegenden Motive vorgefunden wird. Beides zu verwechseln, schafft Verwirrung. 56 Aus diesen Sachverhalten folgt, weshalb Schelers Reduktion der englischen Kultur auf Utilitarismus und Kapitalismus nicht lediglich ressentimentbeladen ist, wie der deutsche Philosoph selbst zugab, sondern ihr Ziel in kaum anders als bestürzend zu nennender Weise verfehlt. Kaum zufällig berührt mit Roger Scruton ein namhafter englischer Philosoph der Gegenwart in einem Werk über die lange erfolgreiche, inzwischen jedoch weithin im Untergang begriffene Kultur seines Heimatlandes (als Teil des Vereinigten Königreichs, das mit jenem nicht identisch ist) so gut wie keine Philosophen, die als Utilitaristen zu bezeichnen wären. Scrutons „England: An Elegy“ macht keinen Gebrauch vom Utilitarismus als Theorie; es weist hinsichtlich lebenspraktischer Angelegenheiten nicht auf eine extreme Nutzen-Orientierung hin, um das Besondere Englands zu beschreiben. Für Scruton ist das Exzeptionelle Englands in zweierlei Wirkmächten zu erblicken; zunächst in einem gewachsenen und reich verzweigten System lokaler Selbstregierung, das zuweilen Kuriositäten wie jene entstehen ließ, dass zwar die Kaplane bestimmter Universitäts-Colleges heiraten durften, nicht aber deren Professoren, doch ein lange erfolgreiches, da freiheitsverbürgendes System der Gewaltenteilung und Repräsentation darstellte; zum anderen im Common Law. Letzteres bildet, wie allgemein bekannt, ein Recht, das über Präzedenzfall-Entscheidungen von Richtern Stück um Stück artikuliert – nicht aber gemacht oder erfunden – wird. 57 Die grundlegende Voraussetzung des Common Law besteht darin, dass das Recht in einer vorsprachlichen Dimension bereits vorhanden sei, gespiegelt von unseren ebenso vorsprachlichen Intuitionen bezüglich spielerischer Fairness 58 und Gerechtigkeit. Das gewachsene, weit verzweigte System lokaler Selbstregierung und das Common Law wirken politischen Experimenten „von oben“ entgegen. 59 Dieser Umstand gewährleistete bis in das 20. Jahrhundert hinein eine Gesellschaft, in der große Rechtssicherheit herrschte – die Sicherheit gegen plötzliche Änderungen der Spielregeln nämlich. Solche Rechtssicherheit führt zu Eigentumsund Planungssicherheit. Diese beiden Güter hinwiederum ermöglichen erfolgsgewisse private Initiativen „von unten“. Wie Scruton darlegt, seien die meisten Institutionen Englands, die Londoner Börse eingeschlossen, aus lo-
56 Dieses Argument folgt in seiner logischen Form Holmes, S. 181–182. 57 Vgl. Scruton, England, S. 9, 112–117; Friedrich August von Hayek, Law, Legislation and Liberty, Bd. 1: Rules and Order, Chicago 1983, S. 72–88. Zur weithin übersehenen „gewachsenen“ Natur mancher Gesetzessammlungen, deren Entstehen mit den Namen berühmter Männer verbunden wird (z. B. Solon, Justinian), vgl. ebd., S. 81, 83. 58 Um Missverständnisse auszuschließen, sei betont, dass Fairness hier nicht im Sinne von John Rawls’ bekannter Theorie der Gerechtigkeit verwendet wird. 59 Vgl. Scruton, England, S. 119–120, 182.
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kalen und privaten Initiativen erwachsen, 60 und er kontrastiert diese charakteristische Mischung aus Rechts- und Selbstvertrauen, welche seiner Auffassung nach das Besondere Englands ausgemacht hatte, bis ihre institutionellen Grundlagen mehr und mehr zerstört wurden, mit dem Zynismus vieler Menschen, die in Gegenden leben, wo sie Experimenten „von oben“ ausgeliefert sind. 61 Scrutons Darstellung ermöglicht, den Atomismus- und Egoismus-Vorwurf Schelers gegen die bürgerliche (oder „hochkapitalistische“) Gesellschaft, wie sie besonders in Großbritannien vorkomme, in einer weiteren, das bisher Festgestellte ergänzenden Weise zu betrachten. Es bedarf keiner Erklärung, aus welchen Gründen Rahmenbedingungen, die Rechts- und Eigentumssicherheit gewährleisten und örtliche Initiativen ermöglichen, ein ideales Spielfeld für Unternehmer und Kaufleute ausmachen. Doch ist damit eben nicht nur ein Spielfeld für „Gierige“ eröffnet, sondern auch eines für solche Menschen, denen Religion, Kultur und Bildung am Herzen liegen und die darum z. B. eine Schule für gescheite Kinder aus ärmlichen Verhältnissen stiften. Dies nicht erkannt zu haben, bildet, mit Scheler selbst zu sprechen, die ressentimentbedingte „Werttäuschung“ des deutschen Philosophen. Nun enthält „Der Genius des Krieges und der Deutsche Krieg“ Passagen, in denen die gewachsene und weitverzweigte Selbstregierung der Engländer und das Common Law genannt oder wenigstens gemeint werden. Scheler macht diesen beiden Eigenheiten Englands gerade dasjenige zum Vorwurf, was Scruton lobt, nämlich deren (über lange Zeit erfolgreiche) Funktion als ein Schutzschirm gegen Experimente „von oben“. So führe „dieser englische Traditionalismus, dieser Gewohnheitsglaube“, 62 wie Scheler meint, „in der englischen Verfassungsgeschichte [. . . ] zur Unfähigkeit, Altes, Überlebtes, zum Beispiel einzelne Gesetze und Gewohnheitsrechte, so vieles die lebendige Tätigkeit des Staats- oder Gruppenorganismus nur Belastendes auszuscheiden“. 63 Dass jene „lebendige Tätigkeit des Staats- oder Gruppenorganismus“ der Freiheit des Einzelnen und der Little Platoons, denen er zugehört, abträglich sein könnte, gelangt nicht zu spürbarem Einfluss auf die Argumentation des Schelerschen Kriegsbuches. Daher die recht unbekümmert wirkende Entgegensetzung von („echter“) „Demokratie“ und ihrer (vermeintlichen) Schwundform, dem „Mißtrauen aller mit allen, die sich gegenseitig hierdurch in Schach halten“ in der oben zitierten „Kategorientafel des englischen Denkens“. Der deutsche Philosoph scheint nicht recht zu wissen, was er von „negativer“ Freiheit, dem Schutz des Einzelnen vor dem Staat halten soll. Einerseits lobt er „die Idee des englischen geheiligten Hauses, in dem jeder
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Vgl. ebd., S. 57–59, 135–136. Vgl. ebd., S. 125–129. Scheler, Der Genius des Krieges, S. 369. Ebd., S. 368.
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sicher ist und tun kann, was ihm beliebt“, 64 andererseits verkürzt er die Effekte derartiger Frei- und Sicherheit in einer Manier, zu deren einzigem Vorteil das Zugeständnis gereicht, dass es um England einmal besser gestanden haben mochte: „Ich weiß nicht, wann und wo das englische Volk sich die Veredlung und Vergeistigung des Menschen einmal für immer und ewig abgeschworen, und dem Teufel sich zugeschworen hat: Um das Volk des Mammons, der kunstvollsten Politik und der einlullendsten Verwaltung zu werden“. 65
Schlussbetrachtung Schelers „Der Genius des Krieges und der Deutsche Krieg“ beschreibt England (oder Großbritannien) als eine vom „modernen“ Kapitalismus und der Orientierung auf den Nutzen ruinierte, für beide Phänomene aber auch verantwortliche Zivilisation. Diese Zuschreibungen halten keiner näheren Prüfung stand. Sie sind jedoch nicht als bloße Kriegspropaganda – geschweige denn Mietlingsprosa 66 – abzutun, da sie tieferen und älteren Schichten Schelerschen Denkens entstammen. Es handelt sich um Irrtümer, die als solche anzuerkennen und sachlich zu widerlegen sind. Schelers Ausführungen über den englischen Cant gewinnen an Wert, sobald man sie zeitgebundener Ungerechtigkeiten und mit ihnen jeder Beschränkung auf England entkleidet; dann lässt sich an ihnen viel über „organische Verlogenheit“ (Scheler) und die Gefahren „moralischer“ Erregung lernen. Scheler kritisierte in England eine Zivilisation, die sich dank ihrer über Jahrhunderte gewachsenen Rechtsgüter weniger leicht durch großangelegte sozialtechnische Maßnahmen von Staats wegen formen ließ. Das dürfte einen kontinentaleuropäischen Intellektuellen gestört haben, der in seinem Kriegsbuch von gewaltigen Entwürfen, die sämtlich „von oben“ durchzuführen wären, schreibt: u. a. von dem großen Verteidigungskrieg gegen den „modernen“ Kapitalismus nebst anschließender Schaffung eines wirtschaftlich und kulturell „befreiten“ Deutschlands und Europas, das gegen die USA als jüngere angelsächsische Macht (von Übel) anzugehen habe. Für Scheler ist die Formung „von oben“ das Gewöhnliche und Erstrebenswerte; es bedarf keiner Diskussion. Hier liegt der eigentliche Bruch zwischen dem England jener Tage – das, wie Scruton unterstreicht, bloß in Resten noch vorhanden ist – und Kontinentaleuropa. Mit der Polemik gegen die „kapitalistischen“ und „flachen“ Engländer führt der deutsche Philosoph sich selbst und sein Publikum in die Irre. 64 Ebd., S. 384. 65 Ebd., S. 400. 66 Wie denn auch Davis, S. 129, zwar anspricht, dass Scheler „even held an official post in the office of propaganda for the war“, aber seine Analyse den Argumenten des Philosophen widmet – ein vorbildliches Vorgehen.
Robert E. Norton
(University of Notre Dame)
Werner Sombarts „Händler und Helden“ In der schier unübersehbaren Literatur, die der Erste Weltkrieg ausgestoßen hat und deren Ausmaß, Bedeutung und bloße Existenz uns immer noch verblüffen, beunruhigen oder ärgern, gibt es einige wenige Werke, die sich über die Masse der Flugschriften, Zeitungsartikel, Vorträge, Pamphlete, Essays, Bücher und Sammelwerke erheben, da sie einen besonderen Ruhm oder zumindest eine aufreizende Notorietät erworben haben. Diese Bekanntheit an sich kann natürlich trügerisch sein: es ist nicht immer klar, ob ein solches Werk auch zur Zeit seines Erscheinens ähnlich hervorstach und wenn ja, warum. Und es ist oft ebenso schwierig, auszumachen, welchen Eindruck es auf die Zeitgenossen machte, ob auch sie das darin sahen, was späteren Beobachtern wichtig wurde, oder vielleicht etwas ganz Anderes daran wahrnahmen – etwas, das allmählich an Resonanz und Relevanz verlor. Dies ist, wie man weiß, ein allgemeines Problem der Literatur: Die Knüller von heute sind die Ladenhüter von morgen, wie auch umgekehrt. Aber das Problem bekommt eine zusätzliche Brisanz im Falle der Kriegsliteratur, die einerseits in einem extrem aufgeladenen Kontext geschrieben und gelesen wird, wo die verschiedensten Motive, manchmal ausgesprochen und explizit, manchmal unterschwellig oder nur leise angedeutet, sich kreuzen und unterstützen, und wo es im Wortsinne um Leben und Tod geht. Andererseits aber wird diese ursprüngliche Brisanz manchmal noch überboten in der späteren Aufarbeitung dieser Literatur, wo ganz andere, gleichsam forensische Interessen ins Spiel kommen, wo es nicht nur um objektives Verständnis und unparteiische Beurteilung geht, sondern auch – oder vielmehr – um Schuld und Verantwortung, das heißt, um Erklärungen dafür, wie der Krieg überhaupt entstanden ist und was oder wer die Verantwortung dafür trug. Diese ganze Problematik lässt sich an dem berüchtigten Buch „Händler und Helden“, verfasst 1915 vom Nationalökonomen und Soziologen Werner Sombart, exemplarisch darstellen. Kaum ein wissenschaftliches Werk über den Ersten Weltkrieg in Deutschland, das Sombarts „Patriotische Besinnungen“, wie es im Untertitel heißt, unerwähnt lässt, und oft wird auch daraus zitiert, um dem Leser deutlich vor Augen zu führen, worum es darin geht. Der Fall scheint klar zu sein. Besonders in der klassischen Historiografie in englischer Sprache spielt Sombarts Buch eine auffällig prominente Rolle, wie in der maßgebenden Studie aus dem Jahr 1969 von Fritz Ringer „Der Untergang der deutschen Mandarine 1890–1933“, die bei einem Umfang von über 500 Seiten ganze zwanzig dem Großen Krieg widmet, davon alleine sechs (oder fast ein
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Drittel) einer Besprechung von „Händler und Helden“. Diese Sonderstellung wird damit begründet, wie Ringer schreibt, dass „Sombarts Geschichte der Händler so etwas wie ein Meisterwerk in seiner Kategorie war. Sein fulminanter Ton und die undisziplinierte Breite seiner Assoziationen wurden von seinen Konkurrenten auf dem Feld der Polemik selten, wenn überhaupt, erreicht“. 1 Mehr noch: „Viele seiner Stereotypen scheinen [. . . ] ein gemeinsames Ideengut in akademischen Kreisen gewesen zu sein. Man findet sie immer wieder in der Literatur des ‚Kulturkrieges‘, obwohl gewöhnlich in einer weniger umfassenden und überladenen Form und manchmal subtiler formuliert“. 2 Und noch deutlicher und weniger vorsichtig: „Sombart hat die irrationalen Unterströmungen, die er in seiner Umgebung empfand, vergrößert. Aber er hat die Emotionen, die er feststellte, nicht erfunden; denn seine Kollegen spürten sie auch“. 3 Dreißig Jahre später, in der 2001 erschienenen Monografie des britischen Historikers Matthew Stibbe „German Anglophobia and the Great War, 1914– 1918“, hat sich dieser generelle Befund nicht nur zu einem Gemeinplatz erhärtet, sondern sich sogar ideologisch noch gesteigert. Stibbe schreibt dort nämlich auch von den „Unterströmungen im Denken der deutschen Rechten“, „deren berühmteste Quelle in Werner Sombarts Buch ‚Händler und Helden‘ erblickt werden kann [. . . ], das die deutschen Kriegsanstrengungen als einen Kampf gegen den englischen ‚kommerziellen Geist‘ ansah“. 4 Sombarts Werk, so schreibt Stibbe weiter, das „höchst einflussreich“ 5 gewesen sei, habe somit einen wesentlichen Anteil daran gehabt, den „öffentlichen Hass gegen den Feind zu fördern, indem es namentlich England als den Urheber der ‚Einkreisung‘ und als die herausragendste der utilitaristischen, egoistischen und rein gewinnsüchtigen Kräfte geißelte, die dem deutschen ‚heldischen‘ Geist angeblich so fremd waren“. 6 Zugespitzt resümiert Stibbe, diese und ähnliche Schriften hätten „eine Verbindung zwischen antisemitischer Agitation und der intellektuellen Ablehnung westlicher Normen und Werte geschmiedet, wie man sie auch in Werken wie [. . . ] Ernst Graf zu Reventlows ‚Der Vampir des Festlandes‘ sieht“. 7 Das heißt, mehr als der eigentliche Inhalt von Sombarts Werk selber, ist es seine vermeintliche Exemplarität, seine angeblich repräsentative Funktion, die seinen wirklichen Stellenwert für diese Kommentatoren
1 Fritz Ringer, The Decline of the German Mandarins. The German Academic Community, 1890–1933, Cambridge 1969, S. 185. Alle Übersetzungen aus dem Englischen stammen vom Autor dieses Beitrags. 2 Ebd. 3 Ebd., S. 188. 4 Matthew Stibbe, German Anglophobia and the Great War, 1914–1918, Cambridge 2001, S. 5. 5 Ebd., S. 12. 6 Ebd., S. 51. 7 Ebd., S. 58.
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ausmacht, der dann stellvertretend für die Mentalität, wenn nicht aller Deutschen, so wenigstens eines nicht unerheblichen Anteils der Deutschen verstanden und ausgegeben wird. Pars pro toto: Sombarts „Händler und Helden“ soll demnach das deutlichste und auf jeden Fall das bekannteste Indiz für die allgemeine Abirrung der Deutschen im 20. Jahrhundert sein, deren weiterer Verlauf so vertraut ist, um keiner weiteren Erläuterung zu bedürfen. Manche von Sombarts deutschen Auslegern zeigen sich etwas umsichtiger, wie etwa Hermann Lübbe, der in seiner gleichermaßen als klassisch geltenden Studie „Politische Philosophie in Deutschland“ von 1963, die sich in der Tat durch eine bemerkenswerte Ausgewogenheit und Kühle des Urteils auszeichnet, Sombarts Buch als die „äußerste Überbietung nationaler Bornierung“ bezeichnet, um dann dessen arrogante Engstirnigkeit etwas zu relativieren, indem Lübbe sie als eine Erscheinung diagnostiziert, „die, als ein gesamteuropäisches Weltkriegsphänomen, auch das deutsche philosophisch-politische Denken bannte“. 8 Trotzdem erkennt Lübbe einige Besonderheiten bei Sombart, die vermutlich die verhältnismäßig ausgiebige Behandlung rechtfertigen. Auf der einen Seite unterstreicht Lübbe die außerordentliche Intensität des Spotts und der Verhöhnung, die in Sombarts Beschreibungen der englischen Kultur zum Ausdruck kommen, die beinahe opernhafte Persiflage der Engländer als einer durchweg geldgierigen, bequemlichkeitssüchtigen, niedrigen, ja sogar diebischen und gaunerischen Menschenart; sie sei so übertrieben und einseitig, dass man geneigt sein könne, sie lediglich als eine Art persönlichen Feldzug zur Verleumdung einer ganzen Nation aufzufassen. „Die Sombartsche Darstellung der englischen Geistesgeschichte läßt sich nur noch als Diffamierungsaktion charakterisieren“. 9 Auf der anderen Seite aber, und damit verknüpft, konstatiert Lübbe verallgemeinernd, dass „bei Sombart [. . . ] die Kriegsphilosophie chauvinistische Züge annimmt“ und als solche „ehrlicher Ausdruck politischer Gläubigkeit“ sei. „Man fragt sich“, meint Lübbe, seine Analyse Sombarts abschließend, „welche Ansichten darüber hinaus noch der Beglaubigung durch wissenschaftliche Bildung fähig sind, wenn diese hier schon als Instanz der Kritik nicht mehr wirksam wurde“. 10 Das ist vielleicht gewollt dunkel ausgedrückt, aber gemeint ist ohne Zweifel auch, worauf es bei Matthew Stibbe mit unzweideutiger Direktheit hinauslief: dass man nämlich hier bei Sombart schon all das präformiert vorfinde, als Tendenz und sogar als Essenz, was wenige Jahre später in Deutschland an bis dahin unvorstellbarer Virulenz gewann. Diesen Deutungen, und vielen anderen mehr, ist gemeinsam, dass wir Sombarts Aburteilung Englands ernst zu nehmen haben, weil sie etwas Wichtiges
8 Hermann Lübbe, Politische Philosophie in Deutschland. Studien zu ihrer Geschichte, Basel 1963, S. 212. 9 Ebd., S. 213. 10 Ebd., S. 214–215.
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und Wahres über die damalige geistige Lage offenbare, das uns zuverlässig Auskunft über den Gemütszustand nicht nur der einzelnen Person seines Verfassers, sondern des gesamten deutschen Volkes gebe, entweder weil Sombart damit die Meinungen seiner Mitbürger nachhaltig geprägt habe – kein Geringerer als Wolfgang J. Mommsen vertrat die Ansicht, es sei ein „überaus einflußreiches Buch“ 11 gewesen –, oder aber weil es Sombart darin gelungen sei, schon lange existierende, gleichsam unterirdisch schwelende Ressentiments an die Oberfläche zu zerren und ihnen eine fassliche, wenn auch etwas überspitzte Form zu verleihen. „Gott strafe England!“. Der berühmte „Haßgesang“ Ernst Lissauers: auch das glauben wir, mühelos einordnen zu können als Symptom einer weitverbreiteten, wenn nicht universellen Emotion, die, so versichert uns Stefan Zweig, der Lissauer persönlich kannte, ganz Deutschland erfasste. „So wie Lissauer“, schreibt Zweig in seinem Erinnerungsbuch „Die Welt von Gestern“, „waren sie alle“. 12 Alle? Unzweifelhaft war für sehr viele Deutsche der Eintritt Großbritanniens in den Krieg ein Schock, eine erschütternde Überraschung und bittere Enttäuschung, die um so größer waren, weil sie den erst beginnenden Konflikt schlagartig in einen existentiellen Kampf verwandelten. „Da traf viele, ja fast alle mit mir wie aus heiterem Himmel der Blitz der englischen Kriegserklärung“, notierte der Kieler Professor der evangelischen Theologie Otto Baumgarten in seinem Tagebuch im August 1914. „Ich werde es zeitlebens nicht vergessen, wie mich am Morgen vor dem Betgottesdienst diese Nachricht niederwarf“. 13 Der konservative Münchner Historiker Karl Alexander von Müller schrieb in ähnlicher Weise: „Die schwerste Erschütterung bedeutete für die meisten der Kriegseintritt Englands; damit erst erhielt das Ringen seine eigentliche Furchtbarkeit und Größe; England an der Seite Rußlands gegen uns zu finden, erschien mehr als einem damals wie ein Verrat an der Menschheit“. 14 Am 12. August verkündete der weltweit gefeierte Biologe und Naturforscher Ernst Haeckel, der viele Verbindungen mit britischen Wissenschaftlern pflegte, z. B. mit Charles Darwin: „Entsetzt, ja betäubt, steht seit 8 Tagen die Kultur-Menschheit vor einer der größten Katastrophen der ganzen Weltgeschichte“. 15 Wer immer dafür verantwortlich war, das Unheil herbeigeführt zu haben, schrieb der 80-jährige Haeckel, könne mit Recht als „der größte Verbrecher der Weltgeschichte“ 16 gebrandmarkt werden. Und für 11 Wolfgang J. Mommsen, Der Geist von 1914: Das Programm eines politischen „Sonderweges“ der Deutschen, in: Wolfgang Greive (Hg.), Der Geist von 1914. Zerstörung des universalen Humanismus?, Rehburg-Loccum 1990, S. 23. 12 Stefan Zweig, Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers, Frankfurt a. M. 1955, S. 216. 13 Otto Baumgarten, Meine Lebensgeschichte, Tübingen 1929, S. 267. 14 Karl Alexander von Müller, Mars und Venus. Erinnerungen 1914–1919, Stuttgart 1954, S. 19. 15 Ernst Haeckel, Englands Blutschuld am Weltkriege, Eisenach 1914, S. 3 16 Ebd., S. 5.
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Haeckel selber gab es keinen Zweifel, wer genau für das, was er schon als den „Weltkrieg“ bezeichnete, zur Rechenschaft gezogen werden sollte: „England allein trifft jetzt unmittelbar der größte Teil der schweren Verantwortung für den Ausbruch des Weltkrieges“. 17 Zwei Tage später stimmte Eduard Meyer, angesehener Professor der Altertumswissenschaft an der Berliner FriedrichWilhelms-Universität, mit seinem Kollegen überein, indem er behauptete, „moralisch und geschichtlich trägt England und nur England allein die Verantwortung für den gewaltigsten Kampf, den Europa je gesehen hat“. 18 Und im September schrieb der Heidelberger Geschichtsprofessor Hermann Oncken: „Der Krieg mit England ist unter allen Erlebnissen, die auf uns einstürmen, doch das Ereignis, dessen weltgeschichtliche Bedeutung am weitesten trägt und am tiefsten aufwühlt“. 19 Aber – und dies ist ein entscheidender Punkt – es wäre ein schwerer Fehler, aus dem Vorliegen solcher entrüsteten oder auch nur verzweifelten Ausbrüche zu folgern, es habe während des Ersten Weltkriegs oder in den letzten Jahrzehnten vor Kriegsausbruch eine durchgängige, tiefe und ungeteilte Anglophobie in Deutschland gegeben. Im Gegenteil. Wenn überhaupt, gab es zumindest unter den Gebildeten eine nahezu allgegenwärtige und eifrige Anglophilie, oder vielleicht wäre es richtiger zu sagen, es gab unter kultivierten Deutschen ein heftiges Verlangen, wie die Engländer zu sein und von ihnen dafür anerkannt und geschätzt zu werden. Oskar A.H. Schmitz, damals ein beliebter und erfolgreicher Schriftsteller, schrieb 1915 im Sinne vieler seiner Landsleute: „Wenn der gebildete Deutsche des letzten Jahrzehnts überhaupt noch so etwas wie ein Ideal verkündigte, so war es das des englischen ‚Gentleman‘. In ihm sah er den eigentlichen neuzeitlichen Menschen, der Anständigkeit der Gesittung, Lauterkeit der Mittel mit zielbewußter Beherrschung des Lebens in freundlichen Formen vereint“. 20 Arnold Schröer, ein deutsch-österreichischer Anglist und späterer Rektor der Universität Köln, veröffentlichte ebenfalls im Jahre 1915 ein Buch mit dem Titel „Zur Charakterisierung der Engländer“, in dem es heißt, dass „das englische Volk im Grunde ehrlich und wahrheitsliebend ist – ich sage das und behaupte das nach wie vor laut und offen trotz aller Erbitterung über Englands ruchlose Politik!“. 21 Natürlich gab es, wie Schröer indirekt hervorgehoben hat, auch schon lange in Deutschland und vorzugsweise unter radikalen nationalistischen Gruppen, vor allem im Alldeutschen Verband und in verwandten Kreisen, leidenschaftliche Kritiker Großbritanniens und seiner Handlungen, besonders wo sie in 17 Ebd., S. 6. 18 Eduard Meyer, Deutschland und der Krieg, Berlin 1914, S. 13. 19 Hermann Oncken, Deutschland oder England?, in: Süddeutsche Monatshefte 11/2 (1914), S. 801–811, hier S. 801. 20 Oskar A.H. Schmitz, Das wirkliche Deutschland. Die Wiedergeburt durch den Krieg, München 1915, S. 14. 21 Arnold Schröer, Zur Charakterisierung der Engländer, Bonn 1915, S. 33.
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direktem Konflikt mit deutschen Ambitionen standen oder zu stehen schienen. Aber sie mussten gegen die vorherrschende Vorliebe der Deutschen für ihre britischen „Vettern“ zielbewusst und energisch kämpfen. Der langjährige Vorsitzende des Alldeutschen Verbands, Heinrich Claß, klagte schon 1912 in einer unter dem Pseudonym Daniel Frymann erschienenen Schmähschrift „Wenn ich der Kaiser wär’“: „Alles, was in Deutschland Bildung besitzt, liebt und verehrt England – abgesehen von seiner Politik; viel mehr als es gut ist, ahmen die national Haltlosen und Halbgebildeten englisches Wesen nach“. 22 Das von Matthew Stibbe erwähnte, wie Sombarts Schrift 1915 veröffentlichte Buch „Der Vampir des Festlandes“ von Ernst Graf von Reventlow – Reventlow war eine führende Figur im Alldeutschen Verband und zwischen 1908 und 1914 Chefredakteur seines Hauptorgans, der „Alldeutschen Blätter“ – sollte dementsprechend dem Zweck dienen, seinen unbelehrbar anglophilen Landsleuten die Illusion auszutreiben, dass die Engländer ihre Zuneigung erwiderten oder ihnen auch nur wohlgesinnt seien. Darin mokierte sich Reventlow, dass „noch nach Ausbruch des Krieges [. . . ] in Deutschland die Auffassung weit verbreitet und tief gewurzelt [war]: es sei ganz unbegreiflich, dass Großbritannien sich am Krieg gegen Deutschland beteilige“. 23 Reventlow malte sich genüsslich aus, welche Gedanken beim Ausbruch der Kriegshandlungen seinen verwirrten und naiven Landsleuten durch die Köpfe gegangen sein müssen. „Wie kommt England nur dazu“, stellte sich Reventlow die fassungslosen Selbstgespräche der Betroffenen vor, „Deutschland und gerade Deutschland anzugreifen, dessen Bevölkerung den Briten die freundschaftlichsten und verwandschaftlichsten Gesinnungen entgegenbrachte und nichts sehnlicher wünschte, als mit dem ‚Vetter‘ in engen, womöglich vertraglich geregelten Beziehungen zu leben“. 24 Für Reventlow lag der Grund für diese kollektive Verblendung auf der Hand: Hauptsächlich ist es wohl die alte sehnliche Neigung weitester Kreise in Deutschland, gerade mit Großbritannien in guten Verhältnissen zu leben, die alte, stille oder laute, deutsche Liebe und Bewunderung für großbritannische Einrichtungen, der untertänige Respekt vor englischen Lebensgewohnheiten und Lebensannehmlichkeiten, das Gefühl, daß das englische Volk gewissermaßen das unter günstigeren Verhältnissen und deshalb weit besser und reicher entwickelte Kind desselben Stammes sei. 25
Reventlows Schrift mit dem bewusst provozierenden Titel – mehr als ihn scheinen übrigens die meisten Kommentatoren nicht gelesen zu haben, wohl 22 Daniel Frymann [Heinrich Claß], Wenn ich der Kaiser wär’. Politische Wahrheiten und Notwendigkeiten, Leipzig 31912, S. 146. 23 Ernst Graf zu Reventlow, Der Vampir des Festlandes. Eine Darstellung der englischen Politik nach ihren Triebkräften, Mitteln und Wirkungen, Berlin 1915, S. 1. 24 Ebd. 25 Ebd., S. 2.
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in dem Glauben, er besage schon alles, was man über das Buch zu wissen brauche – ist in Wirklichkeit der Versuch, die Augen seiner blindgläubigen Landsleute zu öffnen, die noch nicht begriffen haben, dass ihre Sympathie, ja ihre Liebe für die Engländer von deren Objekt verschmäht und missbraucht wurde. Hauptadressat der Reventlowschen Schrift war also jemand wie der oben bereits zitierte Karl Alexander von Müller, der von seiner eigenen Haltung gegenüber den Engländern bekannte, daß ich diesen Gegner nach wie vor höher schätzte als alle andern, ja, im Innern liebte; nichts war mir widerwärtiger als das pöbelhafte Herabsetzen des angeblichen „Krämervolkes“ oder der töricht pharisäische Haßgesang des „Gott strafe England“. Ich sah auch in der erbittertsten Feindschaft in ihm immer noch das Volk Shakespeares und Miltons, den größten Vertreter der weißen Rasse auf unserem Planeten, trotz aller Gegensätze, unter den großen Nationen unsern nächsten Verwandten. 26
Der deutliche Verweis auf „Krämer“, ein gängiges Synonym für „Händler“, lässt aufhorchen. Und tatsächlich: in „Händler und Helden“ ging es Sombart weniger um die Engländer als um die Deutschen selber, die seiner Ansicht nach schon vor 1914 von einer verhängnisvollen Leidenschaft für die Insulaner befallen waren. „Die händlerische Kultur war vor dem Kriege drauf und dran, sich die Welt zu erobern“. 27 Das heißt, sein Buch war hauptsächlich gegen die landläufige Sympathie unter den Deutschen für die englische Kultur gerichtet und kein Ausdruck einer allgemeinen Abneigung gegen sie. Obwohl Sombart kein Alldeutscher war, teilte er deren Sorgen um sein Land und seine Kultur, die er von der vermeintlich zersetzenden Wirkung der „händlerischen Kultur“ bedroht sah und von der er sie befreien und reinigen wollte. Die Formen der „händlerischen Kultur“ seien deshalb so gefährlich, „weil sie sich als harmlose Lebensformen einführen, als eine Bereicherung des feineren, edleren Lebens, um erst nach einiger Zeit, nachdem sie sich eingebürgert haben, ihren zerstörenden Einfluß auf den Volksorganismus auszuüben“. 28 „Händler und Helden“ ist also ein Aufschrei, ein cri de coeur gegen den materialistischen Geist, gegen die kapitalistische Massengesellschaft, kurz gegen die Moderne, deren Geist nach Sombart die Engländer vollständig erfasste habe, sich also in ihnen am unverblümtesten verkörpere und der wegen des deutschen Faibles für die Briten bald auch vom deutschen Volk Besitz ergreifen werde. „Ein Volk, das von ihm erfüllt wird, wie das englische, ist nicht viel mehr wie ein Haufen lebender Leichname. Der ganze Volkskörper wird angefault“. 29 Die Moderne 26 Müller, S. 26–27. 27 Werner Sombart, Händler und Helden. Patriotische Besinnungen, München 1915, S. 99. Sombart selber benutzt gelegentlich das Wort „Krämer“ und dessen Abwandlungen; er spricht von der „Krämerphilosophie“ der Engländer (S. 21) und von deren „Krämerideal“ (S. 57). 28 Ebd., S. 100. 29 Ebd., S. 102.
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bedeutete für Sombart also nichts Anderes als ein kontinuierliches Modern auf einer abschüssigen Bahn, nicht Fortschritt, sondern Verfall: Wir schwärmten für den „Fortschritt“, damit das sinnlose Leben noch weiter gesteigert würde: mehr Reichtum, mehr Rekord, mehr Reklame, mehr Zeitungen, mehr Bücher, mehr Theaterstücke, mehr Bildung, mehr Technik, mehr Komfort. Und der Bedächtige mußte immer wieder fragen: wozu? wozu? Das Leben war wirklich, wie es einer seiner besten Schilderer ausgesprochen hat, eine Rutschbahn geworden. Ein Leben ohne Ideale, das heißt also ein ewiges Sterben, ein Faulen, ein Gestank, da alles Menschentum in Verwesung übergeht, aus dem der Idealismus verschwunden ist, wie ein Körper, aus dem die Seele entweicht. 30
Das hysterische Pathos dieser Passage verrät sich selbst. Denn nicht nur in der Vehemenz, sondern auch in der Substanz seiner Ansichten stand Sombart fast völlig allein unter seinen bedeutenderen Kollegen. Sein Biograf Friedrich Lenger unterstreicht die „politische Isolation Sombarts“ und „seine Außenseiterstellung“ 31 während des Krieges. Max Weber, der Sombart sonst schätzte, schrieb in einem Brief an ihn: „Ihr nationalistischer Furor kommt mir etwas stark verblüffend“. 32 Und Ernst Troeltsch mahnte, ohne Sombart namentlich zu nennen, in seiner Rede „Der Kulturkrieg“, die er am 1. Juli 1915, also wenige Monate nach dem Erscheinen von „Händler und Helden“, hielt: „Die Bezeichnung Englands als Krämertum ist genau so richtig wie die Deutschlands als Gewaltmenschentum und Militarismus“. 33 In privaten Kreisen ging man mit Sombarts Thesen noch weniger glimpflich um. Der Physiker Heinrich Sieveking machte sich in einem Brief an Friedrich Naumann wie folgt über sie lustig: „Jetzt also wissen wir! Der Deutsche raucht Heldencigarren, der Engländer Händlercigarren, das ist der Unterschied!“. 34 Damit lässt sich abschließend zusammenfassen, dass Sombarts „Händler und Helden“ eher ein Psychogramm seines Schöpfers liefert als ein Abbild einer gesamtgesellschaftlichen Befindlichkeit. Es sagt sehr viel über seinen Autor aus, aber sehr wenig über die Deutschen und deren Ansichten über „den Engländer“ an sich. Es kann uns daher vielleicht als beredtes Dokument der Irrtümer eines einzelnen Gelehrten inmitten einer persönlichen Krise dienen, als ein warnendes Beispiel für die lang anhaltenden und nicht vorauszusehenden Wirkungen von Propaganda gelten, nicht aber als Barometer einer nationalen Gesinnung. 30 Ebd., S. 107. 31 Friedrich Lenger, Werner Sombart 1863–1941. Eine Biographie, München 1994, S. 249, 251. 32 Ebd., S. 249. 33 Ernst Troeltsch, Der Kulturkrieg. Rede am 1. Juli 1915, Berlin 1915, S. 32. 34 Dieter Krüger, Nationalökonomen im wilhelminischen Deutschland, Göttingen 1983, S. 322.
Julianna Redlich
(Uniwersytet Wrocławski)
Carl Busse (1872–1918) und seine Erfolgserzählung „Trittchen“ im Spiegel der Handschriften des Heilbronner Verlegers Eugen Salzer (1866–1938) Der Fokus des vorliegenden Beitrags ruht auf einer besonderen Korrespondenz des Heilbronner Verlegers Eugen Salzer mit dem in Berlin wirkenden Schriftsteller und Literaturkritiker Carl Busse. Da beide Namen der heutigen Literaturforschung wenig bekannt sind, werden ebenfalls einige erläuternde biografische Einzelheiten präsentiert. Die Korrespondenz Eugen Salzers, aus der in den folgenden Absätzen zitiert wird, füllt eine ganze Mappe des Nachlasses von Carl Busse, welcher sich in der Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin befindet. Der Nachlass besteht aus 18 Kästen, darunter 16 alphabetisch den Namen der Briefautoren nach geordneten Kästen, einem Kasten Familiengeschichte und einem Kasten alphabetisch geordneter Verlegerbriefe, der die besprochene Mappe „Eugen Salzer Verlagsbuchhandlung“ beinhaltet. In der Mappe befinden sich 68 hand- und maschinenschriftliche Briefe und Postkarten des Verlegers Eugen Salzer an den Autor Carl Busse. Die Korrespondenz umfasst elf Jahre: von 1906 bis 1917. In diesen Beitrag werden vor allem die Briefe der Kriegsjahre einbezogen. Der Gegenstand dieser Briefe sind u. a.Busses Werke, ganz besonders die von ihm herausgegebene Sammlung „Feuerschein“ (1914) und die darin enthaltene kurze Novelle „Trittchen“. Die Briefe Busses an Salzer konnten bisher nicht ermittelt werden – die Korrespondenz von Seiten des Verlegers ist jedoch ausreichend, um diese als eine ergänzende Quelle zu bisherigen Studien über Literaturverbreitung und Lesestoffe im Ersten Weltkrieg zu nutzen. Die Untersuchung einer Korrespondenz wäre unvollständig, ohne zumindest kurz ihre Protagonisten zu porträtieren. Carl Busse 1 hat sich in die deutsche Literaturgeschichte vor allem als neuromantischer Dichter und Herausgeber eines frühen Gedichtbandes von Hermann Hesse eingeschrieben. 2 1 Der Person Carl Busses hat die Verfasserin eine Dissertation u.d.T. „Der vergessene Meinungsstifter. Carl Busse (1872–1918) – Schriftsteller, Literaturkritiker, Publizist“ gewidmet. Das Manuskript wird derzeit für die Veröffentlichung bearbeitet. 2 Vgl. Eduard Engel, Karl Busse, in: Ders., Geschichte der Deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts und der Gegenwart, Leipzig 1929, S. 316–317; Renate Schipke, Her-
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Busse wurde am 12. November 1872 in Lindenstadt in der damaligen Provinz Posen geboren und starb kurz nach seiner Rückkehr von der östlichen Front am 6. Dezember 1918 in Berlin, wo er seit Beginn seiner beruflichen Karriere lebte. Zu seinen Lebzeiten war er ein geschätzter Schriftsteller und Literaturkritiker. Er studierte in Rostock und Berlin Germanistik und Philosophie und promovierte bei Wolfgang Golther zur Lyrik bei Novalis. Sein Studium finanzierte er aus Honoraren, die er nach der Herausgabe seines ersten und sofort sehr erfolgreichen Gedichtbandes „Gedichte“ erhielt. Der Band kam 1892 heraus und machte Busse zu einem bekannten und sowohl vom Publikum als auch von der Kritik verehrten jungen Lyriker. Besonders auszeichnend war das Lob des bedeutenden zeitgenössischen Literaturhistorikers Erich Schmidt. Busse, der während seines Studiums eine Vorliebe für die Literaturwissenschaft entwickelte und eine Zeit lang eine akademische Laufbahn anstrebte, etablierte sich 1895 in seiner Einleitung zu der von ihm herausgegebenen Anthologie „Neuere Deutsche Lyrik“ ebenfalls als Literaturhistoriker. Die Anthologie machte ihn – ebenso schnell wie drei Jahre zuvor sein Gedichtband – zu einem geschätzten Literaturkritiker. Die prominente Stellung Busses im Bereich der Literaturkritik bezeugt die Tatsache, dass er von 1904 bis 1916, also bis zu seinem Militärdienst, eine eigene, reguläre Rubrik u.d.T. „Neues vom Büchertisch“ in der bekannten und meinungsbildenden Zeitschrift „Velhagen & Klasings Monatshefte“ führte, wo er Neuerscheinungen besprach und oft auf neue Talente hinwies. Seit 1914 verfasste er auch eine regelmäßige Kolumne in der bekannten Wiener Tageszeitung „Neue Freie Presse“. Außer Kritiken und Gedichten schrieb er viel gelesene Prosatexte. Besonders seine Novellensammlungen bekamen oftmals gute Kritiken und wurden vom Publikum enthusiastisch aufgenommen, was viele der Leserbriefe in seinem Nachlass bezeugen. Beim genauen Verfolgen seines Lebens und Werdegangs wird deutlich, dass er sich stark an den Massentendenzen der Zeit ausrichtete und ein großes Gespür für die Vorgänge auf dem literarischen Markt besaß. Während des Ersten Weltkrieges wurde Busse in die Armee eingezogen und war in Warschau stationiert, wo er, wie manche Quellen besagen, in der Warschauer PresseAbteilung arbeitete. 3 Ins Feld ging Busse als Landsturmmann und wurde mit dem Eisernen Kreuz II. Klasse ausgezeichnet. Im Jahre 1918, auf dem Rückweg mann Hesse und Carl Busse. Genese eines frühen Gedichtbandes (1902), in: edition. Internationales Jahrbuch für Editionswissenschaft 15 (2001), S. 185–190. 3 Gemeint ist hier das von 1915 bis 1918 vom Deutschen Reich und dem verbündeten Österreich-Ungarn besetzte Warschau, das zu der Zeit unter dem Namen „Kaiserlich-Deutsches Generalgouvernement Warschau“ firmierte. An der Miodowa-Straße 22 (höchstwahrscheinlich im Gebäude des Collegium Nobilium und der heutigen AleksanderZelwerowicz-Theaterakademie – die Adresse wurde den Warschauer Tafeln zur Gegenwartsgeschichte des Königreichs Polen entnommen) befand sich zu dieser Zeit der Sitz der Presse-Abteilung, einer Einrichtung, die von 1915 bis zum Kriegsende von Martin Mohr geleitet wurde. Sie zählte über siebzig Mitarbeiter und veröffentlichte Berichte für die deutsche Presse und die Presse des Generalgouvernements. Hauptsächlich beschäf-
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nach Berlin, soll er sich auf einem Pferdekarren eine Lungen- und Rippenfellentzündung (bekannt als „Spanische Grippe“) zugezogen haben. Diese soll zu seinem Tode einige Tage nach der Heimkehr, am 3. Dezember 1918, geführt haben. 4 Kurz darauf sollen 15.000 regelmäßige Leser der Zeitschrift „Velhagen & Klasings Monatshefte“ ihr Abonnement gekündigt haben. 5 Busses Korrespondenz-Partner, Eugen Salzer (1866–1938), war zunächst als Buchhändler in Basel und Berlin tätig. Später, im Jahre 1891, gründete er zusammen mit seiner Ehefrau Elise einen Verlag in seiner Heimatstadt Heilbronn. Der Verlag wählte mehrere Themen zu seinem Schwerpunkt. Verlegt wurden sowohl Literatur und Geschichte (hauptsächlich heimat- und regionalgeschichtliche Werke) als auch Bücher, die evangelisch-theologische Themen ansprachen. Im Jahre 1913 gründete Salzer eine der ersten Kleinbuchreihen in Deutschland, und zwar „Salzers Taschenbücherei“, in der u. a. Hermann Hesses „Musik des Einsamen“ herauskam. 6 Damit sah er eine Bedingung voraus, die der Erste Weltkrieg dem Buchhandel stellen sollte: die Lektüre sollte vom Gewicht her leicht sein und ein handliches Format haben. Die Rucksäcke der Kriegsmänner hatten ja nur begrenzten Raum dafür. Die äußerliche Gestaltung des Buches war nicht alles: die Verleger waren von Kriegsbeginn an dazu gezwungen, schnell auf die besonderen Lesebedürfnisse und Lektürepräferenzen des äußerst heterogenen Publikums zu reagieren. Deshalb wurden zu dieser Zeit die unterschiedlichsten Buchreihen begonnen, für die auch entsprechend geworben wurde. 7 Salzer wusste mit dieser neuen Situation umzugehen und brachte z. B. die Reihe „Lieb Vaterland“ mit Feldpostbriefen, sowie eine Reihe mit Frontberichten heraus und verlegte überdies auch andere Genres im weiteren Sinne verstandener Kriegsliteratur. Dazu trug ebenfalls Busse als Autor und Herausgeber bei, was an nachfolgender Stelle
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tigten sich die Mitarbeiter mit der Zensur der Presse und mit der Zusammenstellung von Zeitungskorrespondenzen. Genaueres zu Busses Tätigkeit dort konnte anhand der Quellen jedoch nicht eruiert werden. Vgl. Martin Mohr (Hg.), Warschauer Tafeln zur Gegenwartsgeschichte des Königreichs Polen, Tafel 10: Dienstplan der Presseabteilung des Verwaltungschefs beim Generalgouvernement Warschau, Leipzig 1917/18; Joachim Heuser / Peter Szyszka, Das „Deutsche Institut für Zeitungskunde“, Berlin. Martin Mohr als unfreiwilliger Wegbereiter Emil Dovifats, in: Bernd Sösemann (Hg.), Emil Dovifat. Studien und Dokumente zu Leben und Werk, Berlin 1998, S. 33–68, hier S. 47. Vgl. E. F. M. [Ernst F. Meunier], Erinnerungen an Karl Busse, in: Neue Freie Presse 19522 (1918), S. 1–2, hier S. 1. Maja Rehbein, Der Schriftsteller und Literaturkritiker Carl Busse. Sein starkes Wort fand überall Gehör, in: Zehlendorfer Heimatbrief 1 (2002), S. 13–17, hier S. 17. Achim Frey, Eugen Salzer. Verleger in Heilbronn, in: Maria Magdalena Rückert (Hg.), Württembergische Biographien unter Einbeziehung hohenzollerischer Persönlichkeiten, Stuttgart 2006, Bd. 1, S. 216–217. Vgl. Christine Haug, Reisen und Lesen im Zeitalter der Industrialisierung. Die Geschichte des Bahnhofs- und Verkehrsbuchhandels in Deutschland von 1850 bis zum Ende der Weimarer Republik, Wiesbaden 2007, S. 246–268.
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dieses Beitrags diskutiert wird. Auch in späteren Jahrzehnten war der Verlag Eugen Salzer ein prosperierendes Unternehmen; er bestand in Familienbesitz bis 1999. 8 In Kontakt getreten sind die beiden Literaten zu der Zeit, als Busse schon zwei Jahre mit großem Erfolg – welcher in der Anzahl der Briefe unterschiedlicher Verleger und Autoren mit der Bitte um Besprechung ihrer Bücher gemessen werden kann – seine Rubrik in „Velhagen & Klasings Monatsheften“ führte. Wie viele der Korrespondenzen Busses, fing auch diese mit einem Bezugspunkt zu seinem letztem Rezensionsartikel an. Salzer schrieb darin wie folgt: Soeben erst kommt mir das Juli-Heft von „Velhagen & Klasings Monatsheften“ in die Hand, in dem Sie das bei mir erschienene Erzählbuch von Fritz Philippi einer solch warmen Empfehlung würdigen. Ich sage Ihnen dafür meinen herzlichsten Dank. Sie haben mit dieser & der ersten Kritik in der „Deutschen Monatsschrift“ dazu beigetragen, dass Philippi sich durchgesetzt hat, wenn er auch jetzt noch nicht zu den gelesensten Schriftstellern gehört, aber die wenigen die ihn teilweise durch Sie kennen lernten, haben ihn schätzen gelernt. 9
Busses Stellung auf dem zeitgenössischen Literaturmarkt kann anhand dieses Zitats gut nachvollzogen werden. Die beiden Männer wurden dank ähnlicher Charaktereigenschaften und ihres ausgeprägten Marktbewusstseins wegen mit der Zeit zu engen Geschäftspartnern. Über Salzer sagte im Jahre 1913 einer seiner Freunde und Mitarbeiter, der spätere Bundespräsident Theodor Heuss, er sei „ein ganz unromantischer, ruhiger und sicherer Geschäftsmann“, und bestätigte den Erfolg des Heilbronner Verlags mit den Worten, Salzer sei „heute schon einigermaßen kapitalstark“. 10 Eine vergleichbare Einstellung zum Literaturgeschäft hatte auch Carl Busse. Ein Publizist und Bekannter Busses meinte von ihm: „Karl Busse hatte [. . . ] einen ausgeprägt praktischen Sinn, den seine Verleger gewiß genau kannten. Aber auch wer sonst mit ihm zusammenkam, staunte anfangs und meinte wohl für sich: So hätte ich mir einen Poeten, und noch dazu einen Lyriker, gerade nicht vorgestellt“. 11 Salzer gab in einem Brief zu, dass er die Zusammenarbeit mit Busse besonders schätze: „Sie haben mich sehr neugierig gemacht auf Ihre neuen Verlagsideen, denn Sie wissen, wie gerne ich gerade mit Ihnen arbeite“. 12 Diese
8 Frey, S. 217. 9 Eugen Salzer an Carl Busse (vom 5. Oktober 1906), in: Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin, Nachlass Carl Busse, Kasten 17, Mappe „Eugen Salzer Verlagsbuchhandlung“. 10 Theodor Heuss an Friedrich Naumann (vom 26. Februar 1913), in: Frieder Günther (Hg.), Theodor Heuss. Aufbruch im Kaiserreich. Briefe 1892–1917, München 2009, S. 376–377. 11 Meunier, S. 2. 12 Eugen Salzer an Carl Busse (vom 27. Dezember 1915), in: Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin.
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Aussage eines Verlegers, der hier strategisch einen Autor, der gute Profite bringt, lobt, muss natürlich mit einer gewissen Distanz betrachtet werden. Doch lässt sich aus der gesamten Korrespondenz eine respektvolle Haltung des Verlegers gegenüber dem meinungsbildenden Kritiker erkennen, der auch als Schriftsteller ein festes und breites Publikum um sich aufgebaut hatte. Für Busse als Autor und für Salzer als Verleger brachte der Erste Weltkrieg sowohl große Chancen als auch große Risiken und Probleme. Das erste Risiko, welches den Verleger allerdings nicht betraf, war der Einzug in die Armee. Als Busse im Juni 1915 erfuhr, er stehe auf den Listen, kommentierte Salzer dies: „Es tut mir leid, dass Sie doch noch dazu müssen. Ich bin über das Alter hinaus (dieses Jahr 49) und habe zudem nie gedient und seit einigen Jahren ein leichtes Herzleiden“. 13 Manche empfanden den Militärdienst allerdings als Chance für den Dichter Busse. Paul Beer, Herausgeber des Blattes „Aus dem Posener Lande“, 14 schrieb beispielsweise in einem Brief an den Poeten: „Sicher wird Sie das Garnison- und Feldleben dichterisch stark befruchten, und so werden wir alle aus Ihrem Kriegsdienst vielfachen Nutzen ziehen. Ich hoffe, ich höre noch davon, wohin Sie das Schicksal als Kriegsmann, Menschen und Dichter geführt hat“. 15 Tatsächlich wird der Erste Weltkrieg zur perfekten Gelegenheit für Busse, die besonders gegen Ende des 19. Jahrhunderts in seiner Publizistik und Prosa dem Publikum glühend vermittelte Leidenschaft für den nationalen Geist erneut voller Überzeugung auszudrücken. Besonders in seinen Ostmarkenromanen, einer Sonderart der Heimatliteratur, und seinen literarhistorischen Arbeiten an der Schwelle zum 20. Jahrhundert brachte er öfter nationale Themen zur Sprache. Der Grund dafür war hauptsächlich derjenige, dass konservativnationalistische Themen zu dieser Zeit Konjunktur hatten. 16 Busse, der als „feiner Stimmungskünstler [. . . ] darauf verzichtet, der Kunst neue Pfade zu suchen, und sich damit begnügt, der Masse des Volkes die Gefühle in Lied und Erzählung zu verdolmetschen, die in des Volkes eigener Seele jubeln und
13 Eugen Salzer an Carl Busse (vom 5. Juni 1915), in: ebd. Weiter schreibt Salzer: „Aber ich würde, wenn dies nicht der Fall wäre, mit Freude zur Flinte greifen, denn eigentlich ist es beschämend für die, welche nicht dabei waren. Hoffentlich werden Sie nur im Lande verwendet oder dürfen doch nicht mit, zumal Russland doch jetzt niedergerungen scheint“. 14 Aus dem Posener Lande. Monatsblätter für Heimatkunde, Dichtung, Kunst u. Wissenschaft d. deutschen Ostens 10–12 (1915/16). Vgl. Thomas Dietzel / Hans-Otto Hügel (Hg.), Deutsche literarische Zeitschriften 1880–1945. Ein Repertorium, New York 1988, Bd. 1, S. 98. 15 Paul Beer an Carl Busse (vom 27. Dezember 1916), in: Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin, Nachlass Carl Busse, Kasten 1, Mappe „Beer, Paul“. 16 Vgl. Rainer Rosenberg, Zehn Kapitel zur Geschichte der Germanistik. Literaturgeschichtsschreibung, Berlin 1981, S. 137–138.
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schluchzen“, 17 nutzte die Kriegssituation also dazu aus, um sich wiederholt als Publizist, Herausgeber und Autor auf dem literarischen Markt zu behaupten. In den Jahren 1914–1917 sind zehn Werke mit Busse als Herausgeber oder Autor erschienen, die die Kriegsproblematik direkt ansprachen. Seine im Bielefelder Verlag Velhagen & Klasing erschienene Sammlung von Kriegsliedern erzielte eine Auflage von 15.000 Exemplaren und hob sich, wie die zeitgenössische Kritik meinte, „schon durch die ausführliche literarisch-kritische Einleitung unter den übrigen Kriegsanthologien hervor“. 18 Im Verlag von Eugen Salzer sind gleich drei Bände erschienen, bei denen Busse die Herausgeberrolle übernahm und auch Autor mancher darin enthaltener Texte war: „Feuerschein. Novellen und Skizzen aus dem Weltkrieg“, „Klar Schiff! Seekriegslieder“ und „Tröst-Einsamkeit. Eine Folge neuer deutscher Novellen und Erzählungen“. 19 Salzer bemerkte auf Anhieb das Potenzial der ersten dieser Novellensammlungen: „Der Titel ‚Feuerschein‘ gefällt mir sehr gut“, 20 kommentierte er in einem Brief vom Oktober 1914, und einige Tage später lobte er besonders eifrig eine der Novellen: „Sehr verehrter Herr Busse! ‚Trittchen‘ ist von leuchtender Schönheit, es wäre der Edelstein in dem Buche, wenn wir es aufnehmen würden, der unser Volk groß macht“. 21 Die in dem Brief angesprochene Novelle handelt von einem verwundeten Soldaten, der vor dem Krieg den Beruf eines Lehrers ausübte und der sich im Krankenbett eines Kameraden erinnert, mit dem er gemeinsam im Schützengraben Wache gehalten hatte. Der Kamerad war ein kleiner Schuster, den alle spöttisch „Trittchen“ nannten. Anfangs war sein eigenartiges Verhalten der Gegenstand vieler Sticheleien; mit der Zeit gewann er jedoch den Respekt der anderen Soldaten. Es zeichneten ihn nämlich eine Ruhe und Sicherheit aus, die von einer sonderbaren inneren Weisheit und Frömmigkeit zeugten. Er gelangte dazu dank der täglichen, stillen Lektüre seines Neuen Testaments, welches er mit der Zeit immer öfter an die Kameraden verlieh. Darunter auch dem Ich-Erzähler der Geschichte, der später das zerlesene Büchlein von dem kleinen Schuster erbte. Der „Faust“, den der Lehrer ins Feld brachte, habe „sich an Bedingungen“ geknüpft, die ihm als Soldaten an der Front „unter den Fü-
17 August Friedrich Krause, Carl Busse als Lyriker und Erzähler, in: Monatsblätter für deutsche Litteratur 1 (1901), Jg. 6, S. 116–122, hier S. 122. 18 Leo Körholz, Carl Busse. Des Dichters Leben. Einleitung zu drei Erzählungen Busses „Aus Krieg und Frieden“, in: Wiesbadener Volksbücher 188 (1917), S. 3–12, hier S. 12. Vgl. Carl Busse (Hg.), Deutsche Kriegslieder 1914/15, Leipzig 1915. 19 Vgl. Carl Busse (Hg.), Feuerschein. Novellen und Skizzen aus dem Weltkrieg, Heilbronn 1915; Ders. (Hg.), Klar Schiff! Seekriegslieder, Heilbronn 1915; Ders. (Hg.), Tröst-Einsamkeit. Eine Folge neuer deutscher Novellen und Erzählungen, Heilbronn 1916. 20 Eugen Salzer an Carl Busse (vom 29. Oktober 1914), in: Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin. 21 Eugen Salzer an Carl Busse (vom 6. November 1914), in: ebd.
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ßen verschwunden waren“. 22 Ganz anders die Lektüre des Neuen Testaments, die durch den Gottesglauben zur Liebe und zum Glauben an das Volk führte und neue Hoffnung brachte: Seine [Trittchens] Worte, daß sich der größte König in die schlechtesten Gewänder hüllte und daß Gott stets in Masken ginge, wollten mir nicht aus dem Sinn. In groben Masken, in dreckigen Verhüllungen sah ich um mich tagtäglich eine Kraft am Werke, die geduldig und tapfer Mühe, Not und Tod ertrug, und allgewaltig schwoll in mir die heiße Liebe auf zu jenem Volke, das in der Tiefe rang und arbeitete, dämmerte und träumte, die dumpfe Sehnsucht zum Licht hatte und namenlos den schweren Tod starb. 23
Auf die wechselseitige Verbindung zwischen dem Religiösen und dem Nationalen, welche zu der Zeit des Ersten Weltkriegs besonders stark hervortrat, wird in „Trittchen“ mehrmals hingewiesen. Hervorzuheben sind hier noch zwei besondere Stellen im Text. Ganz am Anfang der Novelle macht die Passage auf sich aufmerksam, wo der Ich-Erzähler von seinem Kameraden, dem Titelhelden und Verfechter des Gottesglaubens, als einer Gestalt spricht, die „direkt von Jakob Böhme und den deutschen Mystikern herzukommen schien“. 24 Es ist kein Zufall, dass ein solcher Vergleich in Busses Novelle auftaucht. Das Interesse an der deutschen Mystik stieg nämlich deutlich während des Weltkriegs, auch der ideologische Gebrauch des Begriffes „Mystik“ gewann an Popularität. 25 Die Mystik sollte helfen, Antworten auf die „Krisendiagnosen“ des abendländischen Kulturpessimismus zu finden und eine überkonfessionelle, „deutsche Frömmigkeit“ hervorzubringen, wie es besonders in dem Werk des Pastors Walter Lehmann „Deutsche Frömmigkeit. Stimmen deutscher Gottesfreunde“ (Jena 1917), einer Sammlung von Mystikertexten, zum Vorschein kam. 26 Die zweite Textstelle, die mit der vorigen in erzählerischem Zusammenhang steht, ist ein intertextueller Verweis auf Busses großes literarisches Vorbild Wilhelm Raabe und seine Erzählung „Hastenbeck“. Der Schuster Trittchen bezeichnet die donnernden Kanonenschüsse nämlich als „Gottes Wunderwagen, der durch die Welt rumpelt!“. 27 „Gottes Wunderwagen“ ist in Raabes Erzählung der Titel der Predigt des Al-
22 Zitiert wird hier aus einem Abdruck von „Trittchen“ in den „Wiesbadener Volksbüchern“, einer Reihe, die 1900 vom Volksverein Wiesbaden als Antwort auf die sogenannte „Schundliteratur“ gegründet wurde. Carl Busse, Trittchen, in: Wiesbadener Volksbücher 188 (1917), S. 54–65, hier S. 58. 23 Ebd., S. 64. 24 Ebd., S. 56. 25 Vgl. Klaus Fitschen, „Mystik“: Ein Beitrag zur Geschichte eines nur scheinbar selbstverständlichen Begriffs, in: Martin Tamcke (Hg.), Mystik – Metapher – Bild, Göttingen 2008, S. 5–12, hier S. 8. 26 Vgl. ebd., S. 9. 27 Busse, Trittchen, S. 56.
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tenburger Pastors Cober und soll im übertragenen Sinne die Überzeugung ausdrücken, dass der Mensch durch seine eingeborene Natur, sein Schicksal oder den Zufall, mitten im irdischen Leid den eigenen Weg findet. 28 Berücksichtigt man noch die Tatsache, dass diese historische Erzählung, die im Siebenjährigen Krieg spielt, mit dem Motto: „Ich habe nur ein Vaterland, das heißt Deutschland“ versehen wurde, besteht kein Zweifel mehr, weshalb Busse in seiner Novelle gerade auf dieses Werk verweist, zumal der Siebenjährige Krieg aufgrund seiner weltumgreifenden Ausdehnung gelegentlich von Historikern auch als „Weltkrieg“ bezeichnet wird. 29 An den obigen Beispielen wird deutlich, dass diese kurze, zwölfseitige Novelle haargenau den Nerv der Zeit traf. Der Autor sprach darin sowohl Emotionen als auch kulturspezifische Merkmale an, die der Krieg mit sich brachte. Allem voran die Wiederentdeckung der Religiosität. Wie Busse selbst in der Einleitung zu der Anthologie „Deutsche Kriegslieder 1914/15“ erkannte, war seit 1914 in der Kriegs- und Vaterlandsdichtung „das starke Hervortreten des religiösen Zuges“ 30 als eine Eigentümlichkeit zu beobachten. Noch vor dem Druck wird „Feuerschein“ „stark vom Buchhandel verlangt“, was den Verleger mit Enthusiasmus erfüllt: „Papier ist da; wenn’s sein muss gleich für 20.000“. 31 In Druck kommt das Buch schließlich am 23. November 1914 und kaum einen Monat später erhält Salzer die erste Anfrage eines Herausgebers um Erlaubnis des Abdrucks von „Trittchen“ in seiner Zeitschrift. Jener will Busses Novellen- und Skizzensammlung im Lazarett gelesen haben; Salzer erklärt darauf in dem Brief an Busse, die meisten Exemplare, zwischen sechs- und achttausend, seien in die Lazarette verschickt worden. 32 Diese Anfrage ist erst der Anfang einer ganzen Reihe ähnlicher Bitten. Am 20. Januar 1915 berichtet Busse dem Wiener Literaten Moritz Necker nicht ohne Verblüffung: „Trittchen“ hat einen geradezu wahnsinnigen Erfolg. Pastoren haben darüber gepredigt, über 40 Zeitungen sie nachgedruckt, Kirchengesellschaften schaffen sie in 100.000 Ex.[emplaren] an die Front, Salzer hat ihretwegen von „Feuerschein“ in 4 Wochen 10.000 Ex. verkauft u. hofft es im Laufe des Jahres bis auf 40.000
28 Vgl. Wilhelm Raabe, Sämtliche Werke, bearbeitet von Karl Hoppe, Bd. 20: Hastenbeck – Altershausen – Gedichte, Göttingen 2001, S. 456. 29 Vgl. Sven Externbrink (Hg.), Der Siebenjährige Krieg (1756–1763). Ein europäischer Weltkrieg im Zeitalter der Aufklärung, Berlin 2010. 30 Carl Busse, Einleitung, in: Ders., Deutsche Kriegslieder 1914/15, S. V–XXII, hier S. XVIII. 31 Eugen Salzer an Carl Busse (vom 12. November 1914), in: Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin. 32 Eugen Salzer an Carl Busse (vom 18. Dezember 1914), in: ebd.
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zu bringen, u. seit Wochen u. Wochen gehn halb rührende, halb komische Briefe aus Lazaretten u. s. w. bei mir ein. Es ist die reinste Kriegspsychose. 33
Salzer versuchte in dieser Situation richtig zu agieren: sowohl aus der Perspektive eines Verlegers und Geschäftsmanns als auch derjenigen eines Patrioten, der es als eine Mission verspürt, seine Landsleute in schwieriger Zeit zu unterstützen. So gestattete er beispielsweise der Berliner Stadtmission, einem selbständigen Verein innerhalb der evangelischen Kirche, „Trittchen“ mit der Bedingung genauer Quellen- und Preisangabe abzudrucken. 34 Ein halbes Jahr später beklagte er diese Entscheidung, sah aber selbst ein, dass es lohnenswert für den Verlag wäre, die Novelle in einem billigen Einzelheft abzudrucken: Die von der Missionsbuchhandlung übernommenen 4.000 Stück habe ich alle verkauft und frage nun bei Ihnen an, ob wir nicht eine ganz billige Ausgabe herausgeben wollen, wie es die Stadtmission in Berlin ja auch getan hat – sie hat bereits 120.000 Exemplare davon verkauft, und ich habe keinen Pfennig dafür erhalten. Der Vertreter der Buchhandlung sagte mir, dass die Firma Ihnen ein Honorar dafür bezahlt habe. Stimmt das? 35
Wie genau Busse auf die Frage Salzers antwortete, ist nicht bekannt, er muss jedoch den Separatdruck der Erzählung bewilligt haben, denn Salzer druckte schließlich die dünnen Heftchen. Während der Kriegsjahre mehrten sich die Abdrucke „Trittchens“ an mannigfaltigen Erscheinungsorten. Der Erfolg der Erzählung lag an ihrer Kürze, dem leichten Sprachstil und, wie bereits angemerkt, der religiösen Thematik. In der Zeitschrift „Monatsblätter für den Evangelischen Religionsunterricht“, die „Trittchen“ im Jahre 1915 abdruckte, hieß es in einer Fußnote: Mit Genehmigung der Verlagsbuchhandlung Eugen Salzer in Heilbronn entnehmen wir die Skizze dem von Carl Busse herausgegebenen Bändchen „Feuergeist“ [Fehlangabe. Der Band hieß „Feuerschein“ – J.R.] (Geb. 1 Mk.). Die kleine Erzählung erscheint uns in hohem Maße charakteristisch für die durch den Krieg gezeitigte religiöse Erweckung. Sie ist vorzüglich dazu geeignet, etwa im Religionsunterricht als Beispiel der Erhebung des Volkes in Waffen, der Macht der Religion im Kriege oder überhaupt zur Anregung und Förderung, ohne jeden besonderen apologetischen Zweck, vorgelesen zu werden. 36
33 Carl Busse an Moritz Necker (vom 20. Januar 1915), in: Wienbibliothek im Rathaus, Nachlass Moritz Necker, Bibl: Handschriften Standort: Aut – Autograph(en), Sign: H. I. N. – 135057. 34 Vgl. Eugen Salzer an Carl Busse (vom 6. Januar 1915), in: Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin. 35 Eugen Salzer an Carl Busse (vom 24. Juli 1915), in: ebd. 36 Monatsblätter für den Evangelischen Religionsunterricht 8 (1915), S. 56.
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Den Abdruck in dieser Zeitschrift genehmigte Salzer u. a. aus einem strategischen Grund. Im Januar 1915 erklärte er Busse: „Heute fragt der Herausgeber der Monatsschrift für Religionsunterricht, [. . . ] ob er das herrliche ‚Trittchen‘ abdrucken dürfe. [. . . ] Ich möchte es ihm erlauben, da die Religionslehrer es gut weiter empfehlen können. Ich verspreche mir davon viel“. 37 Dies bedeutet jedoch nicht, dass Salzer den Abdruck jedem erlaubte, der einen religiösen Hintergrund vorweisen konnte. Ganz entschieden lehnte er den Vorschlag des Düsseldorfer Verlegers Carl Schaffnit ab, der Busse um Erlaubnis eines Separatabdrucks der Erzählung im Januar 1915 bat – keine zehn Tage nach der Entscheidung des Verlegers, einen solchen der Berliner Stadtmission zu genehmigen: „Die Anfrage des Abdrucks von ‚Trittchen‘ will ich gleich dahin beantworten, dass ich diesen Separatabdruck unter keinen Umständen gestatten kann“. 38 Er nennt zwei Gründe für seine kategorische Absage. Zum einen schreibt er: Wenn Sie meine Briefe durchlesen, worin ich gerade um „Trittchen“ bat, so werden Sie finden, dass ich schon damals sagte, dieses Stück bringt uns tausende von Lesern. Ich habe mit meinem Urteil recht behalten. Von dem Büchlein kann im Laufe des Januar jedenfalls das 11.–20. Tausend ausgegeben werden, und wenn es so weitergeht, dann erscheinen auf Ostern sicher 40.000. Ich will keine übertriebenen Hoffnungen wecken, aber das Geschäft müsste sich ganz bedeutend verschlechtern, wenn es nicht so wäre. Hoffen wir, dass ich auch hier recht behalte. 39
Dass Salzer selbst plante, „Trittchen“ als Einzelheft zu drucken, teilte er Busse zu dieser Zeit noch nicht mit. Sehr wahrscheinlich ist, dass er von dem bereits gedruckten Buch, welches dank der Erfolgserzählung weitere Käufer anlocken konnte, so viele Exemplare wie möglich verkaufen wollte. Der zweite Grund für Salzers Absage war die schlechte Position des Verlages Schaffnit auf dem Buchmarkt, worüber er Busse sehr offen unterrichtete: „Vertraulich muss ich Ihnen sagen. Der Verlag Schaffnit eignet sich nicht für Sie. Er hat alles mögliche schon probiert und ist über frömmelnde Traktate (nicht fromme) nicht hinausgekommen, die jedenfalls von der Kunst, die in ‚Trittchen‘ steckt, keinen Schein haben. Das bleibt aber unter uns“. 40 Tatsächlich blieb Schaffnit ein unbedeutendes Unternehmen in der deutschen Verlagsgeschichte, ohne erkennbares Programm, das drittrangige Autoren verlegte. Die Entscheidung Salzers war also vollkommen berechtigt. In den nächsten Monaten des Jahres 1915 lief der Verkauf von „Feuerschein“ weiterhin gut, wenn auch nicht im Tempo der ersten Monate 37 Eugen Salzer an Carl Busse (vom 13. Januar 1915), in: Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin. 38 Eugen Salzer an Carl Busse (vom 17. Januar 1915), in: ebd. 39 Ebd. 40 Ebd.
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nach Erscheinen. Im April berichtete Salzer von den letzten 600 Exemplaren der ersten Auflage. Er überredete Busse, ein zweites Buch herauszugeben, und zwar eine Sammlung deutscher Seekriegslieder: Für die Marine schwärmt das deutsche Volk und wird ein solch Büchlein fein ausgestattet (auf dem Deckel ein angreifendes Torpedo) gerne kaufen. [. . . ] Das Gute wird sein, „Feuerschein“ wird mitgerissen, denn die Buchhändler stellen dann beide aus & das Publikum wird wiederholt darauf hingewiesen. Ausserdem wird es sicher an unsere Landtruppen noch gerner verschickt werden wie ein Bändchen, das dessen Kämpfe enthält.
Mit einer solchen Argumentation überredete er den anfangs nicht ganz von dieser Idee überzeugten Busse. Die Sammlung „Klar Schiff!“ kam schließlich noch im März 1915 in die Buchhandlungen und verhalf „Feuerschein“, wie Salzer es voraussah, weitere Käufer zu gewinnen. So erschien im Dezember 1915 eine weitere Auflage (31.–40.000) des Buches. Einige Monate später tauchte jedoch ein Problem auf, das alle weiteren Verlagspläne behinderte. Das elementare Rohmaterial für die Buchproduktion, Papier, wurde mit der zunehmenden Dauer des Krieges zu einem Luxusartikel. Seit März 1916 berichtete Salzer immer wieder von der „peinlichen“ Papierfrage, die das gesamte Verlagswesen zu quälen anfing: die Preise stiegen um nahezu fünfzig Prozent, die Produktion sank. Die Lage war dermaßen schlimm, dass Salzer sogar anfing, zusammen mit einem Chemiker an der Zusammenstellung eines neuen Papierstoffes zu arbeiten. 41 Zu ihrer Enttäuschung glückte dieses Experiment nicht und der Verleger blieb weiterhin von der Kriegswirtschaftsstelle abhängig. Auch änderten sich die Lesebedürfnisse. Kriegsliteratur wurde vom Publikum nicht mehr verlangt, wie der Verleger im November 1917 feststellte. Aber der generelle Bedarf an Literatur stieg zu der Zeit deutlich. Salzer meinte, Bücher seien den Menschen zu der Zeit so wichtig wie Lebensmittel geworden und konstatierte: „Die Kriegswirtschaftsstelle geht bös mit uns Verlegern um, die jetzt mit ihren Autoren reich werden könnten, wenn sie genügend Papier zugewiesen bekämen“. 42 Diese Aussage bestärkt noch die Tatsache, dass beide Bände, „Klar Schiff!“ und „Feuerschein“, zu diesem Zeitpunkt beinahe ausverkauft waren. Der soeben zitierte Brief ist der letzte Eintrag der im Nachlass Busses erhaltenen Korrespondenz zwischen den beiden Literaten. Obwohl das Schreiben weiterhin im geschäftlichen Ton gehalten ist, ist der Briefstil Salzers diesmal von einer gewissen Bitternis erfüllt, die bezeugt, dass sogar die besten Geschäftsleute dem Krieg gegenüber machtlos waren:
41 Eugen Salzer an Carl Busse (vom 27. Mai 1916), in: Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin. 42 Eugen Salzer an Carl Busse (vom 20. November 1917), in: ebd.
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Ich habe immer noch die stille Hoffnung, dass diese Menschenschlächterei bald aufhört, die Erde hat nachgerade genug Blut getrunken. [. . . ] Wer hätte das am Anfang des Krieges gedacht, dass wir bald in Papierkleidern herumlaufen müssten und dass infolgedessen für den Verlag das Papier ausgeht. Und wer hätte gedacht, dass das Buch vom Publikum wie Lebensmittel verlangt wird, gehamstert, richtig gehamstert vom Sortimenter, da es auszugehen droht. 43
Die bisher unveröffentlichte Korrespondenz zwischen dem Autor und Herausgeber Carl Busse und dem Verleger Eugen Salzer veranschaulicht die Tendenz der „engen Verflechtung des militärischen Geschehens mit der BücherWelt“, 44 die zu der Zeit des Ersten Weltkrieges auf dem literarischen Markt vorherrschend war. Für den Buchhandel waren vor allem die ersten zwei Kriegsjahre ein sehr gutes Geschäft. Eine besondere Literaturlandschaft bildete sich in den Schützengräben aus, was u. a. in Ernst Jüngers Kriegstagebuch „In Stahlgewittern“ (1920) zum Vorschein kommt. 45 Das erhöhte Lektürebedürfnis während des Krieges kann von einem psychologischen Standpunkt aus als ein Gegengewicht zur demoralisierenden Realität des Krieges betrachtet werden. Darüber hinaus hatte es aber auch eine kulturelle und politische Bedeutung. So hat Gerhart Hauptmann in seinem kriegsenthusiastischen Artikel „Zum Weltkrieg: Gegen Unwahrheit“ (1914), als Einspruch gegen Henri Bergsons Epitheton „Barbaren“, die Idee der deutschen Kulturnation mit diesen Worten verteidigt: „Alle diese furchtlosen deutschen Krieger wissen genau, für was sie ins Feld gezogen sind. Man wird keinen Analphabeten darunter finden. Aber desto mehr solche, die neben dem Gewehr in der Faust ihren Goetheschen ‚Faust‘, ihren ‚Zarathustra‘, ein Schopenhauersches Werk, die Bibel oder Homer im Tornister haben“. 46 Dieser propagandistische Zweck der Literatur wird ebenfalls in der Korrespondenz zwischen Busse und Salzer aufgegriffen, denn sowohl Busses Novelle „Trittchen“ als auch die von ihm herausgegebenen und in Salzers Verlag veröffentlichten Anthologien verfolgen das Ziel, die Kriegsbejahung ihrer Leser zu festigen und auf deren besonderen Lesebedürfnisse zu antworten. An der obigen Fallstudie kann aber vor allem sehr gut verfolgt werden, dass auch in der schweren Kriegszeit nicht die Ideale, sondern das Geschäft und seine Umsätze an erster Stelle standen und jeder Bucherfolg das Verdienst einer durchdachten Verlagsstrategie war.
43 Ebd. 44 Peter Sprengel, Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1900–1918. Von der Jahrhundertwende bis zum Ende des Ersten Weltkriegs, München 2004, S. 769. 45 Ebd., S. 777. 46 Gerhart Hauptmann, Zum Weltkrieg: Gegen Unwahrheit, in: Monatshefte für deutsche Sprache und Pädagogik 9 (1914), Jg. 15, S. 305–309, hier S. 308. Erstabdruck in: Berliner Tageblatt und Handelszeitung 431 (1914), Jg. 43, S. 2–3.
Andrea Rudolph
(Uniwersytet Opolski)
Völkisch-politische Anthropologie und deutsch-russische Allianzen in Max Geißlers Roman „Nach Rußland wollen wir reiten“ I Die Konferenzausschreibung hat die Frage aufgeworfen, ob frühere Auseinandersetzungen zwischen den später kriegsbeteiligten Kräften zu Traditionen und Vorläufern des Kriegs zählen. Mit Blick auf Max Geißlers Romane „Wacht in Polen“ (1915) und „Nach Rußland wollen wir reiten“ (1915) kann ich dies bejahen. Die Denkfigur der Verteidigung der Interessen der eigenen Nation, die im Falle des deutschen Nationalismus die Ostmarkenvereinspolitik, 1 im Falle des polnischen Nationalismus den polnischen Wacht-Verein, die Stra˙z, beflügelte, kehrt in Argumenten von Romanfiguren wieder, die sich jeweils mit der Gegenseite messen. Die Zäsur von 1914 wird damit relativiert, die Kontinuität im Gesamtprozess nationalistischer Polarisierungen betont, die alsbald grundsätzlicher und schärfer wurden und ab 1914 in eine neue geschichtliche Entwicklungsstufe übergingen. So nimmt Geißler die unmittelbare politischideologische Vorgeschichte schon in den Titel seines Romans „Wacht in Polen“ auf, während weiter führende Entwicklungen bereits im Titel „Nach Rußland wollen wir reiten“ angezeigt erscheinen. Zum kulturellen Kapital beider Vereine zählt die Rezeption der Schlacht von Tannenberg (Grunwald) 1410 in den westlichen Masuren, für die u. a. Heinrich von Treitschke auf deutscher, u. a. Henryk Sienkiewicz auf polnischer Seite Sichtweisen von großer Ähnlichkeit, nur unter jeweils umgekehrten 1 Der Ostmarkenverein wurde als „Verein zur Förderung des Deutschtums in den Ostmarken“ 1894 zur Stärkung des Deutschtums in den bei den Teilungen Polens von Preußen annektierten Gebieten Posen und Westpreußen gegründet und 1899 in „Deutscher Ostmarkenverein“ (DOV) umbenannt. Er verfügte 1913 über 446 Ortsgruppen und 50.230 Mitglieder. Vgl. hierzu die Dissertationsschrift von Sabine Grabowski, Der Deutsche Ostmarkenverein und die polnische Stra˙z in den Jahren 1894–1914, Marburg 1998. Offenkundig widerspiegelte diese Arbeit auch methodisch den politischen Aufbruch der spätneunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts. So begrüßte Rainer Bendel deren ausgewogen vergleichenden Ansatz: „Es geht also nicht mehr darum, welche Seite recht hatte, sondern wie die beiden verfeindeten, kämpferisch eingestellten Nationen aufeinander gewirkt und sich gegenseitig beeinflusst haben“. Rainer Bendel, Kirchen- und Kulturgeschichtsschreibung in Nordost- und Ostmitteleuropa – Initiativen, Methoden, Theorien, Münster 2006, S. 123.
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Vorzeichen, anboten. 2 Bei lediglich vertauschten Vorzeichen gleichen sich die Bilder auch in den Äußerungen polnischer bzw. deutscher Figuren in Geißlers Grenzlandroman.
II Zunächst einige Worte zu Max Geißler: Er war ein zu seiner Zeit bekannter und erfolgreicher, von der Romantik zur Heimatkunst gelangter Autor. Dass er erfolgreich war, belegen nicht nur zahlreiche Antiquariatsangebote seiner Titel, sondern auch Neuauflagen seiner Romane derzeit. 3 Freilich verwundert die Fehlsichtigkeit, mit der Geißler in gedruckten Personenlexika und in digitalen Einträgen zum Autor von Tierromanen gestempelt wird. 4 Geißler schrieb Erzählungen im Umkreis der „Mainzer Volks- und Jugendbücher“, verfasste (Grenzland-)Literatur und einen Roman, dessen Titel „Deutschland erwache. Ein Hitlerroman aus verbotener Zeit“ (1931) im Sturmlied der NSDAP wiederkehrt.
2 Vgl. Frithjof Benjamin Schenk, Tannenberg / Grunwald, in: Etienne François / Hagen Schulze (Hg.), Deutsche Erinnerungsorte, München 2001, S. 438–455, hier S. 438–439. Geißler unternimmt eine literarische Verarbeitung dieses deutschen Erinnerungsortes in seinem Roman „Der Erlkönig“, der, 1911 gedruckt bei L. Staackmann in Leipzig, schon für fünf Mark zu haben war. Der Klappentext lautet: „‚Tannenberg‘ und die ‚Winterschlacht in Masuren‘ gehören fortan zu den leuchtenden Ruhmestiteln des deutschen Volkes. In jene Grenzgebiete, in denen diese siegreichen Schlachten geschlagen wurden, führt Max Geißler in seinem Roman [. . . ]. Die deutsche erzählende Literatur von den Schauplätzen der großen Schlachten im Osten hat nichts aufzuweisen, was sich mit diesem dichterischen, gemütreichen und zugleich volksmäßig edlen Buch messen könnte“. Abgedruckt in: Max Geißler, Nach Rußland wollen wir reiten, Leipzig 1915, S. 305. Alle Zitate sind dieser Ausgabe entnommen. Sie werden durch Angabe der entsprechenden Seite im Fließ- und Fußnotentext nachgewiesen. 3 So erschienen im dänischen Verlag Lindhardt og Ringhof „Das hohe Licht“ (2015), „Das Moordorf. Ein Kulturroman“ (2017), „Der Heidekönig“ (2017), hingegen „Am Sonnenwirbel“ (2019) bei hansabooks. Max Geißlers „Briefe an meine Frau“ wurden nach der Originalausgabe von 1912 beim Salzwasser Verlag in Paderborn 2019 wieder aufgelegt. 4 Vgl. hierzu beispielsweise: Die deutschsprachige Presse. Ein biographisch-bibliographisches Jahrbuch, hg. v. Bruno Jahn, Bd. 1: A–L, München 2005, S. 323. Womöglich vereinfachte Frank Scheffler Geißlers literarische Entscheidungen in seinem Personenartikel: Geißler (Geissler) Max, in: Sächsische Biografie, http://www.isgv.de/saebi/ [letzter Zugriff: 10. 02. 2020]. Da heißt es: „Zeit seines Lebens sollten ihn eine starke Naturverbundenheit und Volkstümlichkeit auszeichnen, wobei ihm besonders das Schicksal der einfachen Menschen in Verbindung mit ihrer typischen Lebenswelt am Herzen lag“.
Völkisch-politische Anthropologie und deutsch-russische Allianzen
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III Betrachten wir Geißlers Einordnung der Romanfiguren in Bezugssysteme und Allianzen. Die Handlungszeit deckt die letzten Monate des Jahres 1913 bis zum Kriegsbeginn im August 1914 ab. Diesem Zeitraum stehen 307 Seiten gegenüber, in der Volkstumskämpfe, Mord, Verbannung und Erlösung eines Unschuldigen aus der Verbannung miteinander verknüpft werden. Handlungsort ist die Rawka-Gegend bei Łód´z (Lodz), gelegen im russischen Teilungsgebiet Polens. Die dort Landeigentum besitzenden Romanfiguren bewegen sich innerhalb einer triangulären Grenzland-Konstellation. Diese ist durch Deutschland, Russland, Polen geprägt. Geißler rückt Rassenherkunft und Rassenwahl seiner Figuren in den Vordergrund. Sein Erzähler, der im Text selbst nicht mitspielt, sondern hinter die Figuren zurücktritt, kennt deren Gedanken und Gefühle. 5 Bei allwissendem Erzählverhalten liegt eine – freilich nicht sehr komplexe – Innensicht der Figuren vor.
IV Der Plot des Romans ist eine repräsentativ konzipierte Entwicklungsgeschichte. Der 26-jährige Peter von Landsberg mit deutschen und polnischen Wurzeln entwickelt ein deutsches Volksbewusstsein und bewahrt bei Kriegsausbruch diese Identitätswahl. Polen- und Russenfiguren reagieren sehr unterschiedlich auf das, was das Jahr 1913 in diesem Roman hervorbringt. Die Gegensätze sind beträchtlich. Der Bogen spannt sich von Bündnisbereitschaft mit Deutschland gegen England und Frankreich bis hin zu einem gegen Deutschland gerichteten Vernichtungswillen. Offenkundig bildet Geißlers Verhältnis zu England und zum Panslawismus für die hier zu ermittelnde Tendenz des Romans eine Grundlage. Positiv gezeichneten Russen und Deutschen steht ein polnischer Baron gegenüber: Tiburzy, ein alter ego Roman Dmowskis, 6 5 Auch dem Erzählertyp und der Erzählweise nach gehört Geißler nicht zur Avantgarde. „Seit der Zeit um 1900 herrscht zunehmend die Auffassung, dass die Welt nicht mehr als Ganzes und objektiv erfahren werden kann; auch Literatur kann nur ein fragmentarisiertes und subjektives Bild von Wirklichkeit vermitteln. Deshalb hat der allwissende Erzähler in der angesehenen Literatur den Rückzug angetreten und überwiegend personalen Erzählern Platz gemacht, wobei die Glaubwürdigkeit der Perspektive oft nachhaltig erschüttert wird“. Vgl. Stefan Neuhaus, Grundriss der Literaturwissenschaft, Tübingen 32009, S. 40. 6 Tiburzy zeigte sich schon in Geißlers Roman „Wacht in Polen“ vom politischen und publizistischen Kampf gegen das Deutschtum erfüllt. Zu den Gemeinsamkeiten mit Roman Dmowski vgl. Andrea Rudolph, Polnische Wirtschaft, deutscher Betrieb und strategische Weltkriegsbündnisse, in: Hans-Fallada-Jahrbuch 7 (2016), S. 207–221, hier besonders S. 210–211.
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der vom Kampf gegen das Deutschtum und die panslawische Idee erfüllt ist. Verknüpft wird Peter von Landsbergs Entwicklungsgeschichte mit einem Kriminalfall. Geißler schreibt polnischen Figuren einen Mord und die intrigenhafte Schuldbarmachung des unschuldigen Peter zu. Tabelle 1. Figurenensemble Hybride Prägung
Vollblut-Polen
Vollblut-Deutsche
Russen
Vater: Jasiek von Landsberg (deutsche Mutter, polnischer Vater) Besitzer des verschuldeten Gutes Gaschek
Baron Tiburzy Kampf gegen das Deutschtum, daher begierig auf den Besitz der Landsbergs, Verfechter des Panslawismus
Baron Ruprecht von Hohenhorst („leuchtendes Ostpreußengesicht“) Besitzer von Schloß Hohenhorst
Doktor Kasiol russischer Arzt in Warschau
Jakob Boryna (Halbbruder des Bardek Boryna) Spielschulden und Spion im Dienste des Zaren
Baron Berger Besitzer von Schloß Wingerfeld
Sohn: Peter von Landsberg russischer Leutnant, Sappeur; verurteilt wegen Mordes und verbannt Freund: Bardek Boryna (deutsche Mutter, polnischer Vater) russischer Artillerie-Leutnant, strafversetzt und im Kaukasus umgekommen
Tochter: Maja von Hohenhorst
Doktor Wladislaw Kasiol (Bruder des Arztes) Rechtsanwalt in Lodz
Gideon Wlassow Makler, Geldverleiher, Mordopfer
Schwester des Bardek Boryna (deutsche Mutter, polnischer Vater) in Lodz mit einem Deutschen verheiratet
Zuspitzungen zeigt schon der Romanbeginn. Zwei Duellanten treten sich an einem Märzmorgen 1913 am westlichen Ufer der Rawka mit gleichen tödlichen Waffen gegenüber. Dem Herausforderer Jasiek von Landsberg sekundieren zwei polnische Edelleute: der millionenschwere Schlossherr Baron Tiburzy und der „schlaue Baron“ Wojtek, schwarzer Vollbart, goldener Kneifer, assistiert vom kleinen Doktor Kasiol, einem russischen Arzt aus Warschau. Während die Herren polnisch sprechen, zeigen plebejisch-rustikale Knechts-
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gestalten russische Gesichter. Das Duell ist ein Zeichen dafür, dass die Zeit einem Krieg entgegenreift. Jasiek von Landsberg hatte eine deutsche Mutter und einen polnischen Vater, sein Sohn Peter von Landsberg dient dem Zaren als russischer Leutnant. Am Anfang stand eine Beleidigung, Hohenhorst hatte „auf die Gottvergessenheit des polnischen Bauerntums geschimpft“ (S. 27), deren Schwere Tiburzy hochredet. Nun verlangt der als Verfechter der panslawischen Idee gezeichnete Tiburzy, der zweisprachige Jasiek von Landsberg solle mittels Duellforderung diesen Flecken auf der polnischen Ehre tilgen, sein Volkstumsbekenntnis zu den Polen demonstrieren. Landsberg möge scharf seine Pistole hinhalten und so das Deutschtum treffen: „Sie leisten Polen, Sie leisten Rußland einen Dienst, wenn Sie diesen strohbärtigen Ostpreußen zur Strecke bringen“ (S. 14). Tiburzy malt das tatsächliche vor die Pistole geforderte Angriffsziel aus. Es ist der deutsche Bauer, „der aus dem Sand Ostpreußens herüberschielt nach den Weiden und Korngründen Polens“ (S. 15). Mag man in solchen und weiteren Sätzen Tiburzys die polnische Rezeption des Grunwald-Mythos hervorscheinen sehen, so wird diese Schlacht in der auf Peters Wandlung bezogenen Meinung Hohenhorsts assoziierbar: „Und war es nicht ein Triumph des Deutschtums, wenn sich der Letzte eines Geschlechts, das seit einem halben Jahrhundert unmächtig versickerte im slawischen Boden, zurückfand zu den starken Quellen seiner Kraft?“ (S. 113). Vor dem Hintergrund der Tannenberg-Schlacht 1410 und dem propagandistisch ausgeschlachteten Sieg der Deutschen über die Russen bei Tannenberg im August 1914 gewinnt die zeitliche Reflexion natürlich Bedeutung. Auch hier ist die Schlacht von 1410 ein Element der Selbstverständigung bei 500 Jahre später erneuerten kulturimperialistischen Ansprüchen. Etwa heißt es alludierend: Die Gäste Ruprechts von Hohenhorst waren alle „hohe blonde deutsche Gestalten, deren Namen schon einen guten Klang gehabt hatten in Kämpfen vor tausend Jahren“ (S. 114). Als der beim Duell anwesende russische Arzt Tiburzys Hass mit Humor zu neutralisieren sucht, prallen kontroverse Standpunkte aufeinander. Realgeschichtlich war die russisch-deutsche Verbindung der Vorweltkriegszeit, die Dr. Kasiol vertritt, unter dem Druck des neuen Panslawismus und infolge wachsender Isolierung des Deutschen Reiches und seines Verbündeten Österreich-Ungarn bereits zerbrochen. 7 Politische Verbindungen rissen ab,
7 Die Verbindung zu Russland war 1890 bereits abgerissen und nicht wiederhergestellt, trotz mancher Bemühungen und trotz des guten Verhältnisses Wilhelms II. zu dem Zaren Nikolaus II., der Ende 1894 an die Regierung kam. Vgl. Handbuch europäischer Geschichte, Bd. 6: Europa im Zeitalter der Nationalstaaten und der europäischen Weltpolitik bis zum Ersten Weltkrieg, hg. v. Walter Bussmann und Theodor Schieder, Stuttgart 1968, S. 119. Deutschland lavierte „zwischen den großen weltpolitischen Rivalen England und Rußland, verfehlte aber auf Dauer die Annäherung an beide“. Ebd., S. 126. Es gelang nicht, die großen Kontinentalmächte „in einem Bund zusammenzuschließen, der in erster Linie gegen das Übergewicht Englands in der Welt gerichtet wäre“. Ebd.,
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nachdem die Mächte Frankreich, Russland und England durch ihre gemeinsamen Interessen gegenüber Deutschland zusammengeführt wurden. Tiburzy erwartet das Heil gegen die ins russisch-polnische Land ausgreifende deutsche Expansion von einem Stammeskrieg. Er schmiedet eine panslawische Koalition, 8 die der Russe Kasiol verwehrt. Das Duell geht glimpflich aus. Jasiek von Landsberg wird mit einem Schulterdurchschuss auf sein Gut Gaschek getragen, wo sein Sohn Peter, der im Dienste des Zaren die Uniform Warschauer Sappeure trägt, 9 urlaubsweise weilt. Dem Sohn Peter, er liebt – noch unentdeckt – das „ährenblonde“ deutsche Mädchen Maja von Hohenhorst, ist es peinlich, dass sein Vater die Pistole gegen Majas Vater gerichtet hatte. Auch wehrt er den Einfluss Tiburzys im Munde des Vaters ab: „Slawische Meerflut, Dampfwalze, [. . . ] wir sind der tönenden Worte müde, ehe der Brand entfacht ist. Wenigstens wir, bei der Armee“ (S. 24). Mit Sympathie für die deutsche Seite beobachtet der russische Arzt Kasiol am Bett des Verletzten den „klingenscharfen Gegensatz zwischen Vater und Sohn“ (S. 34): „nun stand das deutsche Blut in dem Sohne gegen den Vater. Deutsche Art umleuchtete das Gesicht. [. . . ] Es steht hier nicht nur Meinung gegen Meinung, nicht das Herz gegen den Verstand, nicht eine Generation gegen die andere – nein, hier stand Rasse gegen Rasse“ (S. 35). Die Kasiol zugeschriebene Wertung hebt den Zusammenstoß gegen den expressionistischen Vater-Sohn-Konflikt ab, indem auf zeittypische Rassenideologie verwiesen wird.
V Rassentheorien reichen bis ins 17. Jahrhundert zurück, waren ab 1840 in der gesamten westlichen Welt verbreitet, sie bezogen sich auf dieselben Ideen, Leitprinzipien, Forscher und Theoretiker. Jede nationale Tradition wandelte sie nach ihren Bedürfnissen ab. 10
S. 124. Auch das geplante Defensivbündnis mit Russland – dem Charakter nach eine gegenseitige Feuerversicherungsanstalt gegen Brandstiftung – schlug fehl, es gelang nicht, Frankreich in ein deutsch-russisches Vertragssystem herüberzuziehen. Vgl. ebd. 8 Die Fortwirkung der von Dmowski niedergelegten Anschauung lässt sich hier verfolgen. Vgl. dazu Szymon Rudnicki, Dmowskis Haltung zu den Deutschen und Deutschland, in: Dieter Bingen u. a. (Hg.), Die Destruktion des Dialogs. Zur innenpolitischen Instrumentalisierung negativer Fremd- und Feinbilder, Wiesbaden 2007, S. 35–48, hier S. 43. Dmowski begann, weil er Gegner der Deutschen war, eine taktische Zusammenarbeit mit Russland. 9 Deren Aufgabenfeld waren technische Arbeiten im Festungsbau, Brückenbau, im Sprengwesen und bei Feldbefestigungen. 10 Vgl. Oliver Trey, Die Entwicklung von Rassentheorien im 19. Jahrhundert. Gobineau und sein Essay „Die Ungleichheit der Menschenrassen“, Hamburg 2014.
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Wieder ist eine deutsch-russische Allianz erkennbar, die auch im weiteren Romanverlauf gegen die Polen trägt. In Krieg und Vorkrieg haben es Grenzgänger zwischen den Kulturen bekanntlich schwer. Forderungen nach Reinheit und Homogenität beenden Austauschprozesse zwischen Kulturen. Zuspitzungen und ethnische Entscheidungen werden gegenseitig. „Aber weder von Hohenhorst noch Bardek Boryna waren töricht genug, persönliche Zuneigung und Wertschätzung auszustreichen, weil zufällig ein deutscher Baron und russischer Offizier sich darein teilen“ (S. 29). Doch schon bald erfährt Peter von Landsberg, dass Bardek Boryna, mit dem er seit Jugendtagen gern auf Schloss Hohenhorst weilte und der gleichfalls im russischen Heeresdienst steht, der Spionage geziehen und von Warschau in den Kaukasus versetzt wurde, allein wegen des Gerüchts, er verkehre im Schlosse eines deutschen Edelmanns. Denn am Abend schiebt sich dem Peter von Landsberg Bardeks Halbbruder Jakob in den Weg – ein Pole, der im Dienste der panslawischen Allianz für Moskau Spitzeldienste leistet. Der Spitzel verlangt, dass Peter von Landsberg Schloss Hohenhorst meidet. Seine Warnung ist auch persönlich motiviert. Der in Schulden verstrickte Jakob will die Ehe mit der begüterten Maja von Hohenhorst erlangen. Er erwähnt, dass man von jedem Ritt des strafversetzten Bardeks nach Schloss Hohenhorst beim Regiment Kenntnis gehabt hat, und er warnt Peter noch einmal eindringlich, Urlaub im nur wenige Kilometer von Schloss Hohenhorst entfernten Jagdhause zu machen. Er sei „Väterchens Offizier und Tiburzy ein Mann von einflussreichem Adel, der den Zaren bewirtet, wenn er in Polen ist. Von Hohenhorst aber mache deutsche Politik. Er habe auf alle polnischen Güter bis hinab zur Pilica, auf deren Herren er Einfluss hat, deutsche Verwalter und Inspektoren gesetzt“ (S. 49). Jakob droht Peter: „Und wenn du nicht deinen Vater hättest, dem ein gut polnisches Herz in der Brust schlägt, so hätte dich statt Bardek das Kommando, weit hinten an den Grenzen der Türkei, getroffen“ (S. 52). Als Peter einwendet, es gäbe in der russischen Armee gar nicht den Willen, einen Krieg anzuzetteln, verspottet der Spitzel die Naivität seines Gegenübers: Kriege werden nicht von Soldaten vorbereitet, England, das „plötzlich eine urgewaltige Seele für das Slawentum entdeckt“ (S. 53) habe, bemühe sich heiß um den Krieg. Träte der ein, würde man in Polen kurzen Prozess machen, mit allem, was deutsch ist bis hinauf nach Litauen“ (ebd.). Dann nämlich „kassiert man kurzerhand allen deutschen Besitz in Rußland“, und man nähme gleich noch etwas dazu, als da ist: Ostpreußen, Westpreußen, Pommern, Schlesien, Posen. Er fragt: „wäre nicht die Oder eine recht natürliche Grenze für Rußland“? Deutschland jedenfalls säße in der Falle, „sobald die Kette Petersburg, London, Paris geschmiedet ist“ (S. 54). Noch einmal warnt er Peter vor räumlicher Nähe zu den Hohenhorsts. Es sei eine Zeit, in der „zwischen England, Frankreich und Rußland Fäden geschlagen werden“, die mindestens jedem Deutschen unsichtbar bleiben sollen, und Peter sei, er zielt auf dessen hybride Herkunft, „nicht ganz farbenecht“, wie eben sein Freund Bardek auch.
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„Undurchsichtigkeit“ (S. 56) und Kriegsbereitschaft dieses Polen bringen den zuvor politisch naiven Peter von Landsberg aus dem Gleichgewicht. Er tastet nach der Wertordnung seines Lebens. Nicht bereit, den Wünschen des Spions zu entsprechen, sucht er im Jagdhaus durch Lektüre das entstandene innere Chaos zu beruhigen. Wiewohl nicht an Magie glaubend, erlebt der durch eine okkulte Schrift Gefesselte schaudernd den Eintritt eines Geistes. Es ist der Geist Bardek Borynas, der in kümmerlicher Bleichheit erscheint und ihn bekannt macht mit dem Tod des im Kaukasus im Bandenkrieg gefallenen Jugendfreundes. Am nächsten Morgen reitet Peter von Landsberg nach Schloss Hohenhorst, wo ihn die „weitoffene Art“ des ostpreußischen Barons einnimmt. Der Baron und Peter teilen die Ablehnung des zwielichtigen Jakob Boryna. Der Baron zerpflückt die „fixe Idee“, an der Tiburzy leidet: Warum soll nun gerade der Bauer ausessen, wovor der Herrschaft so bange ist? Er begreift nicht, weshalb man das Terrestrische der Bauernwelt ideologisch hochspielt, während das Merkurialische der Weberwelt niemanden aufregt: In Lodz sitzen viele Tausende Deutsche im Handel und Industrie – Spinnereien, landwirtschaftliche Maschinen [. . . ]. Mir scheint, kein Hahn kräht nach denen! Aber den paar preußischen Maulwürfen, die ihnen ihr Land verbessern, zeigen, wie’s gemacht wird, denen werfen sie Stöcke zwischen die Beine und schreien sie an als deutsche Gefahr. (S. 69)
Nach den Gesprächen mit Hohenhorst sieht Peter klarer. Er betrachtet das vernachlässigte väterliche Gut Gaschek: „auf die hundert Hektar Schlagholz hatte Gideon Wlassow aus Warschau wohl schon seit Jahren geliehen“. Ihm wird klar, auf das väterliche Gut Gaschek lauert „das Slawentum“, es hält den Edelbesitz derer von Landsberg „als Beute rettungslos in den Händen“ (S. 76). Der Erzähler lastet den Schlendrian dem polnischen väterlichen Erbteil Jasieks an. Peter „stand an einer Wegwende“ (S. 101). Hatte er, zwar nicht aus seinem Volk gelöst, sondern ihm entfremdet gelebt, „wehte“ es nun „in ihm wie hundert hochgezogene Fahnen im Sturm“ (S. 76). Wenn Maja von Hohenhorst ihn erhören sollte, ginge er nicht nach Warschau als Unteroffizier des Zaren zurück. Tatsächlich findet er Gegenliebe. Diesbezügliche Empfindungen beider werden nicht aus der Situation entwickelt. Geißler nutzt aufgeraffte völkisch-romantische Allgemeinplätze, etwa wenn es heißt, „ihr Blut rauschte wie die Wälder, ihre Herzen gingen wie Glocken“ (S. 104). Geißler politisiert die Liebeswahl. Peter jubelt: „liebste Maja! [. . . ] Jetzt habe ich Rußland verloren, Gaschek verloren und habe meinen Degen verloren“ (S. 103). Inmitten des Liebesglücks wird Peter vom Jagdhaus hinweg von Offizieren des Warschauer Regiments verhaftet. Der Vorwurf lautet, er habe den Makler Gideon Wlassow in Warschau erschossen. In der Tasche des Ermordeten fanden die Beamten ein Peter begünstigendes Testament, dass Peter geschrieben haben soll. Völlig ahnungslos erwarten indessen auf Schloss Hohenhorst Vater, Braut und Jagdgäste, die dort alljährlich im März zusammentreffen – zwei oder drei Vertreter des in Polen begüterten und
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ansässigen Adels, dazu einige Familien von der Grenze, aus Westpreußen und Posen – den verhafteten Bräutigam Majas, dem von Hohenhorst „aus seinem gesicherten Reichtum die Mittel gewähren“ will, „die ihm von Haus aus versagt waren“ (S. 112). Der Bräutigam trifft nicht ein, Majas Blick fällt auf die „Rjetsch“-Zeitung, wo Peter im Hauptartikel des Mordes verdächtigt wird. Es wird auf das gefälschte Dokument in der Tasche des ermordeten Maklers und Geldverleihers Gideon Wlassow Bezug genommen: „es setzt einen bekannten Offizier deutscher Abstammung, der übrigens seit einiger Zeit verdächtigt gewesen sein soll, einer fremden Macht militärische Geheimnisse zu übermitteln, zum alleinigen Erben eines bedeutenden Vermögens ein“ (S. 116). Darauf bricht Maja zusammen, um sogleich in eine heroische Attitüde zu finden: „wir müssen unsern Schmerz in Ketten legen in dieser Nacht und vor den Gästen ein Schauspiel aufführen, das über Menschenkraft geht“ (S. 118). Inzwischen diskutieren die deutschen Gäste Hohenhorsts die politisch-geografische Lage. Sie befürchten, mit ihren offenen Ostgrenzen können die Deutschen unmöglich einen Krieg gegen ein Millionenheer führen. Man verlangt nach Festungsbauten, der alte Baron Berger erklärt, dass dieser seit Jahren von der Regierung vorbereitete Krieg anders zu führen sei. Es gäbe nur ein Mittel, die sperrangeloffenen Einfallstore zu schließen: „Nach Rußland wollen wir reiten“ (S. 121). Haben die Deutschen keine deutsche Ostgrenze, so müssen sie sich durch diesen Ritt eine schaffen. Auf die Frage eines Gastes, ob Deutschland etwa die Vermessenheit besäße, das große Feuer zu entfachen, entgegnet von Hohenhorst: Es werde sich hüten, aber es sollte bereit sein, „nach Rußland zu reiten, wenn der slawische Koloß sein herausforderndes Gebrumm anhebt“ (S. 122). Mit seiner Sicht auf ein quasi naturgesetzliches Vergrößerungsstreben Russlands vertritt Hohenhorst eine länger etablierte Position. So war schon in den endneunziger Jahren des 19. Jahrhunderts zu lesen: „Weder Preußen noch Österreich können die russische Gefahr außer acht lassen, und da sie beide in gleichem Maße von derselben bedroht sind, so folgt daraus [. . . ] die Notwendigkeit des deutsch-österreichischen Bündnisses“. 11 Inzwischen umwirbt der zwielichtige Lebemann und Spion Jakob Boryna 12 die begüterte Maja. Ihre Ablehnung schleudert Maja Boryna in einem Wort entgegen: „Rassenunterschiede“ (S. 125). Indem Geißler sie mit dem Besitz von Rasse in ihrem Bewusstsein ausstattet, vermittelt er ihr Höhe, immerhin begreift sie ihren Körper als soziales Terrain. Bekanntlich diente die Verweigerung von Rassenmischung der Reproduktion rassistischer und nationaler Gemeinschaften. 13
11 Emil Brix (Hg.), Ludwig Gumplowicz oder die Gesellschaft der Natur, Wien 1986, S. 341. 12 Dass der aus dem Holz geschnittene Stecken nicht so recht zu seiner eleganten Erscheinung passt, macht seine von der Scholle entfremdete Daseinsweise kenntlich. 13 Der weibliche Körper symbolisiert die Grenze der Gemeinschaft. Auf ihn darf eine fremde Rasse keinen Zugriff haben. Vgl. hierzu in der Monografie von Anette Dietrich,
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Nachdem Peter von Landsberg aufgrund trügerischer Indizienbeweise verurteilt und nach Sibirien verbannt wurde, zieht der „slawische Baron Tiburzy“ seine Fäden weiter um die „Scholle“ (S. 162) des Vaters Jasiek. Währenddessen sucht Maja von Hohenhorst die Schwester von Peters im Kaukasus umgekommenen Jugendfreund Bardek Boryna auf, die einen deutschen Beamten einer Weberfabrik in Lodz geheiratet hatte. Sie erfährt, es geht aus einem Brief ihres Bruders hervor, dass Peter niemals Schuldscheine bei Gideon Wlassow gezeichnet hatte (vgl. S. 170). Dies war dem Angeklagten als Mordmotiv unterstellt worden. Maja engagiert in Lodz den russischen Rechtsanwalt Dr. Wladislaw Kasiol. Dieser wird ebenfalls ethisch erhöht, er war bei verwachsenem Körper „Kraft des Willens“ (S. 173) ein berühmter Anwalt geworden. Der kluge Sonderling Kasiol erscheint vor Tiburzys Spionen im Baumwollkittel als einfacher Handelsmann verborgen auf Schloss Hohenhorst. Dort gewinnt er zunächst politisch Hohenhorsts Sympathie. Denn der Russe entkräftet die Argumente des Baron Bergner. Ihm zufolge werde „die slawische Gefahr [. . . ] für Deutschland ein Märchen bleiben, wenn es den Herd des künftigen Weltbrands früh genug entdeckt“ (S. 179). England lasse Russland einen Krieg führen, da England Deutschland nicht besiegen könne, rede England Russland ein, Krieg gegen Deutschland zu führen: „Rußland ist dumm genug zu meinen, dieser Krieg läge unabwendbar in seinem Interesse“ (S. 180). Erklärend setzt er nach: „denn das Volk der Slawen ist zu jung, zu blöd und zu traumselig, um auf den Gedanken einer Rassenfeindschaft oder gar wirtschaftlichen Bedrängnis von außen her zu verfallen“ (ebd.). Die Rassentheorie, die seit den 1850er Jahren zunehmend Europa ergriff, wirkt in die Dialoge hinein. Deutlich wird, dass auch der Erzähler die Rede der deutschen Regierung von der slawischen Gefahr nicht teilt (vgl. S. 181). Auch für ihn ist der wahre Feind England. England wirft „die Saat der Zwietracht über den Erdenkreis“. Diese Gespräche werden geführt, während der Sträflingsdampfer mit Peter von Landsberg von Odessa aus auf die von den Japanern teilweise besetzte Insel Sachalin Kurs nimmt. „Nur die öden Strecken, um die kein Eichwald mehr rauschte, gehörten Rußland“ (S. 194). Zunächst sucht Kasiol mit List, indem er sich als Redakteur verdingt, in der „Rjetsch“ den Namen des tendenziös berichtenden Prozessberichterstatters zu erfahren. Er ermittelt, dass der Pole Jakob Boryna der Verfasser war. Er geht dann zur „Rußkoje slowo“, die Bedenken geäußert hatte, dass man Landsberg auf einen Indizienbeweis hin verurteilte. Er erörtert dort in seinem viel beachteten Artikel die Frage: „Kann Polen ein selbständiges Königreich sein?“. „Von rücksichtsloser Kühnheit der Gedanken“ ging dieser Beitrag „über dem panslawistischen Rußland auf als Rakete von ungeheurer Leuchtkraft“ (S. 190). Der Artikel Kasiols sagt:
Weiße Weiblichkeiten: Konstruktion von Rasse und Geschlecht im deutschen Kolonialismus, Bielefeld 2007, besonders S. 51–91.
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Rußland will nachgiebig werden, weil der Brand angeht an seiner Westgrenze. Man fürchtet: Deutschland wird Polen die Befreiung und Selbständigkeit versprechen. 14 Man fürchtet, diese Lockungen werden das Land zwischen Warta und Weichsel dem Feind in naher Zukunft in die Arme treiben. Aber Deutschland ist viel zu klug – es sieht klarer als die Angst der russischen Staatsmänner: Polen ist ohne gemeinsame völkische Kraft; es ist ohne einheitlichen produktiven Willen. Darum: Deutschland wird mit dem Schwert über Polen kommen zu der Zeit, in der England die russische Regierung zu seinem Narren gemacht hat. Rußland muss russische Politik treiben, nicht englische! (S. 191)
Von Landsberg schuftet beim Wegebau, gelangt als Konstruktionszeichner für russische Festungsanlagen gegen die Japaner schließlich in die Schreibstube. Dort erfährt er, dass der Waffenbund Russlands mit England und Frankreich zustande gekommen ist, aus der Feindschaft zwischen Russland und Japan ein Bündnis wurde, Japan den Deutschen Tsingtau abnehmen will (vgl. S. 204). Er ist seit vier Monaten schon ohne Hoffnung, während Maja alles unternimmt, ihn zu befreien. Kasiol hatte sich bei der Staatsanwaltschaft in Warschau als Bürodiener ausgegeben und konnte so das vermeintlich von Landsberg dem Wlassow untergeschobene Testament fotografieren. Daher fügt Maja sich in die List des russischen Anwalts Kasiol, dem verhassten Rassenfeind Jakob Boryna einen liebäugelnden Brief zu schreiben, um von ihm handschriftlich jene Worte zu erhalten, die in dem von ihm gefälschten und Peter von Landsberg untergeschobenen Testament des ermordeten Wlassow stehen, nämlich: „Peter von Landsberg“, „Wunsch und Wille“ und „Jasiek von Landsberg“. Dieser tappt in die Falle. Bald darauf kann Kasiol den Handschriftenvergleich in der „Rußkoje Slowo“ einer breiten, erregten Öffentlichkeit vorlegen. Nun wird in Auflagen, die die 100.000 überschritten, offenbar: Jakob Boryna hat die Belege über die Wechselschuld Peter von Landsbergs und das Testament gefälscht und aus Habgier den Makler ermordet, der von ihm Spielschuldenscheine hatte. „Das Licht zum Falle Landsberg“ stand in mächtigen Lettern auf der Titelseite des Blatts, dessen Redaktion von Menschen belagert wurde. Wieder wird die Brillanz des russischen Anwalts politisch aufgeladen. „Rußkoje Slowo“ hatte die Enthüllungsserie mit dem Versprechen angekün-
14 Das war tatsächlich für einige Monate Deutschlands Strategie, die in die Erzählkonstruktion „Wacht in Polen“ eingegangen ist. Vgl. Rudolph, S. 217–218. Die Verschlingung deutscher und polnischer Interessen war kurzzeitig eine Option. Etwa spekulierte Ludendorff im Sommer 1916 darauf, „daß die Umwandlung des russischen Sektors in einen souveränen Staat den polnischen Nationalisten gefallen und den Mittelmächten zusätzliche Kontingente polnischer Soldaten bescheren würde. [. . . ] Im November verkündete Deutschland die Geburt eines polnischen Königreiches, das mit Unterstützung von einem Parlament und einem staatsratführenden polnischen Politiker regiert werden sollte“. Roger Chickering, Das Deutsche Reich und der Erste Weltkrieg, München 2002, S. 107. Es gab zudem das Versprechen, in Warschau eine polnische Universität zu errichten.
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digt: „der Verfasser des Polenaufsatzes, der damals ungenannt geblieben war, würde Licht in eine Sache bringen, die die gesamte Kulturwelt ins Innerste erregen müsste“ (S. 253). Die Abschiebung Landsbergs in die Verbannung wird noch einmal politisiert. Landsberg fällt auf Sachalin ein Brief Tiburzys in die Hände, der einen Hauptmann Dziewensky beauftragt, auf Landsberg Acht zu geben: „wenn die Regierung uns in Polen gegen das Vordringen der Deutschen nicht schützen kann, so müssen wir uns selber helfen“, heißt es dort. Der Briefschreiber fiebert der Zeit entgegen, „in der das Besitztum der Landsbergs“ in seine Hände fällt: „Der Gefangene auf Sachalin ist der Letzte seines Geschlechts“ (S. 246). Peter begreift, dass seine Verurteilung kein Rechtsirrtum war, „Rassenfeindschaft“ (S. 248) und finstere Beweggründe hatten den Richtspruch eingegeben. Er weiß sich mit seinem inneren Bekenntnis zum Deutschtum auf gutem Wege. Nach dem Freispruch durch den Zaren wird er die russische Offiziersuniform ablegen. Alles wird von Geißler eingebettet in die sehr bald schon kriegerisch ausgetragenen Rassengegensätze: „Der Haß der Völker glühte“ (S. 252). Inzwischen langen englische Kornaufkäufer an, denen Hohenhorst – anders als polnische Inspektoren – eine Abfuhr erteilt, er verkaufe nur an Deutschland. Er schafft Wladislaw Kasiol heimlich in das Schloss Baron Bergers, um ihm nach dessen publizistischen Enthüllungen kriminalfallbezogener und politischer Art Sicherheit zu bieten. Dort bewundert er noch einmal Kasiols „Aufwand an Willen“, sich „gegen eine Welt der Finsternis zu stellen“ (S. 293). Als der alte Baron Bergner den Ankömmling begrüßt: „Wie lange werden wir uns der Ehre Ihres Aufenthalts erfreuen, Herr Doktor Kasiol?“, erwidert dieser: „Bis Polen ein deutscher Bundesstaat ist“ (S. 261). Mit diesem Satz, schreibt Geißler, habe der Russe Schloss Wingersfeld erobert. Auf Wingersfeld wenden sich Bergner und Kasiol noch einmal Kriegserörterungen zu. Baron Bergner reitet erneut sein Steckenpferd, die slawische Gefahr, um darauf von Wladislaw Kasiol zu vernehmen, mit einer solchen habe Deutschland erst in ferner Zukunft zu rechnen: Eine slawische Gefahr ist für Deutschland aktuell vom Jahre 1930 ab. Bis dahin hat es in Rußland einen Feind, den es England verdankt. Deutschland wird Rußland schlagen und wird ihm Polen abnehmen. Es wird Polen und Litauen germanisieren durch sein Bauerntum. Dann wird es seine Vorposten über die Weichsel schieben. Es wird die slawische Gefahr im 20. Jahrhundert nicht einfach vernichten, aber es wird ihr in Ruhe entgegen gehen können – vorausgesetzt, dass es zuvor den Briten ins Herz stößt. (S. 262)
Am Ende des Romans stehen Rassenentmischungen und die Verabschiedung von Interethnik. Im Motiv der Hybridität des Jasiek von Landsberg war die Erwartung ihrer Aufhebung angelegt. Sterbend findet Jasiek zurück zu seinem deutschen Rassebewusstsein. Geißler gestaltet dies als inneren Vorgang, der sich vor den Ohren und Augen des Generationsgenossen Hohenhorst vollzieht, den Jasiek von Landsberg an sein Sterbebett gerufen hatte. Ihm beich-
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tet er: Schuld und Schicksal hätten ihn, der kleine Besitzungen in Schlesien hatte, zuletzt aus Schlesien herausgedrängt (vgl. S. 271). Darüber sei er bitter geworden und hätte sich dem Land seiner Väter entfremdet. So gehe es Tausenden in Russland. Sie trügen noch die deutschen Namen, aber sie hätten slawische Herzen. Der Sterbende bereut, dass er den Weg für seinen Sohn so schlecht bereitet hat und erklärt Hohenhorst, Tiburzy und die slawische Zunft, bei der er in Kreide stehe, hätten es ihm verwehrt, einen deutschen Inspektor zu nehmen, der dem Gut sicher aufgeholfen hätte: „sie fürchteten das deutsche Blut in meinen Adern und wollten es mir aussaugen, diese eklen Spinnen“ (S. 274). Hohenhorst zieht aus alledem die bekannte Summe: „Jawohl, [. . . ] die Feindschaft der Rassen! Aber Sie haben sie nicht erkennen wollen“ (ebd.). Hohenhorst erlebt einen kranken, gebrochenen Mann, „der sich im Sterben hindurchgeläutert hatte zu seiner reuenvollen Erkenntnis“ (S. 277). In seinen letzten Stunden ist er „kein Feind des eigenen Blutes mehr“. Peter hatte Gaschek schon verpfändet geglaubt und während seiner Urlaubsritte die Scholle als Heimat und Natur in die höhere Empfindung gerettet. Nun aber rettet Hohenhorst sie handfest. Er kauft Jasiek von Landsberg für Maja von Hohenhorst und Peter von Landsberg das heruntergekommene Gut Gaschek ab – bevor es dem sogleich herbeieilenden Tiburzy in die Hände fällt. Tiburzy wütet, als er sich um den Lohn seiner Intrigen betrogen sieht. Der russische Arzt Dr. Kasiol, der Bruder des engagierten Anwalts Wladislaw, bestätigt als Vertragszeuge und Mediziner die volle Zurechnungsfähigkeit des sterbenden Verkäufers. Tiburzy macht noch einmal die panslawistische Bündnispflicht geltend: „Sie werden sich für diesen Verrat an Ihrem Vaterlande zu verantworten haben“ (S. 280), schleudert er dem Arzt entgegen. Peter von Landsberg kehrt rehabilitiert zurück und legt die russische Uniform ab, um als Deutscher sein Gut mit Maja zu bewirtschaften. Lebte der Vater mit sehr geteilten Gefühlen, gehemmt durch die Last seines überwältigenden polnischen Herkunftserbes, durchschaut der Sohn immer klarer die Gebundenheit seines Lebens an sein deutsches Herkommen. Es gibt während der Jagd eine Situation, in der es Peter überkommt, mit Tiburzy abzurechnen. Als er ihn vor die Flinte bekommt und abdrücken will, erhellt ihn eine Einsicht, die untrüglich als Erzählkommentar erscheint und auf Geißler selbst verweist: „Nein, das war kein Kampf des Menschen wider den Menschen, das waren Instinkte der Völker, die sich in ihnen gegenüberstanden“ (S. 283). Rasse hat mithin das genetische und funktionale Primat gegenüber den Individuen. Gemeinschaften sind durch Rasse von bloßen Sozialaggregaten verschieden. Geißler ordnet Verhaltensweisen von Figuren einer als Natur aufgefassten und damit kausal erklärenden Rassenideologie zu. Der Einzelne ist Prototyp ganzheitlichen Geschehens und einer ganzheitlichen Ordnung. Daher macht von Hohenhorst der „Zorn auf die Eifersucht der slawischen Barone [. . . ] nicht blind“. Sein Zorn lässt Anerkennung zu: „Tiburzy ein Ehrenmann – Rassengegensätze“ (S. 71). „Tiburzy in Ehren“ (S. 69) drückt soziale Wertschätzung aus und die Einsicht, dass der Adel beider Seiten ein politisches
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Leben führt, sich die deutschen und polnischen Kontrahenten als Verteidiger der Interessen ihrer Rasse in ihrer historischen Mission fühlen und aus diesem Gefühl auch moralische Kraft schöpfen. Wie schon bemerkt, war der ewige Kampf der verschiedenen Rassengegensätze allgemein im Schwange. 15 So erscheinen Stra˙z und Deutscher Ostmarkenverein als Rassengegensätze ausstrahlende Phänomene, der Krieg als Rassenpflege und Rassenverteidigung, sämtlich Sichtweisen, die das alte romantische Weltbild überfordern, was der Erzähler durchaus reflektiert: „Und wenn es galt, diesen Gedanken in seiner Ungeheuerlichkeit zu erfassen“, dass „die alten Reiche krachten, [. . . ] Kulturvölker sich zu Königsmördern schlugen“ – eine Anspielung auf die Allianz Englands, Frankreichs und Russlands –, „um einander zu zerfleischen, brachte die deutsche Romantik den Glauben dazu nicht auf“ (S. 184). Am Ende des Romans reitet Peter als pommerscher Ulan aus der Festung in Thorn – derart ein aufs Heldische und Nationale abgestimmter Schluss.
VI Geißlers Legitimierung und Gestaltung der Konflikte vollzieht sich im Geiste völkisch-politischer Anthropologie. Natürlich fehlt einer solchen Romananlage die moderne Psychologie, die sie interessant gemacht hätte. Die Rassenideologie, die Geißler in seiner Erzählkonstruktion übersetzt, wird inkonsequent herangezogen. Der Roman handelt von Illusionen und Irrtümern hybrider Menschen und unlösbaren Bindungen an die eigene Rasse. Ganz und gar bezeichnend für eine Vereindeutigung der Intention ist das Ende, an dem bei Vater und Sohn eine Rassenentmischung und die Verabschiedung von Interethnik als innerer Vorgang stehen. Die aus der Rassen- und Volkstumskampfthese resultierende Polarisierung zwischen Deutschen und Polen wird nicht auf die Russen erweitert, die im Roman auf deutscher Seite stehen. 16 Der Roman ist aufschlussreich auch für
15 Hierzu ein historischer Fingerzeig: „Während im 18. und frühen 19. Jahrhundert eine environmentalistische Herangehensweise herrschte, in der Differenzen als umweltbedingt ausgegeben wurden, gewann in den 1840er Jahren im Zuge einer wissenschaftlichen Schulbildung an verschiedenen europäischen Universitäten (Edinburgh) ein rassentheoretischer Ansatz Oberhand, der physische und kulturelle Unterschiede unter der Prämisse biologisch-genetischer Determination erklärte“. Vgl. Susi K. Frank, Anthropologie als Instrument imperialer Identitätsstiftung: Russisch-sibirische Rassentheorien zwischen 1860 und 1890, in: Bianka Pietrow-Emker (Hg.), Kultur in der Geschichte Russlands: Räume, Medien, Identitäten, Göttingen 2007, S. 203–223, hier S. 203. 16 Sichtlich hat Geißler auf die russischen Deutschenfreunde, auf die russischen Brüder, den Arzt Kasiol und seinen Bruder, den Anwalt, Sympathie gelenkt. Nicht zufällig tragen auch diese Figuren seine Maßstäbe und seine Sichtweise. Er attestiert beiden wahre
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die Intensität von Geißlers Bemühungen, England als Kriegstreiber zu brandmarken und für diese Narration ein breitenwirksames Erzählformat zu finden.
Geisteskraft und einen starken Willen. Er schätzt in Kasiol den harten Geistesarbeiter, der kühn disponierte Konspiration der Spitzel- und Intrigenwelt entgegensetzt, der der Wahrheit des Unrechtsfalls publizistische Räume eröffnet und der es auch nach Bekanntwerden seines Namens bescheiden vermeidet, in der öffentlichen Sphäre zu glänzen. Dabei gilt die Bewunderung der Öffentlichkeit, ja sogar des Zaren, der ideellen Höhe, auf der Kasiol die Frage nach dem Interesse Russlands beantwortet.
Gabriela Jelitto-Piechulik (Uniwersytet Opolski)
Revitalisierung der Geschichte nach 1914 Albrecht von Wallenstein und Karl Freiherr vom Stein zum Altenstein in den Geschichtskonstruktionen der Ricarda Huch
Um 1900 lässt sich im schriftstellerischen Werk von Ricarda Huch (1864– 1947) eine schöpferische Suche nach neuen Themen und Ausdrucksmöglichkeiten beobachten. Sie wendet sich großen geschichtlichen Stoffkomplexen 1 zu, die sie für ihre Zeit lesbar zu machen sucht. Dieser Beitrag erschließt die Positionierungen von Ricarda Huch als Historikerin in Bezug auf den Dreißigjährigen Krieg sowie auf die Entwicklungen des ausgehenden 18. bis hinein in die vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts am Beispiel von historisch bedeutsamen Persönlichkeiten wie Albrecht von Wallenstein (1583–1643) und Karl Freiherr vom Stein zum Altenstein (1757–1831). Berücksichtigt werden die historische Perspektive wie auch die individuelle Lebenssituation der Autorin Huch mit Blick auf die Umwälzungen in ihrer Gegenwart.
1. Ricarda Huch als promovierte Historikerin am Ausgang des 19. Jahrhunderts Am 21. April 1888 immatrikulierte sich Ricarda Huch für die Fächer Geschichte, Philologie und Philosophie an der Zürcher Universität. 2 Zu ihren
1 Zu den von Huch erarbeiteten geschichtlichen Stoffkomplexen gehören neben der Darstellung des Dreißigjährigen Krieges der italienische Freiheitskampf des 19. Jahrhunderts („Die Geschichten von Garibaldi“, 1906–1907; „Das Risorgimento“, 1908; „Das Leben des Grafen Federigo Confalonieri“, 1910) sowie die revolutionären Erhebungen des Jahres 1848 („Alte und neue Götter (1848). Die Revolution des 19. Jahrhunderts in Deutschland“, 1930). 2 An den deutschen Universitäten wurden Studentinnen erst um die Jahrhundertwende immatrikuliert, wobei man hier die Unterschiede in den einzelnen Bundesstaaten des Reiches berücksichtigen muss. Vgl. Karsten Dahlmanns, Das verfluchte Amerika: Stefan Georges Bildnis vom Unternehmertum, Markt und Freiheit, Würzburg 2006, S. 192– 196. In Preußen wurden Frauen erst seit dem Wintersemester 1908/09 zum Studium zugelassen. Vgl. Ilse Costas, Öffnung der Universitäten für Frauen – Ein internationaler Vergleich für die Zeit vor 1914, in: Leviathan 4 (1995), Vol. 23, S. 496–516, hier S. 496; Gabriela Jelitto-Piechulik, „Frühling in der Schweiz“ – deutsche Exilerfahrungen in geschichtlichen Kontexten, in: Dies. u. a. (Hg.), Grenzüberquerungen und Migrationsbe-
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Geschichtsprofessoren gehörte der Mittelalterforscher Gerold Ludwig Meyer von Knonau (1834–1931), der sich Zeit seines Lebens mit der Geschichte des Deutschen Reiches unter Heinrich IV. und Heinrich V. beschäftigte. Als die einzig gültige Forschungsmethode galten für Knonau und seine Studenten das akribische Studium von historischen Quellen und deren genaue Wiedergabe in den Geschichtswerken. Die Studentin Huch hatte jedoch Zweifel an dieser Forschungsmethode: Ich unterschätzte den Wert der Einzelforschung, die strenge Beschränkung auf das vom Wissen Erfaßte nicht und war weit entfernt zu wünschen, daß aus der Geschichte ein Roman gemacht werde; aber ich fragte mich, zu was die Stücke da wären, wenn nicht, um zu einem lebendigen Ganzen gemacht zu werden, wenn nicht die Leidenschaften der Lebendigen die Schatten erglühen lassen, wenn wir uns nicht in sie, sie sich nicht in uns verwandeln? 3
Huch entdeckte für sich die Wichtigkeit der Lebendigkeit von Geschichte. 4 Der geschichtliche Stoff an sich sei ohne Leben und werde erst durch das handelnde geschichtliche Individuum zum Leben erweckt. Die geschichtlichen Umwälzungen seien für den Betrachter erst dann interessant und nachvollziehbar, wenn er den Helden der Vergangenheit vor sich stehen und handeln sehe. 5 Mit dieser Vorstellung von Geschichte stand Huch in Widerspruch zu einem der angesehensten Historiker ihrer Zeit, Leopold von Ranke (1795– 1886), den sie für seine Gabe lobte, „das Vergangene anschaulich zu machen“. 6 Doch die von ihm präsentierte Welt war für Huch „zu geglättet, zu verbindlich, zu sehr vom Standpunkt der Oberen Zehntausend gesehen“. 7 Stattdessen war Huch auf der Suche nach ihrem individuellen Zugang zur Geschichte, davon überzeugt, dass „die wirkliche Welt [. . . ] viel wilder, grausamer, böser
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wegungen. Fremdheitserfahrungen in der österreichischen, deutschen, schweizerischen und polnischen Literatur und Lebenswelt, Wien 2015, S. 161–178, hier S. 168–170. Ricarda Huch, Frühling in der Schweiz, in: Dies., Erinnerungen an das eigene Leben, Nachwort von Bernd Balzer, Köln 1983, S. 208. Vgl. Angelika Sachser, „Der Große Krieg in Deutschland“. Literarische Geschichtsschreibung als weibliche Geschichtswissenschaft?, in: Gesa Dane / Barbara Hahn (Hg.), Denkund Schreibweisen einer Intellektuellen im 20. Jahrhundert. Über Ricarda Huch, Göttingen 2012, S. 56–80, hier S. 57–60. Oskar Walzel betont in seinem 1916 veröffentlichten Aufsatz, dass bei Huch die dichterische Phantasie und wissenschaftliche Forschung einen Einklang bilden. Im Falle der Geschichtsschreibung Huchs handele es sich um eine Art der „Grenzgängerei zwischen Wissenschaft und Kunst“. Vgl. Oskar Walzel, Richarda Huchs Romantik 1900–1905, in: Ders., Vom Geistesleben alter und neuer Zeit, Leipzig 1923, S. 337–365, hier S. 337; Barbara Hahn, „Wunderbar artikulierte Herrscherin im Reiche des Bewußten“. Ricarda Huch und ihre Zeitgenossen, in: Miriam Kauko u. a. (Hg.), Gendered Academia. Wissenschaft und Geschlechterdifferenz 1890–1945, Göttingen 2005, S. 223–236, hier S. 223. Huch, Frühling in der Schweiz, S. 208. Ebd.
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und gemeiner und doch auch wieder viel schöner“ 8 sei. Bei Ranke vermisste Huch „das unterirdische Rauschen der übermenschlichen Mächte“. 9 Es ist nicht zu übersehen, dass Huch in ihrer Vision geschichtlicher Darstellungen in der geistesgeschichtlichen Epoche der Romantik verankert blieb und nach einer möglichen Synthese der historischen Fakten und lebendigen historischen Figuren suchte. 10 Golo Mann erklärte Jahrzehnte später, dass Huch ihr Verständnis für Geschichte in die Form eines historischen Epos gekleidet habe. 11 In einem Gespräch mit ihm habe sich Huch darüber geäußert, dass sie die Form des historischen Epos für die beste Textform gehalten habe, weil die geschichtlichen Helden hier lebendig erscheinen. 12 Somit präsentierte Huch in ihren Geschichtswerken „das leidende Volk, Bürger und Bauern, die für die Politik der großen Herren, für Stümperei, Gier, Herrschsucht, Fanatismus, Angst, Blindheit, Bosheit, Dummheit [. . . ] den bitteren Preis zahlten“. 13 Es entsteht zugleich die Frage nach der Bedeutung von geschichtlichen Bildern für die Zeitgegenwart. Gesa Dane bezeichnete Huchs Vorgehensweise als Historikerin als „historische Vergegenwärtigung“ 14 mit dem Ziel, die Vergangenheit nachvollziehbar zu machen und zu einer „historischen Selbstverständigung über die eigene Gegenwart [. . . ] beizutragen“. 15 Huch selbst betrachtete sich als Historikerin und Dichterin zugleich, die die geschichtliche Vergangenheit für 8 Ebd., S. 209. 9 Ebd. 10 Vgl. Ortrud Gutjahr, Das gerettete Ich: Ricarda Huchs romantischer Historismus, in: Katrin Tebben (Hg.), Deutschsprachige Schriftstellerinnen des Fin de siécle, Darmstadt 1999, S. 247–265, hier S. 258. Zu erwähnen ist, dass der wohl bedeutendste Historiker des viktorianischen Zeitalters, Thomas Carlyle (1795–1881), von Ricarda Huch nicht rezipiert wurde. Dennoch sieht man in den Überlegungen von Huch bezüglich der Bedeutung des historischen Helden eine Nähe zu Carlyles Überlegungen. Carlyle, der unter dem Einfluss des deutschen Idealismus des romantischen Zeitalters stand, kreierte historische Gestalten (wie z. B. Friedrich II., Cromwell), welche sich durch ihre Vitalität und moralische Stärke auszeichneten. Vgl. Fritz Stern / Jürgen Osterhammer, Geschichte als Biographie: Thomas Carlyle, in: Dies. (Hg.), Moderne Historiker. Klassische Texte von Voltaire bis zur Gegenwart, München 2011, S. 137–159. 11 Golo Mann, Ricarda Huch, in: Hans Jürgen Schultz (Hg.), Der Friede und die Unruhestifter. Herausforderungen deutschsprachiger Schriftsteller im 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1973, S. 18–29, hier S. 19. 12 Vgl. Ines Schubert, Der historische Roman einer Historikerin. Ricarda Huchs Darstellung des Dreißigjährigen Krieges, in: Cord-Friedrich Berghahn u. a. (Hg.), Geschichtsgefühl und Gestaltungskraft. Fiktionalisierungsverfahren, Gattungspoetik und Autoreflexion bei Ricarda Huch, Heidelberg 2016, S. 245–260, hier S. 246–247. 13 Mann, S. 19. 14 Gesa Dane, Historische Vergegenwärtigung: Ricarda Huchs „Romantik“ und „Der Dreißigjährige Krieg“, in: Kauko u. a., S. 127–145, hier S. 127. 15 Ebd., S. 127. Vgl. Monika Plessner, Ricarda Huchs Weg zur Geschichte, in: Merkur 27 (1973), S. 647–660, hier S. 656; Waltraud Maierhofer, Wahrheit und Dichtung. Geschichte und Fiktion im Werk Ricarda Huchs, in: Euphorion 88 (1996), S. 139–155, hier S. 145.
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ihre Zeit umgesetzt und nach modernen Zuschreibungen gesucht hat. 16 Dabei bediente sie sich des „organizistischen Modells“ 17 von Aufstieg, Blüte und Verfall innerhalb des historischen Geschehens: 18 „Das siebzehnte Jahrhundert war für das Deutsche Reich die Zeit der Auflösung: Die einzelnen Organe des ungeheuren Körpers waren so selbständig geworden, daß die Kraft des Mittelpunktes nicht mehr ausreichte, sie zusammenzufassen“. 19 Eine Veränderung erwies sich als unabdingbare Notwendigkeit, damit Neues entstehen konnte. 20 Den Dreißigjährigen Krieg deutete Huch als „einen zivilisatorischen Nullpunkt und als Geburtsstunde des deutschen Nationalstaates“. 21 Es war ein Krieg der Großmächte und der Eliten, aber das unmittelbare Kriegsgeschehen traf die gemeinen Menschen. Huch versuchte anhand ihrer Darstellung des Dreißigjährigen Krieges das Wesen jeglicher kriegerischen Auseinandersetzung herauszuarbeiten. 22
2. Ricarda Huchs persönliche Lage um 1914 Den Kriegsausbuch erlebte Huch mit ihrer heranwachsenden Tochter Marietta in München, wo sie seit 1911 wohnte. 23 Im Kriegssommer 1914 war sie „von der deutschen Kraft und Kultur wirklich überzeugt“ 24 sowie von der Fähig-
16 Vgl. Ernst Bernheim, Lehrbuch der Historischen Methode und der Geschichtsphilosophie. Mit Nachweis der wichtigsten Quellen und Hilfsmittel zum Studium der Geschichte, Leipzig 5–61908, S. 777–798. 17 Dane verweist darauf, dass dieses Modell sich bereits in Huchs Einteilung der romantischen Epoche in Blüte, Ausbreitung und Verfall erkennen lässt und in ihrem Geschichtswerk zum Dreißigjährigen Krieg in folgender Benennung der jeweiligen Kapitel umgesetzt wurde: „Vorspiel 1585–1620“, „Ausbruch des Feuers 1620–1632“, „Der Zusammenbruch 1633–1650“. 18 Vgl. Wolfgang M. Schwiedrzik, Ricarda Huch: „Das Vermächtnis“. Drei Aufsätze und ein Nachwort. Zu Ricarda Huchs 70. Todestag am 17. November 2017, Neckargemünd 2017, S. 91–105. 19 Ricarda Huch, Wallenstein. Eine Charakterstudie, in: Dies., Gesammelte Werke, Bd. 9: Geschichte 1, hg. v. Wilhelm Emrich, Köln 1968, S. 519–657, hier S. 521. 20 Vgl. Katrin Lemke, Ricarda Huch. Die Summe des Ganzen. Leben und Werk, Weimar 2014, S. 70–71. 21 Dane, S. 140. 22 Vgl. Karl-Heinz Hahn, „Geschichte und Gegenwart“. Zum Geschichtsbild der Ricarda Huch, in: Hans-Henrik Krummacher u. a. (Hg.), Zeit der Moderne. Zur deutschen Literatur von der Jahrhundertwende bis zur Gegenwart. Bernhard Zeller zum 65. Geburtstag, Stuttgart 1984, S. 260–280, hier S. 267–268. 23 Vgl. Lemke, S. 82–90. 24 Brief von Ricarda Huch an Marie Baum (vom 9. August 1914), in: Ricarda Huch, Briefe an die Freunde, hg. und eingeführt v. Marie Baum, Neubearbeitung und Nachwort von Jens Jessen, Zürich 1986, S. 59.
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keit der Deutschen, das Leid, die „schwere Notwendigkeit“ 25 heldenhaft zu ertragen. 26 In dieser Zeit suchte sie nach einer historischen Persönlichkeit der deutschen Geschichte, die für die zeitgenössischen Leser von Interesse sein könnte und die Huch für ihre Zeitgenossen erkennbar und verständlich machen möchte. Diese Persönlichkeit glaubte sie in Albrecht von Wallenstein gefunden zu haben, über den sie eine „psychologische Untersuchung“ und keine „Biographie“ 27 zu schreiben beabsichtigte.
3. Wallenstein als tragende Persönlichkeit des Dreißigjährigen Krieges Im Jahre 1915 veröffentlichte Huch ihre Schrift „Wallenstein. Eine Charakterstudie“, die im Zusammenhang mit den Nachforschungen zu Huchs Opus magnum „Der große Krieg in Deutschland“ 28 entstand, dessen erster Band zwei Jahre vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges erschienen war. 29 Albrecht von Wallenstein wird für Huch zu einem Wahrzeichen nicht nur des Dreißigjährigen Krieges, sondern jeder kriegerischen Auseinandersetzung überhaupt, welche Helden aufkommen lässt, die wiederum persönlich für das kriegerische Ringen verantwortlich sind und dieses vorantreiben. 30 Golo Mann stellte in Bezug auf Huchs personenbezogene Geschichtsschreibung fest: „Ihre Helden waren die Idealisten, die scheiterten“. 31 Dies würde bedeuten, dass auch Huchs Wallenstein die Verkörperung einer bestimmten Idee sei. Die Charakterstudie Wallensteins gestaltete Huch über Kreise, um den Helden ganzheitlich zu erfassen. Sie begann mit dem äußeren Kreis, welcher die politisch-gesellschaftliche Situation im 17. Jahrhundert umriss. Huch zeigte das Alte Reich, welches sich in Auflösung befand, weil es in „eine Menge von Einzelexistenzen“ 32 zerfallen war. Diese trachteten nach eigenen Interessen und prägten somit das Bild des Zeitalters, für welches „Degeneration oder Entartung [. . . ], besser
25 Brief von Ricarda Huch an Katharina Kippenberg vom (vom 13. Februar 1915), in: ebd., S. 63. 26 Vgl. Cordula Koepke, Ricarda Huch. Ihr Leben und ihr Werk, Frankfurt a. M. 1996, S. 233; Marie Baum, Leuchtende Spur. Das Leben Ricarda Huchs, Tübingen 1950, S. 229. 27 Brief von Ricarda Huch an Katharina Kippenberg (vom 13. Februar 1915), S. 62. 28 Ricarda Huch, Der große Krieg in Deutschland. Roman, Leipzig 1912–1914, 3 Bde. 29 Die neue Auflage dieses Geschichtswerkes aus dem Jahr 1929 trägt den Titel „Der Dreißigjährige Krieg“. 2019 unternahm der Kölner Anaconda Verlag den Versuch, Huchs Darstellung des Dreißigjährigen Krieges erneut ins Bewusstsein der deutschsprachigen Leser zu rufen. Es handelt sich dabei um Huchs Primärtext ohne jegliches Vor- oder Nachwort. 30 Vgl. Maierhofer, S. 147. 31 Mann, S. 19. 32 Huch, Wallenstein, S. 521.
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noch Abartung“ 33 charakteristisch war. 34 Vor diesem Hintergrund deutete Huch das Auftreten von Wallenstein auf der Bühne des politischen Geschehens als eine Hoffnung auf Besserung des gegebenen Zustandes: „Wir sind geneigt, jeden zu bewundern, der die Hand daranlegte, das auseinanderfallende Reich, unbrauchbar gewordene Trümmer beiseite schiebend, gewaltsam zusammenzufassen“. 35 Die Zeit bedurfte eines Umsturzes, der von einer starken Persönlichkeit getragen wurde, die sich wiederum durch „eine hohe und freie Intelligenz“ auszeichnete, „um sich über die Scheu vor einem gewalttätigen Eingriff hinwegzusetzen“ 36 und auf der Bühne des Weltgeschehens zu behaupten. Diese Eigenschaften erkannte Huch durchaus in Wallenstein. Ihm fehlte jedoch die dritte Eigenschaft, „was die wesentliche Bedingung des Handelns ist, Kraft nämlich, Sicherheit und Selbstvertrauen“. 37 Mit dieser Beschreibung von Wallensteins Charakter klassifizierte Huch ihn als bloß rebellischen Helden, als jemanden, der nicht in der Lage war, aus der Stärke des eigenen Charakters epochale Veränderungen zum Wohl der Menschheit herbeizuführen. Stattdessen zeichnete Huch den Charakter eines in geschichtliche Umwälzungen verstrickten (Anti-)Helden, der mit Hilfe des Geldes nach Macht trachtete: „er hatte offenbar das Gefühl, daß Geld ihm zukam, ihm gebührte, und hätte ja auch das Bild, das ihm von seiner Größe vorschwebte, ohne ungeheuren Reichtum nicht darstellen können“. 38 Huchs Wallenstein hatte nicht die Kraft, sich gegen den Kaiser und die bestehende Ordnung zu stellen. Er selbst aber verstand sich als der „geborene Herrscher“. 39 Zudem verkörperte er nach Huch einerseits die Fähigkeit zur Verstellung, was sich in seinem aristokratischen Auftreten äußerte. 40 Andererseits sah Huch in ihm einen „vornehmen Menschen“, 41 der bereit sei zu leiden, um aus eigener Kraft heraus für seine Ziele zu kämpfen. Zu diesen Zielen, die Wallensteins Machtstreben mit der praktischen Arbeit für die Mitmenschen verknüpften, gehörte nach Huch sein Engagement für das Umsetzen von zivilisatorisch fortschrittlichen Baumaßnahmen. 42 Wal-
33 Ebd., S. 522. 34 Eine Folge dieses Zustandes war das notwendige Auftreten von „abnormen Individuen, die nun erscheinen, nicht notwendig schlechter als der normale Typus sein müssen, wenn sie auch zu ihrer Erhaltung und zur Erhaltung der Art weniger gut geeignet sind“. Ebd. 35 Ebd., S. 527. 36 Ebd. 37 Ebd. 38 Ebd., S. 533. 39 Ebd., S. 534. 40 Vgl. ebd., S. 535. 41 Ebd., S. 436. 42 „Sauber und zierlich, aus Stein und Ziegeln, sollten auch die Häuser in den Städten werden, die er in seinen Ländern gründete; nicht nur legte er Wasserleitungen an und ließ den Schmutz von den Straßen entfernen, sondern er wollte auch durch Gräben die Orte trockenlegen, damit ‚die Luft um so viel reiner sein möge‘“. Ebd., S. 538.
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lenstein erschien hier als ein Landsmann mit „organisatorischer Begabung“, die wiederum in den „Expansionstrieb“ 43 umgeschlagen sei. Sein höchstes Ziel sei es gewesen, „die aristokratische Verfassung Deutschlands in eine absolute Monarchie umzuwandeln“, 44 weil diese Staatsverfassung ein Garant für seine uneingeschränkte Machtausübung unter der Voraussetzung sei, dass er sich mit dem jeweils herrschenden Monarchen verbünde und diesen auch finanziell unterstütze. Wallenstein versagte als tragender Held der Geschichte, weil er ausschließlich auf sich selbst und die eigenen Vorteile fokussiert war und nicht die Bereitschaft besaß, sich uneigennützig zum Wohl der Mitmenschen und des Staates zu opfern. Er wurde zum tragischen Helden der Geschichte, der an seinem Machtstreben scheiterte. 45 Dieses negative Bild des historischen (Anti-)Helden korrespondierte mit der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Lage im Deutschen Reich nach 1918. In einem Brief vom 17. September 1918 an Helene von Salis äußerte sich Huch zum Ausgang des Ersten Weltkrieges und seiner Bedeutung: Der Zusammenbruch so alter Mächte hat etwas Tragisches, und es kränkte mich anfangs, daß das Tragische im allgemeinen so wenig empfunden wurde. Schließlich muß man aber einsehen, daß sie wohl nicht hätten stürzen können, wenn sie nicht schon innerlich ganz morsch gewesen wären und nicht mehr lebendig im Herzen des Volkes gewurzelt hätten; infolgedessen läßt der Sturz im allgemeinen kalt. 46
Huch betrachtete den Ausgang des Krieges als eine historische Notwendigkeit und vorhersehbare Folge eines krankhaften Zustandes des Deutschen Reiches und der beiden anderen zusammengebrochenen Kaiserreiche. Hinzu kam Huchs abwertende Beurteilung der deutschen Kultur, die noch vor dem Kriegsausbruch „auf einem toten Punkt angelangt war“ 47 und sich infolge dessen erneuern müsse. In der Atmosphäre des Jahres 1918 verspürte Huch, dass „etwas Neues kommen muß, und insofern kann man ja restlos mitgehen“. 48 In der deutschen Vergangenheit suchte sie nach möglichen Orientierungspunkten für ihre Zeitgegenwart.
43 Ebd., S. 609. 44 Ebd., S. 599. 45 Vgl. Jochen Hieber, Generalissimus Tod. Über Ricarda Huchs Roman „Der Dreißigjährige Krieg“, in: Ders., Wörterhelden, Landvermesser. Aufsätze und Kritiken, Frankfurt a. M. 1994, S. 93–99, hier S. 94–95. 46 Brief von Ricarda Huch an Helene von Salis (vom 17. September 1918), in: Huch, Briefe, S. 79. 47 Ebd. 48 Brief von Ricarda Huch an Marie Baum (vom 21. November 1918), in: Huch, Briefe, S. 80.
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4. Die Reichsidee des Freiherrn vom Stein als Antwort auf die Suche nach einer Staatskonzeption nach 1919 Da Wallenstein als historisches Vorbild versagt hatte, suchte Huch in der deutschen Geschichte nach einem anderen Helden, dessen Ideen, Ideale und Handlungen für die politisch-gesellschaftlichen Umwälzungen der Huchschen Gegenwart relevant sein könnten. Diese Gewährsperson glaubte Huch in dem preußischen Minister Freiherr vom Stein gefunden zu haben. 1925 erschien Huchs Studie: „Stein. Der Erwecker des Reichsgedankens“. 49 Aus welchem Grunde suchte Huch nach einer historischen Identifikationsfigur für ihre Zeit? Weil sie sich als Intellektuelle herausgefordert sah, Stellung zur politisch-sozialen Lage in Deutschland zu nehmen. 50 Die Weimarer Republik verstand Huch als eine Fehlentwicklung der deutschen Geschichte, die mit dem Absolutismus der Fürsten nach 1648 und dem Untergang des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation ihren Anfang nahm und in der Reichsgründung von 1871 ihren vorläufigen Kulminationspunkt erreichte. Folge dieser Entwicklung war der für die Deutschen ungünstige Versailler Vertrag und eine improvisierte Demokratie, 51 weil diese nicht organisch gewachsen und nicht vom Volk selbst erkämpft worden sei, sondern oktroyiert als Notlösung in Anbetracht des verlorenen Krieges und der zu zahlenden Kontributionen. Huch versuchte, ihren von Revolution, Ausschreitungen, Arbeitslosigkeit, Not und Hunger geplagten Zeitgenossen eine starke Persönlichkeit der deutschen Geschichte, die für sie zum Garanten deutscher Staatlichkeit werden sollte, zu präsentieren. In Steins Staatspolitik hoffte die Biografin Huch zugleich Antworten auf die Fragen ihrer Zeit zu finden. 52 Sie sah im Freiherrn vom Stein die Verkörperung des letzten wahren Ritters der deutschen Geschichte,
49 Zwischen 1925 und 1943 ging Huch insgesamt fünf Mal in ihren Veröffentlichungen auf den preußischen Reformer vom Stein ein, der zur Identifikation für die Umbrüche der vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts wurde. 1925 veröffentlichte Ricarda Huch im Verlag Karl König in Wien und Leipzig ihre Studie: „Stein“, mit einem Faksimile und 26 Abbildungen. 1930 integrierte Huch Steins Biografie in ihr Werk „Alte und neue Götter“ unter dem Kapiteltitel „Stein“. Vgl. Huch, Gesammelte Werke, Bd. 9, S. 1046–1057. 1931 veröffentlichte Huch im Unterhaltungsblatt der „Vossischen Zeitung“ (1931, Nr. 2148) den Text „Sanctus Amor Patriae. Zu Steins 100. Todestage“. Vgl. Ricarda Huch, Sanctus Amor Patriae. Zu Steins 100. Todestage, in: Dies., Gesammelte Werke, Bd. 10: Geschichte 2, hg. v. Wilhelm Emrich, Köln 1970, S. 26–37. 1932 folgte die Veröffentlichung der dritten Auflage von Huchs Studie „Stein. Der Erwecker des Reichsgedankens“ im AtlantisVerlag. Vgl. Dies., Gesammelte Werke, Bd. 9: Geschichte 1, hg. v. Wilhelm Emrich, Köln 1968, S. 919–1038. 1943 erschien im „Völkischen Beobachter“ (1943, Nr. 229, S. 2) ein Beitrag Huchs unter dem Titel: „Freiherr vom Stein und die Deutschen“. 50 Vgl. Schwiedrzik, S. 105–111. 51 Vgl. Eberhard Kolb, Die Weimarer Republik, München 2002, S. 2. 52 Vgl. Karl-Heinz Hahn, S. 270–271.
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weil er erstens vom Reichsrittertum abstammte und zweitens die Idee des wahren Adels und Kaisertums verkörperte. Jedoch hat Huch Steins Staatskonzept, welches dieser während der Befreiungskriege gegen Napoleon und auch um 1815 vertreten hat, nicht für eine umsetzbare Staatsform gehalten. Für sie waren Reformen sowie die Reichsverfassung viel wichtiger, die eine Grundlage für die Rechtsordnung bilden sollten. Es war vor allem die Gerechtigkeit, welche für die Staatlichkeit prägend sein sollte: „daß nämlich alle einen verhältnismäßig gleichen Anteil an den Gütern der Erde und des Himmels hätten, nicht der Schwache durch den Stärkeren abgedrängt und entrechtet werde“. 53 An der Spitze des Reiches sollte der „erwählte Kaiser der Deutschen“ stehen, der die Verkörperung des Rechts und zum „Beschützer der Schwachen, [zum] Dämpfer der Gewalttätigen, daneben auch [zum] Vertreter des Volks gegen äußere Feinde“ werden sollte. Der Kaiser sollte zugleich zur Identifikationsfigur des Volkes werden. 54 Steins Staatskonzeption folgte einem traditionellen und föderalistischen Modell mit einem starken Kaiser an der Spitze sowie mit den drei gesellschaftlichen Ständen: dem Adel, der die politische Verantwortung übernehmen sollte, dem Bürgerstand, der Handel treiben sollte, und Handwerkern und Bauern, denen die Produktion oblag. In dieser Zusammensetzung des Staates nach Stein sah Huch die Voraussetzungen für einen modernen sozialen Idealismus. Sie hoffte, dass die Staatlichkeit sich so „in natürlichen Verbindungen [einrichtet], ähnlich wie der Organismus sich in Gliedern entfaltet, von denen jedes seine besondere Aufgabe und Kraft hat“. 55 Nach Stein waren die Fürsten die größten Feinde des Kaiserreiches, weil sie nach Unabhängigkeit strebten und somit den Kaiser entmachteten. Die Folge war die „Auflösung des Reiches in einzelne Gebiete, die sich gegenseitig mit Neid und Mißtrauen belauerten“. 56 Die natürliche Ordnungsstruktur des staatlichen Zusammenlebens wurde aufgehoben. Huch sah in Anbetracht der nationalen Katastrophen von 1806/07 und 1918/19 – die sich natürlich als Fortsetzung einer Reihe begreifen ließen, die mit dem Dreißigjährigen Krieg begonnen hatte – im deutschen Volk das Potenzial zur inneren Erneuerung, zur Bildung eines starken nationalen Rechtsstaates. Diese Vorstellung war für Huch in den Gegebenheiten umsetzbar, aber nur in Anlehnung an die alte Staatsform des mittelalterlichen Reiches. Als Stein 1804 zum Minister ernannt wurde, versuchte er diese Vision des Kaiserreiches zu verwirklichen. Er war der Vorstellung nicht abgeneigt, das Vielfältige im politischen und gesellschaftlichen Leben zuzulassen und eine Art preußischer Demokratie am Beispiel des mittelalterlichen Alten Reiches herzustellen. Zu seiner Devise wurde nach Huch: „Einheit und Kraft nach außen, Selbsttätigkeit im Innern“. 57 Stein setzte 53 54 55 56 57
Huch, Stein. Der Erwecker des Reichsgedankens, S. 921–922. Ebd., S. 922. Ebd. Ebd., S. 926. Ebd., S. 937.
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Gabriela Jelitto-Piechulik
sich für eine Einschränkung der Macht des Monarchen und des königlichen Kabinetts zugunsten eines ausgebildeten Staatsbeamtentums ein, das mit dem König zusammenarbeitet. Die deutsche Befreiungsbewegung 1807–1813 gab Stein die Möglichkeit, zum Retter des Staates zu werden, aber seine Staatskonzeption – die Restituierung eines starken Kaisertums – erwies sich als nicht umsetzbar. Seine Biografin Huch betrachtete dies jedoch nicht als eine Niederlage Steins. Sie verwies vielmehr darauf, sein Charisma sei dasjenige eines „Tribuns“ 58 des deutschen Volkes gewesen, der zur nationalen Einheit aufgerufen und die Reformbedürftigkeit des Staates erkannt habe.
5. Schluss Huch verstand den Freiherrn vom Stein als einen Verfechter der „Idee des gesamten Abendlandes“, 59 der in der Einheit die Stärke einer Nation gesehen habe und charakterlich weit weniger problematisch als Wallenstein disponiert gewesen sei. Sie beendete ihre Charakterstudie Steins mit der auch über ihre Gegenwart hinaus relevanten Frage: „Ob aber ein heiliges Reich je wieder in Europa sich bilden kann, wer hat den Mut, das zu hoffen?“. 60
58 Ebd., S. 981. 59 Ebd., S. 1025. 60 Ebd.
Nachlese des Krieges
Beatrice Nickel
(Ruhr-Universität Bochum)
Intermediale Repräsentationen des Ersten Weltkrieges in der deutschen Graphic Novel Eine raumtheoretische Analyse
1. Vorbemerkungen In wohl kaum einem anderen Krieg wurde der Stellungskrieg (als extrem defensive Form der Kriegsführung) in einem solchem Ausmaß betrieben wie im Ersten Weltkrieg. Dieser markiert damit sowohl den (traurigen) Höhepunkt als auch den Endpunkt dieser Kriegsform. Bedingt durch den Stellungskrieg rückt der Schützengraben als dominanter heterotoper Ort des Kriegsgeschehens und der Alltagsrealität der „einfachen“ Soldaten an der Front verstärkt in den Vordergrund. Reflektiert wird dies vielfach im Bereich der Literatur. Bezeichnenderweise finden wir hier mannigfaltige Repräsentationen der Schützengräben des Ersten Weltkrieges, zumal diese einen wichtigen Bestandteil des kollektiven Bildgedächtnisses oder des „kollektiven Imaginariums“ 1 darstellen. Dies gilt vor allem für die französische Literatur, die sich seit Kriegsbeginn bis in unsere Gegenwart besonders intensiv des Themas des Ersten Weltkrieges annimmt. 2 Die traumatischen Erlebnisse dieses Krieges werden dabei besonders häufig in Form von narrativen Gattungen (allen voran dem Roman, daneben aber auch der Novelle) und – in geringerem Ausmaß – in lyrischen Texten verarbeitet, gestaltet und vermittelt. Existieren hierzu bereits zahlreiche Studien, so wird das Thema des Ersten Weltkrieges in der Gattung der Graphic Novel nach wie vor vernachlässigt, und zwar insbesondere im Bereich der germanistischen Literaturwissenschaft. Dabei werden der Erste Weltkrieg und die ihm eigenen Räume auch in dieser intermedialen Form künstlerisch verarbeitet. Der Aufsatz untersucht die verbal-visuellen Repräsentationen von Schützengräben, die das im kulturellen Gedächtnis verankerte Bild des Ersten Weltkrieges so maßgeblich geprägt haben, und zwar in den folgenden beiden Werken: Reinhard Osteroths „1914. Ein Maler zieht in den Krieg“ (2014) sowie 1 Winfried Wehle, Kubistischer Krieg – Faschistischer Friede. Wie Kunst Politik macht. Der Fall Ardengo Soffici, in: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 3/4 (2017), Jg. 41, S. 435–465, hier S. 437. 2 Vgl. hierzu u. a. die folgenden Überblicksdarstellungen: Vincent Marie (Hg.), La Grande Guerre dans la bande dessinée de 1914 à aujourd’hui, Milan 2009 und Luc Révillon, La Grande Guerre dans la BD. Un siècle d’histoires, Paris 2014.
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Peter Eickmeyers und Gaby von Borstels „Im Westen nichts Neues“ (2014), einer intermedialen Adaption von Erich Maria Remarques gleichnamigem literarischem Klassiker aus dem Jahre 1929. Dabei werden das Verhältnis von Faktizität und Fiktionalität sowie die jeweilige Darstellung der Schützengräben als Chronotopos und Heterotopie des Ersten Weltkrieges im Fokus der Betrachtung stehen.
2. Theoretische Betrachtungen 3 Den konkreten Beispielen sind einige Überlegungen theoretischer Natur voranzustellen, und zwar zu Bachtins Konzept des Chronotopos und Foucaults der Heterotopie. Bachtin geht es in seiner Untersuchung darum, jeden literarischen Chronotopos mit dem „realen historischen Chronotopos“, 4 dem äußeren Chronotopos, in Beziehung zu setzen. Damit wird der Chronotopos zugleich zur „kulturtheoretischen Kategorie“. 5 In diesem Sinne verstehe ich die realen Schützengräben des Ersten Weltkrieges als äußere Chronotopoi. Sein Chronotopos-Konzept erläutert Bachtin in seinem berühmt gewordenen Essay „Formen der Zeit und des Chronotopos im Roman. Untersuchungen zur historischen Poetik“ (dt. Übersetzung 1986), der erstmals in „Voprosy literatury i e˙stetiki. Issledovanija raznych let“ (1975) erschienen ist. Auch wenn die entsprechende Definition oft zitiert worden ist und keine präzise Begriffsbestimmung erlaubt, soll sie hier vollständig zitiert werden: Den grundlegenden wechselseitigen Zusammenhang der in der Literatur künstlerisch erfaßten Zeit-Raum-Beziehungen wollen wir als Chronotopos („Raumzeit“ müßte die wörtliche Übersetzung lauten) bezeichnen. [. . . ] Für uns ist wichtig, daß sich in ihm der untrennbare Zusammenhang von Zeit und Raum (die Zeit als vierte Dimension des Raumes) ausdrückt. Wir verstehen den Chronotopos als eine Form-Inhalt-Kategorie der Literatur [. . . ]. Im künstlerisch-literarischen Chronotopos verschmelzen räumliche und zeitliche Merkmale zu einem sinnvollen und konkreten Ganzen. Die Zeit verdichtet sich hierbei, sie zieht sich zusammen und wird auf künstlerische Weise sichtbar; der Raum gewinnt Intensität, er wird in die Bewegung der Zeit, des Sujets, der
3 Die folgenden Betrachtungen sind eine überarbeitete Fassung meiner theoretischen Überlegungen: „C’était la guerre des tranchées“: Intermediale Repräsentationen der Schützengräben des Ersten Weltkrieges in der BD, in: Marina Ortrud Hertrampf / Beatrice Nickel (Hg.), Deutsch-französische Chronotopoi des Ersten Weltkrieges, Tübingen 2019, S. 215–232. 4 Michail M. Bachtin, Chronotopos, Frankfurt a. M. 2008, S. 8. 5 Michael C. Frank, Chronotopoi, in: Jörg Dünne / Andreas Mahler (Hg.), Handbuch Literatur & Raum, Berlin 2015, S. 160–169, hier S. 205.
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Geschichte hineingezogen. Die Merkmale der Zeit offenbaren sich im Raum, und der Raum wird von der Zeit mit Sinn erfüllt und dimensioniert. 6
Als die wesentlichen Aspekte des völlig unterbestimmten Konzeptes lassen sich damit die folgenden benennen: Literarisch vermittelte Räume beinhalten notwendigerweise immer eine zeitliche Dimension, ebenso wie erzählte Zeit immer eine räumliche Dimension enthält. 7 Der Chronotopos des Schützengrabens ist dem ersten Chronotopos-Typus, den Bachtin in seiner Untersuchung dem griechischen Roman zuordnet, diametral entgegengesetzt. Es handelt sich dabei ganz konkret um die Chronotopoi des Weges, der Begegnung, der Abenteuerzeit und des fremden Landes. 8 Der Chronotopos des Schützengrabens wird hingegen vor allem durch die Motive des Wartens, des Stillstandes bis hin zum Tod und der (raum-zeitlichen) Isolation charakterisiert. Wie Bachtin feststellt, besteht im spätantiken Prüfungsroman (Heliodor, Longos u. a.) ein Missverhältnis zwischen den vorherrschenden großen räumlichen Distanzen sowie der Vielzahl an Abenteuern, die bestanden werden müssen, und dem ausbleibenden Alterungs- oder Reifungsprozess der Helden, weil ein gänzlich anderes Zeitsystem vorherrscht: „Diese andere Zeit – die Bachtin ‚Abenteuerzeit‘ nennt – ist an ein bestimmtes räumliches Bezugssystem gebunden: die fremde Welt, die analog als ‚Abenteuerraum‘ beschrieben werden könnte“. 9 Diese Beobachtung lässt sich auf die Darstellung der Schützengräben in der Graphic Novel übertragen: Dem Kriegsraum wird hier eine ihm korrelierende Kriegszeit zugeordnet, die ebenfalls der alltäglichen Zeiterfahrung widerspricht. Dies ist beispielsweise immer dann der Fall, wenn in einem Schützengraben Skelette präsentiert werden, zumal dies der Dauer des Verwesungsprozesses eines menschlichen Körpers bis hin zu diesem Zustand völlig widerspricht. Darüber hinaus konservieren die Skelette die vergangene Zeit im Raum. Im Gegensatz zum abenteuerlichen Prüfungsroman herrschen hier – vereinfachend gesprochen – „wenig Raum“ und „viel Zeit“ vor. Eine im Vergleich zu Bachtins Chronotopos noch geeignetere Beschreibungskategorie, wenn es um die Darstellung der Schützengräben des Ersten Weltkriegs in der Graphic Novel geht, scheint mir der von Michel Foucault geprägte Ortsbegriff der Heterotopie zu sein. Insofern der Schützengraben in der Graphic Novel als ein Kriegsraum präsentiert wird, der durch einen
6 Bachtin, S. 7. 7 Vgl. hierzu Frank, S. 160: „Erzählter Raum und erzählte Zeit bedingen sich wechselseitig und manifestieren sich als ein komplexes Zusammenspiel. Die Zeit, die an sich abstrakt und nicht sinnlich erfahrbar ist, gewinnt erst durch ihre räumliche Konkretisierung im Chronotopos Gestalt und Sichtbarkeit. Und umgekehrt wird der an sich leere und statische Raum mit Zeit ausgefüllt und dynamisiert“. 8 Vgl. hierzu Bachtin, S. 21–23. 9 Frank, S. 166.
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völlig anderen Zeitablauf als in der Alltagsrealität und durch eine starke Eigengesetzlichkeit charakterisiert wird, handelt es sich nach Foucault um eine Heterotopie – um eine speziell maskuline, wie man ergänzen könnte. In „Des espaces autres“ 10 findet sich folgende Definition der Heterotopie: Ilya [. . . ], et ceci probablement dans toute culture, dans toute civilisation, des lieux réels, des lieux effectifs, des lieux qui sont dessinés dans l’institution même de la société, et qui sont des sortes de contre-emplacements, sortes d’utopies effectivement réalisées dans lesquelles les emplacements réels, tous les autres emplacements réels que l’on peut trouver à l’intérieur de la culture sont à la fois représentés, contestés et inversés, des sortes de lieux qui sont hors de tous les lieux, bien que pourtant ils soient effectivement localisables. Ces lieux, parce qu’ils sont absolument autres que tous les emplacements qu’ils reflètent et dont ils parlent, je les appellerai, par opposition aux utopies, les hétérotopies. 11
Diese Beschreibung lässt sich insofern auf die Darstellung der Schützengräben des Ersten Weltkrieges in der Graphic Novel anwenden, als sie dort als Räume präsentiert werden, in denen eine starke Eigengesetzlichkeit herrscht, beispielsweise mit Blick auf das zeitweilige Außerkraftsetzen allgemeingültiger moralischer und geltender rechtlicher Normen. Unterscheidet Foucault kategorial zwischen den hétérotopies de crise (Krisenheterotopien), die Schwellenerfahrungen Rechnung tragen, wie beispiels10 Seinen berühmten Vortrag hat Foucault am 14. März 1967 im Pariser Cercle d’études architecturales gehalten, die überarbeitete Publikation erschien im Jahre 1984 im vierten Band der „Dits et écrits 1954–1968“. 11 Michel Foucault, Des espaces autres [1963], in: Ders., Dits et écrits, hg. v. Daniel Defert und François Ewald, Paris 1994, Bd. IV, S. 752–762, hier S. 755–756. Die deutsche Übersetzung des Zitats lautet: „Es gibt [. . . ] – und das wohl in jeder Kultur, in jeder Zivilisation – wirkliche Orte, wirksame Orte, die in die Einrichtung der Gesellschaft hineingezeichnet sind, sozusagen Gegenplazierungen oder Widerlager, tatsächlich realisierte Utopien, in denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind, gewissermaßen Orte außerhalb aller Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden können. Weil diese Orte ganz andere sind als alle Plätze, die sie reflektieren oder von denen sie sprechen, nenne ich sie im Gegensatz zu den Utopien die Heterotopien“. Michel Foucault, Andere Räume, in: Karlheinz Barck u. a. (Hg.), Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig 1992, S. 34–46, hier S. 39. Die Heterotopie definiert Foucault in seinem Radiovortrag „Les hétérotopies“ (Radio France, 7. Dezember 1966) – unter Nennung konkreter Beispiele – wie folgt: „Unter allen verschiedenen Orten gibt es nun solche, die vollkommen anders sind als die übrigen. Orte, die sich allen anderen widersetzen und sie in gewisser Weise sogar auslöschen, ersetzen, neutralisieren oder reinigen sollen. Es sind gleichsam Gegenräume. Die Kinder kennen solche Gegenräume sehr genau. [. . . ] Die erwachsene Gesellschaft hat lange vor den Kindern ihre eigenen Gegenräume erfunden, diese lokalisierten Orte, diese realen Orte jenseits aller Orte. Zum Beispiel Gärten, Friedhöfe, Irrenanstalten, Bordelle, Gefängnisse, die Dörfer des Club Méditerranée und viele andere“. Michel Foucault, Les hétérotopies / Le corps utopique. Zwei Radiovorträge, zweisprachige Ausgabe, übers. v. Michael Bischoff, Frankfurt a. M. 2013, S. 10–11.
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weise dem Militärdienst als Raum der Adoleszenz, und den hétérotopies de déviation (Abweichungsheterotopien), wie beispielsweise psychiatrischen Anstalten, so ist die Heterotopie des Schützengrabens genau auf der Grenze zwischen diesen beiden Typen anzusiedeln: Soldaten, die sich in einem Schützengraben aufhalten, befinden sich einerseits zweifelsohne in einer absoluten Krisensituation und machen Schwellenerfahrungen, und andererseits ist die Heterotopie des Schützengrabens durch ein Verhalten geprägt, das stark von den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Normen abweicht. Und schließlich führt Foucault ein weiteres charakteristisches Merkmal der Heterotopie an, das sich ohne Weiteres auf die literarische Darstellung von Schützengräben übertragen lässt: „L’hétérotopie a le pouvoir de juxtaposer en un seul lieu réel plusieurs espaces, plusieurs emplacements qui sont en eux-mêmes incompatibles“. 12 Dies gilt beispielsweise dann, wenn wir in „1914. Ein Maler zieht in den Krieg“ eine Illustration vorfinden, die oberhalb eines Schützengrabens einen Himmel zeigt, dessen Gestaltung an ein berühmtes Gemälde von Vincent van Gogh erinnert, das keinerlei Bezug zum Ersten Weltkrieg aufweist, oder aber, wenn Eickmeyer Schützengräben als Räume präsentiert, die zugleich Grab und Lebensraum sind. Hierauf wird noch zurückzukommen sein. In den entsprechenden Fällen lässt sich diese Art der Darstellung als „Doppelfiktion“ bezeichnen, indem „sich die basale Fiktion verdichtet zur Heterotopie“. 13
3. „1914. Ein Maler zieht in den Krieg“ (2014) Wie es der Titel nicht anders erwarten lässt, handelt Osteroths Graphic Novel von den Erlebnissen eines Malers im Ersten Weltkrieg, und zwar von Franz Marc. Dieser wird dem Leser in der „Biografischen Notiz“ am Ende des Buches wie folgt vorgestellt: Franz Marc, 1880 in München geboren, gehört zu den Pionieren der modernen Malerei in Deutschland. Berühmt ist er bis heute für seine farbintensiven Tierbilder. Nach dem Militärdienst 1899 beginnt er mit dem Studium an der Kunstakademie in München, das er nicht zu Ende führt. Wichtige Reisen nach Paris und Florenz. 1904 findet er ein Atelier im Münchner Stadtteil Schwabing und begibt sich auf die Suche nach einer eigenen Malerei. Beziehungen zu Marie Schnür und Maria Franck, seiner späteren Frau. 1910 lernt er den Maler August Macke kennen und befreundet sich mit ihm. Kurz darauf zieht er nach Sindelsdorf in Oberbayern. 1911 beginnt die wichtige Bekanntschaft mit dem russischen Maler Wassily Kandinsky, der sich bereits auf dem Weg zur abstrakten Malerei befindet. Mit ihm begründet er den Künstlerkreis „Der Blaue Reiter“. [. . . ] Im
12 Foucault, Des espaces autres, S. 758. 13 Rainer Warning, Utopie und Heterotopie, in: Dünne / Mahler, S. 178–187, hier S. 186.
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August 1914 meldet er sich freiwillig zum Militärdienst bei der bayerischen Feldartillerie. Franz Marc erlebt den Weltkrieg an der Westfront in Lothringen. Die „Briefe aus dem Felde“, die er seiner Frau schreibt, dokumentieren seine Eindrücke, Erlebnisse und Gedanken. Im März 1916 wird Leutnant Marc auf einem Erkundungsritt bei Verdun von Granatsplittern tödlich verwundet. 14
Im Laufe der Geschichte steht das Einzelschicksal Marcs im Fokus der Darstellung, allerdings wird dieses durch zahlreiche Ausführungen zum zeitgleichen Welt- bzw. Kriegsgeschehen und vor allem auch zum zeitgleichen Leben in seiner Heimatstadt kontextualisiert. Die Graphic Novel stellt eine Hybridform aus Fiktion und Dokumentation dar. Dies liegt vornehmlich daran, dass Osteroth in seinen Text zahlreiche Originalzitate aus historischen Quellen – vornehmlich aus Franz Marcs „Briefen aus dem Feld“ (1920) – eingefügt hat. Vom dokumentarischen Anspruch zeugen darüber hinaus die bereits erwähnte „Biografische Notiz“ sowie die Kapitel „Kleine Zeittafel zum Ersten Weltkrieg“, „Zum Weiterlesen“ und „Die Originale“. Thematische Schwerpunkte sind die Bereiche Kunst (bzw. Malerei) und Krieg und die enge Verbindung beider. Zunächst und vor allem erscheinen beide insofern als untrennbar, als Marc den Krieg als Durchgangsphase bis zum Beginn eines neuen Zeitalters nicht nur billigend in Kauf genommen, sondern ihn zunächst mit Begeisterung ersehnt hat. Wie eine ganze Reihe anderer avantgardistischer Künstler aus Europa (z. B. Max Ernst, Erich Maria Remarque, Guillaume Apollinaire, Jean Cocteau, Giuseppe Ungaretti, Filippo Tomaso Marinetti) ist Franz Marc freiwillig in den Krieg gezogen. 15 Alle diese Künstler glaubten, dass sich durch den Krieg die ästhetische Revolution, die sie mit ihren Kunstwerken beabsichtigt hatten, mit denen sie keinen kollektiven Erfolg hatten, verallgemeinern ließe: „Der ‚Große Krieg‘ sollte für sie die Fortsetzung ihres ästhetischen Kampfes mit anderen Mitteln sein“. 16 Der Zusammenhang dieser beiden Bereiche des menschlichen Lebens, der Kunst und des Krieges, lässt sich in der Graphic Novel nicht nur auf der inhaltlichen, sondern auch auf der gestalterischen Ebene nachweisen. Für die vorliegende Untersuchung sind dabei vor allem die Repräsentationen von Schützengräben als wichtigen Kriegsräumen von zentraler Bedeutung. Die erste verbale Beschreibung der Schützengräben lautet wie folgt: Nun änderte innerhalb weniger Wochen der Krieg sein Gesicht: An die Stelle von Tempo und Bewegung trat der zermürbende Stillstand. Wichtigste Verteidigungswaffe wurde der Spaten. Die Armeen buddelten sich ein. Von der Kanal-
14 Reinhard Osteroth, 1914. Ein Maler zieht in den Krieg, mit Bildern von Reinhard Kleist, Hamburg 2014, S. 106–107. 15 Vgl. hierzu Wehle, S. 435. 16 Ebd., S. 450. Inwieweit das Erleben und Erkennen des Ersten Weltkrieges als Massenvernichtungsereignis das Schaffen jener kriegsbeteiligten Künstler, die den Krieg überlebt haben, beeinflusst hat, ist bislang viel zu wenig in den Blick genommen worden.
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küste im Norden bis zur Schweiz im Süden schlängelten sich die Schützengräben, davor wurden nahezu unüberwindliche Stacheldrahtrollen ausgelegt. Für unbedeutende Geländegewinne sprangen ganze Regimenter aus ihren Gräben und stürmten gegen die feindlichen Stellungen, liefen ins tödliche Feuer der Kanonen und Maschinengewehre. 17
Bedingt durch die Führung des Stellungskrieges werden zunächst die Funktion der Schützengräben und deren geografisches Ausmaß hervorgehoben. Und schließlich erscheinen Schützengräben als heterotoper Schutzraum und Zufluchtsort vor feindlichen Angriffen. Durch ihre Abschottung von ihrer unmittelbaren Umgebung (durch Stacheldraht) und den sozialen Normen werden sie hier gleichermaßen als Utopie und Heterotopie lesbar. Dieser Eindruck wird durch die erste Illustration eines Schützengrabens auf der übernächsten Seite nach diesem Zitat jedoch nur sehr bedingt untermauert (vgl. Abb. 1). Der neutralen bis teilweise positiven Darstellung der Schützengräben steht hier eine Illustration gegenüber, die sich schon durch die Farbwahl deutlich von den bisherigen extrem farbintensiven Bildern (in der Manier Marcs) unterscheidet. Damit gehen negative Assoziationen mit Schmutz und „toter“ Landschaft ohne Vegetation einher. Darüber hinaus fällt auf, dass nur Franz Marc, der sich in seiner Funktion als Meldereiter außer- und damit zugleich oberhalb des abgebildeten Schützengrabens befindet, individualisierende menschliche Züge (Gesicht, Kleidung) aufweist und sich dadurch stark von den beiden Soldaten im Schützengraben unterscheidet. Diese Entindividualisierung, die zu einer Entmenschlichung und oftmals Analogisierung der Soldaten in den Schützengräben des Ersten Weltkrieges mit Tieren – vornehmlich Ratten – führt, ist ein beliebter Topos, der sich in zahlreichen bandes dessinées zum Thema der Grande Guerre wiederfindet. 18 Auch in Eickmeyers Graphic Novel finden sich entsprechende Beispiele. Die folgende Beschreibung des Systems der deutschen Schützengräben macht deutlich, dass es sich bei diesen nicht – wie ursprünglich intendiert – um Transiträume, sondern um langfristige heterotope Lebens- und Existenzräume handelt: Über Hunderte von Kilometern schlängelten sich die Gräben der Armeen, ein sechs Kilometer breiter Streifen ohne Bäume und Bewuchs, grau, morastig und von Stacheldrahtrollen übersät: die Kampfzone. Im Laufe des Jahres 1915 wurden die Gräben und Stellungen, die Maschinengewehrnester, weiter ausgebaut. Eine komplette zweite Kampflinie zogen die Deutschen hinter ihren vorderen Gräben. Die Laufgräben wurden zum Labyrinth, wer sich hier nicht auskannte, verlief sich leicht. Hinweisschilder und Wegweiser schufen Abhilfe. Tiefe Stol-
17 Osteroth, S. 52. 18 Dies gilt insbesondere für Jacques Tardis entsprechende bandes dessinées.
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Abb. 1: Reinhard Osteroth, „1914. Ein Maler zieht in den Krieg“, mit Bildern von Reinhard Kleist, S. 54. © Reinhard Kleist 19
19 Ich danke Reinhard Kleist ganz herzlich für die freundliche Genehmigung, diese Illustration und die folgenden abdrucken zu dürfen.
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len wurden gegraben, in denen die Soldaten vor feindlichen Geschossen sicher waren. Und bei den Deutschen wurde es gar wohnlich: Holzböden, elektrisches Licht, Betten, Teppiche, die ersten Bilder an den Wänden. 20
Einen ebensolchen Eindruck vermittelt auch jene Illustration, die einen Schützengraben als einen spezifischen Kriegsraum präsentiert, in dem – soweit wie möglich – alltägliche Lebensgewohnheiten aufrechterhalten werden, hier in Form eines gemeinsamen Abendessens mit musikalischer Begleitung (vgl. Abb. 2). An anderer Stelle erfolgt eine differenzierte Bewertung der Kriegsräume, wobei der Schützengraben nichts Anheimelndes mehr hat und zu einem gefahrvollen Ort wird, an dem die Auswirkungen des Krieges unmittelbar spürbar werden: „Beschämt sitzen wir in unserem gemütlichen Quartier, wenn wir an unsere Kameraden an der Front denken, in den Geschützständen und Schützengräben“. 21 Die Graphic Novel wird insgesamt stark von zwei zentralen Raumoppositionen und entsprechenden Semantisierungen geprägt: 1) Kriegsfront – Heimat in Oberbayern (vor Ausbruch des Krieges und während des Krieges sowie des Kriegsurlaubs) 2) Räume aktiver kriegerischer Auseinandersetzungen (Schlachtfeld, Schützengräben und insbesondere auch die „Todesfabrik“ 22 Verdun) – Kriegsräume, die durch eine vergleichsweise ruhige Lage charakterisiert werden, wie beispielsweise die Kleinstadt St. Mihiel in Lothringen und ein provisorisches Atelier, das sich Franz Marc in Lothringen eingerichtet hat. 23 Ein positives – fast schon idyllisches – Bild von Schützengräben vermittelt wiederum die folgende Passage: „Man sagt uns, dass das nahe Städtchen S. vom Feind in Brand geschossen wird, also liegen wir wohlgeborgen unter dem Zenith der großen Geschosskurve. Wir bleiben die Nacht in Stellung, das Sausen tönt über uns laut singend durch die klare Nacht“. 24 Über die Analogisierung
20 Osteroth, S. 76. 21 Ebd., S. 63. 22 Ebd. An anderer Stelle wird Verdun auch als „Knochenmühle“ (S. 89) und „ein mit modernsten Waffen bestücktes Schlachthaus“ (S. 91) bezeichnet. In seinen „Briefen aus dem Feld“ bezeichnet Franz Marc Verdun als „den stärksten Punkt der frz. Front“. Franz Marc, Briefe aus dem Feld 1914–1916 [1920], München 2014, S. 162. 23 Über sein „Atelier“ berichtet die folgende Passage: „Fast alltägliche Sorgen also, der große Krieg scheint außer Sichtweite. Obendrein hat Leutnant Marc ein bemerkenswertes Idyll gefunden: Er hat sich in einer großen Scheune ein Atelier eingerichtet. Franz Marc malt wieder! [. . . ] Seine Leinwand: Militärzeltplanen. Aber um Kunst geht es hier nicht. Die bemalten Zeltplanen sollen zur Tarnung eingesetzt werden. Aufklärungsflugzeuge fliegen über der Front und machen aus etwa 2000 Metern Höhe Fotografien von den Geschützstellungen. Die von Marc bemalten Planen sollen die verräterischen Ziele verdecken“. Osteroth, S. 86–87. 24 Ebd., S. 53.
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Abb. 2: Reinhard Osteroth, „1914. Ein Maler zieht in den Krieg“, mit Bildern von Reinhard Kleist, S. 64. © Reinhard Kleist
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der wahrzunehmenden Kriegsgeräusche und Musik erfolgt hier eine starke Ästhetisierung des Krieges. Ihr visuelles Pendant stellt folgende Illustration dar (vgl. Abb. 3). Eine starke Ästhetisierung des Krieges erfolgt hier zunächst und vor allem durch einen offensichtlichen, wenn auch impliziten Bezug auf Vincent van Goghs berühmtes Gemälde „Sternennacht“ (1889). Wie das Gemälde weist auch die Illustration eine markante Zweiteilung auf, wobei das sich bei van Gogh in der unteren Hälfte befindende Dorf durch einen Schützengraben ersetzt ist, der durch Stacheldraht gesichert wird und von dem aus Franz Marc den Himmel beobachtet. Wie das Dorf auf dem Gemälde strahlt auch der Schützengraben, vor allem im Vergleich mit dem stark aufgewühlten Nachthimmel, eine gewisse Stille und Ruhe aus. Im oberen Teil der Illustration ist ein Sternenhimmel samt „Kriegskomet“, auf den noch zurückzukommen ist, zu sehen. Es handelt sich dabei um die Darstellung eines ähnlich „verklärten Nachthimmels“ 25 wie in van Goghs Gemälde. Beide Bereiche unterscheiden sich – ähnlich wie in van Goghs Gemälde – stark durch ihre Farbgebung und Maltechnik voneinander, werden jedoch zugleich durch implizite Äquivalenzen charakterisiert. In der Textpassage, die der Illustration unmittelbar vorangeht, heißt es über den Kriegskometen: Der gestirnte Himmel über ihm: Immer wieder schreibt Franz Marc von den sternklaren Nächten, von nächtlichen Ausritten unter dem Himmelszelt. Der Blick nach oben, das ist auch ein Blick der Sehnsucht. Ein scharfer, aufmerksamer Blick übrigens, den der Maler da nach oben richtet, mit Adleraugen sozusagen. Im September 1914, während einer nächtlichen Fahrt nach Straßburg, fällt ihm im Sternbild des Großen Bären ein neuer Himmelskörper auf. Es ist ein Komet! Kein besonders helles Ereignis, doch samt Kometenschweif deutlich zu erkennen. [. . . ] Franz Marc hat Delavan, den Kriegskometen, entdeckt, den die Astronomen ganz nüchtern „1914 V“ nennen. [. . . ] Als Boten des Unheils wurden Kometen seit Menschengedenken gedeutet, als Störung der himmlischen Ruhe und Harmonie. Franz Marc aber freut sich über das Schauspiel und schreibt am 13. Oktober an Marie: „Siehst Du auch fleißig nach dem Kriegskometen?“. Das muss sie doch tun, so sind sie doch verbunden: „Guck mal nach ihm und denk an mich!“. 26
Der abgebildete Kriegskomet wird durch die verbale Erläuterung explizit semantisiert, und zwar gerade nicht als Symbol des Ersten Weltkrieges: Der Komet „stiftete Verbindungen zwischen den Menschen, anstatt sie zu zerstören, er kontrastierte das irdische Geschehen, anstatt es zu spiegeln. Marcs Komet erscheint als Gegenbild, nicht als Abbild des Krieges“. 27 Die geistige 25 Meyer Schapiro, Vincent van Gogh, übers. v. Bodo Cichy, Stuttgart 1954, S. 98. 26 Osteroth, S. 60. 27 Andreas Bähr, Der grausame Komet. Himmelszeichen und Weltgeschehen im Dreißigjährigen Krieg, Reinbek bei Hamburg 2017, S. 207.
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Abb. 3: Reinhard Osteroth, 1914. Ein Maler zieht in den Krieg, mit Bildern von Reinhard Kleist, S. 61. © Reinhard Kleist
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Vereinigung, in diesem Fall zwischen Franz Marc und seiner Ehefrau, in den himmlischen Sphären verweist somit auf einen Sehnsuchtsraum, der Sternenhimmel samt Komet wird zur Brücke zwischen Franz Marc an der Westfront und seiner Frau im heimatlichen oberbayerischen Ried. Dieser Befund wird auch durch Marcs Farbsymbolik, die die Illustration umsetzt, bekräftigt: „Blau ist das männliche Prinzip, herb und geistig. Gelb das weibliche Prinzip, sanft, heiter und sinnlich“. 28 Für jene unheilvolle Bedeutung, die Kometen in der neuzeitlichen Geschichte üblicherweise zugeschrieben wird, lassen sich hier keinerlei Hinweise finden. 29 Gänzlich anders dargestellt ist ein Schützengraben auf der folgenden Illustration (vgl. Abb. 4). Hier erscheint er in sehr dunklen und gedeckten Farben, die an Schmutz und Schlamm erinnern. Die Farbgebung entspricht dabei der zunehmenden Desillusionierung des Malers angesichts des Massentötens während des Ersten Weltkrieges. Semantisch mit dem Tod aufgeladen wird dieser spezielle Schützengraben dabei durch einen abgebildeten toten Soldaten. Es handelt sich hier nicht mehr ausschließlich um einen Lebensraum, sondern zugleich um einen Todesraum. Die Analogie mit einem Grab ist ein beliebter Topos in literarischen Darstellungen von Schützengräben (u. a. im Comic). Wo der Schützengraben Lebensraum ist, dort herrschen Verzweiflung und Schrecken, woran der Gesichtsausdruck desjenigen Soldaten, der sich dem Betrachter zuwendet, keinen Zweifel lässt. Der Schützengraben wird hier als ein heterotoper Raum markiert, in dem Leben und Tod synchron bestehen, als eine Art Grab, das zugleich auch Lebensraum ist; die Zeit nach dem Ableben eines Menschen wird somit von der Lebenszeit eines anderen überlagert und andersherum, wie dies für Heterotopien gilt: „In aller Regel bringen Heterotopien an ein und demselben Ort mehrere Räume zusammen, die eigentlich unvereinbar sind“. 30 Die zeitliche Komponente dieser Darstellung erlaubt einen Rückbezug auf Bachtins Konzept des Chronotopos: Den Schützengräben wird in der Graphic Novel eine spezielle „Kriegszeit“ eingeschrieben, die der alltäglichen Zeiterfahrung widerspricht. „Die Zeit geht so schnell dahin, erschreckend schnell, und während sie eilt, ‚steht‘ der Krieg; man fühlt nur das furchtbare Zittern rings an der Front“. 31 Die Diskrepanz zwischen der äußeren und der inneren Kriegszeit ist hier weniger entscheidend als die Tatsache, dass beide dem Phänomen Zeit als physikalisch messbarer Größe widersprechen und den Kriegsraum Schützengraben somit als Chronotopos beschreibbar machen.
28 Osteroth, S. 29. 29 Zur Deutung von Kometen vgl. Bähr; zum Kriegskometen im Jahre 1914 vgl. ebd., S. 200–204. 30 Foucault, Les hétérotopies, S. 14. 31 Osteroth, S. 77.
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Abb. 4: Reinhard Osteroth, 1914. Ein Maler zieht in den Krieg, mit Bildern von Reinhard Kleist, S. 80. © Reinhard Kleist
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4. „Im Westen nichts Neues. Eine Graphic Novel von Peter Eickmeyer und Gaby von Borstel nach dem Roman von Erich Maria Remarque“ (2014) Anders als in Osteroths Graphic Novel, in der Franz Marcs anfängliche Kriegsbegeisterung erst nach und nach eine Desillusionierung erfährt, deren (tragischen) Höhepunkt Marcs Tod an der Front darstellt, wird das Kriegsgeschehen hier von Anfang an aus einer pazifistischen, antimilitaristischen Perspektive in den Blick genommen. Hierauf verweist – neben der Tatsache, dass es sich um eine verbal-visuelle Adaption des wohl berühmtesten deutschsprachigen Antikriegsromans handelt, 32 in der sich auch Anspielungen auf Pablo Picassos Gemälde „Guernica“ (1937) und Otto Dix’ Kriegsbilder 33 nachweisen lassen, – die Widmung: „Wir widmen dieses Buch allen friedliebenden Menschen“. 34 Einem pazifistischen Diskurs gehören dementsprechend auch die verbalen und visuellen Darstellungen der Schützengräben des Ersten Weltkrieges als wichtiger Bestandteil des kollektiven Gedächtnisses an. Zunächst und vor allem bleibt festzuhalten, dass die entsprechenden Repräsentationen deutlich realistischer gestaltet sind als in Osteroths Graphic Novel. Sie stellen damit eine Art visuelles Pendant zu Remarques Schreibweise dar, wobei weder im Falle Remarques noch im Falle Eickmeyers realistisch mit authentisch verwechselt werden darf: Eickmeyer weiß – und er weist eindeutig darauf hin –, dass die Realität des Ersten Weltkrieges nach nunmehr 100 Jahren hinter einem Gebirge von visuellen und textlichen Repräsentationen verschüttet liegt und es uns heutigen Betrachtern damit unmöglich geworden ist, uns dem per se Unvorstellbaren zu nähern. In unserer Vorstellung von diesem Ersten Weltkrieg wie jedem anderen Krieg hantieren wir mit Repräsentationen, die mehr den Blick auf das Ereignis verstellen, als dass sie es uns näher bringen würden. Und es ist die besondere Qualität von Peter Eickmeyers Arbeit, uns in seiner Graphic Novel darauf unmissverständlich hinzuweisen. 35
Wenn es um die visuellen Repräsentationen von Kriegsräumen und insbesondere Schützengräben in dieser Graphic Novel geht, so fällt zunächst die Farbge32 Zu früheren intermedialen Adaptionen (im Film und Comic) von Remarques Roman vgl. Thomas F. Schneider, Erich Maria Remarques „Im Westen nichts Neues“ als Graphic Novel. Einige Anmerkungen zu Peter Eickmeyers Adaption, in: Peter Eickmeyer / Gaby von Borstel, Im Westen nichts Neues. Eine Graphic Novel von Peter Eickmeyer und Gaby von Borstel nach dem Roman von Erich Maria Remarque, Bielefeld 2014, o. S. 33 Vgl. hierzu ebd. 34 Eickmeyer / Borstel, o. S. 35 Schneider, o. S. 36 Ich danke Peter Eickmeyer ganz herzlich für die freundliche Genehmigung, diese Illustration und die folgenden abdrucken zu dürfen.
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Abb. 5.1: Im Westen nichts Neues. Eine Graphic Novel von Peter Eickmeyer und Gaby von Borstel nach dem Roman von Erich Maria Remarque, o. S. © Peter Eickmeyer 36
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Abb. 5.2: Im Westen nichts Neues. Eine Graphic Novel von Peter Eickmeyer und Gaby von Borstel nach dem Roman von Erich Maria Remarque, o. S. © Peter Eickmeyer
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bung auf: Eickmeyer präsentiert dem Rezipienten eine düstere Welt in primär dunklen Farben (Grau, Braun, Dunkelblau etc.). Hierdurch unterscheiden sich seine Darstellungen von Schützengräben teilweise stark von denjenigen in „1914. Ein Maler zieht in den Krieg“. Betrachten wir einige repräsentative Darstellungen von Schützengräben genauer (vgl. Abb. 5). Im die Illustration begleitenden Text findet sich die folgende Passage: Niemand würde glauben, daß in dieser zerwühlten Wüste noch Menschen sein könnten; aber jetzt tauchen überall aus dem Graben die Stahlhelme auf, und fünfzig Meter von uns entfernt ist schon ein Maschinengewehr in Stellung gebracht, das gleich losbellt. Aus uns sind gefährliche Tiere geworden. Wir kämpfen nicht, wir verteidigen uns vor der Vernichtung. [. . . ] Das Krachen der Handgranaten schießt kraftvoll in unsere Arme, in unsere Beine, geduckt wie Katzen laufen wir, überschwemmt von dieser Welle, die uns trägt, die uns grausam macht, zu Wegelagerern, zu Mördern, zu Teufeln meinetwegen, diese Welle, die unsere Kraft vervielfältigt in Angst und Wut und Lebensgier, die uns Rettung sucht und erkämpft. 37
Durch den expliziten Vergleich mit Tieren sowie durch die implizite Analogisierung mit der Kriegsmaschinerie, denn auch das Maschinengewehr bellt los, erfahren die Soldaten eine völlige Entmenschlichung. Visuell erfolgt diese vor allem dadurch, dass Eickmeyer weitgehend auf individualisierende Züge in der Darstellung verzichtet, die abgebildeten Soldaten relativ identisch aussehen und sich vor allem auch auf dieselbe Weise verhalten, was bereits auf den später ausgeführten Gedanken des Automatentums verweist. Diesem Befund entspricht zudem, dass der Erzähler Paul Bäumer in der zitierten Passage ausschließlich Pronomina der ersten Person Plural verwendet, die alle ein Kollektiv statt Individuen suggerieren. Selbstverständlich wird der Krieg dadurch zugleich als Gemeinschaftserfahrung (durch Kameradschaft verbundener Soldaten) dargestellt, doch scheint mir dieser Aspekt hier in den Hintergrund zu treten. Die Illustration gibt ein räumliches Oben, das den Menschen vorbehalten ist, und ein räumliches Unten, das als Lebensraum von Ratten präsentiert wird, vor. Der begleitende Textauszug aus Remarques Roman steht durch den Vergleich der Soldaten mit gefährlichen Tieren allerdings im Kontrast zu dieser prinzipiellen Unterscheidung. Erscheint der Schützengraben hier als Lebensraum der Nagetiere, so impliziert das dem Leser vorauszusetzende Wissen, dass sich die deutschen und französischen Soldaten des Ersten Weltkrieges mehrere Jahre in Schützengräben aufhalten mussten, dass diese mit Ratten analogisiert werden, ohne dass dies an dieser Stelle explizit gemacht zu werden braucht.
37 Eickmeyer / Borstel, o. S.
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Die nächste Illustration zeigt, dass einige Soldaten den Sturmangriff mit dem Leben bezahlen mussten, wobei der unkontrollierte Sturz ihrer toten Körper in den Graben die im vorigen Beispiel semantisch aufgeladene vertikale Raumopposition gänzlich überwindet (vgl. Abb. 6). Im dieser Illustration beigegebenen Text wird explizit auf das vollkommen automatisierte Verhalten der Soldaten hingewiesen: „Die braune Erde, die zerrissene, zerborstene braune Erde, fettig unter den Sonnenstrahlen schimmernd, ist der Hintergrund rastlos dumpfen Automatentums“. 38 Die deutschen Soldaten plündern die feindlichen Schützengräben und erbeuten mehrere Konservendosen: „Insgesamt haben wir fünf Büchsen geschnappt. Die Leute drüben werden ja verpflegt, das ist eine Pracht gegen uns Hungerleider mit unserer Rübenmarmelade, das Fleisch steht da nur so herum, man braucht bloß danach zu greifen“. Implizit erscheint der Schützengraben als Lebensraum hier auch als ein Ort, an dem ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl herrscht, das durch eine markante Raumopposition vermittelt wird (hier vs. drüben): Im geschlossenen Mikrokosmos des Schützengrabens werden nationale Feindschaften konkret geografisch verortbar, der Schützengraben wird damit auch zu einem mentalen Raum, der stark von den Raumkonzepten Nation und Heimat geprägt ist. An anderer Stelle findet sich eine Illustration, die den Schützengraben als ein Grab in Szene setzt (vgl. Abb. 7). Hier lesen wir: „Einem andern wird der Unterleib mit den Beinen abgerissen. Er lehnt tot auf der Brust im Graben [. . . ]. Wir legen die Toten vorläufig in einen großen Trichter. Es sind bis jetzt drei Lagen übereinander“. 39 Der Schützengraben erscheint hier als eine Art Massengrab, in dem die verheerenden Auswirkungen des Krieges spür- und sichtbar werden. Jedoch ist der Schützengraben nicht ausschließlich Grab, sondern zugleich auch Lebensraum der Soldaten. Der Schützengraben wird hier als ein Ort markiert, in dem Leben und Tod synchron bestehen, als eine Art Grab, das zugleich Lebensraum ist, die Zeit nach dem Ableben eines Menschen wird somit von der Lebenszeit eines anderen überlagert und vice versa. Damit vereint er jenes Inkompatible, das Foucault zu einem der bestimmenden Merkmale einer Heterotopie erhoben hat. Der bereits als Skelett dargestellte Leichnam des rechts unten abgebildeten Soldaten erlaubt darüber hinaus insofern einen Bezug auf Bachtins Chronotopos-Konzept, als dieses Verwesungsstadium notwendigerweise eine eigene Kriegszeit voraussetzt, die nicht der physikalisch messbaren Zeit entspricht, sondern deren starke Beschleunigung impliziert. Die Verwesung des menschlichen Körpers muss in einer Art Zeitraffer erfolgt sein. Die folgende Abbildung lässt ein Charakteristikum der deutschen Schützengräben deutlich in den Vordergrund treten: Es wurde mit großer Sorgfalt
38 Ebd. 39 Ebd.
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Abb. 6.1: Im Westen nichts Neues. Eine Graphic Novel von Peter Eickmeyer und Gaby von Borstel nach dem Roman von Erich Maria Remarque, o. S. © Peter Eickmeyer
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Abb. 6.2: Im Westen nichts Neues. Eine Graphic Novel von Peter Eickmeyer und Gaby von Borstel nach dem Roman von Erich Maria Remarque, o. S. © Peter Eickmeyer
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Abb. 7.1: Im Westen nichts Neues. Eine Graphic Novel von Peter Eickmeyer und Gaby von Borstel nach dem Roman von Erich Maria Remarque, o. S. © Peter Eickmeyer
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Abb. 7.2: Im Westen nichts Neues. Eine Graphic Novel von Peter Eickmeyer und Gaby von Borstel nach dem Roman von Erich Maria Remarque, o. S. © Peter Eickmeyer
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viel Holz verarbeitet. Schon diese Bauweise macht dabei deutlich, dass Schützengräben nicht als (mehr oder weniger) kurzfristige Transiträume, sondern (relativ) langfristige Existenzräume konzipiert wurden (vgl. Abb. 8). Mit dem langen Verweilen im Schützengraben geht einher, dass eine neue Ordnung akzeptiert wird, die den allgemeingültigen moralischen Normen und Gesetzen widerspricht. Dies belegt beispielsweise der folgende Textausschnitt: Nachdem Paul Bäumer zunächst Kritik daran geäußert hat, dass der höherranginge Oellrich mit seiner hohen Trefferanzahl auf feindliche Soldaten geprahlt hatte, lesen wir: „Sergeant Oellrich tritt wieder an die Brustwehr. Die Mündung seines Gewehrs geht hin und her. Ich begreife mich jetzt auch selbst nicht mehr. [. . . ] Krieg ist schließlich Krieg. Oellrichs Gewehr knallt kurz und trocken“. 40 Mit der ebenso maßgeblichen wie traurigen Einsicht „Krieg ist schließlich Krieg“ benennt der Erzähler explizit jene Eigengesetzlichkeit, die Foucault zu einem Charakteristikum der Heterotopie erhoben hat. Hier dient diese Einsicht Paul Bäumer freilich zugleich als rückwirkende Rechtfertigung seines Mordes an dem französischen Soldaten Duval, von dem kurz zuvor die sogenannte Trichtersequenz handelt.
5. Schlussbemerkungen Beide Graphic Novels vermittelten ein fiktives Bild vom Ersten Weltkrieg, denn beide stellen intermediale Adaptionen literarischer Vorlagen dar, nämlich von Franz Marcs „Briefen aus dem Feld“ und Erich Maria Remarques „Im Westen nichts Neues“, wobei für Marcs Text sicherlich ein geringerer Grad an Fiktionalität und dementsprechend ein höherer Grad an faktualem Erzählen zu veranschlagen ist. Der kategoriale Unterschied zwischen beiden Graphic Novels besteht vornehmlich darin, dass Osteroths „1914. Ein Maler zieht in den Krieg“ sowohl Passagen enthält, die Marcs Feldbriefen entnommen sind, als auch solche, die diese Stellen metatextuell kommentieren und dabei oftmals in einen größeren Zusammenhang stellen. Damit konstituiert sich diese Graphic Novel mit Blick auf die Darstellung des Ersten Weltkrieges „im komplexen Wechselspiel von mediatisierter Wirklichkeitserwartung, unmittelbarer Wirklichkeitswahrnehmung und auswertender Wirklichkeitserfahrung“. 41 Anders verhält es sich im Falle von Eickmeyers und von Borstels „Im Westen nichts Neues“, denn hier findet keine metatextuelle Kommentierung von Remarques Roman statt, sondern ausschließlich eine visuell-grafische durch die eingefügten Illustrationen, wobei diese – ebenso wie die verbalen Beschreibungen und Darstellungen
40 Ebd. 41 Michael Schwarze / Axel Rüth (Hg.), Erfahrung und Referenz. Erzählte Geschichte im 20. Jahrhundert, Paderborn 2016, S. 8.
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Abb. 8: Im Westen nichts Neues. Eine Graphic Novel von Peter Eickmeyer und Gaby von Borstel nach dem Roman von Erich Maria Remarque, o. S. © Peter Eickmeyer
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des Ersten Weltkrieges – ausnahmslos einem pazifistisch-antimilitaristischen Diskurs entsprechen. In beiden Graphic Novels werden die wichtigsten Kriegsschauplätze, die bis heute das kulturelle Gedächtnis zum Ersten Weltkrieg prägen, versprachlicht und verbildlicht. Der Schützengraben nimmt hier eine besonders prominente Rolle ein. Die visuellen Repräsentationen der Schützengräben spiegeln dabei maßgeblich die Intention der literarischen Vorlage wider: den künstlerischen Blick auf den Krieg als Verallgemeinerung der avantgardistischen Revolution in der Kunst im Falle von Marcs „Briefen aus dem Feld“ und eine kriegsfeindliche Haltung im Falle von Remarques „Im Westen nichts Neues“. Auch wenn „1914. Ein Maler zieht in den Krieg“ den Ersten Weltkrieg und die mit ihm verbundenen Kriegsräume über weite Strecken – vermeintlich durch den subjektiven Blickwinkel des Künstlers Franz Marc – ästhetisiert und romantisiert, so trägt auch diese Graphic Novel zur gegenwärtig verstärkt vorherrschenden pazifistischen, antimilitaristischen Haltung bei, und zwar sowohl durch die angesichts der Kriegsgräuel zunehmende Desillusionierung Marcs als auch durch die frappante Diskrepanz zwischen seiner Kriegsbegeisterung und seinem Tod an der Front. Diese Diskrepanz stellt – zumindest implizit – stets nicht nur Frage nach der ästhetischen Qualität des Ersten Weltkrieges, sondern auch nach seiner ethisch-moralischen Bewertung. Wie aufgezeigt werden konnte, lässt sich das von Foucault entwickelte Konzept der Heterotopie auf die Darstellung der Schützengräben in beiden Graphic Novels anwenden. Bildet jede Gesellschaft – laut Foucault – spezielle Heterotopien aus, so stellt der Schützengraben eine charakteristische Heterotopie des beginnenden 20. Jahrhunderts dar, die die bisherige Kriegsführung bekannterweise maßgeblich verändert hat.
Paweł Piszczatowski
(Uniwersytet Warszawski)
„Mnemosyne, dement“ – Thomas Klings Gedichte zum Ersten Weltkrieg Der Gegenstand des vorliegenden Beitrags sind Thomas Klings Gedichte aus dem Zyklus „Der Erste Weltkrieg“, die zwischen 1996 und 1998 entstanden und 1999 im Band „Fernhandel“ erschienen sind. 1 Im Mittelpunkt der analytischen Auseinandersetzung mit Klings Texten werden vor allem literarische Strategien stehen, die darauf ausgerichtet sind, einen textuellen Gedächtnisraum zu schaffen, in dem – wie das im Titel angeführte Zitat suggeriert – eine sich dem Vergessen widersetzende Arbeit an der Geschichte möglich wird. Collagen aus (quasi) authentischen Bildern, Briefen, Frontnachrichten und medialen Berichten, gattungsübergreifende Montagen lyrischer Konzentration mit narrativen Panoramen, sowie die intertextuelle Verankerung der Texte in der literarischen Tradition von Trakl bis hin zu den oralen Urquellen der Dichtung werden – so die These des Beitrags – zu einem dynamischen Ganzen zusammengesetzt, in dem das Vergessene als Gegenstand der Erinnerung (re-)konstruiert wird. 2 Der gesamte Zyklus besteht aus 14 Teilen und beginnt mit dem Gedicht „Modefarben 1914“, einem lyrischen Präludium, das sowohl in der typografischen Struktur des Bandes als auch im Inhaltsverzeichnis von den übrigen, kohärent miteinander verbundenen Gedichten klar unterschieden wird. In diesem ironischen Prolog begegnen uns Bilder einer heilen Glamourwelt, die von der bevorstehenden Apokalypse nichts ahnen will, „anorientalisiertes abend- / land, das großbürgertum hinter schweren / portièren“. 3 Diese feuilletonistisch anmutende Schilderung der Modetrends mündet dann abrupt in die Konstatation „ab herbst war dann / das kleine schwarz natürlich / angesagt“. 4 Die urbane Landschaft von Berlin, Paris und New York weicht den tristen, in Schwarz getauchten Bildimpulsen der Schlachtfelder, 1 Thomas Kling, Fernhandel, Köln 1999, S. 7–30. 2 Es ist wichtig, an dieser Stelle auch darauf zu verweisen, dass Klings textuelle Strategien hinsichtlich der literarischen Gedächtnisarbeit an der Geschichte mit vielen allgemeinen Tendenzen in der Literatur der letzten Jahrzehnte einhergehen. Diese betreffen allerdings vor allem erzählende Prosa – neu erschienen zu diesem Thema: Monika Wolting (Hg.), Neues historisches Erzählen, Göttingen 2019. Um so interessanter ist es zu untersuchen, wie Kling sie an lyrische Texte adaptiert. 3 Kling, Fernhandel, S. 9. 4 Ebd.
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der landschaftn, die flußnamen erhorchen. sumpfgebiete. gebirge. oder andere AUFFALTUNGEN VON FLEISCH [. . . ] die aufwerfungen der erde, etwa die querung steiniger bachbetten. gebüsche. buchen. birken, tannenwälder. beschuß an reißenden flüssn. im lehmbett. 5
Schließlich kommt der Großvater, „ruhrkrank kommt er / vom isonzo-lazarett zurück – weihnachten 1918“. 6 Ein „totalbildausfall“ 7 ist die Folge, der durch ein leeres Blatt typografisch visualisiert wird. In diesem einleitenden Gedicht werden viele Motive vorweggenommen, die für den gesamten Zyklus prägend sind, vor allem das Motiv der Bilder, der überdauernden „restnachrichten. aufkleber von soßiger zunge beleckt / was nach gut achtzig jahren noch zu sehen ist“. 8 Fotos als „fernanzeigen / [. . . ] feststellungen, fernzündungen. spritzende brocken: der erinnerung [. . . ] die verschlossenen briefe und karten / des bruders in abgemattetem ocker“. 9 Der Leser befindet sich unter „dauerbeschuß von heulenden, vorüberheulenden bildern“. 10 Der Zyklus aus dem Band „Fernhandel“ ist ein klares Anzeichen dafür, dass der 2005 verstorbene Lyriker den Ersten Weltkrieg in sein poetisches Imaginarium sehr tief integriert hat. Bei einem 1957 geborenen Dichter mag dies alles andere als selbstverständlich sein, macht aber den Sachverhalt umso interessanter und verleitet zu der grundlegenden Frage, welche Gründe wohl dahinter stehen. Sowohl wissenschaftliche Interpreten als auch Kling selbst liefern unterschiedliche Antworten. In seinem aufschlussreichen Beitrag in dem Thomas Kling gewidmeten Heft von „Text+Kritik“ schildert Hermann Korte Klings Auseinandersetzung mit dem Ersten Weltkrieg als eine „von unterschiedlichsten Materialimpulsen und Blickperspektiven inspirierte Erinnerungsarbeit“, die sich der „weithin unbeachteten Fundstücke und Zeugnisse scheinbarer Privatgeschichte“ annimmt und dabei „meist vom Detail ausgehend, Logik und Strategien, Sprachmuster und stereotype Bildklischees [. . . ] [der] Archivmedien transparent macht“. 11 Kling selbst weist in seinen Essays und Interviews gern auf biografische Hintergründe für sein dichterisches Interesse an den Ereignissen 5 6 7 8 9 10 11
Ebd., S. 11. Ebd., S. 12. Ebd., S. 12–13. Ebd., S. 15. Ebd., S. 14. Ebd., S. 27. Hermann Korte, „Bildbeil“, „Restnachrichten“ und „CNN Verdun“. Thomas Klings Erster Weltkrieg, in: Text+Kritik 147 (2000), S. 99–115, hier S. 105, 110.
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der lange zurückliegenden Jahre 1914–1918 hin. 1982/83 absolvierte er seinen Zivildienst in einem Pflegeheim. Seine „aus den achtziger Jahren stammenden Gespräche mit den damals 85-jährigen Männern und Frauen, die den Ersten Weltkrieg erlebt hatten“, seien – einem Interview aus dem Jahre 2000 zufolge – eine wichtige Inspiration für den Gedichtzyklus „Der Erste Weltkrieg“ gewesen. 12 Zur biografischen Legende Thomas Klings – so Peer Trilcke – gehört darüber hinaus sein Großvater, der, wie Kling sagte, „die Schlachterei des Ersten Weltkriegs überstanden“ hatte und den Autor mit der „Menschheitsdämmerung“, jener „Anthologie von Toten des 1. Weltkriegs“, wie Kling das Buch nannte, vertraut machte. „Glaubt man dieser Legende, dann nahm der Erste Weltkrieg und damit das Schicksal der ‚Generation Verdun‘ in der Biografie Klings von Anfang an eine prägende Rolle ein, war das historische Bezugsereignis seiner ersten Kontakte mit Literatur und Geschichte“, 13 konstatiert Trilcke. Würde man von diesem Standpunkt ausgehen – und warum sollte man es nicht tun? –, so müsste man schlussfolgern, dass Kling in seinen lyrischen Texten zum Ersten Weltkrieg tatsächlich einen „Fernhandel“ betreibt, einen Austausch über große zeitliche Entfernungen. Dem modernen Gedächtnisverständnis von Aleida und Jan Assmann zufolge balanciert Kling an der Schwelle zwischen der kommunikativen Gedächtnistradierung innerhalb einer Familie oder Gemeinschaft von eng Verbündeten und dem kulturellen Gedächtnis eines Zivilisationskollektivs, das von weit her gebrachte Erinnerungsinhalte in mythisierter Form festhält. 14 Wenn auch der Erste Weltkrieg in den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts unter Umständen Teil des kommunikativen Erinnerungstransfers sein konnte, so ist er aus dem kulturellen Gedächtnisraum der Europäer durch den Zweiten Weltkrieg weitgehend verdrängt worden. Demzufolge ist Klings „Fernhandel“ gleichzeitig auch ein „Fern-handeln“, eine performative Übertragung der zeitlich fernen Ereignisse im Modus des „Fern-sehens“, eine Schilderung des Schlachtfelds bei Verdun in direkter Konfrontation mit der Schilderung der modernen Kriege im Medium eines live broadcasting, wie es bei CNN, besonders in den neunziger Jahren, beim Zweiten Golfkrieg und dem Kosovo-Konflikt die gängige Art der Kriegsberichterstattung war. Von geschundenen, versehrten und verstümmelten Körpern ist
12 Vgl. Lippenlesen, Ohrenbelichtung. Hans Jürgen Balmes im Gespräch mit Thomas Kling (Januar 2000), in: Thomas Kling, Botenstoffe, Köln 2001, S. 229–244, hier S. 229; auch Peer Trilcke, Historisches Rauschen. Das geschichtslyrische Werk Thomas Klings, Göttingen 2012, S. 123. 13 Trilcke, S. 125. 14 Unter den zahlreichen Publikationen von Jan Assmann und Aleida Assmann zum Thema des kulturellen Gedächtnisses seien hier zwei fundamentale erwähnt: Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992; Aleida Assmann, Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999.
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viel die Rede, kühne Bilder, wie „verschwommen aufspringende, hoch wegspritzende / fontänen. außenaufnahmen. von männern gemachte menschnfontänen. erde“, 15 bestimmen die Szenerie. Was in einem ironischen Spiel mit den „Modefarben 1914“ beginnt („ciel. / ist der verdrehte himmel. / blue pills und stahlparkett“ 16), führt sehr schnell in die schlammigen Schützengräben. Die frischgebackenen Kriegswitwen betreten sie als ein radikal reduziertes Pars pro toto: „trockengefallene hinterbliebenenlippe mundtote frauenlippe nicht im bild die / einstürzende fallende lippe der verlobten gerodete zunge kahlschlag der blick“. 17 Im Allgemeinen ist die Synekdoche eine den Charakter von Klings Zyklus konstituierende Trope. Brockenartige Erinnerungsstücke korrespondieren mit den zerstückelten Körpern, von denen nur noch einzelne Teile erhalten sind: „lichter hals, graue hautpartikel“, 18 „der kopf des bruders“, 19 grausam zerfetzte Torsos: „personagen mit abgeschnittenen beinen und köpfen“. 20 Das von Kling inszenierte Sehen-in-die-Ferne, die Flut der „vorüberheulenden Bilder“ hat in den Gedichten selbstverständlich einen doppelbödigen Sinn. Einerseits ist es ein Versuch, die Gräuel der geschichtlich fernen Kriegsgewalt wachzurufen, andererseits bringt es aber auch eine dezidiert kritische Haltung gegenüber der durch die modernen Medien angefeuerten Schaulust zum Ausdruck, die die Opfer von Gewalttaten zu bloßen Schauobjekten degradiert. Der Mangel an realen Erinnerungsbeständen wird in Klings Gedichten dem Voyeurismus der Überflussgesellschaft im Medienzeitalter gegenübergestellt. Zitaten aus Frontbriefen, bruchstückhaften Nachrichtenübermittlungen von den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs „folgen die bilder von CNN VERDUN, summen im ohr – für uns aus / einiger entfernung“. 21 Diese „einige Entfernung“ garantiert sowohl dem heutigen Betrachter alter Kriegsfotos als auch dem heutigen CNN-Zuschauer das wohltuende Gefühl der Sicherheit und der Gewissheit, dass das Gesehene von ihm fernbleibt, dass es ihn nur als Bild erreichen kann. Wie in einer Realityshow wird es hin und wieder gar langweilig: „CNN Verdun. es tut sich wochenlang, wiedermal, / nichts“. 22 Dann aber wird es wieder spannend, gehts ab. tierisch. tierhafte, gebückte schatten, vom verfolgerspot erfaßt. alarm und gebildete rufe: macht licht! [. . . ]
15 16 17 18 19 20 21 22
Kling, Fernhandel, S. 14. Ebd., S. 9. Ebd., S. 23. Ebd., S. 14. Ebd., S. 15. Ebd., S. 22. Ebd., S. 14. Ebd., S. 15.
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CNN Verdun arbeitet bei licht vom notaggregat. bei notstrom verlesene nachrichten. 23
Die ununterbrochen laufenden CNN-Kameras auf den historischen Schauplätzen des Ersten Weltkrieges sind eine Metapher, die neben ihrem enormen zeitkritischen Potenzial noch eine weitere Bedeutungsschicht in sich trägt. Sie verbinden die Vergangenheit mit der Zeitgeschichte auch auf eine Art und Weise, die das Sprechen über den Ersten Weltkrieg zu einem Sprechen über jegliches Kriegsgeschehen macht. Die Bilder von CNN Verdun sind „dias aus dem kambrium ausm / ersten weltkrieg bildmaterial“, 24 sie öffnen „schwer einsehbare räume / schauplätze: die schauplätze der geschichte“. 25 „CNN Verdun“: Alle Kriege der Menschheitsgeschichte laufen in dieser Metapher zusammen. Die aus der Perspektive der konfliktbeladenen neunziger Jahre gestellte Diagnose ist ein Aufruf zum Gedenken und zugleich eine Mahnung gegen das Vergessen: „CNN Verdun. es öffnen zeigen / landschaften ihre körper den geöffneten körpern: sie öffnen sich dem vergessen“. 26 Auch wenn Korte also durchaus darin recht hat, dass er Klings Gedichtzyklus als „Erinnerungsarbeit“ bezeichnet, muss seine These doch dadurch ergänzt werden, dass der Zyklus in gleichem Maße eine Reflexion über die Unvermeidbarkeit des Vergessens mit sich trägt. Besonders deutlich kommt dies im siebten und achten Gedicht zum Ausdruck. Die zentrale Figur ist dort Mnemosyne, die Göttin der Erinnerung und Mutter der Musen. Bereits in der dritten Strophe des siebten Gedichts wird sie als „dement“ vorgestellt, als eine „die das essen vergißt, die ihre / töchter nicht mehr wiedererkennt, ihre verdunsteten quellen“. 27 Die Landschaft des Gedichts wird durch den Fluss des Vergessens dominiert, der die Welt der Lebendigen von jener der Verstorbenen trennt: lethe. ganz verdeckter grenzfluß der die wohnungen durchquert: ruhiger fast ruhender tieflandfluß, im schattenwerk gleitend. strom bei stillestehen. wohnungsgehirn. 28
Vielleicht aber – und es ist in der ironischen Grundstruktur von Klings Gedichten durchaus denkbar – darf man diese Zeilen auch ganz anders lesen: als Lob der Ruhe und des Stillstands, die das Vergessen mit sich bringt. Vielleicht ist die demente Mnemosyne gerade die Erlöserin vom Zwang des Gedächtnisses, des ununterbrochen fließenden Stroms der Erinnerungsbilder, die sich
23 24 25 26 27 28
Ebd., S. 17. Ebd., S. 20. Ebd., S. 23. Ebd. Ebd., S. 20. Ebd.
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aneinanderreihen, bis die Grenzen der Erinnerung sich mit den Grenzen der planetarischen Geschichte überkreuzt haben: „da / wird das nächste dia eingeschoben und das nächste und ein nächstes und ein / übernächstes! frühe frostfarbene dias forellendias. dias aus dem kambrium“. 29 Vielleicht ist die Lethe der Strom, der den CNN-Kameras endlich jede Stromzufuhr abschneidet, sie zum „stillestehen“ bringt und den ersehnten „totalbildausfall“ verursacht. Auch wenn diese Fragestellungen zumindest hypothetisch in der semantischen Schichtstruktur der Gedichte gegründet sein mögen und in den zitierten Aussagen mitschwingen, scheint der Ausbruch aus dem Erinnerungsstrom diesseits der Lethe nicht möglich. Die Kommunikation mit der Schattenwelt wird durch eine „drahtlose station“ übernommen, die Wellen des Vergessen spendenden Flusses werden durch Radiowellen ersetzt und die CNN-Kameras laufen – wie bereits gesagt – „bei notstrom“ und „bei licht vom / notaggregat“. Die Vergangenheit wird zwingend zur akuten Gegenwart und die Musen der Dichtkunst tun ihr Werk, auch wenn ihre demente Mutter sie längst nicht mehr wiedererkennt. Ihnen folgen auch Klings Gedichte. Obgleich sie nämlich so stark gegenwartsbezogen sind, erscheint in ihnen dieses Subsumieren der gesamten Vergangenheit unter das Diktum der akuten Gegenwart in der Manier einer das zeitlich Ferne herbeirufenden Stilisierung. Klings Gedichte zum Ersten Weltkrieg zeichnen sich durch eine besondere Art der Narrativität aus. Nicht eine kohärente Erzählung von aufeinander folgenden Ereignissen wird präsentiert, sondern Brocken von mündlichen Berichten, abgehörte Erinnerungsfetzen, „Gedächtnispartikel“, alte Fotos, Dokumente, Zeitungsartikel und Brieffragmente, Gedichte etc. setzen sich zu einer Geschichtscollage zusammen, in der die einzig mögliche Totalität die einer Schichtung und Wechselwirkung des Zerstückelten ist, getragen durch den strömenden Rhythmus der sich geradezu endlos aneinanderreihenden, zu dreiversigen Strophen gebündelten Langzeilen, geschmückt durch fast tautologisch wirkende Alliterationen: liebe schwester hier meine stellung: von hinten bin ich erschossen worden, unfriendly fire vor Verdun, vor glasfronten die durch familien sich ziehn. im kopf des bruders, im kopf wird ihr wie hirschmark rot, durchtrennter atlas. farbe stempelfarbe wie blaues fett, schlachthof-, schleifen-; durchstreichung in preußischblauem tintenstift: das ist das wespen-, welpen-, ist hornissen- unter hornissenfleisch, was unter fettem lehm und gräben liegt an resten aufgetürmt: umwehte ossuarien, der wind geht kolossal, totale, der kopf wird weggebeamt wenn du das siehst denk ich. die todes-
29 Ebd.
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nachricht aus dem umschlag ziehst mit sowieso schon leerem magen. „zurückzurück“, so zückt die nachtigall das blei die schrift. post die staubige kuppen hinterläßt. 30
In den Langzeilen lebt der Duktus des Gesprochenen wie in der Stabreimdichtung des frühen Mittelalters (dem Band ist – wie so oft bei Kling – eine CD beigelegt mit einer Aufnahme der einzelnen vom Autor vorgelesenen Gedichte). Die Poesie kehrt zu ihren Quellen zurück, als sie noch Berichterstattung war und Nachrichten vermittelte, als sie das Unerhörte noch hörbar machte. „Thomas Kling greift auf die legendären Ursprünge der Dichtung als Mnemotechnik, als Gedächtniskunst, zurück und rettet getilgte Erinnerung“, 31 konstatiert Sibylle Cramer. Es ist, als werde der Zuruf nun aufgenommen, der vom Anfang des Jahrhunderts herüberdringt, als werde sie endlich gehört, jene Totenglocke von den galizischen Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs, die bei Georg Trakl in Gedichtform „die Geister der Helden“ grüßt, „die wilde Klage / Ihrer zerbrochenen Münder“ aufnimmt und einer leeren Zukunft ohne Nachkommen, Erinnerung und Gedächtnis übergibt: „Die heiße Flamme des Geistes nährt heute ein gewaltiger Schmerz, // Die ungeborenen Enkel“. 32 Der Stab Georg Trakls, dessen Gedicht „Grodek“ den Opfern der Schlacht bei Grodek am 7. September 1914 gilt, wird am Ende des Jahrhunderts von Kling aufgenommen: die ganzen farben aus der traklzeit, und später. ’s braune laub prallt auf die totnstille! von jenseits kreischts. ’s rangiergeräusch wie zarter rauch, vom wind gebracht 33
Die angeführten Verse schildern eine geschichtliche Katastrophe, deren nach Trauer rufende Präsenz im kollektiven Gedächtnisraum von der nachfolgenden verdrängt wurde und hinter den Schrecken des Dritten Reichs verschwand. Klings Gedicht bedeutet eine Reaktivierung des unterbrochenen Trauerrituals: „die liegen irgendwo im osten, in polen irgendwo, es stützn mit den / totn schultern sich die steine, auf denen keine steinchen liegen“. 34 Der jüdische Brauch, zum Totengedenken kleine Steinchen auf den Grabstein zu legen, gereicht dabei zum Zeichen einer wiederherzustellenden Kontinuität der Erinnerung an alle Opfer der Hölle des 20. Jahrhunderts, samt denen, die
30 Ebd., S. 15–16. 31 Sibylle Cramer, Thomas Klings Gedächtniskunst als universales Supplement und Gegenrede des nationalen Gedenkwesens, in: manuskripte. Zeitschrift für Literatur 147 (2000), S. 140. 32 Georg Trakl, Das dichterische Werk, hg. v. Walther Killy und Hans Szklenar, München 2007, S. 94. 33 Kling, Fernhandel, S. 29. 34 Ebd.
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Paweł Piszczatowski
zu Trakls Zeiten die galizische Gegend um Grodek zahlreich bewohnten und knapp dreißig Jahre später zu Opfern des großen Genozids wurden. Anlässlich der Frage nach dem archaisch anmutenden Erzählduktus in Klings Gedichtzyklus zum Ersten Weltkrieg verweist Peer Trilcke auf das Autorschaftskonzept des „Memorizers“, mit dem sich Kling um 1997 erstmals befasst hat: in „Itinerar“, vor allem aber im Essay „Rhapsoden am Sepik“, der, später in „Botenstoffe“ abgedruckt, unter einem anderem Titel zunächst 1997 in der Kulturzeitschrift „du“ erschien, also während der Arbeit an „Der Erste Weltkrieg“. 35 In seinem Essay bezieht sich Kling auf das Volk der in PapuaNeuguinea lebenden Iatmul, in deren Kultur dem Memorizer als „Dichter und Historiker“, als „Gedächtnis-verantwortlichem“ die zentrale gesellschaftliche Rolle zufällt, „das den Clan definierende und -erhaltende Wissen“ zu vermitteln und damit „das spirituelle [. . . ] Fortbestehen der Gruppe“ 36 zu sichern. Dies alles wird gewährleistet durch ein mündliches Tradieren von Geschichten. Der Memorizer tritt „ursprünglich ausschließlich bei Festen auf“, als „Gedächtnisperformer“. Seine innerhalb dieser sozialen Rituale „gesprochene Literatur“ 37 gehört zum alle Mitglieder der Gemeinschaft integrierenden Totenkult, sodass er zu einer Vermittlungsinstanz zwischen der Welt der Lebenden und der der Toten wird. Wie der Memorizer, so Trilcke, widmet sich auch die Vermittlungsinstanz in „Der Erste Weltkrieg“, insbesondere in der familiengeschichtlichen Perspektive, der Geschichte des eigenen „Clans“. Mit der Bezeichnung einer Figur als „großmutter“, 38 der Präsenz des Großvaters 39 und dem Hinweis auf die „familienfotos“ 40 werden die Figuren in die Genealogie der Vermittlungsinstanz eingeschrieben: Dabei liegen der Vermittlungsinstanz einerseits Fotos vor, andererseits Briefe, aus denen „stimmreste der toten“ gewonnen und mit den beschriebenen Fotos zusammengebracht werden. Darüber hinaus fließen in die Darstellung Informationsbruchstücke ein, die das Quellenmaterial biographisch anreichern. Aus dieser Gemengelage aus archivarischem Material und Bruchstücken eines Familiengedächtnisses ergeben sich dann wiederholt imaginierte Szenerien, in denen die Figuren als Erlebende und Erleidende eingebettet werden in Situationen und so gleichsam „auferstehen“. Mehr oder minder explizit wird im Zuge dessen, intern fokalisierend, die Innenwelt der familiären Vorfahren imaginiert. Das archivarische Material wird so zum Ausgangspunkt für kurze Einblicke in die Psychohistorie der eigenen Familie. 41
35 36 37 38 39 40 41
Vgl. Trilcke, S. 464. Ebd., S. 464–465. Ebd., S. 467. Kling, Fernhandel, S. 14. Ebd., S. 12. Ebd., S. 14. Trilcke, S. 475.
„Mnemosyne, dement“ – Thomas Klings Gedichte zum Ersten Weltkrieg
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In einer dement gewordenen Welt, in der die Mnemosyne „ihre töchter nicht mehr wieder erkennt“, wo also der transgenerationale Gedächtnistransfer unterbrochen wurde, muss die Poesie damit beginnen, dass sie genealogisch verfährt und Familiengeschichte (re-)konstruiert. „gedicht ist immer ahnenstrecke. fotostrecke, angereichert und, / ganz klar: gefälscht. wodurch die ahnenstrecke wahr wird erst“, 42 heißt es in Klings Gedicht „Der Schwarzwald 1932“. Der Literaturkritiker Nicolai Kobus wendet diese Poetologie der Ahnenstrecke auf den Zyklus „Der Erste Weltkrieg“ an und verweist dabei auf Michel Foucault: Die „ahnenstrecke“, die Kling aus unzähligen Schnipseln, Splittern, Bruchstücken zusammenlegt, ist [. . . ] nicht der Versuch einer historischen Rekonstruktion, die ein Kontinuum sich ergaukelt, wo eigentlich nur disparate Trümmer sind. Sie ist eher im Sinne Foucaults als eine Genealogie zu verstehen, die in der Herkunft gerade die kleinen und größeren Sprünge, die winzigen Abweichungen und gravierenden Brüche aufspürt, hinter denen eben nicht die Konsistenz des Seins, sondern die „Äußerlichkeit des Zufälligen“ steht. Daher wird das historische Material (die vergilbten Postkarten, die verwackelten Bilder und „gehäckselten handschriften“) bei Kling sehr durchlässig; es führt uns auf die „aschenplätze der geschichte CNN Verdun. es öffnen zeigen // landschaften ihre körper den geöffneten körpern: sie öffnen sich dem vergessen. / diese körperlandschaft zeigt sich: wände spitzen schroffen querverschneidung; zeigt / sich wenn die zunge sichtbar als organbank wird, als bilderclaim. als sprachbank“. 43
Auch das ist Foucault, konstatiert Kobus: in der Verschränkung von Körper und Geschichte als Ansatzpunkt einer Genealogie, die sich nicht auf die professionelle Perspektive des Historikers reduzieren lässt. Thomas Kling ist ein „Memorizer“, der in seinen Gedichten eine Ahnenstrecke schafft, indem er rudimentäre Brocken von materiellen Erinnerungsobjekten zu einem Gefüge zusammensetzt, einer tranceartigen Rhapsodie über die blutige Geschichte des 20. Jahrhunderts. Seine „personagen mit abgeschnittenen beinen und köpfen“ umsäumen einen aus dem Redefluss geschaffenen Raum der Gemeinschaft mit den Toten. Die Gedichte sind performative Repräsentationen dieses (re-)konstruierten Gedächtnisraumes.
42 Thomas Kling, Gesammelte Gedichte, hg. v. Marcel Beyer und Christian Döring, Köln 2006, S. 685. 43 Nicolai Kobus, Das Röcheln der Archive. Thomas Klings Gedichtband „Fernhandel“, in: https://literaturkritik.de/id/824 [letzter Zugriff: 10. 02. 2020].
Namenregister Adamiec, Marek 265 Adler, Max 463 Alabrudzi´nska, El˙zbieta 366 Albert, Hans 468 Alexis, Willibald (siehe Häring, Wilhelm) Altenberg, Peter 415, 417 Alverdes, Paul 413 Amann, Klaus 345–346 Amenda, Lars 57 Amrein, Ursula 437 Andersch, Alfred 191 Andresen, Sabine 135 Annen, Daniel 454–455 Ansel, Michael 165, 174 Anz, Thomas 37–38, 115–117 Apollinaire, Guillaume 528 Aram, Kurt 289 Arnon, Józef 134–135 Arslan, Ahmet 123 Assmann, Aleida 551 Assmann, Jan 409, 551 Atta, Mohamed 461 Auburtin, Victor 412 Auernheimer, Raoul 400, 418 Aust, Hugo 104 Bab, Julius 178, 380 Bach, Johann Sebastian 236, 245, 459 Bachofen, Johann Jakob 321 Bachtin, Michail Michailowitsch 524–525, 535, 541 Bahr, Hermann 73, 401, 418 Bähr, Andreas 533, 535 Baird, Jay W. 35, 46 Bajorek, Anna 135 Balke, Friedrich 186 Ball, Hugo 447 Balmes, Hans Jürgen 551 Bamert, Manuel 163 Barbey, Rainer 186 Barbusse, Henri 317, 350, 400, 405 Barker, Andrew 104, 113 Barszczewska, Ludwika 136 Bartsch, Paul 356, 360 Bartz, Thorsten 35 Bauer, Jürgen 34 Bauerkämper, Arnd 33
Baum, Marie 514–515, 517 Baumgarten, Otto 478 Bäumler, Alfred 321 Bakiewicz, ˛ Marta Jadwiga 354 Becher, Johannes R. 73, 285 Becker, Thomas 35, 218, 224 Beckert, Udo 382 Beer, Paul 487 Beethoven, Ludwig van 232, 236, 245 Beiner, Friedhelm 125–127, 130, 133, 136, 139 Bendig, Volker 366 Benjamin, Walter 317 Beradt, Martin 42–44 Bereska, Henryk 17–18, 28 Berg, Armin 421 Berggötz, Sven Olaf 292 Berghahn, Cord-Friedrich 513 Berghahn, Volker 333–334 Bergmann, Alfred 93–94 Bergson, Henri 494 Bernheim, Ernst 514 Bernoulli, Albrecht 321 Bernoulli, Carl 437–438 Bertram, Ernst 178, 212, 215 Beseler, Hans von 384, 388 Besslich, Barbara 35, 37 Bethmann-Hollweg, Theobald von 52 Beumelburg, Werner 36, 46, 74, 79–80, 84, 86, 179, 405 Bey, Essad 291 Beyer, Marcel 557 Beyer, Wolfram 111–112 Białek, Edward 293–310 Biberfeld, Carl 355, 360 Biebrach, Michael 369 Biskup, Rafał 147–161 Bismarck, Otto von 51, 126 Bleisch, Barbara 110 Bloem, Walter 406 Blos, Wilhelm 390 Blumenberg, Hans 182 Blumenthal, Albrecht von 212 Bluntschli, Johann Caspar 437–438 Bła˙zejewski, Krzysztof 373 Bockel, Rolf von 112
560 Boehm, Max Hildebert 251 Boehringer, Erich 215 Boehringer, Robert 209–211 Böll, Heinrich 190 Bolz, Norbert 470 Bondi, Georg 207, 215 Boockmann, Hartmut 311 Borchert, Wolfgang 217–221, 223–228 Borissova, Natalia 73 Borodziej, Włodzimierz 287 Borstel, Gaby von 524, 537–540, 542–547 Boss, Ulrich 321 Bosshart, Jakob 437–439, 448 Brahms, Johannes 236, 245 Brandenstein, Hans von 259 Brandt, Susanne 33 Brasch, Hans 209, 212 Braun, Michael 166, 178 Braun, Otto 207 Brecht, Bertolt 124, 324 Breszko-Breszkowski, Nikolaj 268 Bröckling, Ulrich 35 Brod, Max 413 Brokoff, Jürgen 210 Brücher, Gertrud 110 Bruckner, Joseph Anton 236, 245 Brückner, Florian 149, 311–312 Bruendel, Steffen 53, 73 Brümmer, Franz 92, 94 Brunner, Armin 400 Brunner, Otto 97, 110 Buber, Martin 43, 233, 235, 250–251 Bucharin, Nikolai 286 Bucher, Georg 413 Buchholz, Benjamin 14 Büchner, Georg 278 Buelens, Geert 53 Bülow, Bernhard von 49, 52 Burckhardt, Gerhard 48 Burdorf, Dieter 112 Burjan, Hildegard 418 Burke, Edmund 468 Buruma, Ian 70 Busch, Friedrich W. 127 Bush, George Walker 19 Busse, Carl 483–494 Buszko, Józef 340 Caduff, Corina 445 Carlyle, Thomas 513 Carossa, Hans 283
Namenregister Chamisso, Adelbert von 91, 93–94, 96 Charbon, Rémy 445 Chevallier, Gabriel 286 Chickering, Roger 32, 505 Chlumberg, Hans 124 Chwalba, Andrzej 373, 383 Clark, Christopher 49–50 Claß, Heinrich 480 Clausewitz, Carl von 220 Cocteau, Jean 528 Cohn, Alfred 364–366, 374–377 Colli, Giorgio 76, 144 Colpan, Sema 415 Confalonieri, Federigo 511 Conter, Claude D. 106 Cossmann, Paul Nikolaus 291 Costas, Ilse 511 Cotesta, Vittorio 460 Cramer, Sibylle 555 Cromwell, Oliver 513 Czarnecka, Mirosława 322 Czeike, Felix 421 Czinner, Paul 418 Dahlmanns, Karsten 11–14, 85, 283, 286, 459–474, 511 Dane, Gesa 512–514 Dauzenroth, Erich 130, 133, 136, 139 Davis, Zachary 468–469, 474 De Mendelssohn, Peter 168 Decker, Gunnar 197, 199–201, 203 Dedecius, Karl 340, 346 Delbrück, Hans 388 Demm, Eberhard 469 Denk, Friedrich 325 Denkler, Horst 45, 365 Dere˙zy´nski, Mieczysław 371 De Rougemont, Denis 447 Des Vignes Rouges, Jean 317 Detering, Heinrich 167 Detering, Nicolas 379 Deutsch-German, Alfred 421 Dietzsch, Steffen 283–292 Ding, Jianhong 57 Distl, Dieter 374 Dix, Otto 537 Dmowski, Roman 497, 500 Döring, Christian 557 Dos Passos, John 412 Dostojewskij, Fjodor 68, 184, 284 Dove, Richard 365, 374 Dreyfus, Alfred 270, 272
Namenregister Droß, Armin 125, 135 Dürer, Albrecht 182, 233 Durzak, Manfred 293 Dwinger, Edwin Erich 283–292 Dzikowski, Stanisław 384 Ebenhöh, Eva 19 Eberhardt, Grzegorz 265 Eder, Angelika 57 Eggebrecht, Axel 44 Ehrenfels, Imma von 210 Ehrlich, Nina 455 Ehrnstorfer, Oliver 354 Eichendorff, Joseph Freiherr von 148–149, 153, 293 Eickenrodt, Sabine 449 Eickmeyer, Peter 524, 527, 529, 537–540, 542–547 Eisenbeiß, Wilfried 123 Eisenhart-Rothe, Ernst von 259 Eliot, Thomas Stearns 12 Emler, Hans Wolfgang 328, 336–337 Emrich, Wilhelm 514, 518 Encke, Julia 33 Enden, Hans 161 Engel, Eduard 483 Engel, Manfred 174 Engelhardt, Dietrich von 78 Engelking, Leszek 355 Epkenhans, Michael 234, 268, 274 Erhard, Ludwig Wilhelm 48 Erll, Astrid 33, 315, 317, 363 Ernst, Max 528 Esselborn, Hans 107 Essen, Gesa von 104–106, 174 Etter, Philipp 433 Eulenberg, Herbert 408–409 Fabre, Jean-Henri 131 Faesi, Robert 431–436, 440, 443, 447–448 Fähnders, Walter 113 Falkowska, Maria 129 Fangor, Siegmund Oswald 386–387 Fankhauser, Andreas 437 Faulstich, Werner 169 Federn, Karl 401, 413 Feingold, Hersz 350 Feldmann, Else 418 Fellmann, Hans Georg 401, 403, 405 Fertig, Ludwig 167 Fetscher, Iring 284 Figal, Günter 184
561 Figowski, Käthe 295 Fink, Georg (siehe Münzer, Kurt) Finkelstein, Maximilian Alexius 386–387 Fischer, Fritz 48–49 Fischer, Hugo 290 Flake, Otto 203 Flex, Walter 34, 80, 166, 381 Fludernik, Monika 164 Ford, Aleksander 127 Forst, Rainer 85, 468 Foucault, Paul Michel 319, 524–527, 535, 541, 546, 548, 557 Frajlich, Anna 345 Frank, Bruno 380 Frank, Leonhard 39, 103–104, 107, 113–114, 118–123, 350, 400, 405, 412 Frank, Paul 421 Frank, Rudolf 405, 413 Franke, Manfred 325 Franz von Assisi (Heiliger) 350 Frei, Bruno 418 Freiligrath, Ferdinand 94 Freise, Matthias 11–14, 17–29, 68 Freud, Sigmund 135 Freund, Winfried 104 Frey, Alexander Moritz 42–43, 413 Freytag, Gustav 294, 297 Frick, Werner 105 Fried, Alfred Hermann 99, 123 Friedell, Egon 418 Friedemann, Heinrich 209, 212 Friedrich II. von Preußen 78–79, 126, 168, 513 Fries, Helmut 35 Friess, Nina 269 Fröschle, Ulrich 35–36 Fuller, Wiliam C. 274 Füllmann, Rolf 104 Fussell, Paul 33 Gagarin, Eugen 193 Gajdis, Anna 311–325 Gall, Alfred 278 Garibaldi, Giuseppe 511 Gärtner, Elfriede 355, 359–360 Gaudy, Franz Freiherr von 93 Gebhardi, Friedrich 101–102 Gehrke, Roland 373 Geißler, Max 495–498, 502–503, 506–509 Genette, Gérard 164
562 George, David Lloyd 49 George, Stefan 166, 207–215, 283, 463–464, 511 Gerlich, Hubert 372 Giblak, Beata 91–102 Gierlak, Maria 364, 370, 373 Giono, Jean 317 Giraudoux, Jean 17, 20–26, 28–29 Gisi, Lucas Marco 451 Glaeser, Ernst 104, 413 Gleichen, Heinrich von 45 Gleichen-Rußwurm, Alexander von 36 Glöckner, Ernst 214–215 Glotz, Peter 220 Gluck, Christoph Willibald von 236, 245 Glunz, Claudia 31, 312 Goethe, Johann Wolfgang von 20–21, 167, 201, 212, 236, 245, 292, 303, 364, 494 Gogh, Vincent van 527, 533 Goldszmit, Henryk 125–144 Gollbach, Michael 46, 106, 408 Golßenau, Arnold Friedrich Vieth von 41, 43, 104, 404–405, 413 Golther, Wolfgang 484 Gołaszewska, Maria 361 Gorki, Maxim 291 Gothein, Percy 209, 212 Gottschalk, Hanns 296 Górny, Maciej 287 Górski, Karol 375 Grabbe, Christian Dietrich 93–94 Graevenitz, Gerhart von 35 Granowsky, Alexander 261 Gransow, Bettina 57 Grass, Günter 126 Griese, Friedrich 339–340, 347 Grimm, Hans 286 Grimmelshausen, Hans Jacob Christoffel von 408–409 Grochocka, Agnieszka 319 Groppe, Carola 213 Großmann, Stefan 418 Gruber, Sabine 283 Grunow-Erdmann, Cordula 374 Grycz, Wolfgang 265 Guanzini, Catherine 433 Guardini, Romano 192 Gundolf, Ernst 212 Gundolf, Friedrich 165, 208–210, 212, 215 Gusdorf, Georges 378
Namenregister Gutjahr, Ortrud 513 Gutschkow, Alexander 269, 273 Haase, Horst 113 Haberland, Detlef 340 Haeckel, Ernst 478–479 Hafner, Gotthilf 205 Hagestedt, Lutz 32, 191 Hahn, Barbara 512 Hahn, Hans Henning 126, 381 Hahn, Karl-Heinz 514, 518 Hakke, Czesław 136 Halbwachs, Maurice 368 Hamdorff, Gustav Wilhelm 294 Hamdorff, Klara 294 Händel, Georg Friedrich 192, 236, 245 Handl, Willi 242–244, 250 Hansen, H. 390 Häntzschel, Günter 36–37, 39, 106–107, 109 Harden, Maximilian 273 Hardenberg, Georg Philipp Friedrich Freiherr von 167, 484 Häring, Wilhelm 93 Harnack, Adolf von 196 Harth, Dietrich 112 Haslmayr, Harald 298 Hašek, Jaroslav 405, 413 Hauptmann, Carl 355 Hauptmann, Gerhart 181, 196, 211, 283, 494 Haushofer, Karl 366 Havelka, Miloš 290 Hawel, Rudolf 418 Hayek, Friedrich August von 271, 460, 462, 472 Hebenstreit, Sigurd 138, 144 Hedwig (Heilige) 126 Heeger, Fritz 388 Heer, Jakob Christoph 448 Heftrich, Eckard 173 Heid, Ludger 241 Heidegger, Martin 183–185 Heiduk, Franz 360 Heimpel, Elisabeth 125, 135 Hein, Alfred 355, 357–358 Heinen, Armin 32 Heinker, Monika 125 Heinrich IV. (Kaiser) 512 Heinrich V. (Kaiser) 512 Heller, Joseph 14 Hellfaier, Rose 92
Namenregister Hellingrath, Norbert von 209–210, 212 Helmes, Günter 40 Hemingway, Ernest 413 Henke, Michael 104 Hentig, Hartmut von 134–135 Hermand, Jost 241, 365 Herrmann, Friedrich-Wilhelm von 183 Herrmann-Neiße, Max 91, 98, 102 Hesse, Agnes 235–236, 245–247, 251 Hesse, Hermann (Pseud. Emil Sinclair) 195–205, 453, 483–485 Hesse, Johannes 200, 203 Hettling, Manfred 168 Heuss, Theodor 486 Heyer, Wolfgang 212 Heym, Georg 48 Hieber, Jochen 517 Hieronymus (Heiliger) 182 Hiller, Kurt 111, 350 Hillmann, Jörg 274 Hilscher, Eberhard 244, 247, 261–262 Hilty, Carl 437 Himmelstein, Klaus 125 Hinc, Alina 372 Hindenburg, Paul von 39, 259 Hirschfeld, Gerhard 32–33, 168, 258, 272 Hirschfeld, Ludwig 415, 419–430 Hitler, Adolf 35, 38, 471, 496 Hitzig, Eduard 93 Hofbauer, Josef 413 Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus 78, 236, 245 Hoffmann, Max 252, 259 Hofmannsthal, Hugo von 418 Hölderlin, Johann Christian Friedrich 182, 236, 245 Holek, Heinrich 418 Holl, Karl 97–98, 103, 110–112, 122–123 Hollender, Martin 293 Holmes, Stephen 462, 472 Holzer, Jerzy 381 Homer 17, 303, 342–343, 494 Hönn, Karl 175 Honold, Alexander 174, 313, 316–317 Honsza, Norbert 36 Hopster, Norbert 166 Horn, Eva 35 Horn, Sabine 263 Hörnigk, Frank 276, 279–280 Hornstein, Ferdinand von 37
563 Hösle, Vittorio 77 Huang, Xingtao 67 Huber, Martin 112, 263 Hübinger, Gangolf 312–313 Huch, Ricarda 283, 511–520 Huelle, Paweł 179 Hugo, Victor 103 Humperdinck, Engelbert 196 Hüppauf, Bernd 33, 271–272 Hüsmert, Waltraud 53 Hussein, Saddam 19 Hütter, Johannes 39 Huysmans, Joris-Karl 189 Ilg, Paul 412 Inglin, Meinrad 447, 453–456 Isidor von Sevilla 73, 75, 83 Jabłkowska, Joanna 370 Jachimowicz, Aneta 399–413 Jacobi, Theodor 91 Jaekel, L. 310 Jaffe, Heinrich 167 Jakowska, Krystyna 344 Janikowski, Tobiasz 327–337, 354 Janiszewska-Mincer, Barbara 366 Jarrah, Ziad 461 Jaruzelski, Wojciech 47 Jaspers, Anke 163–179 Jeismann, Michael 168 Jelitto-Piechulik, Gabriela 511–520 Jenbach, Bela 382 Jentsch, August 403 Jentsch, Carl 91 Jermann, Christoph 77 Jesaja (Prophet) 349 Jessen, Jens 514 Jesus Christus 189, 209, 227, 284, 345, 347, 350, 462 Joachimsthaler, Jürgen 379 Johann, A.E. (siehe Wollschläger, Alfred Ernst Johann) Johannes Paul II. (siehe Wojtyła, Karol Józef) Johannsen, Ernst 46, 104, 413 Jorio, Marco 432 Josting, Petra 166 Julien, Elise 33 Jung, Carl Gustav 200, 202 Jünger, Ernst 32–34, 38–40, 74, 81–84, 86, 151, 177, 181–194, 262, 283, 286–288, 290, 292, 364, 405–406, 494 Jünger, Friedrich Georg 36
564 Justinian I. (Kaiser) 472 Kablitz, Andreas 173, 176, 178 Kaczmarek, Ryszard 353, 383 Kaergel, Hans Christoph 297 Kafka, Franz 197 Kaiser, Gerhard R. 48 Kaiser, Helmut 191 Kalkowski, Eleonore 387 Kała˙ ˛zny, Jerzy 363 Kant, Immanuel 99, 232, 349 Kardach, Magdalena 318–319 Karwat, Janusz 373 Kauko, Miriam 512–513 Keim, Wolfgang 125 Keller, Gottfried 437, 440 Keller, Ulrich 234 Kellermann, Bernhard 218 Kennan, George 315 Kerenskij, Alexander 273 Kersten, Lukas D. 103–124 Kessemeier, Gesa 321 Kessler, Harry Graf 283 Kesting, Marianne 48 Ketelsen, Uwe-K. 166 Kiesel, Helmuth 149–150, 166, 177, 190, 207–208, 288 Killy, Walther 555 Kindt, Tom 113 Kiossev, Alexander 23 Kippenberg, Katharina 515 Kircher, Hartmut 350 Kirchhoff, Gerhard 225 Kisch, Egon Erwin 413 Klaar, Ernst 390 Klages, Ludwig 321 Klatt, Fritz 170–171, 174–177 Klein, Christian 166 Klein, Holger M. 317 Klein-Hähnichen, M. 310 Kleist, Heinrich von 236, 243, 245, 278 Kleist, Reinhard 528, 530, 532, 534, 536 Klentak, Małgorzata 280 Klimas, Agnieszka 231–239 Kling, Thomas 549–552, 555–557 Klinger, Ruth 241 Klopstock, Friedrich Gottlieb 192 Kła´nska, Maria 339–352 Kłosowicz, Krzysztof 241–247 Knoche, Michael 170 Knonau, Gerold Ludwig Meyer von 512 Knötel, Paul 330–331
Namenregister Kobus, Nikolai 557 Koch, Lars 32, 34, 36–37, 40 Koch, Max 96 Kochanowski, Jan 17–20, 22–26, 28–29 Koepke, Cordula 515 Kolb, Eberhard 518 Kolbe, Maksymilian Maria 126 Koltschak, Alexander W. 283–284, 287 Koneczny, Feliks 372 König, Karl 518 Koopmann, Helmut 78 Kopernik, Mikołaj (Kopernikus, Nikolaus) 126 Köppen, Edlef 45–46, 104, 404, 413 Köppen, Fedor von 92, 94 Köppen, Manuel 80 Korczak, Janusz (siehe Goldszmit, Henryk) Korrodi, Eduard 431–432 Korte, Hermann 391, 550, 553 Koselleck, Gerhard 92 Koselleck, Reinhart 99–100 Koslowski, Peter 189 Kosturek, Joanna 345, 347 Ko´sciuszko, Tadeusz 388, 390 Kowal, Grzegorz 11–14, 125–144 Koy, Magdalena 268–269 Kozlowski, Nina 129 Kracauer, Siegfried 413 Krain, W. 310 Kralik, Richard von 387, 418 Kraus, Karl 341, 350, 406, 412, 415, 417–418, 424, 429 Kreis, Georg 436, 445 Krell, Max 43 Kreutz, Rudolf Jeremias 403–405, 412 Krockow, Margarete Regina Louise Gräfin von 322–323 Kroll, Frank-Lothar 375 Krull, Wilhelm 104, 113, 123 Krumeich, Gerd 33, 36, 272, 409, 412 Krummacher, Hans-Henrik 514 Kruse, Wolfgang 34, 331 Kry´s, Marek 353 Kübeck, Blanche 403 Kubiak, Zygmunt 343 Kubin, Wolfgang 66 Kuczynska, F.C. 389 Kuczy´nski, Krzysztof Antoni 107, 355 Kuh, Anton 418 Kuharenoka, Tatjana 298 Kuhn, Konrad J. 432
Namenregister Kühne, Thomas 31, 33 Kunicki, Wojciech 92, 181–193, 293, 314, 353–354 Kürnberger, Ferdinand 415 Kurpiun, Robert 328–330, 333–335 Kurz, Anna Luise 400 Kurzke, Hermann 78, 167–168 Kutzke, Georg 381 Lachowicz, Starko Łodzia 387 Lagerlöf, Selma 304 Landau, Nikolaus von 295 Landauer, Gustav 43 Landmann, Georg Peter 210 Lang, Josef Bernhard 200, 203 Lange, Ilse 232–233, 241–242 Langen, Albert 233, 249 Langenbücher, Wolfgang R. 220 Largiadèr, Rico 431–444 Latzko, Andreas 103–104, 107, 113–119, 121–123, 401, 405, 412 Laudenberg, Beate 293 Lawaty, Andreas 343, 379 Lebow, Richard Ned 52 Leed, Eric John 33 Lehár, Franz 381 Lehmann, Jörg 36 Lehmann, Walter 489 Lemke, Katrin 514 Lengauer, Hubert 346 Lenger, Friedrich 460, 482 Leonhard, Jörn 316, 321 Leonhard, Rudolf 380, 389, 391–394 Leonhard, Stanisław 380, 383–389, 394 Leopold von Bayern (Prinz) 259–260 Leoster, Heinrich 418 Lepper, Marcel 182 Lepsius, Reinhold 212 Lessing, Gotthold Ephraim 278 Lessing, Theodor 74–75 Leutner, Mechthild 56 Levinas, Emmanuel 345 Liang, Qichao 55, 57–62, 64–71 Liebel, Manfred 141–142 Liebermann, Max 196 Liebknecht, Karl 52 Liegle, Josef 209, 212 Lienert, Meinrad 448 Lig˛eza, Wojciech 343, 345 Limberg, Michael 196, 198–199, 201–203 Limpach, Erich 222
565 Linde, Samuel Gottlieb 387 Lindemann, Hans 296 Linden, Marcel van der 34 Linek, Bernard 354 Link, Franz 173 Linsmayer, Charles 437, 447–448 Lissauer, Ernst 348, 478 Littell, Jonathan 14 Loew, Peter Oliver 126 Loose, Gerhard 191–192 Lothar, Ernst 403, 407 Lothar, Rudolf 418 Löwith, Karl 86 Lübbe, Hermann 477 Lubkoll, Christine 355 Lubos, Arno 299 Luckner, Felix Graf von 40 Ludendorff, Erich Friedrich Wilhelm 39, 259, 505 Lukács, Georg 285, 460 Lukas Apostel 209 Luther, Martin 167 Luxemburg, Rosa 126 Ławnikowska-Koper, Joanna 387 Łazuga, Waldemar 372 Maar, Michael 165 Machtan, Lothar 50 Mackensen, August von 154 Mackiewicz, Józef 265–266, 268–272, 275, 277, 279–280 Mahler, Andreas 524, 527 Mahler, Gustav 236, 245 Maierhofer, Waltraud 513, 515 Mailer, Norman 14 Malaparte, Curcio 284 Malberg, Hans 218 Mann, Erika 173 Mann, Golo 513, 515 Mann, Heinrich 166 Mann, Thomas 74, 78–80, 163–179, 203, 215, 321, 360–361 Ma´nczyk-Krygiel, Monika 323 Marc, Franz 209, 527–529, 531, 533, 535, 537, 546, 548 Marchal, Guy P. 434 Margalit, Avishai 70 Marilaun, Karl 418 Marinetti, Filippo Tomaso 528 Markovits, Rodion 413 Markowska-Manista, Urszula 141 Marriot, Emil 418
566 Martínez, Matías 166 Martus, Steffen 165 Marx, Friedhelm 165 Marx, Karl 126, 462–463 Matt, Beatrice von 453–454, 456 Matt, Peter von 445 Mattioli, Aram 433–434 Mattl, Siegfried 415 Mautner, Klara 418 Mayer, Hans 217 Mazurkiewicz, Ewa 445–456 McAleer, Graham 469 Mecklenburg, Norbert 354 Meier, Simone 184 Meierhofer, Christian 31, 80 Meller, Eugen 384 Melzer, Ernst 95 Mendel, Gregor 131 Merger, Gottfried 34 Metzger, Gilbert 57–59, 66, 68 Meunier, Ernst F. 485–486 Meyer, Eduard 479 Miassojedow, Sergei 265–273, 277–278 Michaelis, Karin 418 Michalka, Wolfgang 32 Michels, Volker 196–197, 199 Midgley, David R. 231, 262 Mielczarek, Zygmunt 449 Milewicz, Bolesław 136 Milton, John 192, 481 Mirau, A. 310 Misch, Georg 365 Mises, Ludwig von 460 Mittenzwei, Werner 285 Mitterbauer, Helga 113 Moeschlin, Felix 447–448 Moltke, Helmuth Karl Bernhard von 298 Mombauer, Annika 49 Mommsen, Hans 33 Mommsen, Wolfgang J. 37, 460, 478 Montinari, Mazzino 76, 144 Morwitz, Ernst 212–214 Moser, Hans 421 Moses (Prophet) 131 Mozart, Wolfgang Amadeus 236, 245 Mrozek, Zdzisław 370 Mühlhahn, Klaus 56 Mühsam, Erich 380 Müller, Dominik 452 Müller, Hans-Harald 31–46, 74, 82, 104, 106, 113–114, 123, 249, 408
Namenregister Müller, Karl Alexander von 478, 481 Müller, Margarete 418 Müller-Guttenbrunn, Adam 418 Müller-Rüdersdorf, Wilhelm 310 Münch-Küng, Helen 431 Münzer, Kurt 413 Muschg, Adolf 456 Musil, Robert 82, 197, 452 Napoleon I. (Kaiser) 50, 519 Natter, Wolfgang G. 166 Naumann, Friedrich 196, 482, 486 Naumann, Michael 166 Nawrocki, Witold 384 Nawrot, Tomasz 380, 394 Nayhauss, Hans-Christoph Graf von 36, 107, 293 Nebrig, Alexander 177 Necker, Moritz 490–491 Nerke, Edith 34 Neubauer, Martin 315 Neumann, Elfriede 400 Neumann, Hermann Kunibert 91–102 Neumann, Michael 173 Neumann, Peter 432 Newerly, Igor 125, 131, 135, 138 Nickel, Beatrice 523–548 Nicolai, Walter 268, 274–275 Niekisch, Ernst 193 Niemirowski, Wie´nczysław 249–263 Nietzsche, Friedrich 75–77, 79, 83, 86, 130, 144, 167, 182, 184, 201, 212 Niggl, Günter 378 Nikolaus II. (Zar) 499 Nipperdey, Thomas 459 Norton, Robert E. 475–482 Novalis (siehe Hardenberg, Georg Philipp Friedrich Freiherr von) Nowakowska, Katarzyna 195–205 Nowara-Matusik, Nina 353–361, 381 Nowikiewicz, El˙zbieta 363–378 Nünning, Ansgar 263, 363 Nyland-Verwey, Mea 210 Odermatt, Christine 447–448 Oelmann, Ute 207–215 Oels, David 366 Oelsner, Theodor 101 Okulewicz, Piotr 372 Olejniczak, Józef 345 Olles, Werner 287 Olszewski, Marian 370 Oncken, Hermann 479
Namenregister Orfeusz (Orpheus) 342, 347, 351 Orłowski, Hubert 318, 346–347, 379, 392 Osborne, Sidney 327 Ossietzky, Carl von 43 Ostergaard, Geoffrey 112 Osterhammer, Jürgen 513 Osteroth, Reinhard 523, 527–537, 546 Österreicher, Rudolf 421 Ott, Ulrich 283 Paasche, Hans 412 Paderewski, Ignacy Jan 371 Pahl-Wostl, Claudia 19 Palczewska, Milena 143 Paludans, Jakob 455 Pang, Naiming 68–69 Pasternak, Boris L. 288 Pasteur, Louis 131 Patek, Claire 418 Patoˇcka, Jan 460 Paur, Theodor 91 Peil, Otto 214 Pelger, Gregor 375 Penke, Nils 181, 183, 186 Perutz, Leo 413 Pestalozzi, Johann Heinrich 126, 131 Petraschka, Thomas 186 Petrig Schuler, Eva 437 Petry, Jürgen 311 Pfister, Manfred 80 Pfoser, Alfred 402, 415–430 Philippi, Fritz 486 Picasso, Pablo 537 Pikola, Rudolf 148–149, 161 Piłsudski, Józef 54, 349, 384 Piszczatowski, Paweł 549–557 Planck, Max 196 Platon 181, 212, 304, 359 Plenge, Johann 73–74 Plessner, Monika 513 Plievier, Theodor 46, 104, 405 Plüschow, Günter 37, 40 Poerner, Michael 57 Pohl, Gerhart 148 Pol, Wincenty 385 Polgar, Alfred 413, 418 Pourtalès, Guy de 454 Powers, Kevin 14 Półrola, Małgorzata 370 Praczyk, Małgorzata 372 Preobraschensky, Ewgenij A. 286 Price, Morgan Philips 284
567 Promies, Wolfgang 367 Prümm, Karl 45–46 Przybyszewski, Stanisław 385 Pugatschoff, Eemelian I. 286 Puschkin, Alexander 283 Raabe, Wilhelm 489–490 Radek, Karl B. 285 Radłowska, Justyna 293–310 Ranicki, Marceli (siehe Reich-Ranicki, Marcel) Ranke, Leopold von 512–513 Rappard, William Emmanuel 439 Rascher, Max 114, 412, 436 Rasin, Stepan T. 286 Rathenau, Walter 212 Rathke, Arthur 186 Raupach, Ernst 93 Rawls, John 85, 472 Rduch, Robert 379–395 Redl, Philipp 165–166, 169–170, 173 Redlich, Julianna 483–494 Reibnitz, Barbara von 450 Reich-Ranicki, Marcel 286, 456 Reidel-Schrewe, Ursula 176 Reinhard, Max 261 Reinhard, Wolfgang 56 Remarque, Erich Maria 31, 35, 41–42, 44–45, 80, 104–106, 113, 128, 147–148, 150, 217–228, 262, 286, 317, 405–407, 413, 524, 528, 537–540, 542–548 Renn, Ludwig (siehe Golßenau, Arnold Friedrich Vieth von) Reventlow, Ernst Graf zu 476, 480–481 Reynold, Gonzague de 432–436, 443 Richter, Klaus 259 Richter, Joseph 415 Richthofen, Manfred von 31, 37, 40, 104, 113 Riedel, Wolfgang 104 Rieß, Richard 355–357 Rilke, Rainer Maria 166, 182, 387, 449 Ringelnatz, Joachim 413 Ringer, Fritz 475–476 Rittner, Tadeusz 387 Ritz, Szilvia 113 Roguski, Piotr 385 Röhnert, Jan 363–365 Rohozi´nska, Ewa 373 Rolland, Romain 198, 210–211, 350 Roos, Hans 125, 129, 135 Roos, Ruth 129
568 Roth, Joseph 340–341, 412 Rudnicki, Szymon 377, 500 Rudolph, Andrea 495–509 Rudolph, Katharina 104, 113, 119, 121 Rühmkorf, Peter 224 Rutkeviˇc, Aleksej M. 460 Rybicka, El˙zbieta 363 Rzadkowski, ˛ Ludwik 377 Rzewuski, Paweł 268 Sachs, Shimon 126 Sachsenmaier, Dominic 59 Sachser, Angelika 512 Said, Edward 22, 70 Salin, Edgar 209 Salis, Helene von 517 Sallet, Friedrich von 91, 102 Salomon, Elli 215 Salomon, Ernst von 283, 286 Salten, Felix 403, 415, 417, 420 Salzer, Eugen 483, 485–488, 490–494 Sartre, Jean Paul 182 Sauerland, Karol 47–54, 387 Schaffnit, Carl 492 Schalek, Alice 417–418 Scharrer, Adam 46, 104, 405 Schaukal, Richard von 387 Schauwecker, Franz 35, 38–40, 46 Scheffer-Boyadel, Reinhard von 254 Scheler, Max 232, 459–474 Scheller, Walter 406 Scheu, Robert 418 Scheu-Riesz, Helene 418 Schickele, René 350 Schirokauer, Arno 45 Schlegel, Karl Wilhelm Friedrich 99–100, 192 Schliemann, Heinrich 303 Schlögel, Karl 285, 288, 292 Schmid, Bruno 438 Schmidt, Christoph 254 Schmidt, Erich 484 Schmidt, Ernst A. 75 Schmidt vom Meere, Carl 389 Schmidt-Glintzer, Helwig 56–58 Schmitt, Carl 140, 186 Schmitz, Alexander 182 Schmitz, Oskar A.H. 479 Schmolze, Gerhard 375 Schneider, Jost 355 Schneider, Karl Ludwig 48
Namenregister Schneider, Thomas F. 31, 34–35, 44, 103–109, 113, 121, 217, 312, 537 Schneider, Ute 366 Schneider, Uwe 37 Schnitzler, Arthur 420 Schnitzler, Günter 105 Scholtis, August 160–161 Scholz, Joachim J. 161 Schomlauer, Karl 381–382 Schöning, Matthias 32, 34–35, 38, 40, 73–74, 186, 190 Schopenhauer, Arthur 79, 185, 225, 356, 494 Schrader, Bärbel 45, 218, 222 Schramm, Martin 52–53 Schröer, Arnold 479 Schröter, Manfred 321 Schubert, Ines 513 Schultz, Hans Jürgen 513 Schumann, Andreas 37 Schumann, Willy 179 Schwarz, Werner Michael 415 Schwarze, Michael 546 Schwarzwald, Eugenie 418 Schwertfeger, Bernhard 49 Schwiedrzik, Wolfgang M. 514, 518 Scruton, Roger 460, 464, 468, 472–473 Sczodrok, Karl 148 Seghers, Lu 323 Seidler, Miriam 36 Seiffert, Konrad 413 Sell, Friedrich C. 459–460 Sepp, Hans Rainer 464, 467, 469 Servaes, Franz 418 Sethe, Paul 48 Seyß-Inquart, Richard 387 Shakespeare, William 303, 481 Sienkiewicz, Henryk 495 Sienkiewicz-Jarosz, Ewa 217–228 Sieveking, Heinrich 482 Silbergleit, Arthur 381 Simmel, Georg 270, 460 Sinowjew, Grigorij 286 Slenczka, Notger 313, 315–316 Sługocka, Ludmiła 394 Sobecki, Małgorzata 138 Sobieski, Jan 389–390 Sokrates 465 Solon 472 Sombart, Werner 459–460, 469, 475–478, 480–482
Namenregister Spatz, Christopher 324 Spengler, Oswald 74, 76–79, 86 Sperber, Manès 131 Spiegelberg, Herbert 460, 467, 470 Spitteler, Carl 445–446, 448, 452–453 Spitzer, Daniel 415 Sporer, Wilhelm 390 Sprecher, Thomas 165–166, 173 Sprengel, Peter 207, 494 Sprünglin, Matthias 450 Staackmann, Ludwig 496 Stadler, Ernst 165 Starowieyska-Morstinowa, Zofia 341 Steen, Andreas 56 Steiger, Edgar 380, 390 Stein, Leo 382 Stein zum Altenstein, Karl Freiherr von 511, 518–520 Steinweg, Reiner 52 Stellrecht, Helmut 407 Stern, Fritz 513 Sternad, Christian 460 Sternburg, Wilhelm von 232, 235, 242 Stibbe, Matthew 460, 476–477, 480 Stickelberger-Eder, Margrit 106 Stifter, Adalbert 236, 245 Stockhorst, Stefanie 35, 105 Stoss, Veit 126 Strauss, Oscar 421 Strauß, Franz Josef 48 Streckfuß, Karl 93 Streim, Gregor 190 Strub, Jean-Daniel 110 Stüber-Gunther, Fritz 418 Stur, Jan (siehe Feingold, Hersz) Suchomlinow, Wladimir Alexandrowitsch 273 Sudermann, Hermann 196 Süselbeck, Jan 31 Suttner, Bertha von 52, 103, 113 Sylvanus, Erwin 135 Szabó, János 114 Szarota, Elida Maria 387 Szczepaniak, Andrzej 388, 394 Szewczyk, Gra˙zyna Barbara 353 Szklenar, Hans 555 Šlepikas, Alvydas 324 Tardi, Jacques 529 Tarnowski, Janusz 127 Tavel, Rudolf von 448 Tebben, Katrin 513
569 Teller, Katalin 113 Thomas, Adrienne 413 Thomas, Hans (siehe Zehrer, Hans) Thormaehlen, Ludwig 209, 212 Thoß, Bruno 32, 39, 41 Tirpitz, Alfred Peter Friedrich von 39 Tokarzewska, Monika 265–280 Toller, Ernst 44, 124, 364–366, 374–377 Tolstoj, Lew 14, 456 Torn, Flora 385 Traba, Robert 126, 379, 381 Trakl, Georg 549, 555–556 Treitschke, Heinrich von 459, 495 Trepi´nski, Antoni 373 Trilcke, Peer 551, 556 Troeltsch, Ernst 74, 482 Tuchatschewski, Michail N. 286 Tucholsky, Kurt 41, 124, 279 Tvrdík, Milan 298 Ullrich, Volker 235, 460 Ulreich, Alois 418 Ulrich, Bernd 174 Ungaretti, Giuseppe 528 Unger, Thorsten 364–365, 374 Ungermann, Silvia 125, 127, 130, 136 Unruh, Fritz von 350, 405, 412 Urbanitzky-Woloszczuk, Grete von 387 Utz, Peter 446, 449, 452 Vaget, Hans Rudolf 173 Valery, Paul 182 Vallentin, Berthold 212–213 Varga, Péter 113, 117 Veigl, Hans 421 Verhey, Jeffrey 34 Verwey, Albert 210 Vico, Giambattista 76–78 Vinci, Leonardo da 131 Vogl, Joseph 37–38, 115–116 Völker, Klaus 91 Volkmann, Hans-Erich 32, 39, 41 Vollmer, Jörg 105, 109–110 Volz, Jochim 331 Volz, Wilhelm 327–328 Vondung, Klaus 33, 38, 312, 317 Vonnegut, Kurt 14 Vring, Georg von der 35, 41–44, 104–105, 405, 413 Wachowiak, Stanisław 377 Wackenroder, Wilhelm Heinrich 359–360 Wagenbach, Klaus 218
570 Wägenbaur, Birgit 211 Wagener, Hans 31, 35, 104, 113 Wajda, Andrzej 127 Wallas, Armin A. 345 Wallenstein, Albrecht von 511, 514–518, 520 Walser, Robert 449–452 Walzel, Oskar 512 Wandt, Heinrich 40 Wang, Nianyong 57 Wang, Xiaojing 55–71 Waßmer, Johannes 34, 36, 73–87 Watson, Peter 459, 464 Weber, Alfred 215 Weber, Matthias 387 Weber, Max 460, 482 Wegelin, Peter 433 Weggel, Oskar 56 Wehde, Susanne 164 Wehner, Josef Magnus 46 Weintraub, Katja 125, 130 Weisbrod, Bernd 33 Weiß, Ernst 39 Wells, Herbert George 317 Wende, Waltraud ‚Wara‘ 40 Werber, Niels 32, 174 Wette, Wolfram 103, 110–111 Weyl, Helene 232, 241–242, 249–250 Wiechert, Ernst 311–325 Wiegandt, Ewa 340–342, 344–345 Wiegenstein, Roland H. 42 Wieland, Magnus 170–171 Wierzbi´nski, Maciej 364–365, 370–373, 377 Wilhelm I. (König von Preußen) 37–38, 101 Wilhelm II. (Kaiser) 39, 196, 198, 234, 293, 302, 482, 499 Wille, Ulrich 433–435, 443 Wilson, Thomas Woodrow 54 Wimbauer, Thobias 182 Winckelmann, Johann Joachim 303 Winkler, Heinrich August 93, 459–460 Winter, Max 415, 418 Winterberg, Sonya 324 Wirbitzky, Wilhelm 328, 332–336, 360 Wirrer, Jan 166 Wißkirchen, Hans 78, 174 Witkop, Philipp 163–172, 175, 177–178 Witte, Bernd 354 Wittlin, Józef 339–352
Namenregister Wlassow, Andrej A. 284–285 Wocław, Wojciech S. 345 Wohlleben, Joachim 303 Wojtyła, Karol Józef 459 Wolf, Hugo 355–357 Wolff, Kurt 412 Wolff, Oskar Ludwig Bernhard 92 Wolfskehl, Hanna 211 Wolfskehl, Karl 208, 210–211 Wollschläger, Alfred Ernst Johann 364–370, 377 Woltereck, Richard 198, 201 Wolters, Friedrich 209–210 Wolting, Monika 549 Wołoszyn, Stefan 130 Wörner, Jens 31, 80 Wurzer, Georg 288 Wysling, Hans 163 Xenophon 288 Zahn, Ernst 448 Zechner, Ingo 415 Zehrer, Hans 41 Zeller, Bernhard 514 Zeller, Magnus 252 Zeller, Regine 176 Zeller, Rosmarie 431 Ziegler, Béatrice 432 Zieli´nski, Tadeusz 387 Ziemann, Benjamin 31, 33–34 Zifferer, Paul 401, 418 Zimmerer, Ludwig 387 Zimmermann, Christian von 454–455 Zöberlein, Hans 46 Zola, Émile 166 Zuchhold, Hans 293 Zuchhold, Johann Friedrich Ernst 294–310 Zuckerkandl, Bertha 418 Zuckmayer, Carl 44 Zurlinden, Hans 447 Zweig, Arnold 41, 43–44, 104, 149, 231–239, 241–247, 249–263, 265, 272, 274–280, 401, 405, 408, 412–413 Zweig, Beatrice 232, 235, 241–244 Zweig, Hans 246 Zweig, Stefan 197, 416, 418, 423, 478 Zwerger, Karl Dankwart 381 Zybura, Marek 265, 278–279, 314 ˙ Zarska, Natalia 32 ˙ awski, Jerzy 383 Zuł Žižek, Slavoj 142
Die Autorinnen und Autoren Edward Białek, Prof. Dr. habil., ist Literaturhistoriker am Institut für Germanistik der Universität Wrocław und für die Erforschung von literarischen Gruppierungen, Zeitschriften und anderen Existenzformen des Literaturbetriebs im deutschsprachigen Raum zuständig. Er verfasste einige Monografien und zahlreiche Aufsätze zur Geschichte der neueren deutschen Literatur und gab etliche Sammelbände heraus. Er ist Mitbegründer und Mitherausgeber der Zeitschriften „Orbis Linguarum“ und „Silesia Nova“. Rafał Biskup, Dr. phil., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Germanistik der Universität Wrocław. Forschungsschwerpunkte: deutsche Literatur vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, Literatur aus Schlesien (insbesondere Gustav Freytag und Heinz Piontek), Erforschung von literarischen und kulturellen Grenzräumen. Karsten Dahlmanns, Dr. habil., Professor der Schlesischen Universität Katowice. Ausgewählte Buchveröffentlichungen: Wissenschaftslogik und Liberalismus. Mit dem Kritischen Rationalismus durch das Dickicht der Weltanschauungen, mit einem Geleitwort von Hans Poser (Berlin 2009); Stadt ohne Vernunft. Über die ideologischen Voraussetzungen des Theaterstücks „Der gute Mensch von Sezuan“ von Bertolt Brecht (Norderstedt 2010); Jak sporzadza´ ˛ c tłumaczenia po´swiadczone dokumentów? Przekłady tekstów z Wyboru polskich i niemieckich dokumentów do ´cwicze´n translacyjnych z komentarzem (gemeinsam mit Artur D. Kubacki, Chrzanów 2014); Das verfluchte Amerika. Stefan Georges Verhältnis zu Unternehmertum, Markt und Freiheit (Würzburg 2016). Steffen Dietzsch, Prof. für Philosophie an der Humboldt-Universität Berlin; 1991–2001 Gastprofessuren in Marburg, Hagen und Leipzig, 2001/02 erster Fellow-in-Residence des Kollegs Friedrich Nietzsche in Weimar, 2006 Gründungsdirektor des Kondylis-Instituts für Kulturanalyse (Berlin). Arbeitsgebiete: Kant und Deutscher Idealismus, Moderne Kulturphilosophie, Philoso˙ phische Editionen. Jüngste Buchpublikationen: Zycie w labiryntach. Motyw labiryntu w filozofii kultury po Nietzschem (Toru´n 2012); Denkfreiheit. Über Deutsche und von Deutschem (Leipzig 2016). Matthias Freise, Professor für Slavische Literaturen an der Universität Göttingen, studierte Slavische Philologie und Philosophie an der Universität Hamburg, wo er mit einer Arbeit zu Michail Bachtin promoviert wurde. Nach der ˇ Habilitation zu Anton Cechov an der Universität Oldenburg war er Leiter der Abteilung Literaturwissenschaft am Geisteswissenschaftlichen Zentrum Ostmitteleuropa in Leipzig, bevor er 2002 als Professor an die Universität Salzburg und 2003 an die Universität Göttingen berufen wurde. Seine Forschungsgebiete sind die russische, polnische, tschechische und kroatische Literatur des
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Die Autorinnen und Autoren
19. und frühen 20. Jahrhunderts sowie Literaturtheorie und Komparatistik. Seit 2018 leitet er den Studiengang Weltliteratur an der Universität Göttingen. Anna Gajdis, Dr. habil., Literaturhistorikerin, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Germanistik der Universität Wrocław, Stipendiatin des Deutschen Akademischen Austauschdiensts. Wissenschaftliche Publikationen zur Literatur Ostpreußens, Frauenliteratur (18.–20. Jahrhundert), Reiseliteratur und Rezeption deutschsprachiger Autoren in Polen. Zuletzt erschienen: Baltische Sirenen. Relevanz, Repräsentanz und Identitätsbildung der deutschen Autorinnen im östlichen Ostseeraum um 1800 (Leipzig 2014). Beata Giblak, Dr. phil., Dozentin an der Staatlichen Hochschule in Nysa (Neisse), Fachbereich Germanistik. Promotion über Leben, Werk und Rezeption Max Herrmann-Neißes an der Universität Wroclaw. Kooperationspartnerin am Max-Herrmann-Neiße-Institut in Düsseldorf, Mitarbeit am Projekt: Kritische Edition der Schriften von Max Herrmann-Neiße. Aneta Jachimowicz, Dr. habil., Studium der Germanistik an der Warmia und Mazury-Universität in Olsztyn (Polen). 2006 Promotion an der Warschauer Universität mit einer Arbeit u.d.T. Das schwierige Ganze. Postmoderne und die Trilogie der Entgeisterung von Robert Menasse (erschienen 2007). 2018 Habilitationsschrift Der historische Roman der Ersten Republik Österreich in ideologiekritischer Sicht. Seit 2006 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Warmia und Mazury-Universität in Olsztyn. Mehrfache Stipendienaufenthalte in Berlin, Hamburg und Wien. Herausgeberin u. a. von Imaginationen des Endes (2016), Gegen den Kanon – Literatur der Zwischenkriegszeit in Österreich (2017), Anfang. Literatur- und kulturwissenschaftliche Implikationen des Anfangs (2018). Arbeitsschwerpunkt: österreichische Literatur. Tobiasz Janikowski, Dr. phil., Germanist und Kulturwissenschaftler, Mitarbeiter am Lehrstuhl für Geschichte und Kultur der deutschsprachigen Länder an der Pädagogischen Universität in Krakau. Promotion an der Universität Siegen zum Thema Die blutende Grenze. Literatur und Publizistik zur oberschlesischen Teilung (1922). Wissenschaftliche Interessen und Forschungsschwerpunkte: das kulturelle Phänomen der deutsch-polnischen Grenzgebiete, kollektive Identität multiethnischer Regionen, Wirkung und Bedeutung der kulturellen Interferenz, digitale Medien vor dem Hintergrund kultureller und sozialer Veränderungen, Emotionalisierung in der Literatur. Ewa Jarosz-Sienkiewicz, Dr. habil., Professorin der Universität Wrocław, am Lehrstuhl für die Gegenwartsliteratur Deutschlands am Germanistischen Institut der Universität Wrocław tätig. Autorin von zahlreichen Veröffentlichungen über Breslau in schlesischen Romanen. Forschungsschwerpunkte: Heinz Pionteks Leben und Werk, politisches Engagement in der deutschsprachigen Literatur nach 1945, Motive der Stadt und Alltagsmotive in der zeitgenössischen Literatur Deutschlands.
Die Autorinnen und Autoren
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Anke Jaspers ist Literaturwissenschaftlerin und wissenschaftliche Assistentin am Institut für Germanistik der Universität Graz. Bis 2019 leitete sie an der Professur für Literatur- und Kulturwissenschaft der ETH Zürich (Prof. Dr. Andreas Kilcher) die wissenschaftliche Erschließung im Digitalisierungsprojekt der Lese- und Gebrauchsspuren in der Nachlassbibliothek Thomas Manns. Davor promovierte sie am Institut für deutsche Literatur der Humboldt-Universität zu Berlin (Prof. Dr. Steffen Martus) zur Verlagspraxis im geteilten Deutschland am Beispiel des Suhrkamp Verlags. Gabriela Jelitto-Piechulik, Dr. phil., wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Literaturwissenschaften der Philologischen Fakultät der Universität Opole. Arbeitsschwerpunkte: deutschsprachige Literatur des 19., 20. und 21. Jahrhunderts, historische Verortung von literarischen Texten, Widerspiegelung der Reformationsbewegung in literarischen Texten, Frauenbewegung des 20. Jahrhunderts, Migration und Integration, europäischer Völkerfrühling, schlesische Literatur, Didaktisierung von Literatur. Lukas D. Kersten, B.A.-Studium Germanistik, Vergleichende Literaturund Kulturwissenschaft sowie Philosophie an der Rheinischen FriedrichWilhelms-Universität Bonn und M.A.-Studium Neuere deutsche Literatur, Kultur, Medien an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Agnieszka Klimas, M.A., geb. 1991, Germanistin, Literaturwissenschaftlerin. Im Jahre 2015 Abschluss des Germanistikstudiums an der Universität Opole (zwei Fachgebiete: Lehramt und Sprachwissenschaft, Abschluss mit Auszeichnung); seit 2015 Promotionsstudium im Bereich der Literaturwissenschaft an der Universität Opole; seit Februar 2017 wissenschaftliche Assistentin am Institut für Germanistik der Universität Opole. Forschungsschwerpunkte: Literarische Übersetzungen, Literatur und Kultur der Jahrhundertwende (19./20. Jahrhundert), Schlesische Literatur, Interkulturalität, Werk und Leben Arnold Zweigs. Maria Kła´nska, Prof. Dr. habil., Leiterin des Lehrstuhls Deutsche Literatur am Germanistischen Institut der Jagiellonen-Universität Krakau. Humboldt-Stipendiatin, Herder-Preisträgerin, Publikationen zu österreichischer Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts; Galizien und der Bukowina in deutschsprachiger Literatur; Ostjudentum; Nachleben der Antike und der Bibel in der modernen Literatur. Letzte Monografie: Mi˛edzy pami˛ecia˛ a wyobra´znia. ˛ Uniwersum poezji Rose Ausländer (2015). Krzysztof Kłosowicz ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Schlesischen Universität Katowice. Er promovierte mit einer Dissertation über die Frauenporträts in den Romanen Arnold Zweigs. Seinen Forschungsbereich bildet die deutschsprachige Literatur der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Grzegorz Kowal, Dr. habil., Professor für Literaturwissenschaft am Institut für Germanische Philologie der Universität Wrocław und an der Hochschule
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Die Autorinnen und Autoren
für Linguistik in Cz˛estochowa. Dissertation zur polnischen Rezeption Friedrich Nietzsches in der Zwischenkriegszeit; Habilitationsschrift u.d.T. Anatomie der kulturellen Legende. Ni˙zy´nski – Gründgens – Dönhoff – Piłsudski (Kraków 2014). In der letzten Zeit Janusz Korczak als wichtigster Forschungsgegenstand (Korczak in der Legende, Korczak in der deutschen Rezeption, Ähnlichkeiten und Unterschiede in der Denkart Nietzsches und Korczaks). Wojciech Kunicki (Jg. 1955), Professor am Germanistischen Institut der Universität Wrocław. Arbeitsgebiete: Wissenschaftsgeschichte, Regionalität, Ernst Jünger, Goethe. Er hat eine dreibändige Geschichte der literaturwissenschaftlichen Germanistik in Polen mitherausgegeben (2016–2018). 2019 legte er eine Monografie zur Germanistik an der königlichen Universität in Breslau vor. 2020 erscheint unter seiner Beteiligung eine neue, umfangreich kommentierte Übersetzung der Lehrjahre Goethes. Rico Largiadèr, geb. 1968, hat Deutsche Sprach- und Literaturwissenschaft, Philosophie und Pädagogik an der Universität Zürich studiert. Er ist Gymnasiallehrer für Deutsch und Philosophie und Berufsfachschullehrer für den allgemeinbildenden Unterricht. An der Universität Bern promovierte er bei Prof. Dr. Yahya Elsaghe zum Thema Das schweizerische Literatursystem und seine Literaturproduktion im Zeitalter des Nationalsozialismus. Ewa Mazurkiewicz, Dr. habil., Professorin der Schlesischen Universität Katowice. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören: Deutschschweizer Literatur, interkulturelle Aspekte der deutschsprachigen Literatur und Literatur nach 1945. Promotion mit einer Studie zum Werk Paul Nizons; Beiträge u. a. über Peter Bichsel, Hugo Loetscher, Urs Widmer, Melinda Nadj Abonji, Artur Becker. Letzte Buchveröffentlichung: Die gespiegelte Schweiz. Erzählte Zeitgeschichte in ausgewählten Romanen von Jakob Bosshart, Meinrad Inglin, Kurt Guggenheim und Charles Lewinsky (Frankfurt a. M. 2017). Hans-Harald Müller, Professor (em.) für Neuere deutsche Literatur an der Universität Hamburg, Gastprofessuren in St. Louis, Johannesburg, Cambridge (St. John’s College) und Rostock. Forschungs- und Publikationsschwerpunkte: Wissenschaftsgeschichte, Theorie und Geschichte der Literaturwissenschaft, Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, Poetik, Strukturalismus und Narratologie. Zuletzt: Kommentierte Briefeditionen aus dem Scherer-Kreis. Publikationen unter http://www.hans-harald-mueller.de/. Beatrice Nickel, Dr. phil., akademische Oberrätin a.Z. am Lehrstuhl für Komparatistik der Ruhr-Universität Bochum. Forschungsschwerpunkte: die Literatur der Frühen Neuzeit, des 18. und 20. Jahrhunderts, Intermedialität, Rezeption, Interkulturalität, Globalität der Literatur, literarische Repräsentationen von Kulturlandschaften. Publikationen in Auswahl: Tendenzen der Globalisierung der literarischen Kommunikation im Europa der Frühen Neuzeit: Diskurstypen, Gattungen und Motive (2014); Texte inmitten der Künste – Intermedialität in romanischen, englischen und deutschen Gedichten nach 1945
Die Autorinnen und Autoren
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(Köln 2015); Deutsch-französische Chronotopoi des Ersten Weltkrieges (hg. zusammen mit Marina Ortrud M. Hertrampf, Tübingen 2019). Wie´nczysław Niemirowski, geb. 1959, Dr. phil., Dozent am Institut für Neuphilologie der Maria-Curie-Skłodowska-Universität in Lublin. Die Dissertation Der Schriftsteller Ola Hansson in Berlin 1890–1893. Untersuchungen zu literarischen Wechselwirkungen zwischen Skandinavien und Deutschland erschien im Jahr 2000 in Buchform. Verfasser von rund 40 wissenschaftlichen Beiträgen. Die Monografie Für Führer, Volk und Reich: Schriftsteller und Literaturpolitik im nationalsozialistischen Deutschland (Lublin 2015) ist dem Apparat der Steuerung und der Kontrolle der Literatur im nationalsozialistischen Deutschland gewidmet. Im Druck erschienen rund 4.500 Seiten seiner Übersetzungen. Robert E. Norton (1960), Professor für Germanistik der University of Notre Dame, Autor von Secret Germany. Stefan George and His Circle (Cornell 2002), The Beautiful Soul: Aesthetic Morality in the Eighteenth Century (Cornell 1995), Herder’s Aesthetics and the European Enlightenment (Cornell 1991). Die neueste Monografie zum Thema The Crucible of German Democracy. Ernst Troeltsch and the First World War. Katarzyna Nowakowska, Dr. habil., studierte Germanistik an der Universität Wrocław; 2002 Promotion (veröff. Dissertation: Hermann Hesse w poszukiwaniu własnej to˙zsamo´sci. Bohaterowie literaccy jako transformacje ich autora, Wrocław 2004). Seit 2002 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Warschau und Leiterin des Universitätskollegs zur Ausbildung von Deutschlehrern der Universität Warschau. Forschungsschwerpunkte: Leben und Werk von Hermann Hesse, österreichische Literatur der Gegenwart, deutsche Literatur in Schlesien im 20. Jahrhundert, Rezeption der deutschsprachigen Literatur in Polen nach 1945, Literaturdidaktik. Zuletzt erschienen: Oblicza i konteksty to˙zsamo´sci w literaturze niemieckoj˛ezycznej XX i XXI wieku (Wrocław 2013). Nina Nowara-Matusik, Dr. habil., Germanistin, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Literaturwissenschaft der Schlesischen Universität Katowice, Übersetzerin. Forschungsschwerpunkte: Leben und Werk von Eberhard Hilscher, Künstlerproblematik in der Literatur, deutschsprachige Literatur von Frauen, Phantastik, Literatur in Oberschlesien. Seit 2019 hauptverantwortliche Redakteurin der Zeitschrift „Wortfolge. Szyk Słów“. Neueste Veröffentlichung: Facetten des Künstler(tum)s in Literatur und Kultur. Studien und Aufsätze (Berlin 2019). Homepage: www.researchgate.net / profile / Nina_Nowara-Matusik. El˙zbieta Nowikiewicz, Dr. phil., ist am Institut für Kulturwissenschaften an der Kazimierz-Wielki-Universität in Bydgoszcz tätig. Ihr Interesse gilt besonders der deutschsprachigen Kultur und Literatur in der Provinz Posen. Mit Bezug zum Schwerpunktthema erschienen u. a. Aufsätze über das deutsche Theaterleben in Bromberg, Zeitschriftenartikel und folgende Sammelbände:
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Die Autorinnen und Autoren
Czytanie Bydgoszczy. Bromberg erlesen (2011), Literarische Topographien in Ostmitteleuropa bis 1945 (2014). Weiterhin veröffentlicht sie Beiträge über deutsch-polnische Themen. Ute Oelmann, Dr. phil., Germanistin, promovierte 1978 mit der Arbeit Deutsche poetologische Lyrik nach 1945, war Dozentin und Lehrbeauftragte in Bristol, Tübingen, Gießen und Stuttgart. Bandbearbeiterin der Großen Stuttgarter Hölderlin-Ausgabe. Von 1986 bis 2014 Leiterin des Stefan George-Archivs in der Württembergischen Landesbibliothek in Stuttgart, u. a. mit der Edition der kritischen George-Ausgabe (Klett-Cotta) beschäftigt und Mitherausgeberin des „George-Jahrbuchs“ sowie des Handbuchs Stefan George und sein Kreis. 2018 erschien als Ergänzung und Abschluss der Ausgabe der Sämtlichen Werke die Edition aus dem Nachlass u.d.T. Von Kultur und Göttern reden; die neueste Herausgabe: Stefan George – Ernst Morwitz. Briefwechsel (1905–1933) (zusammen mit Carola Groppe, 2020). Weitere Veröffentlichungen zu Hölderlin, George-Kreis sowie Lyrik des 20. Jahrhunderts. Alfred Pfoser, geb. 1952. Studium der Germanistik, Geschichte und Publizistik in Salzburg. 1998 bis 2007 Leiter der Büchereien Wien, von 2007 bis 2016 Leiter der Druckschriftensammlung und stellvertretender Direktor in der Wienbibliothek im Rathaus. Zahlreiche Publikationen zur österreichischen Kultur- und Literaturgeschichte, z. B. Zur Eleganz des runden Leders. Wiener Fußball 1920–1965 (Göttingen 2008), Die Vermessung Wiens. Lehmanns Adressbücher 1859–1942 (Wien 2011), Im Epizentrum des Zusammenbruchs. Wien im Ersten Weltkrieg (Wien 2013), Die erste Stunde Null (Wien 2017), Otto Wagner: Tagebuch 1915–1918 (Wien 2019). Paweł Piszczatowski, Dr. habil., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Germanistischen Institut der Universität Warschau. Seine Forschungsinteressen umfassen Grenzgebiete zwischen Literatur, Philosophie und Theologie, die Rezeption der mittelalterlichen Kultur in der Zeit nach der Aufklärung mit besonderer Hervorhebung der mystischen Tradition, die Poetik der Unsagbarkeit in der Shoah-Literatur, sowie interdisziplinäre Studien zum Posthumanismus. Justyna Radłowska, Dr. phil., ist Literaturwissenschaftlerin am Institut für Germanistik der Universität Wrocław. Ihr Forschungsschwerpunkt ist die Geschichte der polnisch-österreichischen Kulturbeziehungen; sie befasst sich darüber hinaus mit den Strategien der literarischen Übersetzung und mit der Theorie der Literaturvermittlung. Sie verfasste eine Monografie über den in Wien wirkenden polnischen Emigrationsdichter Bonifacy Miazek ˛ und viele Aufsätze zur zeitgenössischen deutschsprachigen Literatur und zu ihrer Rezeption in Polen. Sie betreute als Herausgeberin mehrere Sammelwerke und Editionen von literarischen Texten. Robert Rduch, Dr. habil., Germanist, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Literaturwissenschaft der Schlesischen Universität Katowice, Forschungsschwerpunkte: deutsche Literatur und Kultur Schlesiens im 19. und
Die Autorinnen und Autoren
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20. Jahrhundert, Deutschschweizer Literatur, Expressionismus, deutsch-polnische Literaturkontakte. Julianna Redlich, seit 2019 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Deutsche Literaturgeschichte bis 1848 am Institut für Germanistik der Universität Wrocław. Im Dezember 2018 verteidigte sie ihre Doktorarbeit zum Thema Der vergessene Meinungsstifter. Carl Busse (1872–1918) – Schriftsteller, Literaturkritiker, Publizist. Sie ist Alumna des DAAD-Programms Vladimir Admoni-Doktorandenschule, sowie des Programms Studienkolleg zu Berlin der Studienstiftung des Deutschen Volkes und der Hertie-Stiftung. Andrea Rudolph, Prof. Dr. habil., Germanistin an der Universität Opole und wissenschaftliche Leiterin des Johann-Heinrich-Voß-Literaturhauses in Penzlin. Buchveröffentlichungen, Editionen und wissenschaftliche Beiträge zu Thomas Mann, Arnold Zweig, Hans Fallada, Friedrich Hebbel, Johann Heinrich Voß, zu Aspekten der Kleist-Rezeption im 20. Jahrhundert, zum Wiener Theater, zu deutsch-polnischen Literaturbeziehungen sowie zu Teilaspekten schlesischer Literatur- und Kulturgeschichte. Wissenschaftliche Reihenherausgaben: „Kulturgeschichtliche Beiträge. Quellen und Forschungen“ (gemeinsam mit Ute Marggraff) und „Silesia im europäischen Bezugsfeld“ (gemeinsam mit Maria Katarzyna Lasatowicz). Karol Sauerland, Prof. Dr. habil., tätig an den Universitäten Warszawa und Toru´n; Gastprofessuren u. a. in Zürich (ETH), Mainz, Frankfurt a. M. (FritzBauer-Institut), Berlin (FU), Amiens, Hamburg. Zahlreiche Buchpublikationen, u. a. Polen und Juden zwischen 1939 und 1968 (Berlin 2004), Literatur- und Kulturtransfer als Politikum am Beispiel Volkspolens (Frankfurt a. M. 2006), Dreißig Silberlinge. Das Phänomen der Denunziation (Frankfurt a. M. 2012), Auch eine Literaturgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts. Der Aufstieg der deutschen Sprache zu einer Kultursprache (Berlin 2015), Együtt, Egyedül. A Szolidaritás naplója (ein Solidarno´sc´-Tagebuch, Budapest 2015), über 300 Artikel, Essays und Rezensionen. 1994 Humboldt-Preis, 2015 Petöfi-Preis Budapest. Monika Tokarzewska, Professorin am Germanistischen Lehrstuhl der Nikolaus Kopernikus-Universität Toru´n in Polen, studierte germanische sowie polnische Philologie an der Warschauer Universität. 2006 Promotion über die Verschränkungen zwischen Literatur und Soziologie bei Georg Simmel. Dezember 2016: Habilitation über kosmologische Metaphern in der Philosophie und Literatur um 1800. Weitere Interessenschwerpunkte: Gulag- und ShoahLiteratur sowie deutsch-polnische Komparatistik. Xiaojing Wang, Dr. phil., wurde 2013 an der Universität Göttingen im Fach Komparatistik promoviert. 2014 wurde sie im Rahmen des Förderschwerpunkts „Deutsch als Wissenschaftssprache“ mit dem Dr.-Walther-LiebehenzPreis ausgezeichnet. Seit 2016 ist sie Fachberaterin und Koordinatorin des Bachelor-Studiengangs „Weltliteratur“ der Universität Göttingen. Ihre For-
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Die Autorinnen und Autoren
schungsinteressen liegen im Bereich Dialogical Humanities und der theoretischen Konstruktion der Weltliteratur. Johannes Waßmer, Dr. phil., geb 1983. Studium der Neueren und Älteren deutschen Literatur und der Philosophie an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Derzeit Mitarbeiter ebenda am Lehrstuhl für Geschichte der Frühen Neuzeit (Prof. Achim Landwehr). Promotion zur Phänomenologie der Beschleunigung und Metaphysik der Geschichte in Westfront-Romanen des Ersten Weltkriegs (Rombach 2018). Veröffentlichungen u. a. zu Martin Buber und Ernst Jünger, zu expressionistischen Zeitschriften und Literaturcomics. Derzeitige Forschungsarbeiten zur Ästhetik des Wartens, zu Reisenetzwerken und zur „Präsenz von Zeichen“.