Die Mobilisierung der Poesie: Literatur und Krieg um 1750 9783110613575, 9783110609479

Ausgezeichnet mit dem Scherer-Preis 2018 The Silesian Wars (1740–1763) initiated developments that would prove centra

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German Pages 505 [506] Year 2019

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Table of contents :
Dank
Inhaltsverzeichnis
Einleitung: Literatur und Krieg um 1750
Teil I. Krieg und Antike: Die Genese patriotischer Republiken
Einleitung
1. Nord/Süd – Krieg/Kunst: Antike Dichotomien seit dem Humanismus
2. Pluralisierungen: Umbau der Antikenordnung im 18. Jahrhundert
Teil II. Krieg und Literaturstreit: Konkurrenz nationaler Poetiken
Einleitung
1. Leipzig/Wien: Poetik des nationalen Epos
2. Leipzig vs. Zürich: Dynamisierungen des Nationaldiskurses
3. Berlin: Poetik der nationalen Lyrik
Teil III. Krieg und Lyrik: Ästhetik und Schlesische Kriege
Einleitung
1. Koordinaten der politischen Ode
2. Pietistische und patriotische Liebe (Lange, Montesquieu)
3. Poetik des Patriotismus: Die Erfindung des Kriegslieds
4. Eine Parallelgeschichte: Weibliche Kriegsdichtung um 1750
Generalisierungen: Krieg, Lyrik und Nation bei Herder
Anhang
Literaturverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Personen- und Werkregister
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Die Mobilisierung der Poesie: Literatur und Krieg um 1750
 9783110613575, 9783110609479

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Annika Hildebrandt Die Mobilisierung der Poesie

Studien zur deutschen Literatur

Herausgegeben von Georg Braungart, Eva Geulen, Steffen Martus und Martina Wagner-Egelhaaf

Band 220

Annika Hildebrandt

Die Mobilisierung der Poesie

Literatur und Krieg um 1750

Gedruckt mit Unterstützung des SFB 644 „Transformationen der Antike“ und der Deutschen Forschungsgemeinschaft.

ISBN 978-3-11-060947-9 e-ISBN (PDF) 978-3-11-061357-5 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-061220-2 ISSN 0081-7236 Library of Congress Control Number: 2019934870 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2019 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: jürgen ullrich typosatz, Nördlingen Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Dank Die vorliegende Arbeit wurde unter dem Titel Kriegsgemeinschaften. Literatur und Politik um 1750 am 1. September 2017 von der Philosophischen Fakultät II der Humboldt-Universität zu Berlin als Dissertation angenommen. Für die Publikation wurde der Text geringfügig überarbeitet. Die Arbeit an dieser Studie hat mir die Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts von ihrer kriegerischen Seite her erschlossen. Auf diesem Weg haben mich wertvolle Unterstützer begleitet. Die ersten Perspektiven auf die Schlachtfelder der Aufklärung hat mir mein Doktorvater Prof. Dr. Steffen Martus eröffnet, der mir seither ein unersetzlicher Gesprächspartner gewesen ist. Seine Fähigkeit, ein unerschöpfliches Wissen zum 18. Jahrhundert in all seinen Facetten mit klaren Linien zu durchziehen, wird mir immer ein Vorbild sein. Die Förderung von Prof. Dr. Andrea Polaschegg auf die Zeit der Dissertation zu reduzieren, wäre undenkbar. Durch sie habe ich seit den ersten Jahren meines Studiums literaturwissenschaftlich sehen gelernt. Meinen beiden Betreuern gilt darum mein erster Dank. In Berlin durfte ich viele inspirierende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler kennenlernen, die diese Arbeit erst möglich gemacht haben. Prof. Dr. Ernst Osterkamp hat mir die deutsche Literaturgeschichte erschlossen; PD Dr. Felix Mundt und Prof. Dr. Bernd Roling haben mir die Freiheit von Latinisten gezeigt, die den Schritt in die Neuzeit wagen. Caroline Forscht, Kaspar Renner, Eva Seemann, Prof. Dr. Carlos Spoerhase, Erika Thomalla und Daniel Zimmer werden in diesem Buch viele ihrer Anregungen wiederfinden. Mit Dr. Charlotte Kurbjuhn und Dr. Kai Schöpe konnte ich stets sowohl die ernste als auch die fröhliche Wissenschaft genießen. Und nur Dr. Kathrin Wittler kann ermessen, wie viele Ideen und Thesen auf unseren begeisterten gedanklichen Streifzügen durchs 18. Jahrhundert zum ersten Mal formuliert wurden. Von der komplexen literarischen und politischen Topographie der Aufklärung ließe sich gleichwohl nicht von einem einzigen Ort aus reden. Ich danke daher den Forscherinnen und Forschern, die andere Zentren des 18. Jahrhunderts für mich noch lebendiger werden ließen: Dr. Ute Pott vom Gleimhaus Halberstadt, Prof. Dr. Elisabeth Décultot und Dr. Jana Kittelmann aus Halle sowie Dr. Wolfgang Göderle, PD Dr. Thomas Wallnig und der Runde der „Wiener Gespräche für Aufklärungsforschung“, die ihre beeindruckenden Kenntnisse der habsburgischen Kulturgeschichte mit mir teilten. Den institutionellen Rahmen, in dem diese Studie entstanden ist, bildete der SFB 644 „Transformationen der Antike“. Diesem Forschungsverbund bin ich nicht nur deshalb zu Dank verpflichtet, weil er meine Arbeit finanziell ermöglicht hat. Zugleich etablierte er produktive Räume des wissenschaftlichen Austauschs, allen voran im Integrierten Graduiertenkolleg. Sorglosigkeit bei der Drucklegung

https://doi.org/10.1515/9783110613575-203

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Dank

und großen wissenschaftlichen Stolz verdanke ich der Richard M. Meyer-Stiftung, die meine Dissertation mit dem Wilhelm-Scherer-Preis des Jahres 2018 ausgezeichnet hat. Den sicheren Boden für diese Arbeit haben mir von Beginn an auch andere wertvolle Menschen bereitet. Dieter Schreier hat mich zur Germanistik angestiftet. Kathrin Wittler, Kai Schöpe, Marco Riedel und Nora Henneberg-Sprekeler waren und sind einzigartige Freunde. Rückhalt und Kraft habe ich immer bei meiner Familie gefunden: bei meinen Schwiegereltern, bei meinem Bruder und ganz besonders bei meinen Eltern. Mit Georg Gremske, soviel ist schließlich gewiss, würde ich mich auf jeden Weg aufmachen. Berlin, im Winter 2018

Inhaltsverzeichnis Einleitung: Literatur und Krieg um 1750 1 1 Krieg und Literaturgeschichte: Dynamisierungen 1 2 Krieg, Literatur und Gemeinschaft: Affektivierungen 12 3 Krieg und literarisches Feld: Konkurrenzen 17

Teil I Krieg und Antike: Die Genese patriotischer Republiken 1

2 2.1 2.2 2.2.1 2.2.2 2.3 2.3.1 2.3.1.1 2.3.1.2 2.3.2 2.3.2.1 2.3.2.2

Nord/Süd – Krieg/Kunst: Antike Dichotomien seit dem Humanismus

1.2 1.3

28

Pluralisierungen: 52 Umbau der Antikenordnung im 18. Jahrhundert Rom gegen Rom (Montesquieu) 55 Ein Seitenblick: Das englische Rom (Polybios, Machiavelli, Bolingbroke) 69 Republik und Verfassung 71 Römische virtù und englischer spirit 79 Kriegsgemeinschaften: ‚Neue Antiken‘ um 1750 (Montesquieu, Rousseau) 92 Das principe der Republik: Konzeptuelle Pluralisierung 94 Krieg und Republik 96 Krieg und Liebe 105 Die esprits der Republiken: Kulturelle Pluralisierung 118 Differenzierungen: Rom, Sparta, Athen 120 Zwischen den Kategorien: Germanen und Goten 130

Teil II Krieg und Literaturstreit: Konkurrenz nationaler Poetiken 1 1.1

21

139

Leipzig/Wien: Poetik des nationalen Epos 148 Epik und Reich I: Habsburgische Perspektiven (Maria Theresia-Epik) 153 Epik und Reich II: Sächsisch-habsburgische Allianzen (Gottsched, Scheyb) 162 Epik und Reich III: Nationale Literaturgeschichten (Gottsched, Bodmer) 177

VIII

Inhaltsverzeichnis

2 2.1 2.2

Leipzig vs. Zürich: Dynamisierungen des Nationaldiskurses Diskrepante Germanen (Wieland, Schönaich) 194 Diskrepante Perspektiven (Bodmer, Wieland) 205

3 3.1 3.2

Berlin: Poetik der nationalen Lyrik 217 Tyrtaios: Ortswechsel (Lessing, Ramler, Friedrich II.) Barden: Gattungswechsel (Lessing, Bodmer, Addison)

Teil III Krieg und Lyrik: Ästhetik und Schlesische Kriege 1 1.1

192

224 245

261

1.2.1 1.2.2

Koordinaten der politischen Ode 271 Ästhetik, Affekt, Ode: Hallische Assoziationen (Lange, Baumgarten) 271 Kombinatorik und Steigerung: Ein preußischer Königspsalm (Pyra) 277 Bonum: Poetik der Liebe 279 Malum: Poetik der Rache 291

2

Pietistische und patriotische Liebe (Lange, Montesquieu)

1.2

300

3 3.1 3.1.1

Poetik des Patriotismus: Die Erfindung des Kriegslieds 308 Der Grenadier und sein Vaterland 309 Charakter: Kirchenlied und Kriegslied (Gleim, pietistisches Lied) 313 3.1.2 Metonymische Relationen: Predigt und Kriegslied (Gleim, Sack, Abbt) 327 3.1.2.1 Kriegspredigten: Gott wahrnehmen 332 3.1.2.2 Kriegslieder: Das Vaterland wahrnehmen 337 3.1.2.3 Kriegsphilosophie: Das Vaterland evozieren 344 3.2 Literarische Liebe: Anakreontik und Kriegslied 355 3.2.1 Geselligkeiten: Krieg und Liebe in der musikalischen Poesie (Gleim, Ramler) 358 3.2.2 Krieg und Liebe im Berliner Lied (Gleim, Krause) 366 3.2.3 Krieg und Liebe in der geselligen Ode (Gleim, Hagedorn, Klopstock) 376 4

Eine Parallelgeschichte: Weibliche Kriegsdichtung um 1750

Generalisierungen: Krieg, Lyrik und Nation bei Herder

406

390

Inhaltsverzeichnis

Anhang

435

Literaturverzeichnis 437 Abkürzungen 437 Quellen 438 Forschungsliteratur 449 Abbildungsverzeichnis 486 Personen- und Werkregister 487

IX

Einleitung: Literatur und Krieg um 1750 1 Krieg und Literaturgeschichte: Dynamisierungen Im Jahr 1793 begründete der preußische Publizist Johann Wilhelm von Archenholz das Journal Minerva, das die deutschen Leser mit den neuesten Informationen zur Französischen Revolution versorgen sollte.1 Dabei ließ er sich nicht den Hinweis darauf nehmen, dass auch das eigene Land auf eine grundlegende Umwälzung zurückblicken könne, die sich jedoch auf anderem Gebiet ereignet habe. Gleich der erste Band der Minerva brachte einen Beitrag, der schon im Titel eine „Revolution der deutschen Litteratur in der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts“ postulierte. Unter dieser Überschrift präsentierte Archenholz erste Auszüge aus einem eigenen Text, der schon seit einiger Zeit mit Spannung erwartet worden war. So konnten seine Leser hier vorab einen Eindruck davon gewinnen, dass er die zweite Ausgabe seiner populären Geschichte des siebenjährigen Krieges in Deutschland (1793, zuerst 1788) um ein selbstbewusstes kulturgeschichtliches Narrativ ergänzt hatte:2 Dreißig Jahre nach dem Friedensschluss erschien der dritte und letzte der Schlesischen Kriege, in denen die Machtverhältnisse im Alten Reich zwischen 1740 und 1763 durch langwierige Kämpfe neu austariert worden waren, dem ehemaligen Offizier nicht nur als das zentrale politische Ereignis des endenden Jahrhunderts.3 Gleichzeitig deutete Archenholz den Streit zwischen dem preußischen König Friedrich II., dem Wiener Kaiserhof unter Maria Theresia und Franz Stephan I. sowie ihren jeweiligen Verbündeten im Alten Reich und in

1 Johann Wilhelm von Archenholz, [Vorrede]. In: Minerva. Ein Journal historischen und politischen Inhalts, hg. von dems., vormals Hauptmann in Königl. Preußischen Diensten, Bd. 1, 1792, S. 1 f., hier: S. 1. 2 Die erste, wesentlich kürzere Fassung war 1788 in einem Berliner Kalender, dem HistorischGenealogischen Calender oder Jahrbuch der merkwürdigsten neuen Welt-Begebenheiten für 1789, bei Haude und Spener erschienen. 1793 legte Archenholz die hier angepriesene Ausgabe vor, die seitdem als maßgeblich gilt. Vgl. Johannes Kunisch, Überblickskommentar zu Johann Wilhelm von Archenholz, Geschichte des Siebenjährigen Kriegs (1793). In: Aufklärung und Kriegserfahrung. Klassische Zeitzeugen zum Siebenjährigen Krieg, hg. von Johannes Kunisch, Frankfurt a. M. 1996, S. 757–790, hier: S. 757–766. 3 Vgl. Franz Fromholzer, Jörg Wesche, „So erschreklich du bist, sind schreklicher oft deine Folgen“. Ansätze zur Inventur einer Nachkriegsliteratur im 18. Jahrhundert (Johann Wilhelm v. Archenholz und Jakob Michael Reinhold Lenz). In: Krieg und Frieden im 18. Jahrhundert. Kulturgeschichtliche Studien, hg. von Stefanie Stockhorst, Hannover 2015, S. 639–655, hier: S. 645 f.  





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Einleitung: Literatur und Krieg um 1750

Europa als die Triebfeder einer „Geistes-Revolution“, wie sie noch niemals „schneller und bewundrungswürdiger“4 abgelaufen sei. Anzeichen für diese geistige Revolution sah Archenholz allenthalben. Besonders den Siebenjährigen Krieg (1756–1763) entwarf er in der Retrospektive als einen Zeitraum fieberhafter Aktivität, der in allen Wissenschaften und Künsten ungeahnte Energien freigesetzt habe. Auf den verschiedensten geistigen Gebieten habe dieser Konflikt eine rege „Thätigkeit“ und gespannte „Theilnahme“5 hervorgerufen; somit habe das militärische Kräftemessen eine Art kulturelle Beschleunigung erzeugt, die Archenholz in der Summe als nationalen Aufbruch beschrieb:6 Während daß die deutschen Feldherren, Friedrich und Ferdinand, unter dem Donner der Canonen den Völkern der Erde ihre schrecklichen Lehrstunden gaben, stieg der Deutsche Winkelmann [sic] mit so viel Muth als Glück ins Labyrinth des Alterthums herab, um aus dem Chaos der alten Kunst Ordnung zu schaffen, bestimmte der Deutsche Euler den Lauf der Planeten, und der Deutsche Mengs wurde der Raphael des 18. Jahrhunderts. […] Auf diese Weise riefen die Deutschen Musen mitten unter dem Schlachtengetümmel die Künste hervor, und so wurde von ihnen die Leyer des Dichters, der Pinsel des Malers, der Grabstichel des Kupferstechers, und der Meissel des Bildhauers mit den neugepflanzten Lorbeern umwunden.7

Der Lärm der Schlachten, so berichtete der Veteran, habe mithin nicht allein die Gelehrten und bildenden Künstler wachgerufen. Ihre Klimax habe die allgemeine Blüte der schönen Wissenschaften unter den Poeten gefunden, die während des Siebenjährigen Kriegs „[m]ehr […] als alle“8 geglänzt hätten: Für die „deutsche

4 [Johann Wilhelm von Archenholz,] Revolution der deutschen Litteratur in der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts. In: Minerva. Ein Journal historischen und politischen Inhalts, hg. von dems., vormals Hauptmann in Königl. Preußischen Diensten, Bd. 1, 1792, S. 544–546. Archenholz’ Text ist ein früher Beleg für die „Parallelisierung der deutschen Literaturgeschichte mit der politischen Geschichte Frankreichs“, die in den Diskursen des 19. und 20. Jahrhunderts wichtig wurde. In Frankreich habe es demnach eine politische Revolution gegeben, in Deutschland dagegen eine geistige (Rainer Rosenberg, „Aufklärung“ in der deutschen Literaturgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts. In: Ders., Verhandlungen des Literaturbegriffs. Studien zu Geschichte und Theorie der Literaturwissenschaft, Berlin 2003, S. 127–140, hier: S. 132). 5 [Archenholz,] Revolution der deutschen Litteratur in der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts, S. 548. 6 Herausgearbeitet von Jörn Leonhard, Bellizismus und Nation. Kriegsdeutung und Nationsbestimmung in Europa und den Vereinigten Staaten 1750–1914, München 2008, hier: S. 205 f. 7 [Archenholz,] Revolution der deutschen Litteratur in der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts, S. 546. 8 [Archenholz,] Revolution der deutschen Litteratur in der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts, S. 547.  

1 Krieg und Literaturgeschichte: Dynamisierungen

3

Litteratur“ im engeren Sinn, so Archenholz, sei „mitten unter diesen Blutscenen“ die „schönste Morgenröthe angebrochen, die den herrlichsten Tag versprach“9. Angespornt von den außerordentlichen „Leidenschaften“, die durch die heroischen Ereignisse dieser Jahre geweckt worden seien, habe man nun den Zugang zu vorher unerschlossenen Quellen der Dichtung gefunden: Aus Gelehrsamkeit sei „Genie[ ]“ geworden, aus Künstlichkeit „Natur“; und mit „Wieland, Klopstock und Lessing“ sei in der Mitte des 18. Jahrhunderts eine junge Generation von Dichtern aufgetreten, die dem „Nationalruhm des deutschen Genies bey der Mitwelt, und noch mehr bey der späten Nachwelt“10 das erste Mal einen festen Platz gesichert habe. Die literaturgeschichtliche Zäsur, die Archenholz hier setzte, scheint vor dem Hintergrund heutiger Forschungsparadigmen abwegig zu sein. Spätestens seit der Etablierung von sozial- und mentalitätsgeschichtlichen Ansätzen in der Aufklärungsforschung der 1970er und -80er Jahre11 haben politische Ereignisse als Marker von literarischen Entwicklungen zu Recht ausgedient. Mit der prinzipiellen Abkehr von einer Geschichte der großen Namen und Taten, die mit diesen Forschungsprogrammen Einzug gehalten hat, haben Germanisten ihren Blick nicht nur strukturell von Kriegen abgewandt. Aus dem Interesse an den Funktionen von Literatur für die gesellschaftlichen Umstellungen des 18. Jahrhunderts ist zudem eine Periodisierung der Literatur- und Diskursgeschichte hervorgegangen, die gegenüber der Archenholz’schen Darstellung um einige Jahrzehnte verschoben ist. So setzt man die zentrale Phase der Modernisierungen mittlerweile in der von der Begriffsgeschichte profilierten „Sattelzeit“12 an, die selten mit dem Siebenjährigen Krieg zusammengedacht wird. Das scheint nicht zuletzt damit zu tun zu haben, dass die spezifisch literaturwissenschaftliche Auslegung der Sattelzeit eine gewisse Schlagseite zum älteren Konstrukt der „Goethezeit“13 aufweist.

9 [Archenholz,] Revolution der deutschen Litteratur in der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts, S. 544 f. 10 [Archenholz,] Revolution der deutschen Litteratur in der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts, S. 547–549. Zur Antinomie Gelehrsamkeit/Genie vgl. auch S. 545. 11 Vgl. die Retrospektiven von Jörg Schönert, Konstellationen und Entwicklungen der germanistischen Forschung zur Aufklärung seit 1960. In: Aufklärungsforschung in Deutschland, hg. von Holger Dainat und Wilhelm Voßkamp, Heidelberg 1999, S. 39–48 sowie im selben Band den Beitrag von Friedrich Vollhardt, Aspekte der germanistischen Wissenschaftsentwicklung am Beispiel der neueren Forschung zur „Empfindsamkeit“, S. 49–78. 12 Reinhart Koselleck, Einleitung, In: GG, Bd. 1, 1974, S. XIII–XXVII, hier: S. XV. 13 Klar und kritisch zu dieser Epochenkonstruktion vgl. Klaus Weimar, Goethezeit. In: RLL, Bd. 1, S. 734–737. Geprägt wurde der Begriff von Hermann August Korff, Geist der Goethezeit. Versuch einer ideellen Entwicklung der klassisch-romantischen Literaturgeschichte, 4 Bde., Leipzig 1923– 1953.  

4

Einleitung: Literatur und Krieg um 1750

Denn in der germanistischen Praxis ist der Koselleck’sche Fokus auf dem Jahrhundert zwischen 1750 und 185014 mehr und mehr auf eine stehende Rede von der Zeit ‚um 1800‘ verkürzt worden,15 die faktisch meist auf später entstandene Texte angewandt wird: Die deutsche Literatur, so die nach wie vor verbreitete Wahrnehmung, habe erst ab „den Jahrzehnten zwischen 1760 und 1780“16 eine wesentliche Umstrukturierung erfahren, als man die rhetorischen und ständischen Orientierungen systematisch hinterfragt habe. Aus dieser Perspektive mag die Diagnose einer „Revolution der deutschen Litteratur“ wohl auf die Zeit zutreffen, in der Archenholz sie formulierte – aber noch nicht auf diejenige, über die er schrieb. Dennoch steht Archenholz mit seiner Einschätzung nicht allein da. Ganz im Gegenteil: Das 19. Jahrhundert hindurch gehörte es zu den unbestrittenen Annahmen der Germanistik, dass die deutsche Literatur unter dem Eindruck des Siebenjährigen Kriegs grundlegend neue Impulse erfahren habe. Nahezu alle bedeutenden Literaturgeschichten des Jahrhunderts setzen an dieser Stelle einen Epocheneinschnitt.17 Das gilt sowohl für Kompendien wie Karl Goedekes Grundrisz zur Geschichte der deutschen Dichtung (3 Bde., 1859–1881)18 als auch für

14 Zuletzt auf den Punkt gebracht von Ernst Müller, Falko Schmieder, Begriffsgeschichte und historische Semantik. Ein kritisches Kompendium, Frankfurt a. M. 2016, S. 281. 15 Vgl. symptomatisch Daniel Fulda, Sattelzeit. Karriere und Problematik eines kulturwissenschaftlichen Zentralbegriffs. In: Sattelzeit. Historiographiegeschichtliche Revisionen, hg. von Elisabeth Décultot und dems., Berlin, Boston 2016, S. 1–16, v. a. S. 1–3. 16 Diesen Einschnitt wählt Wilhelm Voßkamp im expliziten Rückgriff auf Kosellecks SattelzeitKonzept (Wilhelm Voßkamp, Probleme und Aufgaben einer sozialgeschichtlich orientierten Literaturgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts. In: Das achtzehnte Jahrhundert als Epoche, hg. von Bernhard Fabian und Wilhelm Schmidt-Biggemann, Nendeln 1978, S. 53–71, hier: S. 62), und Hans-Georg Kemper schreibt unumwunden: „Der Zeitraum ‚um 1770‘ gilt heute als ‚Sattelzeit‘ des Übergangs von der frühen Neuzeit zur Moderne und der Sturm und Drang als jene Bewegung, die diesen ‚Paradigmenwechsel‘ literarhistorisch mit herbeiführt und als kulturgeschichtliches Ereignis spiegelt.“ (Hans-Georg Kemper, „Göttergleich“. Zur Genese der Genie-Religion aus pietistischem und hermetischem ‚Geist‘. In: Goethe und der Pietismus, hg. von dems. und Hans Schneider, Tübingen 2001, S. 171–208, hier: S. 171). Anschließend daran vgl. auch die jüngeren Reflexionen von Jörg Schönert, Epochenkonzepte in der germanistischen Literaturgeschichtsschreibung zum 18. Jahrhundert. In: Gebundene Zeit. Zeitlichkeit in Literatur, Philologie und Wissenschaftsgeschichte. Festschrift für Wolfgang Adam, hg. von Jan Standke, Heidelberg 2007, S. 249–272, hier: S. 270 f.). 17 Rainer Rosenberg, Epochengliederung. Zur Geschichte des Periodisierungsproblems in der deutschen Literaturgeschichtsschreibung. In: DVjs 61 (1987), Sonderheft, S. 216–235, hier: S. 219 f. 18 Karl Goedeke, Grundrisz zur Geschichte der deutschen Dichtung aus den Quellen, 3 Bde., Hannover, Dresden 1859–1881. In seiner Gliederung zeigt Goedeke grundsätzlich eine Affinität zu Kriegen. Den erste Band seines Grundrisz widmet sich der Literatur des Mittelalters, die unter das Vorzeichen der Kreuzzüge gestellt wird; im zweiten und dritten Band werden dann folgende  







5

1 Krieg und Literaturgeschichte: Dynamisierungen

narrativierte Darstellungen, in denen die besondere Relevanz des Datums oft zusätzlich metaphorisch hervorgehoben wird. So deutete Georg Gottfried Gervinus den Siebenjährigen Krieg in seiner einflussreichen Geschichte der poetischen National-Literatur der Deutschen (5 Bde., 1835–1842) emphatisch als Ereignis der „Regeneration“;19 Joseph Hillebrand erhob den Waffengang in seiner Deutschen Nationalliteratur seit dem Anfange des achtzehnten Jahrhunderts (3 Bde., 1845 f.) zum „Wendepunkt“ für eine „geistig-nationale Umwandelung“20 der Poesie; Hermann Hettner pries den militärischen Zusammenstoß in seiner Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts (3 Bde., 1856–1870) als „belebenden Frühlingshauch“, der eine „Verjüngung und Wiedergeburt der gesammten deutschen Sitte und Denkart“ herbeigeführt habe und somit den „Eingang des goldenen Zeitalters unserer Literatur“21 markiere. Und auch Wilhelm Scherer konstatierte in seinem vielfach aufgelegten Erfolgswerk, der Geschichte der deutschen Litteratur, 1883 so knapp wie apodiktisch: „An dem siebenjährigen Kriege hängt der nationale Auffschwung der modernen deutschen Litteratur“22. All diese Formulierungen verdeutlichen, dass der Siebenjährige Krieg den Germanisten des 19. Jahrhunderts als Geburtsstunde einer national orientierten Literatur galt, wie sie ihnen in ihrer eigenen Gegenwart noch immer maßgeblich erschien. Einen zentralen Stichwortgeber hatten die Philologen dabei in Johann Wolfgang von Goethe, der den Epochenentwurf der sogenannten „Literaturgeschichte“23 im siebten Buch von Dichtung und Wahrheit (1811–1833) auf einer wirkmächtigen Totalnegation der vergangenen deutschen Literatur als deutscher  

Einschnitte gesetzt: Die Zeit „Vom dreißigjährigen bis zum siebenjährigen Kriege“ kategorisierte Goedeke als „Gelehrt-höfische Dichtung“; die „Vom siebenjährigen bis zum Weltkriege“ (gemeint sind die antinapoleonischen Befreiungskriege) als „Nationale Dichtung“ (Bd. 2). Die „Zeit des Weltkrieges“ klassifizierte er als Epoche der „Phantastischen Dichtung“; die „Vom Weltfrieden bis auf die Gegenwart als Dichtung der allgemeinen Bildung“ (Bd. 3). Zu den Gliederungsprinzipien der großen deutschen Literaturbibliographie vgl. Carl Diesch, Der Goedeke. Werdegang eines wissenschaftlichen Unternehmens, Dresden 1941, S. 17 f. 19 Georg Gottfried Gervinus, Geschichte der poetischen National-Literatur der Deutschen, 5 Bde., Bd. 4: Von Gottscheds Zeiten bis zu Göthes Jugend, Leipzig 1840, S. 217. 20 Joseph Hillebrand, Die deutsche Nationalliteratur seit dem Anfange des achtzehnten Jahrhunderts, besonders seit Lessing, bis auf die Gegenwart, historisch und ästhetisch-kritisch dargestellt, 3 Bde., Bd. 1, Hamburg, Gotha 1845/1846, S. 183. 21 Hermann Hettner, Literaturgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts, 3 Bde., Bd. 3: Das Zeitalter Friedrichs des Großen, Braunschweig 1864, S. 161 f. 22 Wilhelm Scherer, Geschichte der Deutschen Litteratur, Berlin 1883, S. 394. 23 So bezeichnet seit Werner Mahrholz, Literaturgeschichte und Literaturwissenschaft, 2. Aufl., Leipzig 1932, S. 2.  



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Einleitung: Literatur und Krieg um 1750

Literatur aufgebaut hatte.24 Erst mit der Besinnung auf die eigenen Kräfte, so Goethe, habe man im Ausklang der Aufklärung die „nulle[ ] Epoche“25 der deutschen Dichtung überwunden, in der die einheimischen Autoren geglaubt hätten, „bei den Römern“ und „bei den Franzosen in die Schule“26 gehen zu müssen. Eine besondere Relevanz für die Befreiung aus dieser kulturellen Abhängigkeit schrieb Goethe dabei den militärischen Ereignissen zu, die seine Jugend begleitet hatten. So heißt es in Dichtung und Wahrheit unmissverständlich: „Der erste wahre und höhere eigentliche Lebensgehalt kam durch Friedrich den Großen und die Taten des Siebenjährigen Kriegs in die deutsche Poesie.“27 Eine solche Sicht auf die deutsche Literaturgeschichte erscheint aus heutiger Sicht grob vereinfacht; mehr noch: Das Wissen um die verhängnisvolle Verselbstständigung des Nationaldiskurses im weiteren Verlauf der deutschen Geschichte macht es schwer, die propagandistische Anschlussfähigkeit des Narrativs nicht automatisch mitzudenken. In Verruf geraten ist die Engführung von Krieg und Literatur vor allem dadurch, dass spätere Gelehrte die formulierte poetische Emanzipationserzählung mit der Zeit auf die Politik übertrugen. Je weiter das 19. Jahrhundert vorrückte, desto mehr neigte man dazu, das Goethe’sche Diktum zur Teleologie zu wenden. Aus der „Legende von der preußischen Politik als Schöpferin deutscher Poesie“ wurde nun die Hoffnung abgeleitet, dass der kulturelle Aufbruch über kurz oder lang in der „schöne[n] Gemeinschaft“28 eines preußischen Staates münden werde. Mit solchen nationalistischen Phantasien hat die Germanistik nach 1945 aus guten Gründen gebrochen.29 Und dennoch: Angesichts des bemerkenswert lange währenden Konsenses über die literaturgeschichtliche Schlüsselfunktion des Siebenjährigen Krieges stellt sich die Frage, ob die nötige Abkehr von der Ideologie in diesem Fall nicht unwillentlich wichtige historische Zusammenhänge in Vergessenheit gebracht haben könnte.

24 Wilfried Barner, Über das Negieren von Tradition – Zur Typologie literaturprogrammatischer Epochenwenden in Deutschland. In: Epochenschwelle und Epochenbewußtsein, hg. von Reinhart Herzog und Reinhart Koselleck, München 1987, S. 3–52, hier: S. 3–9, 11. 25 Johann Wolfgang von Goethe, Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. In: HGA, Bd. 9 und HGA, Bd. 10, S. 7–187, hier: HGA, Bd. 9, S. 269. 26 Goethe, Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. In: HGA, Bd. 9, S. 259. 27 Goethe, Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. In: HGA, Bd. 9, S. 279. 28 Jürgen Fohrmann, Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte. Entstehung und Scheitern einer nationalen Poesiegeschichtsschreibung zwischen Humanismus und Deutschem Kaiserreich, Stuttgart 1988, S. 159 und S. 169. 29 Vgl. Jörg Schönert, Literaturgeschichtsschreibung. In: Handbuch Literaturwissenschaft, hg. von Thomas Anz, 3 Bde., Bd. 2: Methoden und Theorien, Stuttgart, Weimar 2007, S. 267–284, hier: S. 269.

1 Krieg und Literaturgeschichte: Dynamisierungen

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In diese Richtung könnten neuere Studien weisen, die dem Siebenjährigen Krieg im Rahmen einer breit angelegten „Kulturgeschichte der Moderne“30 zuletzt verstärkte Aufmerksamkeit gewidmet haben. Seit einigen Jahren zeichnet sich die Tendenz ab, die Kriegsjahre wieder als eine Phase zu profilieren, in der sich politische, militärische und sozialtheoretische Debatten auf signifikante Weise verdichteten. Stefanie Stockhorst verweist auf die hier entstehenden Ideen von patriotischer Gemeinschaft, die militärisch in der Umstellung vom geordneten Kabinettskrieg zur erregten levée en masse ,um 1800‘ aufgingen;31 Marian Füssel bezeichnet den Konflikt mit Blick auf die Entwicklung europäischer Staatstheorien als „Labor der Moderne“;32 Holger Dainat rekonstruiert den Siebenjährigen Krieg als zentrales Ereignis für die Differenzierung und Flexibilisierung medialer Öffentlichkeiten im 18. Jahrhundert.33 Vor diesem Hintergrund scheint es angezeigt, nun auch die These von einer spezifisch literaturgeschichtlichen Schubkraft des Kriegs neu zu prüfen. Einen vielversprechenden Ansatz für ein solches Unternehmen bietet das Konzept des Traditionsverhaltens, das Wilfried Barner vorgelegt hat, um den Wandel literarischer Ordnungs- und Normsysteme in der Frühen Neuzeit zu beschreiben. Dabei geht es darum, ein Sensorium für die diskursiven Umstellungen in den Jahrzehnten vor den großen Zäsuren der Marke ‚1800‘ zu entwickeln, die literatur- und kulturgeschichtlich notorisch schwer in den Griff zu bekommen sind. So wird das titelgebende Modell des Bandes Tradition, Norm, Innovation. Soziales und literarisches Traditionsverhalten in der Frühzeit der deutschen Aufklärung (1989) dezidiert an den Jahrzehnten „vom Ausgang des 17. Jahrhunderts bis zum Ende des Siebenjährigen Kriegs“34 entwickelt. Mit dieser Eingrenzung greift Barner explizit die „bewährt[e]“35 Periodisierung von Gervinus, Goedeke und Scherer auf; freilich stellt er sie von vornherein auf eine neue methodische Grundlage. So charakterisiert er die Zeitspanne mit einer treffenden Formulierung durch eine „Spannung

30 Stefanie Stockhorst, Einleitung. Krieg und Frieden im 18. Jahrhundert als Forschungsdesiderat einer Kulturgeschichte der Moderne. In: Krieg und Frieden im 18. Jahrhundert. Kulturgeschichtliche Studien, hg. von ders., Hannover 2015, S. 11–28. 31 Stockhorst, Einleitung. Krieg und Frieden im 18. Jahrhundert, S. 14 f. 32 Marian Füssel, Der Siebenjährige Krieg. Ein Weltkrieg im 18. Jahrhundert, 2., durchgesehene Aufl., München 2012, S. 116. 33 Holger Dainat, Der Siebenjährige Krieg in den Medien. In: „Krieg ist mein Lied“. Der Siebenjährige Krieg in den zeitgenössischen Medien, hg. von Wolfgang Adam und dems., Göttingen 2007, S. 9–26. 34 Wilfried Barner, Einleitung. In: Tradition, Norm, Innovation. Soziales und literarisches Traditionsverhalten in der Frühzeit der europäischen Aufklärung, hg. von dems. und. Elisabeth MüllerLuckner, München 1989, S. IX–XXIV, hier: S. XVI f. sowie S. XXIII. 35 Barner, Einleitung, S. XX mit Anm. 59.  



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Einleitung: Literatur und Krieg um 1750

zwischen dem Noch und dem Schon“, die paradigmatisch für das profilierte Modell des Ordnungswandels sei: Die fokussierten Jahrzehnte, so Barner, seien auf der einen Seite noch „alte[n], zum Teil jahrhundertealte[n] Ordnungen (Reich, Ständestaat usw., aber auch etwa humanistisch-gelehrte Dichtungstradition)“ verpflichtet; auf der anderen Seite würden sie „in Politik und Gesellschaft, Bildungswesen und Philosophie, Religion und Theologie, nicht zuletzt in Kunst und Literatur“ aber schon „charakteristische Erscheinungen der ‚Ablösung‘ und des ‚Übergangs‘ ebenso wie der Herausbildung neuer ‚Systeme‘“36 aufweisen. Diese Beobachtungen bieten wichtige Anschlusspunkte für das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit. Mit seiner Frage nach dem Traditionsverhalten der Aufklärung stellt Barner die Jahrzehnte um den Siebenjährigen Krieg nüchtern als eine Zeit entscheidender literatur- und diskursgeschichtlichen Dynamisierungen heraus, ohne dabei in die problematischen Teleologien des 19. Jahrhunderts zu verfallen. Zugleich setzt sein Ansatz die alten und neuen Zäsurwahrnehmungen der germanistischen Literaturgeschichtsschreibung zueinander in Beziehung. Aus dem vorgeschlagenen Blickpunkt markieren die Kriegsjahre die hitzige Schlussphase einer Periode „der ‚Übergänge‘ und der ‚Reformen‘“; diese lassen sich mit Barner jedoch systematisch von der Ära des inszenierten und proklamierten Epochenbruchs unterscheiden, die sich seit den 1770er Jahren durch Initiativen wie „Geniebewegung, Göttinger Hain, Sturm und Drang“37 formiert habe. Prägend für den betrachteten Zeitabschnitt, so kann festgehalten werden, war eine erhöhte diskursive Aktivität, die sich durch eine kritische Auseinandersetzung mit den überlieferten Ordnungssystemen auszeichnete. Unter dem Stichwort ‚Traditionsverhalten‘ lässt sich mithin ein „normgeleitetes Zukunftshandeln“38 profilieren, in dem sich das Alte konstitutiv mit dem Neuen verschränkte: Die spezifische literaturhistorische Signatur der Debatten, die während der Schlesischen Kriege geführt wurden, war eine aktive Arbeit an und mit der Tradition, bei der die Akteure im vielfach differenzierten Angebot der Überlieferung(en) eigene Schwerpunkte setzten, eigene literaturpolitische Interessen ins Spiel brachten und zu diesem Zweck auch immer wieder gegeneinander ins rhetorische Feld zogen.39 Auf diese Weise kam es auch auf dem literarischen Feld zu vielstimmigen Umbauprozessen.

36 Barner, Einleitung, S. XVI f. 37 Barner, Einleitung, S. XXI. 38 Barner, Einleitung, S. XIV. 39 Gegen eine „blockhaft-singularische Traditionsvorstellung“ stellt Barner die Auffassung, „daß Tradition stets etwas für jemanden (ein Individuum, eine Gruppe, eine Zeitgenossenschaft) Vorfindliches ist, etwas, das von jemandem (auch einer Institution) an jemanden überliefert wird“ (Barner, Einleitung, S. XIV f.). Diesen Aspekt hebt Dirk Niefanger in einem Lexikonartikel, der das Konzept knapp auf den Punkt bringt, besonders hervor. Traditionsverhalten diene demnach „der  



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Die Verdichtungen, die dieses Traditionsverhalten in seinem kriegerischen Finale erfuhr, sollen in dieser Arbeit näher betrachtet werden.40 Dabei wird vorgeschlagen, das Augenmerk nicht nur auf die diskursiven Umstellungen in der Zeit des Siebenjährigen Kriegs zu richten, sondern sie in den Kontext eines längerfristigen Diskussionszusammenhangs zu stellen, der sich über alle drei Schlesischen Kriege erstreckte. Mit diesem Fokus auf die militärisch heftig umkämpften Jahrzehnte ‚um 1750‘ verbindet sich die Hypothese, dass die Beschleunigung der Traditionsarbeit, die Archenholz, Goethe und die goetheverehrenden Germanisten des 19. Jahrhunderts in der Rückschau zur Feier eines Neuanfangs verleitete, nicht zufällig parallel zu dem Schlachtgeschehen im Alten Reich kulminierte. Hier soll der Versuch unternommen werden, den Krieg selbst als zentralen Faktor für die literaturgeschichtlichen Dynamisierungen in der Mitte des 18. Jahrhunderts ins Bewusstsein zu rücken. Die Metapher der Mobilisierung, die dieser Studie den Titel gibt, ist insofern bewusst doppeldeutig gewählt: Im Fokus dieser Arbeit werden Texte stehen, die sich – quasi militärisch mobilgemacht – in den Dienst zeitgenössischer Konfrontationen stellten. Das zentrale Forschungsinteresse ist aber ein genuin literaturgeschichtliches. Dieses Buch widmet sich der Frage, wie der Krieg die Ordnung der Literatur um 1750 in Bewegung brachte. Die Voraussetzung für eine solche Untersuchung ist ein dezidiert weites Blickfeld, in dem die vielfältigen Funktionen zu Geltung kommen, die dem Phänomen ‚Krieg‘ in der diskursiven Gemengelage dieses spezifischen Zeitraums zugesprochen wurden. Dafür ist es unabdingbar, die deutsche Literatur der Aufklärung in den europäischen Zusammenhang zu stellen, der für diese Epoche charakteristisch war.41 Tatsächlich nämlich hat man es in den mittleren Dekaden des 18. Jahr-

Besetzung oder Festigung einer Position innerhalb des literar[ischen] Feldes, indem es Beziehungen im synchronen Bereich markiert, Brüche konstatiert und (neue) Leittraditionen zu etablieren sucht (Innovation). Insofern zielt es (mit P[ierre] Bourdieu) auf eine Akkumulation symbolischen Kapitals [Erg. der Verf.]“ (Dirk Niefanger, Traditionsverhalten, literarisches. In: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe, hg. von Ansgar Nünning, 5., aktualisierte und erweiterte Aufl., Stuttgart, Weimar 2013, S. 758 f., hier: S. 759). 40 Der Anfang der von Barner definierten Periode, nämlich die Jahrzehnte ‚um 1700‘, sind in der Vergangenheit bereits mehrfach zum Gegenstand von eingehenderen Untersuchungen geworden. Vgl. beispielsweise Wilfried Barner, Traditionsverhalten als Element kultureller Orientierung. In: Kulturelle Orientierung um 1700. Traditionen, Programme, konzeptuelle Vielfalt, hg. von Sylvia Heudecker, Dirk Niefanger und Jörg Wesche, Tübingen 2004, S. 183–197 sowie Dirk Niefanger, Sfumato. Traditionsverhalten in Paratexten zwischen ‚Barock‘ und ‚Aufklärung‘. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik (25) 1995, S. 94–118. 41 Zur spezifischen Qualität der Aufklärung als „genuiner – und letzter – europäischer intellektueller Bewegung“ vgl. Rudolf Vierhaus, Die Erforschung des 18. Jahrhunderts. Aktivitäten – Desiderate – Defizite. In: Das achtzehnte Jahrhundert 19:2 (1995), S. 158–162, hier: S. 158.  

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Einleitung: Literatur und Krieg um 1750

hunderts mit einer kulturgeschichtlichen Phase zu tun, in der nicht nur deutsche Autoren, sondern die gesamte res publica litteraria eine neuartige Affinität zum Kriegerischen entwickelte. So hat Jörn Leonhard dem europäischen Diskurs seit 1750 in seiner komparatistisch angelegten Studie die Entstehung eines regelrechten „Bellizismus“42 attestiert. Dabei tauchte der Krieg in den Texten der zeitgenössischen Dichter und Philosophen nicht allein in der Funktion eines konkreten historischen Ereignisses auf, das erfahren und literarisch ausgelegt wurde (Johannes Birgfeld).43 Nicht minder präsent war der Krieg in der Staats- und Gesellschaftsphilosophie, wo er um die Jahrhundertmitte zur wichtigen Reflexionsfigur aufstieg, um die Frage nach sozialem Zusammenhalt unter den Vorzeichen eines einsetzenden gesellschaftlichen Wandels neu aufzurollen. Erste Entwürfe einer alternativen, nichtständischen Form von Gemeinschaftlichkeit operierten bevorzugt mit dem Krieg als Paradigma für soziale Kohäsion.44 Die Leitbegriffe lauteten dabei ‚Nation‘ und ‚Vaterland‘ – lange vertraute Termini der antiken und frühneuzeitlichen Staatslehre,45 die nun immer mehr emotionalisiert wurden, indem man sie sich am Beispiel von intrinsisch motivierten Kriegsverbänden vor Augen stellte (Hans-Martin Blitz).46 Abstrakter gesprochen, wurde die Ausnahmesituation des Krieges zu einer modellhaften Denkhilfe für den Versuch, den Zusammenhalt einer Gesellschaft auf den Boden von anthropologischen Potenzen wie Affekt, Gefühl und Leidenschaft zu stellen.47 In dieser Hinsicht wurde der Krieg auch für die deutsche Literatur um 1750 auf neuen Ebenen anschlussfähig. So entdeckte man Schlachten, Feldzüge und Konflikte im Zuge einer allgemeinen „Gefühlskultur“48 der Empfindsamkeit als Probefeld einer wirkungsästhetischen Dichtung, der in der Literatur der Schlesischen Kriege in poetologische Austauschbeziehungen mit anderen wie Religion, Freundschaft und Liebe trat (Martin Disselkamp).49 42 Vgl. Leonhard, Bellizismus und Nation. 43 Johannes Birgfeld, Krieg und Aufklärung. Studien zum Kriegsdiskurs in der deutschsprachigen Literatur des 18. Jahrhunderts, 2 Bde., Hannover 2012. 44 Nachdrücklich betont bei Leonhard, Bellizismus und Nation, S. 5 sowie S. 22 f. 45 Kanonisch vgl. den Eintrag zu „Volk, Nation, Nationalismus, Masse“ in den Geschichtlichen Grundbegriffen (Reinhart Koselleck, Volk, Nation, Nationalismus, Masse. In: GG, Bd. 7, 1992, S. 141–432). 46 Für die deutsche Literatur verfolgt von Hans-Martin Blitz, Aus Liebe zum Vaterland. Die deutsche Nation im 18. Jahrhundert, Hamburg 2000. 47 Vgl. Niklas Luhmann, Frühneuzeitliche Anthropologie: Theorietechnische Lösungen für ein Evolutionsproblem der Gesellschaft. In: Ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, 4 Bde., Bd. 1, Frankfurt a. M. 1993, S. 162–234. 48 Vgl. den gleichnamigen Band zur „Gefühlskultur in der bürgerlichen Aufklärung“, hg. von Achim Aurnhammer, Dieter Martin und Robert Seidel, Tübingen 2004. 49 Hier für die Beziehung zwischen Kriegslyrik und Anakreontik ins Spiel gebracht (Martin Disselkamp, Wein und Liebe, Stahl und Eisen. Anakreontisches und Kriegerisches bei Johann  



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Im Bewusstsein dieser vielfachen diskursiven Präsenz des Krieges um 1750 soll es in dieser Studie darum gehen, das Verhältnis zwischen Krieg und Literatur nicht mehr nur im Sinne einer einfachen Reaktionslogik zu denken, in der die Autoren historische Ereignisse passiv durchlebten, um sie dann literarisch zu verarbeiten, wie man zuletzt im Forschungsparadigma einer „Erfahrungsgeschichte des Krieges“ argumentiert hat.50 Vielmehr wird zu zeigen sein, dass sich Literatur, Gesellschaftstheorie und die Schlachtengeschichte mit ihren zahlreichen Wendungen in der Zeit der Schlesischen Kriege gegenseitig befeuerten, herausforderten und formatierten. Aus dieser Perspektive rückt das Phänomen Krieg um die Mitte des 18. Jahrhunderts in die Funktion eines diskursgeschichtlichen Relais, das die Arbeit an der Tradition in verschiedenen Feldern aufeinander bezog und effektiv beschleunigte. Besondere Relevanz erhielten diese wechselseitigen Dynamisierungen in der Suche nach einer zeitgemäßen Beziehung zwischen Literatur und Gemeinschaft, deren Ergebnisse von den nächsten Generationen als ‚Geburt‘ einer nationalen Poesie bejubelt wurden. In einer beständigen Interaktion von dichtungs- und gesellschaftstheoretischen Entwürfen bildete sich sukzessive ein Konzept einer nationalen Literatur heraus, die zugleich als Poesie der Empfindung entworfen wurde. Die eigentümliche diskursgeschichtliche Verschränkung von Krieg, Nationalliteratur und dem Versprechen auf eine ‚echte‘ Affektivität in der deutschen Literatur wird in dieser Studie besondere Aufmerksamkeit finden; sie lässt sich in erster Annäherung charakterisieren, wenn man den Zuschreibungen des 19. Jahrhunderts noch einmal für kurze Zeit Gehör schenkt.

Wilhelm Ludwig Gleim. In: Anakreontische Aufklärung, hg. von Manfred Beetz und Hans-Joachim Kertscher, Tübingen 2005, S. 201–221). 50 Die letzte große Studie zu den Kriegsdiskursen der literarischen Aufklärung, Birgfelds Krieg und Aufklärung (2 Bde.), nimmt diese Perspektive ein. Hervorgegangen ist der Ansatz einer solchen Erfahrungsgeschichte des Kriegs aus Strömungen einer „neuen Militärgeschichte“, die sich seit den 1990er Jahren von der überkommenen Schlachtengeschichte abgewandt hat, um stattdessen auf zeitgenössische Mentalitäten und Kriegsdeutungen zu schauen (Ralf Pröve, Vom Schmuddelkind zur anerkannten Subdisziplin? Die „neue Militärgeschichte“ der Frühen Neuzeit – Perspektiven, Entwicklungen, Probleme. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 51:10 (2000), S. 597–612). Exemplarisch ist hier auf die Arbeiten des Tübinger SFB 437 „Kriegserfahrungen – Gesellschaft und Krieg in der Neuzeit“ zu verweisen. Vgl. den programmatischen Aufsatz von Nikolaus Buschmann, Horst Carl, Zugänge zur Erfahrungsgeschichte des Krieges: Forschung, Theorie, Fragestellung. In: Die Erfahrung des Krieges. Erfahrungsgeschichtliche Perspektiven von der Französischen Revolution bis zum Zweiten Weltkrieg, hg. von dens., Paderborn u. a. 2001, S. 11–26.  

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Einleitung: Literatur und Krieg um 1750

2 Krieg, Literatur und Gemeinschaft: Affektivierungen In seiner Geschichte der poetischen National-Literatur der Deutschen feierte Georg Gottfried Gervinus die Zeit der Schlesischen Kriege für eine neue Poesie, die sich das erste Mal an „alle Stände“51 gerichtet habe. Diese literarische Innovation knüpfte der Göttinger Germanist an zwei Entwicklungen, zwischen denen er eine erstaunliche Parallele zog. So meinte Gervinus in der Literatur um 1750 ein „neues und populares Element“ der „Empfindsamkeit“52 wahrzunehmen, das die Vernunftorientierung der aufgeklärten Regelpoetiken ein- für allemal aufgesprengt habe. Auf demselben Blatt stand für ihn bemerkenswerterweise die Hinwendung zu nationalen Dichtungstraditionen, die unter den Waffen ein neues Gespür für den „Volksgeist“53 geweckt habe. Die Aufwertung des eigenen Herzens und der eigenen Nation ließen sich für den Gelehrten mithin auf einen Nenner bringen: auf einen Durchbruch der Subjektivität.54 Mit diesem Befund blieb der einflussreiche Germanist nicht lange allein. Bald schloss sich ihm auch sein Schüler Hettner an, der die angesprochenen Tendenzen noch expliziter an den Siebenjährigen Krieg zurückband. „[I]ndem Thatkraft und Leidenschaft wieder in das eigene Herz trat, erwachte folgerichtig immer mächtiger die unabweisliche Einsicht, daß Poesie und Naturwirklichkeit einander nicht widersprechen“, heißt es blumig in Hettners Literaturgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts. Die Kriegsemphase habe eine „völlige Umstimmung des Formgefühls“ eingeleitet; damit hätten die „großen Erlebnisse[ ] und Empfindungen“55 der deutschen Literatur auch poetologisch neue Wege erschlossen. In diesen Formulierungen zeichnet sich die Verschränkung von zwei Umstellungen ab, auf denen ein besonderes Augenmerk dieser Arbeit liegen soll. Übersetzt man die zitierten Thesen in heutige Terminologie, dann gingen die Literaturhistoriker des 19. Jahrhunderts wie selbstverständlich davon aus, dass die beschworene literarische Hinwendung zur Nation während der Kriegszeit im direkten Zusammenhang mit einem weiteren Moment des Normenwandels um 1750 zu betrachten sei. Für sie hing die wachsende Bedeutung der eigenen Kultur

51 Gervinus, Geschichte der poetischen National-Literatur der Deutschen, Bd. 4, S. 9: An dieser Stelle wird der Befund für das Nationaltheather-Projekt Lessings formuliert; allgemeiner für eine einsetzende Ausdehnung der literarischen Gemeinschaft von den „privilegirten Stände[n]“ auf die „unteren Regionen“ der Gesellschaft vgl. auch S. 8. 52 Gervinus, Geschichte der poetischen National-Literatur der Deutschen, Bd. 4, S. 8. 53 Gervinus, Geschichte der poetischen National-Literatur der Deutschen, Bd. 4, S. 12. 54 Fohrmann, Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte, S. 146–153. 55 Hettner, Literaturgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts, Bd. 3, S. 168.

2 Krieg, Literatur und Gemeinschaft: Affektivierungen

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aufs Engste mit einem Paradigmenwechsel der Dichtungstheorie zusammen, die ihre Leitorientierungen seit der Jahrhundertmitte sukzessive weg „von der Nachahmung“ und hin zu einem „Ausdruck der Affekte“56 verschob. Nationale Literatur, so ließe sich die Position der frühen Germanisten auf den Punkt bringen, versprach per se aus dem Reservoir authentischen Gefühls zu schöpfen; und Analoges galt ihrer Überzeugung nach gewiss auch umgekehrt. Diese Verschränkung zwischen dem Nationaldichtungs- und dem Ausdrucksparadigma in der deutschen Literaturgeschichte dürften Gervinus und Hettner wiederum deshalb so überzeugt vorgebracht haben, weil schon die Autorität Goethe sie postuliert hatte. Im Ohr der Philologen hallte zweifellos noch das Lob nach, das dieser der wohl wirkmächtigsten Dichtung auf den Siebenjährigen Krieg ausgesprochen hatte. So pries Goethe die Preussischen Kriegslieder von einem Grenadier (1758) von Johann Wilhelm Ludwig Gleim nicht nur für ihr nationales Sujet, sondern dezidiert auch für die „glückliche Form“,57 die der Autor gefunden habe: In den Kriegsliedern habe Gleim eine neue Sprache für die Leidenschaften entwickelt, die ein Soldat „in den höchsten Augenblicken“58 von Gefahr und Erfolg auf dem Schlachtfeld durchlebe. Die gefeierte Wiedergabe einer Empfindung „mit und in der Tat“59 war durch einen Wechsel der literarischen Gattung möglich geworden, den Goethe 1811 nur noch en passant erwähnen musste: Es sei ausgemacht, dass Gleim seiner Nation eine gültige „Epopöe“ verschafft habe, zu der „gerade nicht“ mehr „die Form des epischen Gedichts nötig“60 gewesen sei. Stattdessen hatte Gleim die Gattung gewählt, die wenig später zur Ausdruckspoesie par excellence avancierte – die Lyrik.61 Bei Goethe wurde das Narrativ einer doppelten ‚Entdeckung des Eigenen‘ also auf eine Umschichtung im Gattungssystem zurückgeführt, die zwischen den Zeilen einen enormen Implikationsreichtum durchblicken lässt. In der Tat markierten die kriegerischen Jahrzehnte um 1750 den literaturgeschichtlichen Zeitpunkt, in denen der frühneuzeitliche Traum vom Nationalepos seinen Glanz

56 Der immer noch maßgebliche Aufsatz, den Karl Siegfried Guthke zu diesem Thema verfasst hat, ist ebenfalls in Wilfried Barners Band zum sozialen und literarischen Traditionsverhalten im 18. Jahrhundert erschienen (Karl Siegfried Guthke, Die Entdeckung des Ich in der Lyrik. Von der Nachahmung zum Ausdruck der Affekte. In: Tradition, Norm, Innovation. Soziales und literarisches Traditionsverhalten in der Frühzeit der europäischen Aufklärung, hg. von Wilfried Barner und Elisabeth Müller-Luckner, München 1989, S. 93–121; zur Datierung dieser dichtungstheoretischen Entwicklungen auf die Jahrhundertmitte vgl. hier S. 96). 57 Goethe, Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. In: HGA, Bd. 9, S. 280. 58 Goethe, Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. In: HGA, Bd. 9, S. 280. 59 Goethe, Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. In: HGA, Bd. 9, S. 280. 60 Goethe, Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. In: HGA, Bd. 9, S. 280. 61 Guthke, Die Entdeckung des Ich in der Lyrik, S. 94.

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Einleitung: Literatur und Krieg um 1750

verlor.62 Seit Gleim war es denkbar geworden, die Quintessenz der politischen Gemeinschaft literarisch völlig anders zu konfigurieren als bisher. Statt der höchsten Gattung der frühneuzeitlichen Literaturordnung schien nun eine der niedrigsten angemessen zu sein, nämlich die liedhafte Lyrik; statt der Taten von Herrschern und Helden interessierten jetzt die Empfindungen eines Soldaten, der die niederen Schichten repräsentierte. Begreift man Gattungen mit Wilhelm Voßkamp als „literarisch-soziale Institutionen“, d. h. als „historisch bedingte Kommunikations- und Vermittlungsformen“63 mit hoher Affinität zu gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen, dann ruft diese Umkehrung der tradierten Hierarchien eindringlich zur genaueren Betrachtung auf. Ein Schwerpunkt des literaturgeschichtlichen Blicks auf die Schlesischen Kriege muss daher die Perspektive der Gattungsgeschichte sein, die hier als eine Gattungsgeschichte im diskursgeschichtlichen Kontext betrieben werden soll. Diese Studie nimmt sich mithin vor, die Umstellungen auszuleuchten, die von verschiedener Seite in die Reinterpretation der poetischen Formen in der Kriegszeit hineinspielten: von der Dichtungstheorie, der Gesellschaftstheorie und der Philosophie. Dabei soll es dezidiert nicht darum gehen, eines der Felder primär zu setzen; die auffällige Verschiebung auf dem Gebiet der Gattungen soll als Index dienen, um den verschiedenen diskursgeschichtlichen Signifikanzen der literarischen Kriegsbegeisterung nachzugehen. Der zentrale Bezugspunkt für dieses Unterfangen ist die formulierte Beobachtung, dass der neue Modus der nationalen Poesie, den Dichter und Gelehrte mit dem Siebenjährigen Krieg verknüpften, auf einer konzeptionellen Annäherung von Nationalität und Lyrizität beruhte. In dieser spezifischen Verschränkung dokumentiert sich eine diskursübergreifende Tendenz zur Affektivierung, die darauf hinwirkte, dass sowohl die literarische als auch die politische Gemeinschaft um die Mitte des 18. Jahrhunderts sukzessive auf ein anthropologisches Fundament gestellt wurde. In beiden Zusammenhängen ging es offenbar um die Suche nach möglichst grundlegenden Semantiken der „Inklusion“,64 die durch ihre besondere „Tiefenlage“65 versprachen, die soziale Kohäsion im Übergang von der traditionellen ständischen Ordnung zu einer modernen, funktionalen Differenzierung der Gesellschaft zu sichern und zu vertiefen.66 Die Prozesse, in  

62 Dazu und zu den Transformationen der epischen Gattungsfunktion vgl. Werner Michler, Kulturen der Gattung. Poetik im Kontext, 1750–1950, Göttingen 2015, S. 161–186. 63 Wilhelm Voßkamp, Gattungen als literarisch-soziale Institutionen. Zu Problemen sozial- und funktionsgeschichtlich orientierter Gattungstheorie und -historie. In: Textsortenlehre – Gattungsgeschichte, hg. von Walter Hinck, Heidelberg 1977, S. 27–42. 64 Luhmann, Frühneuzeitliche Anthropologie, S. 172. 65 Luhmann, Frühneuzeitliche Anthropologie, S. 176.

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denen sich literatur- und gesellschaftstheoretische Diskurse unter diesen Bedingungen neu aufeinander einstellten, werden in den einzelnen Kapiteln dieser Studie genauer zu verfolgen sein. Dabei geht diese Arbeit grundsätzlich davon aus, dass dem Reflexionsgegenstand ‚Krieg‘ eine Schlüsselfunktion für die skizzierten semantischen Tieferlegungen zukam. Die Ursache dafür ist in dem spezifischen Typus des Traditionsverhaltens zu sehen, der mit den neuen Bellizismen einherging. Es wird zu zeigen sein, dass die Bewertung des Krieges im europäischen Diskurs der Jahrhundertmitte den Kristallisationspunkt für eine kritische Auseinandersetzung mit den bestehenden Ordnungssystemen bildete, die konsequent dualistisch verfuhr.67 Mit dem immer häufiger laut werdenden Plädoyer für ursprüngliche, martialische Tugenden68 verbanden sich stets Gegenentwürfe zum Kulturideal der absolutistischen Epoche.69 Diskurslogisch scheinen die „vertus guerriers“70 wie Tapferkeit und Freiheitsliebe für die Zeitgenosse gerade darum so faszinierend gewesen zu sein, weil sie die Orientierungen der überlieferten Literatur-, Kultur- und Gesellschaftskonzepte systematisch auf den Kopf stellten. Exemplarisch ist diese polemische Bevorzugung des Krieges über die (Hoch-)Kultur in dem kalkuliert skandalösen Discours sur les sciences et les arts zu greifen, mit dem der junge JeanJacques Rousseau sich 1750 auf einen Schlag in ganz Europa bekannt machte: In der epochemachenden Schrift denunzierte der Genfer Philosoph die bislang verehrten künstlerischen Leistungen des antiken Athens als Türöffner für moralische „Laster“, während er die „heldenmütigen Taten“ der kriegsliebenden Spartaner dagegen zum Zeichen einer kollektiven „Tugend“71 erhob. In diesem Spiel der Inversionen wurde der Krieg zum Paradigma für alternative Gemeinschaftsvorstellungen, in deren Rahmen neue Dichotomien erprobt werden konnten. Das Aufkommen einer positiven Sicht auf den Krieg war damit aufs Engste mit einer Akzentverlagerung in den kulturellen Bewertungssystemen verknüpft, die sich um 1750 in der europäischen Aufklärung vollzog: mit der Umkehrung der

66 Vgl. auch Karl Eibl, Die Entstehung der Poesie, Frankfurt a. M., Leipzig 1995, v. a. S. 42–46. 67 Die „Interdependenzen des Alten und des Neuen“, unter denen sich der Umbau der Semantik in der Frühen Neuzeit vollzog, betont Luhmann, Frühneuzeitliche Anthropologie, S. 169. 68 Überblickshaft für die französische Aufklärung, von der in diesem Zusammenhang zentrale Impulse ausgingen, vgl. Leonhard, Bellizismus und Nation, S. 111–119. 69 Vgl. Gonthier-Louis Fink, Das Bild des Nachbarvolkes im Spiegel der deutschen und französischen Hochaufklärung (1750–1789). In: Nationale und kulturelle Identität. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit, hg. von Bernhard Giesen, Frankfurt a. M. 1991, S. 453–492, hier: S. 462 f. 70 Leonhard, Bellizismus und Nation, S. 114. 71 Jean-Jacques Rousseau, Abhandlung über die Wissenschaften und Künste. In: Ders., Schriften, hg. von Henning Ritter, 2 Bde., Bd. 1, Frankfurt a. M. 1988, S. 27–60, hier: S. 40 f.  











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Einleitung: Literatur und Krieg um 1750

traditionellen Hierarchie von Zivilisation und Barbarei72 zu einer entgegengesetzt angeordneten Rangfolge von Natur und Künstlichkeit. An eine solche strukturelle Umgewichtung vom Künstlichen zum Natürlichen konnten literatur- und gesellschaftstheoretische Programme auf verschiedenste Weise andocken. In diesem Sinne führt eine Analyse der Kriegsdiskurse zur Mitte des 18. Jahrhunderts in vielfältige Prozesse des Traditionsverhaltens hinein, in denen gezielt die Felder ‚jenseits der Kultur‘ erkundet wurden. Auf der Spur des Krieges lassen sich dementsprechend eine Reihe von homologen Fokusverschiebungen verfolgen, die in die neuen Entwürfe einer nationalen Literatur während der Schlesischen Kriege hineinspielten. Drei solcher Komplexe sollen in dieser Arbeit konturiert werden. So wird ein erster Schwerpunkt auf die Entwürfe von kriegerischer Gemeinschaft (Teil I) gesetzt, die mit einer Umschichtung der antiken Vorbilder in der europäischen Gesellschaftsphilosophie einherging. Neben die Hochkultur Rom traten andere, bisher marginale Altertümer wie die kriegerischen Spartaner und Germanen. In der Auseinandersetzung mit diesen Antiken loteten französische, englische und deutsche Autoren die Bedingungen für eine natürliche, auf einfachen Affekten basierende Form politischer Kohäsion aus, die von nun an die Diskurse über Vaterland und Nation zu nuancieren begann. In der deutschen Literatur der Schlesischen Kriege kam es auf dieser Basis zu einer zweiten Verdichtung des Traditionsverhaltens, in der die Relation zwischen Gattung und Gemeinschaft (Teil II) neu justiert wurde. Wie oben angedeutet, erodierte im Laufe der 1750er Jahre der Konsens, dass die heroischen Taten der Nation in der höchsten Gattung, dem Epos, zu behandeln seien. In der Folge entstanden alternative Poetologien, welche die Ansätze für eine repräsentative Literatur der Nation am entgegengesetzten Ende der überlieferten Gattungshierarchie suchten. Erprobt wurde dabei vor allem eine neuartige Verbindung von Krieg und liedhafter Lyrik, der die Zuständigkeit für die einfachen, natürlichen Empfindungen zugeordnet wurde. Auf diese Weise ergaben sich konzeptuelle Berührungspunkte zwischen den Fragestellungen der Kriegsdichtung und Ästhetik (Teil III). So etablierte sich der Krieg in der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts als einer der paradigmatischen Bezugspunkte, um eine Poesie auszuarbeiten, die statt an die hohen, rationalen Erkenntnisvermögen an den sogenannten „Grund der Seele“73 appel72 Vgl. Caspar Hirschi, The Origins of Nationalism. An Alternative History from Ancient Rome to Early Modern Germany, Cambridge 2012, S. 35–38. 73 So die berühmte Formulierung, mit der Alexander Gottlieb Baumgarten die niederen Erkenntnisvermögen in der menschlichen Seele charakterisierte, die er ins Zentrum seines Entwurfs einer philosophischen Ästhetik stellte (Alexander Gottlieb Baumgarten, Metaphysica/Metaphysik. His-

3 Krieg und literarisches Feld: Konkurrenzen

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lieren sollte, wie er um 1740 vom hallischen Philosophen Alexander Gottlieb Baumgarten entworfen worden war: an die Affekte, Empfindungen und Leidenschaften.

3 Krieg und literarisches Feld: Konkurrenzen Die Natürlichkeitsrhetorik, die allen diesen Kriegsdiskursen zueigen war, darf dabei nicht darüber hinwegtäuschen, dass die verschiedenen Arbeiten an der Tradition keineswegs organisch auf die eine Form der nationalen Dichtung hinausliefen, von der man im 19. Jahrhundert wie selbstverständlich ausging. Die Kopplung an alle Arten von Gegendiskursen prädestinierte den Krieg vielmehr als Bühne für literaturpolitische Konkurrenzen, in denen das Verhältnis von Literatur und Gemeinschaft nicht nur neu ausgehandelt, sondern bisweilen regelrecht ausgefochten wurde. In dieser Studie wird deutlich werden, dass bereits die ersten kriegerischen Gemeinschaftsentwürfe französischer und englischer Autoren an spezifische, durchaus kontingente Rivalitäten der jeweiligen kulturellen Felder geknüpft waren. Noch wichtiger für die Frage nach der Relevanz der Schlesischen Kriege für die deutsche Literaturgeschichte ist es freilich, die feldstrategischen Faktoren zu beachten, unter denen Literatur in diesem konkreten Raum entstand. Seit einiger Zeit macht die germanistische Forschung verstärkt darauf aufmerksam, dass die deutschsprachige Aufklärung aufgrund der besonderen Struktur des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation prinzipiell innerhalb eines Gefüges von „zahlreichen Zentren“74 zu betrachten ist, die miteinander im permanenten Wettstreit standen. Die zum Teil fundamental verschiedenen politischen, ökonomischen und konfessionellen Profile der deutschen Territorien sorgten nicht nur für vergleichende Seitenblicke unter den jeweiligen Herrschenden; sie sind zugleich als Konstituenten von „Kultur- und Literaturräumen“75 zu sehen, unter denen im

torisch-kritische Ausgabe, übersetzt, eingeleitet und hg. von Günter Gawlick und Lothar Kreimendahl, Stuttgart 2011, S. 270). 74 Wolfgang Adam, Siegrid Westphal, Vorwort, In: Handbuch kultureller Zentren der Frühen Neuzeit. Städte und Residenzen im alten deutschen Sprachraum, hg. von dens., Claudius Sittig und Winfried Siebers, 3 Bde., Bd. 1, Berlin, Boston 2012, S. XXV–XXIX, hier: S. XXV. 75 Norbert Mecklenburg, Literaturräume. Thesen zur regionalen Dimension deutscher Literaturgeschichte. In: Das Fremde und das Eigene. Prologomena zu einer interkulturellen Germanistik, hg. von Alois Wierlacher, München 1985, S. 197–211. Vgl. auch Norbert Mecklenburg, Stammesbiologie oder Kulturraumforschung? Kontroverse Ansätze zur Analyse regionaler Dimensionen der deutschen Literatur. In: Vier deutsche Literaturen? Kontroversen, alte und neue, Bd. 10, hg. von Albrecht Schöne und Karl Pestalozzi, Tübingen 1986, S. 3–15.

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Einleitung: Literatur und Krieg um 1750

18. Jahrhundert immer wieder selbsternannte „Dichterkriege“76 ausbrachen. Es liegt auf der Hand, dass diese poetischen Konflikte durch die militärischen Konfrontationen zwischen den Herrschafts- und Kulturräumen zusätzlich angefacht wurden, dass die Erfolge und Niederlagen jedoch leicht auch umgekehrt zum literaturpolitischen Argument gemacht werden konnten. Eine wichtige Aufgabe dieser Arbeit muss darum darin liegen, den Wechselbeziehungen zwischen dem Streit der Literatur- und der Kriegsparteien nachzugehen, unter deren Vorzeichen sich die vielfältigen Affektivierungsprogramme für Dichtung und Gemeinschaft sukzessive aufeinander eintakteten. Mit dem genauen Blick auf das beschleunigte Traditionsverhalten in den literarischen und gesellschaftstheoretischen Kriegsdiskursen, der hier angestrebt wird, verbindet sich ein doppeltes Ziel. Erstens soll deutlich werden, dass der Krieg in der res publica litteraria der Jahrhundertmitte allenthalben als – theoretisches wie auch historisches – Inzitament diente, um die affektiven Grundlagen von kultureller und sozialer Gemeinschaft zu sondieren. Im Resonanzraum dieser allgemeinen Faszination für Feldzüge, Schlachten und heroische Taten lässt sich eine besondere diskursgeschichtliche Gemengelage profilieren, die am Maßstab späterer Epochen eine gewisse Paradoxie aufweist: In einem internationalen Austausch, wie er für die epochale Konfiguration der Aufklärung charakteristisch war,77 begannen französische, englische und auch deutsche Autoren, an neuen Leitkategorien wie ‚Nation‘ und ‚Vaterland‘ zu arbeiten. In der Vermessung des breiten Spektrums von Kriegsgemeinschaften, die in einem spezifischen Spannungsfeld von Internationalität, Nationalität und Regionalität entworfen wurden, liegt ein zweites Anliegen dieser Arbeit. Durch die Kartierung der heterogenen Ansätze dessen, was ‚Nationalität‘ und ‚nationale Literatur‘ um 1750 bedeuten konnte, sollen die Schichten der „Retro-Semantisierung“78 abgetragen werden, die sich gerade im deutschsprachigen Raum an die vermeintliche poetische Entdeckung ‚der‘ Nation im 18. Jahrhundert angelagert

76 Diese Metapher für die literaturpolitischen Rivalitäten wurde bereits im 18. Jahrhundert geprägt. Im Jahr 1741 begann der Leipziger Dichtungslehrer Johann Christoph Gottsched die Arbeit an einem parodistischen Heldengedicht mit dem Titel Der deutsche Dichterkrieg gegen seinen Schweizer Kontrahenten Johann Jakob Bodmer, das stückweise in der gottschednahen Zeitschrift Belustigungen des Verstandes und des Witzes (Leipzig, 1741–1744) publiziert wurde. Abgeschlossen wurde der polemische Text jedoch letztlich nicht (Uwe R. Klinger, Gottsched und die ‚Belustigungen des Verstandes und des Witzes‘. In: Lessing Yearbook 3 (1971), S. 214–225, hier: S. 220 f.). 77 Vierhaus, Die Erforschung des 18. Jahrhunderts, S. 158. 78 Dieses Konzept hat Hans Adler eingeführt. Er wendet sich damit zu Recht kritisch gegen die Tendenzen zur „Aufladung des Begriffs ‚Nation‘ im Nachhinein, nach markanten Ereignissen und Phasen der deutschen Geschichte“ (Hans Adler, Nation. Johann Gottfried Herders Umgang mit  

3 Krieg und literarisches Feld: Konkurrenzen

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haben. Vorsicht vor simplifizierenden Vereindeutigungen ist sowohl mit Blick auf die emphatischen Naturalisierungen der Nation im Anschluss an Goethe geboten als auch hinsichtlich pauschaler Engführungen national orientierter Dichtungsprogramme mit politischen „Machtphantasien“,79 die sich verschiedentlich in der germanistischen Forschung finden. Stattdessen soll hier der Blick für die Pluralität der nationalen und patriotischen Poetologien geöffnet werden, die in der Zeit der Schlesischen Kriege entworfen und gegeneinander ins Feld geführt wurden. Durch eine Analyse der literarischen und politischen Prämissen, unter denen diese Programme entwickelt und platziert wurden, versprechen zugleich ihre buchstäblich parteilichen Profile hervorzutreten. Diese Differenzierung ist unerlässlich, um zu verstehen, auf welcher Grundlage ‚um 1800‘ eine neue Generation von konsequent national dichtenden Autoren antrat – eine Generation, die bestimmte Dichtungsprogramme aus genau dieser Zeit aufgriff, fortschrieb und universalisierte, und die damit in erheblichem Maße dazu beitrug, die kriegerische Arbeit an der Tradition in der Jahrhundertmitte vergessen zu machen.

Konzept und Begriff. In: Unerledigte Geschichten. Der literarische Umgang mit Nationalität und Internationalität, hg. von Gesa von Essen und Horst Turk, Göttingen 2000, S. 39–56, hier: S. 39). 79 In den 1990er Jahren ist ein Sammelband unter diesem programmatischen Titel erschienen (Machtphantasie Deutschland. Nationalismus, Männlichkeit und Fremdenhaß im Vaterlandsdiskurs deutscher Schriftsteller des 18. Jahrhunderts, hg. von Hans Peter Herrmann, Hans-Martin Blitz und Susanne Moßmann, Frankfurt a. M. 1996).  

Teil I Krieg und Antike: Die Genese patriotischer Republiken

Um die Mitte des 18. Jahrhunderts glaubte man in der europäischen Gelehrtenrepublik, das Verständnis für ein politisches Schlüsselwort der Antike wiedergefunden zu haben. Nahezu zeitgleich flackerte in mehreren Sprachen und Ländern eine leidenschaftliche Debatte darüber auf, was es in früheren Zeiten mit dem Begriff ‚patria‘ auf sich gehabt haben mochte. In Frankreich legte der Jesuit Gabriel-François Coyer im Jahr 1755 eine „Dissertation sur le vieux mot de patrie“ vor, in der er die bisherige Taubheit für das Konzept mit deutlichen Worten beklagte.1 „Nous avons oublié l’idée qui fut attachée à ce grand mot“,2 prangerte er seine Zeitgenossen an, um das Vergessen auf eine grundlegend veränderte Staatsauffassung zurückzuführen. Fälschlich habe man das Vaterland des Altertums, „la Patrie“, bislang mit den Institutionen der absolutistischen Herrschaft, der Monarchie („le Royaume“) und dem Staat („l’Etat“), gleichgesetzt.3 Tatsächlich aber konzentriere sich in dem Begriff eine ganz andere, verlorengegangene Erfahrung von Gemeinschaft, in der die Verbindung zu den Mitbürgern noch als natürliches Band, als „puissance […] fondée sur la nature & l’ordre“,4 spürbar gewesen sei. Das Vaterland, lobte Coyer, sei in der Frühzeit der Geschichte nicht nur das erste, noch gelallte Wort der Kinder gewesen („un des premiers mots que les enfans bégayoient“), sondern die Seele jedes Gesprächs („l’ame des conversations“) und, nicht zuletzt, der wütend ausgestoßene Ruf der Soldaten („le cri de guerre“).5 Parallel zur französischen Wiederentdeckung erfasste die Frage, was einen derartigen ‚patriotism‘ unter den Bedingungen der Gegenwart ausmachen könne, immer mehr Bereiche der englischen Literatur. Schon in den 1730er Jahren hatten die Wochenschriften des Landes die richtige politische Auslegung des Neologismus zum umkämpften Terrain erklärt und ihn darüber effektiv im Diskurs etabliert;6 seit den 1740er Jahren gingen auch die Literaten – allen voran Odendichter

1 In Deutschland wenig bekannt, zählte Gabriel-François Coyer zum Zirkel um den einflussreichen französischen Handelsintendanten Vincent de Gournay, der auf wirtschaftliche und politische Reformen in Frankreich drängte. Seine „Dissertation“ gilt als Index für eine weitaus umfassendere Debatte; vgl. dazu Jacques Godechot, Nation, Patrie, Nationalisme et Patriotisme en France au XVIIIe Siècle. In: Annales Historiques de la Révolution Française 43:206 (1971), S. 481–501, hier: S. 489. 2 [Gabriel-François Coyer,] Dissertations pour être lues: La premiere, sur le vieux mot de patrie: la seconde, sur la nature du peuple, Den Haag 1755, S. 15. 3 [Coyer,] Dissertations, S. 13. 4 [Coyer,] Dissertations, S. 20. 5 [Coyer,] Dissertations, S. 11. 6 Vgl. dazu Mary G. Dietz’ grundlegende Studie zur englischen Begriffsgeschichte von ‚patriotism‘ (Mary G. Dietz, Patriotism. In: Political Innovation and Conceptual Change, hg. von Terence Ball, James Farr und Russell L. Hanson, Cambridge 1989, S. 177–193, hier: S. 185). Dietz datiert

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Teil I Krieg und Antike: Die Genese patriotischer Republiken

wie James Thomson, William Collins und Thomas Gray – verstärkt den poetischen Potentialen patriotischer Empfindungen nach.7 Im Zuge dieser Faszination für das Vaterland kam es zu einer literarischen Konjunktur, die wenig später auch die deutschsprachige Literatur der Aufklärung erfasste. Wie bei den deutschen Kontrahenten der Schlesischen Kriege (1740–1742, 1744/1745, 1756–1763) florierte auch auf der Seite der englischen Partei das Genre der „Victory Odes“,8 in denen tagesaktuelle Schlachtereignisse zum Anlass einer emphatischen Lyrik auf das Vaterland wurden. Die gleichzeitige Konjunktur von Vaterland und Krieg, die sich im Zeichen der Antike um 1750 überall in Europa abzeichnete, ist von der Forschung nicht übersehen worden. Zu ihrer Erklärung hat man zumeist auf die politische Unruhe der Epoche verwiesen, um die Differenzierung der patriotischen Diskurse erfahrungsgeschichtlich aus dieser Konfliktdichte herzuleiten. England – so lautet eine neuere Position in der Anglistik – habe sich „in the middle decades of the eighteenth century […] more or less continuously at war“ befunden; darum sei die Arbeit an einer „patriotic self-consciousness“9 gerade zu dieser Zeit auf die Agenda der nationalen Literatur gerückt. Mit Blick auf die deutsche Kriegsdichtung ist eine analoge Argumentation seit den 1990er Jahren so verbreitet, dass Johannes Kunisch seine grundlegende Sammlung von Klassischen Zeitzeugen zum Siebenjährigen Krieg mit dem Titel Aufklärung und Kriegserfahrung (1996) versehen hat. Folgt man seiner Deutung, dann ist die Konstitution eines neuartigen „patriotischen Bewußtseins“, die sich in den historischen und literarischen Texten zum dritten Schlesischen Krieg vollzogen habe, als direkter Reflex von politischem „Stolz“ und von der „Erfahrung gemeinsam erlittener Not“10 zu verstehen. Aus der Sicht des Historikers und ebenso auch der geschichtswissenschaftlich geprägten Studien in der Germanistik11 waren es die einschneidenden Ereignisse

den ersten Beleg nach der damals aktuellen Auflage des Oxford English Dictionary auf das Jahr 1726. Mittlerweile verzeichnet das OED einen Beleg in Abel Boyers Zeitschrift The Political State of Great Britain, der diesem Datum um zehn Jahre vorausgeht (Art. patriotism. In: Oxford English Dictionary, online über oed.com, Zugriff am 15. November 2018). 7 Vgl. Dustin Griffin, Patriotism and Poetry in Eighteenth-Century Britain, Cambridge 2002, Kap. 3–6. 8 Griffin, Patriotism and Poetry, S. 35–48. 9 Griffin, Patriotism and Poetry, S. 10. 10 Johannes Kunisch, Aufklärung und Kriegserfahrung. Einleitung zum Kommentar. In: Aufklärung und Kriegserfahrung, hg. von dems., S. 737–756, hier: S. 740 f. 11 Auch die methodisch in der Geschichtswissenschaft verankerten Studien von Blitz (Blitz, Aus Liebe zum Vaterland, v. a. S. 148) und Birgfeld (Birgfeld, Krieg und Aufklärung, v. a. Bd. 1, S. 20) gehen von der Annahme aus, dass die Quelle des Patriotismus in der Erfahrung des Krieges selbst zu suchen sei.  





Teil I Krieg und Antike: Die Genese patriotischer Republiken

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der Zeitgeschichte, die im 18. Jahrhundert zu einer Art mentalitätsgeschichtlichen Erhitzung führten. Von einem literaturgeschichtlichen Standpunkt betrachtet, stellen sich gegenüber einer solchen Kausalbeziehung jedoch gewisse Zweifel ein. So reichte die notorische „Friedlosigkeit der Frühen Neuzeit“12 bis weit ins 16. Jahrhundert zurück; dennoch sind weder der ‚Große Krieg‘ des 17. Jahrhunderts, der Dreißigjährige Krieg (1618–1648), noch die dynastischen Auseinandersetzungen eingangs des 18. Jahrhunderts in der deutschen Literatur mit einer vergleichbaren Begeisterung begrüßt worden. Auch anlässlich dieser Konflikte entstand eine hohe Zahl von literarischen Texten. Darin wurde der Krieg jedoch nahezu einhellig als Last gedeutet: sei es theologisch als Strafe für menschliche Sünden, oder sei es neostoizistisch als Herausforderung, um sich in der Welt zu bewähren.13 Während die Dichter des Barock und der Frühaufklärung die ständigen Feldzüge also fürchteten, verfolgte man dieselben Ereignisse ab einem gewissen Zeitpunkt der Aufklärungsepoche mit patriotischem Enthusiasmus. Damit zeichnet sich eine Umwertung des Kriegs ab, die sich nicht allein durch den Hinweis auf die Historie erklären lässt. Vielmehr, so soll hier argumentiert werden, fordert sie einen genaueren Blick auf die diskursive Gemengelage um 1750. Dabei scheint es reizvoll, das bisher dominierende Argument umzukehren und die Konjunktur des Vaterlands weniger als Resultat denn als Ursache für die ungewohnte Affirmation des Militärischen anzunehmen: In den Texten aus Frankreich, England und dem Alten Reich hat es den Anschein, als verdichteten sich im Diskurs über die patria neue, dezidiert positive Versprechen des Krieges, die den Blick auf die Schlachten nachhaltig veränderten. Dem diskursgeschichtlichen Umbau, in den sich diese Neubewertung des Krieges einordnete, soll dieses Kapitel nachgehen. Dabei wird sich die Analyse von einem Paradox leiten lassen, das an Coyers „Dissertation sur le vieux mot de patrie“ ins Auge fällt. Obwohl das Vaterland mit seiner engen Verbindung zum Krieg nachdrücklich als altes Wort, ja als Wort aus dem Altertum eingeführt wird, bezeichnet es ein Konzept von politischer Gemeinschaft, dem im Hinblick

12 Johannes Burkhardt, Die Friedlosigkeit der Frühen Neuzeit. Grundlegung einer Theorie der Bellizität Europas. In: Zeitschrift für historische Forschung 24:4 (1997), S. 509–574. 13 Zur Kriegsliteratur des 17. Jahrhunderts vgl. Ferdinand van Ingen, Der Dreißigjährige Krieg in der Literatur. In: Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte, 10 Bde., Bd. 3: Zwischen Gegenreformation und Frühaufklärung: Späthumanismus, Barock, 1572–1740, hg. von Harald Steinhagen, Reinbek bei Hamburg 1985, S. 237–256 und Georg Braungart, Ästhetische Krisenbewältigung. Deutsche Literatur im Horizont der großen Kriege des 17. Jahrhunderts. In: Schlechte Zeiten, gute Zeiten – Krisen als Herausforderungen, hg. von Stefan Krimm und Martin Sachse, München 2004, S. 58–80.

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Teil I Krieg und Antike: Die Genese patriotischer Republiken

auf die Gegenwart nicht minder programmatisch ein Neuigkeitswert zugesprochen wird. Diese Ambiguität lässt sich mit Blick auf den diskursgeschichtlichen Stellenwert der verhandelten Begrifflichkeiten auflösen. Wie im Folgenden gezeigt werden soll, verortet die doppelte Markierung als ‚alt‘ und ‚neu‘ die postulierte Rückgewinnung der patrie in einer größeren Umstellung, die um die Mitte des 18. Jahrhunderts an Dynamik gewann. So hing die Konjunktur von Krieg und Vaterland aufs Engste mit einer Revision von politischen, sozialen und kulturellen Leitvorstellungen zusammen, die in der Tat über die Etablierung von ‚neuen‘ Antiken verhandelt wurde – d. h. von politischen Gemeinschaften des Altertums, die zuvor keine herausgehobene Bedeutung in den Diskursen der Frühen Neuzeit besessen hatten. Genauer gesagt, ging es dabei um die antiken Republiken wie Rom, Sparta und Athen. Dabei trat der politische Patriotismus seine Karriere im europäischen Diskurs als Kennzeichen genau dieser republikanisch organisierten Staaten an, die in Konkurrenz zum bisher verehrten Ideal des römischen Kaiserreichs traten und die damit auch die Modelle von Herrschaft, Gesellschaft und Kultur auf die Probe stellten, die man traditionell von der Autorität Rom abgeleitet hatte.14 Auf der Spur dieser Pluralisierung der Antike eröffnet sich die Möglichkeit, die neue Attraktivität des Krieges seit der Zeit um 1750 auf doppelte Weise zu kontextualisieren. Nicht nur verspricht eine solche Analyse aufzuzeigen, welche gesellschafts- und kulturtheoretischen Überlegungen sich mit dem aufgeklärten Bellizismus verbanden; sie kann auch klar machen, dass das bislang ungehörte Lob des Krieges auf einem spezifischen Traditionsverhalten basierte, das die etablierten Rom-Diskurse in Politik und Kunst grundlegend hinterfragte. Mithilfe des Konzepts von Wilfried Barner kann die Hinwendung zum Krieg als das Resultat eines aktiven, von gegenwärtigen Interessen und Diskursen angeleiteten Verhaltens zur Überlieferung konturiert werden.15 In den Fokus der Untersuchung rückt somit die Frage, welche Funktionen sich mit der neuartigen Konkurrenz 

14 Vgl. Chantal Grell, Le Dix-huitième siècle et l’antiquité en France 1680–1789, 2 Bde., Bd. 1, Paris 1995, S. 453. 15 So Wilfried Barner in der „Einleitung“ zu dem von ihm herausgegebenen Sammelband Tradition, Norm, Innovation. Soziales und literarisches Traditionsverhalten in der Frühzeit der europäischen Aufklärung (1987), auf die bereits in der Einleitung zu dieser Arbeit verwiesen worden ist (Barner, Einleitung, S. XV). Zum wichtigen Konzept des Traditionsverhalten vgl. außerdem Wilfried Barner, Traditionsverhalten als Element kultureller Orientierung. In: Kulturelle Orientierung um 1700. Traditionen, Programme und konzeptionelle Vielfalt, hg. von Sylvia Heudecker, Dirk Niefanger und Jörg Wesche, Tübingen 2004, S. 183–197 sowie Wilfried Barner, Tradition als Kategorie der Literaturgeschichtsschreibung. In: Ders., Pioniere, Schulen, Pluralismus. Studien zu Geschichte und Theorie der Literaturwissenschaft, Tübingen 1997, S. 277–296.

Teil I Krieg und Antike: Die Genese patriotischer Republiken

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bildung von verschiedenen Schemata der antiken Gesellschaft verbanden, die als solche seit langer Zeit in den frühneuzeitlichen Diskursen zirkulierten.16 Die Hypothese des Kapitels lautet mithin, dass sich die Affirmation des Krieges als Symptom einer folgenreichen Umgewichtung im frühneuzeitlichen Traditionshaushalt lesen lässt, die um 1750 vollzogen wurde. Nicht nur richtete sich die Faszination für die Kriegslust ‚anderer‘ Antiken gegen das Irenitätsideal, das zuvor mit der mustergültigen Herrschaft des Kaisers Augustus über das Imperium Romanum verbunden worden war, der die römischen Bürgerkriege um das Jahr Null christlicher Zeitrechnung mit der sprichwörtlichen Pax Augusta beendet hatte.17 Zugleich fungiert die Aufwertung des Krieges als Index für eine allgemeinere diskursgeschichtliche Umwertung, die im Rahmen dieser Untersuchung zwangsläufig auch in den Fokus rücken wird: Indem die res publica litteraria die antiken Republiken in Konkurrenz zur römischen Kaiserherrschaft stellte, die im 17. und 18. Jahrhundert als Legitimation für die absolutistischen Ordnungen der Gegenwart gedient hatte, wandte sie sich programmatisch gegen das etablierte Leitbild der Traditionsbildung und löste damit eine folgenreiche Phase der Neuorientierung in Staatslehre, Philosophie und Literatur aus. Um die Deutungsarbeit am Krieg in solchen diskursgeschichtlichen Umschichtungen zu verorten, soll dieses Kapitel in zwei Schritten vorgehen. Zunächst wird skizziert, welche Funktionen der Krieg im Referenzsystem antiker Autoritäten besaß, aus der die europäische Literatur der Frühen Neuzeit seit Langem ihre politischen und kulturellen Wertmaßstäbe generiert hatte (Kap. I.1). Im Anschluss daran wird nach der literatur- und diskursgeschichtlichen Konstellation gefragt, die dieses System im 18. Jahrhundert in Bewegung brachte und die zugleich den Krieg für Reflexionen über neue Modelle von kultureller und politischer Gemeinschaft anschlussfähig machte (Kap. I.2).

16 Auf diese Spielart des Traditionsverhaltens, bei der es um die Rangfolge zwischen verschiedenen diskursiven Optionen ging, hat Barner nachdrücklich hingewiesen. Zur internen Hierarchisierung, die bei der Rede von ‚der‘ Tradition mitzudenken ist, vgl. Barner, Einleitung, S. X. 17 Vgl. Beatrice Heuser, Betrachtungen zum Krieg im Zeitalter der Aufklärung. In: Krieg und Frieden im 18. Jahrhundert. Kulturgeschichtliche Studien, hg. von Stefanie Stockhorst, Hannover 2015, S. 349–373, hier: S. 351 f.; zum Diskurs der Pax Augusta im antiken und frühneuzeitlichen Diskurs s. außerdem Ulrich Schmitzer, Friede auf Erden? Latinistische Untersuchungen zur pax Augusta in interdisziplinärer Perspektive. Antrittsvorlesung HU Berlin, 20. Januar 2004, Berlin 2005.  

1 Nord/Süd – Krieg/Kunst: Antike Dichotomien seit dem Humanismus Bevor der Krieg im 18. Jahrhundert ins Zentrum patriotischer Diskurse rückte, besaß er bereits seit langer Zeit eine untergeordnete Funktion in einem Wettstreit, in dem die Akteure der res publica litteraria ihre kulturellen und politischen Leistungen aneinander maßen. Seit humanistischer Zeit galt die militärische Schlagkraft als eine, wenn auch nicht als die angesehenste Eigenschaft in einem Katalog topischer Qualitäten, auf die ein Land seinen Rang stützen konnte. Dieser Geltungsstreit zwischen den frühneuzeitlichen Monarchien ist gut erforscht; zumeist wird der daraus resultierende Diskurs mit Blick auf seine spätere Gebrauchsgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert verhandelt, die ihm das Etikett eines „Protonationalismus“18 eingetragen hat. In diesem Begriff klingt eine latente Teleologie an, die primär forschungsgeschichtlich begründet ist. So haben die deutschen (Literatur-)Historiker sich verstärkt den gegenseitigen Überbietungsversuchen der europäischen Monarchien seit der Renaissance zugewandt, seitdem das Thema der Nation in den 1980er Jahren neu aufgerollt worden ist. Im methodischen Anschluss an den konstruktivistischen turn von Benedict Anderson (Imagined Communities, 1983), Eric Hobsbawm (The Invention of Tradition, 1983) und Ernest Gellner (Nations and Nationalism, 1983), aber im Einspruch gegen die historische These dieser modernist theories hat man dafür plädiert, die Erfindung der Nation nicht erst um 1800 anzusetzen, als in verschiedenen Ländern das Begehren nach einem Nationalstaat laut wurde.19 Vielmehr betont das Forschungsprogramm eines ‚Nationalismus vor dem Nationalismus‘, dass die dabei zur Geltung gebrachten Diskurse zumindest eine, wenn nicht sogar mehrere Vorgeschichten besaßen, die seit dem 14. Jahrhundert in ständiger Transformation begriffen waren.20 Aus dieser Per-

18 Dieser Begriff ist geprägt worden von Herfried Münkler, Nation als politische Idee im frühneuzeitlichen Europa. In: Nation und Literatur im Europa der Frühen Neuzeit, hg. von Klaus Garber, Tübingen 1989, S. 56–86, hier: S. 59. 19 Vgl. die klare Darstellung von Umut Özkirimli, Theories of Nationalism. A Critical Introduction. Mit einem Vorwort von Fred Halliday, Basingstoke u. a. 2000, hier: S. 85–166. 20 Der differenzierende Widerspruch gegen die modernistischen Theorien des Nationalismus, der vor allem in den 1980er und 1990er Jahren etabliert worden ist, dokumentiert sich mittlerweile auf der Ebene von Forschungsüberblicken und Sammelbänden. Eine exzellente Übersicht findet sich bei Reinhard Stauber, Nationalismus vor dem Nationalismus? Eine Bestandsaufnahme der Forschung zu „Nation“ und „Nationalismus“ in der Frühen Neuzeit. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 47 (1996), S. 139–165. Aus der Vielzahl der Beiträge zu diesem Thema herauszuheben ist außerdem der wichtige Sammelband von Klaus Garber (Hg.), Nation und  

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1 Krieg/Kunst: Antike Dichotomien seit dem Humanismus

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spektive betrachtet, bildete auch die patriotische Kriegsemphase des 18. Jahrhunderts ein Durchgangsstadium, vor dessen Hintergrund sich die staatsbegründende Wende der nationalen Topiken erst angemessen verstehen lässt – zu denken ist in diesem Kontext vor allem an die entscheidende Bedeutung, die der Kampfruf ‚Vive la patrie!‘ in den nationalen Phantasien der Französischen Revolution besaß.21 Der Traditionszusammenhang zwischen der natio der Frühen Neuzeit und dem Vaterland des 18. Jahrhunderts soll hier aufgegriffen werden, ohne jedoch den letzten Schritt auf dem Weg zum Nationalstaat anzuvisieren. Dadurch kann die historische Blickrichtung umgekehrt werden. Statt in der Retrospektive danach zu fragen, aus welchen Elementen sich die moderne Vorstellung der Nation Schritt für Schritt zusammensetzte, geht dieses Kapitel entstehungsgeschichtlich vor. Sein Ziel ist es, die Funktionen, Potentiale und Affinitäten zu profilieren, die dem Krieg in der frühneuzeitlichen Sprache der Nation zugewiesen wurden. Auf dieser Basis kann sowohl genauer bestimmt werden, wo der patriotische Diskurs des 18. Jahrhunderts konzeptuell einsetzte, als auch, wo er die Tradition modifizierte. Dabei kann die Analyse an Überlegungen von Caspar Hirschi anknüpfen, der den Versuch unternommen hat, die Forschung zum ‚Nationalismus vor dem Nationalismus‘ systematisch auf eine historische Perspektive umzustellen. So leitet Hirschi die immanenten Logiken des nationalen Diskurses konsequent aus den politischen und sozialen Bedingungen her, die sie hervorgebracht haben.22 Im Zuge dessen ist zum ersten Mal auch das besondere Gewicht reflektiert worden, das der Antike in den verschiedenen europäischen Identitätsentwürfen zukam. Denn wie Hirschi zeigt, bestand das Ausgangsszenario der nationalen Konkurrenzen in einer spezifischen Inkompatibilität zwischen den politischen Legitimationsmustern der Römer, in deren Schule alle Gelehrten der Frühen Neuzeit gingen, und den Machtverhältnissen im nachmittelalterlichen Europa. Nach dem Ende des Römischen Reichs habe sich demnach ein Übertragungsproblem einge-

Literatur im Europa der Frühen Neuzeit, Tübingen 1989. Vgl. daneben auch die Beiträge in den programmatischen Bänden von Eckhart Hellmuth, Reinhard Stauber (Hgg.), Nationalismus vor dem Nationalismus? Hamburg 1998 und von Otto Dann (Hg.), Nationalismus in vorindustrieller Zeit, München 1986. 21 Vgl. Godechot, Nation, Patrie, Nationalisme et Patriotisme en France au XVIIIe Siècle, v. a. S. 498–501. 22 Hirschi, The Origins of Nationalism. In dieser Monographie sind die Thesen konzentriert, die Hirschi in seiner Dissertation vorgelegt hatte (Caspar Hirschi, Wettkampf der Nationen. Konstruktionen einer deutschen Ehrgemeinschaft an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit, Göttingen 2005). Gleichzeitig arbeitet Hirschi seinen theoretischen Ansatz weiter aus und erhebt damit den Anspruch, das konstruktivistische Paradigma der Nationalismusforschung zu differenzieren.  

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stellt: Das imperiale Selbstverständnis des antiken Roms, das als singuläre Zentralgewalt agiert habe, sei nicht mehr mit der fragmentierten politischen Struktur im Einklang gewesen, die sich auf dem ehemaligen Gebiet des Römischen Reiches herausgebildet habe.23 Diesem Problem seien die Gelehrten mit einem folgenreichen Anachronismus begegnet. Statt den römischen Diskurs der imperialen Vormacht aufzugeben, hätten sie diesen allenthalben weitererzählt und für ihre Länder in Anspruch genommen;24 in Analogie zum Imperium Romanum sei die Regierung über Europa dabei nach wie vor als Monarchie, als Alleinherrschaft gedacht worden.25 In der Folge habe sich ein Nebeneinander von vielen „wouldbe empires“26 konstituiert, die in einem multipolaren Widerstreit gegeneinander angetreten seien. Dies sei jedoch unter der Bedingung einer wesentlichen Verschiebung geschehen. Statt auf dem politischen Feld habe man nun auf dem der Kultur entscheiden wollen, wer das Erbe der Römer für sich reklamieren dürfe. Ins Zentrum dieses symbolischen Wettkampfs sei im 15. Jahrhundert ein neues Konzept getreten: die sogenannte ‚Nation‘, die sich durch einen so heterogenen wie flexiblen „mix of linguistic (lingua), behavioural (mores), territorial (regna) and cosmographical criteria“27 ausgezeichnet habe. Aus dieser modellhaften Rekonstruktion ergeben sich historische Einsichten, die für Orientierung im diskursiven Gefüge sorgen. Folgt man Hirschi, dann bildeten sich die frühneuzeitlichen Nationalerzählungen über einen vergleichenden Blick nach außen heraus: „Nations are formed by their relations to other nations.“28 In den historischen Texten spiegelt sich dieses konkurrentistische Moment in einer Reihe von Gegensatzbildungen wider, die aus dem Wechselspiel der verschiedenen Geltungsansprüche hervorgingen. Darunter soll vor allem eine Dichotomie hier eingehender in den Blick genommen werden, nämlich die zwischen Kunst und Krieg. Diese Alternative, die für die Vaterlandsdiskurse im 18. Jahrhundert essentiell wurde, geht letztlich auf die provokante Geste zurück, mit der in Italien um 1300 eine exklusive Renaissance der Antike ausgerufen

23 Hirschi, The Origins of Nationalism, S. 121. 24 Hirschi, The Origins of Nationalism, S. 122. 25 Herausgearbeitet bei Werner Conze, Monarchie. In: GG, Bd. 4, 1978, S. 133–214, v. a. S. 147– 153; S. 170–172. Diese Vorstellung prägte die politischen Geltungskonflikte in Europa bis weit in die Frühe Neuzeit, ja bis ins 18. Jahrhundert hinein. Vgl. Burkhardt, Die Friedlosigkeit der Frühen Neuzeit, S. 517. 26 Hirschi, The Origins of Nationalism, S. 40. 27 Hirschi, The Origins of Nationalism, S. 95. 28 Hirschi, The Origins of Nationalism, S. 39. Inspiriert hat sich Hirschi für diese These offenbar bei Shmuel Noah Eisenstadt, Die Konstruktion nationaler Identitäten in vergleichender Perspektive. In: Nationale und kulturelle Identität. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit, hg. von Bernhard Giesen, Frankfurt a. M. 1991, S. 21–38.  



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wurde. Diese Setzung bildete den Ausgangspunkt für eine lange gültige Kulturordnung in der Frühen Neuzeit, deren Regeln im Folgenden umrissen werden sollen. Zu diesem Zweck ist zunächst eine Rückblende ins 14. Jahrhundert nötig. Zu diesem Zeitpunkt nämlich konfrontierten italienische Autoren wie Dante, Francesco Petrarca und Cola di Rienzo die europäische Gelehrtenwelt bekanntlich mit einer selbstbewussten These: Ihr eigenes Land, so behaupteten sie, stehe sowohl sprachlich als auch politisch in einer privilegierten Nachfolge zur römischen Antike. Deshalb seien es auch in der Zukunft die Italiener, denen die singuläre Verantwortung für die kulturelle Entwicklung in Europa zukomme.29 Dieses Programm wurde als Wiedergeburt der Antike, als rinascimento inszeniert; passend dazu stützte man sich auf eine komplexe Transformation von Diskursen aus dem Altertum. Im Unterschied zu zuvor etablierten, gentilgenealogisch fokussierten Herleitungen von politischer Zugehörigkeit30 verknüpfte der italienische Ansatz Geschichtsdeutungen, Herrschaftsansprüche, geographische Grenzziehungen und kulturelle Identitätsentwürfe zu einem „Orientierungssystem“,31 das auf vielen Ebenen wirksam war. Dabei bestand die zentrale Operation darin, dass all diese Bereiche einem asymmetrischen Gegensatz unterworfen wurden, der das Selbstverständnis der Griechen und der griechisch gebildeten Römer bestimmt hatte:32 dem hierarchischen Unterschied zwischen einem „civilised self“ und einem „barbarian other“33.

29 Detailliert rekonstruiert von Kathrin Mayer, Herfried Münkler, Die Erfindung der italienischen Nation in den Schriften der Humanisten. In: Nationenbildung. Die Nationalisierung Europas im Diskurs humanistischer Intellektueller. Italien und Deutschland, hg. von dens. und Hans Grünberger, Berlin 1998, S. 75–161. Klaus Garber bezeichnet die Umstellungen vom universalen zum nationalen Diskurs, den die Autoren der italienischen Renaissance sowohl auf dem poetischen als auch auf dem politischen Feld eingeleitet hätten, emphatisch als „Gründungsurkunde der Moderne aus dem Geist der Antike“ (Klaus Garber, Zur Konstitution der europäischen Nationalliteraturen. Implikationen und Perspektiven. In: Nation und Literatur im Europa der Frühen Neuzeit, hg. von dems., Tübingen 1989, S. 1–55, hier: S. 12). 30 Zu den „Bewußtseinsformen eines gentilen und supragentilen ‚natio‘-Konzepts“ vgl. differenziert Jörn Garber, Trojaner – Römer – Franken – Deutsche. Abstammungstheorien im Vorfeld der Nationalstaatssbildung. In: Nation und Literatur im Europa der Frühen Neuzeit, hg. von Klaus Garber, Tübingen 1989, S. 108–163, hier: S. 111. 31 Hirschi, Wettkampf der Nationen, S. 182. 32 Maßgeblich Reinhart Koselleck, Zur historisch-politischen Semantik asymmetrischer Gegenbegriffe. In: Ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt a. M. 1989, S. 211–259. Vgl. außerdem Jean Starobinski, Das Wort Zivilisation. In: Ders., Das Rettende in der Gefahr. Kunstgriffe der Aufklärung. Mit einem Essay von Horst Günther, Frankfurt a. M. 1992, S. 9–64, v. a. S. 21. 33 Hirschi, The Origins of Nationalism, S. 36.  





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Bei den antiken Schriftstellern war diese Dichotomie zwischen Zivilisation und Barbarei axiomatisch gewesen, und mithin bot die Überlieferung für diese Klassifikation von Kulturen mehrere Begründungen an.34 Anfänglich hatte der Gegensatz lediglich die sprachliche Grenze markiert, die das verständliche Idiom der Griechen aus Sicht der Sprecher von jedem unverständlichen trennte. Doch mit der Zeit hatte sich an dieses Kriterium eine Reihe von weiteren Diskursen angelagert.35 Mit dem Traktat De aeribus aquis locis (5. Jh. v. Chr.), das man fälschlich dem antiken Arzt Hippokrates zuordnete, verband sich erstens der Versuch, die geographische Verteilung von Zivilisierten und Barbaren auf die natürlichen Lebensbedingungen zurückzuführen, die – so die Annahme – für die Völker am Mittelmeer günstiger ausfielen als für die Bewohner von kälteren Zonen.36 Diese Hypothese, die unter dem Namen ‚Klimatheorie‘ bekannt geworden ist, stellte einen räumlichen Faktor ins Zentrum. Daneben bildete sich zweitens eine geschichtsphilosophische Deutungslinie heraus, die von Zeitlichkeit ausging. So beschrieb der römische Geschichtsschreiber Polybios den Aufstieg und Niedergang aller Staaten in seinen Historien (2. Jh. v. Chr.) als Kreislauf, in dem die Gesellschaften nach einer anfänglichen Entwicklung von der Barbarei zur Zivilisation über kurz oder lang dazu verdammt seien, ins einfachere Ausgangsstadium zurückzufallen.37 Zivilisation und Barbarei bildeten aus dieser Sicht keine fixierten Polaritäten, sondern gingen unablässig ineinander über. Vor diesem Hintergrund ist es als strategische Grundsatzentscheidung zu bewerten, dass die italienischen Gelehrten die Grenzlinie zwischen Zivilisation und Barbarei für ihr Projekt der kulturellen Erneuerung topographisch fundierten. Denn die striktere Unterscheidung des Raumes erlaubte es ihnen, ein unveränderliches kulturelles Gefälle innerhalb der europäischen Kultur zu konstruieren. Hirschi formuliert dazu:  



34 Vgl. Hirschi, Wettkampf der Nationen, S. 184–187. Einen Überblick über die Relationierungen, die im Laufe der Antike zwischen Zivilisierten und Barbaren vorgenommen wurden, bietet Elmar Siebenborn, Barbaren, Naturvölker, edle Wilde. In: Der altsprachliche Unterricht 41:4–5 (1998), S. 18–31. 35 Belege und Entwicklungslinien bei Volker Losemann, Barbaren. In: DNP, Bd. 2, 1997, Sp. 439–443. 36 Charlotte Schubert, Konstruktionsprinzipien des Weltbildes: Die Hippokratische Schrift De aeribus und die Suche nach der Mitte der Welt. In: Medizinhistorisches Journal 35:3/4 (2000), S. 201–218, v. a. S. 204–206; Klaus E. Müller, Geschichte der antiken Ethnographie und ethnologischen Theoriebildung. Von den Anfängen bis auf die byzantinischen Historiographen, 2 Bde., Bd. 1, Wiesbaden 1972, S. 137–144 sowie S. 314 f. 37 Vgl. Frank W. Walbank, The Idea of Decline in Polybius. In: Niedergang. Studien zu einem geschichtlichen Thema, hg. von Reinhart Koselleck und Paul Widmer, Stuttgart 1980, S. 41–58.  



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Der Barbarendiskurs der italienischen Renaissance war eindimensionaler als jener der Antike, den er zu imitieren suchte. Einer Wiedergeburt der antiken Kultur verpflichtet, zielten die Humanisten auf eine umfassende Durchsetzung ihrer als römisch verstandenen Normen. Dieses Bestreben lag ein dichotomisches Wert- und Geschichtsverständnis zugrunde. Es bestand aus simplifizierenden Oppositionen wie Antike – Mittelalter, Italien – Resteuropa oder Rhetorik – Dialektik.38

In dieser dualen Ordnung konzentrierten sich alle relevanten Ressourcen an demjenigen Ort, der eine besondere Verbindung zwischen den Autoren der Renaissance und der Antike garantierte. Italien, und speziell die Stadt Rom, fungierte als das Zentrum der proklamierten Erneuerung, das der übrigen kulturellen Landschaft einen Status der Peripherie zuwies.39 Die Linie der Alpen, die den Bezirk der literarischen Neubelebung begrenzte, wurde zu diesem Zweck als imaginäre Nord-Süd-Achse konzeptualisiert,40 die eine „Territorialisierung“41 des hierarchischen Gefälles zwischen Zivilisierten und Unzivilisierten vornahm. Im Süden Europas warteten demnach die sprachlichen und materiellen Relikte der römischen Hochkultur auf ihre renovatio, zu der die ersten Schritte bereits unternommen seien. Entferne man sich aus dieser Sphäre und überschreite die Grenzlinie in Richtung Norden, behaupteten die italienischen Autoren, so stehe man einem unterschiedslosen „Meer der Barbarei“42 gegenüber. Anlass für diese pauschale Abwertung der transalpinen Länder waren zwei konkrete Konkurrenzen. In der Frage nach der kulturellen Rangfolge in Europa sprach Petrarca mit seiner Invectiva contra eum qui maledixit Italie (1373) gegen Jean de Hesdin den Franzosen die Chance ab, ihre größere Distanz zur lateinischen Kultur und Sprache jemals aufholen zu können;43 im Wettbewerb um politische Führungsansprüche stellte Dante in De Monarchia (um 1316) mit einem analogen Argument die Legitimität der translatio imperii ins Alte Reich in Frage.44 Beide Autoren erhoben somit eine topographische Gliederung Europas in Zentrum und Peripherie zu demjenigen Faktor, der über kulturelle Leistungsfähigkeit entschied. Allein dort, wo Rom gewesen war, konnte die Kunst nach dieser Logik

38 Hirschi, Wettkampf der Nationen, S. 182. 39 Vgl. Eisenstadt, Die Konstruktion nationaler Identitäten in vergleichender Perspektive, S. 25– 28. 40 Mayer, Münkler, Die Erfindung der italienischen Nation in den Schriften der Humanisten, S. 79. 41 Koselleck, Zur historisch-politischen Semantik asymmetrischer Gegenbegriffe, S. 217. 42 Hirschi, Wettkampf der Nationen, S. 177. 43 Hirschi, Wettkampf der Nationen, S. 199–210; S. 243. Im Hintergrund der Auseinandersetzung standen hier die Bestrebungen der italienischen Politik, den Sitz des Papstes aus Avignon zurück nach Rom zu verlegen. 44 Garber, Zur Konstitution der europäischen Nationalliteraturen, S. 11 f.  

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in gleicher Qualität wieder erblühen. Die Alternativen, die ein zeitlicher Verlauf eröffnen würde, lägen sie nun in einem Zuwachs an Gelehrsamkeit bei den anderen Nationen oder in einer Verlagerung der Herrschaft im historischen Prozess, wurden systematisch marginalisiert. Obwohl die Renaissance-Autoren also darauf spekulierten, die Rom-Nachfolge ein für alle Mal auf das eigene Land festzulegen und jede weitere Konkurrenz zu unterbinden, entfachten sie mit ihrem Vorgehen faktisch einen Wettbewerb der Nationen, der die gesamte Epoche des Humanismus kennzeichnete. So formierte sich in Reaktion auf ihre Abgrenzungstaktik im 15. Jahrhundert ein innovatives Konzept der nationalen Ehre,45 das den vormodernen Ehranspruch von spezifischen sozialen Gruppen46 auf eine „national community of honour“47 übertrug und die Gelehrten dazu aufrief, den Rang der eigenen Nation innerhalb der res publica litteraria zu verteidigen.48 Dabei zog die dualistische Rhetorik der Italiener weitere Kreise als zunächst intendiert. Das betraf zumal die deutschen Humanisten. Denn dort, wo die Italiener ihr barbarisches Gegenbild konkretisierten, bedienten sie sich bevorzugt der ethnographischen Topiken, die antike Autoren, allen voran Caesar, Lucan und Strabo, den (noch nicht von den Römern unterworfenen) Völkern im Norden Europas zugeordnet hatten. Auf dem Gebiet, das in der Frühen Neuzeit mit dem des Alten Reichs zusammenfiel, lebten demnach die Germani, die entgegengesetzt zum zivilisierten Selbstentwurf der Römer charakterisiert wurden.49 Im antiken Dis-

45 Hirschi, The Origins of Nationalism, S. 14. 46 Vor allem als „verhaltensleitender Code“ des Adels ist die Ehre mehrfach theoretisiert worden (Klaus Schreiner, Gerd Schwerhoff, Verletzte Ehre – Überlegungen zu einem Forschungskonzept. In: Verletzte Ehre. Ehrkonflikte in Gesellschaften des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, hg. von dens., Köln, Weimar, Wien 1995, S. 1–28, hier: S. 10). Neben Elias, der sie als Adelsethos untersucht hat (Norbert Elias, Die höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie mit einer Einleitung: Soziologie und Geschichtswissenschaft, Darmstadt, Neuwied 1969, v. a. S. 145–158), ist vor allem Luhmann zu nennen, der sie als „symbolisch generalisierte Interaktionsfähigkeit in der Oberschicht“ reflektiert (Niklas Luhmann, Interaktion in Oberschichten: Zur Transformation ihrer Semantik im 17. und 18. Jahrhundert. In: Ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, 4 Bde., Bd. 1, Frankfurt a. M. 1993, S. 72–161, hier: S. 96 f.). 47 Hirschi, The Origins of Nationalism, S. 14. Vgl. dort auch Kap. 5.3, S. 88–95. 48 Da Bourdieu die Ehre als Paradigma für seinen Begriff des symbolischen Kapitals gewählt hat, ist ihre Funktion für die Stimulation von Wettkampf und Konkurrenz auch jenseits von Elitenkulturen genauer profiliert worden (Pierre Bourdieu, Entwurf einer Theorie der Praxis. Auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft, übersetzt von Cordula Pialoux und Bernd Schwibs, 3. Aufl., Frankfurt a. M. 2012). Vgl. Hirschi, Wettkampf der Nationen, S. 263–268. 49 Zur Logik der Gegensätzlichkeit im antiken Barbarendiskurs vgl. Allan A. Lund, Zum Germanenbild der Römer. Eine Einführung in die antike Ethnographie, Heidelberg 1990, v. a. S. 55–60.  









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kurs hatte man diese Kontrafaktur teils als Unterlegenheit, teils als Überlegenheit der kulturfernen Völker ausgelegt.50 In der interpretatio Romana der Renaissance fiel das Stereotyp hingegen stabil negativ aus. Was die Barbaren im Norden demnach beherrschen würden, sei Gewalt: Angetrieben von einem topischen furor Teutonicus,51 verbrächten sie ihr Leben seit jeher mit Krieg, Jagd und Zerstörung.52 Was sie dagegen nicht beherrschen würden, seien all jene Fähigkeiten, die das Programm der Renaissance auszeichneten. Die einzige Gelehrsamkeit der Nordvölker in der Gegenwart sei mittelalterlich-scholastisch, widerspreche also den neuen philologischen Leitorientierungen.53 Ihre als bäuerlich und grob verrufene Sprache, deren Ausbreitung als Ursache für den Verfall des Lateinischen gehandelt wurde,54 verstelle ihnen schon im Ansatz das Verständnis für römische Dichtung und Philosophie.55 Im Norden, so die Folgerung der Italiener, könnten die studia humanitatis aus diesen Gründen niemals richtig erlernt werden. Nicht immer war diese Abwertung des kriegerisch-barbarischen Nordens in Richtung der Deutschen gesprochen. Vor allem zu Beginn der Renaissance, als diese den Italienern ohnehin noch nicht als satisfaktionsfähige intellektuelle Mitbewerber galten, traf das Barbarenverdikt vielmehr die Franzosen, deren kulturelle Aspirationen unterlaufen werden sollten, indem an ihre rauhen, bei Caesar beschriebenen gallischen Ursprünge erinnert wurde.56 Zu dem Zeitpunkt, als auch die Deutschen in den Wettbewerb der Nationen eintraten, war ihre Position freilich durch die Konstruktionen von außen schon soweit festgelegt, dass ihre „Ehrenrettung“57 sofort bei den zirkulierenden kulturellen Zuschreibungen ansetzte. Das Gründungsereignis dafür bildete bekanntlich die Wiederentdeckung von Tacitus’ De origine et situ Germanorum, kurz: Germania, um 1470.58 Die „imaginä50 Siebenborn, Barbaren, Naturvölker, edle Wilde. 51 So formuliert in Lukans Epos Bellum Civile, besser bekannt unter dem Namen Pharsalia: Lucan I, 255 f. Vgl. Klaus Heitmann, Das italienische Deutschlandbild in seiner Geschichte, 3 Bde., Bd. 1: Von den Anfängen bis 1800, Heidelberg 2003, S. 62–65 und S. 127 f.; Peter Amelung, Das Bild des Deutschen in der italienischen Renaissance (1400–1559), München 1964, S. 29 f. sowie S. 77. 52 Heitmann, Das italienische Deutschlandbild in seiner Geschichte, Bd. 1, S. 72 f. 53 Heitmann, Das italienische Deutschlandbild in seiner Geschichte, Bd. 1, S. 247 f. Dieser Vorwurf wurde auch für die anschließenden Reformbestrebungen der deutschen Universitäten ausschlaggebend. Zu den erbitterten Konflikten zwischen Scholastiker und Humanisten vgl. James H. Overfield, Humanism and Scholasticism in Late Medieval Germany, Princeton 1984. 54 Heitmann, Das italienische Deutschlandbild in seiner Geschichte, Bd. 1, S. 140. 55 Amelung, Das Bild des Deutschen in der italienischen Renaissance, S. 76. 56 Hirschi, Wettkampf der Nationen, S. 244. 57 Hirschi, Wettkampf der Nationen, S. 210. 58 Für die Gebrauchs- und Druckgeschichte der Germania vgl. Dieter Mertens, Die Instrumentalisierung der „Germania“ des Tacitus durch die deutschen Humanisten. In: Zur Geschichte der Gleichung „germanisch-deutsch“. Sprache und Namen, Geschichte und Institutionen, hg. von  









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re Ethnographie“59 der Germania, in der Tacitus teils topische Vorstellungen des Barbaren reproduzierte – seine Germanen zeichneten sich durch „Aggressivität (ira/iracundia)“, „Faulheit (inertia/pigritia)“ und „Einfachheit (simplicitas)“60 aus –, teils stoische Ideale wie Tugend (virtus) und Beständigkeit (constantia) aufrief,61 erfuhr rasch eine doppelte Lektüre.62 Bedingt durch den Gebrauchskontext, in dem die italienischen Interpreten Enea Silvio Piccolomini und Giannantonio Campano die Schrift in den europäischen Diskurs einführten, zeichnete sich dabei ein wichtiger gemeinsamer Fokus ab. Als der Kardinalsprälat Enea Silvio 1457 in zwei Briefen nach Mainz betonte, Deutschland habe sich im Vergleich zu den groben Zuständen der taciteischen Beschreibung dank der Kirche inzwischen zivilisatorisch weit nach vorn entwickelt, bestand sein Anliegen dabei darin, Argumente gegen eine Beteiligung der Deutschen am aktuellen Türkenkrieg auszuräumen.63 Und als Campano in seiner Funktion als päpstlicher Legat auf dem Reichstag in Regensburg 1471 umgekehrt die Kontinuität der deutschen Anlagen in genau einem Punkt, dem amor belli, als positiv herausstellte, drängte er mithilfe dieser Darstellung ebenso auf eine deutsche Verstärkung gegen die Osmanen.64 Von Anfang an war es folglich das Kriegsmotiv, das Tacitus’ Germania für den europäischen Diskurs interessant machte.

Heinrich Beck, Dieter Geuenich, Heiko Steuer und Dietrich Hakelberg, Berlin, New York 2004, S. 37–101, hier: S. 59–64. 59 Allan A. Lund, Zur Gesamtinterpretation der Germania des Tacitus. In: Aufstieg und Niedergang der römischen Welt, hg. von Hildegard Temporini und Wolfgang Haase, Teil II, Bd. 33.3, Berlin, New York 1991, S. 1858–1988, hier: S. 1869. 60 Lund, Zur Gesamtinterpretation der Germania, S. 1882; systematisch zum Anschluss an die Darstellung der Germanen als topischer Kulturform vgl. Lund, Zur Gesamtinterpretation der Germania, S. 1862–1870. 61 Lund, Zur Gesamtinterpretation der Germania, S. 1953 f. 62 Ins Zentrum gestellt von Christopher B. Krebs, Negotiatio Germaniae. Tacitus’ Germania und Enea Silvio Piccolomini Giannantonio Campano, Conrad Celtis und Heinrich Bebel, Göttingen 2005. 63 Diese wirkmächtigen Briefe richteten sich an Martin Mayer, den Kanzler des Erzbischofs von Mainz (Gernot Michael Müller, Die „Germania generalis“ des Conrad Celtis. Studien mit Edition, Übersetzung und Kommentar, Tübingen 2001, S. 250–257; Herfried Münkler, Hans Grünberger, Enea Silvio Piccolominis Anstösse zur Entdeckung der nationalen Identität der ‚Deutschen‘. In: Nationenbildung. Die Nationalisierung Europas im Diskurs humanistischer Intellektueller. Italien und Deutschland, hg. von dens. und Kathrin Mayer, Berlin 1998, S. 163–233, hier: S. 164–168; Manfred Fuhrmann, Die Germania des Tacitus und das deutsche Nationalbewußtsein. In: Ders., Brechungen. Wirkungsgeschichtliche Studien zur antik-europäischen Bildungstradition, Stuttgart 1982, S. 113–128, hier: S. 122). 64 Münkler, Grünberger, Enea Silvio Piccolominis Anstösse zur Entdeckung der nationalen Identität der ‚Deutschen‘, S. 171 f.; Mertens, Die Instrumentalisierung der „Germania“ des Tacitus  



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Wenn die deutschen Humanisten in der Folge daran arbeiteten, sich auf der Grundlage der Germania eine Gegenantike zu erschreiben, mit deren Hilfe die „vertikale Opposition von Zivilisation und Barbarei“ wieder in eine „horizontale Konfrontation der Nationen“65 überführt werden sollte, blieben die einmal aufgestellten Diskursregeln bindend. Bei ihrer Sammlung von philologischem und historischem Material, das dazu dienen sollte, den asymmetrischen Gegenpol des italienischen Rom-Diskurses zu einem gleichwertigen Altertum auszubauen, stand das dualistische Fundament niemals in Frage. Weiterhin lauteten die Oppositionen Nord/Süd sowie Barbarei/Kultur. Anders als in Italien jedoch, wo eine einzige Argumentationslinie die kulturelle Überlegenheit begründet hatte, bildeten sich hier zwei komplementäre Reaktions- und Diskurstypen heraus, die Hirschi als Antibarbaries (Abgrenzung von der Barbarei) und Antiromanitas (Abgrenzung vom römischen Zivilisationsideal) bezeichnet hat.66 Zugespitzt auf die Frage nach den Funktionen des Kriegs, lassen sie sich außerdem auf einen inhaltlichen Dualismus bringen, der im Folgenden herausgearbeitet werden soll: In der Antibarbaries ging es um die Leistungen der alten Deutschen in der Kunst, in der Antiromanitas dagegen um die germanischen Tugenden im Krieg.67 Der Diskurstyp der Antibarbaries wies den Barbareivorwurf dabei strikt zurück. Die Domänen, in denen hier für die nationale Ehre der Deutschen argumentiert wurde, waren Literatur, Gelehrsamkeit und Kunst. Mit Hirschi gesprochen: „Mit literarischen Funden aus der Vergangenheit und gelehrten Erfindungen zur deutschen Geschichte versucht man zu beweisen, dass Deutschland seit jeher, oder zumindest seit Karl dem Großen, zivilisiert gewesen sei und den Vergleich mit Italien aufnehmen könne.“68 Beispielhaft für diese Position ist das Werk von

durch die deutschen Humanisten, S. 75 f.; Fuhrmann, Die Germania des Tacitus und das deutsche Nationalbewußtsein, S. 123. 65 Hirschi, Wettkampf der Nationen, S. 253. 66 Entlang dieser Unterscheidung strukturiert sich Hirschis Kapitel „Humanistischer Nationalismus in Deutschland“ (Hirschi, Wettkampf der Nationen, S. 251–379; vgl. auch Hirschi, The Origins of Nationalism, S. 159–179). Zur Definition der Begriffe vgl. Hirschi, Wettkampf der Nationen, S. 254 f. Eine analoge Alternative formuliert vorher, wenn auch ohne die prägnante terminologische Fixierung von Hirschi, bereits Heitmann, Das italienische Deutschlandbild in seiner Geschichte, Bd. 1, S. 156–158. 67 Ähnlich hat bereits Paul Joachimsen darauf hingewiesen, dass der deutsche Humanismus eine doppelte Orientierung besessen habe. Die ästhetische – die Antibarbaries – habe sich an der griechisch-römischen Antike ausgerichtet, die ethische – die Antiromanitas – am deutschen Altertum. Vgl. Paul Joachimsen, Der Humanismus und die Entwicklung des deutschen Geistes. In: DVjS 8 (1930), S. 419–480, hier: S. 443 sowie mit diesem Rückbezug auch Hirschi, Wettkampf der Nationen, S. 157. 68 Hirschi, Wettkampf der Nationen, S. 254 f.  





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Konrad Celtis, der seinen Status als „Erzhumanist“ und „Archeget[ ] einer deutschen Nationalliteratur“69 in lateinischer Sprache im Jahr 1487 durch eine Selbstkrönung zum Poeta laureatus besiegelte. Angefangen von seiner Dichtungslehre, der Ars versificandi et carminum (1486), über seine Edition von Tacitus’ Germania (1498/1500), die er mit dem Hexameter-Gedicht De moribus et situ Germaniae additiones, später: Germania generalis in ein Schema „[v]on der Barbarei zur Kultur“70 einspannte, bis hin zu seinem Zyklus der Amores (1502), in denen er als reisender Elegiker mit seinen vier Geliebten gleichzeitig auch die deutsche Topographie entlang der Himmelsrichtungen abschritt:71 Immer ging es Celtis um den Nachweis, dass die deutsche Kultur reif für eine translatio artium sei. Die Künste, die ihren Sitz zunächst in Griechenland, dann in Rom und zuletzt in Italien eingenommen hätten, sollten ihn ab jetzt im Norden beziehen – so lautete das Anliegen, das Celtis 1486 in seiner „Ode an Apoll, den Erfinder der Dichtkunst, daß er aus Italien nach Deutschland kommen möge“ (Ad Apollinem repertorem poetices ut ab Italie ad Germanos veniat) programmatisch ausformulierte.72 Im schroffen Gegensatz zu diesen Bestrebungen stand die Antiromanitas. Die Vertreter dieses Argumentationstyps lehnten das Normensystem der Römer und Italiener – und im 17. und 18. Jahrhundert dann analog auch das der Franzosen – als dekadent ab, um sich stattdessen in den Quellen auf die Suche nach einem eigenen, positiven Sittenkodex zu begeben.73 Im Anschluss an Tacitus, der die kriegerische Tapferkeit (fortitudo) und die Freiheitsliebe (libertas) der Germanen

69 So Jörg Robert, der die Rede vom „Erzhumanisten“ der Hutten-Biographie von David Friedrich Strauß entnimmt (Jörg Robert, Konrad Celtis und das Projekt der deutschen Dichtung: Studien zur humanistischen Konstitution von Poetik, Philosophie, Nation und Ich, Tübingen 2003, S. 1). 70 Müller, Die „Germania generalis“ des Conrad Celtis, S. 403. 71 Zur nationalen Komponente im Programm der Amores vgl. Hans Peter Herrmann, „Nation“ und „Subjekt“ im deutschen Renaissance-Humanismus um 1500. Konrad Celtis und Ulrich von Hutten. In: Das Subjekt des Diskurses. Festschrift für Klaus-Michael Bogdal, hg. von Achim Geisenhanslüke, Georg Mein und Franziska Schößler, Heidelberg 2008, S. 79–109, hier: S. 92–95. 72 Vgl. Herbert Jaumann, Das dreistellige translatio-Schema und einige Schwierigkeiten mit der Renaissance in Deutschland: Konrad Celtis’ Ode ad Apollinem. In: Rezeption und Identität. Die kulturelle Auseinandersetzung Roms mit Griechenland als europäisches Paradigma, hg. von Gregor Vogt-Spira und Bettina Rommel, Stuttgart 1999, S. 334–349; Robert, Konrad Celtis und das Projekt der deutschen Dichtung, S. 83–92; Franz Josef Worstbrock, Über das geschichtliche Selbstverständnis des deutschen Humanismus, In: Historizität in Sprach- und Literaturwissenschaft, hg. von Walter Müller-Seidel, München 1974, S. 499–519, hier: S. 511–519. 73 Zum Aspekt der humanistischen „Sittenreform“ vgl. Herfried Münkler, Hans Grünberger, Nationale Identität im Diskurs der Deutschen Humanisten. In: Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit, 3 Bde., Bd. 2: Nationales Bewußtsein und kollektive Identität, hg. von Helmut Berding, Frankfurt a. M. 1994, S. 211–248, hier: S. 230.  

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ans Adelsethos der zurückersehnten römischen Republik angeglichen74 und diese Merkmale neben einer vorbildlichen Aufrichtigkeit (fides, integritas, constantia, veracitas) in den Tugendkatalog der Germania aufgenommen hatte,75 bezog die Antiromanitas ihre Position in der Sphäre von Politik und Krieg. Dieser Diskurs wird bei Hirschi wie folgt charakterisiert: Die Antiromanitas steht für die Abschottung Deutschlands gegen ausländischen Einfluss, für den nationalen Selbstbestimmungswillen und den Kult reiner Ursprünglichkeit. Schließt die Antibarbaries die Vorstellung einer fortlaufenden Diskontinuität, konkret: einer Zivilisierungsgeschichte Deutschlands ein, so legt die Antiromanitas den Akzent auf die Kontinuität nationaler Tugenden, Selbst- und Feindbilder. […] Sie entwickelte Techniken diskursiver Kollektivbildung, die für den modernen Nationalismus grundlegend wurden. Dazu gehört erstens ein nationalistischer Freiheitsbegriff, der neben Politik auch Kultur und Gesellschaft einschließt und die Autarkie der Nation zur agonalen Kategorie macht; zweitens eine Feindmetaphorik, die religiöse Feindbilder säkularisiert und Seuchenvokabeln metaphorisch ausbeutet; drittens schließlich der Kult reiner Ursprünglichkeit – territorial, genetisch und sittlich-moralisch.76

Im nationalen Diskurs an der Peripherie setzte sich der konzeptionelle Dualismus, der vom Zentrum festgelegt worden war, somit in einer Binnengliederung fort, anhand der sich zwei separate Argumentationssysteme ausdifferenzierten. Entweder man verteidigte die nationale Dignität der Deutschen auf dem Gebiet der Kunst, oder man betonte die Dimension des Krieges.77 Zwar ergänzten Antibarbaries und Antiromanitas einander im Ziel, Ehre für die Nation zu akkumulieren. Doch weil die beiden Diskurse den Vorgaben der Italiener mit entgegengesetzten Strategien begegneten, entwickelten sie strukturell konträre Logiken, die sich schwerlich gleichzeitig vorbringen ließen.

74 Fuhrmann, Die Germania des Tacitus und das deutsche Nationalbewusstsein, S. 120. 75 Ulrich Muhlack, Die Germania im deutschen Nationalbewußtsein vor dem 19. Jahrhundert. In: Beiträge zum Verständnis der Germania des Tacitus, 2 Bde., Bd. 1: Bericht über die Kolloquien der Kommission für die Altertumskunde Nord- und Mitteleuropas im Jahre 1986, hg. von Herbert Jankuhn und Dieter Timpe, Göttingen 1989, S. 128–154, hier: S. 142. 76 Hirschi, Wettkampf der Nationen, S. 320. 77 Auf die relative motivische und strukturelle Kontinuität dieser Setzungen weist Muhlack in seiner rezeptionsgeschichtlichen Studie hin. „Daß dabei veränderte Prämissen die jeweilige inhaltliche Auffassung dieses Nationalbegriffs wieder und wieder modifizierten, versteht sich von selbst; um so mehr springt ins Auge, daß sich gleichwohl gewisse humanistische Interpretationen geradezu topisch durchhalten. Für einen bestimmten Grundbestand deutscher Tugenden scheint Tacitus vom 15. bis zum 18. Jahrhundert gut.“ (Muhlack, Die Germania im deutschen Nationalbewußtsein vor dem 19. Jahrhundert, S. 144).

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So affirmierte der antibarbarische Ansatz die Dichotomie zwischen Kultur und Barbarei, gestaltete sie jedoch durch eine temporale Dimension durchlässig. Wahrscheinlich seien die Deutschen von Beginn an weniger barbarisch gewesen als von den Italienern unterstellt, argumentierten die Gelehrten; vor allem aber hätten sie jede Gelegenheit ergriffen, um mit der Zeit zum literarisch-kulturellen Niveau der Konkurrenten aufzuschließen. Das genaue Gegenteil galt für die Antiromanitas. Sie kehrte das asymmetrische Gefälle offensiv um und nutzte Alter und Ursprünglichkeit als Argumente, um eine Überlegenheit des barbarischen Pols zu profilieren. Einen Einsatzpunkt dafür bot die Indigenitätsthese, mit der Tacitus die Abgrenzung der Germania von römischen Verhältnissen78 auf Fragen kultureller Stabilität übertragen hatte. Im Gegensatz zu den Römern – „immigrants to Italy, heavily influenced by Greek culture and rulers over an empire with a mobile and multiethnic population“79 – seien die Germanen durch ihr Leben „in an original state of happy isolation“80 seit jeher unverändert geblieben. Als Beleg dafür hatte der römische Autor die einfachen Sitten und die körperliche Robustheit des nordischen Volkes angeführt, das ganz auf das raue Klima in dessen Heimatland zurückgehe: Ich selbst schließe mich der Meinung derjenigen an, die glauben, Germaniens Völkerschaften seien nicht durch Heiraten mit anderen Völkern zum Schlechten hin beeinflußt und seien deshalb ein eigener, reiner und nur sich selbst ähnlicher Menschenschlag geworden. Daher haben sie auch, soweit das bei einer so großen Anzahl von Menschen möglich ist, alle dieselben körperlichen Merkmale: trotzig blickende blaue Augen, rötlichblondes Haar und große Körper, die nur zu einem kurzen Ansturm taugen; in Arbeit und Anstrengungen zeigen sie nicht die gleiche Ausdauer, am wenigsten aber können sie Durst und Hitze ertragen, Kälte und Hunger dagegen auszuhalten sind sie durch Klima und Bodenbeschaffenheit gewöhnt.81

Von dieser Gedankenfigur der Indigenität ausgehend, koppelten auch die deutschen Humanisten die Nobilität einfacher, kriegerischer Sitten an einen Altersvorsprung, der das eigene Altertum gegenüber Rom auszeichnete. Den Entwicklungsgedanken der Antibarbaries schlossen sie damit aus. Unter diesen Bedingungen erhielt auch die Literatur in den beiden Argumentationstypen divergente Funktionen. Nachvollziehen lässt sich das exemplarisch an den Strategien, mit denen die jeweiligen Vertreter auf eine zentrale Leerstelle

78 Hirschi, The Origins of Nationalism, S. 169. 79 Hirschi, The Origins of Nationalism, S. 169. 80 Hirschi, The Origins of Nationalism, S. 168. 81 Tac. Germ. 2, 4. Deutsch zitiert aus Publius Cornelius Tacitus, Germania. Studienausgabe. Lateinisch–deutsch, hg. und übersetzt von Alfons Städele mit einer Einführung und Erläuterungen von Gerhard Fink, Düsseldorf, Zürich 1998, S. 13.

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im deutschen Nationaldiskurs reagierten. Während die römische Leitantike unter der Devise Ad fontes! durch und durch textbasierte Konturen gewann,82 fehlte es dem deutschen Altertum an einer schriftlichen, zumal an einer poetischen Überlieferung. Sämtliches Wissen über die Germanen und ihre (möglichen) literarischen Leistungen gründete auf Beschreibungen, die in römischer oder griechischer Brechung überliefert waren.83 Die Antibarbaries umging dieses Problem, indem sie ihren Fokus auf die Gegenwart setzte. Zwar fahndeten die Gelehrten nach Indizien für eine fortgeschrittene Kultur in der Vorzeit;84 wichtiger war für sie aber die Qualität der aktuellen Dichtung. Dagegen stellten die fehlenden Texte die Gelehrten, die sich antiromanisch positionierten, insofern vor eine Herausforderung, als ihnen der Zugriff auf die idealisierte Vergangenheit in Ermangelung einer poetischen Überlieferung versperrt war. Einen Lösungsansatz dafür entwickelte der sogenannte Sprachpatriotismus, der sich nach dem Wechsel zur deutschen Literatursprache im 17. Jahrhundert im Umfeld der Fruchtbringenden Gesellschaft herausbildete.85 Dabei ging es nicht primär um den Inhalt der Texte, sondern um ältere Stufen der deutschen Sprache, die potentiell in den Wörtern konserviert seien. Wenn Literaten wie Friedrich von Logau oder Gelehrte wie Philipp Clüver mithilfe etymologischer Studien auf sprachlich fixierte Überreste einer alten heroischen Mentalität zu sto-

82 Vgl. exemplarisch Garber, Zur Konstitution der europäischen Nationalliteraturen, S. 27. 83 Herausgehoben von Heinrich Beck, Vorwort (Germanistik). In: Zur Geschichte der Gleichung „germanisch-deutsch“. Sprache und Namen, Geschichte und Institutionen, hg. von dems., Dieter Geuenich, Heiko Steuer und Dietrich Hakelberg, Berlin, New York 2004, S. vii–ix. Ein Projekt, das symptomatisch für diese Tendenz stehen kann, war das der Germania illustrata. In der Nachfolge von Flavio Biondos Italia illustrata von 1474 versuchten deutsche Autoren, das historische und geographische Wissen über das eigene Land in gleicher Weise zu einem literarischen „Rundgang“ zusammenzutragen wie die Italiener. Dabei gerieten die Res Germanicae (1531) von Beatus Rhenanus zu einer Art „universale[n] Kommentierung der antiken Quellen zur germanischen Frühgeschichte“, verbunden mit einem historiographischen Anspruch (Felix Mundt, Beatus Rhenanus. Rerum Germanicarum libri tres (1531). Ausgabe, Übersetzung, Studien, Tübingen 2008, hier: S. 436). Verarbeitet wurden neben Tacitus unter anderem Strabo, Ptolemaeus, die Panegyrici Latini, Sidonius Apollinaris, Claudian, die Notitia Dignitatum, Cassiodor und Prokop (Mundt, Beatus Rhenanus. Rerum Germanicarum libri tres (1531), S. 427). Zu Beatus Rhenanus’ Quellenauswahl formuliert Mundt mit aller Deutlichkeit: „Es gibt keine antiken Quellen von Germanen über Germanen.“ (Mundt, Beatus Rhenanus. Rerum Germanicarum libri tres (1531), S. 531). 84 Dabei wurden die Gelehrten vielfältig fündig, etwa in Bezug auf eine protochristlich interpretierte Religiosität der Germanen (Hirschi, Wettkampf der Nationen, S. 277–279). 85 Differenziert aufgearbeitet bei Wilhelm Kühlmann, Sprachgesellschaften und nationale Utopien. In: Föderative Nation. Deutschlandkonzepte von der Reformation bis zum Ersten Weltkrieg, hg. von Dieter Langewiesche, München 2000, S. 245–264, hier: S. 257 f.  

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ßen meinten,86 konnten sie das auf diese Weise erneut bewiesene Alter der deutschen Sprache gegen die Romania wenden. Somit entwickelte sich aus der Antiromanitas mit der Zeit ein antiquarisches, proto-literaturgeschichtliches Interesse an den überlieferten Texten; dessen Fokus erwies sich allerdings als inkompatibel mit dem, der im Diskurs über die poetische Produktion der Gegenwart dominierte. Die Aufspaltung der Bezüge aufs deutsche Altertum, die dabei entstand und die bis ins 18. Jahrhundert zu greifen ist, soll hier nur an einem exponierten Beispiel illustriert werden: an den beiden Schriften, in denen Martin Opitz sein Projekt einer volkssprachigen Dichtung skizzierte. Sowohl die Aristarch-Rede (1617) als auch das Buch von der Deutschen Poeterey (1624), die programmatisch aufeinander aufbauten,87 machen zu diesem Zweck von der taciteischen Autorität Gebrauch. Differenziert nach dem Gegenstand, der dabei jeweils im Mittelpunkt stand, erfolgte der Zugriff auf das deutsche Altertum jedoch auf unterschiedliche Weise. Im Aristarch schlug Opitz, wie schon der Titelzusatz Wider die Verachtung der deutschen Sprache (Sive de contemptu Linguae Teutonicae) anzeigt, einen sprachpatriotischen Ton an. Seine Absicht in diesem Text bestand darin, die deutsche Sprache in der Dignitätsrangfolge vor der etablierten neulateinischen Dichtungsund Gelehrtensprache zu platzieren, der er sich zu diesem Zeitpunkt allerdings selbst noch bediente: Der Aristarch, den der Schüler Opitz als Rede „zum mündlichen Vortrag“88 am akademischen Gymnasium in Beuthen konzipierte, ist in der gängigen Schulsprache des 17. Jahrhunderts gehalten.89 Auf Latein erhob Opitz also das Lob des Deutschen und brachte zu diesem Zweck die antiromanische Kontinuität ins Spiel. „Sooft ich mir unsere Vorfahren, die tapferen und nie besiegten Germanen, im Geiste vorstelle, ergreift mich eine stille Ehrfurcht und

86 Vgl. Hartmut Riemenschneider, Sprachpatriotismus. Nationale Aspekte in der literarischen Kultur des deutschen Barock. In: Dichter und ihre Nation, hg. von Helmut Scheuer, Frankfurt a. M. 1993, S. 38–52, v. a. S. 43–47; Ferdinand van Ingen, Die Sprachgesellschaften des 17. Jahrhunderts. Versuch einer Korrektur. In: Daphnis 1 (1972), S. 14–23, v. a. S. 20 f. 87 Folgt man Richard Alewyn, baute Opitz’ Literaturreform auf dieser frühen Schrift auf, so dass in der Poeterey „nur noch Erweiterung, Ausbau, Verbreitung“ erfolgt sei (Richard Alewyn, Vorbarocker Klassizismus und griechische Tragödie. Analyse der „Antigone“-Übersetzung des Martin Opitz [1926], unveränderter fotomechanischer Nachdruck, Darmstadt 1962, S. 12). 88 Heinz Entner, Der Weg zum „Buch von der Teutschen Poeterey“. Humanistische Tradition und poetologische Voraussetzungen deutscher Dichtung im 17. Jahrhundert. In: Ders., Studien zur Literatur im 17. Jahrhundert, Berlin, Weimar 1984, S. 11–144, hier: S. 110. Zur Form lässt sich dabei Folgendes sagen: Der Aristarch war als Rede konzipiert, die im schulischen Kontext des Schönaichianums im Unterricht oder bei Festakten hätte gehalten werden können. Ob und wann Opitz den Text tatsächlich vorgetragen hat, lässt sich nicht nachweisen. 89 Den bildungsgeschichtlichen Zusammenhang, in dem der Aristarch verfasst ist, arbeitet Heinz Entner detailliert heraus (Entner, Der Weg zum „Buch von der Teutschen Poeterey“, S. 96–116).  







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ein mächtiger Schauer“,90 beginnt der Text in der Übersetzung von Herbert Jaumann. Durch eine solche rhetorische Verbrüderung zwischen Redner, Zuhörern und Vorfahren eingestimmt, die den historischen Abstand kraft der Imagination übersprang, leitete die Rede zur gemeinsamen Sprache über, die aufgrund ihrer „durch Isolation gewährleisteten K o n s e r v i e r u n g “91 eine gleiche Nähe zwischen dem Altertum und der Gegenwart herzustellen versprach. So schilderte Opitz: Zu dem Ernst ihrer Lebens- und Handlungsweise gesellte sich eine Sprache, die ihren Taten gleich voller Kraft und eigentümlicher Hoheit war. In ihr drückten sich ihre erhabenen Gesinnungen frei und ohne Umschweif aus, sie feuerten sich gegenseitig zum Kampfe an, durch sie allein machten sie oft, wie durch einen Blitzstrahl, die Drohungen ihrer Feinde zunichte. Diese edle, vornehme Sprache, die den Geist ihres Volkes atmet, haben sie uns lauter und rein, frei von jeder fremden Befleckung, lange Jahrhunderte hindurch bewahrt […].92

In wenigen Zeilen wird hier eine antiromanische Ansicht der deutschen Vorzeit entfaltet. Die deutsche Sprache sei frei von äußeren Einflüssen geblieben, weil die kriegerischen Germanen ihr Land in politischer Freiheit gehalten hätten. Bei dieser kausalen Verkettung von politisch-historischer Gemeinschaft und Sprachgemeinschaft trat der Krieg in eine entscheidende Scharnierfunktion: Die flexible Metaphorik der Schlacht ermöglichte es Opitz, zwei Programmpunkte seines Kulturkampfes wie selbstverständlich miteinander zu verschalten. Auf einer ersten Ebene diente das Bild des Krieges dazu, das Verhältnis des Südens zum Norden als kontinuierliche Bedrohung zu konstruieren. In der Antike seien es die römischen „Eroberer[ ] der Welt“ gewesen, gegen die sich die alten Deutschen „in offener Feldschlacht“93 zu verteidigen gehabt hätten; jetzt hätten die gegenwärtigen Deutschen deren Nachfahren unbedacht das sprachliche Feld überlassen. Die Bewertung dieser Situation folgte der Logik der sogenannten À la mode-Kritik. So reihte Opitz sich in die Stimmen der Gelehrten ein, die im 17. Jahr-

90 Martin Opitz, Aristarchus, übersetzt von Herbert Jaumann (Lateinische Werke. In Zusammenarbeit mit Wilhelm Kühlmann, Hans-Gert Roloff und zahlreichen Fachgelehrten hg., übersetzt und kommentiert von Veronika Marschall und Robert Seidl, 3 Bde., Bd. 1: 1614–1624), Berlin, New York 2009, S. 58–89, hier: S. 65. Der Text wird nach dieser Ausgabe in deutscher Übersetzung zitiert. 91 Jörg Robert, Martin Opitz und die Konstitution der Deutschen Poetik. Norm, Tradition und Kontinuität zwischen Aristarch und Buch von der Deutschen Poeterey. In: Euphorion 98:3 (2004), S. 281–322, hier: S. 292. 92 Opitz, Aristarchus. In: Lateinische Werke, Bd. 1, S. 65. 93 Opitz, Aristarchus. In: Lateinische Werke, Bd. 1, S. 65.

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hundert jede Anpassung an die ‚modische‘ romanische Kultur als Verrat an der eigenen Herkunft geißelten.94 In einem Atemzug stellte der Dichtungslehrer sowohl die Vorherrschaft des Lateinischen als auch sämtliche Übernahmen in die moderne deutsche Sprache, die aus der Romania stammten, als unkalkulierbares Risiko dar: „Man kann sagen, diese Sprache wird zur Kloake, in die sich wahllos aller Unflat ergießt. […] Einmal entlehnen wir von den Römern, dann wieder von den Franzosen und sogar von den Spaniern und Italienern, was unser heimischer Boden viel besser hervorbringt.“95 Auf einer zweiten Ebene enthielt die Gleichung zwischen Sprach- und Schlagkraft das Versprechen, allein dadurch an die in den antiken Schriften dokumentierte Geltung der germanischen Krieger anknüpfen zu können, dass man die deutsche Sprache fördere und verteidige. In diesem Sinne schloss Opitz sein Plädoyer mit einem martialischen Identifikationsangebot an seine Zuhörer: Nun so bitte und beschwöre ich euch bei eurer vielgeliebten Mutter Deutschland, bei euren glorreichen Ahnen: Zeigt eine Gesinnung, würdig eures edlen Volkes, verteidigt eure Sprache mit derselben Ausdauer, mit der jene einst ihre Grenzen schützten. Eure Vorfahren, die tapferen und weltberühmten Semnonen, trugen keine Bedenken, für Altar und Herd zu sterben. Schon die Not fordert jetzt von euch, daß ihr dasselbe leistet. […] Bringt es endlich dahin, daß ihr den übrigen Völkern, welche ihr an Tapferkeit und Treue übertrefft, auch an Trefflichkeit eurer Sprache nicht nachsteht.96

Angesichts dieses Appells steht klar vor Augen, wo die Aristarch-Rede im Spektrum der humanistischen Nationaldiskurse verortet war: Solange es um die deutsche Sprache als historisch überliefertes Material ging, war die Antiromanitas mit ihrer kriegerischen Topik für Opitz das geeignete Instrumentarium. Ganz andere Germanen findet man dagegen in dem Text, der sich damit beschäftigte, wie eine Dichtung in deutscher Sprache konkret auszusehen habe: in der Deutschen Poeterey. Auch seine Poetik begann Opitz nach einer Definition der Dichtkunst mit einem Rekurs aufs deutsche Altertum. Im direkten Vergleich mit dem Aristarch ist jedoch nicht zu übersehen, dass er hier, bei Fragen der literarischen Produktion angekommen, in den Modus der Antibarbaries hinüber-

94 Vgl. Jörg Robert, Aristarchus. Kommentar (Martin Opitz, Lateinische Werke. In Zusammenarbeit mit Wilhelm Kühlmann, Hans-Gert Roloff und zahlreichen Fachgelehrten hg., übersetzt und kommentiert von Veronika Marschall und Robert Seidl, 3 Bde., Bd. 1: 1614–1624), Berlin, New York 2009, S. 319–337, hier: S. 321. Vgl. auch Gonthier-Louis Fink, Vom Alamodestreit zur Frühaufklärung. Das wechselseitige deutsch-französische Spiegelbild 1648–1750. In: Recherches germaniques 21 (1991), S. 3–47. 95 Opitz, Aristarchus. In: Lateinische Werke, Bd. 1, S. 73. 96 Opitz, Aristarchus. In: Lateinische Werke, Bd. 1, S. 77.

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wechselte.97 Daraus ergab sich eine Blockade von antiromanischen Elementen, die sich markant im Umgang mit Tacitus’ Germania abzeichnet. Während der Aristarch der taciteischen Schrift emphatisch gefolgt war, fiel die dort tradierte Inszenierung der Germanen für das Anliegen der Poeterey offenbar zu barbarisch aus. Dementsprechend strapazierte Opitz beim Zitieren sowohl den Wortlaut als auch die Intentionen seiner Autorität. „V O n dieser Deutschen Poeterey nun zue reden“, beginnt das 4. Kapitel, „sollen wir nicht vermeinen / das vnser Land vnter so einer rawen vnd vngeschlachten Lufft liege / das es nicht eben dergleichen zue der Poesie tüchtige ingenia koenne tragen / als jergendt ein anderer ort vnter der Sonnen.“98 Eine solche Negation der Klimatheorie stand quer zu Tacitus, für den der topographische Faktor von zentraler Beweiskraft gewesen war, wie oben gezeigt worden ist. Noch weniger ist Opitz’ Behauptung durch die Germania gedeckt, dass die alten Deutschen sehr wohl schon die literarischen Künste gepflegt hätten: Vnd / vber diß das wir so viel Vorneme Poeten / so heutiges tages bey vns erzogen worden / vnter augen können stellen / erwehnet Tacitus von den Deutschen in dem buche das er von jhnen geschrieben / das ob wol weder Man noch Weib vnter jhnen zue seiner zeit den freyen künsten ob zue liegen pflegeten / faßeten sie doch alles was sie im gedächtniß behalten wolten in gewisse reimen vnd getichte. Wie er denn in einem andern orte saget / das sie viel von des Arminius seinen thaten zue singen pflegeten.99

In dieser Passage griff Opitz auf die Topik der kulturellen Entwicklung zu, die für die Antibarbaries charakteristisch war. Die zuerst genannten „Vorneme[n] Poeten“ der Gegenwart konstituierten hier einen Bewertungsmaßstab, zu dem er passende antike Vorläufer entwarf. Eigentlich ist in den Passagen der Germania, die er zu diesem Zweck adaptierte, freilich von etablierter Dichtung keine Rede. Die Stelle, aus der Opitz das Fehlen der institutionalisierten Artes liberales ableitete („Litterarum secreta viri pariter ac feminae ignorant“), war als moralische

97 In diesem Punkt wäre die Rekonstruktion von Klaus Garber zu modifizieren. Es ist nicht so, dass die Autorisierung durch die Germanen im Übergang vom Aristarch zur Poeterey an argumentativem Wert verlöre (Klaus Garber, Martin Opitz. In: Deutsche Dichter des 17. Jahrhunderts. Ihr Leben und Werk, hg. von Harald Steinhagen und Benno von Wiese, Berlin 1984, S. 116–184, hier: S. 137; Klaus Garber, Wege in die Moderne. Historiographische, literarische und philosophische Studien aus dem Umkreis der alteuropäischen Arkadien-Utopie, hg. von Stefan Anders, Axel E. Walter, Berlin 2012, S. 156). Opitz wechselte bei der neuen Schrift schlicht das Argumentationsschema. 98 Martin Opitz, Buch von der Deutschen Poeterey (Gesammelte Werke. Kritische Ausgabe, hg. von George Schulz-Behrend, 4 Bde., Bd. 2.1: Die Werke von 1621 bis 1626). Stuttgart 1978, S. 331– 416, hier: S. 355. 99 Opitz, Buch von der Deutschen Poeterey. In: Gesammelte Werke, Bd. 2.1, S. 355.

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Aussage intendiert:100 Weil die Männer und Frauen in Germanien illiterat gewesen seien, seien sie gar nicht erst in Versuchung geraten, über Liebesbriefe Affären anzubahnen. Die These, dass die alten Deutschen dennoch eine mündliche Tradition der Dichtung besessen hätten, verallgemeinerte Opitz zudem großzügig aus einer anderen Schrift des Tacitus, nämlich aus den Annalen. Um den cheruskischen Heer- und Stammesführer Arminius zu würdigen, hatte der römische Historiker in diesem Text behauptet, das germanische Volk habe die Erinnerung an diesen über dessen Tod hinaus im Gesang bewahrt.101 Klar ist damit: Indem Opitz Konzepte und Begriffe in die Germanen-Passage seiner Poeterey einspielte, die zur Kommunikation der res publica litteraria gehörten – freie Künste, Reime, Gedichte –, modernisierte und zivilisierte er das deutsche Altertum. Auf dieser Grundlage war es ihm im Anschluss problemlos möglich, das Verhältnis zu den kulturell vorangeschrittenen romanischen Nationalliteraturen nicht mehr als Gegnerschaft, sondern als ebenbürtigen „Wetteifer in wechselseitiger Anregung“102 zu entwerfen. Nord wie Süd hätten gleichermaßen erst „den rechten grieff“103 von den griechischen und römischen Autoren lernen müssen, deren Texte in Opitz’ deutscher Poetik ungeachtet der Polemiken im Aristarch das „unerreichte Maß an Ordnung, Regularität und Systemkonformität“104 definierten: Wiewol auch bey den Italienern erst Petrarcha die Poeterey in seiner Muttersprache getrieben hat / vnnd nicht sehr vnlengst Ronsardus; von deme gesaget wird / das er / damit er sein Frantzösisches desto besser außwürgen köndte / mit der Griechen Schrifften gantzer zwölff jahr sich vberworffen habe; als von welchen die Poeterey jhre meiste Kunst / art vnd liebligkeit bekommen.105

100 Tac. Germ. 19, 1. Zu dieser Verbindung vgl. die Anmerkungen von George Schulz-Behrend zu Opitz, Buch von der Deutschen Poeterey. In: Gesammelte Werke, Bd. 2.1, S. 355. 101 Tac. Ann. II, 88. Am Ende des 2. Buches, das von der Arminius-Episode berichtet, resümiert Tacitus die Verdienste des verstorbenen germanischen Heerführers: „[U]nstreitig der Befreier Germaniens, der das römische Volk nicht in den ersten Anfängen der Macht, wie andere Könige und Heerführer, sondern in der höchsten Blüte des Reiches herausgefordert hat, in den Schlachten von wechselndem Erfolg begleitet, im Krieg unbesiegt. 37 Jahre währt sein Leben, zwölf seine Macht, und noch heute besingt man ihn bei den Barbarenvölkern […].“ (Publius Cornelius Tacitus, Annalen. Lateinisch-deutsch, hg. von Erich Heller, mit einer Einführung von Manfred Fuhrmann, 6. Aufl., Mannheim 2010, S. 203). 102 Entner, Der Weg zum „Buch von der Teutschen Poeterey“, S. 24. 103 Opitz, Buch von der Deutschen Poeterey. In: Gesammelte Werke, Bd. 2.1, S. 359. 104 Robert, Martin Opitz und die Konstitution der Deutschen Poetik, S. 303. 105 Opitz, Buch von der Deutschen Poeterey. In: Gesammelte Werke, Bd. 2.1, S. 358 f.  

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Für die andere – die antiromanische – Ansicht des deutschen Antikendiskurses, die auf Alter und Krieg setzte, um die kulturellen Leistungen jenseits der Alpen zu relativieren, war in diesem Modell der nationalen Literatur kein Platz vorgesehen. An diesen Beispielen zeichnen sich die Koordinaten einer Antikenordnung ab, an denen sich bis ins frühe 18. Jahrhundert hinein keine grundlegende Veränderung ergab, was die deutschen Spielräume betraf. Vielmehr konsolidierte sich die Grenzlinie zwischen den beiden Diskursmodi vorerst weiter. Behält man Hirschis Terminologie als analytisches Instrumentarium bei, dann lässt sich ebenfalls die nächste maßgebliche Modifikation des Antikendiskurses als Differenzierung einer literarischen Debatte rekonstruieren, die sich grundsätzlich nach den Spielregeln der Antibarbaries organisierte. Die Rede ist von der Querelle des Anciens et des Modernes.106 Zwar begannen die Anhänger der Modernes auf Charles Perraults kalkulierte Provokationen hin, die Überlegenheit der Antike in Frage zu stellen, um daraufhin von den hinter Nicolas Boileau-Despréaux und Bernard Le Bovier de Fontenelle versammelten Anciens in die Schranken gewiesen zu werden. Die Streitfrage, zu welchem Zeitpunkt und unter welchen Bedingungen die maximale kulturelle Leistung erzielt worden sei, entsprang dabei jedoch gemeinsamen Überzeugungen, die auf humanistischen Prämissen aufbauten. So ging es für die Anciens wie für die Modernes lediglich um die genaue Justierung einer renovatio-Konstellation, über die als solche auf beiden Seiten kein Zweifel bestand. Im Bewusstsein der französischen Machtfülle und Kulturblüte, die in der Regentschaft Ludwigs XIV. ihre Klimax erreichte, und des wissen-

106 Herbert Jaumann hat in seinem RLL-Artikel zum Lemma „Querelle“ herausgestellt, dass die meist unter diesem Begriff adressierte französische Auseinandersetzung des 17. Jahrhunderts nicht isoliert zu betrachten sei. Sie stehe in einer „auf die Antike zurückgehenden Problemgeschichte der vergleichenden Konfrontation von ‚Klassikern‘ und ‚Modernen‘“, die mit dem Code ‚alt/neu‘ operiere. Man habe mithin einzelne Querelles „mit Ereignischarakter“ von der „Dauerpräsenz des Schemas im kulturellen Hintergrund“ zu unterscheiden, für die momentan eine überzeugende Terminologie fehle (Herbert Jaumann, Querelle. In: RLL, Bd. 3, 2003, S. 205–208, hier: S. 206). Jaumann selbst spricht in in einem späteren Aufsatz heuristisch vom „alt/neuDiskurs“ (Herbert Jaumann, Der alt/neu-Diskurs (Querelle) als kulturelles Orientierungsschema: Charles Perrault und Christian Thomasius. In: Kulturelle Orientierung um 1700. Traditionen, Programme und konzeptionelle Vielfalt, hg. von Sylvia Heudecker, Dirk Niefanger und Jörg Wesche, Tübingen 2004, S. 85–99). Das Attribut „Antiqui-Moderni“ hat Martin Disselkamp eingeführt, der im Anschluss an Jaumann mögliche funktionsgeschichtliche Horizonte für eine Erforschung dieser Diskurse reflektiert (soziale und politische Geschichte, Konstitution einer literarischen Öffentlichkeit, Gelehrtengeschichte). Vgl. Martin Disselkamp, Parameter der AntiquiModerni-Thematik in der Frühen Neuzeit. In: Diskurse der Gelehrtenkultur in der Frühen Neuzeit. Ein Handbuch, hg. von Herbert Jaumann, Berlin, New York 2011, S. 157–177.

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schaftlichen Umbruchs, den René Descartes kurz zuvor angestoßen hatte,107 stellte sich den Franzosen ihr Verhältnis zur Antike als „Zweigipfligkeit der Weltgeschichte“108 dar. Dieses Nachfolgemodell war analog zu den kulturellen Vorherrschaftsdiskursen der Italiener in der Renaissance entworfen, ließ die Vorgänger nach französischem Ermessen aber hinter sich, wie Dominique Bouhours 1647 in den Entretiens d’Ariste et d’Eugène postulierte.109 Diese Konstellation machte Perrault zum Ausgangspunkt seines Skandalgedichts „Le Siècle de Louis le Grand“ (1687),110 mit dem er die Überlegenheit der französischen Gegenwart über die römische Kaiserzeit bekundete: La belle antiquité fut toujours vénérable; Mais je ne crus jamais qu’elle fût adorable. Je vois les anciens, sans plier les genoux; Ils sont grands, il est vrai, mais hommes comme nous; Et l’on peut comparer, sans craindre d’Être injuste, Le siècle de Louis au beau siècle d’Auguste.111

Die beiden Spitzen, zwischen denen sich nach dieser zyklischen Geschichtsauffassung ein „Intervall in der periodischen Bewegung von Abstieg und Wiederanstieg“112 erstreckte, lagen im Rom des Augustus und im Frankreich des Sonnenkönigs. „Rome dans un palais, dans Paris un Empire, et tous les Césars dans un

107 Vgl. Disselkamp, Parameter der Antiqui-Moderni-Thematik in der Frühen Neuzeit, S. 164– 167. 108 Hans-Robert Jauß, Ästhetische Normen und geschichtliche Reflexion in der Querelle des anciens et des modernes. In: Charles Perrault, Parallèle des anciens et des modernes en ce qui regarde les arts et les sciences. Faksimiledruck der Originalausgabe Paris 1688–1697. Mit einer einleitenden Abhandlung von Hans-Robert Jauß und kunstgeschichtlichen Exkursen von Max Imdahl, München 1964, S. 8–64, hier: S. 27. 109 Vgl. Gonthier-Louis Fink, Die französische Monarchie und das Heilige Römische Reich Deutscher Nation – Die gegenseitige Bespiegelung der janusköpfigen Nachbarn 1670–1780. In: Gallophobie im 18. Jahrhundert, hg. von Jens Häseler und Albert Meier, Berlin 2005, S. 159–194, hier: S. 163. 110 Zum Ablauf der legendären Sitzung der Académie française am 27. Januar 1687, in der Perrault mit dem Vortrag dieses Gedichts Tumulte auslöste, vgl. Jaumann, Der alt/neu-Diskurs (Querelle) als kulturelles Orientierungsschema, S. 87–89. 111 Charles Perrault, Parallèle des anciens et des modernes en ce qui regarde les arts et les sciences. Faksimiledruck der Originalausgabe Paris 1688–1697, mit einer einleitenden Abhandlung von Hans-Robert Jauß und kunstgeschichtlichen Exkursen von Max Imdahl, München 1964, S. 165. 112 Jauß, Ästhetische Normen und geschichtliche Reflexion in der Querelle des anciens et des modernes, S. 27.

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Roy“113: So lautete die Devise, mit der die neue absolutistische Regierungsform gefeiert wurde,114 um angesichts des Herrscherruhms und der kulturellen Errungenschaften der Franzosen eine Neuauflage des römischen Prinzipats auszurufen. Die Qualität der Kunst, so die Logik dieses Kulturmodells, entsprach der politischen Machtfülle. Wie in der Renaissance blieb der Diskurs dabei zwischen den Polen Antike/Gegenwart eingespannt, die „im Hinblick auf dasselbe Maß zeitloser Vollkommenheit“115 abgeglichen wurden. Neu war am Diskurs der Querelle zunächst nur die Reversibilität der Hierarchie zwischen den Antiqui und den Moderni, die ihrerseits die fortgesetzte Relevanz des bipolaren Schemas unterstrich. Erst im Fortlauf der Kontroverse flexibilisierte sich der Automatismus des dualistischen Denkens, um sukzessive ein lineares Geschichtskonzept sowie die „Einsicht in die Verschiedenheit antiker und moderner Kunst“116 hervorzubringen. In der deutschen Rezeption der Querelle, wie sie sich um 1700 abzeichnete, standen diese Nuancierungen allerdings nicht im Mittelpunkt. Wie detailliert dokumentiert, wurde die Debatte als solche aufmerksam verfolgt.117 Doch wie an Thomasius’ Monatsgesprächen (1690) gezeigt worden ist, dominierte in der Wahrnehmung der deutschen Literaten viel zu sehr die verhasste Demonstration kultureller Überlegenheit in Frankreich, als dass die Dichotomie Antiqui/Moderni bzw. alt/neu bei ihnen je in analoger Weise zu einem Schema kultureller Orientie-

113 So lautet die Aufschrift unter einem Portrait Ludwigs XIV., das ihn mit seinem Schloss Versailles zeigt (Friedrich B. Polleroß, Sonnenkönig und österreichische Sonne. Kunst und Wissenschaft als Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln. In: Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte 40 (1987), S. 239–256, hier: S. 241). Vgl. auch Alexandre Maral, Versailles ou la „nouvelle Rome“. In: Versailles et l’Antique. Exposition, château de Versailles, 13 novembre 2012 au 17 mars 2013, hg. von dems. und Nicolas Milovanovic, Paris 2012, S. 23–45. 114 Am nachdrücklichsten war dies auf der Seite der Modernes der Fall (Disselkamp, Parameter der Antiqui-Moderni-Thematik in der Frühen Neuzeit, S. 169–171). Disselkamp übernimmt die zuletzt immer wieder betonte „Affinität zwischen ‚modernen‘ Positionen und dem Absolutismus“ in seine Darstellung (S. 169), formuliert aber Skepsis gegenüber Marc Fumarolis These, die Schriften der Modernes hätten jenseits der Parteinahme für das neue Regierungssystem keinen eigenen Diskursbeitrag entwickelt (Marc Fumaroli, „Les abeilles et les araignées“. In: La Querelle des anciens et des modernes (XVIIe–XVIIIe siècles). Précédé de „Les abeilles et les araignées“, essai de Marc Fumaroli, hg. von Anne-Marie Lecoq, Paris 2001, S. 7–220). 115 Jauß, Ästhetische Normen und geschichtliche Reflexion in der Querelle des anciens et des modernes, S. 27. 116 Jauß, Ästhetische Normen und geschichtliche Reflexion in der Querelle des anciens et des modernes, S. 24–33 sowie S. 62. 117 Vgl. die Materialsammlung in Peter K. Kapitza, Ein bürgerlicher Krieg in der gelehrten Welt. Zur Geschichte der Querelle des Anciens et des Modernes in Deutschland, München 1981.

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rung aufgestiegen wäre.118 Das zentrale Problem war nicht der Vergleich zwischen der antiken Literatur und der deutschen, sondern – wie aus dem antibarbarischen Argumentationsmodus gewohnt – die „Arbeit am Vergleich mit den Nachbarn“. Anders gesagt: An der Stelle des Vergleiches der Zeiten steht für ihn [Thomasius, A.H.] der Vergleich der Nationen und Sprachen: Dieses Thema ist in Deutschland seit dem 15./16. Jahrhundert zentral und spielt die Rolle des Sujets für die spezifisch deutsche Ausprägung des alt/neuDiskurses. Es geht dabei seit dem frühen Humanismus um das Projekt des Aufholens gegenüber den Nachbarkulturen.119

Aus dieser Ordnung des Nationaldiskurses im frühneuzeitlichen Europa resultierte eine eigentümliche Transparenz zwischen Rom- und Frankreich-Referenzen, die für die literarische Aufklärung in Deutschland konstitutiv blieb. Bis in die Zeit von Johann Christoph Gottsched bewegte sich die Apologie der deutschen Literatur in einem Netz von Dichotomien, das seit seiner humanistischen Begründung fortwährend in einem nicht minder konventionalisierten Abgleich mit den jeweiligen nationalen Altertümern aktualisiert wurde.120 Die Vorgaben aus Frankreich, das seit dem letzten Drittel des 17. Jahrhunderts als Mittelpunkt der res publica litteraria fungierte, wurden auch an der Peripherie – „in England, Spanien und vor allem in Deutschland“121 – als universale Regeln akzeptiert. Wer im literarischen Wettkampf anerkannt werden wollte, der partizipierte am dominanten Diskurs der Antibarbaries, während für die Antiromanitas die Felder blieben, die nicht auf die poetische Produktion zielten: einerseits Krieg, Politik und Moral, andererseits die Sprache.122 Zu diesem Befund passt, dass die Anstöße für eine Pluralisierung der Antiken- und Nationaldiskurse in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nicht von der literarischen

118 Jaumann, Der alt/neu-Diskurs (Querelle) als kulturelles Orientierungsschema, v. a. S. 86. 119 Jaumann, Der alt/neu-Diskurs (Querelle) als kulturelles Orientierungsschema, S. 96 f. 120 Vgl. die aufschlussreiche Analyse von Fink, Das Bild des Nachbarvolkes im Spiegel der deutschen und französischen Hochaufklärung (1750–1789), v. a. S. 490. 121 Jaumann, Querelle. In: RLL, Bd. 2, 2003, S. 207. 122 Die Belege, die Daniel Fulda für Gottscheds Invektiven gegen französische Laster angibt, stammen daher signifikanterweise aus den Beyträgen zur critischen Historie der deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit (Daniel Fulda, Zwischen Gelehrten- und Kulturnationalismus. Die „deutsche Nation“ in der literaturpolitischen Publizistik Johann Christoph Gottscheds. In: Die deutsche Nation im frühneuzeitlichen Europa. Politische Ordnung und kulturelle Identität?, hg. von Georg Schmidt, München 2010, S. 267–291, hier: S. 286). Dieser Befund deckt sich mit einer Sammlung von entsprechenden Stellen in Gottscheds Werk, die für ein nationalbegeistertes Publikum um 1900 veröffentlicht worden ist (Eugen Reichel, Gottsched der Deutsche. Dem deutschen Volke vor Augen geführt, Berlin 1901).  





1 Krieg/Kunst: Antike Dichotomien seit dem Humanismus

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oder literaturtheoretischen Diskussion ausgingen. Zu finden sind sie stattdessen auf dem Feld der politischen Philosophie, die ihre Positionierung zur traditionellen Ordnung der Kulturen ab einem gewissen Zeitpunkt auf signifikante Weise verschob. Damit kam es auch hinsichtlich der Hierarchie von Kunst und Krieg zu grundlegenden Revisionen. Diesem Prozess, aus dem im kulturellen Wertungsschema der europäischen Aufklärung eine nachhaltige Aufwertung des Krieges hervorging, soll sich das folgende Teilkapitel widmen.

2 Pluralisierungen: Umbau der Antikenordnung im 18. Jahrhundert In seinen Vorlesungen In Verteidigung der Gesellschaft (1976) berichtet Michel Foucault von einer bemerkenswerten Strömung im Frankreich des 18. Jahrhunderts, welche die politischen und kulturellen Diskurse in Europa gehörig in Bewegung brachte. Gegen Ende der Regierungszeit Ludwigs XIV. sei demnach die „Konstitution eines historisch-politischen Feldes“123 zu beobachten, das alte Leitvorstellungen systematisch unterlaufen habe. Im Einspruch gegen das traditionelle Ideal der Hochkultur sei hier der Krieg zur „Matrix“124 des Diskurses geworden. Das habe einer ganz anderen Ansicht der französischen Geschichte Raum gegeben: Ab jetzt sei es Staatstheoretikern und Historikern darum gegangen, „unterhalb der Formel des Gesetzes das Kriegsgeschrei, unterhalb des Gleichgewichts der Gerechtigkeit die Asymmetrie der Kräfte wiederzufinden“125. Dabei sei der Blick auch auf Akteure gefallen, die sich grundlegend von den bisherigen Hauptfiguren der Historie unterschieden hätten. Während die „Geschichte der Souveränität“ in Frankreich stets „in direkter Kontinuität mit der Geschichte der Römer“ erzählt worden sei, hätten die Gelehrten nun eine radikal „antirömische Historie“126 vorgelegt. „Es tauchen neue Personen auf, Franken, Gallier, Kelten“, schildert Foucault; „es tauchen auch andere, allgemeinere Figuren auf – Leute des Nordens und des Südens; es tauchen Herrscher und Untertanen, Sieger und Besiegte auf.“ Im Zeichen des Krieges habe sich der politische Diskurs folglich mit „Erinnerungen und Vorfahren“ bevölkert, „für die es bis dahin keine Genealogie gab“127 und die im wörtlichen wie im übertragenen Sinn gegen Rom ins Feld gezogen seien. In aller Kürze skizziert Foucault hier einen Umbau des politischen Diskurses, bei dem eine Pluralisierung der Antike aufs Engste mit einer neuen Faszination für den Krieg verschränkt war. Diesem Prozess wird dieses Teilkapitel nachgehen:

123 Michel Foucault, In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collège de France (1975– 1976). Aus dem Französischen von Michaela Ort, Frankfurt a. M. 1999, Vorlesung vom 18. Februar 1976, S. 196. Die beiden zentralen Sitzungen der Vorlesung Il faut défendre la société, in denen Foucault die hier skizzierten theoretischen Überlegungen entwickelt hat, waren bereits zuvor ins Deutsche übersetzt worden (Michel Foucault, Vom Licht des Krieges zur Geburt der Geschichte. Vorlesungen vom 21. und 28.1.1976 am Collège de France in Paris, hg. von Walter Seitter, Berlin 1986). 124 Foucault, In Verteidigung der Gesellschaft, Vorlesung vom 18. Februar 1976, S. 197. 125 Foucault, In Verteidigung der Gesellschaft, Vorlesung vom 21. Januar 1976, S. 74. 126 Foucault, In Verteidigung der Gesellschaft, Vorlesung vom 28. Januar 1976, S. 86 f. 127 Foucault, In Verteidigung der Gesellschaft, Vorlesung vom 28. Januar 1976, S. 94 f.  





https://doi.org/10.1515/9783110613575-004

2 Pluralisierungen: Umbau der Antikenordnung im 18. Jahrhundert

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Im Folgenden soll genauer nach den Charakteristika des Traditionsverhaltens gefragt werden, die an dieser doppelten Umstellung beteiligt waren. Dabei wird rasch deutlich werden, dass man es keineswegs mit einer so plötzlichen Ablösung des römischen Vorbilds zu tun hatte, wie es in Foucaults zugespitzter Darstellung den Anschein haben mag. Im Gegenteil: Vorbereitet und flankiert wurde das Aufkommen der ‚anderen‘ Antiken um 1750 durch eine langwierige und kritische Arbeit an der Autorität Rom, mit der die Autoren zugleich die politischen und kulturellen Leitorientierungen der vergangenen Jahrhunderte auf die Probe stellten. Die wohl prägnanteste Spur für eine Rekonstruktion dieser Umstellungsprozesse legt dabei die von Foucault beschriebene Faszinationskraft des Krieges, die zu Lasten der alten Leitidee ‚Kunst‘ ging. Diese Verschiebung äußerte sich maßgeblich in den entstehenden Rom-Konstruktionen: Während die Renaissance die römische Antike als glanzvolle Hochkultur entworfen und gefeiert hatte, geriet nun zunehmend Roms militärische Praxis in den Fokus. Als die Trägerschicht, die ein solches „Gegen-Wissen“128 über Geschichte, Staat und Gesellschaft lancierte, hat Foucault zu Recht den französischen Adel herausgestellt. Diese sozialgeschichtliche Kopplung erklärt sich aus der spezifischen Defensive, in die Frankreichs alte Eliten seit dem 17. Jahrhundert geraten waren. So hatte die Etablierung des absolutistischen Systems die Aristokraten zu Verlierern der Geschichte gemacht. Die Machtfülle des Sonnenkönigs hatte die politischen Rechte, die der Adel über Jahrhunderte im Parlament und in der Jurisdiktion besessen hatte, an sich gezogen und in seiner uneingeschränkten Herrschaft aufgehen lassen.129 Auf diese Situation reagierte der „verarmte und teilweise von der Machtausübung ausgeschlossene Adel“ laut Foucault, indem er den „Mechanismus des Macht-Wissens“130 neu konfigurierte, das ihm in seiner Beraterfunktion verblieben war. Das historiographische Veto gegen das Leitbild einer glanzvollen, imperialen Herrschaft Roms und, davon abgeleitet, des Versailler Hofs stand damit im Dienste handfester politischer Interessen. Im Zeichen der Geschichte kritisierte die ausgeschlossene Elite das Ideal der reinen Monarchie, um an die angestammten Rechte der eigenen Schicht zu erinnern.131 Vor diesen Hintergrund ist auch das Werk des politischen Philosophen einzuordnen, der im Fokus dieses Teilkapitels stehen soll. Charles de Montesquieu,

128 Foucault, In Verteidigung der Gesellschaft, Vorlesung vom 11. Februar 1976, S. 159. 129 Vgl. Liah Greenfeld, Nationalism. Five Roads to Modernity, Cambridge, London 1992, S. 136– 140; ders., The Emergence of Nationalism in England and France. In: Research in Political Sociology 5 (1991), S. 333–370, hier: S. 353 f. 130 Foucault, In Verteidigung der Gesellschaft, Vorlesung vom 11. Februar 1976, S. 158. 131 Ausführlich vgl. Foucault, In Verteidigung der Gesellschaft, Vorlesung vom 11. Februar 1976, S. 157–162.  

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Teil I Krieg und Antike: Die Genese patriotischer Republiken

der als Baron de la Brède der alten noblesse parlementaire angehörte,132 wurde im 18. Jahrhundert mit zwei Texten zum Protagonisten im Umbau der traditionellen Antikenordnung und zugleich zum Stichwortgeber für eine neue Sicht auf den Krieg. Im Jahr 1734 veröffentlichte er seine Considérations sur les causes de la grandeur des Romains et de leur décadence, die eine grundlegend veränderte Konzeption von Rom entwarfen; 1748 folgte der epochemachende Esprit des Lois, mit dem er die entwickelten Perspektiven auf Herrschaft, Gemeinschaft und Krieg für den Entwurf von ‚anderen‘ Altertümern wie Sparta, Athen und Germanien produktiv machte. Beide Schriften sind im skizzierten Spannungsfeld einer aristokratischen Kritik am Absolutismus zu lesen, der in den Jahrzehnten nach dem Tod Ludwigs XIV. (1715) weiteren Auftrieb gewann.133 Aus konservativen Intentionen gingen dabei höchst innovative Ansätze für die Modellierung von (antiker und moderner) Gemeinschaft hervor,134 die sich unverzüglich über Europa verbreiteten.135 Zu Recht hat Conrad Wiedemann die Trias „Rom, Athen und die germanischen Wälder“,136 die seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die möglichen Bezugsräume für Ideen einer „nationalkulturellen Identität“137 in der deutschen Literatur definierte, auf Montesquieus Impuls zurückgeführt.

132 Iris Cox, Montesquieu and the History of Laws. In: Montesquieu’s Science of Politics. Essay on the Spirit of the Laws, hg. von David W. Carrithers, Michael A. Mosher und Paul A. Rahe, Lanham u. a. 2001, S. 409–430. Vgl. zudem Brian C. J. Singer, Montesquieu and the Discovery of the Social, New York 2013, S. xvi f. 133 Leonhard, Bellizismus und Nation, S. 62 f.; Vanessa de Senarclens, Montesquieu historien de Rome. Un tournant pour la réflexion sur le statut de l’histoire au XVIIIe siècle, Genf 2003, S. 59. 134 Diesen Zusammenhang charakterisiert Brian C. J. Singer aus der umgekehrten Perspektive: „Although he [Montesquieu, A.H.] illuminated many aspects of what would become our modernity, he remains in crucial respects a man of the ancien regime, even by the standards of his time. It is my claim that if he were more modern […], he would not have discovered the social“ (Singer, Montesquieu and the Discovery of the Social, S. xvi). 135 Das gesellschaftstheoretische Hauptwerk Montesquieus, der Esprit des Lois, war in der europäischen res publica litteraria schon kurz nach dem Erscheinen in aller Munde (Rudolf Vierhaus, Montesquieu in Deutschland. Zur Geschichte seiner Wirkung als politischer Schriftsteller im 18. Jahrhundert. In: Ders., Deutschland im 18. Jahrhundert. Politische Verfassung, soziales Gefüge, geistige Bewegungen. Ausgewählte Aufsätze, Göttingen 1987, S. 9–32, hier: S. 9 f.). 136 Auf den deutschen Kontext zugespitzt, doch dabei immer im europäischen Zusammenhang gesprochen, vgl. die Beobachtungen von Conrad Wiedemann, Rom, Athen und die germanischen Wälder. Ein vergleichender Versuch über nationale Ursprungsmythen der deutschen Aufklärung. In: Ders., Grenzgänge. Studien zur europäischen Literatur und Kultur, hg. von Renate Stauf und Cord-Friedrich Berghahn, Heidelberg 2005, S. 265–280. 137 Wiedemann, Rom, Athen und die germanischen Wälder, S. 270 sowie Conrad Wiedemann, The Germans’ Concern about their National Identity in the Pre-Romantic Era: An Answer to Montesquieu. In: Concepts of national identity – an interdisciplinary dialogue, hg. von Peter  







2 Pluralisierungen: Umbau der Antikenordnung im 18. Jahrhundert

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Angesichts des durchschlagenden Erfolgs dieser Kultur- und Gesellschaftsmodelle, die für den Entwurf von deutschen (Kriegs-)Gemeinschaften um 1750 entscheidend wurden, soll Montesquieus Pluralisierung der Antike im Folgenden näher betrachtet werden. Dabei wird es darum gehen, die Arbeit an der Tradition sowohl in ihren historischen als auch in ihren systematischen Signifikanzen zu beleuchten. Historisch ist in diesem Prozess die Aufwertung einer anderen, durch die Regierungsform der Republik organisierten Antike nachzuzeichnen, die dem Adeligen dazu diente, die Vorzüge eines nicht-absolutistischen Staates in Szene zu setzen. Systematisch sind die Entwürfe der antiken Republiken, die dabei rezipiert und transformiert wurden, zugleich daraufhin zu prüfen, wie sie auf die spezifischen gesellschaftlichen Herausforderungen des 18. Jahrhunderts reagierten. So wird zu zeigen sein, dass die Diskurse der Republik und, damit verbunden, auch des Krieges im 18. Jahrhundert dazu herangezogen wurden, über neue Formen der sozialen Kohäsion nachzudenken. Am Beispiel von Gesellschaften, die lange vor der Etablierung der ständischen Ordnung gelebt hatten, wurden nun die Bedingungen für einen grundlegenden Zusammenhalt erkundet, wie sie im zeitgenössischen Übergang zu einer funktional differenzierten Gesellschaft immer mehr an Relevanz gewannen.

2.1 Rom gegen Rom (Montesquieu) Als im Jahr 1734 die Considérations sur les causes de la grandeur des Romains et de leur décadence erschienen, zeigte sich ein großer Teil des französischen Publikums teils verständnislos, teils irritiert, und teils sogar manifest verärgert.138 Seit dem enormen Erfolg der Lettres persanes (1721) hatte man jeder neuen Veröffentlichung des berühmten Gelehrten Charles de Montesquieu mit Ungeduld entgegengefiebert; in seinem jüngsten Text zum Aufstieg und Niedergang der Römer schienen sich Themenstellung und Ausführung jedoch auf geradezu anstößige Weise zu widersprechen. Symptomatisch ist die Reaktion von Voltaire, der den

Boerner, Baden-Baden 1986, S. 141–152. In diesem Sinne vgl. außerdem auch Renate Stauf, „… und die kleinen städtischen Republiken der Griechen waren gewiß nur Puppenwerke gegen die nordischen Staaten …“. Germanenmythos und Griechenmythos als nationale Identitätsmythen bei Möser und Winckelmann. In: Arminius und die Varusschlacht. Geschichte – Mythos – Literatur, hg. von Rainer Wiegels und Winfried Woesler, Paderborn u. a. 1995, S. 309–322, v. a. S. 310. 138 Dokumentiert bei Robert Shackleton, Montesquieu. A Critical Biography, London 1961, S. 155–157.  



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ersten Leseeindruck in einem Schreiben an seinen Freund Nicolas Claude Thieriot wie folgt festhielt: Have you seen the little, and too little book writ by Montesquieu on the decadence of the empire? They call it the decadence of Montesquieu. It is true the book is very far from being what he [sic] ought to be, but yet there many things [sic] in it which deserve to be read, and that makes me angry with the author for having so lightly treated of so great a matter. This book is full of hints, is less a book than an ingenious table des matières writ in an odd stile.139

Das Erste, das Montesquieus Rezipienten an den Considérations befremdete, war also ihre skizzenhafte und knappe Form. Mit den nicht einmal 300 Oktavseiten, die der Text im Druck umfasste,140 verstieß er bereits auf den ersten Blick gegen die Erwartungen an eine historiographische Auseinandersetzung mit dem gewichtigen Gegenstand Rom, die in Frankreich gewöhnlich „extremely exhausting“141 ausfiel. So bestand die kurz zuvor erschienene Histoire romaine, depuis la fondation de Rome (1728) von François Catrou und Pierre Julien Rouille aus sechs Bänden; diese wurden im Laufe der Aufklärung noch weit von Charles Rollins Histoire romaine depuis la fondation de Rome jusqu’à la Bataille d’Actium (1738– 1754) übertroffen, die posthum auf 16 Volumina kam.142 Im Zuge dieser Komprimierung verschob sich der Fokus bei Montesquieu von der Darstellung historischer Ereignisse zu ihrer pointierten Analyse – zu Considérations, also Betrachtungen, die lose in der Tradition der Moralistik standen.143 Der Ansatzpunkt für diese Untersuchungen stellte bereits das zweite Irritationsmoment für die französischen Zeitgenossen dar. Denn indem Montesquieu in einem Atemzug nach den Gründen für die Größe der Römer (les causes de la grandeur des Romains) und für ihren Niedergang (de leur décadence) fragte,

139 Voltaire an Nicolas Claude Thieriot, November 1734 [D803] (Oeuvres complètes de Voltaire, hg. vom Institut et Musée Voltaire und der Voltaire Foundation. Bd. 87: Correspondence and related documents III. May 1734–June 1736. D731–D1106, hg. von Theodore Besterman), Genf, Oxford 1969, S. 80 f., hier: S. 80. Voltaire schrieb hier im Original in englischer Sprache. 140 [Charles Louis de Montesquieu,] Considérations sur les causes de la grandeur des Romains et de leur décadence, Amsterdam 1734. 141 Cemile Akça Ataç, Roman Historiography of Eighteenth-Century Britain Beyond Gibbon: Ancient Norms of Empire for Moderns. In: A Companion to Enlightenment History, hg. von Sophie Bourgault und Robert Sparling, Leiden, Boston 2013, S. 469–504, hier: S. 479. 142 Weitere Beispiele führt Ataç an (Ataç, Roman Historiography of Eighteenth-Century Britain, S. 479 f.). 143 Jean Ehrard, Préface. In: Charles Louis de Montesquieu, Considérations sur les causes de la grandeur des Romains et de leur décadence. Chronologie et préface par Jean Ehrard, Paris 1968, S. 7–21, hier: S. 15; 18.  



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unterlief er eine Alternative, die den derzeitigen Rom-Diskurs in Frankreich kennzeichnete. So diente die Parallele zwischen dem absolutistischen Frankreich und dem imperialen Rom seit dem Tod von Ludwig XIV. als „instrument heuristique de toute réflexion sur l’État“,144 das die Franzosen zu einer Gegenwartsdiagnose auf dem Weg der kulturellen Analogie nutzten. Dabei hatte sich der Diskurs in zwei Stränge verzweigt.145 Viele Autoren sahen Frankreich nach wie vor auf der Höhe seiner Macht und versuchten, diesen Status durch immer neue Histoires über die Zeit des Augustus zu beweisen – des sprichwörtlichen Friedenskaisers, der Rom in eine Kulturblüte geführt hatte, in dessen Regentschaft die Geburt Christi gefallen war und dessen Ära man zur Spiegelepoche des französischen Absolutismus erkoren hatte.146 Daneben hatte sich jedoch sukzessive eine skeptischere Selbsteinschätzung entwickelt, die sich in einer historischen Verschiebung niederschlug. Mehr und mehr wurde jetzt auch die spätere Kaiserzeit, insbesondere die Epoche Neros behandelt und auf Anzeichen durchforstet, ob das Ende des Siècle de Louis le Grand eine Phase des Niedergangs eingeläutet habe, wie Voltaire es bereits an der Qualität der französischen Literatur abzulesen meinte.147 Vor diesem Hintergrund betrachtet, liegt der neue Ansatz von Montesquieus Considérations in der Behauptung eines inneren Zusammenhangs von Größe und Verfall, den schon der sperrige Name der Schrift nahelegt. Beide Zustände werden darin in einem „dialektischen Prozeß“148 verkettet, so dass die Kategorie der römischen grandeur sich gegen sich selbst zu wenden scheint. Bereits beim Blick auf das Titelblatt war damit zu erahnen, dass die Considérations eine Einrede gegen das glanzvolle Paradigma der römischen Größe unternahmen, in dem sich die Epoche des Sonnenkönigs gespiegelt hatte. Als Anlass für dieses Veto lassen sich konkrete politische Tendenzen benennen, die unlängst mit philologischen Argumenten in Erinnerung gerufen worden sind. Wie eine Notiz von Montesquieus Hand festhält, die sich in seinem Nachlass befindet, sollte die Schrift über die Römer ursprünglich in Kombination mit einem zweiten Text gedruckt werden, der dann aber aus Furcht vor nicht näher bestimmten Missverständnissen („de peur qu’on n’interpretat mal quelques endroits“) zu

144 Senarclens, Montesquieu historien de Rome, S. 59. 145 Diese parallelen Traditionen stellt Senarclens ausführlich dar (Senarclens, Montesquieu historien de Rome, S. 39–60). 146 Vgl. erneut Schmitzer, Friede auf Erden? 147 Dieter Gembicki, Corruption, Décadence. In: HPSG, Bd. 14/15, 1993, S. 7–60, hier: S. 25–29. 148 Gembicki, Corruption, Décadence. In: HPSG, Bd. 14/15, 1993, S. 20; Senarclens, Montesquieu historien de Rome, S. 51.

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unterdrücken gewesen sei:149 mit den Réflexions sur la monarchie universelle en Europe (1733/34).150 Was an diesen Überlegungen zu universalmonarchischen Phantasien im frühneuzeitlichen Europa so brisant war, erklärt sich aus der Schrift selbst, die posthum bekannt geworden ist. So schloss Montesquieu hier im Widerspruch zu offiziellen Darstellungen aus Versailles151 nicht aus, dass die Franzosen unter Ludwig XIV. immer noch Aspirationen auf eine europäische Alleinherrschaft gehegt hätten.152 Nicht minder deutlich sind die Anschlüsse für die Considérations zu erkennen. So ging Montesquieu bei seiner Absage an die Universalmonarchie von der römischen Antike aus, um die Leitbildfunktion dieses strahlenden Musters für den Absolutismus sogleich in Zweifel zu ziehen. „Es ist die Frage, ob in dem Zustande, in dem sich Europa zur Zeit befindet, es möglich ist, daß ein Volk, wie einst das der Römer, eine dauernde Herrschaft über die anderen behaupten könnte“, formulierte er, um dann aus drei Gründen abschlägig zu votieren. Im Europa der Gegenwart hätten sich aufgrund der „neuen Methoden in der Kriegführung“, aufgrund des veränderten „Völkerrecht[s]“ und aufgrund der Vernetzungen im „Handel“ so dichte wechselseitige Abhängigkeiten eingestellt, dass es kein zweites Rom mehr geben könne: Europa ist nichts anderes als eine große, aus mehreren kleinen zusammengesetzte Nation. Frankreich und England brauchen den Wohlstand Polens und Rußlands, so wie eine ihrer

149 Der Wortlaut dieser Notiz ist in der Einführung zur Oxforder Montesquieu-Ausgabe wiedergegeben. Montesquieu hat einen einzelnen Druck der Réflexions aufbewahrt und auf dessen erster Seite vermerkt: „J’ay ecrit qu’on supprimat cette copie et qu’on en imprima autre si quelque exemplaire avoit passé: de peur qu’on n’interpretat mal quelques endroits.“ (Catherine Larrère, Françoise Weil, Introduction (Œuvres complètes de Montesquieu, hg. von Jean Ehrard und Catherine Volpilhac-Auger, 21 Bde., Bd. 2: Considérations sur les Romains et Réflexions sur la monarchie universelle, hg. von Françoise Weil und Cecil Courtney), Oxford 2000, S. 321–338, hier: S. 322). Aus dieser Ausgabe wird im Folgenden mit dem Kürzel OC zitiert. Sofern nicht die französische Terminologie entscheidend ist, wird im laufenden Text der besseren Lesbarkeit halber – sofern vorhanden – mit Übersetzungen gearbeitet. 150 Paul A. Rahe, The Book That Never Was: Montesquieu’s Considerations on the Romans in Historical Context. In: History of Political Thought 26:1 (2005), S. 43–89, hier: S. 59; in wesentlichen Teilen erneut erschienen in Paul A. Rahe, Montesquieu and the Logic of Liberty. War, Religion, Commerce, Climate, Terrain, Technology, Uneasiness of Mind, the Spirit of Political Vigilance, and the Foundations of the Modern Republic, New Haven, London 2009, S. 3–42, hier: S. 20. Rahes zweite Vermutung, dass das Kapitel des Esprit des lois zur englischen Verfassung das projektierte „Book That Never Was“ komplettiert haben könnte, schließt lediglich an eine Behauptung von Montesquieus Sohn an. Sie wird hier, wie auch sonst in der an Rahe anschließenden Montesquieu-Forschung, nicht weiterverfolgt. 151 Vgl. Rahe, The Book That Never Was, S. 46 f. 152 Dieses Thema wird im Abschnitt XVII von Montesquieus Réflexions sur la monarchie universelle en Europe behandelt (OC, Bd. 2, S. 339–364, hier: S. 358 f.).  



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Provinzen die andere nötig hat. Und der Staat, der seine Macht durch die Niederwerfung seines Nachbars zu mehren glaubt, schwächt sich gewöhnlich selbst dadurch.153

Da also das Streben nach politischer Dominanz im Maßstab des römischen Imperiums einem Staat inzwischen selbst schade, sei ein solcher Anspruch unter den Bedingungen der Gegenwart prinzipiell zu verwerfen. Die Réflexions sind damit als Absage an die Vorbildhaftigkeit der römischen Antike zu verstehen, wie sie seit der Renaissance etabliert gewesen war (vgl. Kap. I.1). Dieses Veto gegen die Tradition hatte aktuelle Gründe, die durch den europäischen Fokus der Schrift zwischen den Zeilen mitschwangen. So adressierte Montesquieu hier im Zeichen der Antike die instabile politische Situation, die sich zu Beginn der 1730er Jahre infolge verschiedener Bündniswechsel herausgebildet hatte.154 Seitdem sich England 1731 von Frankreich ab- und dessen traditionellem Kontrahenten um die europäische Vorherrschaft, dem Habsburgerreich, zugewandt hatte,155 drohte wieder ein politischer Wettstreit in Europa und der Neuen Welt aufzubrechen, welche die Franzosen und die Engländer schon im Spanischen Erbfolgekrieg (1701–1714) als Kampfplatz erkundet hatten. Frankreichs Initiierung einer ‚bourbonischen Allianz‘ mit den Spaniern sowie das Einschreiten gegen die Habsburger im Krieg um die polnische Thronfolge (1733–1735)156 dienten den französischen Zeitgenossen als Indiz dafür, dass die zeitweilig ad acta gelegte doppelte Frontstellung gegen Habsburg und England wieder auf die Tagesordnung gerückt sei. In den Réflexions formulierte Montesquieu also seine Skepsis gegenüber dem Imperium als außenpolitischem Modell; in den Considérations, die als eine Art „extended introduction“157 davor positioniert werden sollten, richtete er den Blick auf die tieferen, kultur- und geschichtstheoretischen Prämissen der Rom-Analogie. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, warum er auch sie, eine Schrift von scheinbar bloß historischem Interesse, der französischen Zensur entzog und einen anonymen Druck in Amsterdam veranlasste.158 Anders als die Réfléxions

153 Charles [Louis] de Montesquieu, Betrachtungen über die Universalmonarchie in Europa, übersetzt und mit einer Einleitung versehen von Hildegard Trescher, Leipzig [1920], S. 19–21. 154 Ursula Haskins Gonthier, Montesquieu and England: Enlightened exchanges, 1689–1755, London 2010, S. 64 sowie S. 76. 155 Die Umstände, unter denen es zu dieser Umstellung der Bündnisse kam, werden ausgeführt bei Katja Frehland-Wildeboer, Treue Freunde? Das Bündnis in Europa 1714–1914, München 2010, S. 49–52. 156 Frehland-Wildeboer, Treue Freunde?, S. 52; Ehrard, Préface, S. 9. 157 Rahe, The Book That Never Was, S. 67. 158 Patrick Andrivet, Catherine Volpilhac-Auger, Introduction. In: OC, Bd. 2, S. 1–86, hier: S. 37–40.

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entfalteten die Considérations ihre politischen Implikationen dabei nicht über Allusionen auf die Konfliktlagen der Gegenwart. Im späteren der beiden Texte ergab sich die Kritik vielmehr unmittelbar aus der Methode, die Montesquieu einführte, um die römische Geschichte zu begreifen. Der Einspruch gegen Roms Größe – und damit gegen politische Gedankenspiele, die auf Analogiebildungen dazu beruhten – dokumentierte sich schon in der konzeptionellen Anlage der Considérations. Indem Montesquieu von vornherein zwei Abschnitte der römischen Geschichte unterschied, grandeur und décadence, nahm er eine Aufspaltung des traditionellen Rom-Paradigmas vor, die seinen methodischen Ansatz bestimmte. In der Frage nach den causes, d. h. nach den intelligiblen Gesetzmäßigkeiten in der Historie, die den Umschlag des einen Zustands in den anderen bewirkt hätten,159 wandte er sich systematisch gegen die vorherrschenden Erklärungsmuster der etablierten Geschichtsschreibung. Zum einen richtete er sich gegen die Macht der fortuna, der exponierte Figuren wie Herrscher oder Feldherren durch exemplarische Taten standzuhalten hätten, wie die Doktrin der Historia magistra vitae seit dem Mittelalter gelehrt hatte.160 Zum anderen erteilte er einem heilsgeschichtlichen Providentialismus eine Absage, der den Niedergang Roms als notwendige Voraussetzung für den Aufstieg des Christentum deutete und der in Frankreich anschließend an Jacques Bénigne Bossuets Discours sur l’histoire universelle (1681) nach wie vor eine große Rolle spielte.161 Welche Kategorien seiner Analyse stattdessen als Leitlinie dienen sollten, fasste Montesquieu prägnant im 18. Kapitel der Considérations zusammen. So formulierte er:  

Die Geschichte der Römer war in einem Satz gesagt diese: Durch ihre Maximen überwanden sie alle Völker, aber als sie das Ziel erreicht hatten, konnte ihre Republik nicht weiterbestehen; es mußte eine Änderung der Regierungsform eintreten und die Maximen, die in dieser neuen Regierungsform befolgt wurden und die den früheren völlig entgegengesetzt waren, brachten Roms Größe zu Fall. Nicht der Zufall beherrscht die Welt. Man möge nur die Römer befragen, die ununterbrochen Eroberungen gemacht hatten, solange sie nach einem bestimmten Plane vorgingen, und dauernd Rückschläge erlitten, als sie nach einem andern Plane verfuhren. Es gibt allgemei-

159 Vgl. Daniel Brewer, The Enlightenment Past. Reconstructing Eighteenth-Century French Thought, Cambridge u. a. 2008, S. 84 f. 160 Vgl. Andrivet, Volpilhac-Auger, Introduction. In: OC, Bd. 2, S. 25 sowie Bertrand Binoche, Introduction à De l’esprit des lois de Montesquieu, Paris 1998, S. 101. 161 Zur Frontstellung gegen Bossuet vgl. Lothar Schuckert, Einführung. In: Charles Louis de Montesquieu, Betrachtungen über die Ursachen von Größe und Niedergang der Römer. Mit den Randbemerkungen Friedrichs des Großen, übersetzt und hg. von Lothar Schuckert, Bremen 1962, S. VII–XXXI, hier: S. XVII f.; Brewer, The Enlightenment Past, S. 85; Ehrard, Préface, S. 13 f.  







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ne Ursachen (causes générales), die teils moralischer, teils physischer Natur sind und die in jeder Monarchie wirken, die sie emporheben, erhalten oder stürzen. Alle Geschehnisse stehen unter dem Gesetz dieser Ursachen. Und wenn der Zufall einer Schlacht, und das heißt: eine besondere Ursache (une cause particuliere), einen Staat zugrunde gerichtet hat, so gibt es doch eine allgemeinere Ursache, die bewirkte, daß dieser Staat durch eine einzige Schlacht zugrunde gehen mußte. Mit einem Wort: die grundsätzliche Wendung zieht alle weiteren Ereignisse nach sich.162

Montesquieus Ziel war es also, eine „subtile Maschinerie“163 des römischen Niedergangs aufzuzeigen, die lange vor den Verfallserscheinungen der Spätantike wirksam geworden sei, die Historiographen der Kaiserzeit wie Tacitus oder Sueton in grellen Farben beleuchtet hatten. Roms Verfall setzte laut der Darstellung der Considérations nicht mehr mit den Exzessen einzelner mächtiger Persönlichkeiten, allen voran der Herrscher, ein. Diese fielen als „those involving one specific event, one specific individual“164 lediglich unter die besonderen Ursachen (causes particulières). Vielmehr wurde der Niedergang nun aus einer Verkettung von apersonalen Faktoren abgeleitet, die als allgemeine Ursachen (causes générales) bezeichnet wurden.165 Friedrich II. von Preußen hat den letzten Satz in seinem Exemplar der Considérations, das er für den halböffentlichen Gebrauch am Potsdamer Hof annotierte166 und das der hier verwendeten Übersetzung von Lothar Schuckert zugrundeliegt, markiert und bekräftigt: „So gewiß ist es, daß alle Geschehnisse ihre Ursache in Vorvergangenem haben!“167 Damit ist das Konzept der causes générales nur halb erfasst, denn über die Zeit hatte sich laut Montesquieus Ansatz

162 Charles Louis de Montesquieu, Betrachtungen über die Ursachen von Größe und Niedergang der Römer. Mit den Randbemerkungen Friedrichs des Großen, übersetzt und hg. von Lothar Schuckert, Bremen 1962, Kap. XVIII, S. 159 f.; französische Zitate: OC, Bd. 2, S. 235. Die Hervorhebung geht auf das Handexemplar Friedrichs II. zurück; vgl. die weiteren Ausführungen. 163 Gembicki, Corruption, Décadence. In: HPSG, Bd. 14/15, 1993, S. 20. 164 David Lowenthal, The Design of Montesquieu’s Considerations on the Causes of the Greatness of the Romans and their Decline. In: Interpretation. A Journal of Political Philosophy 1:2 (1970), S. 144–168, hier: S. 156. 165 Vgl. Ehrard, Préface, S. 13; Senarclens, Montesquieu historien de Rome, S. 169–172. 166 Vgl. Vanessa de Senarclens, Missverständnisse – Friedrich der Große als Leser von Montesquieus Considérations sur les causes de grandeur des Romains et de leur décadence (1734). In: Europäischer Kulturtransfer im 18. Jahrhundert. Literaturen in Europa – Europäische Literatur?, hg. von Barbara Schmidt-Haberkamp, Uwe Steiner und Brunhilde Wehinger, Berlin 2002, S. 149– 162, hier: S. 152. Mit dieser Einschätzung widerspricht Senarclens der älteren Auffassung, die Annotationen hätten privaten Charakter. Diese wird z. B. vertreten bei Max Posner, Die Montesquieu-Noten Friedrich’s II. In: Historische Zeitschrift N. F. 11 (1882), S. 193–288, hier: S. 219–222. 167 Friedrich II. von Preußen, Marg. 39. In: Montesquieu, Betrachtungen über die Ursachen von Größe und Niedergang der Römer, XVIII, S. 160; im originalen Wortlaut: „Tant il est certain que  



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lediglich das vielfältige Netz der Einflüsse verdichtet, das die Reichweite der menschlichen Entscheidungen seiner Meinung nach beschränkte.168 Im Laufe der Darstellung konkretisiert sich, was Montesquieu zu diesen allgemeinen Ursachen zählte, die er abstrakt in physische und moralische unterschied. Die Entwicklung, die ein Staat nehme, sei danach von einem „Geflecht vielfältiger, miteinander konkurrierender spezifischer Prinzipien und Wirkfaktoren“169 abhängig.170 Die Leidenschaften der Menschen stünden zum einen in enger Wechselwirkung mit den Faktoren der physischen Welt, in denen ein Land situiert sei: dem Klima und Territorium in seiner konkreten Beschaffenheit, Ausdehnung und Umgrenzung. Daran angepasst, entstünden zum anderen Institutionen – „political, military, eonomic, technological, etc.“171 –, die in einer betont weiten Verwendung des Begriffs ‚Sitten‘ (mœurs) als moralische Faktoren, d. h. als Ausdruck der jeweiligen Lebensweise und Kultur einer Gesellschaft profiliert wurden.172 All diese Elemente seien gleichzeitig wirksam geworden, um das Schicksal des römischen Staats zu entscheiden.173 Die Pointe der Considérations ergibt sich jedoch erst, wenn man den Punkt hinzunimmt, der Friedrich II. so wichtig war. Im historischen Verlauf, den Montesquieu entwarf, verschalteten sich all diese Faktoren zu einer Eigendynamik, die sich nicht stillstellen ließ. Habe das Zusammenspiel der Kräfte bei den Römern zunächst eine exzeptionelle Stärke begründet, so die Darstellung, habe es sich bei fortschreitender Zeit gegen sich selbst gewandt. Aus den positiven Ausgangsbedingungen des Staates seien politische Effekte erwachsen, die Roms Erfolg in sein Gegenteil verkehrt hätten.174  

tous les événéments ont leurs raisons en ce qui les a précédés!“ (Montesquieu, Betrachtungen über die Ursachen von Größe und Niedergang der Römer, S. 220). 168 Jean Starobinski, Montesquieu. Ein Essay. Mit ausgewählten Lesestücken, aus dem Französischen von Ulrich Raulff, München u. a. 1991, S. 84–86. 169 Ullrich Sachse, Cäsar in Sanssouci. Die Politik Friedrichs des Großen und die Antike, München 2008, S. 82. Als Prämisse für die Rezeption von Montesquieus Ansatz im politischen Denken von Friedrich II. legt Sachse auch eine pointierte Analyse von Montesquieus Considérations selbst vor. 170 Diese Differenzierung folgt Lowenthal, The Design of Montesquieu’s Considerations, S. 156– 158. 171 Lowenthal, The Design of Montesquieu’s Considerations, S. 157. 172 Lowenthal, The Design of Montesquieu’s Considerations, S. 158. 173 „Montesquieus historischer Determinismus ist, wenn man so sagen kann, ‚multikausal‘. Die allgemeine Ursache ist das Resultat einer Verbindung von Kräften: Diese treffen zusammen, um eine Situation zu determinieren, kommen aber von überall her.“ (Starobinski, Montesquieu, S. 83 f.). 174 Vgl. Senarclens, Montesquieu historien de Rome, S. 157.  



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Damit entwarf Montesquieu eine Sicht auf Rom, die es schwer machte, die vorbildliche Kultur der vergangenen Jahrhunderte wiederzufinden. Unter den genannten Prämissen war es kein einzelnes Ereignis, sondern ein vielfach abgestufter Prozess, der vom Aufstieg der Römer zu ihrem Abstieg überleitete. Das dokumentiert sich im Aufbau der Schrift. Zwar zerfallen die 23 Paragraphen der Considérations in eine „republic half“ und eine „empire half“175 von jeweils elf Kapiteln, die sich um ein Scharnier anordnen: In der arithmetischen Mitte steht das Kapitel „Vom Zustande Roms nach dem Tode Caesars“, das von den unerbittlichen Kriegen im machtpolitischen Vakuum nach dem Ende der Republik handelt. Trotzdem fungiert der Wechsel der Regierungsform innerhalb des Textes nicht einfach als Achse, die Größe und Niedergang separiert. Vielmehr zerfallen die Hälften weiter in Eskalationsstufen, die durch reflektierende Abschnitte, „causal chapters“,176 abgetrennt werden. Diese Ursachenkapitel heben Tendenzen hervor, die in Roms Schicksal eingriffen. So setzte Montesquieu im 6. Kapitel „Wie die Römer sich verhielten, um alle Völker zu unterwerfen“ eine erste Zäsur an, die auf die territoriale Expansion nach dem Ende der Punischen Kriege fiel. In der ‚republic half‘ erzeugt diese Binnengliederung zwei Blöcke von jeweils fünf Kapiteln, und genauso unterteilt das 18. Kapitel zu den „Neuen Grundsätzen der Römer“ in der ‚empire half‘ zwei analog dimensionierte Abschnitte, indem es die veränderte Haltung der Bürger zum Staat anprangert. Auf eine schleichende Zersetzung der alten politischen Maximen, die demnach bis zur Teilung des Imperiums in einen West- und einen Ostteil währte, sei seit der Erhebung des Christentums zur Staatsreligion die Auflösung des römischen Ethos gefolgt, die den endgültigen Kollaps bewirkt habe. Die Provokation, die mit dieser Komposition einherging, liegt auf der Hand: Demonstrativ stellte Montesquieu integrale Elemente des französischen Rom-Diskurses unter das Vorzeichen der Dekadenz. Nicht nur der römisch-katholischen Religion versagte er jede positive Funktion, ob nun staatspolitisch oder heilsgeschichtlich. Im Gegenteil: Das Christentum trug bei ihm, wenn im Text auch nur subtil kenntlich gemacht, permanent zum Niedergang Roms bei.177 Und auch

175 Lowenthal, The Design of Montesquieu’s Considerations, S. 145. 176 Lowenthal, The Design of Montesquieu’s Considerations, S. 145. 177 Die Aspekte der impliziten Kritik an der christlichen Religion hat Richard Myers zusammengetragen. So werde die Unterwürfigkeit, welche die Christen verlangt hätten, mit der Etablierung der Tyrannei enggeführt; die Förderer der neuen Religion hätten sie durchgängig für eigene politische Ziele genutzt. Zudem würden die negativen Folgen aus der Bindung zwischen Staat und Kirche herausgestellt (Richard Myers, Christianity and Politics in Montesquieu’s Greatness and Decline of the Romans. In: Interpretation. A Journal of Political Philosophy 17:2 (1989/90), S. 223– 238). Vgl. auch Lowenthal, The Design of Montesquieu’s Considerations, S. 151–154; S. 161–168.

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die bislang idealisierte Herrschaft des Augustus, des Vorbilds für die glanzvolle Regierung des französischen Sonnenkönigs, verlor in den Considérations ihr Attribut der politischen Balance. Das zeigt die Platzierung im 13. Kapitel, genau nach der kompositorischen Mitte, bereits strukturell unmissverständlich an. Vom topischen Lob der friedvollen Pax Augusta mit ihrer Literatur- und Kulturblüte fehlte mithin jede Spur.178 Stattdessen markierte Montesquieu die augusteische Zeit als diejenige Epoche, die Roms Verfallstendenzen institutionell manifest gemacht habe.179 Aus diesen Prämissen ergab sich ein Blick auf Rom, in dem die Umstellung der Methode, der Periodisierung und der Diagnose aufs Engste miteinander verwoben waren. Indem Montesquieu die Aufmerksamkeit nicht auf die Entscheidungen der ‚großen Männer‘ richtete, sondern auf die politischen, sozialen und moralischen Konventionen, die diesen zugrunde lagen, etablierte er eine Kausalbeziehung zwischen Größe und Niedergang. Dabei verlagerte er den Anfang von Roms Verfallsgeschichte weit nach vorn. Allein das erste Viertel der Considérations widmet sich ausschließlich den Bedingungen, die den Aufstieg der Römer begründeten. Schon an dem Punkt, an dem diese ihre territorialen Interessen nach dem Ausschalten Karthagos auf die hellenistischen Staaten ausweiteten, setzte Montesquieu eine innere Destabilisierung des Staates an.180 Ab dieser „eigentliche[n] Epoche ihres Verfalls“ („vraye Epoque de leur corruption“;181 époque ist im etymologischen Sinn als ‚Zäsur‘ zu lesen) wird eine Dynamik des Niedergangs nachgezeichnet, die in einem Wechselspiel von vielfältigen Faktoren entfaltet wird.182Aus der analysierten Struktur der Considérations wird deutlich, dass sich die normative Gewichtung zwischen dem kurzen Abschnitt zur „Roman republic before its corruption began“183 und dem langwierigen Zersetzungsprozess dabei entgegengesetzt zum Textumfang verhielt: An der Frühzeit entwickelte Montesquieu die Bewertungskriterien, anhand derer das französische Rom-Paradigma seinen Glanz einbüßte.184 Somit griffen drei Umstellungen ineinander. Der methodische Wechsel von einer teleologischen zu einer kausalgenetischen Perspektive korrespondierte mit

178 Gonthier, Montesquieu and England, S. 80. 179 So auch Senarclens, Montesquieu historien de Rome, S. 163; Ehrard, Préface, S. 14. 180 Lowenthal, The Design of Montesquieu’s Considerations, S. 145. 181 Montesquieu, Betrachtungen über die Ursachen von Größe und Niedergang der Römer, S. 44; OC, Bd. 2, S. 127. Vgl. Schuckert, Einführung, S. XXII. 182 Senarclens, Montesquieu historien de Rome, S. 169. 183 Vgl. Lowenthal, The Design of Montesquieu’s Considerations, S. 145. 184 Vgl. Octavian Vuia, Montesquieu und die Philosophie der Geschichte, hg. von Richard Reschika, Frankfurt a. M. u. a. 1998, S. 89.  



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einer Auffassung von Geschichte, die den Anfang statt den Endpunkt privilegierte.185 Auf der politischen Ebene ging das mit einer ebenso signifikanten Akzentverschiebung einher. Die Klimax der römischen Geschichte lag nun nicht mehr in der Zeit des Augustus, die sich mit der Monarchie parallelisieren ließ, sondern in der Republik. Damit entzog Montesquieu dem antiken Vorbild des französischen Absolutismus, der römischen Kaiserzeit, ihren angestammten Rang. In den Considérations wurden die Spiegelungen zwischen Frankreich und Roms aurea aetas demzufolge von ihren geschichtsphilosophischen Voraussetzungen her infrage gestellt. In dem alternativen Rom-Modell, das den absolutistischen Spiegelungen in der Kaiserzeit entgegengehalten wurde, legte Montesquieu seinerseits neue Modelle für die Genese, die Funktionen und die Entwicklung von politischer Gemeinschaft vor, die in einer eingehenderen Analyse zu konturieren sein werden: Sie sind zentral für das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit, da sich in Montesquieus Gegenentwurf eine enge Assoziation von Aufstieg, Republik und Krieg ergab. Angesichts der Vielzahl konzeptioneller Voraussetzungen, auf denen dieses ‚andere‘ Rom der Considérations beruhte, hat die Forschung die Frage nach möglichen Anregungen für Montesquieus Schrift aufgeworfen. Unlängst hat Ursula Haskins Gonthier eine überzeugende These formuliert, die zugleich einen entscheidenden literatur- und diskursgeschichtlichen Impuls für die Pluralisierung der Antikendiskurse um 1750 erschließt. Montesquieu, so die Romanistin, habe das französische Rom-Paradigma nur darum einer so fundamentalen Umwertung unterziehen können, weil er auf der Basis eines anderen, ebenso ausdifferenzierten Bezugssystems argumentiert habe. In den Fokus rückt bei ihr der politische Diskurs aus England. Auch in der englischen Literatur nämlich habe sich seit der Stärkung des Parlaments durch die Bill of Rights (1689) eine elaborierte Rom-Referenz herausgebildet, die das Augenmerk jedoch – dem eigenen politischen System entsprechend – auf die Republik gerichtet habe. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts sei die römische Historie mithin zu einer Hälfte im französischen, zur anderen im englischen Gebrauch gewesen: At this time both the French and the English sought to reinforce their claim to cultural supremacy among the European nations by declaring themselves to the heirs of Rome. Following the example set by Louis XIV, a self-styled Augustus, the French monarchy had developed absolutist tendencies along the line of the Caesars. In England, those who sought

185 Zu diesem Zusammenhang vgl., hier mit Blick auf Gianbattista Vicos Mythenkritik, Hans Robert Jauß, Mythen des Anfangs: Eine geheime Sehnsucht der Aufklärung. In: Ders., Studien zum Epochenwandel der ästhetischen Moderne, Frankfurt a. M. 1989, S. 24–66, hier: S. 27.  

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to legitimize the political regime established by the Glorious Revolution of 1688 appropriated a different period of Roman history and likened their new constitution to that of the Roman republic.186

Der Umbau der römischen Geschichte, den Montesquieu vornahm, beruhte laut dieser Rekonstruktion auf der Integration eines zweiten Antikendiskurses, der neue staats- und gesellschaftstheoretische Perspektiven eröffnete: Vom englischen Rom-Diskurs aus blicke der französische Philosoph auf die antiken Herrschaftslegitimationen im eigenen Land, um die absolutistische Monarchie auf diesem Weg in einen Wettkampf mit der Republik zu schicken. „Throughout the Considérations“, so Gonthier, „descriptions of Roman history and culture strengthen the impression that England resembles ancient Rome in its days of grandeur while descriptions of imperial décadence recall events in France.“187 Dabei sei der republikanische Rom-Diskurs für den adeligen Montesquieu besonders attraktiv gewesen, weil er nicht nur dem König, sondern auch den angestammten Eliten einen Platz in der Regierung angeboten habe.188 Im Lichte von aktuellen Debatten über Herrschaft und Gemeinschaft in Frankreich traten so innerhalb eines einzigen Textes zwei Gebrauchsgeschichten der römischen Antike miteinander in Konkurrenz, die sich bislang separat ausdifferenziert hatten. Die Verschiebung in der Ordnung der Antiken, so ließe sich auf einer allgemeineren Ebene formulieren, fiel somit nicht zufällig in die Mitte des 18. Jahrhunderts. Die einsetzende Beweglichkeit der kulturellen und gesellschaftlichen Konzepte, die über die Autorität Rom adressiert werden konnten, ergab sich aus einem zunehmenden gelehrten Austausch im westlichen Europa, und sie setzte parallel zu einer wichtigen literaturgeschichtlichen Umstellung in dieser Zeit ein. Genauer gesagt, ist Roms konzeptuelle Pluralisierung vor diesem Hintergrund als Begleiterscheinung eines neuen Interesses für die englische Kultur zu

186 Gonthier, Montesquieu and England, S. 76. Gonthier kann sich auf eine Reihe von positivistischen Studien zu den englisch-französischen Beziehungen stützen, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstanden sind. Zu nennen sind darunter vor allem Joseph Dedieu, Montesquieu et la tradition politique anglaise en France. Les sources anglaises de l’“Esprit des lois“, Paris 1909; Georges Ascoli, La Grande-Bretagne devant l’opinion française au XVIIe siècle, 2 Bde., Paris 1930 sowie Gabriel Bonno, La Culture et la Civilisation Britanniques devant l’Opinion Française de la Paix d’Utrecht aux Lettres Philosophiques. In: Transactions of the American Philosophical Society. New Series 38:1 (1948), S. 1–184. 187 Gonthier, Montesquieu and England, S. 81. 188 Zur englisch vermittelten Kritik an der französischen „Despotie“ vgl. ebenfalls Gonthier, Montesquieu and England, S. 81.

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deuten, das sich seit dem Beginn der 1730er Jahre unter den Franzosen herauszubilden begann.189 Bis dato waren englische Schriften kaum in die Wahrnehmung der französischen Aufklärung gerückt, schien die Insel doch auf ganzer Linie unattraktiv. Außenpolitisch hatten Frankreich und England einander bis 1714 im Spanischen Erbfolgekrieg verfeindet gegenübergestanden;190 innenpolitisch schienen die Engländer in den Augen der Franzosen mit der Enthauptung des Stuart-Königs Karls I. (1649) den Beweis erbracht zu haben, dass der Grad der Zivilisierung zur europäischen Peripherie hin abnehme.191 In der Literatur und Philosophie bedienten sie sich zudem einer unzugänglichen Sprache,192 denn seit der Wende zum 18. Jahrhundert schrieb man selbstbewusst in der Volkssprache, die auf dem Kontinent nicht ins übliche Curriculum der Gelehrten fiel. Zu den Autoren, die diese Beziehung von Grund auf neu justierten, zählte Montesquieu mit den Considérations; der zweite Schlüsseltext für die Anglophilie, Voltaires Lettres philosophiques (1734),193 erschien in Frankreich im selben Jahr, während er in englischer Sprache seit dem Vorjahr unter dem Titel Letters Concerning the English Nation (1733) zirkuliert war.194 Bei beiden Philosophen tritt markant hervor, dass sich das neue Interesse am Englischen mit einer skeptischen

189 Zur diskursiven Reichweite dieser französischen Anglophilie vgl. überblickshaft Josephine Grieder, Anglomania in France. 1740–1789. Fact, fiction, and political discourse, Genf 1985. 190 Bonno, La Culture et la Civilisation Britanniques devant l’Opinion Française, S. 1 f. 191 Wenn etwa Claude Jordan de Colombier die englische Disposition zu politischen Aufständen 1692 in seiner Schrift Voyages historiques de l’Europe daraus erklärte, dass sich dieses Volk von den kriegerischen und freiheitsliebenden Angelsachsen herleite, klang darin deutlich die Zuordnung von barbarischen Sitten zur Peripherie an. Vgl. Gonthier, Montesquieu and England, S. 15 f. 192 Bonno, La Culture et la Civilisation Britanniques devant l’Opinion Française, S. 19. Nachdem John Locke vor der Jahrhundertwende dem Lateinischen abgeschworen hatte, waren etwa die Texte von Berkeley, Shaftesbury und Hutcheson allein in der englischen Sprache zugänglich, die vorerst geringe Reputation besaß. Es war also nicht nur ein Bescheidenheitstopos, wenn Alexander Pope in der Vorrede zum ersten Band seiner Works (1717) die Sprache als Grund dafür anführte, dass er für eine weitaus kleinere Leserschaft schreibe als Dichter der Antike: „[T]hey writ in languages that became universal and everlasting, while ours are extremely limited both in extent, and in duration. A mighty foundation for our pride! when the utmost we can hope, is to be read in one Island, and to be thrown aside at the end of one Age.“ (Alexander Pope, Preface. In: Ders., The Works of Mr. Alexander Pope, London 1717, unpag.). 193 Bonno, La Culture et la Civilisation Britanniques devant l’Opinion Française, S. 1. 194 Voltaire, Letters concerning the English Nation, London 1733; Voltaire, Lettres philosophiques sur les Anglais, Rouen 1734. Aktuell liegt noch keine der beiden Versionen in der kritischen Voltaire-Ausgabe vor. Stattdessen existieren kommentierte Einzelausgaben (Voltaire, Letters concerning the English nation, ed. with an introduction and notes by Nicholas Cronk, Oxford 2009; Voltaire: Lettres philosophiques, édition présentée, établiée et annotée par Frédéric Deloffre, Paris 1988).  



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Haltung gegenüber der absolutistischen Regierung verband.195 Indem Montesquieu diese Konstellation auf die Ordnung der Antiken projizierte, ergaben sich daraus Konsequenzen für das gewohnte Referenzsystem, die über das Projekt der Considérations hinausgingen. Nicht nur ordnete er den Rom-Diskurs des kulturellen Zentrums einem Pendant unter, das sich an entscheidenden Stellen mit dem antiromanischen Diskurs der Peripherie verband, wie nachzuzeichnen sein wird (Kap. I.2.3). Gleichzeitig wandte er sich auf diesem Weg einer anderen Tradition zu, politische Gemeinschaft zu denken, durch die zum einen die Institutionen, zum anderen Ideen von Kollektivität in sein Blickfeld rückten. Beide Elemente wurden zu entscheidenden Bausteinen für ein Modell der antiken Republik, das bei Montesquieu das traditionelle Leitbild der augusteischen Monarchie verdrängte und das zur Basis von neuen, eminent kriegerischen Konzepten der sozialen Kohäsion wurde. Die Operationen dieses Traditionsverhaltens, das auf eine intrikate Weise zwischen dem französischen und dem englischen Diskurs eingespannt war, lassen sich nur mit einer grundlegenden Kenntnis von beiden Referenzsystemen profilieren. Aus diesem Grund soll nun ein Zwischenschritt eingeschaltet werden, in dem sich die Analyse sowohl den allgemeinen Orientierungen des englischen Antikendiskurses als auch den konkreten Vorbildern zuwendet, die dabei für Montesquieu eine Rolle spielten. Auf dieser Basis kann danach umso präziser nachvollzogen werden, wie Montesquieu das ‚andere‘ Rom der Republik in seinen Considérations konzeptionell ausrichtete, um auf dieser Grundlage eine zentrale Dichotomie der traditionellen Antikenordnung attackieren zu können: die von Kunst und Krieg.

195 Diese Konnotation lässt sich aus den Medien herleiten, die seit dem Frieden von Utrecht und dem Tod Ludwigs XIV. zum ersten Mal Englisches nach Frankreich vermittelt hatten. So waren es die vertriebenen Hugenotten gewesen, die seit einigen Jahren in eigenen Journalen ein positives England-Bild lanciert hatten: Aus ihrem englischen Exil heraus hatten sie gegen die Aufhebung des Edikts von Nantes protestiert und ihren französischen Landsleuten zu diesem Zweck die politische, religiöse und literarische Freiheit in England als Gegenentwurf zum Absolutismus präsentiert, der in ihrer Zeichnung despotische Züge erhielt. Vgl. zu diesem Zusammenhang Dedieu, Montesquieu et la tradition politique anglaise en France, S. 35–69 sowie auf dieser Grundlage Gonthier, Montesquieu and England, S. 17 f.  

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2.2 Ein Seitenblick: Das englische Rom (Polybios, Machiavelli, Bolingbroke) Der Name ‚Rom‘ hatte im England des 18. Jahrhunderts mehr als nur einen Klang.196 An der Vorbildhaftigkeit der römischen „world in its prime“197 führte auch auf der britischen Insel bis in die 1740er Jahre kein Weg vorbei, und so knüpften sich zahlreiche Programme und Projekte an die Ewige Stadt. Während sich klassizistische Dichter um Alexander Pope an den formalen und stilistischen Mustern von Horaz, Vergil und Ovid ihr eigenes Augustan Age entwarfen,198 träumten sie mit Blick auf den gesellschaftlichen Stellenwert der Literatur von einer Nähe der Dichter zum Thron, wie die Protegés des Augustus sie genossen hatten.199 Dagegen war die politische Selbsterzählung, die in den Gedichten und Wochenschriften dieser Epoche zelebriert wurde, durch und durch von einer Analogie zur römischen Republik geprägt. In diesem Diskurs konzentrierten sich staats- und gesellschaftstheoretische Perspektiven, die gegen 1750 in französischer Transformation auf den Kontinent hinüberwanderten und die deshalb an dieser Stelle näher zu charakterisieren sein werden. Anders als Frankreichs Anspruch auf das römische Erbe, der sich immer (auch) nach außen richtete, um die Hierarchie in der res publica litteraria zu definieren, formierte sich der politische Rom-Diskurs in England um die Mitte des 18. Jahrhunderts primär an der Leitlinie von inneren Konflikten. Wie Philip Ayres in seiner materialreichen Studie zu Classical Culture and the Idea of Rome in Eighteenth-Century England gezeigt hat, war es die sogenannte Glorious Revolution von 1688, die als das „key stimulant to the use of Roman analogies“200 fungierte: die am Ende von langen, aufreibenden Bürgerkriegen geglückte Durchsetzung

196 Einen hilfreichen Pfad durch die verschlungenen Wege der englischen Antikenrezeption in dieser Zeit bahnt die Einleitung zum kürzlich erschienenen dritten Band der Oxford History of Classical Reception in English Literature, der sich einem langen 18. Jahrhundert widmet (David Hopkins, Charles Martindale, Introduction. In: The Oxford History of Classical Reception in English Literature. Vol. 3 (1660–1790), hg. von dens., Oxford 2012, S. 1–28). 197 Howard D. Weinbrot, Britannia’s Issue. The Rise of British Literature from Dryden to Ossian, Cambridge 1993, S. 26. 198 Dieser Begriff, der lange als Epochenbezeichnung gängig gewesen ist, wird in den vergangenen Jahrzehnten nur noch im engeren Sinne für die Klassizisten verwendet. Neben dem „Augustanism“ habe es zahlreiche weitere Strömungen im Umgang mit der Antike gegeben (Hopkins, Martindale, Introduction, v. a. S. 12–19). Einige davon werden im Folgenden auch in dieser Arbeit angerissen. 199 Vgl. Weinbrot, Britannia’s Issue, S. 39–47. 200 Philip Ayres, Classical Culture and the Idea of Rome in Eighteenth-Century England, Cambridge 1997, S. 5.  

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einer Regierungsform also, bei der das Parlament kontrollierend neben den König getreten war. Von diesem Ereignis her erklärt sich, warum die spezifische Analogie zwischen England und Rom ursprünglich in den Kreisen der parlamentarischen Aristokratie florierte.201 Unabhängig davon, welcher Partei oder Gruppierung die Abgeordneten im Einzelnen verpflichtet waren, verteidigten sie ihre gegen das Haus Stuart erstrittenen Rechte, indem sie sich in die Nachfolge der römischen Senatorenschaft stellten. Zugespitzt formuliert Ayres: The dominant political discourse of the beneficiaries of the Glorious Revolution was appropriate to an oligarchy intent on maintaining power and privileges won at the expense of the crown and the Stuart cause. This discourse, whose key terms were ‚liberty‘ and ‚virtue‘ […] was current within most of the political tendencies of the first half of the eighteenth century, including Court Whig, dissident Whig (or ‚Patriot‘) Opposition, Tory and even to an extent Jacobite. Because the discourse was so avowedly moral and civic-minded it seemed ipso facto self-legitimising; and of course its terms were rich in classical overtones, lending it authority.202

Diese Vorgeschichte motiviert zugleich den historischen Fokus, der in der englischen Perspektive auf Rom dominierte. Weil es darum ging, die Konfrontation zwischen den parlamentarischen und den monarchischen Kräften im Land zu reflektieren, richtete sich die Aufmerksamkeit auf den Umschlagpunkt zwischen Republik und Prinzipat. Im „struggle of the late-republican Romain senatorial oligarchy“, die versucht hatte, das römische System vor dem Übergang in die Alleinherrschaft der Kaiser zu bewahren, spiegelte sich die „English oligarchy […] as the classically spirited guarantor of the liberties it had won for all its fights against the Stuart absolutism“203. Die Verteidigung des eigenen Status war für die Parlamentarier mithin eng mit einem Niedergangsdiskurs verknüpft, der auf der folgenden Argumentation basierte: Falls England in Zukunft einen Verfallsprozess vermeiden wolle, wie Rom ihn seit dem Ende der Republik erlebt habe, dann

201 Diese Bindung an das Parlament war spezifisch für den Rom-Diskurs und unterschied ihn von den Referenzen auf andere Altertümer, etwa die Hebräer, die Kelten oder die Griechen, die ebenfalls früh in England zirkulierten. Ein exzellentes Panorama davon entwirft Weinbrot, Britannia’s Issue. 202 Ayres, Classical Culture and the Idea of Rome in Eighteenth-Century England, S. 1. Indem Ayres die Ubiquität des Republik- Diskurses an den Anfang seiner Studie zur Rom-Analogie in der englischen Literatur, Kunst und Architektur des 18. Jahrhunderts stellt, wendet er sich gegen „the old Whig and Marxist teleologies of British history“ (Ayres, Classical Culture and the Idea of Rome in Eighteenth-Century England, S. 1), welche die Revolution als Kampf zwischen Adel und Bürgern darstellen und das Freiheitsprogramm für letztere reservieren. Vgl. zuvor bereits Addison Ward, The Tory View of Roman History. In: Studies in English Literature 1500–1900 4:3 (1964), S. 413–456. 203 Ayres, Classical Culture and the Idea of Rome in Eighteenth-Century England, S. 3.

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müssten die 1688 festgeschriebenen Rechte des Ober- und des Unterhauses stets ihre politische Priorität behalten. Besondere Dringlichkeit erhielt diese Denkfigur, als die Machtfülle des ersten Premierministers Robert Walpole zwischen 1721 und 1742 das Gewicht gefährlich zugunsten des Monarchen zu verschieben schien.204 In nuce lässt sich die Warnung, die seine Gegner in dieser Situation aus dem Beispiel Roms ableiteten, am Titel eines anonym erschienenen Anti-WalpoleGedichts von 1729 ablesen. So trägt der kleine Text die Überschrift The Loss of Liberty: or Fall of Rome; und sein Untertitel markiert die aktuelle Dimension dieses Sujets. Er lautet schlicht: A Memento to Great Britain.205 Wenn die englischen Autoren des 18. Jahrhunderts sich politisch auf Rom bezogen, dann referierten sie also auf ganz andere Konzepte als ihre Zeitgenossen auf dem Kontinent. Im Zentrum stand hier nicht die kulturelle Geltung im Wettstreit der Nationen, die sich aus dem Vorbild des imperialen Roms ableitete. Stattdessen wurde geradezu obsessiv der Fall der Republik durchgearbeitet, um den Zusammenhang zwischen der politischen Organisation eines Staats und seiner historischen Entwicklung zu verstehen – und um daraus faktisch immer wieder die Unantastbarkeit der eigenen Ordnung abzuleiten. Über Rom nachdenken, hieß hier im Kern: über die Verfassung von 1688 nachdenken. Dieser englische Konstitutionalismus leitete sich aus einer Tradition der Republiktheorie ab, die ihre Anfänge in der römischen Antike selbst hatte. Sein Kanon und seine wesentlichen Gedankenfiguren sollen nun in aller Kürze skizziert werden, bevor dann die Diskursvariante näher in den Blick genommen werden kann, die Montesquieu zu den Considérations inspirierte.

2.2.1 Republik und Verfassung Bei den englischen Autoren des 18. Jahrhundert stößt man nicht selten auf die Überzeugung, dass das eigene System von König, Lords und Commons schon in der antiken Literatur aufs Genaueste beschrieben worden sei. „I could never read a Passage in Polybius“, schrieb Joseph Addison 1712 in seiner vielgelesenen Wochenschrift The Spectator, „without a secret Pleasure in applying it to the English Constitution, which it suits much better than the Roman“206. Und noch als Thomas Blackwell fast vierzig Jahre später im ersten Band seiner Memoirs of the

204 Vgl. Weinbrot, Britannia’s Issue, S. 35 f. 205 [James Ralph,] The Loss of Liberty: or, Fall of Rome. A Memento to Great Britain. Inscribed to that Illustrious Statesman, Soldier, and Patriot, the Duke of Argyle, London 1729. 206 The Spectator No. 287, 29. Januar 1712, S. [573], Sp. 1. Auch angeführt bei Ayres, Classical Culture and the Idea of Rome in Eighteenth-Century England, S. 10.  

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Court of Augustus (3 Bde., 1753–1755) den Aufstieg und Niedergang der Römer nachzeichnete, erhellte die komplexe Ordnung der antiken Republik sich ihm durch dieselben zwei Größen: Auf der einen Seite orientiere er sich an „the admirable P OLYBIUS “, auf der anderen Seite an der eigenen politischen Gegenwart, an der „British Constitution“207. Der Brückenschlag zwischen dem modernen England und dem antiken Rom, wo der ursprünglich griechische Geschichtsschreiber Polybios gelebt und seine Historien (2. Jh. v. Chr.) verfasst hatte, stellt freilich eine veritable Verkürzung dar. Die Autoren nannten nur noch den Anfangs- und Endpunkt einer selbstverständlich gewordenen Transformationskette, aus der die geläufige Deutung der englischen Verfassung als bessere Neuauflage der republikanischen Ordnung von Rom hervorgegangen war. Was Addison, Blackwell und andere genau „through spectacles ground from Mediterranean glass“208 sahen, entschieden dabei gerade die theoretischen Zwischenglieder. Den dreistelligen Kanon, der diese Perspektive prägte, hat John G. A. Pocock in seiner kanonischen Studie The Machiavellian Moment herausgearbeitet.209 Wie der Titel vorwegnimmt, setzte der englische Republikanismus demnach mit einer folgenreichen Machiavelli-Lektüre im 17. Jahrhundert ein. Dabei verankerte James Harrington die Überlegungen des florentinischen Staatsphilosophen in seinem heimischen Diskurs und verbreitete damit zugleich eine spezifisch machiavellistische Lesart von Polybios’ Lehre der römischen Regierungsform. Das Scharnier, das zwischen der römischen Antike und dem frühneuzeitlichen England vermittelte, war insofern das Werk von Niccolò Machiavelli – eines anderen Machiavelli jedoch, als man ihn auf dem europäischen Kontinent kannte und fürchtete.210 So vollzog sich der englische Machiavellian Moment nicht unter den Vorzeichen der absolutistischen Kultur, die sich mit aller Kraft von der radikalen Staatsraison des Principe (1513) abzugrenzen versuchte. Ausschlaggebend für die englische Rezeption war vielmehr die politische Agenda der  

207 Thomas Blackwell, Memoirs of the Court of Augustus, 3 Bde., Bd. 1, Edinburgh 1753, S. 7–9. 208 Weinbrot, Britannia’s Issue, S. 27. 209 Vgl. John G. A. Pocock, The Machiavellian Moment. Florentine Political Thought and the Atlantic Republican Tradition. Princeton 1975. Die Monographie gliedert sich in drei Teile, deren dritter sich der angelsächsischen Ausprägung des Republikanimus widmet: zuerst im englischen Bürgerkrieg, dann im Bestreben nach Unabhängigkeit für die amerikanischen Kolonien (S. 331– 552). 210 Exemplarisch lassen sich beiden Stränge der Machiavelli-Rezeption am gewandelten Urteil verdeutlichen, das Montesquieu vor und nach seiner England-Reise in den 1730er Jahren über den italienischen Staatsphilosophen vertrat. Vgl. Robert Shackleton, Montesquieu and Machiavelli: a reappraisal. In: Ders., Essays on Montesquieu and the Enlightenment, hg. von David Gilson und Martin Smith, Oxford 1988, S. 117–131, hier: S. 122 f.  

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Parlamentselite, die sich seit der Bürgerkriegszeit im 17. Jahrhundert auf das eigentliche Hauptwerk des Renaissance-Autors stützte: auf die Discorsi sopra la prima deca di Tito Livio (1513–1522). In der ungleich umfangreicheren Schrift hatte Machiavelli seine „Analyse der Technizität politischen Handelns, das anhand seiner operativen Ergebnisse beurteilt wird“,211 auf die Staatsform der Republik angewandt und dabei die römische Antike auf eine Weise ins Spiel gebracht, die auch für England maßgeblich wurde. Auf der Suche nach Mitteln, um die Krise der Florentiner Republik einzudämmen,212 war er von der Verfassungslehre des Polybios ausgegangen und hatte seine Folgerungen daraus an Roms Anfängen dargelegt, wie sie in den ersten zehn Büchern von Livius’ Geschichtswerk Ab urbe condita (1. Jh. n. Chr.) geschildert waren. Dieses doppelt vermittelte Vorbild der antiken Republik war es, das seit dem 17. Jahrhundert auch in England als Königsweg lanciert wurde, um die hartnäckigen politischen Konflikte im eigenen Land ein für alle Mal durch eine sogenannte ‚constitution‘ zu überwinden – ein neuartiges Dokument zur „Konstituierung des Staates“,213 das Institutionen zur Kontrolle der Regierung ermächtigen und festschreiben sollte.214 So entwarf James Harrington 1656 in einer Utopie namens The Commonwealth of Oceana die Organisation für einen vollkommenen Staat im Meer,215 der sich unschwer als Chiffre für die britische Insel entschlüsseln ließ und der sich aufs Engste an der römischen Republik der Discorsi orientierte. Zunächst muss man sich freilich die schlichte Frage stellen, was in der Frühen Neuzeit überhaupt unter dem Begriff ‚Republik‘ verstanden wurde. Über die verschiedenen Stationen der politischen Gebrauchsgeschichte, den das Wort seit dem  

211 Herfried Münkler, Geleitwort. In: Niccolò Machiavelli, Discorsi. Gedanken über Politik und Staatsführung. Deutsche Gesamtausgabe übersetzt, eingeleitet und erläutert von Rudolf Zorn. 3., verbesserte Aufl. mit einem Geleitwort von Herfried Münkler, Stuttgart 2007, S. XVII–XXX., hier: S. XX. 212 Diese Krise hat Herfried Münkler – im Einklang mit Pocock – als den entscheidenden Hintergrund profiliert, vor dem Machiavellis Werk verstanden werden müsse (Herfried Münkler, Machiavelli. Die Begründung des politischen Denkens der Neuzeit aus der Krise der Republik Florenz, Frankfurt a. M. 1984; darin zu den spezifischen politischen und ökonomischen Herausforderungen: S. 129–240). 213 Wolfgang Mager, Republik. In: GG, Bd. 5, 1984, S. 549–651, hier: S. 589. 214 Das Bestreben nach einem „arrangement providing for limited government“ lehnte sich an den Begriff der ‚constitutio‘ an, mit dem Cicero den griechischen Terminus ‚politeia‘ übersetzt hatte (Graham Maddox, Constitution. In: Political Innovation and Conceptual Change, hg. von Terence Ball, James Farr und Russell L. Hanson, Cambridge 1989, S. 50–67, hier: S. 59). 215 Zur Oceana im politischen Kontext vgl. Colin Kidd, British Identities before Nationalism. Ethnicity and Nationhood in the Atlantic World, 1600–1800. Cambridge 1999, S. 223–226. Die Rezeptionslinien, die speziell von diesem Text ausgingen, verfolgt Eric Nelson, The Greek Tradition in Republican Thought, Cambridge 2004.  

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18. Jahrhundert durchlaufen hat, ist es semantisch mit der Zeit immer dichter an die Demokratie herangerückt. Meilensteine für diesen Prozess sind die amerikanische Unabhängigkeit (1776) und die Französische Revolution (1789). Im Deutschen spricht man schließlich seit dem Vormärz nur noch dann von einer res publica, wenn ein Staat im Hinblick auf den Sitz der Gewalt eine res populi, eine Sache des Volkes ist.216 Diese Etymologie von populus, dem lateinischen Wort für ‚Volk‘, hatte schon Cicero in seiner Definition der Republik ins Spiel gebracht („est igitur […] res publica res populi“); in der Frühen Neuzeit lag das Augenmerk jedoch auf einem anderen Aspekt seiner Bestimmung, in dem das Volk als „coetus […] utilitatis communione sociatus“ gefasst wurde.217 Eine Republik sei demzufolge ein Staat, in dem das Gemeinwohl an erster Stelle stehe.218 Eine gewisse Kontinuität zu späteren Verwendungen bestand dabei insofern, als es schon Machiavelli in den Discorsi um eine Alternative zur Monarchie ging.219 Dahinter steckte für den Florentiner allerdings weniger die Frage nach einer richtigen und gerechten Verteilung von Macht als vielmehr die Suche nach einer Staatsform, die der menschlichen Neigung zur moralischen Korruption entgegenwirken könne, die er axiomatisch voraussetzte. Vom 16. bis zum frühen 18. Jahrhundert wurde die Republik mithin vor allem als eine Art Bollwerk gegen den politischen Niedergang gedacht. Eingangs seiner Discorsi begründete Machiavelli die Einschätzung, dass die Römer in der republikanischen Anfangszeit in einem „vollkommenen Staatswesen“220 gelebt hätten, insofern wie folgt: Die „Uneinigkeit zwischen Volk und Senat“, die sich durch Roms Frühzeit gezogen habe, habe hier sukzessive eine Regierungsform heranreifen lassen, die ansonsten nur weise Gesetzgeber ausgearbeitet hätten wie der spartanische Gründungsvater Lykurg, dessen Verfassung neben der römischen „das meiste Lob“ verdiene. Die beiden Modellrepubliken Rom und Sparta hätten sich dabei durch eine Ordnung ausgezeichnet, die aus den „drei guten Regierungsformen“ zusammengesetzt gewesen sei. Seien Monarchie, Aristo-

216 Mager, Republik. In: GG, Bd. 5, 1984, S. 619. 217 Vollständig lautet die Definition: „Est igitur […] res publica res populi, populus autem non omnis hominum coetus quoquo modo congregatus, sed coetus multitudinis iuris consensu et utilitatis communione sociatus.“ (Cic. rep. I, 39). 218 Mager, Republik. In: GG, Bd. 5, 1984, S. 552 f. Zu diesem Fokus vgl. auch Quentin Skinner, Machiavelli’s Discorsi and the pre-humanist origins of republican ideas. In: Machiavelli and Republicanism, hg. von Gisela Bock, dems. und Maurizio Viroli, Cambridge 1990, S. 121–141, v. a. S. 138–141. 219 Mager, Republik. In: GG, Bd. 5, 1984, S. 586–589. 220 Niccolò Machiavelli, Discorsi. Gedanken über Politik und Staatsführung. Deutsche Gesamtausgabe übersetzt, eingeleitet und erläutert von Rudolf Zorn, 3., verbesserte Aufl. mit einem Geleitwort von Herfried Münkler, Stuttgart 2007, Buch 1, Kapitel 2, S. 16. Fortan wird mit Angabe von Buch-, Kapitel- und Seitenangaben nach dieser Ausgabe zitiert.  



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kratie und Demokratie für sich genommen zu instabil und „wegen ihrer Kurzlebigkeit [verderblich]“, löse die „Mischung der Regierungsformen“ das Problem. Eine Mischverfassung, so Machiavelli, erweise sich als „fester und dauerhafter, da sich Fürst, Adel und Volk, in ein- und demselben Staat zur Regierung vereinigt, gegenseitig überwachen“221. Während reine Monarchien, Aristokratien und Demokratien von vornherein mit einem Verfallsdatum versehen wurden, sei die gemischte Republik der Antike also ein Staat der Balance gewesen: Mit dieser These knüpfte Machiavelli an den griechisch-römischen Historiker Polybios an, der den Engländern später als erster Theoretiker des eigenen Commonwealth erscheinen würde. Eigentlich widmet sich der berühmte Verfassungsexkurs, der sich im 6. Buch von Polybios’ Historien findet,222 jedoch einer der ungewöhnlichsten Staatsformen der Antike, nämlich der politischen Ordnung im Rom des zweiten vorchristlichen Jahrhunderts. In diesem Exkurs entwickelte Polybios geschichtstheoretische Überlegungen, mit denen er den außergewöhnlichen Aufstieg der Römer zugleich begründete und prognostisch begrenzte. Darin stellte er zum ersten Mal die Theorie auf, dass der römische Staat bis in die Gegenwart „aufgrund seiner eigentümlichen Struktur unüberwindlich“223 gewesen sei. Die monarchische Macht der Konsuln, der aristokratische Senat und die demokratische Institution der Volksversammlung seien so eng verschränkt, dass jeder Teil die „Macht hat, einander zu schaden und auch zu helfen“224. Dadurch entstehe ein Gefüge gegenseitiger „Furcht“225 und Kontrolle, das bislang unterbunden habe, dass das Gemeinwesen eine Entwicklung zum Schlechteren nehme.226 In der bekannten Geschichte vor Rom habe es eine solche gemischte Regierung vorher nur ein einziges Mal in vollendeter Form gegeben. In dieser Hinsicht entwarf Polybios eine funktionale Parallele zwischen Rom und Sparta, die in Machiavellis Discorsi wiederkehrte und darüber einen festen Platz im politischen Diskurs der Frühen Neuzeit erhielt. Die Römer, schwärmte der antike Historiker, hätten „nicht aufgrund theoretischer Reflexion, sondern durch

221 Machiavelli, Discorsi. Gedanken über Politik und Staatsführung, S. 14–16. 222 Zur staatstheoretischen Bedeutung dieses Exkurses vgl. Wilfried Nippel, Mischverfassungstheorie und Verfassungsrealität in Antike und früher Neuzeit, Stuttgart 1980, S. 142–156. 223 Pol. VI, 18, 4. Zitiert wird die Übersetzung von Karl Friedrich Eisen, die zwar nur ausgewählte Auszüge aus den Historien liefert, dafür aber die aktuellste Übertragung des einflussreichen 6. Buches enthält (Polybios, Historien. Auswahl. Übersetzung, Anmerkungen und Nachwort von Karl Friedrich Eisen, Stuttgart 2006, S. 29). 224 Pol. VI, 18, 1; Polybios, Historien, S. 29. 225 Pol. VI, 10, 8 f.; Polybios, Historien, S. 18. Münkler bezeichnet die Furcht in seiner PolybiosAnalyse als das „Herzstück seiner Gleichgewichtskonzeption“ (Münkler, Machiavelli, S. 125). 226 Vgl. José Miguel Alonso-Núñez, The Mixed Constiution in Polybius. In: Eranus 97 (1999), S. 11–19.  

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viele Kämpfe und Anstrengungen“ zu einer ebenso idealen Staatsordnung gefunden wie die Lakedämonier. Sie seien von allein „zum selben Ziel wie Lykurg“ gelangt und hätten „das schönste Staatsgebilde unserer Zeit“227 geschaffen. Die Attraktivität dieses Systems erschließt sich vor dem Hintergrund einer pessimistischen Geschichtsphilosophie, die Polybios im weiteren Verlauf des Exkurses entwickelte. So sprach er der römischen Ordnung das Potential zu, für eine gewisse Frist den „Kreislauf der Verfassungen“228 auszusetzen, der sich gewöhnlich – so seine Annahme – durch einen Umschlag der einzelnen Regierungsformen in das „von der Natur mit ihnen angelegte Übel“229 vollziehe. Mit dieser Vorstellung eines regelhaften Kreislaufs (anakyklosis) verlieh Polybios der antiken Staatenlehre eine dynamische Wendung. Wie schon Aristoteles in der Nikomachischen Ethik, unterschied er zwischen den drei guten Staatsformen Monarchie, Aristokratie und Demokratie, „bei denen das Gesamtwohl der Bürger Regierungszweck ist“, und den drei schlechten Tyrannei, Oligarchie und Ochlokratie, in denen bei gleicher Machtverteilung „die Interessen eines einzelnen oder die einer Gruppe für die politischen Ziele ausschlaggebend“230 seien. Anders als zuvor, ging die je schlechtere Form bei Polybios jedoch durch moralische Korruption der Regierenden, mit der nach einer gewissen Frist mit Bestimmtheit zu rechnen sei, unvermeidlich aus der besseren hervor.231 Der vorgezeichnete Weg eines Staats bestand für Polybius damit in einer unablässigen Folge von Verfall und Umsturz: Sobald das Königtum, das als erste Staatsform angesetzt wurde, nicht mehr auf Wahlen basiere, sondern in die Hände einer Dynastie gerate, lasse es sich von Egoismus leiten. So komme es zu einer Tyrannei, die bald von den besten und tugendhaftesten Bürgern gestürzt werde. Nach der gleichen Logik depraviere zunächst die gute Aristokratie in die schlechte Oligarchie, dann die Demokratie ins „Faustrecht“232 der Ochlokratie, der Herrschaft des Pöbels. Auf dem Boden dieser anarchischen Zustände beginne der Zyklus schließlich von Neuem.233 Was auf der Makroebene also eine Ordnung in der Unordnung konstituierte, sagte auf der Mikroebene jedem einzelnen Staat den Untergang voraus. Wie alles,

227 Pol. VI, 10, 12; Polybios, Historien, S. 19. 228 Stephan Podes, Polybios’ Anakyklosis-Lehre, diskrete Zustandssysteme und das Problem der Mischverfassung. In: Klio 73:2 (1991), S. 382–390, hier: S. 382. 229 Pol. VI, 10, 3; Polybios, Historien, S. 18. 230 Münkler, Machiavelli, S. 118. Vgl. Arist. eth. Nic. VIII, 12, 1150b 2–11160a, 32. 231 Vgl. Münkler, Machiavelli, S. 121. 232 Pol. VI, 9, 7; Polybios, Historien, S. 17. 233 Dieser Prozess wird ausführlich entfaltet in Pol. VI, 5–9; vgl. auch Walbank, The Idea of Decline in Polybius, S. 48 f.  

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was aus der Natur hervorgehe, durchliefen die Verfassungen bei Polybius einen organischen Prozess von „Wachstum“, „Blüte“, und „Wende“234. Zwar befand sich der römische Staat seiner Auffassung nach vorerst vergleichsweise stabil an der klimaktischen Position, weil die Mischverfassung den Fortlauf des Zyklus aufschiebe.235 Dass der Niedergang aber auch für die Römer kommen würde, war für Polybios gesetzt.236 Auch wenn die Spartaner „am längsten von allen Völkern, die wir kennen“, ihre „Freiheit“237 bewahrt hätten, seien sie letztlich doch zu Fall gekommen. Und genau dasselbe stehe Rom bevor. Konkret sah der Grieche im übersteigerten „Ehrgeiz“ um politische Ämter und im „Prunk“,238 der seit dem Sieg über Karthago in der Stadt Einzug gehalten habe, unzweifelhafte Anzeichen dafür, dass sich die aktuellen Herrscher über die bekannte Welt bereits auf dem Weg in die Ochlokratie befänden. Polybios’ Betrachtungen über die Verfassung der römischen Republik endeten somit auf einer düsteren Note. Diese prognostische Pointe hat ihren Weg jedoch gerade nicht in die frühneuzeitliche Theorie der Republik gefunden, die mit Machiavelli einsetzte. Vom ersten Kapitel der Discorsi an wurde die republikanische Größe als Momentaufnahme aus der römischen Geschichte herausgeschnitten, die von einem guten Schüler der Historia magistra vitae in Zukunft eben doch perpetuiert werden könne. So galt das Interesse des Italieners den politischen Mitteln, mit denen der frühe römische Staat „sich mehrere Jahrhunderte lang eine außerordentliche Tüchtigkeit […] erhalten“ und „aus diesem Gemeinwesen später ein Weltreich entwickelt“239 habe. Die Frage, mit der er sich der Republik näherte, lautete mithin, „unter welchen Bedingungen es möglich ist, eine politische Gemeinschaft auf dem oberen Brennpunkt der zyklischen Kurve, im Stadium ihrer größten politischen Machtentfaltung, stabil zu halten“240. Ein

234 Pol. VI, 7, 12; Polybios, Historien, S. 11. 235 Wie genau die beiden Modelle aufeinander bezogen sein sollen, geht aus Polybios’ Darstellung nicht explizit hervor. Den Versuch einer Vermittlung, wie sie hier aufgenommen wird, unternimmt Walbank, The Idea of Decline in Polybius, S. 51–53. 236 Diese Überzeugung folgte aus dem geschichtsphilosophischen Anspruch, den Polybios mit seinem Verfassungskreislauf erhob. So ging es ihm nicht um eine empirische Beobachtung der Geschichte, sondern um die Extraktion von allgemeinen Gesetzmäßigkeiten. „Denn ebenso wie irgendein anderer Staat hatte auch dieser […] von Anfang an eine naturgemäße Entstehung und ein naturgemäßes Wachstum; naturgemäß wird auch seine Wende zum Gegenteil sein.“ (Pol. VI, 8, 12 f.; Polybios, Historien, S. 17). 237 Pol. VI, 10, 11; Polybios, Historien, S. 18. 238 Pol. VI, 57, 5.; Polybios, Historien, S. 67. 239 Machiavelli, Discorsi. Gedanken über Politik und Staatsführung, I, 1, S. 5. 240 Münkler, Machiavelli, S. 371.  

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zentrales Werkzeug, das Machiavelli zu diesem Zweck empfahl, war die gemischte Verfassung der Republik. So präsentierte er die Verzahnung von Monarchie, Aristokratie und Demokratie als die einzige institutionelle Ordnung, die es ermögliche, die Drift des Niedergangs dauerhaft auszuschalten. Die Logik hinter dieser Überlegung hat Herfried Münkler auf ein einprägsames Bild gebracht: Wer den Kreislauf der Verfassungsformen, das ewige Drehen des Rades der Fortuna kennt, vermag nicht nur, wie Polybios meinte, die Zukunft vorauszusehen, sondern kann auch […] den Unsicherheiten und Gefahren, die durch die ständigen Veränderungen hervorgebracht werden, durch listiges Verhalten entgehen. Indem er sich auf die Nabe des sich unausgesetzt drehenden Rades, in die Mitte des Verfassungskreislaufs stellt, entgeht der listige Politiker und damit der von ihm geleitete Staat dem jähen Wechsel und den plötzlichen Verfassungsänderungen.241

Mit der Verfassung der Republik verband sich also das Versprechen, die Einfallstore für Verfall zu minimieren, um eine gute Ordnung zu fixieren. Wenn in England der Anspruch erhoben wurde, dass das eigene Commonwealth dieses System vervollkommnet habe, dann war es gewöhnlich genau diese Stabilität, die den Briten im Vergleich der Geschichte nicht nur einen Platz neben den alten Römern und Spartanern, sondern sogar den Rang vor ihnen zu sichern schien.242 Eine Fülle von Belegen, in denen sich diese Vorstellung der geglückten aemulatio spiegelt, hat Howard D. Weinbrot unter der Überschrift von zwei Zitaten aus der englischen Literatur des 18. Jahrhunderts zusammengestellt. Die Republik Rom sei trotz ihrer Größe vergangen – sie sei, wie John Dyer im Gedicht The Ruins of Rome (1740) beklagte, nur noch „Fallen, fallen, a silent heap“243. Dagegen eigne sich die britische Verfassung unter dem richtigen Schutz, als „One perpetual ferment“ auf ewig bestehen zu bleiben, wie es 1734 in der politischen Wochenschrift The Craftsman hieß.244 „[W]herever one looks in such discussions“, so Weinbrot, „one sees words like these describing British practice – bounded, due, enough, equal, perserve, and protect.“ Dieser Semantik der Stabilität stand auf der römischen Seite eine der Vergänglichkeit gegenüber. Hier lauteten die Kernvokabeln „dissolved, ferment, suspend, and temporary“245. Damit zeichne-

241 Münkler, Machiavelli, S. 377. 242 Vgl. Greenfeld, Nationalism, S. 35 sowie auch die zahlreichen Belege bei Ayres, Classical Culture and the Idea of Rome in Eighteenth-Century England, S. 2–14 sowie Ward, The Tory View of Roman History, S. 418 f. 243 Vgl. Weinbrot, Britannia’s Issue, S. 33–36, hier: S. 33. 244 Vgl. Weinbrot, Britannia’s Issue, S. 36–39, hier: S. 38. 245 Weinbrot, Britannia’s Issue, S. 38. Auch Blackwell pflichtete dieser Auffassung in den eingangs zitierten Memoirs bei, um dem britischen Leser „the Advantage, […] lying on the side of his  

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te sich ein politischer Triumph über Rom ab, der in James Thomsons Ode Liberty (1735) ein literarisches Denkmal erhielt. In diesem Gedicht verlegt eine personifizierte Freiheit ihren Sitz von den südlichen Gefilden nach England und ehrt die Briten der Gegenwart mit einem Zuruf, in dem sich die Topoi des nationalen RomDiskurses noch einmal in nuce vereinigt finden: H ENCE , B RITAIN […]; my best-establish’d, last, And more than G REEC E , or R OME , my steady Reign; The Land where King and People equal bound By guardian Laws, my fullest Blessings flow; And where my jealous unsubmitting Soul, The Dead of Tyrants! burns in every Breast[.]246

2.2.2 Römische virtù und englischer spirit Die Grundform der englischen Rom-Analogie, die soeben dargestellt worden ist, war von den politischen Spannungen des 18. Jahrhunderts geprägt. Durch die Feier einer Mischverfassung, deren Stabilität noch die römische zu übertreffen versprach, setzte sich die parlamentarische Aristokratie gegen das Schreckgespenst eines wiedererstarkenden Königshauses zur Wehr. Bei demjenigen Autor, der Montesquieu in Kontakt mit der englischen Kultur brachte, vervielfältigten sich die Konfliktlinien zusätzlich. Aus konkreten politischen Interessen ergab sich hier eine wirkmächtige Lesart des englischen Roms, die im Folgenden zu konturieren sein wird. So konnte Henry St. John Bolingbroke, bis 1714 Kriegsminister für die ToryRegierung und enger Freund von Alexander Pope,247 überhaupt nur deshalb zur Schaltstelle für die Vernetzungen zwischen englischer und französischer Kultur aufsteigen, weil er im Laufe seiner bewegten politischen Karriere zweimal andere Wege einschlagen musste als seine Parlamentskollegen.248 Zunächst verbrachte

Country“ (Blackwell, Memoirs of the Court of Augustus, Bd. 1, S. 64) durch einen ausgedehnten Vergleich zwischen den Verfassungen der beiden Länder deutlich zu machen. Dabei arbeitete er drei Vorteile heraus: erstens das Prinzip der Repräsentativität im demokratischen Element (S. 144–146), zweitens die Aufhebung des jährlichen Wechsels im monarchischen Element (S. 146 f.), drittens die dreifache Kontrolle in der Gesetzgebung (S. 147 f.). 246 James Thomson, Antient and Modern Italy Compared: Being the First Part of Liberty, a Poem, Edinburgh 1735, S. 20. 247 Pope widmete seinem Freund und Briefpartner Bolingbroke 1734 den Essay on Man. 248 Einen hilfreichen Einstieg in Bolingbrokes durchaus komplizierten politischen Werdegang bieten David Armitage, Introduction. In: Henry St. John Bolingbroke, Political Writings, hg. von David Armitage, Cambridge 1997, S. vi–ixxiv und Andreas Urs Sommer, Kritisch-moralische  



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er das Jahrzehnt von 1715 bis 1725 zwangsweise in Frankreich, weil er vor dem Tod der Königin Anne für kurze Zeit auf den Thronprätendenten der Stuarts gesetzt hatte. Während ihm diese „flirtation with Jacobitism“249 in London eine Anklage wegen Hochverrats einbrachte, sicherte sie ihm in Paris den Schutz des Königs,250 wo er die Aufmerksamkeit vieler französischer Literaten, Philosophen und Gelehrten auf sich zog. Mit diesen traf er sich regelmäßig, um über philosophische und politische Fragen zu debattieren.251 Als sein Exil im Jahr 1725 aufgehoben wurde, blieb er in England trotzdem weiterhin vom House of Lords ausgeschlossen und sah sich aus diesem Grund gezwungen, die Politik mit publizistischen Mitteln fortzusetzen. Exakt diese Phase fiel mit den England-Reisen der Autoren zusammen, die wenig später mit anglophilen Schriften nach Frankreich zurückkehrten. Zum einen eröffnete Bolingbroke 1726 Voltaire, jetzt seinerseits verbannt, den Zutritt zu den literarischen und politischen Zirkeln Londons.252 Zum anderen empfing er auch Montesquieu bei sich, als dieser im Zuge seiner Grand Tour von 1729 bis 1731 Station in Großbritannien machte.253 Was Montesquieu dementsprechend in England kennenlernte, war eine modifizierte Perspektive auf die britische Republik, die Bolingbroke an seine neue Rolle angepasst hatte. In seiner Wochenschrift The Craftsman (1726–1752), die er

exempla-Historie im Zeitalter der Aufklärung: Viscount Bolingbroke als Geschichtsphilosoph. In: Saeculum. Jahrbuch für Universalgeschichte 53:2 (2002), S. 269–310, hier: S. 270–272. 249 Armitage, Introduction, S. viii. 250 Vgl. Isaac Kramnick, Bolingbroke and His Circle: The Politics of Nostalgia in the Age of Walpole, Cambridge 1968, S. 14. 251 Vgl. Kramnick, Bolingbroke and His Circle, S. 16 f.; Rex A. Barrell, Bolingbroke and France, Lanham 1988, S. 14–31. 252 Vgl. Barrell, Bolingbroke and France, S. 19–27. Um die Mitte der 1720er Jahre sah sich Voltaire in einer Art Schüler-Verhältnis zum älteren Bolingbroke (Dennis J. Fletcher, The fortunes of Bolingbroke in France in the eighteenth century. In: Studies on Voltaire and the Eighteenth Century 47 (1966), S. 207–232, v. a. S. 208–214). Als er ihn 1722 kennenlernte, zeigte der junge Franzose sich vor allem beeindruckt von Bolingbrokes flexiblem Umgang mit verschiedenen Nationalkulturen, wie er in einem Brief an Thieriot darlegte: „J’ai trouvé dans cet illustre anglois tout l’érudition de son pays, et toutte la politesse du nôtre. […] Il sçait l’histoire des anciens égiptiens comme celle de l’Angleterre, il possède Virgile comme Milton, il aime la poésie angloise, la françoise, et l’italienne mais il les aime différemment parcequ’il discerne parfaittement leurs différens génies.“ (Voltaire an Nicolas Claude Thieriot, 4. Dezember 1722 [D135] (Oeuvres complètes de Voltaire, hg. vom Institut et Musée Voltaire und der Voltaire Foundation. Bd. 85: Correspondence and related documents I. December 1704–December 1729. D1–D369, hg. von Theodore Besterman), Genf, Oxford 1968, S. 143–145, hier: S. 143). 253 Der Aufenthalt in England markierte die wichtigste Station in Montesquieus Reise, die er von 1728 bis 1731 unternahm und in den Voyages en Europe sowie in den Notes sur l’Angleterre reflektierte. Vgl. Gonthier, Montesquieu and England, v. a. S. 59–73.  





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bis 1735 mit William Pulteney herausgab254 – „the most successful political journal of the first half of the eighteenth century“255 –, verschob Bolingbroke den Fokus prinzipiell von guten Institutionen zu den richtigen politischen Dispositionen, die er durch seine Schriften zu beeinflussen hoffte. Dabei hatte er einen konkreten Gegner im Blick, wie seine „Dissertation upon parties“ (1733/1734) deutlich macht, die in 19 Briefen im Craftsman erschien. So erhob Bolingbroke mit aller Vehemenz die Stimme gegen die Macht des Premierministers Robert Walpole. Wenn er selbst, der vorher offiziell die Tories vertreten habe, sich für seine Zeitschrift mit dem Whig-Politiker Pulteney zusammenschließe,256 sei das die einzig vernünftige Reaktion auf die Bedrohung, in der sich der britische Staat derzeit befinde. Denn die aktuelle Regierung setze die freiheitlichen Maximen der Verfassung derart aufs Spiel, dass jeder Streit unter den Parteien obsolet geworden sei.257 „New combinations force themselves upon us“, schrieb Bolingbroke: „The bulk of those parties are really united; united on the principles of liberty, in opposition to an obscure remnant of one party, who disown those principles, and a mercenary detachment from the other, who betray them.“258 Seitdem die Regierung gegen die Prinzipien der Verfassung verstoße, sei die Ordnung nur noch zu bewahren, indem alle Bürger sich im Sinne eines „diffusive spirit of public benevolence“259 daran erinnern würden, was die englische Gemeinschaft im Kern zusammenhalte. Statt um die Instanzen der Verfassung ging es Bolingbroke hier um ein Projekt der sozialen Kohäsion, auf das er mit seiner Publizistik einzuwirken versuchte.260 Den entscheidenden Antrieb

254 Vgl. Simon Varey, The Craftsman. In: Telling People What to Think. Early EighteenthCentury Periodicals from the Review to the Rambler, hg. von James A. Downie und Thomas N. Corn, London 1993, S. 58–77, hier: S. 58 f. 255 So Thomas Lockwood, Did Fielding Write for The Craftsman? In: The Review of English Studies 59 (2008), S. 86–117, hier: S. 90. 256 Vgl. Varey, The Craftsman, S. 58 f. Die Redaktion übernahm der befreundete Nicholas Amhurst. 257 Konkret ging es um den Umbau von Verwaltung und Steuersystem an den Maßstäben von „commercial expansion and imperial growth“ (Armitage, Introduction, S. xi). 258 Henry St. John Bolingbroke, A Dissertation upon Parties. In: Political Writings, hg. von David Armitage, Cambridge 1997, S. 1–192, S. 5. 259 Bolingbroke, A Dissertation upon Parties, S. 6. 260 So legitimierte Bolingbroke die Opposition gegen Walpole, die sich im Parlament zusammenschloss. Vgl. Quentin Skinner, The Principles and Practices of Opposition: The Case of Bolingbroke versus Walpole. In: Historical Perspectives. Studies in English Thought and Society. In Honour of J. H. Plumb, hg. von Neil McKendrick, London 1974, S. 93–128, hier: S. 95; Christine Gerrard, The Patriot Opposition to Walpole. Politics, Poetry, and National Myth, 1725–1742, Oxford 1994, S. 11.  



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dafür verortete er in einer heraufbeschworenen nationalen Empfindung, die in der Folge zur Leitkategorie seiner Schriften wurde: in einem spirit of liberty, der die Freiheit der republikanischen Gemeinschaft in die Herzen der Briten einließ. Wie sich diese Akzentverschiebung in Bolingbrokes Rom-Modell niederschlug, soll im Folgenden an einem Text nachgezeichnet werden, den die Forschung als Anregung für die Considérations herausgestellt hat. Die „Remarks on the History of England“ erschienen vom September 1730 bis Mai 1731 im Craftsman – genau in dem Zeitraum, in dem Montesquieu sich in England aufhielt.261 Die Romanistin Ursula Haskins Gonthier hat in diesem Zusammenhang bereits auf das charakteristische historiographische Format der Schrift verwiesen, an dem Montesquieu sich offensichtlich inspiriert habe: Firstly, the titular use of the terms ‚remarks‘ and ‚considerations‘ implies a rejection of history as narrative in favour of a more personal, critical examination of events. The resultant histories are also somewhat aphoristic and disjointed, as is suggested by Bolingbroke’s description of his works as ‚systems of hints‘. […] Secondly, Montesquieu’s avoidance of antiquarian erudition and his very limited use of Latin quotations in the Considérations shows that he too sought to write a work that would reach a wide, non-scholarly audience. […] Finally, the Considérations represent a uniquely concise and lapidary survey of Roman history divided into twenty-three short chapters, just as Bolingbroke’s Remarks are composed of twenty-four brief epistolary essays.262

An dieser Stelle soll der Blick nun genauer auf die Anregungen gerichtet werden, die Montesquieu hier für sein Konzept der antiken Republik vorfand. Der Schwerpunkt wird dabei auf zwei Kategorien liegen, die schon in der „Dissertation upon parties“ anklangen und die bei Montesquieu eine eigene Karriere antreten würden: erstens auf den principles of liberty, die begrifflich auf die Trias der politischen principes von Republik, Monarchie und Despotie im Esprit des Lois vorausverwiesen; zweitens auf der Vorstellung eines englischen spirit of liberty, der Montesquieu später in eine Vielfalt von nationalen esprits pluralisieren würde. Beide Konzepte wurden mithin zentral für Theorien, in denen politische Gemeinschaft um 1750 eine konzeptuelle Wendung ‚nach innen‘ erfuhr. Auf ambitionierte Weise zielten die „Remarks on the History of England“ nun darauf, die transhistorische Bedeutung dieser Kategorien für die Sicherung eines republikanischen Gemeinwesens zu beweisen. Bolingbrokes Betrachtun-

261 Vgl. die Zeitleiste von Armitage (Bolingbroke, Political Writings, S. xxv–xxix, hier: S. xxvii). 262 Gonthier, Montesquieu and England, S. 93 f. Hinzu kommt ein methodologisches Argument: Beide Autoren verfolgten das Ziel, aus empirischen Beobachtungen an der Geschichte universal wirksame causes générales zu extrahieren und sind damit dem „political Newtonianism“ zuzuordnen (Gonthier, Montesquieu and England, S. 217).  

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gen zur Geschichte Englands wurden damit auch zu Betrachtungen zur Geschichte Roms. Die 20 Briefe, in denen ‚Mr. Craftsman‘ in dieser Schrift seine Perspektive auf die nationale Vergangenheit entfaltet, waren in eine Rahmenkomposition eingebettet, in der die römische Antike in den Fokus rückte.263 So stieß der Leser anfänglich auf Briefe an den ‚Craftsman‘, die eine ganz eigene Variante von Roms Aufstieg und Fall erzählten.264 Ihr Ausgangspunkt ist eine Auseinandersetzung, die sich angeblich in einer „Company, which often meets, rather to live than to drink together“265 ereignet habe. Von der Frage, ob die hitzige öffentliche Debatte über die Walpole-Regierung zu begrüßen oder zu tadeln sei, gelangt die referierte Diskussion rasch auf eine allgemeinere Ebene. Dabei bricht ein „antient, venerable Gentleman“ die Lanze für die politische Publizistik, die seiner Meinung nach für positiven Aufruhr sorge: Durch den Appell an das Publikum formiere sich ein begrüßenswertes „Revival of the true old English Spirit, which prevailed in the Days of our Fathers and which must always be national, since it has no Direction but to the national Interest“266. Die Relevanz eines solchen inneren Freiheitsstrebens wird anschließend am Beispiel von Rom veranschaulicht. Dazu trägt der anonyme Gentleman eine transformierte Version des englischen Rom-Diskurses vor, in dem dessen wesentliche Bausteine in aller Kürze

263 Die folgenden Beobachtungen lassen sich nicht anstellen, wenn man Isaac Kramnicks Ausgabe von Bolingbrokes Historical Writings zugrunde legt. Zu Recht kritisiert Alexander Pettit, dass den Remarks on the History of England in dieser Edition entscheidende Informationen verloren gehen (Alexander Pettit, Illusory Consensus. Bolingbroke and the Polemical Response to Walpole, 1730–1737, Newark 1997, S. 51–56; ders., Revitalizing Bolingbroke’s „Remarks on the History of England“. „The Craftsman“ in Folio. In: Library Chronicle of the University of Texas 25:3 (1995), S. 6–29). Kramnick will Bolingbrokes Beitrag zum politisch-historiographischen Diskurs zugänglich machen und legt dazu einen modernisierten Text vor; Datierungen, Paratexte und polemische Einlassungen gegenüber rivalisierenden Zeitschriften fallen heraus. Das führt zu einem entstellten Text. Ohne Paratexte geht der Charakter eines Briefwechsels verloren; zudem fehlen mit dem 3. und dem 24. Brief wichtige Gedankengänge. Aus diesem Grund ist hier ein Rückgriff auf die Erstpublikation nötig. 264 Zur Rahmenkomposition vgl. die ansonsten leider wenig ergiebige Arbeit von Folke Nibelius, Lord Bolingbroke (1678–1751) and History. A Comparative Study of Bolingbroke’s Politico-Historical Works and a Selection of Contemporary Texts as to Themes and Vocabulary, Stockholm 2003, S. 1–3. 265 The Country Journal, or the Craftsman No. 206, 13. Juni 1730, unpag., Sp. 1. Angespielt wird hier auf die Fiktion, dass die Beiträge einer Wochenschrift eine „conversation among peers“ aufzeichnen. Auch Mr. Spectator, die Zentralfigur von Addisons und Steeles gleichnamigem Journal, versammelte einen Spectator’s Club um sich (Pettit, Illusory Consensus, S. 40). 266 The Country Journal, or the Craftsman No. 206, Sp. 2.

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zugunsten einer republikanischen Empfindung umgeordnet werden. Die Grundannahme dieser Überlegungen ist von Machiavelli und Polybios vertraut: In jeder Regierungsform, so wird behauptet, führe die natürliche „Love of Power“ mit der Zeit zu Spannungen zwischen „the Prerogatives of the Prince or other Magistrate, and the Privileges of the People“, aus der „a perpetual Danger to Liberty“267 erwachse.268 Der daraus abgeleitete Blick auf „mixed Governments“, zu denen sowohl das republikanische Rom als auch England gezählt werden, ist jedoch ein gänzlich anderer. So deutet der Gentleman die Erhöhung der beteiligten Regierungsformen als eine Erhöhung des politischen Risikos. Während „absolute Monarchies“ ohnehin keinen Raum für Freiheit ließen und in den „perfect Democraties“269 nur das unberechenbare Volk in Schach zu halten sei, sei ausgerechnet die beste Regierungsform von zwei Seiten bedroht. Das monarchische Element stehe ständig in Gefahr, in eine Tyrannei umzukippen; aber auch das populäre Element trage den Keim in sich, in eine Anarchie zu korrumpieren.270 Mit dieser Diagnose las Bolingbroke die politische Reflexion gegen den Strich, die der Mischverfassung besondere Stabilität attestiert hatte. „In a Word“, schrieb er, „no Laws, no Orders of Government can effectually secure Liberty“271. Folglich müsse es eine andere Instanz geben, die über die fragile Ordnung wache. An diesem Punkt kam der Ruf nach einer kollektiven politischen Empfindung ins Spiel. „The whole Body of a Nation may be as jealous of their Liberties as a private Man of his Honour“, forderte Bolingbroke: „They may be, at all Times, animated by a generous Resolution of defending these Liberties, at any Risque; as he may,

267 The Country Journal, or the Craftsman No. 206, Sp. 3. 268 Bolingbroke leitete daraus die Forderung nach einem System von „Checks and Controls“ ab (The Country Journal, or the Craftsman No. 206). Solche Überlegungen standen Pate für Montesquieus Formulierung der Gewaltenteilung (Robert Shackleton, Montesquieu, Bolingbroke, and the separation of powers. In: Ders., Essays on Montesquieu and the Enlightenment, hg. von David Gilson und Martin Smith, Oxford 1988, S. 3–16; hier: S. 10 f.). 269 The Country Journal, or the Craftsman No. 206, Sp. 3 f. 270 „In mixed Governments the Danger must still be greater. Such a one we may justly reckon that of Rome, as well during the Regal as Republican State; and surely no History can be more fruitful in Examples of the Danger, to which Liberty stands exposed from the natural, and therefore constant Desire of amplifying and maintaining Power, than the Roman History is, from the last of the Kings, to the first of the Emperors. A Monarchy, limited like ours, may be placed […] just in the middle Point; from whence a Deviation leads, on the one hand, to Tyranny; and, on the other, to Anarchy; but sure I am, that if we are situated just in the middle Point, the least Deviation is the more cautionally to be guarded against.“ (The Country Journal, or the Craftsman No. 206, Sp. 4). 271 The Country Journal, or the Craftsman No. 206, Sp. 5.  



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at all Times, feel in his Heart the Courage of Venturing his Life to maintain his Honour.“272 Die entscheidende Frage in Bolingbrokes Überlegungen zur Republik lautete dementsprechend, wo die Quelle einer solchen Identifikation mit dem Gemeinwesen gefunden werden könne. Im Zuge dieser Ausführungen richtete er die Analogie zwischen Rom und England neu aus, indem er eine eigene MachiavelliLektüre präsentierte. Vom berühmten „Italian Secretary“ könne man demnach das Folgende lernen: He observes that, of all Governments, Those are the best, which, by the natural Effect of their original Constitutions are frequently renew’d or drawn back, as He explains his Meaning, to their first Principles; and that no Government can be of a long Duration, where this does not happen from Time to Time […].273

Auf den ersten Blick gibt diese Passage nahezu wörtlich eine Theorie wieder, mit der Machiavelli das dritte Buch der Discorsi eingeleitet hatte. Hatte die Mischverfassung bei dem Florentiner die institutionelle Basis gelegt, um die Republik zu erhalten, war den Politikern hier eine zweite Strategie an die Hand gegeben worden, um die Korruption des Gemeinwesens zu unterlaufen. So hatte der Italiener geschrieben: „Da ich hier von Kollektivgemeinschaften spreche, wie es Staaten und Religionsgemeinschaften sind, so behaupte ich, daß ihnen nur diejenigen Veränderungen zum Heil gereichen, die sie zu ihren Anfängen zurückführen [che le riducano inverso i principii loro, A.H.].“274 Aus einer Überlegung, die ähnlich trickreich funktioniert wie die zur Verfassung, hatte Machiavelli hier die Anfänge eines Staats, die principii, als Schlüsselmoment profiliert. Da der Kreislauf der Verfassungen stets von der guten Ordnung zur schlechten fortschreite, sei der Beginn staatlicher Ordnung der sicherste Zeitpunkt; wenn sich also eine Möglichkeit finde, um fortgesetzt Anfänge zu produzieren, dann lasse sich das Vorrücken im desaströsen Zyklus der Regierungsformen verhindern. Ins Werk zu setzen hoffte Machiavelli eine solche Manipulation durch einen Appell an die virtù – an ein kollektives Ethos der Bürger, das Herfried Münkler als „von den Individuen habitualisierte[n] Selbsterhaltungsimperativ der politischen Gemeinschaft“275 bezeichnet. In den Discorsi

272 The Country Journal, or the Craftsman No. 206, Sp. 3. 273 The Country Journal, or the Craftsman No. 208, 27. Juni 1730, unpag., Sp. 1. 274 Machiavelli, Discorsi. Gedanken über Politik und Staatsführung, III, 1, S. 284; italienisch nach Niccolò Machiavelli, Discorsi sopra la prima Deca di Tito Livio, hg. von Francesco Bausi (Edizione nazionale delle opere di Niccolò Machiavelli, hg. von Enrico Malato, 10 Bde., Bd. 2), 2 Bde., Bd. 2, Rom 2001, S. 523. 275 Münkler, Machiavelli, S. 317.

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wurden nun drei Mittel vorgeschlagen, um diesem Ethos wieder dieselbe Kraft zu verleihen wie bei der Gründung eines Staats:276 erstens den Krieg gegen einen äußeren Feind,277 zweitens die drastische Bestrafung von Gesetzesübertritten und drittens das anspornende Exempel eines „wirklich tüchtigen Mann[es]“, der aus der „Mitte“278 der Bürger hervorgegangen sei. Mit diesem Hinweis auf die virtú erweiterte Bolingbroke den englischen RomDiskurs mithin um eine Facette der inneren Motivation. Dabei hatte die politische Tugend für Machiavelli von einer klugen Staatsführung abgehangen; in den „Remarks on the History of England“ kehrte sich der Gedanke dagegen faktisch um. Diese Inversion beruhte auf einer Arbeit an der Terminologie, die sich bei näherem Hinsehen vollzog. Denn wo Machiavelli ausdrücklich von den zeitlichen Anfängen (principii) eines Staats gesprochen hatte,279 appellierte Bolingbroke an die „first Principles“ des Gemeinwesens. Diese semantische Verschiebung ist insofern bedeutend, als damit allgemeine Regeln der politischen Tugend postuliert wurden,280 die anders als zeitliche Anfänge auf eine externe Quelle verwiesen. In der Leerstelle, die damit entstand, konnte Bolingbroke nun seinen Programmbegriff platzieren, den spirit of liberty. An die Stelle von Machiavellis guten Anfängen des Gemeinwesens (principii) trat somit ein Begriffspaar von staatlichen Prinzipien (principles) und freiheitlicher Gesinnung (spirit of liberty). Damit vollzog Bolingbroke ein Manöver, das in der Folge zu einer „uneasy marriage“281 zwischen zwei Diskursen führte. Auf der einen Seite erhielt der englische Freiheitsgeist bei dem Engländer die Züge der republikanischen Tugend, die Machiavelli an den Römern fasziniert hatte: Beide, der spirit of liberty wie die virtù, bezeichneten die freiwillige Verpflichtung zu

276 „More than an act of reanimation of the state, the return to its beginnings serves to remind its constituents who they are and why they owe it their allegiance, by reminding them who they are not“ (Ioannis D. Evrigenis, Fear of Enemies and Collective Action, Cambridge 2008, S. 49). 277 Als Beispiel für einen solchen Krieg mit positiven Auswirkungen nannte Machiavelli Roms Eroberung durch die Gallier im 4. Jahrhundert v. Chr. (Machiavelli, Discorsi. Gedanken über Politik und Staatsführung, S. 287). 278 Machiavelli, Discorsi. Gedanken über Politik und Staatsführung, S. 286. 279 Zur Kopplung von historischem Anfang und virtù vgl. Harvey C. Mansfield, Machiavelli’s Virtue, Chicago 1996, S. 57–78. 280 Zu denken ist an eine Bedeutung im Sinne von „general law[s] or rule[s]“ (Art. principle, II.4. a. In: Oxford English Dictionary, online über oed.com, Zugriff am 15. November 2018). Eine Bedeutung, die einen zeitlichen Anfang bezeichne – „Beginning, rise, commencement; original or initial state“ (Art. principle, I.1.c) – sei seit dem 17. Jahrhundert nicht mehr gebräuchlich. 281 John G. A. Pocock, Machiavelli, Harrington and English Political Ideologies in the Eighteenth Century. In: The William and Mary Quarterly 22:4 (1965), S. 549–583, hier: S. 572.  

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einem Verhalten, das der politischen Freiheit und damit dem Fortbestand der Republik diente und darüber individuelle Freiheit in Aussicht stellte;282 virtù bewies, wer das allgemeine Interesse über das partikulare stellte.283 Auf der anderen Seite wurde der Freiheitsgeist in den „Remarks on the History of England“ zum Einfallstor für einen dezidiert nationalen Diskurs. Für Bolingbroke war der spirit of liberty ein Potential, das in „the Body of the People“284 begründet lag und das bei der Gründung eines Staates seine eigentümlichen Sitten, Regeln und Gesetze hervorgebracht hatte. Genauer ausgearbeitet wurde diese Vorstellung im historiographischen Teil der „Remarks“, der bis auf das angelsächsische Altertum zurückging. Darin ergaben sich Querbezüge zwischen römisch fundierter Staatstheorie und nationaler Geschichtserzählung, die mit Blick auf die Antikendiskurse außerordentlich bemerkenswert sind. Denn um den Kernbegriff seiner „partisan history“285 im englischen Diskurs der Republik zu verankern, setzte Bolingbroke zwei Altertümer auf eine Stufe, die auf dem Kontinent zu diesem Zeitpunkt noch völlig inkompatibel waren: Machiavellis Rom wurde vor dem Hintergrund eines Diskurses gelesen, der sich auf eine postulierte nordische Vergangenheit der Engländer bezog.

282 „[F]reedom“, fasst Quentin Skinner dieses „classical oxymoron“ zusammen, „is a form of service“: „Machiavelli’s basic claim is thus that, if we wish to prevent our government from falling into the hands of tyrannical individuals or groups, we must organise it in such a way that it remains in the hands of the citizen-body as a whole. It is only if everyone remains willing to place their talents at the disposal of the community that the bene commune, the common good or public interest, can be upheld and factional interests controlled. And it is only if this happens that the personal liberty of each individual citizen can in turn be secured. […] Machiavelli’s way of summarising these claims is to say that libertà, both personal and public, can only be maintained if the citizen body as a whole displays the quality of virtù.“ (Quentin Skinner, Machiavelli on virtù and the maintenance of liberty. In: Ders., Visions of Politics, 3 Bde., Bd. 2: Renaissance virtues, Cambridge 2002, S. 160–185, hier: S. 163. Vgl. Machiavelli, Discorsi. Gedanken über Politik und Staatsführung, III, S. 41). – Dementsprechend dokumentierte der Fall der römischen Republik für Bolingbroke nichts anderes als einen Triumph des Egoismus: „The Spirit of Liberty was dead, and the Spirit of Faction had taken its Place on both Sides. As long as the former prevail’d, a Roman sacrificed his own, and therefore no Doubt every other personal Interest, to the Interest of the Commonwealth. When the latter succeeded, the Interest of the Commonwealth was consider’d no otherwise than in Subordination to that particular Interest, which each Person had espoused.“ (The Country Journal, or the Craftsman No. 208, Sp. 3). 283 Vgl. Herfried Münkler, Die Idee der Tugend. Ein politischer Leitbegriff im vorrevolutionären Europa. In: Archiv für Kulturgeschichte 73 (1991), S. 379–404, hier: S. 383. 284 The Country Journal, or the Craftsman No. 208, Sp. 2. 285 Isaac Kramnick, Editor’s Introduction. In: Henry St. John Bolingbroke, Historical Writings, ed. and with an Introduction by Isaac Kramnick, Chicago, London 1972, S. xi–lii, hier: S. xxix.

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So evozierte Bolingbroke gleich zu Beginn seines Rückblicks auf die englische Historie die Kontinuität eines nationalen Freiheitssinns, die laut seiner Darstellung bis tief in die germanischen Wälder zurückreichte. „It must be a Pleasure to reflect on the Uniformity of Spirit, which created and has constantly preserved, or retrieved the original Freedom of the British and Saxon Constititutions“, schwärmte er, um seine Leser an die Ursprünge der „Gothick Institutions“ bei den alten Briten zu versetzen: Cæsar himself acknowledges, that They fought boldly for their Liberties, when he invaded Them; and there is good Reason to believe, from his Manner of Writing, that They gave Him a warmer Reception than He is willing to own. But to speak of them after an Author, in whose Time they were better known than they were by Cæsar, or even by Tacitus; Dion Cassius when he is about to relate the Expedition of Severus into Britain, says, That they held a great Part of Government in their own Power.286

Diese Passage verschränkte die Topiken der Republiktheorie mit denen eines dezidiert antiromanischen Altertumsdiskurses, in dem es um heroische Kriegsbereitschaft ging. Nicht nur Machiavellis Römer zeichneten sich bei Bolingbroke durch einen Drang zur Freiheit aus, sondern auch die tapferen Vorfahren der Engländer aus dem Norden. Ihr Widerstandsgeist, von dem die Schriften der römischen Besatzer laut Bolingbroke beredtes Zeugnis ablegen würden, habe dabei nicht nur kriegerische Tapferkeit erkennen lassen. Schon in antiker Zeit habe der nationale Mut, so die vorgebrachte These, eine vorbildliche, freiheitliche Regierungsform hervorgebracht. An dieser Stelle verband sich der englische Republikanismus mit Topiken, die aus den Germanen-Diskursen der Frühen Neuzeit bekannt sind (vgl. Kap. I.1). Eine solche Rückprojektion des Commonwealth in ein nordisches Altertum hat die Anglistik als „Gothicism“ bezeichnet.287 Dieser Diskurs war in den 1730er Jahren keine Neuigkeit; vielmehr war er der Entdeckung Machiavellis auf dem Fuße gefolgt. Wider Willen hatte auch in diesem Fall James Harrington als Initiator

286 The Country Journal, or the Craftsman No. 222, 2. Oktober 1730, unpag., Sp. 1. 287 Grundlegend sind die Studien von Samuel Kliger, The Goths in England. A study in seventeenth and eighteenth century thought, Cambridge, Massachusetts 1952; Josef Haslag, „Gothic“ im 17. und 18. Jahrhundert. Eine wort- und ideengeschichtliche Untersuchung, Köln 1963 sowie Roger J. Smith, The Gothic Bequest. Medieval institutions in British thought, 1688–1863, Cambridge u. a. 1987. Vgl. zudem die neuere Darstellung von Colin Kidd, der die Strömung in das Geflecht der nationalen Diskurse auf den britischen Inseln einordnet (Kidd, British Identities before Nationalism, S. 211–249; S. 250–287).  

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fungiert. Denn am Rande der Oceana hatte dieser die These aufgestellt, dass das nachantike Europa zunächst von einer gemeinsamen Regierungsform gekennzeichnet gewesen sei, die er im Gegensatz zu der des römischen Reiches entwarf: Die sogenannte „Gothic balance“ sei eine freiheitliche Regierungsform gewesen, die „the Gothes, a people that deriving their Roots from the Northern parts of Germany, or out of Sweden“288 über Europa ausgebreitet hätten, nachdem sie das Imperium Romanum mit seiner despotischen Ordnung zu Fall gebracht hätten. Mit den Goten, den Bezwingern Roms,289 kam in England demzufolge eine germanische Antike ins Spiel, die stärker staats- und gesellschaftstheoretisch konnotiert war als ihr deutsches Pendant. Mit der dargelegten Theorie hatte Harrington auf einer politischen Ebene an den Gotizismus schwedischer Gelehrten angeknüpft, die seit dem 16. Jahrhundert linguistisch und antiquarisch am Beweis gearbeitet hatten, dass ihre gotischen Vorfahren der Ursprung aller europäischen Nationen seien.290 In der englischen Variante ging es freilich nicht um eine gemeinsame Ahnenreihe, sondern um ein Erbe von Sitten und Institutionen, die in den „limited monarchies“291 der Goten begründet liege. Gleichwohl war diese „Gothic balance“ für Harrington eine Episode geblieben. Mit der Zeit habe sie sich als zu schwach erwiesen, so dass sie in einem europäischen Land nach dem anderen in die absolute Monarchie gekippt sei. Umso vehementer hatte der Autor der Oceana den Appell formuliert, dass England sich eine neue, stabile Republik an der Leitlinie von Machiavelli zu geben habe.292 Ursprünglich war im englischen Gotizismus von einer germanisch-römischen Analogie also keine Rede gewesen. Für Harrington war die postulierte nordische Idealrepublik gerade nicht die Basis gewesen, von dem das englische Commonwealth ausgehen sollte. Im Gegenteil: Er hatte die Geschichte vom Ende der

288 James Harrington’s Oceana, ed. with notes by Sten Bodvar Liljegren, Lund, Heidelberg 1924, S. 42. 289 Das Bild der Goten war in der Frühen Neuzeit durch Alarich geprägt: den König der Westgoten, der Rom im 4. Jh. geplündert hatte (Sonia Brough, The Goths and the Concept of Gothic in Germany from 1500 to 1750. Culture, Language and Architecture, Frankfurt a. M., Bern, New York 1985, S. 18 f.). 290 Einen hilfreichen Einstieg in diese Linien des Gotizismus und ihre Verbreitung in Europa – außer in Schweden vor allem bei deutschen Gelehrten – bietet Kristoffer Neville, Gothicism and Early Modern Historical Ethnography. In: Journal of the History of Ideas 70:2 (2009), S. 213–234. 291 Kidd, British Identities before Nationalism, S. 214 f. Zur Abgrenzung der beiden Argumentationslinien vgl. auch die präzise Argumentation von Haslag, „Gothic“ im 17. und 18. Jahrhundert, S. 24. 292 Pocock, Machiavelli, Harrington and English Political Ideologies in the Eighteenth Century, S. 573.  





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„Gothic balance“ nur erzählt, um einem anderen einflussreichen Diskurs zu widersprechen, der als Theorie der ‚Ancient Constitution‘ bezeichnet wird. Seine Vertreter, allen voran der Richter und Abgeordnete Edward Coke, hatten der englischen Verfassung einen Ursprung zugesprochen, der „immemorial“ sei, der also noch vor die schriftlich dokumentierte Zeit zurückreiche.293 Um die angestammten Privilegien des Adels vor Eingriffen seitens des Monarchen zu schützen, hatten diese Gelehrten zu Beginn des 17. Jahrhunderts eine „philosophy of custom“294 entwickelt. Die Form und Autorität der Verfassung, so hatten sie behauptet, schreibe sich von keinem Herrscher her, sondern sei das Produkt des kollektiven, „primitive and inarticulate wisdom of the folk, expressed in age-old custom“. Per definitionem „unwritten“, seien diese Sitten bis in früheste nationale Überlieferungen nachzuweisen. Unter diesen Vorzeichen bezogen sich die ‚Ancient Constitution‘-Theoretiker immer wieder auf Germanen-Diskurse.295 Während sich das germanische Altertum im England des 17. Jahrhunderts also entweder mit einer Theorie der Republik oder mit einer Vorstellung historischer Kontinuität im Zeichen eines Nationaldiskurses verknüpft hatte, zog das 18. Jahrhundert die konkurrierenden Modelle kurzerhand zu einem einzigen zusammen. Dabei gilt Bolingbroke als „the last and most spectacular“296 der sogenannten Neo-Harringtonians, die sich bei beiden Kontrahenten bedienten. Seine Aktualität verdankte dieses Narrativ mit seiner fließenden Grenzziehung zwischen Briten, Angelsachsen und Germanen nicht zuletzt dem Wechsel des englischen Königshauses, das 1714 von den französischen Stuarts ans deutsche Haus Hannover übergegangen war.297 Unter diesen Bedingungen erfuhr auch

293 Vgl. nach wie vor John G. A. Pocock, The Ancient Constitution and the Feudal Law. A Study of English Historical Thought in the Seventeenth Century, London 1967, v. a. S. 30–55. 294 Pocock, Machiavelli, Harrington and English Political Ideologies in the Eighteenth Century, S. 572. 295 Vgl. Pocock, The Ancient Constitution, S. 19 f.: „Since their pursuit of ancient laws and liberties often led them to seek these things in the custom of the barbarian invaders“, der Angelsachsen, „whom they identified with the Germans described by Caesar and Tacitus, they made many contributions to the legend of primitive Teutonic freedom and virtue.“ 296 Pocock, Machiavelli, Harrington and English Political Ideologies in the Eighteenth Century, S. 572. Ihm voraus gingen außer etwa Thomas Rymer, Walter Moyle, John Toland auch John Trenchard und Thomas Gordon, die gemeinsam die Zeitschriften The Independent Whig (1720– 1721) und Cato’s Letters (1720–1723) herausgegeben hatten. 297 Um einen protestantischen König zu erhalten, hatte die englische Regierung 1714 mehr als 50 Positionen in der Thronfolge ignoriert und Georg I., den Fürsten von Kurhannover, gewählt (Linda Colley, Britons. Forging the Nation 1707–1837, New Haven 1992, S. 49). Zur Relevanz der ‚deutschen‘ Königslinie im englischen Gotizismus vgl. Gerrard, The Patriot Opposition to Walpole, S. 117–121.  



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Tacitus’ Germania seit den 1720er Jahren eine Konjunktur in der englischen Literatur,298 in die nicht zuletzt Bolingbroke einstimmte.299 Zusammengefasst betrachtet, verschränkten die „Remarks on the History of England“ folglich zwei Perspektiven auf die Republik: Eine staatstheoretische Denktradition, die über das Rom von Machiavellis Discorsi lief, ging über in einen Diskurs der Nation, der an ein germanisch-englisches Altertum geknüpft war. Möglich wurde diese ungewohnte, unter den Bedingungen der kontinentalen Antikendiskurse geradezu unerhörte Parallele, indem Bolingbroke den Fokus von politischen Institutionen zu historisch invarianten Dispositionen verschob, die einem funktionierenden Gemeinwesen zugrundeliegen sollten. Dabei stellte er eine theoretisch problematische, aber nicht minder einflussreiche Äquivalenzbeziehung zwischen der virtù der Republik und der kriegerischen Tugend her, die sich seit dem humanistischen Diskurs der Antiromanitas mit den Altertümern an der geographischen und kulturellen Peripherie verband (vgl. Kap. I.1). Bereits im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts hatte sich damit in England im Zeichen der Republik eine spezifische Verknüpfung von Altertümern etabliert, die wenig später ihren Weg auf den europäischen Kontinent machte. Bei Bolingbroke lag der Fokus auf der privilegierten Beziehung zwischen Rom, das als Leitantike für theoretische Reflexionen über die Republik diente, und Germanien, das einen nationalgeschichtlichen Part vertrat. Daneben wurden im englischen Kanon der Republiken auch die anderen Musterstaaten mitgeführt, die Machiavelli und Polybios verehrt hatten. Besonders galt das für die griechische Polis Sparta, die dem römischen Gemeinwesen laut diesen Autoritäten in Stabilität und Dignität fast gleichkam. So lassen sich die Antikepräferenzen im England des frühen 18. Jahrhunderts wie folgt charakterisieren: „Rome, with which expanding England felt its affinity, kept its place. And Sparta could perhaps be said to be left as runner up.“300 Exemplarisch dokumentiert sich diese Konstellation in einer Sammlung von politischen Traktaten, die ein anderer Neoharringtonianer zwei Jahre vor Bolingbrokes „Remarks on the History of England“ veröffentlicht hatte. In schöner Symmetrie stellte Walter Moyle in einer Select Collection of Tracts (1728) einen

298 Zum englischen Tacitismus des 18. Jahrhunderts vgl. Howard D. Weinbrot, Politics, Taste, and National Identity: Some Uses of Tacitism in Eighteenth-Century Britain. In: Tacitus and the Tacitean Tradition, hg. von Torrey J. Luce und Anthony J. Woodman, Princeton 1993, S. 168–184; Gerrard, The Patriot Opposition to Walpole, S. 113–116. 299 Vgl. vor allem den 12. Brief der „Dissertation upon parties“ (Bolingbroke, Political Writings, S. 111–121). 300 Elizabeth Rawson, The Spartan Tradition in European Thought, Oxford 1969, S. 200. Ausführlich zur Präsenz von Sparta im englischen Diskurs des 16. bis 18. Jahrhunderts vgl. hier vor allem das Kapitel „The Revolutionary Period in England“, S. 186–201.

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„Essay upon the Roman Government“ neben einen „Essay upon the Lacedaemonian Government“301. Stärker als Bolingbrokes Römer und Germanen wiesen Moyles Spartaner dabei eine martialische Disposition auf, der das Element des Krieges im Diskurs der Republik betonte. Nicht zuletzt in militärischer Hinsicht habe Sparta sich als „chief among all Grecians“ erwiesen: Als der griechische Philosoph Diogenes nach einer Reise von den Lakedämoniern zu den Athenern heimgekehrt sei, habe er sich gefühlt, als käme er „from Men to Women“, so durchgreifend sei die kriegerische Disziplin in Sparta gewesen. An ihnen fand Moyle den Beweis dafür, dass die republikanische Freiheit im Altertum einen wahren „Excess of Courage“302 hervorgebracht habe. Für das absolutismuskritische Projekt von Charles de Montesquieu enthielt dieser britische Zugriff auf die Republik nun ein doppeltes Potential, um die Spiegelungen zwischen französischem Absolutismus und römischer Kaiserzeit in Frage zu stellen. Nicht nur lieferte ihm die politische Literatur des Commonwealth ein Rom-Paradigma, das eine Affinität zur frühneuzeitlichen Antiromanitas besaß und das der stolzen Pariser Selbstinszenierung damit strukturell entgegengesetzt war. Besonders die Affinität zwischen Republik und Krieg bot einen scharfen Gegensatz zur saturiert-irenischen Selbstinszenierung, die man am französischen Hof aus der frühen römischen Kaiserzeit abgeleitet hatte. Diesen Dualismus baute Montesquieu in der Folge weiter aus, indem er das ‚andere‘ Rom der Considérations mit einer eminent kriegerischen Note versah. Zugleich fand der französische Philosoph in der angedeuteten, aber kaum ausgeführten theoretischen Relation zwischen politischen principles und nationalem spirit einen Ausgangspunkt, um die neu erschlossenen Altertümer gesellschaftstheoretisch zu vertiefen. Beide Projekte sollen im Folgenden näher in den Blick genommen werden.

2.3 Kriegsgemeinschaften: ‚Neue Antiken‘ um 1750 (Montesquieu, Rousseau) Im Notizbuch von Charles de Montesquieu findet sich im Jahr 1744 ein kurzer Eintrag, der unter der Überschrift „Idée juste de quelques Gouvernements“ ein bemerkenswertes Panorama von Republiken entfaltet. „Quelle est donc la constitution d’Angleterre?“, fragte der Franzose, um sich die Antwort selbst in Form

301 Walter Moyle, A Select Collection of Tracts; Containing, I. An Essay upon the Roman Government. II. Remarks upon Dr. Prideaux’s Connection of the Old and New Testament. III. An Essay upon the Lacedaemonian Government. IV. An Argument against a Standing Army, Dublin 1728. Zu Moyle vgl. auch Nelson, The Greek Tradition in Republican Thought, S. 134–139. 302 Moyle, An Essay upon the Roman Government, S. 89.

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eines Vergleichs zwischen dem englischen, dem römischen und dem spartanischen Staat vor Augen zu stellen: C’est une monarchie mêlée, comme Lacédémone, surtout avant la création des éphores, fut une aristocratie mêlée; comme Rome, quelque temps après l’expulsion des Rois, fut une démocratie mêlée. L’Angleterre, comme on a vu, incline plus vers la monarchie. Rome, où le Peuple discutoit et décidoit les affaires, inclina plus vers la démocratie. Lacédémone, où le Peuple n’eut que la décision, inclina plus vers l’aristocratie.303

In wenigen Worten deutet sich in dieser Aufzeichnung eine zweifache Pluralisierung der Antike an, die sich in Montesquieus Schriften seit der Begegnung mit Henry St. John Bolingbroke vollzog.304 Zunächst entwickelte der Philosoph am impliziten Vorbild von England ein Paradigma der antiken Republik, das seit den Considérations sur les causes de la grandeur des Romains et de leur décadence einen negativen Schatten auf das französische Leitbild des augusteischen Roms warf. Doch wie die Notiz andeutet, blieb es nicht dabei. So fächerte er sein Gegenmodell im Laufe einer anhaltenden Beschäftigung mit dem englischen Republikanismus weiter in verschiedene Gemeinschaften der Antike auf, die eine zweite Neuerung erkennen lassen. Neben das alte Leitbild Roms trat bald die griechische Polis Sparta – eine Konkurrenz, die geeignet war, den Römern auch auf kultureller Ebene ihre traditionelle Spitzenstellung streitig zu machen. Bei dieser Verschiffung der englischen Altertumsdiskurse auf den europäischen Kontinent kam es zu einer signifikanten konzeptionellen Verschiebung. So rückte die Leidenschaft für den Krieg, die bisher am Rande der Republiktheorien mitgeführt worden war, jetzt nachdrücklich in ihr Zentrum: Sowohl die Römer der Considérations als auch die Spartaner des Esprit des Lois waren als auffällig martialische Gemeinschaften angelegt. In einem neuen Republikanismus französischer Signatur, den Montesquieu um 1750 begründete und und der bald darauf einen zweiten prominenten Fürsprecher in Jean-Jacques Rousseau bekam,305 erhielt der Krieg mithin zentrale Funktionen, die in diesem Teilkapitel näher in den Blick genommen werden sollen. Dabei verspricht das bereits oben (Kap. I.2.1)

303 Charles Louis de Montesquieu, Œuvres complètes, texte présenté et annoté par Roger Caillois, 2 Bde., Bd. 2, Paris 1951, S. 1048 f. Eine Übersetzung dieser Notiz (Mes pensées, No. 238) liegt derzeit nicht vor. 304 Von einer intensiven Lektüre des Craftsman zeugen Exzerpte, die sich über die 1730er Jahre in den Aufzeichnungen von Montesquieu finden. Vgl. Effi Böhlke, „Esprit de nation“. Montesquieus politische Philosophie, Berlin 1999, S. 54 f., Anm. 1. 305 Vgl. Judith Shklar, Montesquieu and the new republicanism. In: Machiavelli and Republicanism, hg. von Gisela Bock, Quentin Skinner und Maurizio Viroli, Cambridge 1990, S. 265–279.  



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herausgestellte kritische Traditionsverhalten des Franzosen, das seine Hinwendung zu ‚anderen‘ Antiken neben dem augusteischen Rom motivierte, auch weiterhin den analytischen Weg weisen zu können. So wird zu zeigen sein, dass der Entwurf der kriegerischen Antiken Rom und Sparta erneut aus dem Einspruch gegen die alten Legitimationsdiskurse des Absolutismus begründet werden kann. Diese polemische Konstellation zog eine doppelte Arbeit am Krieg nach sich, die hier eingehender betrachtet werden soll. Als Gegenentwurf zum Friedensideal des saturierten Imperiums rückten die gemeinsamen Anstrengungen der römischen Soldaten nun ins Zentrum von zwei englisch inspirierten Ansätzen, politischen Zusammenhalt ‚von unten‘ zu entwerfen. Sowohl im Zuge von Montesquieus Konzept des politischen principe, das von der Ordnung eines Staates ausging (Kap. I.2.3.1), als auch in seinem Entwurf des esprit, der Kultur, Geschichte und Lebensweise eines Volkes in den Fokus rückte (Kap. I.2.3.2), wurden dem Krieg neue und grundlegende Funktionen der sozialen Kohäsion zugesprochen, die im Folgenden profiliert werden sollen.

2.3.1 Das principe der Republik: Konzeptuelle Pluralisierung In seinen Considérations erwies Montesquieu sich als aufmerksamer Leser der englischen Republikdiskurse. Gleich auf den ersten Seiten seiner Schrift setzte sich der Franzose das Ziel, aus den kleinen Anfängen einer italischen Stadt, die noch kaum diesen Namen verdient habe,306 das „principe du Gouvernement“307 abzuleiten, aus dem binnen kurzer Zeit die Weltmacht Rom hervorgegangen sei. Diese Terminologie stellte unverkennbar eine Verbindung zu Bolingbroke her, der die Rede vom politischen Prinzip eingeführt hatte (Kap. I.2.2.2); die Diagnose, zu der Montesquieu kam, muss vor dem Hintergrund der republikanischen Tradition freilich überraschen. Seit der Renaissance hatte man die politische Triebfeder der Republik in einer Freiheitsliebe identifiziert, die sowohl die Freiheit von einem Alleinherrscher als auch die Freiheit von egoistischen Antrieben beinhaltete.308

306 Dementsprechend lauten die ersten Sätze der Considérations: „Man darf sich von der Stadt Rom in ihren Anfängen keine Vorstellung machen, die der unserer heutigen Städte gleicht, es sei denn, es wären Städte der Krim, die erbaut wurden, um Beute, Vieh und Ernte zu bergen.“ (Montesquieu, Betrachtungen über die Ursachen von Größe und Niedergang der Römer, S. 3). 307 OC, Bd. 2, S. 94. Zur systematischen Relevanz, die der Begriff principe im ersten Kapitel der Considérations besitzt, vgl. Richard Myers, Montesquieu on the Causes of Roman Greatness. In: History of Political Thought 16:1 (1995), S. 37–49, hier: S. 41–45. 308 Zur Zentralstellung der Kategorie ‚Freiheit‘ in der Theorie der Republik vgl. Helmut G. Koenigsberger, Schlußbetrachtung. Republiken und Republikanismus im Europa der frühen Neu-

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Anders lagen die Dinge jedoch in den Considérations. Denn hier war es der Krieg, der zum Prinzip der römischen Größe aufstieg. Unmissverständlich formulierte Montesquieu: Eine Nation, die sich fortwährend und dazu noch aus Staatsprinzip im Kriege befindet, müßte notwendigerweise entweder untergehen oder mit allen anderen fertigwerden. Diese anderen, die zeitweise im Kriege und zeitweise im Frieden lebten, waren niemals in gleicher Weise zum Angriff geeignet oder zur Verteidigung vorbereitet.309

Die Kontexte, in denen sich der Krieg als Prinzip der römischen Republik manifestierte, muss man in den Considérations insofern nicht lange suchen. Die ersten Seiten der Schrift zeichnen das Bild einer „complete dedication to war“,310 die laut Montesquieu auf den kampflustigen Charakter der Römer zugeschnitten war. „Der Krieg war dem Volke fast stets willkommen“,311 postulierte er und lieferte dafür eine doppelte Begründung. Zum einen hätten die Römer von Natur aus die Neigung zum Krieg besessen – darin seien sie den benachbarten Sabinern zu vergleichen gewesen, die sich unter denselben klimatischen Bedingungen entwickelt hätten.312 Zum anderen habe Rom sich nach dem Ende der Königszeit eine Verfassung gegeben, die seiner kriegerischen Leidenschaft auch institutionell die nötigen Anreize geliefert habe. So habe das Zusammenspiel von politischen Akteuren in einer Mischverfassung entscheidend mitbefördert, dass die Stadt seit der Einrichtung der Republik in einen „immerwährenden und gewalttätigen Krieg[ ]“313 eingetreten sei. Da die Konsuln ihren „Ehrgeiz“ auf ein einziges Amtsjahr hätten konzentrieren müssen, hätten sie den Römern „täglich neue Feinde“ zur Bewährung gezeigt; und auch der Senat habe ein vitales Interesse daran

zeit aus historischer Sicht. In: Republiken und Republikanismus im Europa der Frühen Neuzeit, hg. von dems. und Elisabeth Müller-Luckner, München 1988, S. 285–302, v. a. S. 285–287 sowie Martin von Gelderen, Quentin Skinner, Introduction. In: Republicanism. A Shared European Heritage, hg. von dens., 2 Bde., Bd. 1: Republicanism and Constitutionalism in Early Modern Europe, Cambridge 2002, S. 1–6. 309 Montesquieu, Betrachtungen über die Ursachen von Größe und Niedergang der Römer, S. 8. 310 Myers, Montesquieu on the Causes of Roman Greatness, S. 41. Zu einem analogen Urteil kommen zahlreiche weitere Studien. So bezeichnet Rahe das Rom der Considérations als „warlike in extreme“ (Rahe, The Book That Never Was, S. 71). Shklar formuliert: „Rome was always bent on war and conquest was its only passion“ (Shklar, Montesquieu and the new republicanism, S. 267). Senarclens hält in ihrer Analyse der Considérations schließlich fest: „Montesquieu attribue la grandeur de Rome à son orientation militaire“ (Senarclens, Montesquieu historien de Rome, S. 160). 311 Montesquieu, Betrachtungen über die Ursachen von Größe und Niedergang der Römer, S. 7. 312 Montesquieu, Betrachtungen über die Ursachen von Größe und Niedergang der Römer, S. 4. 313 Montesquieu, Betrachtungen über die Ursachen von Größe und Niedergang der Römer, S. 8.  

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entwickelt, das widerständige Volk möglichst unablässig „außerhalb der Mauern zu beschäftigen“314. Kurzum: Montesquieu entwarf ein Rom, das ganz auf den militärischen Konflikt eingestellt war. Im Prinzip des Krieges identifizierte er dabei zugleich das Geheimnis der römischen Größe. Denn wenn die Könige der römischen Frühzeit die Kontrolle über das Volk behalten hätten, so gab er zu bedenken, dann wäre Rom als „kleine und arme Monarchie“ für immer in einer „unbedeutenden Mittelmäßigkeit“ verblieben; unter einem Monarchen hätte das „stolze[ ], unternehmende[ ] und kühne[ ]“ Volk mit der Zeit „gemäßigtere Sitten“ annehmen müssen.315 Von Beginn an bezogen die Considérations somit eine Position, die das ‚eigentliche‘ Rom auf seine Anfänge festlegte, in denen der Krieg als Dreh- und Angelpunkt eines gemeinschaftlichen politischen Handelns fungiert hatte – und das daher ohne die Weisungen eines Monarchen ausgekommen war. Damit formulierte Montesquieu eine These, deren Provokationsgehalt im französischen Diskurs des 18. Jahrhunderts gar nicht überschätzt werden kann. In den antiken Römern wurde den Lesern statt des Gipfels der Zivilisation ein ungeschliffenes Volk vor Augen gestellt, das den Krieg als „einzige Kunst“316 anerkannte; seine Könige und Kaiser wurden von Garanten des römischen Erfolges zu dessen Antagonisten umgedeutet. Mit der These vom kriegerischen Prinzip des römischen Staates eröffnete Montesquieu somit einen Gegendiskurs zum absolutistischen Rekurs auf die Antike, in dem er seinen Blick zugleich auf die Potentiale der politischen Größe ‚Gemeinschaft‘ richtete. Im Zeichen des Krieges setzte er zu gesellschaftstheoretischen Reflexionen an, die im Folgenden eingehender zu betrachten sein werden.

2.3.1.1 Krieg und Republik Die Suche nach dem politischen Prinzip der römischen Republik führte Montesquieu nicht zufällig zurück zu ihrer historischen Stunde Null. Programmatisch ging er davon aus, dass die Triebkraft für Roms Aufstieg in den wenig zivilisierten Anfängen dieses Staats zu suchen sei: Ein junges, kriegerisches Volk habe sich auf ein System der „Plünderung“317 verlassen, weil noch keine weiteren Regeln sein Zusammenleben strukturiert hätten; diese erfolgreiche Kriegsorientierung sei

314 Montesquieu, Betrachtungen über die Ursachen von Größe und Niedergang der Römer, S. 7. 315 Montesquieu, Betrachtungen über die Ursachen von Größe und Niedergang der Römer, S. 4 f. 316 Montesquieu, Betrachtungen über die Ursachen von Größe und Niedergang der Römer, S. 13: Das 2. Kapitel der Considérations widmet sich daher vollständig der „Kriegskunst der Römer“. 317 Montesquieu, Betrachtungen über die Ursachen von Größe und Niedergang der Römer, S. 8.  

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dann in der Folge zum Staatsprinzip erhoben worden. Der Doppeltitel des ersten Kapitels der Considérations, „Die Anfänge Roms – Seine Kriege“,318 schließt mithin aufs Engste an die Staatstheoretiker an, mit denen Montesquieu sich in England vertraut gemacht hatte (Kap. I.2.2). Wie Machiavelli ging der Franzose davon aus, dass Roms Anfänge die politischen Grundsätze enthielten, die das Geschick des Staates bestimmt hatten,319 und wie Bolingbroke fragte er darüber zugleich nach dem (Erfolgs-)Prinzip der Republik.320 Die Antwort, die Montesquieu anbot, setzte jedoch klar einen eigenen Akzent. Gleich zu Beginn der Considérations rückte die Kampfbereitschaft der Römer bei ihm in eine Schlüsselfunktion, indem sie beide Aspekte des Prinzip-Begriffs besetzte: Als Anfang und als Ursache des römischen Aufstiegs fungierte nun der Krieg. Erste Ansatzpunkte für eine Assoziation von Krieg und Republik finden sich, wie oben gezeigt, sowohl bei Machiavelli als auch im englischen Diskurs.321 318 Montesquieu, Betrachtungen über die Ursachen von Größe und Niedergang der Römer, S. 3; im französischen Original lautet die Terminologie der Überschrift „1. Commencemens de Rome. 2. Ses guerres“ (OC, Bd. 2, S. 89). 319 Mit Blick auf die Considérations und auf Montesquieus Bolingbroke-Exzerpte hat Robert Shackleton die These aufgestellt, dass Montesquieu sein zunächst negatives, durch den französischen Diskurs bedingtes Urteil über Machiavelli unter dem Eindruck der englischen Impulse revidiert habe. Das Resultat dieser zweiten Auseinandersetzung mit Machiavelli, vor allem mit den Discorsi, seien die Considérations (Shackleton, Montesquieu and Machiavelli: a reappraisal, v. a. S. 128–131). 320 Der Einfluss des Briten zeigt sich auch in einer Verschiebung der Fragestellung. Statt wie Machiavelli aus praktischem Interesse danach zu fragen, „why Roman methods were good, why ancient maxims proved successful“ (Herbert Butterfield, The Statecraft of Machiavelli, London 1960, S. 77), habe Montesquieu nach der übergeordneten Logik des römischen Handelns gesucht. 321 In der Tat besaß der Krieg im Werk des oft verfemten Staatstheoretikers, der von Grund auf durch das Adelsethos der italienischen Renaissance geprägt war und die Umstrukturierung des Kriegswesens für eine der dringlichsten Aufgaben im instabilen Florenz hielt, entscheidende moralische und pragmatische Funktionen. Gerade die Discorsi bauten auf einer konstitutiven Analogie zwischen dem Forum und dem Schlachtfeld auf, wie Neal Wood herausgearbeitet hat: „Machiavelli’s politico is cast in the mould of the warrior, and the standard of excellence of one is not so different from that of the other.“ Die Vorbildlichkeit des Kriegers leite sich dabei zum einen daraus her, dass Machiavelli das politische Feld der Republik prinzipiell als „a battleground for individuals and parties struggling for power“, und das heißt: als „a kind of war“ auffasse. Andererseits stehe modellhaft eine Heeresordnung im Hintergrund, wenn der Florentiner imaginiere, wie die römische Republik von den Konsuln bis hinunter zum einfachen Bürger zusammenwirke: „Machiavelli’s special sense of virtù refers to a style of conduct of all warriors, from the simple soldier to the great general. They are all members of an army, which is a rationally organized, hierarchical institution. Ideally, the commander by reason of his position at the top of the hierarchy is a better soldier than those below him in the pyramidal structure. Theoretically, if not always in practice, position in the hierarchy corresponds to merit.“ (Neal Wood, Machiavelli’s Concept of Virtù Reconsidered. In: Political Studies 15 (1967), S. 159–172, hier: S. 170 f.).  



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Erheblich ausgebaut, erhielt das Kriegsthema bei Montesquieu jedoch zahlreiche neue, durchaus ambivalente Funktionen, deren Integration zu den notorischen Herausforderungen bei einer Analyse der Considérations zählt. Gleichwohl lässt sich die Beziehung zwischen den positiven und negativen Konnotationen des Krieges plausibel rekonstruieren, wenn man die implizite Konkurrenz von Montesquieus Republik mit dem kaiserzeitlichen Rom-Paradigma des Absolutismus im Hinterkopf behält. In der jüngeren Forschung hat eine solche Rivalität zwischen den beiden Varianten der römischen Antike indes noch kaum Beachtung gefunden. So hat man die Considérations vor allem auf den politischen Subtext hin gelesen, der hervortritt, wenn man die Schrift über Rom neben die unpublizierten Réflexions sur la monarchie universelle hält (Kap. I.2.1). Dabei ist argumentiert worden, dass Montesquieus Fokus auf der unentwegten Kriegsführung der Römer nicht zuletzt von einer Skepsis gegenüber den einsetzenden imperialen und kolonialen Bestrebungen des frühen 18. Jahrhunderts inspiriert gewesen sei, die in der Schwesterschrift unter dem Stichwort ‚Universalmonarchie‘ verhandelt wurde. „Empire“, schreibt Judith Shklar, „was on the agenda of every European state, and Montesquieu meant to deglamorise it.“322 Diese Perspektive privilegiert einen kriegskritischen Subtext, der sich mit Blick auf das Projekt ‚Imperium‘ tatsächlich aus den Considérations heraushören lässt. Dies wird vor allem an einer darstellerischen Grundsatzentscheidung deutlich. Montesquieu begab sich in seiner Schrift auf die Suche nach dem Faktor, der Roms Aufstieg und Niedergang auseinander hervorgehen ließ;323 diesen identifizierte er sodann in der Expansion, die mit den militärischen Erfolgen der Römer unaufhaltsam fortgeschritten sei. Der Übergang vom einen Rom-Paradigma ins andere war in den Considérations insofern weniger eine Frage der Zeit als eine des Raumes. „Si la grandeur de l’Empire perdit la République, la grandeur de la Ville ne la perdit pas moins“,324 formulierte Montesquieu bewusst doppeldeutig. Der Grund für den Verfall der Republik wird hier durch ein Wortspiel auf den Punkt gebracht: Mit den fortgesetzten kriegerischen Eroberungen habe die römische Machtsphäre allmählich ein Ausmaß angenommen, das die politische und soziale Ordnung der Republik zersetzt habe. Entgegen naheliegenden Erwartungen, dass die Formulierung „la grandeur de l’Empire“ den politischen Ruhm des römischen Staates aufrufe, reduzierte

322 Shklar, Montesquieu and the new republicanism, S. 267. 323 Shklar schreibt zu dieser Entscheidung: „Machiavelli, while he does mention later events, wisely quit with the Punic wars. But as part of his debunking enterprise Montesquieu went all the way to the final decline and fall.“ (Shklar, Montesquieu and the new republicanism, S. 267). 324 OC, Bd. 2, S. 154.

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Montesquieu Roms Größe also auf eine territoriale Dimension.325 Dabei machte er unmissverständlich klar, dass eine solche Politik der grandeur für ihn in einem antagonistischen Verhältnis zur moralischen Größe der frühen Römer stand. Sobald Rom seine Feldzüge nach Norden wie nach Süden über die natürlichen, geographischen Grenzen seines Einflussbereichs hinausgeführt habe, so seine These, sei auch die innere Bindung ans politische Zentrum schwächer geworden. In dem Maße, wie die Truppen in den entfernten Provinzen sich im wörtlichen und im übertragenen Sinne daran gewöhnt hätten, „die Stadt aus dem Blick zu verlieren“ („à regarder de loin la Ville“),326 habe ihre ursprüngliche politische Tugend nachgelassen. Ohne Bürgergeist, betonte Montesquieu, könne eine Republik jedoch nicht lange existieren: Solange die Herrschaft Roms in Italien ihre Grenzen hatte, konnte die Republik leicht bestehen. Jeder Soldat war zugleich Bürger, jeder Consul hob ein Heer aus, und unter dem Amtsnachfolger zogen jeweils andere Bürger in den Krieg. Da die Truppenstärke nicht sonderlich groß war, war man darauf bedacht, nur solche Leute in das Bürgerheer aufzunehmen, die genug Besitz hatten, um an der Erhaltung der Stadt ein Interesse zu haben. Zudem beobachtete der Senat das Verhalten der Heerführer aus nächster Nähe und nahm ihnen jeden Gedanken, etwas gegen ihre vorgeschriebene Pflicht zu tun. Als jedoch die Legionen die Alpen und das Meer überschritten, verloren die Soldaten, die man für die Dauer mehrerer Feldzüge in den Ländern, die man unterwarf, zu belassen gezwungen war, nach und nach den Bürgersinn. Und die Heerführer, die über Armeen und Königreiche verfügten, wurden sich ihrer Macht bewußt und konnten nicht mehr bedingungslos gehorchen.327

325 In der deutschen Übersetzung von Schuckert kommen diese beiden Sinnebenen von ‚Größe‘ nicht heraus; hier wird interpretierend übersetzt: „Wenn die Ausdehnung des Reiches die Republik umstürzte, so trug die Ausdehnung der Stadt nicht weniger zu ihrem Untergange bei.“ (Montesquieu, Betrachtungen über die Ursachen von Größe und Niedergang der Römer, S. 74). – Prägnant tritt Montesquieus Programm in dem Titel hervor, den er zunächst für die Schrift vorgesehen hatte. An der Stelle von grandeur sollte ursprünglich agrandissement stehen: Vergrößerung. Der Titel, unter dem er seinen Text in einem Brief an Lady Hervey ankündigte, lautete dementsprechend Considérations sur les causes de l’agrandissement des Romains et de leur décadence (Gonthier, Montesquieu and England, S. 194, Anm. 64). Noch nach der Publikation der Schrift erschien in der Bibliothèque françoise eine Notiz, die folgenden Namen für die Schrift verwendete: Considérations sur les causes de l’agrandissement et de la décadence de la République romaine (Andrivet, Volpilhac-Auger, Introduction. In: OC, Bd. 2, S. 40). 326 Montesquieu, Betrachtungen über die Ursachen von Größe und Niedergang der Römer, S. 74; OC, Bd. 2, S. 154. 327 Montesquieu, Betrachtungen über die Ursachen von Größe und Niedergang der Römer, S. 73 f. Die topographische Restriktion, die Montesquieu damit für die Republik aussprach, bringt Jean Goldzink auf den Punkt. „Il eût fallu“, fasst er das Argument zusammen, „que Rome restât  

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Bemerkenswert an dieser Stelle ist, dass sie die Expansionskritik mit einem ausdrücklichen Lob der Kriegsmoral verbindet. So wird ein Zusammenhang zwischen Bürgersinn, Kriegsethos und kleinem Staatsgebiet etabliert: Der Verfall Roms habe darauf beruht, dass die territoriale Ausdehnung des Machtbereichs sich antiproportional zur militärischen Disziplin der Römer entwickelt habe. Solange Rom „in einem sehr kleinen Umkreise [seine Kräfte anspannen mußte]“,328 hätten sich die Soldaten zu einer „ununterbrochene[n] Anstrengung“ verpflichtet, „die ihre Kraft vermehr[t]“329 und auf ein gemeinsames Ziel ausgerichtet habe. Doch sobald die Distanz zur Stadt ihnen erlaubt habe, ihren Einsatz statt an der Gemeinschaft an der „Freigebigkeit“330 ihres Feldherrn zu messen, habe eine Spirale der Entdisziplinierung eingesetzt, die Rom letztlich zugrunde gerichtet habe.331 Zum Paradox verdichtet, lautete Montesquieus Diagnose: Rom „verlor seine Freiheit, weil es sein Werk zu früh vollendete“332. An diesem komplexen Argument wird deutlich, dass sich die Funktionen des Krieges in den Considérations nicht so strikt auf die Expansion beschränken lassen, wie es bislang geschehen ist. Vielmehr lässt sich die zitierte Stelle so lesen, dass Montesquieu auf engstem Raum zwei Ansichten des Krieges gegeneinander ausspielte, die sich bereits in Machiavellis Discorsi finden. Mit Blick auf „external matters“333 hatte auch dieser den Krieg als Werkzeug der Eroberung profiliert. „Da ich im vorigen Buch von den inneren Angelegenheiten des römischen Staates gesprochen habe“, beginnt das 2. Buch der Discorsi, „so will ich nunmehr davon reden, wie das römische Volk gehandelt hat, um seine Herrschaft zu vergrößern.“334 Klar ist, dass jede Expansion aus der Sicht des Italieners dabei

dans Rome, au moins en Italie, pour rester une république sage“ (Jean Goldzink, Montesquieu et les passions, Paris 2001, S. 63). 328 Montesquieu, Betrachtungen über die Ursachen von Größe und Niedergang der Römer, S. 10. 329 Montesquieu, Betrachtungen über die Ursachen von Größe und Niedergang der Römer, S. 14. 330 Montesquieu, Betrachtungen über die Ursachen von Größe und Niedergang der Römer, S. 105. 331 Montesquieu, Betrachtungen über die Ursachen von Größe und Niedergang der Römer, S. 162. Zu diesem Zusammenhang vgl. ausführlich das 19. Kapitel, dessen Titel sich wie eine unheilverheißende Inhaltsangabe liest: „Die Machtgröße Attilas – Ursachen der Ansiedlung der Barbaren – Gründe, warum das weströmische Reich niedergeworfen wurde“. 332 Montesquieu, Betrachtungen über die Ursachen von Größe und Niedergang der Römer, S. 78. 333 Zum Aufbau der Discorsi vgl. Evrigenis, Fear of Enemies and Collective Action, S. 59 f., hier: S. 59. 334 Machiavelli, Discorsi. Gedanken über Politik und Staatsführung, Vorwort, S. 169.  

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uneingeschränkt positiv zu bewerten gewesen war. Die Frage „Wie das Territorium markieren, wie es befestigen, wie es schützen oder vergrößern?“ zielte bekanntlich auf „das traditionelle Problem der Souveränität“335 – des nicht zuletzt von Machiavelli selbst ausgearbeiteten Herrschaftstyps, bei dem es im Kern darum ging, das ererbte oder eroberte Eigentum eines Fürsten zu verteidigen.336 Eine andere Funktion hatte der Krieg dagegen in den übrigen Büchern der Discorsi erhalten. Denn hier hatte der Florentiner sich der inneren Ordnung der Republik und ihrer praktischen Führung zugewandt und dabei auch darüber nachgedacht, wie Kriege den Gemeinsinn der Bürger erhalten und verstärken könnten.337 Im Grunde gab es den Krieg in den Discorsi folglich zweimal: erstens als Maßnahme für die Politik nach außen, zweitens als Werkzeug für die Politik nach innen. Für Machiavelli hatten beide Bereiche dabei ineinandergegriffen: Außen- wie innenpolitisch hatte ihm der Krieg als Instrument der Staatskunst gegolten, das dem Politiker zur Verfügung stehe, um ein Gemeinwesen so sicher wie möglich aufzustellen. Dagegen ließ Montesquieu die außenpolitische Funktion des Krieges in den Considérations kalkuliert mit der innenpolitischen kollidieren. Der Kritik an der externen Expansion wurde nun ein Diskurs zur Seite gestellt, in dem der Krieg als Faktor der inneren Kohäsion dezidiert positiv besetzt wurde: In dem Maße, wie Montesquieu die negativen Effekte der territorialen Eroberungen herausarbeitete, wertete er im Gegenzug die integrative Kraft auf, die der Krieg entfaltet habe, solange das Territorium der Römer in fest definierten Grenzen geblieben sei. Die Abwehr des Eroberungsimperativs kann damit als Index dafür gelesen werden, dass der Krieg vom Paradigma des souveränen Herrschens über ein Territorium in das eines gouvernementalen Regierens hinüberzuwechseln begann, in dem es stattdessen auf das richtige Leiten und Führen der Bevölkerung ankam.338

335 Michel Foucault, Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Geschichte der Gouvernementalität I. Vorlesung am Collège de France 1977–1978. Aus dem Französischen von Claudia Brede-Konersmann und Jürgen Schröder, Frankfurt a. M. 2006, Vorlesung 3, S. 100. 336 Vgl. Foucault, Sicherheit, Territorium, Bevölkerung, Vorlesung 4, S. 140. Vgl. auch die 1. Vorlesung: „Man könnte so auf den ersten Blick auf eine etwas schematische Weise sagen: Die Souveränität richtet sich auf die Grenzen eines Territoriums, die Disziplin richtet sich auf die Körper der Individuen, und die Sicherheit richtet sich auf die Gesamtheit einer Bevölkerung.“ (Foucault, Sicherheit, Territorium, Bevölkerung, Vorlesung 1, S. 27). 337 Machiavellis zentrales Beispiel für die positive Wirkung des Krieges im Inneren, nämlich die Rückkehr zu den guten Anfängen und die Stärkung der politischen Tugend, ist bereits in Kapitel I.2.2.2 zur Sprache gekommen. 338 Vgl. Foucault, Sicherheit, Territorium, Bevölkerung, Vorlesung 4, S. 155–159.  

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Diese einheitsstiftende Funktion des Krieges, die Montesquieu für die frühe, auf Italien beschränkte Republik entwarf, wird zumeist allzu schnell übergangen. Viele Interpreten lesen die Considérations vom fatalen Ende der Römer her und projizieren die antiexpansive Lehre als antikriegerische Moral an den Anfang der Schrift zurück. In dieser Lesart erscheint der Gemeinschaftsentwurf der Republik entweder als Kulisse, die Montesquieu lediglich errichtete, um sie umso effektvoller einreißen und sich auf diese Weise gegen die imperiale Politik des 18. Jahrhunderts wenden zu können, oder er stellt aufgrund der Dominanz des Krieges per se ein Schreckensszenario dar. „Montesquieu’s Rome is not a benefactor conferring peace and prosperity: it is a predator“339: So lautet ein verbreiteter Tenor der Forschung, der hier von Paul A. Rahe ausgesprochen wird. Das Ziel der Considérations bestehe demnach darin, die Leser vom antiken Vorbild zu entwöhnen. Im Zuge der Lektüre solle die gewohnte Ehrfurcht vor den Römern in „horror and disgust“340 übergehen. Um eine Ablösung von Rom ging es zweifellos. Ein Blick auf die Rezeption von Montesquieus Schrift sollte jedoch Anlass dazu geben, diese These differenzierter zu fassen. So weisen die französischen Antikendiskurse des 18. Jahrhunderts klar darauf hin, dass die Zeitgenossen sich lediglich von den Römern der zweiten, dekadenten Hälfte der Considérations abwandten: Das hat Chantal Grell in ihrer großen Studie Le Dix-Huitième Siècle et l’Antiquité en France 1680–1789 überzeugend herausgearbeitet.341 Zugleich hat sie gezeigt, dass die kriegerische Frühzeit Roms bei der jungen Autorengeneration in Frankreich auf begeisterten Zuspruch stieß: „[E]n effet, l’expérience des cités républicaines acquit, aux yeux des contemporains, une actualité qu’elle n’avait jamais eue.“342 Für diese Faszination gibt es einen guten Grund, der im kalkulierten Traditionsverhalten Montesquieus zu sehen ist. Denn mit der Ersetzung eines kultivierten durch ein kriegerisches Rom wandte er sich gezielt gegen Elemente, auf denen die in die Krise geratene Rom-Analogie das Ancien Régime aufgebaut hatte: gegen die Vorherrschaft eines Einzelnen, der Kultur und der Moral.

339 Rahe, The Book That Never Was, S. 74. 340 Rahe, The Book That Never Was, S. 77. 341 Vgl. Grell, Le Dix-Huitième Siècle et l’Antiquité en France 1680–1789, Bd. 1, S. 451–454; S. 462–465; S. 498–500. 342 Grell, Le Dix-Huitième Siècle et l’Antiquité en France 1680–1789, Bd. 1, S. 453. Eine besonders wichtige Lehrer-Schüler-Beziehung, der Rahe selbst später einen ausführlichen Aufsatz gewidmet hat, bestand dabei zwischen Montesquieu und dem jungen Jean-Jacques Rousseau (Paul A. Rahe, The Enlightenment Indicted: Rousseau’s Response to Montesquieu. In: The Journal of the Historical Society 8:2 (2008), S. 273–302).

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In diesem Sinne lag die Attraktivität der römischen Kriegergemeinschaft gerade darin, dass sie die antiken Selbstbespiegelungen des französischen Absolutismus diskurslogisch konterkarierte. So kippten alle Vorzüge des ehemaligen Leitbilds in ihr Gegenteil, indem Montesquieu die Kriegsliebe zu demjenigen Kriterium erhob, an dem sich das Rom des Aufstiegs und das des Niedergangs voneinander schieden. Auf dieser Basis wurde nicht nur die vormals gepriesene Friedensherrschaft des Augustus zum bloßen militärischen Unvermögen umgedeutet. „Ich glaube, daß Octavian der einzige unter allen römischen Feldherrn war, der die Zuneigung der Soldaten durch unaufhörliche Proben angeborener Feigheit gewann“,343 verspottete Montesquieu den späteren Kaiser Augustus. Unter dessen Regentschaft sei es nämlich Usus geworden, das Heer nur noch mit Geld statt mit Ruhm zu entlohnen: So wie man zu republikanischen Zeiten den Grundsatz gehabt hatte, ständig Krieg zu führen, so war es unter den Kaisern Grundsatz, den Frieden zu erhalten. Die Siege wurden nur als Anlässe zu Unruhen bei den Heeren angesehen, die ihre Dienste zu einem zu hohen Preise in Rechnung stellen konnten.344

Aus diesem Grund hätten die Nachfolger des Augustus sich später sogar ganz vom kostspieligen Krieg abgewandt, um ihr „rauhes Wesen“ stattdessen am römischen Volk auszulassen. „Die Bürger“, so Montesquieu, „wurden jetzt so behandelt, wie sie selbst die besiegten Feinde behandelt hatten und wurden auch nach denselben Methoden und Grundsätzen regiert.“ Die kollektive Eintracht der kriegerischen Republik sei unter den Kaisern mithin durch die „furchtbare Tyrannei“345 eines Einzelnen abgelöst worden. Und noch weitere ehemalige Vorzüge der Kaiserzeit wurden im Zeichen des Krieges ins Negative verkehrt. Nicht nur gerieten die pompösen Kunst- und Bauprogramme in den Considérations unter Beschuss. Sie wurden als Zeichen einer kriegsentwöhnten „Weichlichkeit“346 angeprangert, unter der die Herrscher „bis zum Irrsinn verschwenderisch“347 geworden seien. Zusätzlich geriet auch der

343 Montesquieu, S. 105. 344 Montesquieu, S. 110. 345 Montesquieu, S. 121. 346 Montesquieu, S. 148. 347 Montesquieu, S. 128.

Betrachtungen über die Ursachen von Größe und Niedergang der Römer, Betrachtungen über die Ursachen von Größe und Niedergang der Römer, Betrachtungen über die Ursachen von Größe und Niedergang der Römer, Betrachtungen über die Ursachen von Größe und Niedergang der Römer, Betrachtungen über die Ursachen von Größe und Niedergang der Römer,

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römische Reichtum ins Visier. So machte Montesquieu den „Luxus der römischen Soldaten“,348 die sich ihre Folgsamkeit hätten teuer bezahlen lassen, für die Zersetzung des Gemeinschaftssinns verantwortlich. Die Folge sei eine Disziplinund Prinzipienlosigkeit gewesen, unter der die Armee des Imperiums von Barbarenvölkern „zusammengehauen“ worden sei, deren Darstellung verdächtig an die heroischen Römer der Frühzeit erinnerte. „[K]riegerischer“ als die Spätgeborenen, hätten die Barbaren aus intrinsischen Antrieben den Konflikt gesucht, permanent die Gelegenheit zur „Plünderung“ erzwungen und sich so zuletzt gegen die Übermacht der Römer durchgesetzt. Schonungslos resümierte Montesquieu: Nicht allein durch die Kriegskunst gelangten die Römer zur Herrschaft über alle Völker, sondern auch durch ihre Klugheit, ihren Weitblick, ihre Standhaftigkeit und ihre Liebe zu Ruhm und Vaterland. Als unter den Kaisern diese Tugenden alle erloschen, blieb ihnen allein die Kriegskunst, mit deren Hilfe sie trotz der Schwäche und Tyrannei ihrer Herrscher bewahrten, was sie erworben hatten. Aber als die Verderbnis sogar auf das Heer übergriff, wurden sie die Beute aller Völker.349

Offensichtlich hat man es in Montesquieus Darstellung also mit einem binären Modell zu tun: Während das Prinzip des Krieges in der Zeit der Republik gleichsam als unsichtbare Hand fungiert habe, die alle Bürger auf das Gemeinwohl eingeschworen habe, sei dieser Blick für das Ganze im Frieden der Kaiserzeit verloren gegangen. Anders gesagt, stand das kriegerische Rom der Republik in den Considérations für eine vorteilhafte Gemeinschaftlichkeit, die befriedete Kaiserzeit dagegen für einen schädlichen Egoismus. Führt man sich diese Konkurrenz zwischen den beiden Rom-Paradigmen am Anfang und am Ende der Considérations vor Augen, dann wird deutlich, dass Montesquieu die Republik mithilfe des Krieges als ein neues, alternatives Rom entwarf, das seine Attraktivität gerade aus seiner polemischen Qualität bezog. Das Staatsprinzip des Krieges war dabei keineswegs zufällig gewählt, sondern stellte nach den Regeln des tradierten, dual strukturierten Antikendiskurses den Gegenpol des angestammten Kulturideals heraus, der mit der etablierten Perspektive auf die Römer unvereinbar war.350 In diesem Sinn richtete Montesquieu die Republiktheorie auf ein neues Ziel aus und arbeitete am Beispiel des Krieges eine Ansicht des Staates heraus, die statt des starken Souveräns die starke Gemeinschaft in den Mittelpunkt stellte. Bei ihm regulierte der Krieg das Zusammenleben

348 Montesquieu, Betrachtungen über die Ursachen von Größe und Niedergang der Römer, S. 160. 349 Montesquieu, Betrachtungen über die Ursachen von Größe und Niedergang der Römer, S. 161 f. 350 Vgl. Grell, Le Dix-Huitième Siècle et l’Antiquité en France 1680–1789, Bd. 2, S. 1057.  

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einer Bürgerschaft, in der sich die Interessen jedes einzelnen mit der Erwartung an sein „politisches Verhalten“351 im Einklang befanden, weil beides auf die ursprünglichen Dispositionen der Römer zurückging. Diese Einmütigkeit erhielt dabei den Namen einer starken Leidenschaft, die wiederum in bewusster Konkurrenz mit der Tradition ausgewählt war: den der Liebe.

2.3.1.2 Krieg und Liebe In der römischen Republik der Considérations evozierte Montesquieu eine Gemeinschaft, in der sich die Interessen verschiedenster Akteure im Krieg begegneten, um durch ihr Zusammenspiel eine besondere Einigkeit hervorzubringen. In dem politischen Gefüge, das der Franzose beschrieb, waren die Organisation von Macht, Besitz und Militär so genau auf die Lebensbedingungen der Römer abgestimmt, dass daraus eine Balance aus Motivation und Kontrolle entstand. Statt einer klugen Staatskunst brauchte es hier nur den Krieg, damit alle Bürger zusammenstanden. Mit der Vision eines Roms, das seine Stärke aus einem „shared civic ethos“352 bezog, legte Montesquieu den Grundstein für einen ‚new republicanism‘, der bis zum Ende des 18. Jahrhunderts florierte.353 Dabei konzentrierte sich sein Ideal der inneren Kohäsion in einer Empfindung, die er zum Erfolgsgeheimnis der republikanischen Staatsform ausrief. So seien die Römer der Considérations zu ihrer besten Zeit durch „einen Geist“ verbunden gewesen, der sich durch „ein- und dieselbe Liebe zur Freiheit“, „Liebe zur Gleichheit“ und „Liebe zum Vaterland“354 ausgezeichnet habe. In diesen Formulierungen vollzog sich eine Annäherung von Krieg und Liebe im Zeichen der Republik, die für Montesquieus Werk charakteristisch bleiben würde: Auch in seinem Hauptwerk, dem Esprit des Lois, wurde die Liebe zum Vaterland (amour de la patrie) als Triebfeder der Republiken profiliert.355 Mit dieser Verbindung von Krieg und Liebe entwickelte Montesquieu einen Diskurs der Republik, der für seine Zeit mehr als ungewöhnlich war. Wie weitreichend – und auch wie konfliktträchtig – diese Assoziation war, kann ein Abgleich mit den bisherigen Theorien der res publica zeigen. Denn wo immer der

351 Foucault, Sicherheit, Territorium, Bevölkerung, Vorlesung 8, S. 287. 352 Shklar, Montesquieu and the new republicanism, S. 266. 353 Shklar, Montesquieu and the new republicanism, S. 265: „Montesquieu did for the latter half of the eighteenth Century what Machiavelli had done for his century, he set the terms in which republicanism was to be discussed.“ 354 Montesquieu, Betrachtungen über die Ursachen von Größe und Niedergang der Römer, S. 75 f. 355 Shklar, Montesquieu and the new republicanism, S. 268.  

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Krieg zuvor als Anreiz zur Stärkung des sozialen Zusammenhalts erwogen worden war, hatte man dabei mit einem anderen, dezidiert negativen Affekt kalkuliert: mit der Furcht. Die Denkfiguren, die hinter dieser Engführung von Krieg, Republik und Furcht standen, sollen kurz charakterisiert werden, damit Montesquieus Reaktion danach eine umso klarere Kontur erhalten kann. Eine Republik, so hatte nämlich nicht zuletzt Machiavelli in den Discorsi geraten, müsse in regelmäßigen Abständen entweder durch einen äußeren Feind existenziell unter Druck geraten oder Zeuge harter Bestrafungen werden, damit die Bürger auf diesem Weg in „neue Furcht“356 versetzt würden und zur erwünschten politischen Tugend zurückfänden. Mit der Überzeugung, dass Furcht der Schlüsselaffekt sei, um die „moral energy“ in einem Staat zu stärken und „political unity“ zu erhalten,357 nahm der Renaissance-Autor eine weitverbreitete Position aus der Antike auf.358 In der griechischen wie in der römischen Literatur war diese Denkfigur so geläufig, dass sich kein einzelner Urheber feststellen ließe.359 Mit Blick auf die Rezeption in der Frühen Neuzeit hat Neal Wood diese Lehre der Furcht dennoch zu Recht als „Sallust’s Theorem“360 bezeichnet. Denn nicht nur war es der römische Geschichtsschreiber Sallust gewesen, der die zirkulierenden Exempla über die politische Furcht zu einem allgemeinen staatstheoretischen Prinzip zusammengefasst hatte, das die moralische Korruption im Ausgang der römischen Republik erklären sollte.361 Zudem waren Sallusts Über-

356 Machiavelli, Discorsi. Gedanken über Politik und Staatsführung, S. 286. 357 Daniel J. Kapust, On the Ancient Uses of Political Fear and its Modern Implications. In: Journal of the History of Ideas 69:3 (2008), S. 353–373, hier: S. 359. 358 Unter Rückgriff auf antike Texte leitete Machiavelli eine Linie des frühneuzeitlichen Nachdenkens über die Furcht als politisches Instrument ein. Dieser Rezeption haben sich im Anschluss an den hervorragenden Aufsatz von Neal Wood, Sallust’s Theorem: A Comment on ‚Fear‘ in Western Political Thought. In: History of Political Thought 16:2 (1995) (hier v. a. S. 183–185) eine Reihe von neueren Studien gewidmet. Vgl. darunter vor allem Evrigenis, Fear of Enemies and Collective Action, S. 48–71, v. a. S. 64–71 sowie Benedetto Fontana, Sallust and the Politics of Machiavelli. In: History of Political Thought 24:1 (2003), S. 86–108. Diese Arbeiten bilden ein differenzierendes Gegengewicht zu den Studien, die sich nach dem 11. September 2001 den Funktionen der Furcht in der politischen Theorie der Neuzeit gewidmet und die antiken Furchtdiskurse dabei auf eine „aspiration to virtue“ festgelegt hatten (Kapust, On the Ancient Uses of Political Fear, S. 354). Vgl. symptomatisch Corey Robins Ideengeschichte, die historisch erst bei Hobbes einsetzt (Corey Robin, Fear. The History of a Political Idea, Oxford 2004). 359 Unter den Autoren, die auf diese Vorstellung Bezug nahmen, waren Xenophon, Platon und Aristoteles, Thukydides, Poseidonios, und Polybios sowie Sallust und Livius. Schon bevor gegen Ende der römischen Republik eine Furchttheorie ausgearbeitet wurde, gab es folglich einen „commonplace“ über die politische Funktion der Furcht (Donald C. Earl, The Political Thought of Sallust, Cambridge 1961, S. 47). 360 Vgl. Wood, Sallust’s Theorem.  



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legungen durchgehend im Gedächtnis der christlichen Kultur geblieben, weil der Kirchenvater Augustinus ihn als Kronzeugen für die Verdorbenheit der heidnischen Epoche herangezogen hatte362 Im Prinzip umkreiste Sallusts historiographisches Werk von der Verschwörung Catilinas über den Krieg mit Jugurtha bis zu den Historien (alle 1. Jh. v. Chr.)363 mithin eine einzige Diagnose, bei der die Furcht im Mittelpunkt stand.364 Am detailliertesten wurde sie im Krieg gegen Jugurtha entfaltet. Hier ging Sallust der Ursache für das „Unwesen der Parteiungen und Cliquenbildungen“ nach, das die römische Gemeinschaft bis in seine Gegenwart spaltete. Seiner Beobachtung zufolge ließ sich der „turning point“365 exakt identifizieren, an dem Rom seine Einigkeit verloren habe. Die anhaltende Zwietracht im Staat, so Sallusts Theorie, sei als Effekt „der Friedensruhe und des Überflusses an Gütern“ zu verstehen, die Rom das erste Mal mit dem Ende der Punischen Kriege 146 v. Chr. zugelassen habe:  



Denn vor der Zerstörung Karthagos trieben das römische Volk und der Senat friedlich und besonnen miteinander Politik; es gab unter den Bürgern keinen Streit, weder um Geltung noch um Herrschaft; Furcht vor dem Feind (metus hostilis) hielt die Bürgerschaft bei ihren guten Eigenschaften. Sobald aber diese Angst aus dem Bewußtsein geschwunden war, drang verständlicherweise das ein, was der Wohlstand gerne mit sich bringt: Zügellosigkeit und Überheblichkeit. So war die in bedrängter Lage ersehnte Friedensruhe, als man sie erlangt hatte, erst recht hart und herb. Denn es begann nun die Nobilität ihr Prestige, das Volk seine Freiheit in Willkür zu verkehren: jeder erbeutete, raubte und plünderte zu seinem Vorteil. So wurde alles in zwei Parteien auseinandergerissen, wurde der Staat, der in der Mitte war, zerstückelt.366

361 Evrigenis, Fear of Enemies and Collective Action, S. 46. Schon vor Sallust hatte Poseidonios die negative Prognose konkretisiert, auf die Polybios’ Zyklus der Verfassungen zulief, und zwei Dekadenztheorien verflochten: eine, die Machtzuwachs mit moralischem Verfall koppelte, und eine, die ein böses Omen in Karthagos Ende erblickte. Vgl. die ausgezeichnete Einordnung von Ursula Hackl, Poseidonios und das Jahr 146 v. Chr. als Epochendatum der antiken Historiographie. In: Gymnasium 87 (1980), S. 151–166. 362 Vgl. Wood, Sallust’s Theorem, S. 174 f., Anm. 1 sowie S. 179 f.: Augustinus wehrte damit in De Civitate Dei den gängigen Vorwurf ab, dass Roms Niedergang dem Christentum anzulasten sei. 363 Alle drei Texte entstanden im Jahrzehnt zwischen der Ermordung Caesars (44 v. Chr.), dem der Autor politisch verbunden war, und seinem eigenen Tod (34 v. Chr.). Vgl. Werner Eisenhut, Sallust – Leben und Werk. In: Gaius Sallustius Crispus, Werke: Lateinisch und deutsch von Werner Eisenhut und Josef Lindauer, München, Zürich 1985, S. 371–396, hier: S. 373 f. 364 So Earl, The Political Thought of Sallust, S. 115. 365 Earl, The Political Thought of Sallust, S. 187. 366 Sall. Iug. 41, 1–4. Deutsch zitiert aus Sallust, Werke, S. 165. Vor diesem Hintergrund deutete Sallust im Anschluss den Aufstieg der Gracchen und ihre Reformversuche.  











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Im Versuch, den politischen Mechanismus hinter den aktuellen Machtkämpfen in Rom zu isolieren, brachte Sallust die Entwicklung der Republik auf ein einfaches Schema. Solange die Römer im Krieg um die Vorherrschaft am Mittelmeer gelegen hätten, habe Furcht vor dem Feind für Eintracht im Staat gesorgt; seitdem sie jedoch die Stadt ihrer Rivalen zerstört hätten, habe sich das Verhältnis umgekehrt: Mit dem Frieden nach außen habe sich ein permanenter Krieg nach innen eingestellt.367 Hinter dieser Dichotomie stand im Kern wiederum das republiktheoretische Kardinalproblem „of maintaining focus on the common good“,368 wie sich an den begrifflichen Verschiebungen durchspielen lässt, die Sallust vornahm. So war die ideale kriegerische Vergangenheit, in der die Römer nur den guten Wettstreit um die Verteidigung ihrer Stadt kannten, bei ihm als Gegenbild zu einer schlechten Situation konzipiert, in der nur noch um Geltung und Macht gekämpft wurde („neque gloriae neque dominationis certamen inter civis erat“369). Wie leicht die eine Orientierung dabei in die andere zu kippen drohte, machte Sallust durch eine doppelte Verwendung des Begriffes Ruhm (gloria) klar. In der vorbildlichen römischen Frühzeit habe man ehrenvoll darum konkurriert, wer am meisten für den gemeinsamen Ruhm gestritten habe: [J]eder drängte sich, den Feind zu treffen, eine Wehrmauer zu ersteigen, und bei einer solchen Heldentat auch gesehen zu werden. Darin lag für sie Reichtum, darin guter Ruf und hoher Adel. Nach Anerkennung waren sie gierig, mit Geld freigebig; Ruhm wollten sie ungeheuer viel, an Reichtum nur den sittlich gerechtfertigten.370

In dieser Form habe das Ruhmstreben noch zur politischen Tugend beigetragen, weil es an gute Taten für den Staat gekoppelt gewesen sei. Sobald der Kampf um „gloriam honorem imperium“ in der Friedenszeit aber zum „end in itself“371 geworden sei, habe ein egoistischer, eigennütziger Machthunger (ambitio) eingesetzt, der seither im Verbund mit Habgier (avaritia) zum Motor für Roms moralischen Verfall geworden sei.372 Sozialgeschichtlich ist es reizvoll, diese Idee vor dem Hintergrund der Verschränkung von Staats- und Kriegsdienst in den antiken Republiken zu betrachten. Der Geschichtsschreiber, der auf dem üblichen Karriereweg in Rom auch

367 Vgl. Kapust, On the Ancient Uses of Political Fear, S. 368. 368 So Daniel J. Kapust, Republicanism, Rhetoric, and Roman Political Thought. Sallust, Livy, and Tacitus. Cambridge 2011, S. 29. 369 Sall. Iug. 41, 2. 370 Sall. Cat. 7, 6 f.; Sallust, Werke, S. 15. 371 Earl, The Political Thought of Sallust, S. 17. 372 Vgl. Sall. Cat. 11, 1–3.  

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militärische Funktionen durchlaufen hatte, dachte die Führung eines Staats offenbar von der Führung eines Heeres her: Sobald der Krieg vorüber war, fürchtete man, dass die Disziplin in der „fighting unit“373 nachließ. Zumal in Rom besaß diese Übergängigkeit während der Republik ein Pendant in der sozialen Struktur, wie Wood bemerkt. „[T]he Roman military state had always been dominated and led by a body of élite commanders who managed affairs and the example for their citizen-soldiers; from the civil aspect, the duality of patricians and plebeians.“374 Wenn Sallust den Krieg heranzog, um ein Modell der sozialen Einigkeit zu entwickeln, ließ sich das folglich auch als Reaktion auf die unklare politische Situation seiner Zeit verstehen. So war nach Caesars Tod nicht abzusehen gewesen, wie der römische Staat in Zukunft strukturiert sein würde; in der Krise des Krieges diagnostizierte der adelige Historiker, Politiker und General eine Krise der alten, militärisch strukturierten Ordnung der antiken Republik.375 Konzise formuliert, lautete Sallusts Befund somit wie folgt: „,Fear of an external enemy promotes internal societal unity.‘“376 Dabei ging es, wie sich an seiner Argumentation verfolgen lässt, nicht nur darum, die Identität der eigenen Gruppe durch Abgrenzung von Feinden zu konstruieren.377 Zugrunde lag vielmehr die Frage, wie der grundsätzliche Antrieb der Bürger, ihr Bedürfnis nach Ruhm, in der richtigen Bahn gehalten werden könne. Mit den griechischen Historikern Thukydides, Polybios und Poseidonios gab der Römer die Überzeugung an die Frühe Neuzeit weiter, dass dies nur dann möglich sei, wenn das menschliche Rangstreben aktiv im Zaum gehalten werde.378 „The three Greek historians

373 So erneut Wood, Sallust’s Theorem, S. 182. 374 Wood, Sallust’s Theorem, S. 182. 375 Den Kontext der politischen und ökonomischen Umstellungen betont Raban von Haehling, Krisenwahrnehmung in den Prooemien spätrepublikanischer und kaiserzeitlicher Geschichtsschreiber. In: Die Wahrnehmung von Krisenphänomenen. Fallbeispiele von der Antike bis in die Neuzeit, hg. von Helga Scholten, Köln, Weimar, Wien 2007, S. 65–82, hier: S. 65. 376 Wood, Sallust’s Theorem, S. 181. 377 Dennoch ist dieses Potential natürlich gegeben. Evrigenis unterscheidet in seinen systematischen Überlegungen in diesem Sinne zwischen dem Aspekt der „group formation“ und der „selfpreservation“. Die Funktion von Furcht für die Selbsterhaltung beschreibt er folgendermaßen: „When this concern is heightened, and threats to survival and security loom large, individuals and small social groups find a bond in their common fear that enables them to set their differences aside and unite in the pursuit of goals that are otherwise unattainable.“ (Evrigenis, Fear of Enemies and Collective Action, S. xiii). 378 Die „lust for power“ stellt Evrigenis als Zentrum von Sallusts Anthropologie heraus (Evrigenis, Fear of Enemies and Collective Action, S. 39). Unter der analogen Prämisse, „daß die Menschen nur von Not [necessità] gezwungen etwas Gutes tun“, hob Machiavelli die paradigmatische Beziehung zwischen Krieg und Tugend schließlich in der Frühen Neuzeit auf eine systematische Ebene. Auch bei ihm schaffte der Krieg einen erwünschten Druck, für den sonst der Gesetz-

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shared a view of egoistic human nature“, so Wood, „believing that men will only act well under compulsion.“379 Umso bemerkenswerter scheint Montesquieus Transformation dieser wirkmächtigen Theorie. Auch bei ihm fungierte die Zeit der Punischen Kriege in den Considérations als diejenige Periode, in der die Gemeinschaft der Römer am stärksten gewesen sei. Doch ein ausgedehnter Vergleich, der Roms Überlegenheit über Karthago begründet, hebt hier eine andere Ursache der Kohäsion hervor als die Furcht. Den Nachteil der afrikanischen Stadt identifizierte Montesquieu dabei in ihrem ausgeprägten Handelsgeist. Denn wo in der Politik „alles, was die Öffentlichkeit dem Einzelnen geben kann, gegen Geld verkauft und jeder vom Einzelnen geleistete Dienst vom Staate bezahlt“ worden sei, da sei das partikulare Interesse am finanziellen Gewinn auch im Wettstreit mit Rom vor das Gemeinwohl getreten. Diesen Gedanken fasste Montesquieu wie folgt zusammen: „Die Römer waren aus Stolz ehrgeizig [ambitieux par orgueil], die Karthager aus Geiz [par avarice]. Die einen wollten gebieten, die anderen verdienen. Und da die letzteren ständig Einnahmen und Ausgaben berechneten, führten sie den Krieg, ohne ihn zu lieben.“380 Und genau dieses affektive Moment machte für Montesquieu den Unterschied: Wo die Karthager ihre Kampfbereitschaft von der „raison“,381 d. h. von ökonomischen Erwägungen abhängig gemacht hätten,382 hätten die Römer ausschließlich für ihren „Ruhm“383 gestritten und seien aus „passion“384 in den Krieg gezogen. Montesquieus These lautete dementsprechend: „Nichts ist mächtiger als eine Republik, in der man die Gesetze nicht aus Furcht und nicht aus Vernunftgründen, sondern aus Leidenschaft befolgt, so wie es in Rom und Sparta geschah.“385  

geber zu sorgen hätte, und die Furcht vor dem Feind ermöglichte, dass sich unter den Bürgern einer Republik ein Gemeinschaftsgefühl einstellte. Vgl. Machiavelli, Discorsi. Gedanken über Politik und Staatsführung, 3, S. 17; Machiavelli, Opere, Bd. 2,1, S. 31. 379 Wood, Sallust’s Theorem, S. 176. Vgl. auch Kapust, On the Ancient Uses of Political Fear, S. 367. 380 Montesquieu, Betrachtungen über die Ursachen von Größe und Niedergang der Römer, S. 25 f.; OC, Bd. 2, S. 112. 381 OC, Bd. 2, S. 112. 382 Vgl. Montesquieu, Betrachtungen über die Ursachen von Größe und Niedergang der Römer, S. 26: „Verlorene Schlachten, Bevölkerungsverluste, Erschöpfung der öffentlichen Mittel“ hätten die Karthager „zur Annahme der härtesten Friedensbedingungen“ bewegen können. 383 Montesquieu, Betrachtungen über die Ursachen von Größe und Niedergang der Römer, S. 27. 384 OC, Bd. 2, S. 112. 385 Montesquieu, Betrachtungen über die Ursachen von Größe und Niedergang der Römer, S. 27.  

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In diesem Affektprogramm manifestiert sich ein bemerkenswerter Umbau der moralischen Ökonomie, der sowohl die skizzierte moralische Geschichtsdeutung der Römer als auch den Korruptionsdiskurs des frühneuzeitlichen Republikanismus auf den Kopf stellte.386 Entgegen der gängigen Deutungen war das tiefliegende Begehren nach Ruhm, die ambitio, danach nicht Roms Fehler gewesen, sondern sein größtes Potential. Statt die Leidenschaften als Risiko zu betrachten, erhob Montesquieu diese zum effektiven Anreiz für das erfolgreiche Handeln einer politischen Gemeinschaft. Roms Tugend beruhte für ihn nicht auf einer Furcht vor dem Feind, sondern auf einer Liebe zum Krieg, und damit: zum Prinzip, zu den Gesetzen und zu den Regeln des eigenen Staats. Die Umwertung des Krieges zum Objekt einer affirmativen Leidenschaft, die der Lehre der Furcht diametral entgegenstand, ist wiederum als provokantes Manöver zu bewerten, mit dem sich Montesquieu als Virtuose des Traditionsverhaltens bewies. So lassen sich seine Aussagen zu den Gemeinschaftsprinzipien der Republik klarer konturieren, wenn man die impliziten Gegenpositionen in den etablierten Staats- und Gesellschaftslehren rekonstruiert, wie die Forschung zu Recht betont hat.387 Seine Abgrenzung wurde umso wirkungsvoller, weil das Gegenbild zur Monarchie strategisch auf einem Angebot der frühneuzeitlichen Gesellschaftstheorie aufgebaut war, das bisher jedoch als bloße Utopie behandelt worden war. Denn wenn Montesquieu von Liebe sprach, visierte er damit den Komplementärbegriff zur Furcht an, wie Machiavelli ihn in den Horizont der politischen Theorie eingeführt hatte.388

386 Zum moralischen Paradigma, das die römische Reflexion über Staat und Politik dominierte, ließen sich zahlreiche Studien anführen. Hier sei nur eine Auswahl gegeben: Franz Hampl, Römische Politik in republikanischer Zeit und das Problem des „Sittenverfalls“. In: Das Staatsdenken der Römer, hg. von Richard Klein, Darmstadt 1962, S. 143–177; Erich Koestermann, Das Problem der römischen Dekadenz bei Sallust und Tacitus. In: Aufstieg und Niedergang der römischen Welt, hg. von Hildegard Temporini und Wolfgang Haase, Teil I, Bd. 3, Berlin, New York 1973, S. 781–810; Barbara Levick, Morals, Politics, and the Fall of the Roman Republic. In: Greece & Rome 29:1 (1982), S. 53–62. 387 Vgl. Elena Russo, The youth of moral life: the virtue of the ancients from Montesquieu to Nietzsche. In: Montesquieu and the spirit of modernity, hg. von David W. Carrithers und Patrick Coleman, Oxford 2002, S. 101–123, hier: S. 101. 388 Zu Recht stellt Andreas Bähr heraus, dass es sich bei Furcht und Liebe um ein komplementäres Begriffspaar gehandelt habe (Andreas Bähr, Die Furcht vor dem Leviathan. Furcht und Liebe in der politischen Theorie des Thomas Hobbes. In: Saeculum. Jahrbuch für Universalgeschichte 61:1 (2011), S. 73–97, hier: S. 73, Anm.*). Für Machiavelli, für die späteren Klugheitslehren wie für die Theoretiker der Souveränität Bodin und Hobbes, bei denen die Furcht unter neuen Prämissen wichtig wurde, habe daher gegolten: „Furcht oder Liebe, das ist nicht die Frage.“ (Bähr, Die Furcht vor dem Leviathan, S. 78).

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Einschlägig für die Dichotomie von Furcht und Liebe ist das berühmte 17. Kapitel des Principe, in dem Machiavelli mit Blick auf die Alleinherrschaft die „Streitfrage“ behandelt hatte: „[I]st es besser, geliebt oder gefürchtet zu werden oder umgekehrt?“ Das Votum war hier wie folgt ausgefallen: Am besten sei beides, aber im Zweifelsfall sei es „viel sicherer, gefürchtet als geliebt zu werden“389. Über ein Beispiel der römischen Historie, den Vergleich zwischen Scipios Milde und Hannibals Grausamkeit gegenüber ihren Soldaten, hatte dieses Argument seinen Weg auch in die Discorsi gemacht. Gewiss war die Heeresführung als Alleinherrschaft im Kleinen gedacht, wenn Machiavelli hier erneut betonte, Menschen würden „von zwei Haupttrieben beherrscht, von Liebe und von Furcht“. Sein Vergleich zwischen beiden Potentialen der Herrschaft hatte dabei wie im Principe darauf hinausgeführt, dass durch die Furcht „mehr Gehorsam“390 erzielt werden könne als durch die Liebe. Klar wird somit: Die Liebe war als denkbares Prinzip der Folgebereitschaft schon seit langer Zeit durch die Theorien der Monarchie und der Republik gegeistert; doch im Zeitalter der Souveränität hatte man ihr noch nicht das alleinige Vertrauen schenken mögen. Zu dieser angedeuteten, aber nicht ausgeführten Option in der Staatstheorie der Frühen Neuzeit griff nun Montesquieu. Damit erschloss er sich zugleich einen Weg, um soziale Kohäsion jenseits von monarchisch-ständischen Ordnungen zu konzipieren. Denn über das Schlagwort ‚Liebe‘ kennzeichnete er die natürlichen Übereinstimmungen in einer antiken Gesellschaft, die er in einer konstitutiven Hinsicht einfacher entwarf als die moderne. Das Prinzip der Ehre, das im Esprit des Lois zum politischen Prinzip der aktuellen Monarchien erhoben wurde, akzentuiere demnach mittlerweile „nicht so sehr das Verbindende gegenüber unseren Mitbürgern“, sondern „das, was uns von unseren Mitbürgern unterscheidet“391. Das vertraute Königtum zeichnete sich für Montesquieu durch ein System von Rangstufen aus, das auf Distinktion ausgerichtet war. Aus diesem Grund sei man in der Gegenwart auf Gesetze angewiesen, die sicherstellen müssten, „daß jeder zum Gemeinwohl beiträgt, auch wenn er glaubt, nur seine Sonderinteressen

389 Niccolò Machiavelli, Der Fürst. „Il Principe“, übersetzt und hg. von Rudolf Zorn, 6. Aufl., Stuttgart 1978, S. 68. 390 Machiavelli, Discorsi. Gedanken über Politik und Staatsführung, 21, S. 358. 391 Charles [Louis] de Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, übersetzt und hg. von Ernst Forsthoff, 2 Bde., 2. Aufl. (photomechanischer Nachdruck der Erstaufl. Tübingen 1951), Tübingen 1992, Bd. 1, Buch IV, Kap. 2, S. 48. Aus dieser Ausgabe wird im Folgenden nach dem Kürzel GdG mit der Angabe des Bandes, des Buches, des Kapitels und der Seitenzahl zitiert. – Vor diesem Hintergrund definiert Binoche die Ehre als „amour de l’inégalité“ (Binoche, Introduction à De l’esprit des lois, S. 121).

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zu verfolgen“392. Dagegen entwarf der Franzose an der Republik der Römer eine Vision antiker Gemeinschaft, in der sich die Harmonie zwischen den Einzelinteressen wie von selbst eingestellt habe. Dazu schreibt Elena Russo: The strength of the Roman virtue lies not in the absence of selfish drives (that is, the calculation of utility) and devotion to the public welfare. In other words, the Romans did not differentiate between their personal, individual interest and that of their nation, because they did not see themselves as separate beings, independent of the community. The Romans were just as selfish and greedy as the moderns – in fact, even more so – but their civil and military organisation was such that it was able to integrate those vices and put them into the service of public utility.393

Bemerkenswert ist, wie entschieden Montesquieu mit dieser Darstellung dem tradierten Wertekatalog für die Republik widersprach. Moralität spielte für ihn eine untergeordnete Rolle; solange das Interesse des Einzelnen mit dem des Staats konvergierte, war seine sittliche Qualität für ihn nachrangig. Somit konnte die republikanische Leitkategorie der virtù in der Folge neu besetzt werden. Entscheidend für die politische Tugend bei Montesquieu war, dass sie auf den grundlegendsten sozialen Empfindungen basierte. So erklärte der Philosoph, der „Grundsatz des immerwährenden Krieges“ habe die Römer „fortwährend der grausamsten Rache ausgesetzt“, so dass sich unter ihnen „des vertus necessaires“394 herausgebildet hätten, nämlich „Standhaftigkeit und Tapferkeit“: „Diese Tugenden konnten bei ihnen von der Liebe zu sich selbst, zu Familie, Vaterland und allem, was dem Menschen heilig ist, nicht unterschieden werden.“395 In dieser Formulierung kam es zu einer eigentümlichen Überlagerung von kriegerischer Tapferkeit und Liebe zur Gemeinschaft, zu der die Forschung kritisch angemerkt hat: „At Rome, […] distinctions were blurred“396. Doch die Considérations setzen den Akzent anders: Montesquieus Interesse richtete sich gezielt auf das Zusammenwirken von notwendigen (necessaires), d. h. existenziellen Affektantrieben, das sich eingestellt habe, weil die Verbindungen zwischen dem Einzelnen, der Familie und dem Staat für die Römer im permanenten Krieg „in a more material, instinctive way“397 gegenwärtig gewesen seien.  

392 GdG, Bd. 1, III, 7, S. 41. 393 Russo, The youth of moral life, S. 112 f. 394 OC, Bd. 2, S. 94. Hier im Französischen zitiert, da der wichtige Begriff „vertus“ in der Übersetzung aus dem Satz herausfällt. 395 Montesquieu, Betrachtungen über die Ursachen von Größe und Niedergang der Römer, S. 9. 396 Rahe, The Book That Never Was, S. 72. 397 Russo, The youth of moral life, S. 115.  

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Mit dieser Verknüpfung von Republik und Liebe bewegte sich Montesquieu selbstverständlich nicht in einem leeren Diskursraum. Auch schon vor ihm hatte der „amour de la patrie“398 einen Platz im topischen Arsenal des Republikanismus besessen. So war der amore della patria in Machiavellis Discorsi zweimal aufgetaucht,399 davon einmal an titelgebender Stelle. „Ein guter Bürger soll aus Vaterlandsliebe persönliche Beleidigungen vergessen“, hatte Machiavelli das Kapitel 3, 47 überschrieben. Und auch in Bolingbrokes Publizistik hatten sich vereinzelt Texte gefunden, die das Verhältnis zur englischen Verfassung als „Love of Country“ evoziert hatten.400 In beiden Fällen dokumentierte sich die traditionelle Fundierung des Republikanismus in der römischen Staatsphilosophie. Besonders Cicero hatte intensiv an einer Affektivierung der res publica gearbeitet, indem er sie konzeptuell mit der Heimatstadt, der patria, überblendet hatte und die richtige Einstellung zu dieser aus einem Gefühl abgeleitet hatte, das ein Bürger gegenüber den Göttern und Eltern empfinden solle.401 Der lateinische Zentralbegriff lautete insofern nicht amor, erotische Liebe, sondern caritas: Dieses Wort bezeichnete eine Zuneigung, die von Respekt und Ehrfurcht geprägt war.402 Metonymisch hatte diese caritas patriae bereits in der römischen Literatur für die Gesamtheit aller sozialen Beziehungen gestanden, in die ein Bürger der Republik eingebunden war. Nicht zufällig hatte Cicero im Dialog De officiis seinen eigenen Sohn angesprochen, um ihm einzuschärfen: Aber wenn du alles mit Vernunft und Überlegung betrachtest, dann ist von allen Gesellschaftsbindungen keine wichtiger, keine teurer als diejenige, die ein jeder von uns mit dem Gemeinwesen hat. Geliebt [cari] sind die Eltern, geliebt auch die Kinder, Verwandten und

398 Montesquieu, Œuvres complètes, Bd. 2, S. 274. 399 Vgl. die Stellenübersicht in William J. Landon, Politics, Patriotism and Language. Niccolò Machiavelli’s „Secular Patria“ and the Creation of an Italian National Identity, New York 2005, S. 147–154. 400 Vgl. No. 54 (15. Juli 1727). In: Henry St. John Bolingbroke: Contributions to the Craftsman, hg. von Simon Varey, Oxford 1982, S. 18–22: Hier nahm der ‚Craftsman‘ den Tod eines politischen ATRIOTISM M “ zu reflektieren, d. h. über den Einsatz für „the more Mitstreiters zum Anlass, um über „P ATRIOTIS general concerns of the Publick“ (S. 18 f.). 401 Vgl. Hannah Arendt, The Human Condition, Chicago 1958, S. 120–124 sowie Hirschi, The Origins of Nationalism, S. 50–77. 402 Maurizio Viroli, For Love of Country. An Essay on Patriotism and Nationalism, Oxford 1995, S. 19. In De Partitione oratoria hatte Cicero die drei wesentlichen affektiven Antriebe des Menschen nach ihren Objekten unterschieden: die caritas, die sich auf die Götter, das Vaterland und die Eltern bezog; den amor, der Geschwister, Ehepartner, Kinder und Freunde einschloss; die honestas, die Tugenden motivierte – vor allem diejenigen, die der Herstellung von Gemeinschaft und Freiheit dienten (Cic. Part. 56).  



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Vertrauten, aber alle Liebesbande zu allen umschlingt die eine Vaterstadt [omnes omnium caritates patria una complexa est].403

Mit diesem Modell der Vaterlandsliebe war Cicero den Herausforderungen begegnet, die sich im 1. Jahrhundert v. Chr. stellten. Weil Rom mittlerweile zu groß und disparat geworden war, um noch eine einheitliche geographische terra patria imaginieren zu können, hatte er das Vaterland mit der politischen Ordnung gleichgesetzt, die für die Bürger aller Provinzen gleichermaßen gegolten hatte. Die Grundfrage, die hinter seinem Entwurf eines römischen Bürgerethos gestanden hatte, hatte mithin gelautet, wie ein „patrie de droit“404 geliebt werden könne. Das erklärt, warum das Vaterland im berühmten patriotischen Trikolon seiner Tuskulanen erst an der dritten und letzten Stelle auf die Gesetze und die Freiheit folgt, die eine abstrakte politische Entität zuallererst konstituierten – „convenit dimicare pro legibus, pro libertate, pro patria“405. Bis zu diesem Punkt bewegte sich Montesquieu im gleichen Begriffsnetz wie seine Vorgänger. Trotzdem ist sein Liebesdiskurs aus zwei Gründen als ein Novum zu bewerten. An erster Stelle ist dabei die Zentralfunktion zu nennen, die Montesquieu der patriotischen Empfindung in seinem Modell der Republik zuwies. Denn während sich die Diskurselemente für die früheren Staats- und Gesellschaftstheoretiker, wie oben gesehen, entlang der Relation von Freiheit und Tugend organisierten hatten, rückte er eine Synthese aus Liebe und Tugend an die Spitze der republikanischen Leitvorstellungen. Symptomatisch dafür ist der Übergang von den Considérations zum Esprit des Lois, in dem sich die Kategorie des principe signifikant verschob. Hatte der Krieg als principe de gouvernement in der früheren der beiden Schriften noch als „the object of a passion“ fungiert, konzentrierte sich das politische Prinzip in Montesquieus Hauptwerk in der „passion“ selbst, in der Liebe zum Krieg und zum Vaterland.406  

403 Cic. off. I, 57. Deutsch zitiert nach Marcus Tullius Cicero, De officiis. Vom pflichtgemäßen Handeln. Lateinisch/Deutsch, übersetzt, kommentiert und hg. von Heinz Guntermann, Stuttgart 2003, S. 53. 404 Claudia Moatti, Occidere pro patria: quelques réflexions sur le patriotisme. In: Anabases 12 (2010), S. 137–147, hier: S. 140. 405 Cic. Tusc. IV, 43; ins Deutsche übertragen: Es gehöre sich für einen römischen Bürger, für die Gesetze, für die Freiheit und für das Vaterland zu kämpfen. 406 Myers, Montesquieu on the Causes of Roman Greatness, S. 43. Deutlich formulierte Montesquieu dieses Affektprogramm im Esprit des Lois: „Zwischen der Natur und dem Prinzip der Regierung besteht folgender Unterschied: Die Natur der Regierung ist das, was sie so sein, das Prinzip, was sie so handeln läßt; […], das Prinzip liegt in den menschlichen Leidenschaften, welche ihre Bewegung bestimmen.“ (GdG, Bd. 1, III, 1, S. 33).

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Neu ist zudem Montesquieus Rekurs auf die frühneuzeitliche Lehre der Seele, die spätestens mit dem Esprit des Lois zum methodischen Signum seiner Gesellschaftstheorie wurde. Von seiner Arbeit an der antiken Republik ausgehend, konzipierte der Franzose nun auch die politischen Prinzipien der anderen Regierungsformen als spezifische „modification[s] de l’âme“,407 die eng aufeinander bezogen waren. Mit Alain Grosrichard lassen sich die Tugend als Prinzip der Republik, die Ehre als Prinzip der Monarchie und die Furcht als Prinzip der Despotie als Varianten einer einzigen Leidenschaft betrachten, die sowohl als Liebe als auch als Furcht bezeichnet werden kann: Thus virtue is based upon love of the homeland; honour upon amour-propre; fear, lastly, upon amour de soi, which corresponds to the basic instinct of self-preservation. But in one form or another fear is likewise inscribed in the principle of each government. In despotism, this is the fear of death; in monarchy, it is the fear of opinion; and lastly, in a republic, it is the fear of the law.408

Im Falle der antiken Republik setzte Montesquieu dabei gezielt auf eine Semantik der Tiefe. So wurde der Rückblick in die frühesten Epochen der menschlichen Gesellschaft mit dem Versprechen aufgeladen, natürlichere Formen des sozialen Zusammenhalts zu erkunden, die auf den grundlegendsten Vermögen der Seele basierten. Was den Zusammenhalt der Republiken im Altertum konstituiert habe, sei demnach „etwas sehr Einfaches“409 gewesen. Die Tugend, definierte Montesquieu im Esprit des Lois, sei nichts anderes die „Liebe zur Republik“, und folglich „ein Gefühl [un sentiment], nicht eine Folge von Kenntnissen; der geringste Mann im Staat kann dieses Gefühl ebensogut haben wie der erste“410. In der Ordnung der Seelenvermögen, nach der er die möglichen Typen von Gesetzen unterschied,411 setze sie somit noch unterhalb der Vernunft an. Die Liebe zur Republik, so Montesquieu, habe den Menschen im Altertum nicht als „physisches“ oder als „vernunftbegabtes Wesen“ erfasst, sondern ganz grundlegend als ein „fühlendes Geschöpf [comme créature sensible]“412.

407 Montesquieu, Œuvres complètes, Bd. 2, S. 227. 408 Alain Grosrichard, The Sultan’s Court. European Fantasies of the East, London 1998, S. 36. Weiter ausgebaut hat diesen Ansatz Singer, Montesquieu and the discovery of the social, S. 51– 54. 409 GdG, Bd. 1, V, 2, S. 62. Vgl. Russo, The youth of moral life, S. 109. 410 GdG, Bd. 1, V, 2, S. 62; Montesquieu, Œuvres completes, Bd. 2, S. 274. 411 Damit ergibt sich eine Übergängigkeit, die sich von den Naturgesetzen über die Gesetze der Affekte bis zu den positiven, juristisch gegebenen Gesetzen erstreckt. Vgl. Singer, Montesquieu and the Discovery of the Social, S. 9–21. 412 GdG, Bd, 1, I, 2, S. 12; Montesquieu, Œuvres complètes, Bd. 2, S. 234.

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Durch diese Aufwertung der Empfindung, die das Bürgerethos der Republik zu einer Sache des Herzens machte, wurde Montesquieus Gemeinschaftsmodell auf einer neuen Ebene anschlussfähig für das Interesse des 18. Jahrhunderts an „Form[en] des Miteinander“ und an „Konzepten von Assoziation“413. Mit der Republik der Antike legte er ein Paradigma eines Staates vor, in dem die politische Zusammengehörigkeit organisch aus der Liebe zur Familie erwuchs und jeden anging – ohne den Weg über soziale Hierarchien machen zu müssen, die als charakteristisch für die moderne Monarchie verstanden wurden. Vor diesem Hintergrund muss auch die neue Attraktivität des Wortes ‚patrie‘ betrachtet werden, dessen Belege um die Mitte des 18. Jahrhunderts sprunghaft anstiegen.414 Sowohl im Französischen als auch im Englischen kam in dieser Zeit es zu einer raschen Etablierung des Neologismus ‚patriotisme‘ bzw. ‚patriotism‘, der erst um 1720 gebildet worden war.415 Neben Montesquieu fungierte dabei auch sein englischer Freund Bolingbroke als ein Multiplikator. Kurz nach dem Erscheinen der Considérations übernahm dieser den Begriff als Erkennungszeichen für sein politisch-publizistisches Programm: Mit seinen Essay On the Spirit of Patriotism wurde der vormalige spirit of liberty im Jahr 1736 an den neuen Begriff gekoppelt.416 Zwei Jahre später folgte dann Bolingbrokes Schrift The Idea of a Patriot King,417 die einen König herbeischrieb, der als liebender Vater handelte418 – eine Idee, die der Kaufmann Richard Glover 1737 begeistert in ein Epos vor spartanischer Kulisse übersetzte.419

413 Wolfram Mauser, Geselligkeit. Eine sozialethische Utopie des 18. Jahrhunderts. In: Ders., Konzepte aufgeklärter Lebensführung. Literarische Kultur im frühmodernen Deutschland, Würzburg 2000, S. 17–49, hier: S. 17, 45. Für die deutsche Literatur stellt Mauser solche politischen Gemeinschaftsmodelle in eine Kontinuität zu den aufgeklärten Entwürfen von Geselligkeit, wenn er auch klar auf die konzeptuellen Trennlinien aufmerksam macht (S. 44–46). 414 Godechot, Nation, Patrie, Nationalisme et Patriotisme en France au XVIIIe Siècle, S. 486– 488. 415 Godechot, Nation, Patrie, Nationalisme et Patriotisme en France au XVIIIe Siècle, S. 489– 491; Dietz, Patriotism, S. 185 f. 416 Vgl. Bolingbroke, Political Writings, S. 193–216. 417 Bolingbroke, Political Writings, S. 217–294. 418 David Armitage, A Patriot for Whom? The Afterlives of Bolingbroke’s Patriot King. In: The Journal of British Studies 36:4 (1997), S. 397–418, hier: S. 405 419 Richard Glover, Leonidas, A Poem, London 1737. Die politischen Verflechtungen beschreibt Johannes Schaaf, Richard Glover. Leben und Werke, Leipzig 1900, S. 10–16. Ein Grund dafür, dass Glovers Leonidas so günstig aufgenommen wurde, bestand darin, dass der Kreis der parlamentarischen Opposition gegen den Premierminister Walpole sich schon seit längerer Zeit eine epische Bearbeitung der eigenen Theorien gewünscht hatte – und zwar am liebsten von Alexander Pope, der dafür jedoch nicht zur Verfügung stand (Gerrard, The Patriot Opposition to Walpole, S. 77– 83).  

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In Glovers Leonidas, der in ganz Europa auf Anerkennung stieß,420 bewies der Titelheld als König, Ehemann und Vater, „that one who dies for his country is dying for his family“421. Sowohl in der französischen Aufklärung als auch in der englischen, die den Umweg über Montesquieus Considérations gemacht hatte, fand mit dem Paradigma der antiken Republik mithin ein neues Gemeinschaftsmodell Eingang in den Diskurs, das die Verbindung zwischen allen Bürgern durch einen betont grundlegenden Affekt in Aussicht stellte; dabei versprach der Krieg, eine solche Liebe zum Vaterland besonders wirkungsvoll stiften zu können.

2.3.2 Die esprits der Republiken: Kulturelle Pluralisierung Mit dem Esprit des Lois wurde die Pluralisierung der Antike im Jahr 1748 auf eine neue Stufe gehoben. In Montesquieus Hauptwerk geriet das eben erst entwickelte Paradigma der Republik in ein gewaltiges Klassifikationsprojekt hinein, in dem das Spektrum der bekannten Gesellschaftsformen aus drei Richtungen in den Blick genommen wurde. Nach einer „reinen Typologie der Regierungsformen“,422 die an der Kategorie des politischen Prinzips orientiert war, fächerte der Philosoph die entworfene Trias von Republik, Monarchie und Despotie erst nach kulturellen Gesichtspunkten auf, um dann am Beispiel Frankreichs eine rechtsgeschichtliche Analyse vorzunehmen.423 Nebeneinandergestellt entfalteten diese drei Teile ein Panorama der Studien zu Geographica, Politica, Juridiqua, Mythologica et antiquitates, Anatomica, Historica universalis und Commercium, die Mon-

420 Wie Anuschka Albertz darlegt, erreichte Glovers Leonidas „noch im Erscheinungsjahr zwei weitere Auflagen und wurde ins Französische, Deutsche und Dänische übersetzt und diente als Vorlage für zwei dramatische Bearbeitungen“ (Anuschka Albertz, Exemplarisches Heldentum. Die Rezeptionsgeschichte der Schlacht an den Thermopylen von der Antike bis zur Gegenwart, München 2006, S. 148). Hinzuweisen ist außerdem auf die durch dieses Epos veranlasste gattungstheoretische Schrift von Henry Pemberton, Observations on Poetry, especially the Epic. Occasioned by the Late Poem upon Leonidas, London 1738, die ein Jahr später folgte. 421 Ian Macgregor Morris, Uta Degner, Évenements de circonstance. The Classical Tradition in the Age of Revolution. In: (Re-)Writing the Radical. Enlightenment, Revolution and Cultural transfer in 1790s Germany, Britain and France, hg. von Maike Oergel, Berlin, Boston 2012, S. 186–203, hier: S. 189. 422 Louis Althusser, Machiavelli – Montesquieu – Rousseau. Zur politischen Philosophie der Neuzeit (Schriften, hg. von Peter Schöttler und Frieder Otto Wolf, 4 Bde., Bd. 2). Aus dem Französischen von Henning Ritter und Frieder Otto Wolf. Mit einem Nachwort von Frieder Otto Wolf, Hamburg 1987, S. 64. 423 Althusser, Machiavelli – Montesquieu – Rousseau, S. 64.

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tesquieu über nahezu zwanzig Jahre betrieben hatte,424 und sie zielten auf nichts Geringeres als einen methodischen Vergleich aller Gemeinschaften, die sich historisch nachweisen ließen.425 Die Frage, die sich angesichts dieses Überflusses an Beobachtungen stellte, war dabei die nach der richtigen Verknüpfung: „Comment lier?“426 Mit diesem Problem gerät die Zentralkategorie des Esprit des Lois in den Fokus, in der Montesquieu ein altes Gesellschaftsmodell theoretisch neu fasste. So markierte das Hauptwerk des Franzosen eine Rückkehr der Nation: Der esprit général, der den unsichtbaren Fluchtpunkt für das Staatsprinzip, die Kultur und die Gesetze in einer Gemeinschaft bildete, wurde bei ihm dezidiert als esprit de nation bestimmt.427 Dieser Rückgriff auf den frühneuzeitlichen Diskurs der Nationen (vgl. Kap. I.1) führte im Fall der antiken Republiken zum Ausbau der theoretischen Arbeit am Krieg, die in den Considérations begonnen hatte. Denn während der Krieg bisher als Antrieb einer patriotischen Leidenschaft im frühen Rom profiliert worden war, traten nun neue Kriegstopiken hinzu, die sich im jahrhundertelangen Wettkampf der Nationen herausgebildet hatten. Damit läutete der Esprit des Lois zwei gesellschaftstheoretische Umstellungen ein, denen dieses Teilkapitel nachgehen soll. Erstens stiftete er intrikate Wechselbeziehungen zwischen dem Diskurs der Republik, der von einer politisch definierten Gemeinschaft ausging, und dem der Nation, der auf historische und kulturelle Zusammengehörigkeit gerichtet war.428 Zweitens rollte er im Zeichen des Krieges die alte Ordnung der Antiken neu auf, die sich entlang der Hierarchie von Zivilisation und Barbarei strukturiert hatte. Diese beiden Prozesse sollen im Folgenden in den Blick genommen werden. 424 Dies sind die Kategorien der Notizbücher, in denen Montesquieu seit den 1730er Jahren seine Lektürefrüchte und Reisebeobachtungen festhielt. Erhalten sind davon nur die „Geographica“, die Einträge aus den Jahren 1734–1743 enthalten (Böhlke, „Esprit de nation“, S. 54 f. Anm. 1, hier: S. 55). Quellen bilden dabei einerseits die die antiken Ethno- und Geographien (Guillaume Barrera, Les lois du monde. Enquête sur le dessein politique de Montesquieu, Paris 2009, S. 113 f.), andererseits die Staatsbeschreibungen der Frühen Neuzeit. Sowohl Montesquieus Fragestellung als auch sein empirischer Anspruch war stark von dieser Textgattung beinflusst, die auf die „erfahrungsgeleitete Darstellung tatsächlicher politischer Verhältnisse“ zielte (Mohammed Rassem, Justin Stagl, Einleitung. In: Geschichte der Staatsbeschreibung. Ausgewählte Quellentexte 1456–1813, hg. und kommentiert von dens., Dokumentation: Wolfgang Rose, Berlin 1994, S. 1–37, hier: S. 1). Explizit wird der Esprit des Lois in die Tradition der Staatsbeschreibung eingeordnet von Mohammed Rassem, Justin Stagl, Exposé. In: Statistik und Staatsbeschreibung in der Neuzeit vornehmlich im 16.–18. Jahrhundert, hg. von dens., Paderborn 1980, S. 11–16, hier: S. 14. 425 Binoche, Introduction à De l’esprit des lois, S. 87. 426 Binoche, Introduction à De l’esprit des lois, S. 81. 427 Diese Kategorie stellt Effi Böhlke ins Zentrum ihrer Dissertation (Böhlke, „Esprit de nation“). 428 Zum divergenten Fokus dieser beiden Diskurse vgl. Viroli, For Love of Country, v. a. S. 1–17.  





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2.3.2.1 Differenzierungen: Rom, Sparta, Athen Seit dem Erscheinen des Esprit des Lois sah sich die europäische Aufklärung nicht mehr nur mit einer einzigen Republik konfrontiert. Stattdessen entfaltete sich nun vor ihren Augen ein kleines Panorama von Staaten, die den Index verschiedener Orte, Zeiten und Kulturen trugen. In den Mittelpunkt rückten dabei drei Namen: Rom, Sparta und Athen. Gemeinsam war allen diesen Republiken laut Montesquieu, dass sie sich nach einem Prinzip der Tugend (vertu) organisiert hätten, das mit der Antike untergegangen sei – der patriotische Zusammenhalt auf dem Forum und dem Schlachtfeld, von dem in den Schriften der Römer und Griechen zu lesen sei, habe sich nur in den kleinen Territorien und in den homogenen Gesellschaften des Altertums herausbilden können.429 Im Zuge einer historischen Erkundung der Republiken wurde dieses Modell der Tugendgemeinschaft nicht nur kulturell differenziert, sondern auch theoretisch präzisiert, wie im Folgenden nachgezeichnet werden soll. Denn zwischen seinen antiken Republiken zog Montesquieu feine Unterschiede ein,430 die zugleich die Suche nach einer idealtypischen Form der Republik dokumentieren. Entscheidend dafür waren die verschiedenen politischen Domänen („objet[s]“431), die der Philosoph den englisch inspirierten Paradigmen Rom, Sparta und Athen zuwies. Seit der griechischen Frühzeit habe man demnach „zwei Arten von Republiken“ gekannt, die Montesquieu wie folgt unterschied: „[D]ie einen waren Militärstaaten wie Sparta, die anderen Handelsstaaten wie Athen.“432 Ausführlicher heißt es dazu: Obgleich alle Staaten gemeinhin einen gleichen Zweck haben, nämlich den, sich zu behaupten, so hat doch jeder Staat einen, der ihm eigentümlich ist. Die Vergrößerung war der Zweck Roms, der Krieg der Spartas, […]; im allgemeinen sind die Vergnügungen der Fürsten der Zweck despotischer Staaten, sein und des Staates Ruhm Zweck der Monarchien […].433

Aus diesen Differenzierungen ergab sich eine implizite Hierarchie der Republiken, hinter der unverkennbar das normative Bewertungssystem der Considérati-

429 Zu diesem Zusammenhang vgl. GdG, Bd. 1, VIII, 16. Die „Heldentugenden, die wir bei den Alten finden“, seien damit endgültig vergangen, wie Montesquieu bedauerte: Die Modernen könnten sie nur noch „vom Hörensagen“ kennen (GdG, Bd. 1, III, 5, S. 38). 430 Die Schematisierungen werden nachvollzogen von David W. Carrithers, Democratic and Aristocratic Republics: Ancient and Modern. In: Montesquieu’s Science of Politics. Essay on the Spirit of the Laws, hg. von dems., Michael A. Mosher und Paul A. Rahe, Lanham u. a. 2001, S. 109– 158, hier: S. 127–134. 431 Montesquieu, Œuvres completes, Bd. 2, S. 396. 432 GdG, Bd, 1, V, 6, S. 71. 433 GdG, Bd, 1, XI, 5, S. 213 f.  



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ons durchschimmerte. In Athen habe man das Leben und die Politik demnach am Handel ausgerichtet – eine Orientierung, die in den Augen Montesquieus ein veritables Malus darstellte, weil sie wie im Karthago der Considérations einen Hang zur Verabsolutierung des Geldes, des Luxus und damit auch des egoistischen Eigeninteresses mit sich gebracht habe.434 Als stabiler galten dem Franzosen insofern Rom und Sparta, die für den militärischen Dienst an der Gemeinschaft eingerichtet gewesen seien. Vor dem Hintergrund von Montesquieus verfolgten Überlegungen zum Aufstieg und Niedergang der Römer zeichnet sich noch eine zweite Abstufung ab. So wird die römische Republik im Esprit des Lois immer wieder exemplarisch herangezogen, um an das Risiko des politischen Verfalls zu erinnern, das mit einem zu großen Hunger nach territorialer Vergrößerung einhergegangen sei.435 Dagegen wird das arme, karge und martialische Sparta als das seltene Phänomen einer Republik gepriesen, die sich nicht der Expansion verschrieben habe: „Der Grund für Spartas langes Bestehen lag darin, daß es sich nach allen seinen Kriegen immer auf sein Gebiet beschränkte.“436 Durch diese Differenzierungsarbeit verschob sich beinahe unmerklich die traditionelle Ordnung der Antiken. Mit seiner Präferenz für Sparta setzte Montesquieu das Dekonstruktionsprojekt fort, das er in den Considérations begonnen hatte, und machte sich zum ersten Mal vollständig von der römischen Leitantike frei. Indem die Spartaner ab jetzt alle positiven Attribute auf sich vereinigten, die zuvor den aufstrebenden Römern zugeordnet gewesen waren, verschob sich der Prototyp der Republik ins griechische Altertum, das bis dato stets den zweiten Rang hinter den Römern besetzt hatte. Zu betonen ist, dass dabei dezidiert nicht die Athener in den Mittelpunkt rückten, die später besonders in der deutschen Literatur zur Metonymie für ein vorbildliches Griechentum im Sinne Johann Joachim Winckelmanns wurden.437 Die initiale Faszination für die Griechen galt vielmehr den Spartanern: Sie versprachen, das Paradigma des Ursprünglichen und Kriegerischen am reinsten zu verkörpern, das Montesquieu in den Considérations am Beispiel der frühen Römer entwickelt hatte. Evident wird diese Umstellung der Musterrepublik von Rom auf Sparta im zweiten Drittel des Esprit des Lois, in dem Montesquieu einen neuen Ansatz der Gesellschaftsanalyse vorstellte, der mit dem titelgebenden Begriff ‚esprit‘ ver-

434 Vgl. Bourgault, Philhellenism among the philosophes, S. 447 f. 435 Vgl. dazu beispielsweise GdG, Bd. 1, V, 19; Kap. 2 und 11 im VI. Buch über den den Luxus, Kap. 12–14 im VIII. Buch „Von dem Verfall der Grundsätze in den Regierungsformen“ sowie XI, 15. 436 GdG, Bd, 1, XIII, 16, S. 172. 437 Wiedemann, Rom, Athen und die germanischen Wälder, S. 271.  

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knüpft war. Der Instruktivität halber führte der Franzose die Kategorie hier nämlich an den Idealtypen der drei Staatsformen Republik, Monarchie und Despotie ein. Für die Republik wurde dabei Sparta ausgewählt, das seinen Platz neben Frankreich (Monarchie) und China (Despotie) erhielt. Am Beispiel dieser Trias setzte Montesquieu sich nun einer besonderen Beziehung auf die Spur, die er zwischen der Regierungsform und den kulturellen Prägungen eines Volkes vermutete. Dabei ging es ihm darum, ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen den „typischen Weisen des Wahrnehmens, Urteilens, Denkens und schließlich Handelns“438 einer Gemeinschaft und den politischen Institutionen zu profilieren, die ihre Mitglieder sich gaben. Im Falle Spartas lief dieser Ansatz auf folgende Problemstellung hinaus: Hatte ein inhärenter Zusammenhang zwischen der antiken Staatsform der Republik und ihrer Liebe zum Krieg bestanden – und wenn ja, wie war diese Affinität dann genau zu fassen? Im Hintergrund standen hier die aufgezeigten Impulse aus der politischen Literatur Englands, die schon seit längerer Zeit stolz einen eigenen, freiheitlichen spirit reklamiert und zelebriert hatte (Kap. I.2.2). So neu diese Vorstellung zu diesem Zeitpunkt in Frankreich war, so vertraut musste der Name klingen, unter dem Montesquieu sie bei seinen Landsleuten einführte. Denn als das konzeptuelle Fundament, auf das er sein Modell der „kulturell-mentale[n] bzw. -moralische[n] Einheit“439 von politischen Gemeinschaften stellte, wählte er die traditionelle Kategorie der Nation. Der sperrige Titel, mit dem er das einschlägige 19. Kapitel des Esprit des Lois überschrieb, lautete mithin „Von den Gesetzen in ihrer Beziehung zu den Grundgedanken, welche die Geisteshaltung, die Sitten und die Lebensweise einer Nation formen“;440 und die zentrale Denkfigur, um die seine Ausführungen hier kreisten, war der sogenannte Nationalgeist (esprit de nation).441 Mit diesem Ansatz modifizierte Montesquieu den Diskurs der Nation auf grundlegende Weise. Statt die politischen und kulturellen Leistungen verschiedener Länder an einem gemeinsamen Normensystem zu messen, wie es seit der

438 Böhlke, „Esprit de nation“, S. 85. 439 Böhlke, „Esprit de nation“, S. 85 f. 440 Vgl. GdG, Bd. 1, XIX, S. 411. Hier wird am Ende des Titels „Volk“ statt „Nation“ übersetzt; um die Anschlusspunkte zum Diskurs der Nation deutlich zu machen, orientiert sich die Übersetzung an dieser Stelle am Französischen, wo es heißt: „Des lois dans le rapport qu’elles ont avec les principes qui forment l’esprit général les mœurs et les manières d’une nation“ (Montesquieu, Œuvres completes, Bd. 2, S. 556). 441 Der Begriff des ‚Nationalgeists‘, der in der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts sowohl dichtungs- als auch philosophiegeschichtlich weite Kreise zog, etablierte sich im Anschluss an Montesquieus Gesellschaftsphilosophie (Karl Zahradnik, „Nationalgeist“. Geschichte von Begriff und Wort in der deutschen Literatur des achtzehnten Jahrhunderts, Wien 1938, S. 110).  

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humanistischen Epoche üblich gewesen war, setzte er den Fokus auf die spezifischen Dispositionen der Völker. Mit der These, dass die Gesetze einer Nation als Spiegel ihres individuellen Nationalgeists zu verstehen seien,442 führte ein Kriterium der relativen Angemessenheit ein, das einen radikalen Perspektivenwechsel nach sich zog.443 Nationalität konstituierte sich im Esprit des Lois nicht mehr im vergleichenden Blick nach außen (vgl. Kap. I.1); sie lag vielmehr in einer angenommenen „inneren Einheit“444 verborgen, die in der Kultur, der Geschichte und der Lebensweise einer Gemeinschaft aufgespürt werden sollte. Zu finden hoffte Montesquieu einen solchen esprit de nation insbesondere in zwei Erscheinungen: in den Sitten und Gebräuchen eines Volkes („les mœurs et les manières d’une nation“445). Von diesen versprach er sich einen Aufschluss über unreflektierte Konventionen, die in doppelter Weise tiefer reichen sollten als der Wortlaut der Gesetze. Denn erstens seien die mœurs und manières ein „Geschenk der Natur“,446 während die Gesetze auf kontingente „Anordnungen eines Gesetzgebers“447 zurückgingen. Zweitens spiegele sich in den Gesetzen nur das politische Selbstverständnis von Gemeinschaften wider; die Sitten und Gebräuche seien jedoch in grundlegendsten Gefühlen und Dispositionen der Bevölkerung verwurzelt, die das ganze Leben beträfen. „Zwischen Sitten und Gesetzen besteht der Unterschied“, formulierte Montesquieu, „daß die Gesetze mehr das Handeln des Bürgers, die Sitten das Handeln des Menschen regeln.“448 Damit entwarf Montesquieu eine dreifach gegliederte Taxonomie von Gesetzen, Sitten und Gebräuchen,449 die er in der Folge für eine genauere Bestimmung der Trias von Republik, Monarchie und Despotie heranzog. Denn während der Franzose eine Gesetzesherrschaft nur in der Monarchie ganz verwirklicht sah,

442 „Aufgabe des Gesetzgebers“ sei es, „sich dem Volksgeist anzupassen“ (GdG, Bd. 1, XIX, 5, S. 414). 443 Binoche, Introduction à De l’esprit des lois, S. 88. 444 Althusser, Machiavelli – Montesquieu – Rousseau, S. 67. 445 Montesquieu, Œuvres completes, Bd. 2, S. 556. 446 GdG, Bd. 1, XIX, 12, S. 419. 447 GdG, Bd. 1, XIX, 14, S. 420. 448 GdG, Bd. 1, XIX, 16, S. 422; Montesquieu, Œuvres completes, Bd. 2, S. 566. 449 In dieser Relationierung zwischen Sitten und Gesetzen schimmern antike Bestimmungen von patria und natio durch. Der römische Rhetoriklehrer Quintilian hatte in der Frage, wie diese beiden Einflüsse den Menschen prägen, anhand derselben Kategorien differenziert. So forme das politische Vaterland seine Bürger durch leges, Gesetze; das Heimatland aber, die Nation, hinterlasse ihre Spuren in den mores, den Sitten, die in direkter etymologischer Verbindung zu den Montesquieu'schen mœurs stehen (Quint. Inst. V, 10, 24 f.). Vgl. Viroli, For the Love of Country, S. 19 sowie Catherine Larrere, Droit et mœurs chez Montesquieu. In: Droit 19 (1994), S. 11–22, hier: S. 11 f.  



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meinte er die Grenzen zwischen politischer und kultureller Sphäre in den beiden anderen Regierungsformen oszillieren zu sehen. Exemplarisch wies er das an seinen Idealtypen von Republik und Despotie nach, wo „die Gesetzgeber […] die Gesetze, Sitten und Gebräuche zusammenwarfen“450. Die Trennlinie wurde dabei entlang einer Dichotomie von Innen- und Außenorientierung gezogen. So lehrte Montesquieu: „Der Unterschied zwischen Sitten [mœurs] und Gebräuchen [manières] ist der, daß die ersteren sich auf das innere, die letzteren auf das äußere Verhalten des Menschen beziehen.“451 Die äußeren Anstandsregeln durchzögen demnach das Leben in der paradigmatischen Despotie China.452 Dagegen wurde die exemplarische Republik Sparta zum Musterfall eines Staates erhoben, in dem die Bürger einem inneren, moralischen Kompass gefolgt seien: Je stärker in einem Volk [dans chaque nation] einer dieser Gründe wirkt, um so mehr treten die anderen zurück. Natur und Klima beherrschen fast allein die wilden Völker; die Gebräuche [manières] regieren in China; die Gesetze tyrannisieren die Japaner; die Sitten [mœurs] gaben einst in Sparta, Regierungsgrundsätze und alte Sitten in Rom den Ton an.453

Auf diese Weise erhielten die Sitten bei Montesquieu eine spezifische Doppelfunktion. Im Allgemeinen machten sie, entsprechend antiken mores-Konzeptionen, die nationalen Prägungen spezifischer Völker kenntlich: Sie zeigten, was verschiedenen Gesellschaften eigentümlich sei, und fungierten damit als Index kultureller Relativität.454 Im Kontext der Republiken, in denen sie in die Nähe von Gesetzen aufrückten, kam zudem unüberhörbar eine normative Komponente hinzu, die den antiken Gemeinschaften besondere Integrität zuwies. „Wenn ein Volk gute Sitten hat“, so Montesquieu, „können die Gesetze einfach sein.“455 An der anschließenden Charakterisierung von Sparta zeigt sich, dass in diesem Satz ein Konditionalverhältnis mitschwang, das noch sehr viel weiterreichte: Je besser die Sitten eines Volkes seien, desto einfacher könnten seine

450 GdG, Bd. 1, XIX, 16, S. 423. 451 GdG, Bd. 1, XIX, 16, S. 422; Montesquieu, Œuvres completes, Bd. 2, S. 566. 452 Binoche spricht von „cérémonies tout extérieures qui ritualisent les comportements sans souci de leur vérité“ (Binoche, Introduction à De l’esprit des lois, S. 183). 453 GdG, Bd. 1, XIX, 4, S. 413; Montesquieu, Œuvres completes, Bd. 2, S. 558. 454 Vgl. Céline Spector, Customs, mœurs, manners, übersetzt von Philip Stewart. In: A Montesquieu Dictionary [online], hg. von Catherine Volpilhac-Auger, ENS Lyon, September 2013, Abschnitt 7. Online unter: dictionnaire-montesquieu.ens-lyon.fr/en/article/1376474087/en, Zugriff am 15. November 2018. 455 GdG, Bd. 1, XIX, 22, S. 429. Ein ähnliches Argument findet sich auch schon bei Machiavelli. „Wie nämlich zur Erhaltung guter Sitten Gesetze nötig sind, so sind auch zur Beachtung der Gesetze gute Sitten erforderlich.“ (Machiavelli, Discorsi. Gedanken über Politik und Staatsführung, I, 18, S. 66) Vgl. Larrere, Droit et mœurs chez Montesquieu, S. 13.

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Gesetze sein. In extremer Form wurde dieser Gedanke am Musterfall der griechischen Militärrepublik durchgespielt; dabei entstand eine intrikate Verbindung von Krieg und Moralität. Demnach habe es in Sparta zwar im Moment der Staatsgründung einen legislativen Akt gegeben, in dem der mythische erste Gesetzgeber Lykurg „ein einheitliches Gesetzbuch für die Gesetze, Sitten und Gebräuche“456 der Lakedämonier vorgelegt habe: Um den „kriegerischen Geist [esprit belliqueux]“ zu formen, „den er seinem Volke geben wollte“,457 habe er eine strenge Erziehung entworfen, deren erstes Ziel es gewesen sei, „Gesetzestreue und Vaterlandsliebe […] in die Herzen zu pflanzen“458. Dadurch habe der Gründervater eine Identität von Staatsprinzip, Nationalgeist und Sitten erzwungen, die alle „auf den Krieg gerichtet“459 gewesen seien. Auf diesem Fundament habe er das spartanische Gemeinwesen danach guten Gewissens an die Sitten der Bürger übergeben können.460 Auf diesem Weg wurde Montesquieu Sparta theoretisch wie historisch als Ausnahmefall profiliert. Mit seiner Gesetzgebung sei es Lykurg gelungen, „to inhibite the movement of time“461. Sparta sei die antike Republik, die ihren guten Anfang – anders als Rom – niemals verlassen habe. Durch seinen „überragenden Geist“462 habe der lakedämonische Gesetzgeber eine Möglichkeit gefunden, die kriegerische Tugend in die nationalen Sitten der Spartaner einzulassen und so das Prinzip der Republik, die Liebe zum Vaterland und zum Krieg, zu ihrer zweiten Natur zu machen. Faszinierend war die Polis Sparta für Montesquieu also vor allem insofern, als sie eine Systemstelle ausfüllte, die er implizit seit den Considérations ausgearbeitet hatte, aber nicht durch Rom hatte besetzen können (oder wollen). Sparta stand für eine Gemeinschaft von Kriegern, die nicht untergehen konnte – und sie wäre es nach der festen Überzeugung Montesquieus auch niemals, wäre nicht der verheerende Einfluss der Athener gekommen, die Lykurgs Werk leichtsinnig eingerissen hätten. Denn diese hätten die Lakedämonier mit ihrem destruktiven „Ehrgeiz“463 in eine Rivalität um die Vorherrschaft im Peloponnesi-

456 GdG, Bd. 1, XIX, S. 422 f. 457 GdG, Bd. 1, XIX, 16, S. 423; Montesquieu, Œuvres completes, Bd. 2, S. 567. 458 GdG, Bd. 1, IV, 5, S. 53 f. Vgl. auch IV, 6. 459 GdG, Bd. 1, IV, 6, S. 55. 460 Vgl. Singer, Montesquieu and the Discovery of the Social, S. 61. 461 Singer, Montesquieu and the Discovery of the Social, S. 61. Diese Feststellung der Zeit durchziehe Montesquieus Reflexionen über die ideale Republik: „The true legislative genius establishes laws that freeze time around the moment of foundation.“ 462 GdG, Bd. 1, IV, 6, S. 54. 463 GdG, Bd. 1, VIII, 16, S. 172.  



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schen Bund hineingezogen und so die Selbstbeschränkung des Soldatenstaates zunichte gemacht. Verantwortlich für das Ende der besten Republik, Sparta, war laut dem Esprit des Lois also die implizit schlechteste, Athen.464 Trotz dieser Faszination für Sparta taugte die lakedämonische Kriegsgemeinschaft in den Augen Montesquieus dezidiert nicht als Vorbild für die Gegenwart. Wie alle anderen Staaten, die er untersuchte, fasste er auch diesen als historisches Phänomen auf, das erstens positive wie negative Seiten hatte465 und das sich zweitens nicht unter den Bedingungen einer anderen Zeit imitieren ließ. Dementsprechend führte für ihn auch kein direkter Weg von der antiken Tugend zu ihrem Verlust in der Gegenwart. Montesquieu verglich zwischen Antike und Moderne, und er tat das nicht zuletzt, um verdeckt Kritik an politischen Entwicklungen seiner Zeit zu üben; gleichwohl kannte er „no general model of evolutionary history“466. Obwohl seine Haltung zu Sparta mithin äußerst differenziert war, liegen im Esprit des Lois die Ursprünge für eine regelrechte Sparta-Verrücktheit (,Lakonomanie‘),467 die um 1750 von Frankreich aus durch Europa zu ziehen begann. Vor allem einen Leser motivierte die Fixierung eines guten Anfangszustands in Sparta, Montesquieus Impuls schon zwei Jahre später aufzunehmen, um das neue Antikenangebot mit einem eindeutigeren Programm zu besetzen. So zeigte sich der noch völlig unbekannte Jean-Jacques Rousseau in seinem skandalträchtigen 1. Diskurs, dem Discours sur les sciences et les arts (1750), als aufmerksamer Leser des Esprit des Lois und gleichzeitig als „arch-priest of laconism“,468 indem er die provokativen Potentiale in Montesquieus Sparta-Konzept zu expliziten Thesen umarbeitete, die sich einer Polemik gegen das bestehende Kulturideal verschrieben.469 Dezidiert ging der junge Rousseau von Montesquieu aus, als er die Preisfrage der Akademie von Dijon, „Ob die Wiederherstellung der Wissenschaften und

464 Vgl. Bourgault, Philhellenism among the philosophes, S. 447. 465 Symptomatisch für diese Ambivalenz ist zum Beispiel Montesquieus Lobrede auf die Prinzipien der lykurgischen Gesetzgebung: „Lykurg verband den Diebstahl mit dem Gedanken der Gerechtigkeit, die härteste Sklaverei mit größter Freiheit, die grausamsten Gefühle mit weisester Mäßigung und sicherte dadurch den Bestand der Stadt.“ (GdG, Bd. 1, IV, S. 54 f.). 466 Russo, The youth of moral life, S. 115. 467 Vgl. Rawson, The Spartan Tradition in European Thought, S. 220–300; Grell, Le Dix-huitième siècle et l’antiquité en France 1680–1789, Bd. 1, S. 449–553; Haydn Mason, Sparta and the French Enlightenment. In: Sparta in Modern Thought: Politics, History and Culture, hg. von Stephen Hodkinson und Ian Macgregor Morris, Swansea 2012, S. 71–104. 468 Rawson, The Spartan Tradition in European Thought, S. 242. 469 Vgl. Rahe, The Enlightenment Indicted, S. 276.  

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Künste zur Läuterung der Sitten beigetragen hat?“,470 abschlägig beantwortete. Seine Schrift war bekanntlich ein Schlag ins Gesicht derjenigen, die in der Entwicklung der Künste seit der Renaissance einen Fortschritt für die Menschheit sahen. „Je mehr ihr Licht über unserem Gesichtskreis aufging, desto mehr entfernte sich die Tugend“, formulierte Rousseau mit aller Härte, „und eben diese Erscheinung ist zu allen Zeiten und überall wahrgenommen worden.“471 Selbst aus einer Republik stammend, nämlich aus dem schweizerischen Genf, brachte Rousseau die kriegerische Tugend der antiken Republiken hier gegen das zeitgenössische Frankreich in Stellung, das im künstlerischen Rang an „Athen und Rom in den vielgepriesenen Tagen ihrer Pracht“472 anknüpfen wolle.473 Zu diesem Zweck führte er die Versailles-Kritik, die bei Montesquieus Plädoyer für die Spartaner zwischen den Zeilen mitgeschwungen war, offen aus und mobilisierte dazu die kulturtheoretischen Dualismen seines Lehrers. So aktualisierte Rousseau erstens das polemische Potential von Montesquieus Vorliebe für die Republik, indem er unter neuen Vorzeichen eine alte Dichotomie reaktivierte, welche die Ordnung der Antiken seit dem Humanismus mitstrukturiert hatte: Krieg versus Kunst (vgl. Kap. I.1). Dabei knüpfte er zweitens an den frühneuzeitlichen Topos an, dass die Künste sich in einem Staat erst nach erfolgreich absolvierten Kriegen etablieren könnten.474 Dieses Narrativ überführte der Genfer in eine Verfallslogik, nach der nicht mehr ein moralischer Verfall die Abkehr von den guten Anfängen anzeigte, sondern die Blüte der Künste und Wissenschaften. „Luxus, Zügellosigkeit und Sklaverei“, mahnte Rousseau, seien „zu allen Zeiten die Strafen unsrer stolzen Bemühungen gewesen, uns aus der glücklichen Unwissenheit, in welcher uns die ewige Weisheit gelassen hatte, herauszureißen.“475 Konzentriert wurde diese Umwertung in einem Dualismus, der selbst zwar keineswegs neu war,476 der kraft seiner rhetorischen Zuspitzung aber dennoch erhebliche Wirkung darauf entfaltete, welche Funktionen den griechischen Repu-

470 Rousseau, Abhandlung über die Wissenschaften und Künste, S. 27. 471 Rousseau, Abhandlung über die Wissenschaften und Künste, S. 37. 472 Rousseau, Abhandlung über die Wissenschaften und Künste, S. 36. 473 Auf diesen Aspekt der rhetorischen Pose, mit der sich der noch unbekannte Rousseau ins Gespräch zu bringen versuchte, macht Rahe aufmerksam (Rahe, The Enlightenment Indicted, S. 282). 474 Diese weitverbreitete Idee findet sich u. a. bei Machiavelli (vgl. Münkler, Die Idee der Tugend, S. 391 f.). 475 Rousseau, Abhandlung über die Wissenschaften und Künste, S. 43 f. 476 Mason, Sparta and the French Enlightenment, S. 90. Verarbeitet sind letztlich antike Topiken.  





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bliken nach 1750 in den europäischen Diskursen zugewiesen wurden. So erhielt Sparta, das den Pol des Krieges vertrat, im 1. Diskurs einen negativen Widerpart in der konkurrierenden Republik Athen, die mit dem Pol der Künste und Wissenschaften assoziiert war. Dabei schwang Rousseau sich zu einem leidenschaftlichen Appell gegen die Athener auf, in dem er die tugendhaften Lakedämonier als Verbündete anrief: Könnte ich vergessen, daß selbst mitten in Griechenland sich jene Stadt erhob, die sowohl wegen ihrer glücklichen Unwissenheit als durch die Weisheit ihrer Gesetze so berühmt war, diese Republik, deren Bürger mehr Halbgötter als Menschen waren, so sehr schienen ihre Tugenden die menschliche Natur zu übersteigen? O Sparta, ewiger Vorwurf für eine eitle Gelehrsamkeit! Während sich die Laster, geführt von den schönen Künsten, in Athen einschlichen und ein Tyrann mit so viel Sorgfalt die Werke der Dichterfürsten sammelte, vertriebest du die Künste und Künstler, die Wissenschaftler und Gelehrten aus deinen Mauern. Der Unterschied zeigte sich in der Folge. […] Aus Athen sind jene erstaunlichen Werke gekommen, welche allen verdorbenen Zeiten als Muster dienen werden. Das Gemälde von Lakedämon hingegen ist weniger prächtig. Dort, sagten die anderen Völker, werden die Menschen tugendhaft geboren, und selbst die Luft scheint Tugend einzuflößen. Von ihren Einwohnern bleibt uns nichts als das Andenken ihrer heldenmütigen Taten. Sollten wir dergleichen Denkmäler nicht ebenso hochschätzen als die vortrefflichen Marmorbilder, welche uns Athen hinterlassen hat?477

In dieser berühmt gewordenen Passage legte Rousseau die zugespitzte Version eines Sparta-Athen-Dualismus vor, der seit der Wende zum 18. Jahrhundert in der französischen Geschichtsschreibung herumging.478 Dieser Gegensatz diente als flexibles Schema, an dem aktuelle Fragen von Herrschaft, Ökonomie, Moral oder Kulturpolitik ausgehandelt werden konnten und in dem das Pendel einmal zur Seite Spartas, einmal zur Seite Athens hin ausschwang. Wichtig ist: „Ein Griechenland gibt es in der französischen Historiographie der Zeit um 1750 nicht, sondern wenigstens zwei“,479 und diese Alternative eignete sich vorzüglich, um Kontroversen auszufechten. In Rousseaus Fall liegen die Präferenzen auf der Hand. In seinem zivilisationskritischen Narrativ besetzte Athen den Pol der

477 Rousseau, Abhandlung über die Wissenschaften und Künste, S. 40 f. 478 Mit Fokus auf Rousseau vgl. Paul Cartledge, The Socratic’s Sparta and Rousseau’s. In: Sparta. New Perspectives, hg. von Stephen Hodkinson und Anton Powell, Swansea 2009, S. 311– 338, hier: S. 319. 479 Elisabeth Décultot, Sparta vs. Athen: Topographien der Antike im französischen und deutschen Geschichtsdiskurs des 18. Jahrhunderts. In: Topographien der Antike in der literarischen Aufklärung, hg. von Annika Hildebrandt, Charlotte Kurbjuhn und Steffen Martus, Bern 2016, S. 41–56, hier: S. 50.  

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Künstlichkeit und Dekadenz; in Sparta fungierte eine kriegerische Vitalität als Beweis dafür, dass die einfache Tugend des Anfangs überlebt habe.480 Dabei war Rousseau selbstverständlich bewusst, dass er das gewohnte Spektrum antiker Paradigmen anschließend an Montesquieu umgekehrt anordnete, als es bislang Usus gewesen war. Nicht mehr den alten Hochkulturen, die in der Vergangenheit als Autoritäten für die italienische und französische Rhetorik der Antibarbaries gedient hatten, wurde im 1. Diskurs Respekt gezollt; stattdessen stellte Rousseau sich mit einer antiromanisch inspirierten Kriegsliebe an die Seite der Republik Sparta, die sich durch heroische Taten verdient gemacht, aber dafür wenig in den Wissenschaften und Künsten bewirkt hatte. Die Rechtfertigung für diese Umkehr der traditionellen Antikenordnung legte Rousseau den gepriesenen Völkern selbst in den Mund, „welche von dieser ansteckenden Seuche einer eitlen Gelehrsamkeit frei geblieben“481. Nicht „aus Dummheit“ seien sie bei ihren einfachen Sitten geblieben. Vielmehr hätten sie richtig beobachtet, „daß aufgeblasene Köpfe sich selbst die größten Lobreden hielten und alle anderen Völker zusammen mit dem verächtlichen Namen der Barbaren belegten; allein, sie haben ihre Sitten betrachtet und gelernt, diese Gelehrsamkeit zu mißachten“482. Offensiv brachte Rousseau im 1. Diskurs mithin die Achsen zum Kippen, die den asymmetrischen Antikendiskurs über Jahrhunderte strukturiert hatten. Er vertauschte die Rangfolge zwischen Kunst und Krieg, Zentrum und Peripherie sowie Fortschritt und Anfang und stellte dabei zugleich neue Verbindungen zwischen den Kulturen her, die Montesquieu im Esprit des Lois aufgefächert hatte. Auf der Seite derjenigen Staaten, die durch kulturellen Verfeinerungswillen verkommen waren, platzierte er neben Athen, Konstantinopel und China auch das Rom der Kaiserzeit – denn „nach Ovid, Catull und Martial und dem ganzen Schwarm schlüpfriger Schriftsteller […] ward endlich aus diesem ehemaligen Tempel der Tugend die Schaubühne aller Laster“. Auf der Seite der tugendhaften Völker, die ihre Natürlichkeit bewahrt hätten, fanden sich nicht nur die Spartaner und die Bürger Roms „zu den Zeiten seiner Armut und seiner Unwissenheit“. In Verbund mit ihnen traten die Germanen, die Skythen und die Perser, die man

480 Rousseaus Schlag richtete sich insofern nicht zuletzt gegen die aufgeklärte Gegenwart mit ihrem Fortschrittsoptimismus. Das heroische und bescheidene Sparta diente ihm als „a mirror […] to reveal modern man at his worst“: „To the self-satisfied, to men proud of their civilized ways and confident of the future, it was a devastating challenge“ (Judith Shklar, Rousseau’s Two Models: Sparta and the Age of Gold. In: Political Science Quarterly 81:1 (1966), S. 25–51, hier: S. 33). 481 Rousseau, Abhandlung über die Wissenschaften und Künste, S. 39. 482 Rousseau, Abhandlung über die Wissenschaften und Künste, S. 40.

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bislang als unzivilisierte Völker des Altertums abgetan hatte, sowie die letzten „glücklichen Nationen“ der Gegenwart, „[die] amerikanischen Wilden“483. Diese Kulturordnung veranschaulicht eindrucksvoll eine fundamentale Verschiebung, die sich im Traditionsverhalten des 18. Jahrhunderts vollzog. Gonthier-Louis Fink hat diese prägnant charakterisiert: Um 1750 wurde das „Kriterium der Bildung und Zivilisierung in sein Gegenteil verkehrt, indem die negative Konnotation von barbarisch und primitiv in das Lob der Einfachheit und Echtheit ins Positive gewendet wurde, während zivilisiert als synonym für verdorben verstanden wurde“484. Unter dieser Prämisse stellte Rousseau verschiedenste Gemeinschaften, die bisher als das ‚Andere‘ der Kultur konzeptualisiert worden waren, auf eine parallele Stufe. Von der Vision einer kriegerischen Sittlichkeit, die Montesquieu in den Considérations und im Esprit des Lois evoziert hatte, profitierten nicht nur die antiken Republiken. Daneben traten die Altertümer des Nordens und Ostens, die im frühneuzeitlichen Wettstreit der Nationen mit Barbareivorwürfen konfrontiert worden waren und darauf mit kriegerisch-antiromanischen Selbstentwürfen reagiert hatten (vgl. Kap. I.1). Und nicht zuletzt wurden die indigenen Völker der Neuen Welt, die von europäischen Missionaren seit dem 17. Jahrhundert durch die Brille vertrauter Barbarenkonzepte betrachtet worden waren, von Rousseau in den Diskurs der Natürlichkeit einbezogen.485 Was vormals barbarisch war, wurde jetzt im positiven Sinne natürlich: So simpel die Geste anmutet, mit der die französischen Philosophen um 1750 die Hierarchie der Kulturen umkehrten, so bedeutend sind die diskursgeschichtlichen Umstellungen, die dieser Akt des Traditionsverhaltens einleitete. Von nun an öffnete sich ein weites Feld für Programme und Poetiken der Ursprünglichkeit, die bald unter vielfältigen Vorzeichen entstanden. Entscheidend für diese Studie ist, dass all diese Völker anhand eines analogen Kulturschemas entworfen wurden, das sich gegen das vertraute Paradigma der Zivilisation richtete. Ob im frühen Rom, in Sparta, in Germanien oder der Neuen Welt, überall suchten die Gelehrten das ‚Andere‘ der Kultur und erhoben damit gleichzeitig den Krieg zum Gewinner der Diskursgeschichte.

2.3.2.2 Zwischen den Kategorien: Germanen und Goten Die Parallele zwischen den antiken Republiken und den Altertümern des Nordens, die Rousseau zog, lenkt den Blick abschließend noch einmal zurück auf

483 Rousseau, Abhandlung über die Wissenschaften und Künste, S. 38–40. 484 Fink, Vom universalen zum nationalen Literaturmodell, S. 45. 485 Vgl. Jauß, Mythen des Anfangs, S. 32 f.  

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Montesquieu. Denn auch in diesem Punkt sprach der junge Genfer Gelehrte eine These laut und deutlich aus, die im Esprit des Lois schon zwischen den Zeilen angeklungen war. Eine Affinität zwischen den republikanischen und den nationalen Topiken der Tapferkeit war bei Montesquieu insofern angelegt, als der Krieg in beiden Fällen als Gegenentwurf zum römischen Zivilisationsideal fungierte. Dadurch waren die Germanen in seiner Schrift kaum weniger präsent als die antiken Republiken Griechenlands und Roms. Mit dem Plädoyer für diese kriegerischen Völker im Norden führte der Philosoph seinen Feldzug gegen den RomDiskurs des französischen Absolutismus fort; und wie im Folgenden verdeutlicht werden soll, brachte er damit nach den Staats- und Gemeinschaftskonzepten auch die tradierte Ordnung der Nationen in Bewegung. So zeichnete sich der Umbau der Antikenordnung, den Rousseau in seinem 1. Diskurs ostentativ vollzog, auf eine subtilere Weise bereits in den klimatheoretischen Reflexionen des Esprit des Lois ab. In der Frage, welche Völker am meisten von ihrer geographischen Herkunft begünstigt seien, kam Montesquieu hier nämlich zu einer Einschätzung, die in deutlichem Gegensatz zu den Konventionen seiner Zeitgenossen formuliert war. Das „kulturelle Süd-Nordgefälle“, mit dem sich die Klimatheoretiker der mediterranen Länder ihren Vorrang gegenüber der nördlichen Peripherie Europas gesichert hatten, wurde bei ihm zugunsten eines „politischen Nord-Südgefälles“486 zurückgedrängt: In kalter Luft, argumentierte Montesquieu , werde „das Blut mehr zum Herzen getrieben“, was den im Norden lebenden Völkern „mehr Kraft“, „mehr Selbstvertrauen“ und „mehr Mut“ verleihe. „Die Bewohner warmer Länder sind furchtsam, wie es die Greise sind“, behauptete er; „die der kalten Länder sind mutig wie die jungen Leute.“487 Während die nervösen Nationen des Südens also überhaupt nur dann politisch handlungsfähig werden könnten, wenn ihnen Gesetze und Regeln den nötigen Halt gäben, seien die einfachen Völker im Norden schon wegen ihrer kräftigen physischen Konstitution zur Autarkie fähig. So jedenfalls klang es im Esprit des Lois: In den Zeiten der Römer lebten die Völker im Norden Europas ohne Kunst, ohne Erziehung, fast ohne Gesetze; und trotzdem behaupteten sie sich vermöge ihres gesunden Menschenverstandes, der mit den groben Geweben dieser Klimaten zusammenhängt, mit bewundernswerter Klugheit gegen die römische Macht, bis sie ihre Wälder verließen, um sie zu zerschlagen.488

486 Gonthier-Louis Fink, Von Winckelmann bis Herder. Die deutsche Klimatheorie in europäischer Perspektive. In: Johann Gottfried Herder. 1744–1803, hg. von Gerhard Sauder, Hamburg 1987, S. 156–176, hier: S. 162. Vgl. auch ders., De Bouhours à Herder. In: Recherches germaniques 15 (1985), S. 3–63, hier: S. 21 f. 487 GdG, Bd. 1, XIV, 2, S. 311. 488 GdG, Bd. 1, XIV, 3, S. 315 f.  



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Auf diese Weise entwarf Montesquieu einen dezidiert positiven Germanendiskurs: Seine vielfach formulierte Sympathie für den Krieg, mit der er sich gegen das Zivilisationsparadigma des absolutistischen Rom-Diskurses wandte, verband sich nun mit einem Lob für die Völker des Nordens, das den Römern auch im Wettstreit der Nationen ihre gewohnte Spitzenposition streitig machte (vgl. Kap. I.1). Diesen Wechsel von einem Süd- auf ein Nordprimat untermauerte der Philosoph dabei mit antiken Zeugnissen, die man eher bei einem deutschen als bei einem französischen Gelehrten erwartet hätte. Großzügig breitete Montesquieu die Topoi einer germanischen Moralität aus, mit denen seine Leser aus den nationalen Diskursen jenseits des Rheins vertraut waren:489 Im Rekurs auf Tacitus’ Germania erinnerte er daran, wie „bewundernswert einfach“ die Völker der nordischen Vorzeit gelebt hätten, da sie „gar keine Vorstellung von Luxus“490 gehabt hätten. In der Ehe seien sie prinzipiell treu und aufrichtig gewesen,491 und ihren besonderen Sinn für politische Freiheit hätten sie darin bewiesen, dass sie über alle wichtigen Entscheidungen in Volksversammlungen beraten hätten.492 Die topische Ehrlichkeit der Germanen führte der Franzose schließlich auf die heroische Tapferkeit zurück, die diese auf den Schlachtfeldern bewiesen hätten. In einem „kriegerischen Volk, wo Kraft, Mut und Heldentum verehrt werden“, seien die „wirklich verachtenswerten Verbrechen die, welche aus Betrügerei, List und Verschlagenheit, d. h. aus der Feigheit erwachsen“493. Soweit bot die Schilderung der Germanen wenig Neues. Unverkennbar bediente Montesquieu sich bei den Topiken der Antiromanitas, mit denen die deutschen Humanisten die sittliche und kriegerische Tugend ihres eigenen Altertums gefeiert hatten. Anlass zur Irritation gibt einzig die nationale Zuordnung der germanischen Antike, die sich im Esprit des Lois auf bemerkenswerte Weise verschob. Paradigmatisch wird das am Titel eines Kapitels kenntlich, das sich der robusten simplicitas des nordischen Altertums widmet. Hier lautet die Überschrift „Von der Denkungsart unserer Vorfahren“494. Wie das Possessivpronomen unmissverständlich anzeigt, wurde hier eine Vereinnahmung vorgenommen, mit der Montesquieu der traditionellen Selbsterzählung seiner Landsleute widersprach: Als Stammväter der Franzosen fungierten nun nicht mehr die Römer, sondern ihre angestammten Gegenspieler, die alten Völker des Nordens.  

489 490 491 492 493 494

Vgl. Wiedemann, Rom, Athen und die germanischen Wälder, S. 273. GdG, Bd. 1, XVIII, 23, S. 403. GdG, Bd. 1, XVIII, 25, S. 405. GdG, Bd. 1, XVIII, 30, S. 409. GdG, Bd. 1, XVIII, 17, S. 282. GdG, Bd. 1, XVIII, 17.

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Dieses Plädoyer für den Norden besaß bei Montesquieu eine teleologische Beziehung zur französischen Gegenwart, die wohl auch als Ursache dafür zu sehen ist, dass die Germanen im Esprit des Lois auf seltsame Weise zwischen allen staatsphilosophischen und geschichtlichen Kategorien standen. Obwohl der Norden durch die Merkmale von kriegerischer Tugend, Einfachheit und Freiheit in die Nähe von Rom und Sparta gerückt wurde (besonders des letzteren, dessen „einziges Ziel“ laut Montesquieu ja die „Freiheit“495 gewesen sei), stand er weder für die Republik noch überhaupt für die Antike im engeren Sinn. Das zeigt sich anhand der beiden Kontexte, in denen der Esprit des Lois verstärkt mit Zitaten aus Tacitus’ Germania operiert. Der eine ist das berühmte Kapitel, mit dem Montesquieu die gemäßigte Monarchie der Engländer als diejenige Variante der Republik präsentierte, die auch noch für das 18. Jahrhundert geeignet sei;496 der andere liegt im letzten Drittel seiner Schrift, in dem der Philosoph die französische Gesetzgebung aus der nationalen Historie herleitete und dabei mit einem nordischen Akzent versah. In beiden Argumentationszusammenhängen versuchte Montesquieu, dem germanischen Altertum eine Vorbildfunktion für die französische Regierungsform der Gegenwart zuzuweisen. Dieses Projekt lässt sich erneut aus seiner Beschäftigung mit den englischen Antikendiskursen herleiten.497 In diesem Fall reagierte der Franzose jedoch nicht auf die staatstheoretische Argumentationslinie von Bolingbroke, sondern auf die nationale. Wie der Brite davon ausgegangen war, dass ganz Europa ursprünglich durch eine perfekt harmonisierte Mischverfassung der gotischen Sieger über Rom regiert worden sei (Kap. I.2.2.2), so ergriff Montesquieu auch mit Blick auf die französischen Institutionen Partei für dieses Narrativ.498 Oft wird Montesquieus These zitiert, das „schöne System“ der englischen Verfassung sei „in den Wäldern“ des Nordens erfunden worden, wie man bereits im „treffliche[n] Werk des Tacitus über die Sitten der Germanen“499 nachlesen

495 GdG, Bd. 1, XVIII, 16, S. 172. 496 Vgl. dazu ausführlich das Kapitel „The Modern Republic Discovered“ in Rahe, Montesquieu and the Logic of Liberty, S. 1–60. Siehe auch Jonathan Israel, Enlightenment Contested. Philosophy, Modernity, and the Emancipation of Man 1670–1752, Oxford 2006, S. 290. 497 Zum Einfluss des Craftsman auf diese These vgl. Smith, The Gothic Bequest, S. 71. 498 Vgl. Diego Venturino, Boulainvilliers et Montesquieu ou de la modération nobiliaire. In: L’Europe de Montesquieu. Actes du Colloque de Gênes (26–29 mai 1993). Préface de Anna Maria Lazzarino Del Grosso. Postface de Jean Ehrard, hg. von Alberto Postigliola und Maria Grazia Bottaro Palumbo, Neapel, Paris, Oxford 1995, S. 103–112, hier: S. 103; Grell, Le Dix-huitième siècle et l’antiquité en France 1680–1789, Bd. 2, S. 1132. 499 GdG, Bd. 1, XI, 6, S. 228.

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könne. Nicht immer wird dabei hinzugefügt, dass dasselbe bei ihm im Prinzip auch für das politische Gefüge in Frankreich gelten müsste, wäre die ursprüngliche Balance der Kräfte nicht mit der Zeit zum Absolutismus korrumpiert. Ausdrücklich knüpfte Montesquieu an den politischen Gotizismus an, der im England des 17. und 18. Jahrhunderts prominent war (Kap. I.2.2.2). „[A]ls die Goten das römische Reich eroberten“, heißt es im Esprit des Lois, „begründeten sie überall die Monarchie und die Freiheit“: Ich weiß nicht, ob der berühmte Rudbeck, der in seinem Buch „Das atlantische Meer“ Skandinavien so sehr gelobt hat, von dem großen Vorzug gesprochen hat, der die dort lebenden Völker über alle anderen der Welt stellen müßte: daß bei ihnen nämlich die Quelle aller europäischen Freiheit entsprang, d. h. fast aller Freiheit, die heute überhaupt unter den Menschen besteht.500  

Auch der antike Gewährsmann für die Goten, der spätantike Historiker Jordanes, kehrte in Montesquieus Hauptwerk mit der These wieder, dass die nordischen Rom-Bezwinger als Stammväter aller europäischen Völker anzusehen seien: Der Gote Jornandes hat den Norden Europas als die Werkstatt des Menschengeschlechts genannt: ich möchte ihn lieber als die Werkstatt der Instrumente bezeichnen, welche die im Süden geschmiedeten Ketten zerbrechen. Dort wachsen jene tapferen Völker, die aus ihrem Land ausziehen, um Tyrannen und Sklaven zu vernichten und die Menschen zu lehren, daß sie die Natur gleich geschaffen hat und folglich kann die Vernunft sie niemanden als nur ihrem Glücke unterwerfen.501

Im Anschluss an diese gotizistischen Denkfiguren behauptete Montesquieu, dass die Quellen, in denen die Macht- und Besitzverteilung im Frankenreich des französischen Mittelalters geregelt waren, die Kennzeichen des germanischen Altertums trügen. So versicherte er seinen Rezipienten, „daß man beim Lesen von Cäsar und Tacitus überall die Gesetzesbücher [der Franken, A.H.] und beim Lesen dieser Gesetzesbücher überall Cäsar und Tacitus wiedererkennt“502.

500 GdG, Bd. 1, XVII, 5, S. 377. Wie Montesquieus etwas vage Erinnerung an den Titel von Olof Rudbecks Atlantica anzeigt, dem Hauptwerk des schwedischen Gotizismus, stand dahinter keine intensive Lektüre, sondern der Rekurs auf eine allgemein bekannte Position vom „Hörensagen“ (Stephan Michael Schröder, Schweden als Herkunftsland antiker Kultur: Olof Rudbecks Atland eller Manheim (Atlantica sive Manheim) (1679–1702). In: Lesbarkeiten. Antikerezeption zwischen Barock und Aufklärung, hg. von Dietrich Boschung und Erich Kleinschmidt, Würzburg 2010, S. 61–80, hier: S. 66, Anm. 17). 501 GdG, Bd. 1, XVII, 5, S. 377. 502 GdG, Bd. 2, XXX, 2, S. 374.

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Schon in seinem Plädoyer für die antike Republik hatte Montesquieu implizite Spitzen gegen den Absolutismus gesetzt, und auch hier bezog er im Umweg über die Antike Stellung in den Debatten über eine angemessene Machtverteilung in Frankreich. Konkret schaltete er sich in eine Kontroverse ein, in der um 1730 zwei konkurrierende Entwürfe der französischen Rechtsgeschichte kollidiert waren.503 Auf der einen Seite hatten dabei die sogenannten ‚Romanistes‘ gestanden, die unter der Anführung von Jean-Baptiste Dubos (Histoire critique de l’établissement de la monarchie française dans les Gaules, 1734) argumentiert hatten, dass die juristische Ordnung der Römer unter der Herrschaft der Gallier kontinuierlich erhalten geblieben sei. Ihnen hatten auf der anderen Seite die ‚Germanistes‘ widersprochen, deren Protagonist Henri de Boulainvilliers (Histoire de l’ancien gouvernement de la France, posthum 1727) den Beweis angetreten hatte, dass diese römisch geprägten Gallier504 durch die Franken unterworfen worden seien, die wiederum seit dem 17. Jahrhundert als Abkömmlinge der Germanen verstanden wurden.505 Wenig verdeckt war es in dieser Auseinandersetzung um handfeste politische Interessen gegangen. Auf eine einfache Formel gebracht, hatten die ‚Romanisten‘ eine „thèse royale“ formuliert, die den Absolutismus stützen sollte, während die ‚Germanisten‘ mit einer „thèse nobiliaire“ eine doppelte Agenda im Blick gehabt hatten:506 Zum einen hatten sie die adeligen Parlamente als diejenigen Institutionen im französischen Herrschaftssystem hervorgehoben, die den königlichen Beschlüssen – in der Nachfolge von germanischen Stammesversammlungen – erst ihre Legitimität verleihen würden; zum anderen hatten sie auf die histori-

503 Zur Einführung in diese Konstellation vgl. nach wie vor den grundlegenden Aufsatz von Friedrich Meinecke, Montesquieu, Boulainvilliers, Dubos. Ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte des Historismus. In: Historische Zeitschrift 145:1 (1932), S. 53–68. Zwei neuere Studien verfolgen den Diskurs bis ins 20. Jahrhundert: Claude Nicolet (La fabrique d’une nation. La France entre Rome et les Germains, Paris 2003) geht es dabei vor allem um den französischen Nationaldiskurs; Ian Wood (The Modern Origins of the Early Middle Ages, Oxford 2013) zeichnet anhand der französischen Auseinandersetzungen mit dem germanischen Altertum die Konstituierung einer frühmittelalterlichen Epoche im historiographischen Diskurs des 18. Jahrhunderts nach. 504 Nicolet spricht von „Gallo-Romains“ (Nicolet, La fabrique d’une nation, S. 58). 505 Zuvor hatte man die Franken als Abkommen der Trojaner gesehen, auf die auch die Römer zurückgeführt wurden. Vgl. zu den antiken Genealogien in Frankreich das klärende Kapitel „Visions des Barbares (Troyens, Gaulois, Francs et Romains)“ in Nicolet, La fabrique d’une nation, S. 40–56, und Krzysztof Pomian, Francs et Gaulois. In: Les Lieux de Mémoire, hg. von Maurice Agulhon und Pierre Nora, Bd. 3.1, Paris 1992, S. 40–105. 506 Vgl. Cox, Montesquieu and the History of Laws, S. 413 f. Detailliert zu den politischen Implikationen von Boulainvilliers Schriften vgl. außer Wood, The Origins of the Early Middle Ages, S. 19–28, auch Harold A. Ellis, Boulainvilliers and the French Monarchy. Aristocratic Politics in Early Eighteenth-Century France, Ithaca, London 1988.  

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schen Vorrechte des Adels gegenüber der juristischen Funktionselite gepocht, die sich zu Beginn des 18. Jahrhunderts etabliert hatte.507 Dementsprechend ist festzuhalten, dass Montesquieus Interesse an den Germanen sich aus einem innerfranzösischen Diskurs speiste, in dem es um die Kritik an der absolutistischen Monarchie und um die politischen Rechte der adeligen Schichten ging. Wenn er auf die barbarische Begründung der französischen Herrschaft zurückgriff, die er aller Wahrscheinlichkeit nach noch vom alten Boulainvilliers selbst gelernt hatte,508 lag dem die gleiche Logik zugrunde wie seiner Aufwertung der frühen Römer und Spartaner. Wie das Modell der kriegerischen Republik der Antike war die gotizistische Lesart der französischen Monarchie bei Montesquieu gegen einen selbstgewissen Nationaldiskurs gerichtet, der den Versailler Absolutismus zur zweiten augusteischen Epoche erhob, und mithin drückte sich seine Kritik erneut durch einen Schulterschluss mit den englischen Antiken aus.509 Weder war es also an die Adresse der Deutschen gesprochen, wenn Montesquieu sich nun in einer Art „Umkehrung der Werte“510 die antiromanische Lesart des germanischen Altertums zueigen machte; noch ist davon auszugehen, dass den deutschen Autoren die Folgen aus den komplizierten rechtsgeschichtlichen Überlegungen im Esprit des Lois völlig klar geworden sind. So attraktiv die genealogische Verschiebung der Franzosen ins germanische Altertum für deutsche Gelehrte hätte sein können, so wirksam hat das „Diptychon der Auto- und Heterostereotype“511 mit seinen Dualismen Süden/Norden, Römer/Germanen und

507 Vgl. Nicolet, La fabrique d’une nation, S. 16: „Si c’est bien la monarchie des légistes, et bientôt la monarchie absolue centralisatrice et ministérielle qui adopte la thèse ‚romaine‘, […] c’est surtout la noblesse, bien sûr, qui se dit ‚germaniste‘; mais ce n’est pas toujours, ou pas exclusivement, pour revendiquer les droits héréditaires, ou pour condamner la majorité des Français à une eternelle sujètion; c’est souvent, au contraire, pour invoquer une originelle ‚liberté‘ ou même souveraineté de la ‚nation‘ face au despotisme royal ou ministériel; c’est parfois pour opposer la libre et franche ‚noblesse d’épée‘ à la noblesse de robe ou parlementaire.“ 508 Boulainvilliers hatte sich in den 1720er Jahren im Pariser Club de l’Entresol (1724–1731) regelmäßig mit Bolingbroke und Montesquieu getroffen, um über politische und historische Fragen zu debattieren. Vgl. Israel, Enlightenment Contested, S. 283 f.; Kramnick, Bolingbroke and his Circle, S. 16 f. 509 Aus diesem Fluchtpunkt erklären sich die konzeptionellen Überschneidungen, die im Esprit des Lois zwischen den martialischen Republiken und der gemäßigten Monarchie der tugendhaftkämpferischen Germanen bestanden: Weil beide Altertumsdiskurse in England unter dem Signum der Republik verhandelt worden waren, waren sie im Voraus harmonisiert worden. 510 Fink, Das Bild des Nachbarvolkes, S. 488. Ausführlich zur Aufspaltung des „französische[n] Selbstbild[es] in verschiedene sozial und ideologisch unterschiedene Teilbilder“, die sich um 1750 beobachten lässt, vgl. S. 487–489. 511 Fink, Das Bild des Nachbarvolkes, S. 490.  



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Franzosen/Deutsche offenbar verhindert, dass Montesquieus These von der germanischen Herkunft der Franzosen jenseits des Rheins zur Kenntnis genommen worden wäre. Was jedoch zweifellos einen entscheidenden Impuls für die Literatur der deutschen Aufklärung gesetzt hat, war die positive Präsenz der taciteischen Tradition in einem Text, der diese französisch legitimierte und zugleich in Bezug zu einer neuen Staatstheorie setzte, die im europäischen Diskurs binnen kurzer Zeit zum Standard wurde. Schon wenige Jahre nach seinem Erscheinen wurde der Esprit des Lois so vielfältig rezipiert, diskutiert und kontextualisiert, dass man ihn „überall und nirgends“512 wiederfand. In der deutschen Literatur lässt sich schon wenig später ein erheblich gesteigertes Interesse am germanischen Altertum verzeichnen, das nicht einfach als Reprise alter Selbstinszenierungen zu bewerten ist, durch die „der rückwärtsgewandte Germanendiskurs des Humanismus und Barock gleich zu Beginn der Aufklärung fortgesetzt wurde“,513 wie in der Forschung formuliert worden ist. Im Gegenteil: Die literarische Germanenmode stellte eines der frühesten und nächstliegenden Probierfelder für den Versuch dar, Montesquieus Frage nach der spezifischen „nationalkulturellen Verfasstheit“514 von Gemeinschaften poetisch produktiv zu machen, und sie wurde auch unter deutschen Autoren von einer kritischen Auseinandersetzung mit den tradierten literarischen und sozialen Ordnungssystemen begleitet. Die intensive deutsche Arbeit an den neu erschlossenen Antiken um 1750, die Conrad Wiedemann zu Recht als „Montesquieu effect“515 bezeichnet hat, setzte also mit einer paradoxen Konstellation ein. Montesquieus Wendung zum inneren Maßstab von Kulturen, dem esprit de nation, wurde im deutschsprachigen Raum als ein Aufruf zur „self-awareness“516 verstanden; dabei schlugen die Autoren eine Suchrichtung ein, die ihnen eine Schrift aus der französischen Literatur vorgab, von deren Überlegenheit sie sich dem eigenen Anspruch nach gerade freizumachen versuchten. Mit Blick auf die Konzeption des germanischen Altertums stellte dieses Emanzipationsprojekt dabei zunächst vor allem eine Herausforderung dar. In der deutschen Literatur hatte man sich seit dem 17. Jahrhundert darauf konzentriert,

512 Viktor Klemperer, Montesquieu, 2 Bde., Bd. 1, Heidelberg 1914, S. XII. Dieses Zitat verwendet auch Vierhaus als Einstieg, um die „Schwierigkeiten einer Wirkungsgeschichte“ herauszustellen, die oft hochgradig vermittelt und transformativ verlief (Vierhaus, Montesquieu in Deutschland, S. 9). 513 Blitz, Aus Liebe zum Vaterland, S. 95. 514 Wiedemann, Rom, Athen und die germanischen Wälder, S. 267. 515 Wiedemann, The Germans’ Concern about their National Identity, S. 152. 516 Wiedemann, The Germans’ Concern about their National Identity, S. 147.

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gegenüber den französischen Rivalen eine möglichst zivilisierte, literaturfähige Version des deutschen Altertums auszubauen, die auf dem Diskurstyp der Antibarbaries basierte (vgl. Kap. I.1). Bei Montesquieu jedoch ergab sich das vorteilhafte Urteil über den tugendhaft-heroischen Geist in den germanischen Wäldern ausschließlich aus der antiromanischen Lesart. Mithin eröffnete die Frage, wie der kriegerische Akzent der politischen Antiromanitas mit dem Geltungsanspruch der literarischen Antibarbaries zu vermitteln sei, ein vergleichsweise offenes Feld für Entwürfe nationaler Poetiken, das die konkurrierenden Parteien in der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts rasch für sich erschlossen. Eine zusätzliche Dynamik erhielt diese Situation dadurch, dass das Thema Krieg nach den ersten zwei Schlesischen Kriegen (1740– 1742 und 1744/45) als Gegenstand für eine heroische Dichtung von repräsentativnationalem Format im Raum stand. In dieser Konstellation wurde die Frage, wie eine Literatur auszusehen habe, die dem deutschen Nationalgeist angemessen sei, zum Kristallisationspunkt für vielfältige poetologische und politische Programmbildungen. Diese komplexe Gemengelage brachte heftige Rivalitäten hervor, welche die deutsche Literaturgeschichte um 1750 maßgeblich mitbestimmten.

Teil II Krieg und Literaturstreit: Konkurrenz nationaler Poetiken

Im Frühjahr 1758 schickte der Ansbacher Lyriker Johann Peter Uz einen Stoßseufzer an seinen Freund Johann Wilhelm Ludwig Gleim, mit dem er seinen Überdruss an einem Projekt kundtat, das die literarische Aufklärung in Deutschland seit beinahe einem Jahrzehnt in Atem hielt. „Ich will nur sehen, ob diese Wuth der Heldendichterey in Deütschland niemals aufhöret“, schrieb er: „Wieland mag Heldengedichte schmieren. Sein Hermann wird in seiner Art so elend seyn, als Schönaichs Hermann in einer andern Art ist.“1 Vernichtender hätte sein Urteil über Christoph Martin Wieland und Christoph Otto von Schönaich kaum ausfallen können, die mit ihren jeweiligen Dichtungen auf die Varusschlacht (beide 1751) teils von der Literaturpartei aus Zürich, teils von der aus Leipzig als Aspiranten auf den Rang eines modernen Nationalepikers gehandelt wurden.2 Dabei scheint die pauschale Abwertung der großen Epen nicht zuletzt davon befeuert gewesen zu sein, dass Uz seit einigen Monaten eine ganz andere Variante heroischer Dichtung vor Augen hatte, die statt des Kampfes zwischen antiken Germanen und Römern diejenigen Ereignisse in den Blick rückte, die sich aktuell auf den Schlachtfeldern des Siebenjährigen Kriegs abspielten. „Sie müssen noch mehr Siegeslieder auf Ihren großen Friederich schreiben“, drängte er Gleim, der gerade die ersten Einzeldrucke seiner Preussischen Kriegslieder (1758) in Zirkulation gebracht hatte: „Sie sind ein Meister in dieser Art, welche Deütschland noch nicht gehabt hat.“3 In wenigen Sätzen werden hier die Frontlinien eines Wettbewerbs abgesteckt, in dem der Krieg ins Zentrum einer fieberhaften Arbeit an der nationalen Dichtung rückte. Um 1750 formierte sich eine regelrechte „Welle[ ]“4 von Texten, in denen an verschiedenen Orten der literarischen Aufklärung die Frage aufgeworfen wurde, wie eine spezifisch deutsche Literatur auszusehen habe. Dabei überstieg die Zahl der dichtungstheoretischen Beiträge, von denen die Zeitschriften in Leipzig, Zürich und Berlin überflutet wurden, noch bei Weitem die der fertiggestellten Publikationen. Nicht zufällig kreiste der Diskurs dabei auch um denjenigen Parameter, der den tradierten Nationalerzählungen seit Montesquieus Esprit des Lois ein ungeahntes europäisches Ansehen in Aussicht zu stellen

1 Johann Peter Uz an Johann Wilhelm Ludwig Gleim, 13. März 1758 (Johann Wilhelm Ludwig Gleim, Johann Peter Uz, Briefwechsel zwischen Gleim und Uz, hg. und erläutert von Carl Schüddekopf, Tübingen 1899), S. 287–289, hier: S. 289. 2 Vgl. Dirk Niefanger, Geschichtsdrama der Frühen Neuzeit, 1495–1773, Tübingen 2005, S. 347: Um Friedrich Gottlieb Klopstocks Bardiete in die deutsche Literaturgeschichte der Aufklärung einzuordnen, rekapituliert Niefanger die wichtigsten Stationen der vorigen Hermann-Diskurse und stellt die zentralen Texte aller Gattungen in einer nützlichen Übersicht zusammen. 3 Uz an Gleim, 13. März 1758. In: Briefwechsel zwischen Gleim und Uz, S. 288. 4 Niefanger, Geschichtsdrama der Frühen Neuzeit, S. 348.

https://doi.org/10.1515/9783110613575-005

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schien: um einen postulierten heroischen Nationalgeist der Germanen, in dessen Gefolge auch der Krieg neu in den Horizont der deutschen Autoren rückte. Doch wie genau das bellizistische Potential der eigenen Kultur poetisch produktiv zu machen sei, war vorerst keineswegs geklärt. So kam es in kurzer Zeit zu einer eminenten konzeptionellen Dynamisierung dessen, was oft summarisch unter die Rubrik ‚des‘ literarischen Nationalismus im 18. Jahrhundert gefasst wird.5 Diese Beweglichkeit dokumentiert sich in nuce in den Uz’schen Lageberichten: Episches duellierte sich mit Lyrischem; Antikes mit Zeitgeschichtlichem; und selbst bei einer äußerlich identischen Agenda wie im Falle der Arminius-Epen ging es weniger um Gemeinsamkeiten als um poetologische Schattierungen, so dass die „Debatte um ein repräsentatives Nationalepos“6 zum letzten Ausbruch des langwierigen Literaturstreits zwischen der Zürcher Partei um Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger sowie der Leipziger Partei um Johann Christoph Gottsched führte.7 Die dichtungstheoretische und -praktische Wiederentdeckung des Nationalen, die sich um die Mitte des 18. Jahrhunderts abzeichnete, ist bislang aus einer Reihe von Einzelperspektiven in den Blick genommen worden. Die dominante Frage ist dabei die nach den „diskursiven Regelmäßigkeiten“8 in der kulturellen Konkurrenz mit Frankreich gewesen, die anhand der topischen Konfrontation von Germanen und Römern verhandelt worden sei. In der Polemik gegen den angestammten Rivalen hätten sich – anschließend an traditionelle Muster der Antiromanitas – politische Denunziationen der Franzosen (Blitz, Herrmann)9 mit

5 Symptomatisch für den vereinfachenden Versuch, eine Entwicklungslinie ‚des‘ aufgeklärten Nationalismus zu rekonstruieren, vgl. Hans Peter Herrmann, „Mein Arm wird stark und groß mein Muth […].“ Wandlungen des deutschen Nationalismus im 18. Jahrhundert. In: Die Ordnung der Kulturen. Zur Konstruktion ethnischer, nationaler und zivilisatorischer Differenzen 1750–1850, hg. von Hansjörg Bay und Kai Merten, Würzburg 2006, S. 53–78. 6 Gesa von Essen, „Aber rathen Sie nur nicht den Arminius. Dieser ist mir zu sauvage“: Hermannsschlachten des 18. Jahrhunderts und die Debatte um ein deutsches Nationalepos. In: Hermanns Schlachten. Zur Literaturgeschichte eines nationalen Mythos, hg. von Martina WagnerEgelhaaf, Bielefeld 2008, S. 17–37, hier: S. 19. 7 Die wesentlichen Phasen der Auseinandersetzung, in der sich die Leipziger und die Zürcher Literaturpartei seit Johann Jakob Bodmers Milton-Übersetzung (1732) mit erheblicher publizistischer Energie engagierten, werden rekapituliert bei Jürgen Wilke, Der deutsch-schweizerische Literaturstreit. In: Kontroversen, alte und neue, Bd. 2: Formen und Formgeschichte des Streitens. Der Literaturstreit, hg. von Franz Josef Worstbrock und Helmut Koopmann, Tübingen 1986, S. 140–151, hier: S. 141–146. 8 So überschreibt Blitz seine Analyse der Hermann-Dramen und -Epen zwischen 1740 und 1751 (Blitz, Aus Liebe zum Vaterland, S. 108–143). 9 Blitz, Aus Liebe zum Vaterland, S. 108–143; Hans Peter Herrmann, Einleitung. In: Machtphantasie Deutschland. Nationalismus, Männlichkeit und Fremdenhaß im Vaterlandsdiskurs deut-

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dem Aufruf verschränkt, dass die kulturelle Abhängigkeit von den Nachbarn gelockert werden müsse (Krebs).10 Separat davon haben zwei weniger prominente Forschungsstränge die innerdeutschen Konfliktlagen profiliert, in denen die Arminius-Bearbeitungen Stellung bezogen. Literaturpolitisch ist das christliche Epos Der Messias, dessen erste Gesänge Friedrich Gottlieb Klopstock 1748 zugunsten der Zürcher Literaturpartei vorlegte, als wichtiger Stimulus für die hektische Geschäftigkeit auf dem Feld der nationalen Epik profiliert worden (Essen, Deupmann).11 Im Hintergrund habe dabei die Konkurrenz zwischen biblischem und nationalem Epos gestanden, die sich im Zuge der französischen Querelle du merveilleux als ein paradigmatischer Kampfplatz zwischen Anciens und Modernes herausgebildet hatte.12 Diese nationale Gegenströmung zu Klopstocks Opus magnum ist in der heutigen Germanistik wohl darum so wenig präsent, weil sie letztlich ohne ein gleichwertiges literarisches Produkt versiegt ist. Was die innenpolitische Dimension der Hermann-Konjunktur betrifft, ist schließlich beobachtet worden, dass die Leipziger Texte sich indirekt in der aktuellen Konfliktlage der Schlesischen Kriege positionierten, indem sie die fragile Einheit im Alten Reich ins deutsche Altertum zurückprojizierten (Sahmland, Hien).13 Im impliziten Bezug auf die politische Gegenwart habe man reflektiert, wie der

scher Schriftsteller des 18. Jahrhunderts, hg. von dems., Hans-Martin Blitz und Susanne Moßmann, Frankfurt a. M. 1996, S. 7–31, und im selben Band ders., „Ich bin fürs Vaterland zu sterben auch bereit“. Patriotismus oder Nationalismus im 18. Jahrhundert? Lesenotizen zu den deutschen Arminius-Dramen 1740–1808, S. 32–65. 10 Roland Krebs, Von der Liebestragödie zum politisch-vaterländischen Drama. Der Hermannstoff im Kontext der deutsch-französischen Beziehungen. Zu Johann Elias Schlegels und Justus Mösers Hermannstücken. In: Arminius und die Varusschlacht. Geschichte – Mythos – Literatur, hg. von Rainer Wiegels und Winfried Woesler, Paderborn u. a. 1995, S. 291–308, hier: S. 296 f. Krebs akzentuiert gleichwohl, wie eng beide Traditionen stets verklammert blieben. 11 Essen, „Aber rathen Sie nur nicht den Arminius. Dieser ist mir zu sauvage“; Christoph Deupmann, Der Leipzig-Zürcher Literaturstreit: G***d, die ‚Schweizer‘ und die Dichterkrönung Otto von Schönaichs. In: Schriftstellerische Inszenierungspraktiken – Typologie und Geschichte, hg. von Christoph Jürgensen und Gerhard Kaiser, Heidelberg 2011, S. 69–88, hier: S. 82 f. 12 Vgl. Georg Finsler, Homer in der Neuzeit von Dante bis Goethe. Italien · Frankreich · England · Deutschland, Hildesheim, New York 1973, S. 157–175. Zur Vorgeschichte dieser Gegenüberstellung im 17. Jahrhundert vgl. Ernst Rohmer, Das epische Projekt. Poetik und Funktion des ‚carmen heroicum‘ in der deutschen Literatur des 17. Jahrhunderts, Heidelberg 1998, S. 168–170. 13 Irmtraut Sahmland, Christoph Martin Wieland und die deutsche Nation. Zwischen Patriotismus, Kosmopolitismus und Griechentum, Tübingen 1990, S. 131–140, v. a. S. 136. Erheblich ausgebaut wird dieser Ansatz bei Markus Hien, Altes Reich und Neue Dichtung. Literarisch-politisches Reichsdenken zwischen 1740 und 1830, Berlin, Boston 2015, S. 98–126.  









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(temporäre) Frieden seit dem vorläufigen Ende der Kampfhandlungen im Jahr 1748 zu gestalten sei. Zieht man all diese Hinweise zusammen, dann ist festzuhalten, dass sich die konzertierte Arbeit an den nationalen Poetiken um 1750 in einem mehrfach kodierten Spannungsfeld vollzog, das heuristisch als Austragungsort eines dreifachen Krieges bezeichnet werden kann. Das bislang von der Forschung fokussierte deutsch-französische „Oppositionsmodell“14 im Wettstreit um internationale Anerkennung bildete keineswegs das einzige Konkurrenzverhältnis, das in die vielfältigen Entwürfe einer genuin ‚deutschen‘ Poesie hineinspielte. Darum setzt sich dieses Kapitel das Ziel, den Beziehungen zwischen den Konfliktfeldern nachzugehen, die in der Vergangenheit in den Blick gerückt sind. Seine Hypothese lautet, dass die Suche nach einer nationalen Dichtung durch eine spezifische literaturgeschichtliche Konstellation um die Jahrhundertmitte an Aktualität gewann, in der sich poetische und politische Rivalitäten auf eine signifikante Weise verschränkten. Denn nicht nur traten die seit Jahrzehnten konkurrierenden Literaturparteien der Aufklärung nun auf einem weiteren Gebiet gegeneinander an, das ihnen maximales Prestige versprach: Es ging ihnen um eine repräsentative Nationaldichtung, die nach innen wie nach außen markieren sollte, wofür die deutsche Literatur stehe.15 So wechselte der Literaturstreit, der in den 1730er Jahren mit der poetologischen Kontroverse um John Miltons Paradise Lost (1667) schon als Streit ums Epos entbrannt war,16 nun auf eine dichtungspraktische Ebene. Als Gegenentwurf zum christlichen Großprojekt Der Messias, mit dem die Schweizer Seite in Vorleistung gegangen war, bot sich das notorisch fehlende Nationalepos an, das seit Opitz’ Zeiten an der Spitze der Gattungshierarchie schmerzlich vermisst wurde –17 und

14 Steffen Martus, Staatskunst: die Politik der Form im Kontext der Gallophobie bei Goethe, Möser und Herder. In: Gallophobie im 18. Jahrhundert, hg. von Jens Häseler und Albert Meier, Berlin 2005, S. 89–122, hier: S. 93. Von einem strukturellen Dualismus geht auch Gonthier Louis Fink aus, wenn er die deutsch-französischen Diskurse im 18. Jahrhundert über ihre „binären Oppositionspaare“ rekonstruiert (Fink, Das Bild des Nachbarvolkes, S. 455). Dabei macht Fink deutlich, dass die deutsche Kultur in der französischen Literatur ebenso im Gegensatz zur eigenen entworfen wurde wie umgekehrt. Vgl. auch Fink, Die französische Monarchie und das Heilige Römische Reich Deutscher Nation. 15 Vgl. Dieter Martin, Das deutsche Versepos im 18. Jahrhundert. Studien und kommentierte Gattungsbibliographie, Berlin, New York 1993, S. 7. 16 Nachvollzogen bei Gesa von Essen, Epos. In: Handbuch der literarischen Gattungen, hg. von Dieter Lamping in Zusammenarbeit mit Sandra Poppe, Sascha Seiler und Frank Zipfel, Stuttgart 2009, S. 204–220, v. a. S. 207 f. 17 Ausführlich dargestellt bei Rohmer, Das epische Projekt, S. 175–256.  



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das mit Montesquieus Aufwertung der nordischen Kulturen neue Attraktivität gewann. Der neue Fokus auf dem Martialischen brachte es mit sich, dass die Akteure sich dabei zunehmend auch als Kriegsparteien aufstellten. Diese latente Politisierung der literarischen Streitigkeiten war nicht zuletzt einer historischen Koinzidenz geschuldet. Denn da der Esprit des Lois mit seinem Lob der heroischen Germanen just in dem Jahr erschienen war, in dem mit dem Aachener Frieden (1748) der Kampf um die Machtverteilung im Alten Reich wie in Europa einstweilen zur Ruhe gekommen war, berührten alle Texte über die kriegerische Tugend der Deutschen unterschwellig auch den Konflikt, der seit 1740 im Gang war. Dabei handelte es sich um einen Krieg, der aus verschiedenen Blickwinkeln sehr unterschiedliche Gesichter besaß. Symptomatisch zeigt sich das daran, dass er in der Geschichtswissenschaft bis heute unter zwei Namen läuft: Aus einer preußischen Perspektive ging es um den Anspruch auf die habsburgische Provinz Schlesien, so dass man von den ersten zwei Schlesischen Kriegen (1740–1742, 1744/45) spricht.18 Vom kaiserlichen Standpunkt aus gesehen, stritt man hingegen dafür, den Thron in Wien zu halten. Dieser Österreichische Erbfolgekrieg (1740–1748) wurde sowohl gegen machtpolitische Kontrahenten innerhalb des Alten Reiches ausgefochten, allen voran gegen Bayern, Sachsen und Preußen, als auch gegen die französischen Nebenbuhler im Kampf um die europäische Vorherrschaft.19 Abhängig von den politischen Zielen, die in den verschiedenen Zentren der deutschen Aufklärung verfolgt wurden, sah das Geschehen daher etwa von Leipzig anders aus als von Berlin oder vom neutralen Zürich. Als dementsprechend divergent erwiesen sich die Konturen der deutschen Kriegsgemeinschaft(en), die in den jeweiligen Dichtungsentwürfen zur Geltung gebracht wurden. Um den Aufriss des dreifachen Krieges abzuschließen, hat man es beim Streit um die nationalen Poetiken um 1750 also mit einer Literaturpolitik im buchstäblichen Sinne zu tun, die auf eine intrikate Verflechtung von Nationalität und Regionalität aufmerksam macht. In der Aufklärungsforschung ist seit einigen Jahren die „produktive Wirkung der Vielfalt und Konkurrenz“ in den

18 Vgl. die pointierte Darstellung von Christopher Clark, Iron Kingdom. The Rise and Downfall of Prussia 1600–1947, London 2007, S. 190–210. 19 Zur politischen Konstellation aus habsburgischer Perspektive vgl. jetzt die prägnante Analyse von Barbara Stollberg-Rilinger, Maria Theresia. Die Kaiserin in ihrer Zeit. Eine Biographie, 2., durchgesehene Aufl., München 2017, v. a. S. 74–79. Ergänzend s. Karl Vocelka, Glanz und Untergang der höfischen Welt. Repräsentation, Reform und Reaktion im habsburgischen Vielvölkerstaat (Österreichische Geschichte, hg. von Herwig Wolfram, 15 Bde., Bd. 7: 1699–1815), Wien 2001, S. 164–166.  

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Blick gerückt, die sich durch die spezifische „Polyzentralität“20 der politischen und kulturellen Topographie im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation ergab. Wie die Struktur des Alten Reiches viele administrative Räume versammelte, die untereinander politisch, ökonomisch und konfessionell im Wettbewerb standen, so ging auch die Literaturgeschichte der Frühen Neuzeit aus einer ständigen Konfrontation von Programmen und Poetiken hervor, die vor dem Hintergrund dieser regionalen Faktoren gelesen werden muss.21 Die Suche nach einer nationalen Literatur, die sich im politischen Resonanzraum der Schlesischen Kriege vollzog, bietet nun ein geradezu paradigmatisches Feld, um der Relevanz dieser lokalen Dispositionen nachzugehen: Die militärischen Kampflinien markierten die Grenzen zwischen ganz unterschiedlichen Entwürfen von heroischer Gemeinschaft, und somit rückt anstelle eines singulär gedachten Nationaldiskurses ein kontroverser, vielfach kontingent verlaufender Prozess in den Blick, in dem das Nationale seinen Platz in der Literatur des 18. Jahrhunderts bezog. Im Folgenden soll mithin untersucht werden, wie die jeweiligen politischen Dispositionen der Literaturparteien in der deutschen Aufklärung in der Dichtung der Schlesischen Kriege mit ihren poetologischen Programmen interagierten. Dieser Zugriff verspricht zugleich, das literaturpolitische Kräftefeld hinter einer grundlegenden Verschiebung der nationalen Dichtung zu konturieren, die sich im oben zitierten Austausch zwischen Uz und Gleim angedeutet hat: Am Erfolgs-

20 So Wolfgang Adam und Siegrid Westphal im Vorwort des von ihnen herausgegebenen Handbuchs kultureller Zentren der Frühen Neuzeit, S. XXV. Zum Thema der Polyzentralität vgl. im selben Band auch Claudius Sittig, Kulturelle Zentren der Frühen Neuzeit. Perspektiven der interdisziplinären Forschung. In: Handbuch kultureller Zentren der Frühen Neuzeit. Städte und Residenzen im alten deutschen Sprachraum, hg. von Wolfgang Adam, Siegrid Westphal, dems. und Winfried Siebers, 3 Bde., Bd. 1, Berlin, Boston 2012, S. XXV–XXIX, hier: S. XXXIII–XXXV. 21 Bereits in den 1980er Jahren hat Norbert Mecklenburg für die Rekonstruktion von „[r]egionale[n] Literaturräume[n]“ plädiert, die „sich in Verbindung mit Sprachlandschaften, politischen und konfessionellen Territorien, materiellen und geistigen Produktionsverhältnissen, kulturellen Zentren, Kommunikationswegen und -grenzen“ konstituieren (Mecklenburg, Stammesbiologie oder Kulturraumforschung?, S. 4). Vgl. auch Mecklenburg, Literaturräume sowie ders., Deutsche Literaturlandschaften. Zur Erforschung regionaler Dimensionen in der Literaturgeschichte. In: Ders., Die grünen Inseln. Zur Kritik des literarischen Heimatkomplexes, München 1986, S. 253–264; ders., Kosmopolitismus vs. Regionalismus im deutschen kulturellen Erbe. In: Gegenwart als kulturelles Erbe. Ein Beitrag der Germanistik zur Kulturwissenschaft deutschsprachiger Länder, hg. von Bernd Thum, München 1985, S. 317–333; ders., Rettung des Besonderen. Konzepte für die Analyse und Bewertung regionaler Literatur. In: Kolloquium zur literarischen Kultur der deutschsprachigen Bevölkerungsgruppen im Ausland, hg. von Alexander Ritter, Flensburg 1984, S. 179–204.

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projekt der Preussischen Kriegslieder wird sichtbar, dass die Poetik einer spezifisch ‚deutschen‘ Literatur um 1750 sukzessive vom Epos in die Lyrik wanderte. Dieser Prozess verdient darum erhöhte Aufmerksamkeit, weil er anzeigt, dass im Streit um die nationale Literatur nicht zuletzt auch die Frage verhandelt wurde, wie politische Gemeinschaft zu denken sei. So haben literatursoziologische Studien in der Vergangenheit immer wieder darauf aufmerksam gemacht, dass die Ablösung vom Epos als „Systemdominante“22 in der traditionellen Hierarchie der Gattungen als Symptom dafür betrachtet werden muss, dass auch die Konzeption von Gesellschaft im 18. Jahrhundert in einen Wandel eintrat. In der Frühen Neuzeit hatte sich die repräsentative Funktion der höchsten Gattung in einer Strukturhomologie23 zu der Überzeugung herausgebildet, dass die wichtigsten sozialen Instanzen an der Spitze der Ständeordnung zu finden seien. Insofern kann die Verlagerung der Nationalliteratur in die kleinen Formen der Lyrik, die am entgegengesetzten Ende des generischen Spektrums verortet waren, als Anzeichen für eine Dynamisierung des gesellschaftstheoretischen Denkens gelesen werden, bei der auch die unteren sozialen Kräfte ins Blickfeld rückten. Beim Parcours durch die literaturpolitischen Konstellationen, die für diese Umstellung entscheidend waren, soll dieses Kapitel drei Stationen anvisieren, die chronologisch aufeinander folgten: zuerst die traditionell ausgerichteten Epenprojekte von Gottsched, die nach dem Aachener Frieden entstanden und die durch eine spezifische Allianz mit der Kaiserstadt Wien gekennzeichnet waren (Kap. II.1), danach die Rivalität zwischen den Hermann-Epen von Schönaich und Wieland, in der eine Leipziger Auslegung der Kriegsliebe Montesquieu’scher Prägung auf eine antagonistische Sicht aus der Schweiz prallte (Kap. II.2), und schließlich den Gattungswechsel zur Lyrik, mit dem die Berliner Aufklärung nach dem Ausbruch des Dritten Schlesischen Krieges, des sogenannten Siebenjährigen Krieges, das Feld der nationalen Dichtung neu definierte (Kap. II.3).

22 Erich Köhler, Gattungssystem und Gesellschaftssystem. In: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte. Cahiers d’Histoire des Littératures Romaines 1 (1977), S. 7–22, hier: S. 14. Zuletzt vgl. Michler, Kulturen der Gattung, S. 161–186. 23 Vgl. immer noch Erich Köhler, Einige Thesen zur Literatursoziologie. In: Ders., Vermittlungen. Romanistische Beiträge zu einer historisch-soziologischen Literaturwissenschaft, München 1976, S. 8–15, hier: S. 11. Vgl. auch Wilhelm Voßkamp, Gattungen als literarisch-soziale Institutionen. Zu Problemen sozial- und funktionsgeschichtlich orientierter Gattungstheorie und -historie. In: Textsortenlehre – Gattungsgeschichte, hg. von Walter Hinck, Heidelberg 1977, S. 27–42, hier: S. 28.

1 Leipzig/Wien: Poetik des nationalen Epos Seitdem im Oktober 1740 der Krieg ausgebrochen war, der das Alte Reich bis ins Jahr 1763 beschäftigen sollte, äußerte Johann Christoph Gottsched sich verstärkt zu Fragen der Nation. Auf erste Kommentare zur politischen Situation, die sich direkt nach dem Kriegsbeginn noch in Vorreden und anderen Paratexten versteckten, folgte bald die konsequente Förderung von literarischen Projekten zur deutschen Geschichte; und mit der Zeit durchlief auch die Dichtungslehre des Leipziger Professors immer konsequenter einen nationalen turn,24 so dass der „Umkreis Gottscheds“ zum „Zentrum der frühen Hermannsdichtung“25 wurde. So heterogen also die publizistischen Kontexte waren, in denen der Literaturreformer in den ersten Kriegsjahren Einblicke in seine Interpretation der Ereignisse gewährte, so konsistent war das politische Deutungsschema, das er dabei zur Anwendung brachte. Schon früh zeichnete sich ab, dass Poetik und Politik im aufgeklärten Sachsen eng verschränkt waren. Dennoch ist dieser Zusammenhang lange nicht in den Blick der Forschung gerückt. Erst jüngst ist exemplarisch auf interessante Verbindungslinien hingewiesen worden, die sich zwischen Gottscheds tagespolitischen Äußerungen und einem seiner poetologischen Texte ziehen lassen:26 Die Rede ist von seiner Ankündigung des Trauerspiels Herrmann, in dem der junge Johann Elias Schlegel mit Kriegsbeginn (1740/41) die ersten Germanen auf eine deutschsprachige Bühne brachte.27 So verschaffte Gottsched sich zunächst im Anmerkungsteil zu einer unter seiner Obhut entstandenen Übersetzung von Pierre Bayles Verschiedenen Gedanken bey Gelegenheit des Cometen, der im Christmonate 1680 erschienen (1741) unerwartet den Raum, um eine aktuelle politische Sorge zu notieren. Angesichts des gegenwärtigen Vorstoßes der Franzosen, „ganz Europa im Kriege und Frieden Gesetze vorzuschreiben“,28 wie der Dichtungslehrer fürchtete, komme zukünftig vielleicht „gar kein deutscher Kaiser mehr“ – zumindest dann, wenn die deut-

24 Vgl. Joachim Birke, Nachwort des Herausgebers. In: Johann Christoph Gottsched, Versuch einer critischen Dichtkunst (Ausgewählte Werke, hg. von Joachim Birke, Brigitte Birke und Phillip M. Mitchell, 12 Bde., Bd. 6/3: Variantenverzeichnis), Berlin, New York 1973, S. 169–178, hier: S. 175. Für diese Ausgabe von Gottscheds Werken steht fortan das Kürzel GAW. 25 Hien, Altes Reich und Neue Dichtung, S. 108. 26 Vgl. Hien, Altes Reich und Neue Dichtung, S. 108–114. 27 Heide Hollmer, Anmut und Nutzen. Die Originaltrauerspiele in Gottscheds ‚Deutscher Schaubühne‘, Tübingen 1994, S. 143 mit weiteren Belegen. 28 Johann Christoph Gottsched, Anm. 76 zu Pierre Bayle, Verschiedene Gedanken bey Gelegenheit des Cometen, der im Christmonate 1680 erschienen, an einen Doctor der Sorbonne gerichtet. Aus dem Französischen übersetzet, und mit Anmerkungen und einer Vorrede ans Licht gestellet von Johann Christoph Gottscheden […], Hamburg 1741, S. 834.

https://doi.org/10.1515/9783110613575-006

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schen Fürsten nicht lernen würden, ihre „Saumseligkeit“ und „wenige Einigkeit“29 abzulegen. Statt für die innerdeutschen Geltungskämpfe interessierte Gottsched sich bei seiner Sicht auf den derzeitigen Krieg also primär für die Stabilität des Alten Reiches, dessen Herrscher die Franzosen seit Langem als Rivalen im Konkurrenzkampf um die europäische Vorherrschaft betrachteten.30 In diesem Sinne rief Gottsched seine Landsleute dringlich zur gegenseitigen Loyalität auf, die eine „herannahende Uebermacht von Frankreich“,31 dem potentiellen Nutznießer der Querelen zwischen den deutschen Fürsten, verhindern könne. Ein analoges Deutungsschema schlug Gottsched vor, wenn er in der Vorrede zum 4. Band seiner Deutschen Schaubühne (1743) das „doppelte[ ] Vergnügen“ imaginierte, das ein Leser von Schlegels Herrmann empfinden werde, der die „Herrschsucht“ der Franzosen in den dargestellten Römern wiederentdecke. Beim Blick auf den gemeinsamen Kampf der germanischen Völker dränge sich dem politisch interessierten Rezipienten der Eindruck auf, dass „der Herr Verfasser mit Fleiß sein Stück auf die itzigen Umstände eingerichtet“32 habe. Mit diesem Gedankenspiel legte Gottsched den Herrmann, wohl im Widerspruch zu Schlegels eigener Absicht,33 auf eine aktualisierende Lesart fest. Diese implizierte erneut eine Kriegsdeutung, nach der die deutschen Fürsten sich gemeinsam gegen Frankreich zur Wehr setzen mussten. Solche Korrespondenzen erlauben es, die Rede von der Nation in Gottscheds Werk konzeptuell einzuordnen. Lange ist man davon ausgegangen, dass es sich

29 Gottsched, Anm. 75 zu Bayle, Verschiedene Gedanken bey Gelegenheit des Cometen, S. 832 f. 30 Burkhardt, Die Friedlosigkeit der Frühen Neuzeit, S. 518. Zum frühneuzeitlichen Streben nach einer wörtlich verstandenen Monarchie (also: Einherrschaft) in Europa und dem daraus resultierenden politischen Dualismus zwischen Heiligem Römischem Reich deutscher Nation und Frankreich vgl. in Burkhardts Aufsatz auch die aufschlussreichen Ausführungen auf S. 517–527. 31 Gottsched, Anm. 75 zu Bayle, Verschiedene Gedanken bey Gelegenheit des Cometen, S. 832 f. 32 Johann Christoph Gottsched, Vorrede. In: Die deutsche Schaubühne, nach den Regeln und Mustern der Alten eingerichtet, hg. von dems., 4. Teil, Leipzig 1743, S. 3–27, hier: S. 9 f. 33 Hollmer (Hollmer, Anmut und Nutzen, S. 161) und von Essen (Gesa von Essen, Hermannsschlachten. Germanen- und Römerbilder in der Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts, Göttingen 1998, S. 72) verweisen in diesem Kontext auf eine Briefstelle, die Schlegels Bruder Johann Heinrich in seiner posthumen Werkausgabe (5 Bde., 1761–1770) zitierte. Danach sei Gottscheds „Auslegung der Absichten in meinem Herrmann“ seiner Ansicht nach „so beschaffen, daß ich sehr wünschte, daß sie weggelassen wäre“ (Johann Heinrich Schlegel, Leben des Verfassers. In: Johann Elias Schlegel, Werke. Fünfter Theil nebst dem Leben des Verfassers, hg. v. Johann Heinrich Schlegel, Kopenhagen, Leipzig 1770, S. VII–LII, hier: S. XXXIV f.). Hollmer weist zu Recht darauf hin, dass dies auch eine nachträgliche Stilisierung des Bruders sein könnte. 1745 war ein Bruch zwischen Johann Elias Schlegel und Gottsched eingetreten, der in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts massiv an Popularität verlor; dieser Konflikt könnte hier vorverlegt worden sein (Hollmer, Anmut und Nutzen, S. 161, Anm. 233).  







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dabei um eine innerliterarische Nation ohne politisches Substrat handle. Teils hat die Forschung für einen konstruktiven Charakter von Gottscheds Nation argumentiert,34 teils hat sie auf ihre Mitwirkung am posthumanistischen „Sprachspiel“ einer „querelle des nations“35 zwischen Deutschen und Franzosen verwiesen. Dagegen hat Markus Hien kürzlich zu Recht auf das spezifische „Reichsbewusstsein“36 aufmerksam gemacht, das sich in Gottscheds Ruf zur Eintracht niederschlage. Demnach stellte sich der Kopf der Leipziger Literaturpartei in die Tradition eines frühneuzeitlichen Diskurstyps, der an einen juristischen Strang des deutschen Humanismus anschloss. Im Kontext der ‚Reichspublicistik‘, die über Samuel Pufendorfs und Hermann Conrings Schriften über die staatsrechtliche Organisation des Alten Reiches bis ins 18. Jahrhundert ausgestrahlt sei,37 habe man nämlich eine „nationale und politische Selbstnarration“ entworfen, die sich föderal verstand, die Vielheit der Germanen und Griechen gegen den Zentralismus Frankreichs ausspielte, gleichsam einen dritten Weg beschreiten wollte, der zwischen Zerstreuung und monolithischer Einheit lag: die Utopie also, die negativen Seiten der politischen Vielheit zugunsten einer funktionsfähigen staatlichen und kulturellen Eintracht zu überwinden.38

Als Kernelement dieses Diskurses habe das Ideal einer nationalen Einheit in der Vielheit fungiert; und als Druckmittel für die Herstellung dieser Eintracht habe bevorzugt der politische und kulturelle Wettstreit mit den Franzosen gedient. Die potentielle Stärke, die aus einem geeinten Bund von deutschen Fürsten erwachsen könne, habe man sich dabei immer wieder anhand der antiken Varusschlacht vor Augen gestellt: Im Teutoburger Wald, so die reichspolitische Auslegung des berühmten antiken Gefechts, habe eine vorbildliche Einigkeit der Germanen die Überlegenheit des römischen Heeres zunichte gemacht.39 Durch den Hinweis auf diese Eintrachtsideologie der Reichspublizisten ist eine wichtige Schablone für Gottscheds Sicht auf den Krieg erschlossen worden. Dabei leuchtet die Leipziger Affinität zur Reichsperspektive noch umso mehr ein, wenn man sie mit einem historischen Index versieht. Bislang ist nämlich nicht in Rechnung gestellt worden, dass sich die Annäherung von Gottscheds Einsatz für

34 Hien, Altes Reich und Neue Dichtung, S. 100. Als Beispiele für solche vereinfachenden Lesarten zitiert Hien konkret Herrmann, Ich bin fürs Vaterland zu sterben auch bereit, S. 62 und Blitz, Aus Liebe zum Vaterland, S. 121, S. 141 und S. 337 f. 35 Fulda, Zwischen Gelehrten- und Kulturnationalismus, S. 290. 36 Hien, Altes Reich und Neue Dichtung, S. 108. 37 Vgl. Hien, Altes Reich und Neue Dichtung, S. 92–98. 38 Hien, Altes Reich und Neue Dichtung, S. 28. 39 Vgl. Hien, Altes Reich und Neue Dichtung, S. 101 f.  



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die deutsche „,Literaturnation‘“40 und für die politische Nation des Alten Reiches nicht zufällig um 1740, d. h. vor dem Hintergrund konkreter Kriegsunruhen vollzog. Doch blickt man genauer auf die politische Konstellation dieser Jahre, dann lassen sich für diese Neuausrichtung der Leipziger Poetik gute Gründe anführen. Schließlich begannen nicht nur für die preußischen Hohenzollern und die Habsburger, die als Hauptantagonisten gegeneinander antraten, mit dem Tod des habsburgischen Kaisers Karls VI. im Herbst 1740 turbulente Zeiten. Auch für die Sachsen, die als Kriegspartei der zweiten Reihe mit von der Partie waren,41 ging es um einiges. Als sie die Koalition zwischen dem preußischen, bayrischen und sächsischen Kurfürsten aus der Taufe zu heben halfen, die sich gegen die in der Pragmatischen Sanktion (1713) vereinbarte österreichische Thronfolge von Karls ältester Tochter Maria Theresia richtete (der einzige Sohn des Kaisers war früh verstorben), hegten sie dabei ehrgeizige Pläne. So erhob der Dresdner Kurfürst Friedrich August II. selbstbewusst eigene Ansprüche auf die Kaiserwürde:42 eine Vormachtsphantasie, die er während des Interregnums bis zur französisch geförderten Wahl Karl Albrechts von Wittelsbach zum ersten nicht-habsburgischen Kaiser seit mehr als drei Jahrhunderten (1742)43 als einer von zwei Reichsvikaren für kurze Zeit ausleben konnte.44 Diese Orientierung am Kaiserthron blieb unter anderen Vorzeichen auch dann erhalten, als sich die Fronten nach dem ersten Separatfrieden zwischen Maria Theresia und Friedrich II. von Preußen im Jahr 1742 verschoben.45 Die territorialen Zugewinne, die der aufstrebende preußische Nachbar durch die Eroberung Schlesiens verzeichnen konnte, hatten die Sachsen immer mehr in die  

40 Fulda, Zwischen Gelehrten- und Kulturnationalismus, S. 282. 41 Für eine stärkere Berücksichtigung dieses Akteurs plädiert René Hanke, Brühl und das Renversement des alliances. Die antipreußische Außenpolitik des Dresdener Hofes 1744–1756, Berlin 2006, v. a. S. 1–7. 42 Stollberg-Rilinger, Maria Theresia, S. 76. Der sächsische Kurfürst war mit einer Tochter Josephs I., des Habsburgerkaisers vor Karl VI., verheiratet, deren dynastische Rechte durch die Pragmatische Sanktion übergangen worden waren (Harm Klueting, Zwischen wittelsbachischem Kaisertum und josephinischer Diözesanregulierung (1742/45–1783): Faktoren österreichischer Identitätsbildung im 18. Jahrhundert. In: Strukturwandel kultureller Praxis. Beiträge zu einer kulturwissenschaftlichen Sicht des theresianischen Zeitalters, hg. von Franz M. Eybl, Wien 2002, S. 15–44, hier: S. 33). Zum sächsischen Machtkalkül vgl. Reed Browning, The War of the Austrian Succession, New York 1995, S. 49 f. 43 Vgl. Stollberg-Rilinger, Maria Theresia, S. 69. Zu den Umständen der Krönung s. Browning, The War of the Austrian Succession, S. 87–89. 44 Vgl. Wolfgang Hermkes, Das Reichsvikariat in Deutschland. Reichsvikare nach dem Tode des Kaisers von der Goldenen Bulle bis zum Ende des Reiches, Karlsruhe 1968, S. 77–95. 45 Vgl. Hanke, Brühl und das Renversement des alliances, S. 55 f.  





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Defensive gebracht.46 Und so standen sie 1744 beim erneuten Ausbruch des Konflikts wieder auf der Seite des angestammten Herrscherhauses Habsburg, das die Krone nach dem so frühen wie überraschenden Tod des wittelsbachischen Kaisers im Jahr 174547 zurück nach Wien holte, wo Maria Theresias Ehemann Franz Stephan von Lothringen sie fortan tragen durfte. Doch ob nun vor oder nach dem Bündniswechsel, der das Ende der Dresdner Kaiserträume markierte: Konstitutiv für die sächsische Perspektive aufs Kriegsgeschehen war stets eine Engführung zwischen den eigenen politischen Interessen und denen des Alten Reiches, die mit dem Ende des Interregnums ihre habsburgische Konnotation zurückerhielten. Dieses Teilkapitel soll untersuchen, wie diese Dispositionen sich auf die Poetiken der Nationaldichtung auswirkten, die während der kriegerischen Dekaden im Einflussbereich der Leipziger Literaturpartei entstanden. Schon in der kurz betrachteten Vorrede zu Schlegels Herrmann deutet sich an, dass literarische und politische Interessen in den sächsischen Evokationen der Nation Hand in Hand gingen. Indem Gottsched die Gedankenfigur einer bedrohten Eintracht aufrief, bezog er Stellung für die politischen Ambitionen der Sachsen, die sich in den aktuellen Kämpfen entweder an der Stelle der kaiserlichen Instanz oder zumindest als wichtiger Partner an ihrer Seite sahen; zugleich versuchte der Dichtungslehrer, seine Literaturpartei mithilfe einer integrativen Reichsrhetorik als diejenige Stimme im Feld der literarischen Aufklärung zu platzieren, die für die Interessen aller Deutschen sprach. Sowohl auf dem Gebiet der Dichtung als auch dem der Politik bewies Gottsched damit eine affirmative Einstellung gegenüber einer hierarchischen Ordnung, in der er selbst systematisch auf die höchsten Systemstellen spekulierte. Dazu passt, dass die Leipziger Projekte der Kriegsliteratur sich dichtungstheoretisch wenig später auf nicht minder autoritatives Terrain begaben: auf das des Epos. Sowohl poetologisch als auch politisch schlug Gottsched mithin einen äußerst traditionellen Weg der politischen Dichtung ein, für den das militärische Bündnis zwischen Sachsen und Habsburgern eine maßgebliche Rolle spielte. Liest man das plötzlich aufblühende Leipziger Interesse für die Nation vor diesem zeitgeschichtlichen Hintergrund, dann rücken zugleich neue literaturhistorische Zusammenhänge in den Blick. So scheint der gesteigerte, oft kritisch zur Kenntnis genommene Traditionsbezug von Gottscheds Spätwerk nicht zuletzt aus einer bewussten Orientierung an der Kaiserstadt zu resultieren. Diese Hinwendung nach Wien schloss auch den Dialog mit den dort ansässigen Autoren ein, 46 Ausführlich nachzulesen bei Browning, The War of the Austrian Succession, S. 107–109. 47 Der rasche Tod von Karl Albrecht war zum Zeitpunkt der Kaiserwahl nicht vorauszusehen gewesen. Insofern neigt man leicht dazu, die politische Bedeutung zu unterschätzen, die diesem Affront gegen die Habsburger zukam. Vgl. Stollberg-Rilinger, Maria Theresia, S. 108.

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die aufgrund der Mehrsprachigkeit der habsburgischen Literatur um 1750 nur selten von der Germanistik beachtet werden. Ein Seitenblick auf diese Texte mag an dieser Stelle von doppeltem Nutzen sein. Nicht nur verspricht er, die reichsaffine Sicht auf den 1740 ausgebrochenen Krieg klar zu konturieren. Vor diesem Hintergrund kann auch die Analyse von Gottscheds Poetik der Nationaldichtung, die sich nach dem militärischen Schulterschluss zwischen Sachsen und Habsburgern immer enger an Wiener Bedürfnisse anlehnte, anschließend auf ein umso stabileres Fundament gestellt werden.

1.1 Epik und Reich I: Habsburgische Perspektiven (Maria Theresia-Epik) Seit dem Kriegsausbruch von 1740 erlebte ein Reichpatriotismus neue Konjunktur, der sich besonders prägnant auf der Seite der kaiserlichen Partei ausbildete. Da die Literatur des multinationalen Habsburgerreichs zu dieser Zeit noch von einer anderen Sprache als der deutschen dominiert war, die den Gelehrten aller Landesteile einen Austausch auf Augenhöhe ermöglichte, ist sie dennoch bisher weitgehend außerhalb des germanistischen Sichtfeldes geblieben. Denn die unter einer Krone vereinigten Deutschen, Ungarn, Böhmen und Kroaten hatten den gemeinsamen Maßstab für ihre Dichtung seit Langem in den sprachlichen und stilistischen Mustern der lateinischen Poesie gefunden. Die überaus lebendige „Latinitas Austriaca“,48 die bis weit ins 18. Jahrhundert florierte, war mithin nicht unbedingt ein Zeichen kultureller Rückständigkeit; sie trug der Bevölkerungsstruktur in einem Herrschaftsgefüge Rechnung, das sich über mehrere Sprachund Kulturräume erstreckte.49

48 Werner M. Bauer, Latinitas Austriaca. Zur neulateinischen Dichtung der josephinischen Epoche. In: Jahrbuch für internationale Germanistik 30:2 (1998), S. 32–115. Die neulateinische Literatur war institutionell v. a. in den jesuitischen Schulen verankert, die eine enge Affinität zum Regierungsapparat aufwiesen (Bauer, Latinitas Austriaca, S. 41). Daneben florierte in der Residenzstadt Wien eine italienische Poesie, die jedoch seltener zum Austragungsort für die Konflikte im Alten Reich wurde. Sie wird an dieser Stelle nicht näher betrachtet; zentrale Linien finden sich bei Alfred Noe, Geschichte der italienischen Literatur in Österreich, 2 Bde., Bd. 1: Von den Anfängen bis 1797, Wien, Köln, Weimar 2011/12, S. 199–486. 49 Ein Zeugnis dafür, dass in der Kommunikation zwischen den verschiedenen Sprachgemeinschaften das Lateinische oft das Mittel der Wahl war, findet sich in der Rede „Dass es eben Patriotismus war, was diese Schriftsteller verleitete, die römische Sprache vor der devtschen zu wählen“ des Rhetoriklehrers Johannes B. Premlechner. Als die deutsche Sprache in den 1770er und 1780er Jahren mehr Bedeutung erhielt, fürchtete dieser, Latein könne ganz zur Verkehrssprache herabsinken: „Soweit setzen wir die Sprache des alten Rom herab, Hochansehnliche  

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Die Machtkämpfe, die nach dem Tode Karls VI. entbrannten, mobilisierten den lateinisch schreibenden Teil des Alten Reichs dabei nicht weniger als die deutschsprachige Aufklärung. Die Bedrohung der Herrschaft stimulierte den neulateinischen Output in den habsburgischen Provinzen noch einmal auf beispiellose Weise. Zwischen 1740 und 1770 ist der letzte,50 zugleich aber auch der höchste Ausschlag von panegyrischen Epen zu verzeichnen, der von zahlreichen Gelegenheitsgedichten flankiert wurde. „[E]ine vergleichbare Dichte“, konstatiert die Neulatinistin Elisabeth Klecker, „haben weder der Dreißigjährige Krieg noch die zweite Wiener Türkenbelagerung – wie man meinen möchte, epische Gegenstände par excellence – hervorgebracht.“51 An zwei dieser zeitgeschichtlichen Epen soll hier gezeigt werden, wie die Autoren die Eintrachtsrhetorik des Reichsdiskurses für eine Deutung des Österreichischen Erbfolgekrieges heranzogen. Auffällig ist, dass beide Texte unter dem Druck des Machtvakuums einen Ausfallschritt in nationale Diskurse vollzogen. Sowohl die nur in einem Manuskript erhaltene Theresias eines anonymen Lothringers (9 Bücher, 1746) als auch das voluminöse, 1752 fertiggestellte Epos There-

Zuhörer! wenn wir sie nur zur Unterredung mit den benachbarten Ungarn und Slaven bestimmt wissen wollen: hingegen Gedichte, Reden, Geschichte in lateinischer Sprache verfassen, als eine Beschäftigung verwerfen, die für nichts geringeres, als eine Sünde wider den Patriotismus, für eine Verachtung und für einen offenbaren Hass des Vaterlandes angesehen werden müssen.“ (Johann Baptist Premlechner, Lucubrationes poeticae et oratoriae, Wien 1789, S. 317). 50 Elisabeth Klecker, Tradition und Moderne im Dienst des Herrscherlobes. Beispiele lateinischer Panegyrik für Maria Theresia. In: Strukturwandel kultureller Praxis. Beiträge zu einer kulturwissenschaftlichen Sicht des theresianischen Zeitalters, hg. von Franz M. Eybl, Wien 2002, S. 233– 247, hier: S. 236. 51 Elisabeth Klecker, Maria Theresia und Aeneas. Vergilrezeption zur Bewältigung der weiblichen Erbfolge. In: Camoenae Hungaricae 2 (2005), S. 111–126, hier: S. 113. Die Neulatinisten der Universität Wien arbeiten seit den 1990er Jahren die lateinische Dichtung auf das Haus Habsburg vom 16. bis ins 18. Jahrhundert auf. Vgl. dazu die programmatischen Aufsätze von Elisabeth Klecker, Franz Römer, Poetische Habsburg-Panegyrik in lateinischer Sprache. Bestände der Österreichischen Nationalbibliothek als Grundlage eines Forschungsprojekts. In: Biblos 43:3–4 (1994), S. 183–198; Franz Römer, Poetische Habsburg-Panegyrik in lateinischer Sprache vom 15. bis ins 18. Jahrhundert. In: 1000 Jahre Österreich – Wege zu einer österreichischen Identität. Vorträge anlässlich des Dies academicus der Geisteswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien am 10. Jänner 1996, hg. von dems., Wien 1997, S. 91–99. Die Erschließung dieser Texte ist philologischer work in progress: Klecker hat ihre Einschätzung einer besonderen Dichte von panegyrischen Habsburg-Dichtungen noch auf drei Kriegsepen und ein allegorisches Epos gegründet. Die Zahl muss aber nach oben korrigiert werden. So befasst sich eine neuere Arbeit aus dem Wiener Umfeld wenige Jahre später bereits mit zwei weiteren Epen (Margot Geelhaar, Maria Theresia und der Österreichische Erbfolgekrieg im Spiegel neulateinischer Huldigungsliteratur: Anton Pamers Mars accusatus und Leopold Heizlers Austria liberata, Wien 2010).

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sia sive Ostenta Dei O.M. (14 Bücher) des hofnah verorteten Italieners Francesco Maria Cesare, der fast dreißig Jahre vorher mit einem Eugenius (1724) auf Prinz Eugen von Savoyen aufgetreten war,52 flankierten die etablierte Selbstinszenierung der Habsburger als stolze Erben der römischen Kaiser53 nun durch eine appellative Hinwendung zum einigenden germanischen Altertum. Die Funktionen, die sich mit diesem habsburgischen Nationaldiskurs verbanden, sollen im Folgenden herausgearbeitet werden. So zielte der offensichtlich noch wenig arrivierte Verfasser der Theresias auf Beachtung am Wiener Hof, indem er offensiv für das habsburgische Anrecht auf den Thron und gegen andere Aspiranten eintrat. In der Widmung an Maria Theresias ersten Sohn, den späteren Joseph II., stützte er sich zunächst auf die traditionelle Analogie zwischen den Kaisern in Rom und Wien. Indem er in Adaption von Vergils 4. Ekloge das dezidiert männliche54 Kind pries („[m]ascula progenies cælo demittitur alto“, Hervorh. A.H.),55 feierte er die Schließung der genealogischen Lücke, die das Haus Habsburg destabilisiert hatte. In den Anklängen an die messianische Ekloge verbanden sich unüberhörbar römisch-cäsari-

52 Francesco Maria Cesare, Eugenius seu Mariae virginis per Eugenium trophaea, Neapel 1724. Vgl. den Katalogteil in Barock in Neapel. Kunst zur Zeit der österreichischen Vizekönige, hg. von Silvia Cassani, Neapel 1993, S. 193, wo das Widmungsexemplar des Eugenius abgebildet ist. 53 Im Hintergrund steht hier die europäische Konkurrenz um die eine Nachfolgermacht des Imperium Romanum, die im vorigen Kapitel hergeleitet worden ist (vgl. Kap.I.1). Eine genaue Rekonstruktion für den österreichisch-habsburgischen Kontext liefert Grete Klingenstein, Was bedeuten „Österreich“ und „österreichisch“ im 18. Jahrhundert? Eine begriffsgeschichtliche Studie. In: Was heißt Österreich? Inhalt und Umfang des Österreichbegriffs vom 10. Jahrhundert bis heute, hg. von Richard G. Plaschka, Gerald Stourzh und Jean Paul Niederkorn, Wien 1995, S. 149– 220, v. a. S. 187–192. Dieser Nachfolgeanspruch zum römischen Imperium wurde im Wien des 17. und 18. Jahrhunderts nicht zuletzt durch prunkvolle Bauprogramme in Szene gesetzt. Ausführlich dokumentiert und reflektiert werden diese in der kanonischen Studie von Franz Matsche, Die Kunst im Dienst der Staatsidee Kaiser Karls VI. Ikonographie, Ikonologie und Programmatik des „Kaiserstils“, 2 Halb-Bde., Berlin, New York 1981, v. a. Bd. 2, S. 291–332. Vgl. zudem Polleroß, Sonnenkönig und österreichische Sonne, S. 240 sowie ders., „Dieses neue Rom, ein Wohn-Sitz Römischer Kayser“. Zur historischen Legitimation des habsburgischen ‚Kaiserstils‘. In: Barock als Aufgabe, hg. von Andreas Kreul, Wiesbaden 2005, S. 9–39. 54 Vergil selbst formulierte geschlechtsneutral: „iam nova progenies caelo demittitur alto“ (Verg. ecl. 4, 7). 55 So heißt es in einem Geburtsgedicht, das dem Epos vorangestellt ist (Theresias. Szenen aus dem Österreichischen Erbfolgekrieg 1741–1745. Epos eines unbekannten Lothringers in neun Büchern lateinisch und deutsch, als Faksimile-Ausgabe nach dem originalen Widmungsexemplar von 1746 hg. und im Originalversmaß übersetzt von Heinz Martin Werhahn, Neuss 1995, S. 9 v, V. 15). Da der Text im Manuskript vorliegt, unterscheidet die Paginierung zwischen Recto- und Verso-Seiten.  



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sche und christliche Anklänge.56 Und auch für das nach wie vor drängende Kontinuitätsproblem, das sich durch die unterbrochene männliche Linie stellte,57 entwarf Cesare auf diesem Weg eine gangbare Lösung. Statt Josephs Legitimität aus einer durchgehenden Kaiserreihe von Rom bis zur Gegenwart herzuleiten, wie es bisher Usus gewesen war,58 etablierte er nun eine direkte Analogie zwischen dem Habsburgerprinzen und dem ersten römischen Alleinherrscher Augustus, auf den man die 4. Ekloge traditionell bezog.59 Diesen Herrschaftsanspruch unterstrich der Verfasser der Theresias umso deutlicher, indem er die politische Konstellation des Erbfolgekrieges auf eine Konkurrenz um die Kaiserkrone zuschnitt. Als Anlass des Krieges beschwor er einen Dualismus zwischen deutscher und französischer Nation herauf, der als Eingangstor für eine Rhetorik des Reiches fungierte. Spätestens seitdem Versailles unter Ludwig XIV. öffentlich mit Kaiserphantasien kokettiert hatte,60 galten die Franzosen als größte Gefahr für die Macht des Habsburgerreichs in Europa; somit lautete die Antwort auf die im Proöm aufgeworfene Frage, „wer’s war, der der Welt stahl den Frieden“,61 auch hier: „Frankreich“ („Gallia“)62. Verantwortlich für den Kriegsausbruch von 1740 seien demnach nicht die deutschen Fürsten gewesen. Der französische Gegner habe die politischen Aktivitäten vielmehr im Verborgenen gesteuert:

56 Genauer zu den christologischen Momenten in der habsburgischen Kriegsliteratur vgl. Annika Hildebrandt, Steffen Martus, „Daß keiner nur durch Macht fällt, stehet, oder steiget“: Konfessionelle und politische Konkurrenzen in der Dichtung des Siebenjährigen Kriegs. In: Katholische Aufklärung in Europa und Nordamerika, hg. von Jürgen Overhoff und Andreas Oberdorf, Göttingen 2019, S. 297–316. 57 Vgl. Klecker, Maria Theresia und Aeneas, S. 117. 58 Vgl. Lucjan Puchalski, Imaginärer Name Österreich. Der literarische Österreichbegriff an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, Wien 2000, S. 22; Matsche, Die Kunst im Dienst der Staatsidee Kaiser Karls VI., Bd. 1, S. 291. 59 Klecker, Maria Theresia und Aeneas, S. 125. 60 Der Konflikt zwischen Wien und Paris fungierte im 16. und im 17. Jahrhundert als Konstante der europäischen Politik. Vgl. Christoph Kampmann, Katharina Krause, Eva-Maria Krems, Anuschka Tischler, Einleitung. In: Bourbon – Habsburg – Oranien. Konkurrierende Modelle im dynastischen Europa um 1700, hg. von dens., Köln 2008, S. 1–12; Roger Lockyer, Hapsburg and Bourbon Europe 1470–1720, London 1974, S. 331–466. Eine faszinierende Rekonstruktion der konkurrierenden Repräsentationsprogramme, die aus diesem Machtkonflikt hervorgingen, bietet Jeroen Duindam, Vienna and Versailles. The Courts of Europe’s Dynastic Rivals, 1550–1780, Cambridge 2003. 61 Theresias I, V. 6, S. 13 v; die angeführte Übersetzung stammt vom Herausgeber Werhahn. 62 Theresias I, V. 11, S. 13 v.

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Also versucht er, die Herzen der Deutschen vor allem mit Gaben an sich zu ziehen, mit Gold auch, geschenkt gleich schon oder versprochen. Nachgiebig sind da die meisten (wer gäbe nicht nach vor dem Golde, dem alles Unrecht entsprossen?); doch wenn einer stark ist und standhält, weicht er Gewalt oder Drohungen, und schon aus Furcht vor dem Kriege wagt er den Widerstand nicht gegen das, was verübt die Franzosen. (germanorum igitur donis ante omnia mentes, promissisque datis, auroque invertere tentat. succumbunt plures: (quis non succumberet auro quo natum omne nefas?) vel si qui forte resistunt, vique, minisque cadunt, et pro formidine belli non audent sceleri, non sese opponere Gallo.)63

In diesem Szenario traf die Preußen und Bayern, die mit französischer Unterstützung gegen Wien paktiert hatten,64 nur eine indirekte Schuld am Kriegsausbruch. Die deutsche Gemeinschaft wurde insofern nicht als zerstört, sondern nur als instabil markiert. Dennoch warf der Verfasser der Theresias den Akteuren vor, dass sie durch ihre Verbündung mit Frankreich gegen das Interesse des Alten Reichs verstoßen hätten – das hieß aus seiner Perspektive, gegen das Interesse ihrer eigenen Nation Die Maxime, der die Preußen und Bayern stattdessen hätten folgen müssen, ließ der Dichter den sächsischen Kurfürsten in einer exemplarischen Rede formulieren. Dabei wurde der Sachse als vorbildlicher Verteidiger der nationalen Ehre inszeniert, der sich den Bündnisofferten des preußischen Königs Friedrichs II. im Jahr 1744 standhaft widersetzt habe. Von einem Franzosen, behauptet Friedrich August II. in der Theresias, sei eine solche Illoyalität vielleicht noch zu erwarten. Doch für einen Deutschen verbiete sich derartiges Handeln grundsätzlich, wie der Dresdner Kurfürst mit Verweis auf das nationale Altertum mahnt: „O wo ist jetzt diese Treue, die hundert Jahre bekannte, wo jene Einigkeit der germanischen Brüder geblieben! Tacitus sagte, so wird uns berichtet, einst über sie dieses: ,Kein Volk ist besser in Treue und Waffen als diese Germanen.‘ Doch diese Treue ist hin und mit ihr auch die Eintracht der Brüder. An ihre Stelle sind heimlich getreten versteckter Betrug und List sowie Zwietracht, die alles verwirrt und den Frieden vernichtet.“ („O ubi nunc hoc prisca fides tot cognita seclis! illaque germanorum ubi nun concordia fratrum!

63 Theresias I, V. 599–604, S. 28r. 64 Vgl. Reed, The War of the Austrian Succession, S. 45 f.  

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de qua sic Tacitus quondam dicisse refertur: Germanos gens nulla fide praecedat et armis. illa fides cecidit, simul haec concaordia fratrum, in quarum subiere locum fraus tecta, dolusque, turbatrix rerum, et rumpens discordia pacem.“)65

Der Appell an die Eintracht, an die „Einigkeit der germanischen Brüder“ („germanorum […] concordia fratrum“), wird hier an ein Wortspiel gekoppelt, das eine moralische Kriegsdeutung beinhaltete. Schon der Humanist Konrad Celtis hatte die ethnologische Bezeichnung ‚Germani‘ reichspatriotisch vom lateinischen germanus, d. h. „Bruder“, abgeleitet. Damit hatte er das deutsche Volk durch einen einzigartigen Zusammenhalt charakterisiert, der es insbesondere von den angeblich listigen und verschlagenen Galliern abgehoben habe, die wenig subtil auf die modernen Franzosen vorausverwiesen.66 Im Rekurs auf diese Etymologie klassifizierte auch der Verfasser der Theresias die Offensive von 1740 „als Bürger-, ja als Bruderkrieg“67. Damit wurde ein Urteil gefällt, das keineswegs neutral war, wie David Armitage in seiner Ideengeschichte des Bürgerkriegs herausgearbeitet hat. Seitdem das römische bellum civile (133–130 v. Chr.) das eigentlich paradoxe Konzept eines ‚inneren Krieges‘ hervorgebracht habe, war dieses immer wieder dazu eingesetzt worden, politische Legitimität zu entziehen:68 Mit der Diagnose, dass ein politischer Akteur den Krieg – d. h., eine Maßnahme zur Verteidigung gegen einen äußeren Feind – in die eigene Gemeinschaft hineingetragen habe, wurde stets ein Verstoß gegen die Gebote von Pflicht, Moral und Natur gekennzeichnet. In der Literatur der Schlesischen Kriege ist diese Diffamierungsstrategie daher nicht zufällig ausschließlich in Texten zu finden, in denen die Interessen des Alten Reiches hochgehalten wurden. Ins Positive gewendet, funktionierte die Eintrachtsdirektive auch dann als Erinnerung an die politischen Pflichten innerhalb des Alten Reichs, wenn politische Beschuldigungen ausgeklammert blieben. Diese Variante spielte Cesares Theresia sive Ostenta Dei O.M. durch.69 Anders als die anonyme Theresias, ist dieses neulateinische Epos von vornherein in einem repräsentativen Kontext zu lesen. Diese Funktion hob Gottsched hervor, als er den Text 1754 in seiner Zeit 





65 Theresias VIII, V. 161–167, S. 130r. 66 Zu dieser Topik vgl. Mertens, Die Instrumentalisierung der „Germania“ des Tacitus durch die deutschen Humanisten, S. 77. 67 Klecker, Maria Theresia und Aeneas, S. 119. 68 David Armitage, Civil Wars. A History in Ideas, New York 2017, v. a. S. 31–90. 69 Francesco Maria Cesare, Theresia sive ostenta Dei O.M. edita pro augusta Maria Theresia Romanorum imperatrice, regina Germaniae, Hungariae, Bohemiae etc. etc. libri XIV, Wien 1752.  

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schrift Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit besprach: Mit seinen auf 14 Bücher verteilten „zwanzig Dedicationen“70 an Regenten, Subregenten, Verbündete und Feldherren platziere sich das Epos mitten im Bündnisnetz des Wiener Hofes, und die opulente Ausgabe unterstreiche diese offizielle Dimension umso mehr. Den Regeln der Diplomatie verpflichtet, akzentuiere Cesare folglich, dass man bei ihm „keine satirischen Lästerungen hoher Häupter“,71 auch nicht der Gegner, zu erwarten habe. Seine Intention erschließt sich vielmehr aus dem Publikationskontext: Dem italienischen Epiker ging es darum, eine Bewährung der nationalen Gemeinschaft in Szene zu setzen, welche die Deutschen im Zuge des mittlerweile glücklich geendeten Erbfolgekriegs (die Theresia ging vier Jahre nach Friedensschluss in Druck) durchlaufen hätten. Dieser retrospektive Blick aus einem vorerst sicheren Frieden schlug sich in einer optimistischen Version der Reichsrhetorik nieder. Innerhalb des Texts wird diese zum Einsatz gebracht, nachdem die habsburgischen Soldaten in der Schlacht bei Mollwitz (1741) zum ersten Mal auf die preußischen getroffen sind. Die zentrale Funktion dieser Passage wird durch eine auffällige Abweichung vom sonstigen Programm hervorgehoben. Prinzipiell band Cesare sich in seinem Epos strikt an die historischen Abläufe, wie sie in der autoritativen habsburgischen Version im Wienerischen Diarium nachzulesen waren, das mit dem Privileg des Hofes seit 1703 als dessen „offiziöses Organ“72 erschien.73 Dabei inszenierte er den Ausgang der Schlachten gemäß dem Repräsentationsprogramm der „Pietas Austriaca“,74 das den katholischen Habsburgern eine besondere Nähe zu Gott

70 Johann Christoph Gottsched, Francisci Maria Cæsaris, Theresia, sive Ostenta Dei O.M. In: NAG, Bd. 4, April 1754, St. 1, S. 245–255, hier: S. 249. 71 Gottsched, Francisci Maria Cæsaris, Theresia. In; NAG, Bd. 4, April 1754, St. 1, S. 250; vgl. Cesare, Theresia I, S. 17: „Non ego sum tanti, qui Reges arbiter inter / Ingrediar, Reges veneror, nullusque refello, / Quos illi obtendunt titulos“. 72 Manfred Schort, Politik und Propaganda. Der Siebenjährige Krieg in den zeitgenössischen Flugschriften, Frankfurt a. M., Wien 2006, S. 217. Im 18. Jahrhundert war das Wienerische Diarium die einzige zugelassene Zeitung in Wien (Franz Stamprech, Die älteste Tageszeitung der Welt. Werden und Entwicklung der „Wiener Zeitung“. Dokumentationen zur europäischen Geschichte, Wien 1971, S. 5–41). 73 Eingangs seines Textes schloss Cesare deshalb literarische Fiktion aus. „Hab Nachsicht“, wandte er sich an den Leser, „wenn meine Verse keine Fabel gliedern wird: Ich hielte es für einen Frevel, wenn ich versuchen würde, sichere Zeichen von Gott durch Einfälle zu entstellen, die dort nicht hingehören. […] Ich will nur soviel berichten: Was das Feld unter freiem Himmel geschehen sah, und was beide Kontrahenten wahrgenommen haben.“ (Cesare, Theresia I, S. 7, Übersetzung der Vf.). 74 Vgl. Anna Coreth, Pietas Austriaca. Ursprung und Entwicklung barocker Frömmigkeit in Österreich, Wien 1959.  

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bescheinigte, als Zeichen des Himmels.75 Anders ging der Italiener hingegen vor, um die Gemeinschaft des Alten Reichs darzustellen: Punktuell griff er hier zur Fiktion und zum germanischen Altertum. Zu diesem Zweck ließ Cesare den gerade erst gefallenen habsburgischen Feldmarschall Römer wieder unter die Soldaten beider Parteien treten, damit er diesen die Folgen aus einem innerdeutschen Krieg mithilfe einer Begleiterin aus dem Totenreich vor Augen führe. In einer virtuos gestalteten Szene ruft Römer die germanische Seherin Veleda an seine Seite, die aus Tacitus’ Historien bekannt ist76 und die nun mit zerrissenem Kriegsmantel und aufgelöstem Haar die jüngsten Ereignisse ins Bild setzt. In einer Ansprache des Feldmarschalls wird diese leibhaftige Allegorie detailliert ausgelegt. Ausgerechnet die Deutschen, die an Stärke allen Völkern überlegen seien, würden sich jetzt gegenseitig bekämpfen („quoniam Germania sola / Se potuit superare, ciet dum proelia secum, / Atterit, & proprias vires civilibus armis.“). Während sie in der Vergangenheit selbst noch der Weltmacht Rom Widerstand geleistet hätten, würden sie nun den äußeren Feinden in die Hände spielen, die unter höflicher Umgehung der aktuellen Kriegsparteien im frühneuzeitlichen Schreckgespenst der Osmanen evoziert werden („non vicit Romana potentia secum / Orbis opes totius agens, id Thracia vincet.“77). Die Rede des Österreichers schließt darum mit dem flammenden Appell: Wenn hier irgendeine Liebe zum Vaterland und Sorge um das Gemeinwohl existiert: Dann lasst jetzt ab, Jünglinge, lasst ab von der grässlichen Schlacht! Darüber wird sich, jetzt wie früher, der türkische Feind freuen. Ach, ich fürchte, dieses Grauen wird euer Blut zu Eis erstarren lassen! Sobald jener spüren wird, dass eure Kräfte völlig gefallen, eure Adern blutleer und eure Muskeln vom Bürgerkrieg geschwächt sind, wegen deren Schutz das deutsche Reich stark ist, herrscht und alle Völker in Schrecken setzt, wird er einfallen, und euren Hals unter sein Joch zwingen.78

75 In diesem Sinn ist auch der Titel von Cesares Epos zu verstehen: Der Krieg um den politischen Status der Regentin Theresia offenbare die Absichten Gottes, die Ostenta Dei O.M. 76 Tac. hist. 4, 61, 2. Vgl. Sabine Tausend, Germanische Seherinnen. In: Ad fontes! Festschrift für Gerhard Dobesch zum 65. Geburtstag, hg. von Herbert Heftner, Wien 2004, S. 773–781, hier: S. 776. 77 Theresia I, S. 29. 78 Theresia I, S. 28; Übersetzung der Vf. Im Original heißt es: „Si quis amor patriæ, & communis cura salutis, / Parcite iam diræ, juvenes, o! parcite cladi: / Qua nunc, qua Geticus quondam lætabitur hostis. / Ah timeo, ah torpet gelida formidine sanguis! / Funditus accisas vires ubi sentiet ille, / Sanguine & exhaustas venas, nervosque refectos / Civili gladio, quorum Germania pollet / Præsidio, & regnat, gentes deterret & omnes: / Irrumpet, subigetque jugo submittere collum.“

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Diese Erscheinung zeigt unter den Soldaten des Theresia-Epos unverzügliche Wirkung, die Cesare auf effektvolle Weise inszeniert. Sobald die beiden Heere in Veledas Körper („validum corpus, quod sese extollit in auras / Turritum“) die potentielle Stärke eines einigen Reiches erblicken, erinnern sie sich an ihre nationale Verbundenheit. Unter dem Eindruck dieser Vision aus der Vorzeit treten Österreicher und Preußen aufeinander zu, um einander kollektiv in die Arme zu fallen („Austriacus jam transit eques, sociosque revisit. / Gratanturque simul læti, simul oscula figunt.“79). Gleich zu Beginn des Krieges wird in dieser Szene somit bereits aus reichspatriotischer Perspektive sein Ziel vorweggenommen: die Bestätigung der nationalen Eintracht. Die Rhetorik der Reicheintracht, so sich ließe dieser kurze Blick nach Wien zusammenfassen, evozierte in der habsburgischen Literatur des Österreichischen Erbfolgekrieges also das Versprechen eines größeren politischen und heroischen Zusammenhalts, dessen historischer Index konstitutiv oszillierte. Die kriegerischen Leistungen der alten Deutschen fungierten als Mahnung an die politischen Akteure einer Gegenwart, der systematisch unterstellt wurde, die Verdienste der Vorfahren außer Acht zu lassen und aufs Spiel zu setzen. Die gemeinsame Front, mit der die Germanen die antiken Römer in die Flucht getrieben hätten, musste gemäß der Logik dieses Diskurses darum immer wieder neu bestätigt werden. Auf dieser Basis war es möglich, jeden Krieg am Ende als geglückte nationale Bewährung zu rekonstruieren, solange das Heilige Römische Reich deutscher Nation dabei intakt geblieben war. Innerhalb dieser Deutungsmatrix konnte der Aachener Frieden von 1748 aus der Sicht des Reiches tatsächlich als Erfolg verbucht werden. Schließlich war es den Habsburgern nicht nur gelungen, die Kaiserwürde zurückzuerlangen und somit die gewohnte Ordnung wiederherzustellen – entsprechend opulent wurde die Krönung Franz Stephans I. im Jahr 1745 in Frankfurt am Main zelebriert.80 Auch wenn die reiche Provinz Schlesien innerhalb des Alten Reiches von habsburgischem in preußischen Besitz übergegangen war,81 hatte man das nationale Gewicht im europäischen Kräftespiel zudem in territorialer Hinsicht fast unverändert erhalten können. Denn laut dem ausgehandelten Friedensvertrag mussten die Eroberungen der Franzosen und Engländer auf den internationalen Schauplätzen des Erbfolgekrieges ausnahmslos an ihre ursprünglichen Besitzer zurückgegeben werden.82

79 Theresia I, S. 29. 80 Die Feierlichkeiten werden detailliert beschrieben und interpretiert von Stollberg-Rilinger, Maria Theresia, S. 145–157. 81 Vgl. Clark, Iron Kingdom, S. 196 f. 82 Vgl. Browning, The War of the Austrian Succession, S. 349–352.  

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All das beflügelte nicht nur in der lateinischen Literatur des Habsburgerreiches das Begehren nach einer literarischen Retrospektive auf den Österreichischen Erbfolgekrieg. Auch in der deutschsprachigen Aufklärung im Norden wurden alsbald Pläne für ein Nationalepos geschmiedet. Diese Vorbereitungen verdichteten sich nicht zufällig genau dort, wo man seit 1743 an der Seite der Habsburger gekämpft hatte: in Sachsen. Die große heroische Dichtung, die Gottsched von nun an in konsequenter Orientierung an der Stadt Wien plante, kam zwar letzten Endes nicht zur Ausführung. Das macht das Vorhaben literatur- und kulturgeschichtlich jedoch nicht weniger interessant. Im Folgenden soll deshalb der Versuch unternommen werden, die programmatischen Eckpunkte der Leipziger Epenpläne um 1750 zu rekonstruieren. Wichtige Spuren können dabei zum einen Gottscheds Avancen gegenüber dem Wiener Kaiserpaar liefern; zum anderen werden die Andeutungen, mit denen er das erträumte Epos in Gedichten, Reden und Zeitschriftenbeiträgen ankündigte, genauer zu betrachten sein.

1.2 Epik und Reich II: Sächsisch-habsburgische Allianzen (Gottsched, Scheyb) Im Januar 1747 stieß man in Gottscheds Neuem Büchersaal der schönen Wissenschaften und freyen Künste (1745–1750) auf eine „Nachricht von einer neuen gelehrten Gesellschaft“, die im vergangenen Jahr „zu Olmütz in Mäh[ren]“ gestiftet worden sei.83 Die unscheinbare Notiz ließ sich leicht als Kuriosum überblättern – befand der Sitz dieser Gesellschaft sich auf der Landkarte der deutschen Aufklärung, die ihre wesentlichen Zentren im protestantischen Norden herausgebildet hatte, doch an der Peripherie des ohnehin schon weit entfernten Habsburgerreiches. Dennoch ist der kleine Text von hoher literaturhistorischer Relevanz. So artikulierte Gottsched hier einen Zusammenhang, der nicht nur für die Anfänge der österreichischen Aufklärung zentral war, sondern der auch sein eigenes Interesse daran markierte. „Ungeachtet so vieler Kriegsläufte, die bisher den größten Theil von Europa, sonderlich aber die österreichischen Erblande beunruhiget haben“, schrieb der Leipziger Dichtungslehrer hier nämlich, sei die „Liebe zu den freyen Künsten und Wissenschaften“ in der Habsburgermonarchie über die vergangenen Jahre nicht „erloschen“. Im Gegenteil: Unter den Bedingun-

83 Johann Christoph Gottsched, Nachricht von einer neuen gelehrten Gesellschaft, welche mit dem Ablaufe des vorigen 1746sten Jahres zu Olmütz in Mähren gestiftet worden. In: NB, Bd. 4, Januar 1747, St. 1, S. 84–89.

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gen des Krieges sei sie in beachtlichem Maße „gewachsen“,84 so dass man sich in der neubegründeten Gesellschaft zum ersten Mal auf das „Deutsche“85 verpflichtet habe. Die Diagnose, mit der die Formierung einer deutschsprachigen Literatur in Österreich in Beziehung zu den Kriegen um 1750 gesetzt wurde, hat inzwischen auch Einzug in die Forschung gehalten. Dabei lässt sich die Erfolgsgeschichte einer Modernisierung nicht von einer Irritationsgeschichte trennen.86 So geriet die Ausrichtung auf den multinationalen Kulturraum bei den österreichischen Autoren dadurch in die Krise, dass die bis dato selbstverständliche Vormachtstellung der Habsburger im Alten Reich im Zuge der Schlesischen Kriege spürbar ins Wanken geriet.87 In dem Maße, wie sich das aufstrebende Preußen unter Friedrich II. als ernstzunehmender Herausforderer der Wiener Herrscher profilierte,88 geriet man unter Druck, für die gewohnten politischen Geltungsansprüche auch in der Literatur neue Legitimationen zu finden. Denn in der direkten Konfrontation ließ sich immer weniger ignorieren, dass der Kontrahent im Schwung der norddeutschen Aufklärung zu ganz anderen literarischen Standards gefunden hatte als der Süden. Diese Defensive bereitete die Basis dafür, dass Österreich sich zunehmend als deutschsprachiges Land unter anderen neu konstituierte89 und auch in der Literatur nach entsprechenden Ausdrucksformen suchte. Um es mit Norbert Christian Wolf zu formulieren: Seitdem die „systemübergreifende Konkurrenzstellung zwischen den Metropolen Wien und Berlin“ für die Autoren am Wiener Kaiserhof und in den staatsaffinen jesuitischen Schulen Österreichs wichtiger geworden war als

84 Gottsched, Nachricht von einer neuen gelehrten Gesellschaft. In: NB, Bd. 4, Januar 1747, St. 1, S. 84. 85 Gottsched, Nachricht von einer neuen gelehrten Gesellschaft. In: NB, Bd. 4, Januar 1747, St. 1, S. 86. Gottsched zitiert hier aus dem Ankündigungstext der Olmützer Gesellschaft. 86 Besonders profiliert worden ist diese These von Norbert Christian Wolf, dem hier gefolgt wird. Vgl. zentral Wolf, Polemische Konstellationen. Berliner Aufklärung, Leipziger Aufklärung und der Beginn der Aufklärung in Wien (1760–1770). In: Berliner Aufklärung. Kulturwissenschaftliche Studien, hg. von Ursula Goldenbaum und Alexander Košenina, Bd. 2, Hannover 2003, S. 34–64; ders., Für eine Literaturgeschichte der österreichischen Aufklärung. Überlegungen zu einem immer noch vernachlässigten Thema. In: Aspects de la philosophie en Autriche: Études, hg. von Christiane Chauviré, Rouen 1997, S. 95–123. 87 Vgl. Bauer, Latinitas Austriaca, S. 52. 88 Hamish M. Scott, Verteidigung und Bewahrung: Österreich und die europäischen Mächte 1740–1780. In: Maria Theresia und ihre Zeit. Eine Darstellung der Epoche von 1740–1780 aus Anlaß der 200. Wiederkehr des Todestages der Kaiserin, hg. von Walter Koschatzky, Salzburg, Wien, 1980, S. 47–55, hier: S. 47 f. 89 Detailliert reflektiert werden die Faktoren, die für diesen Prozess wichtig wurden, bei Klingenstein, Was bedeuten „Österreich“ und „österreichisch“ im 18. Jahrhundert?.  

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die „systeminterne Konkurrenz zwischen Wien und der literarischen Provinz“90 Ungarns und Böhmens, bildete sich sukzessive eine neue Form der Literatur heraus, die von der lateinischen lingua franca zur Sprache der protestantischen Dichtung im Norden wechselte.91 Eingeleitet wurde dieses Aufholprogramm durch eine Kulturallianz, die auffällig parallel zu den jüngsten militärischen Bündnissen ausgerichtet war und die darum im Zentrum dieses Teilkapitels stehen soll. So lag der Orientierungspunkt, den sich die habsburgischen Autoren im Norden suchten, in der bewährten Sprach- und Dichtungslehre des Sachsen Gottsched. Nicht nur in den österreichischen Schulen baute man die Leipziger Lehre seit den 1750er Jahren zu einer „dogmatische[n] Konkurrenz zu dem Unterricht der Jesuiten“92 auf: In der Einleitung zur fünften Auflage seiner Deutschen Sprachkunst (1762) konnte Gottsched melden, dass diese Schrift „in der kaiserlichen Residenz selbst, auf allerhöchste Genehmhaltung und ausdrücklichen Befehl, bey der vornehmsten adelichen Jugend eingeführet worden“93 sei. Auch in der Literatur hoffte man auf den produktiven Austausch mit dem dichtungstheoretischen Schwergewicht, wie Gottsched in seiner Ankündigung der Olmützer Gesellschaft durchblicken ließ. So hätten die österreichischen Reformer sich bewusst auch „öffentliche Lehrer“ aus „Leipzig“ eingeladen, „die sonst der gelehrten Welt bekannt“94 seien.

90 Wolf, Für eine Literaturgeschichte der österreichischen Aufklärung, S. 110. 91 Vgl. Puchalski, Imaginärer Name Österreich, S. 82 f. 92 Bauer, Latinitas Austriaca, S. 52. Zur raschen Verbreitung der Gottsched’schen Grammatiken in Österreich vgl. auch Ulrike Eder, „Auf die mehrere Ausbreitung der teutschen Sprache soll fürgedacht werden“. Deutsch als Fremd- und Zweitsprache im Unterrichtssystem der Donaumonarchie zur Regierungszeit Maria Theresias und Josephs II., Innsbruck, Wien, Bozen 2006, S. 36 f. In Österreich wurde dieser Widerstand gegen die jesuitische Vorherrschaft von den Benediktinern getragen, die dementsprechend zu den wichtigsten Austauschpartnern von Gottsched zählten. Vgl. Thomas Wallnig, Bernhard Pez OSB im Briefkontakt mit protestantischen Gelehrten. In: Kulturen des Wissens im 18. Jahrhundert, hg. von Ulrich Johannes Schneider, Berlin, New York 2008, S. 133–140, hier: S. 138. 93 Johann Christoph Gottsched, Vollständigere und Neuerläuterte Deutsche Sprachkunst, Nach den besten Mustern der besten Schriftsteller des vorigen und itzigen Jahrhunderts abgefasset, und bey dieser fünften Auflage merklich verbessert, Leipzig 1762, S. 12. Konkret bezog sich Gottsched darauf, dass die Sprachkunst dem Sprachunterricht am Wiener Theresianum zugrundegelegt wurde, einer reformorientierten Akademie für die adelige Elite des Habsburgerreiches. Vgl. Bauer, Latinitas Austriaca, S. 58 f. 94 Gottsched, Nachricht von einer neuen gelehrten Gesellschaft. In: NB, Bd. 4, Januar 1747, St. 1, S. 85. In der Tat zählte Gottsched seit 1746 zu den Gründungsmitgliedern der Olmützer Gesellschaft. Eine Liste der ersten Mitglieder, die der Gesellschaft beigetreten waren, führte er 1747 unter der Rubrik „Neuigkeiten“ in seinem Neuen Büchersaal an (Johann Christoph Gottsched, Neuigkeiten. In: NB, Bd. 5, Juli 1747, St. 1, S. 91–93, hier: S. 92). Vgl. Werner Rieck, Gottsched und die  





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Vollends entzündet wurde Gottscheds Interesse an einer literarischen Verbündung mit dem Süden schließlich, als ihm ein Text in die Hände fiel, der den Zusammenhang zwischen Literatur und Krieg selbst thematisierte. Im Frühjahr 1747 machte er diesen Fund durch eine enthusiastische Rezension bekannt. „Die itzt regierende preiswürdige Kaiserinn hat die Muse eines ihrer geschickten Vasallen angefeuret, ihr Lob zu besingen“, schrieb er im Neuen Büchersaal, „und wie wäre es möglich gewesen, daß die unsterblichen Verdienste einer so unvergleichlichen Regentinn nicht auch den ihnen gebührenden Zoll des Parnasses erhalten haben sollen?“ All dies sei umso erfreulicher, als Maria Theresias Taten nicht nur die lokale habsburgische Literatur beflügelt, sondern auch den topographischen Radius der gemeinsamen deutschen Literatur erweitert hätten. Habe „die deutsche Dichtkunst im Oesterreichischen“ bislang noch im „Stillestand“ verharrt, habe sich jetzt nämlich zum ersten Mal ein Autor gefunden, der auf diesem Feld „seinem Vaterlande Ehre“95 mache. Bei dem Dichter, der hier in höchstem Ton gelobt wurde, handelte es sich um Franz Christoph von Scheyb, einen Sekretär der niederösterreichischen Landschaft in Wien, dessen Theresiade (1746) das Bemühen um eine sächsisch-österreichische „Kultursymbiose“96 paradigmatisch illustrierte.97 So war Scheybs Ehrengedicht unübersehbar als habsburgisches Pendant zu Gottscheds Gedicht Wettstreit der Tugenden (1728) auf den Kurfürsten von Sachsen angelegt.98 Allein der Maßstab des österreichischen Texts war von vornherein größer gewählt. Schon Gottsched hatte eine erhebliche Anzahl von Versen aufgewandt, um zehn Tugenden im rhetorischen Kampf entscheiden zu lassen, welche von ihnen „Friedrich Augusts Geist“99 am meisten schmücke. Bei Scheyb passte das HerrSocietas incognitorum in Olmütz. In: Forschungen und Fortschritte 40:3 (1966), S. 82–86, hier: S. 82; 85 f. – Verschiedene Briefzeugnisse aus dem österreichischen Raum, vor allem von benediktinischen Gelehrten, bestätigen das enorme Interesse an Gottsched auch von der anderen Seite. Ein Fallbeispiel bietet Franz M. Eybl, Leipziger Homiletik und benediktinische Aufklärung. Gelehrte Informationszirkulation um 1750 am Beispiel von Rudolf Graser und Johann Christoph Gottsched. In: Via Wien. Musik, Literatur und Aufklärungskultur im europäischen Austausch, hg. von dems., Bochum 2017, S. 169–184. 95 Johann Christoph Gottsched, Theresiade, ein Ehrengedicht durch den Herrn Franz Christoph von Scheyb […]. In: NB, Bd. 4, März 1747, St. 3, Abt. 1, S. 195–208, hier: S. 195. 96 Irene Tuma-Holzer, Franz Christoph von Scheyb (1704–1777). Leben und Werk. Ein Beitrag zur süddeutsch-österreichischen Aufklärung, Wien 1975, S. 139. 97 Franz Christoph von Scheyb, Theresiade. Ein Ehren-Gedicht, 2 Bde., Wien 1746. 98 Das machte Gottsched selbst in seiner Rezension klar (Gottsched, Theresiade. In: NB, Bd. 4, März 1747, St. 3, Abt. 1, S. 200). 99 Johann Christoph Gottsched, Wettstreit der Tugenden. An weiland S. Kl. Majestät in Polen und kurfürstliche Durchlaucht zu Sachsen Herrn Friedrich August Hohem Geburtstag 1728. In: GAW, Bd. 6/2, S. 792–816, hier: S. 797.  

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scherlob dagegen nicht einmal mehr zwischen die Deckel eines einzelnen Buches. Bei ihm füllte der Streit darüber, mit welchem ihrer vielen Vorzüge Maria Theresia den Erbfolgekrieg für sich entschieden habe, gleich zwei Bände „im größten Quartform[at]“100. Insofern lässt sich die Theresiade nicht zuletzt als performative Bewerbungsschrift um die Gunst von Gottsched lesen, die dieser sogleich positiv aufnahm. Im Friedensjahr 1748 initiierte der Professor einen Briefwechsel mit Scheyb;101 von da an engagierte dieser sich als sein Wiener Adjutant, um den Einflussbereich der Leipziger Poetik auf „reichsweite Reichweite“102 auszudehnen. Geeignet war Scheyb dafür vor allem aus zwei Gründen. Sozialstrategisch betrachtet, hielt er sich durchgängig in Wien auf und war eng in die Netzwerke der Residenzstadt eingebunden. So vermittelte er Gottsched die Kontakte, die diesem sowohl eine Audienz beim Herrscherpaar und als auch den Zutritt zur kaiserlichen Hofbibliothek verschafften, als er 1749 nach Wien reiste.103 Darüber hinaus hielt Scheyb den Leipziger Dichtungslehrer im Gespräch für Ämter, die – so die Hoffnung der Wiener Reformerzirkel – in Kürze entstehen sollten, sobald die aktuell diskutierten Pläne für eine Umstrukturierung des habsburgischen Bildungswesens konkret werden würden.104 In der regen Korrespondenz zwischen Leipzig und Wien wurden etwa Aspirationen auf eine Professur für deutsche Rhetorik oder auf den Vorsitz einer nationalen Akademie in Wien erwogen. Selbst die Option, als

100 Gottsched, Theresiade. In: NB, Bd. 4, März 1747, St. 3, Abt. 1, S. 195. 101 Tuma-Holzer, Franz Christoph von Scheyb (1704–1777), S. 110 f. 102 Fulda, Zwischen Gelehrten- und Kulturnationalismus, S. 271. 103 Den Versuch, Scheybs Beziehungsnetz – und darüber auch die Berührungspunkte zwischen verschiedenen österreichischen Reformzirkeln – zu rekonstruieren, unternimmt Irene TumaHolzer in ihrer informativ dichten Dissertation, die leider nur in einem maschinenschriftlichen Exemplar in Wien vorliegt (Tuma-Holzer, Franz Christoph von Scheyb (1704–1777), S. 49–74). Zur vermittelnden Funktion des Österreichers bei Gottscheds Wien-Reise vgl. dort S. 114–117. Einen ausführlichen Bericht von seinen Reisestationen gab Gottsched 1749 in einer Rede an der Universität Leipzig, die 1750 in Druck ging (Johann Christoph Gottsched, Singularia Vindobonensia nuper a. MDCCL. d. XII. mens. Februar. oratione solemni in avditorio philosophor. Lipsiensi praemittitur prolusio academica dom. I. adv. a. MDCCXLIX publici iuris facta aliquam nuperi itineris litterarii rationem reddens, Leipzig 1750). 104 Auf Maria Theresias Geheiß sollten die habsburgischen Universitäten konkurrenzfähiger mit den Bildungsanstalten des Nordens werden, indem sie sich ihnen organisatorisch angleichen sollten (Notker Hammerstein, Besonderheiten der österreichischen Universitäts- und Wissenschaftsreform zur Zeit Maria Theresias und Josephs II. In: Österreich im Europa der Aufklärung: Kontinuität und Zäsur in Europa zur Zeit Maria Theresias und Josephs II. Internationales Symposion in Wien, 20.–23. Oktober 1980, hg. von Richard Georg Plaschka, 2 Bde., Bd. 2, Wien 1985, S. 787–812).  



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Prinzenerzieher an den Habsburgerhof zu gehen, zog Gottsched für einige Zeit in Betracht.105 Hinter diesen Karriereplänen steckte offenbar ein spezifisches literaturstrategisches Kalkül, das mit dem politischen Prestige der Kaiserstadt zusammenhing. Nachgehen lässt sich diesen Aspirationen exemplarisch an einem aufwendigen symbolischen Arrangement, mit dem Gottsched seine Audienz bei Maria Theresia und ihrem Gatten Franz Stephan I. in Szene setzte. In Wien nämlich ergriff Gottsched die Gelegenheit, dem kaiserlichen Paar zwei Exemplare des ersten Bandes einer Geschichte der königlichen Akademie der schönen Wissenschaften zu Paris (1749) zu überreichen, die seine Frau Luise Adelgunde Victorie Gottsched zu diesem Anlass übersetzt hatte.106 In einer sorgfältig bedachten Symmetrie trat das gelehrte Paar aus Sachsen vor die Regenten, um die gemeinsame Arbeit in ein Spiegelverhältnis zu deren Herrschaft zu setzen. Damit wurde performativ ausgedrückt, was Gottsched im „Vorbericht“ zur überreichten Akademiegeschichte in klare Worte fasste: Er hege große Erwartungen, dass bald im eigenen Land „ein hohes Haupt“ entscheiden werde, sich mit einer äquivalenten Institution wie in Paris den „in Deutschland so neuen Weg zur Unsterblichkeit zu bähnen“107. Ebenso offen lag auf der Hand, dass Gottsched zu diesem Zweck seine eigene Expertise anbot. Wie eine solche Zusammenarbeit konkret aussehen könnte, nahm das Titelblatt des mitgebrachten Buches schon einmal vorweg, indem es zwei Verlagsorte angab: Leipzig und Wien.108

105 Zu Gottscheds Wiener Karriereplänen vgl. nach wie vor auf der breitesten Materialbasis Theodor Wilhelm Danzel, Gottsched und seine Zeit. Auszüge aus seinem Briefwechsel zusammengestellt und erläutert […]. Nebst einem Anhange: Daniel Wilhelm Trillers Anmerkungen zu Klopstocks Gelehrtenrepublik, Leipzig 1848, v. a. S. 290–318. Bei Danzel sind auch die bislang im Druck zugänglichen Briefe zwischen Gottsched und Scheyb versammelt. Auf dieser Basis vgl. Gustav Waniek, Gottsched und die deutsche Litteratur seiner Zeit, Leipzig 1897, S. 551 f. sowie S. 559–561 und Tuma-Holzer, Franz Christoph von Scheyb (1704–1777), S. 118 sowie S. 134–139. Alle aufgeführten Überlegungen zur Anwerbung von Gottscheds scheiterten, weil man in Wien darauf bestand, dass der Leipziger Dichtungslehrer dafür zum Katholizismus konvertieren müsse. 106 Gabriele Ball, Moralische Küsse. Gottsched als Zeitschriftenherausgeber und literarischer Vermittler, Göttingen 2000, S. 189; Waniek, Gottsched und die deutsche Litteratur seiner Zeit, S. 558. 107 Johann Christoph Gottsched, Vorrede. In: Geschichte der königlichen Akademie der schönen Wissenschaften zu Paris, darinnen zugleich unzählige Abhandlungen aus allen freyen Künsten, gelehrten Sprachen, und Alterthümern, enthalten sind. Aus dem Französischen übersetzt [von Luise Adelgunde Victorie Gottsched]. Erster Theil, mit einer Vorrede ans Licht gestellet von Johann Christoph Gottsched, Leipzig 1749, S. I–XXXIV, hier: S. XXXII. Bis 1757 wurden zehn Bände dieser Akademiegeschichte publiziert. 108 Die Angabe lautet: „Leipzig 1749, verlegts Johann Paul Krauß, Buchhändler in Wien“. Zusätzlich wurde darauf hingewiesen, dass der polnische König respektive sächsische Kurfürst  



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Nahegelegt wurde folglich die Gründung einer deutschen Akademie in der Hauptstadt des Alten Reichs, für deren Vorsitz sich Gottsched sogleich selbst empfahl. Sein Widmungsgedicht an Maria Theresia, das der Übersetzung vorangestellt war, stellte dazu sowohl ein Legitimationsnarrativ als auch erste programmatische Eckpunkte zur Verfügung. Konstitutiv dafür war der jüngst erzielte militärische Erfolg, mit dem Wien seinen Status in der politischen Topographie des 18. Jahrhunderts neu bestätigt habe. Die erste Herausforderung ihrer Herrschaft, lobte der Dichtungslehrer die Regentin, habe sie bereits bravourös bewältigt, indem sie die „Habsucht hinterm Rhein“ trotz militärischer Unterlegenheit zurückgeschlagen habe: „Freund, und Feind, und Unterthan, / Sehn es für ein Wunder an, / Daß Dein Thron und Reich bestanden.“109 Auf dieser Grundlage könne Maria Theresia nach dem Aachener Frieden von 1748 nun ein zweites Kapitel ihrer Regentschaft eröffnen, in dem „der Musen Fleiß / Deinen himmelhohen Preis / In gestärkten Tönen singen“110 werde. Folgt man Gottsched, dann waren Zeit und Ort aus zwei Gründen dafür prädestiniert, um von nun an die Künste zu fördern. Für beide erinnerte er an den genius loci, indem er den Nationaldiskurs der deutschen Humanisten wiederbelebte, die im 16. Jahrhundert ausgehend von Wien im „lockere[n] Patronageverhältnis“111 zu Kaiser Maximilian I. gewirkt hatten. So aktualisierte Gottsched das frühneuzeitliche Zivilisationsmodell, nach dem jeder Staat nach einer anfänglichen Phase des Krieges zur Kunst fortschreite,112 durch eine Reverenz an die beiden humanistischen Zentraldiskurse: die Antiromanitas und die Antibarbaries. Wie Athen und Rom durch den Krieg groß geworden seien, so habe auch „der kühnen Deutschen Schwert“ das Fundament für die politische Macht gelegt. „Ganz Europa ward bezwungen / Bis nach überwundner Welt, / Witz und Kunst sich eingestellt“,113

seine Lizenz gegeben habe. Auch Gottscheds Qualifikationen, was eine Akademiegründung betraf, wurden verzeichnet. Er sei bereits „der könig. preußisch. wie auch der bononischen Akademie der Wissenschaften Mitgliede“. 109 Johann Christoph Gottsched, Der Allerdurchlauchtigsten, Großmächtigsten Fürstinn und Frau, Frau Marien Theresien. In: Geschichte der königlichen Akademie der schönen Wissenschaften zu Paris, Bd. 1, S. I–XVII, hier: S. XV. 110 Gottsched, Der Allerdurchlauchtigsten […] Frau Marien Theresien. In: Geschichte der königlichen Akademie der schönen Wissenschaften zu Paris, Bd. 1, S. VII. 111 Hirschi, Wettkampf der Nationen, S. 256. 112 Münkler, Die Idee der Tugend, S. 391 f. Dementsprechend wurde ein Herrscher in der Frühen Neuzeit am meisten gelobt, wenn er eine Blüte des Krieges und der Kunst hervorgebracht hatte. Zu diesem Topos vgl. Claudia Brink, Arte et Marte. Kriegskunst und Kunstliebe im Herrscherbild des 15. und 16. Jahrhunderts in Italien, München, Berlin 2000. 113 Gottsched, Der Allerdurchlauchtigsten […] Frau Marien Theresien. In: Geschichte der königlichen Akademie der schönen Wissenschaften zu Paris, Bd. 1, S. XIII.  

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lobte der sächsische Dichtungslehrer. Mit der Sicherung der Herrschaft sei unter den Deutschen schließlich das Ende der „verhaßten Barbarey“114 gekommen, und die eigentlich wichtige Aufgabe der Nation sei in Angriff genommen worden – die deutsche Literatur. So heißt es: Hier nun stieg des Reiches Flor Ungleich stärker, als zuvor, Da nur wilde Waffen fochten. Hier hat sich der Deutschen Hand, Durch Erkenntniß und Verstand, Einen edlern Kranz geflochten; Als ein roher Kriegesmann Sich im Streit erwerben kann.115

Krieg und Kunst, so das Narrativ, seien beim Ehrgewinn der Nation also unmittelbar verschränkt gewesen. Den Beweis dafür identifizierte Gottsched in derjenigen Epoche, an deren Rhetorik er sich in seinem Widmungsgedicht orientierte. Nachdrücklich rief er den Humanismus als erste Blüte der deutschen Nationalliteratur auf, die er an zwei Faktoren koppelte: an den Wiener Schauplatz und an eine Allianz zwischen Herrschern und Gelehrten, wie sie sich auch bereits die Humanisten im 16. Jahrhundert auf die Fahnen geschrieben hatten.116 „Kaiserinn! Dein eignes Haus / Theilte selbst die Lorbern aus, / Die der Künste Meister schmückten“, frohlockte Gottsched, um zwei Beispiele für die kaiserliche Literaturförderung ins Gedächtnis zu rufen: Oesterreich vergalt die Müh Der erhabnen Poesie, Als dem Celtes Kränze glückten: Als den edlen Theuerdank Pfinzings Heldenlied besang.117

Zum einen erinnerte Gottsched hier an die Schlüsselszene der Dichterkrönung, mit der Konrad Celtis das symbolische Kapital der Nation im Jahr 1487 doppelt vermehrt hatte: einerseits für die Literaten, andererseits für Kaiser Friedrich III.,

114 Gottsched, Der Allerdurchlauchtigsten […] Frau Marien Theresien. In: Geschichte der königlichen Akademie der schönen Wissenschaften zu Paris, Bd. 1, S. VII. 115 Gottsched, Der Allerdurchlauchtigsten […] Frau Marien Theresien. In: Geschichte der königlichen Akademie der schönen Wissenschaften zu Paris, Bd. 1, S. VIII. 116 Vgl, Hirschi, Wettkampf der Nationen, S. 256. 117 Gottsched, Der Allerdurchlauchtigsten […] Frau Marien Theresien. In: Geschichte der königlichen Akademie der schönen Wissenschaften zu Paris, Bd. 1, S. VIII.

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der sich als Förderer der Künste profilieren konnte.118 Zum anderen verwies das Widmungsgedicht auf einen konkreten literarischen Text, nämlich das volkssprachliche Versepos Theuerdank (1517), in dem der kaiserliche Rat Melchior Pfinzing die Jugend Maximilians I. auf der Basis von dessen eigenen Versen119 in âventiuren gefasst hatte.120 Diese Wahl scheint dabei weniger von Erwägungen der Kanonizität motiviert gewesen zu sein als von programmatischen Überlegungen. So verwies Gottsched auf einen Zusammenhang von politischer Größe (den Heldentaten des Kaisers) und literarischer Leistung (dem Heldengedicht seines Beamten), der mit einer gewissen Zukunftsoffenheit gelesen werden konnte: In seinem Lob für Pfinzings Heldenlied schimmerte die Aussicht durch, dass die soeben absolvierten Kriege den Stoff für neue heroische Texte liefern könnten.121 An dieser Stelle hielt das Widmungsgedicht bewusst eine Lücke für die potentielle literarische Blüte offen, die durch ein Engagement Gottscheds in Wien eintreten könne. Fasst man das Programm des Texts zusammen, dann wurde auf dem Feld der nationalen Literaturgeschichte also eine typologische Konstellation entworfen. Noch einmal, so die Geste, könne der Krieg der deutschen Dichtung einen Schub geben: Nachdem die Humanisten die nationale Literatur in der Kaiserstadt begründet hatten, könne sie nun am selben Ort auf eine neue Stufe gehoben werden. Die interpretative Folie für dieses Angebot entwarf Gottsched dabei in der harmonischen Zusammenarbeit von Herrschern und Dichtern, die für

118 Dieter Mertens, Der Preis der Patronage. Humanismus und Höfe. In: Funktionen des Humanismus. Studien zum Nutzen des Neuen in der humanistischen Kultur, hg. von Thomas Maissen und Gerrit Walther, Göttingen 2006, S. 125–154, hier: S. 137. Vgl. ebenfalls ders., Die Dichterkrönung des Konrad Celtis. Ritual und Programm. In: Konrad Celtis und Nürnberg, hg. von Franz Fuchs, Wiesbaden 2004, S. 31–50. 119 Dies vermutete man richtig schon im 18. Jahrhundert, Gottsched lehnte diese Deutung aber ab. Das formulierte er 1733 in einer Rezension Johann David Köhlers Disquisitio de inclyto libro poetico Theuerdanck (1714/1737). Vgl. [Johann Christoph Gottsched,] Eine Untersuchung von dem Poetischen Buche Theuerdank. In: BCH, Bd. 6, 1733, S. 191–209, hier: S. 194 f. 120 Vgl. Stephan Füssel, Kaiser Maximilian und die Medien seiner Zeit. Der Theuerdank von 1517. Eine kulturhistorische Einführung, Köln 2003. 121 Für dieses Manöver war zunächst eine Aufwertung des Theuerdank nötig. So hatte Gottsched diesen Text in der ersten Fassung seiner Critischen Dichtkunst noch unter die „Zahl der Heldenbücher“ eingereiht, „die dem barbarischen Geschmack unsrer Vorfahren; nicht aber den Regeln eines vernünftigen Heldengedichtes gemäß“ (GAW, Bd. 6/2, S. 287) seien. Diametral dazu fiel das Urteil aus, das er im Epos-Kapitel der vierten Auflage seiner Poetik (1751) fällte. Ab jetzt lobte Gottsched, der Theuerdank habe die vorigen Texte aus dem Rittergenre „verdrungen und verdunkelt“ (Johann Christoph Gottsched, Versuch einer Critischen Dichtkunst durchgehends mit den Exempeln unserer besten Dichter erläutert. Anstatt einer Einleitung ist Horazens Dichtkunst übersetzt, und mit Anmerkungen erläutert. Diese neue Ausgabe ist, sonderlich im II. Theile, mit vielen neuen Hauptstücken vermehret, Leipzig 1751, S. 480).  

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die humanistischen Selbstinszenierungen charakteristisch gewesen war122 und deren Wiederbelebung er nun durch seine öffentlichkeitswirksame Audienz beim Kaiserpaar in Aussicht stellte. Als Herrscherin, versprach er, werde Maria Theresia „[g]rößer […] als alle“ sein, wenn sie in ihrem Land die Bedingungen für eine Umstellung von „fremden Sprachen“ auf „deutschen Witz“123 schaffe. Komplementär dazu nahm der Leipziger Dichtungslehrer die eigene Funktion in Wien vorweg, indem er die erhoffte Position an der Spitze einer deutschen Akademie zur Fortsetzung und Überbietung des humanistischen Projektes stilisierte. Mit seiner Hilfe – so das Angebot – sollte im Zentrum des Alten Reiches eine literarische Kultur begründet werden, die sich nicht mehr auf Latein, sondern in der Volkssprache an alle Deutschen richten würde. Für Gottsched selbst waren bei diesem Unternehmen symbolische Rangzuschreibungen im Spiel, die ihm enorme literaturpolitische Vorteile versprachen. Offenbar sah er die Möglichkeit, die Leipziger Sprach- und Dichtungslehre im Schwung der habsburgischen Bildungsreformen am Sitz der höchsten politischen Instanz im Alten Reich zu verankern und sich damit seinen Status als magister Germaniae des 18. Jahrhunderts offiziell bestätigen zu lassen. Die Audienz bei Maria Theresia stand folglich im Dienste eines kultursemiotischen Programms, das literarische und politische Autorität ‚von oben‘ mobilisieren sollte. Zu diesem ausgeprägten Symbolbewusstsein passte, dass Gottsched gemeinsam mit seinem Wiener Freund Scheyb unverzüglich an die Arbeit ging, um die entworfene Typologie auf der poetischen Seite zu erfüllen. Schon bald nach der Wien-Reise ließ man die Öffentlichkeit wissen, dass in Kürze ein nationales Epos entstehen solle. Annonciert wurde dieses Vorhaben in einem Paar versifizierter Briefe, das Gottsched in die zweite Auflage seiner Gedichte (1751; zuerst 1736) aufnahm. „Wohlauf, erlesner Freund!“, appellierte er „An Seine Hochwohlgeborne [sic], Herrn Franz Christoph von Scheyb“, „versammle Deine Kräfte; / Komm, wage noch einmal Kalliopens Geschäffte.“ Ausdrücklich entwickelte der Leipziger Gelehrte hier den Plan für eine heroische Dichtung, die sich den Geschehnissen der jüngsten Vergangenheit widmen sollte. Zu diesem Zweck forderte er seinen literarischen Verbündeten aus Österreich auf: Nimm ihr heroisch Rohr der Göttinn aus der Hand, Und mach uns abermal die Kaiserinn bekannt, Die so viel Thronen ziert; Die das Geschick erkohren,

122 Hirschi, The Origins of Nationalism, S. 126. 123 Gottsched, Der Allerdurchlauchtigsten […] Frau Marien Theresien. In: Geschichte der königlichen Akademie der schönen Wissenschaften zu Paris, Bd. 1, S. VIIII und S. XII.

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Der Zeiten Schmuck zu seyn, die Sie zur Welt gebohren. Dein Vorsatz ist so schön, als edel und gerecht: Denn wo der Gegenstand des Dichters Kraft nicht schwächt, Ja sie vielmehr erhöht; da muß es ihm gelingen, Der Dichtkunst höchsten Preis sich spielend zu erringen.124

Mit dieser Ankündigung formulierte Gottsched eine Ansage, die seinen Anspruch auf die Führungsposition in der deutschen Literatur („der Dichtkunst höchsten Preis“) auch auf gattungspoetischer Ebene unterstrich. Unverhohlen spekulierte er darauf, eine generische Leerstelle zu füllen, die in der Vergangenheit auf beiden Seiten des Literaturstreits konstatiert worden war. In Leipzig wie in Zürich ging man fest davon aus, dass es „für die internationale Geltung der deutschen Dichtung“ unabdingbar sei, die höchste Position der Gattungshierarchie mit einem „repräsentativen Epos“125 zu besetzen, das idealerweise vom Rang einer Aeneis, Ilias oder Odyssee sein sollte; dennoch war diese literarische Systemstelle bisher notorisch leer geblieben.126 Über die Frage, wie ein solches Epos konkret konzipiert sein müsse, hatten sich die Gemüter auf einer theoretischen Ebene schon seit vielen Jahren erhitzt. Schematisch gesprochen, hatte sich dabei eine Frontstellung herausgebildet, die in der französischen Querelle des Anciens et des Modernes angelegt gewesen war.127 So hatte Gottsched die Zürcher Sympathien für ein christliches Epos nach dem Muster von John Miltons Paradise Lost (1667), wie es zuerst von den französischen Modernes um Jean Desmarets ins Feld geführt worden war, mit dem Ruf nach einem nationalgeschichtlichen Heldengedicht beantwortet, für das die An-

124 Johann Christoph Gottsched, An Seine Hochwohlgeborne [sic], Herrn Franz Christoph von Scheyb, auf Gaubickolheim, E. Löbl. Niederöst. Landschaft Secretär. 1750 im October. In: Ders., Gedichte. Bey der itzigen zweyten Auflage übersehen, und mit dem II. Theile vermehret, nebst einer Vorrede ans Licht gestellet vom Johann Joachim Schwabe, 2 Bde., Bd. 2, Darinn sowohl seine neuesten, als viele bisher ungedruckte Stücke enthalten sind, Leipzig 1751, S. 551–557, hier: S. 553. 125 Martin, Das deutsche Versepos im 18. Jahrhundert, S. 7. Vgl. auch Ball, Moralische Küsse, S. 200. 126 Für eine analoge Situation in der französischen Literatur hat Siegbert Himmelsbach die Metapher der leeren Schublade („case vide“) geprägt. Auch in Frankreich gab es in Bezug auf das Epos einen latenten literaturtheoretischen Überhang, der nicht durch einen allgemein akzeptierten Text mit repräsentativem Status für die nationale Dichtung eingelöst werden konnte (Siegbert Himmelsbach, L’epopée ou ‚la case vide‘. La reflexion poétologique sur l’epopée nationale en France, Tübingen 1988). 127 Zur französischen Literatur vgl. Jauß, Ästhetische Normen und geschichtliche Reflexion in der Querelle des anciens et des modernes, S. 33–41; zur deutschen Martin, Das deutsche Versepos im 18. Jahrhundert, S. 24.

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ciens im Anschluss an antike Epen votiert hatten.128 In seinem Versuch einer Critischen Dichtkunst hatte er das „Hauptwerk und Meisterstück der ganzen Poesie“ insofern schon 1729/30 als einen Text bestimmt, der „die poetische Nachahmung einer berühmten Handlung“ liefere, die so wichtig sei, dass sie „ein ganzes Volk“129 angehe. Auf die Idee, dass der Österreichische Erbfolgekrieg eine solche Handlung bilden könne, war Gottsched um 1750 freilich nicht nur aus politischen Gründen gekommen. Denn kurz zuvor war der Streit ums Epos in ein neues Stadium eingetreten. So hatte die Schweizer Literaturpartei den sächsischen Rivalen in eine empfindliche Defensive gebracht, indem sie einen Text vorgelegt hatte, der ihrer Poetologie des christlichen Epos entsprach. Im Jahr 1748 hatte der junge Friedrich Gottlieb Klopstock die ersten drei Gesänge seines Messias in den Bremer Beyträgen veröffentlicht, die Bodmer sogleich triumphierend für die eigene Dichtungslehre vereinnahmte.130 Im gleichen Maße rief der Text den Widerspruch von Gottsched hervor,131 der sich aufgefordert sah, im Gegenzug eine deutsche „Henriade“132 aus der Feder von Scheyb zu annoncieren: Am Vorbild von Voltaires Gedicht auf Henri IV. (1723) sollte demnach ein nationalgeschichtliches Epos entstehen, das auf jeglichen metaphysischen Apparat verzichten sollte.133 In diesem Sinne versuchte Gottsched, den Erbfolgekrieg für den ‚Dichterkrieg‘134

128 Zu diesem Dualismus vgl. auch Essen, „Aber rathen Sie nur nicht den Arminius. Dieser ist mir zu sauvage“, S. 18. 129 Gottsched, Versuch einer Critischen Dichtkunst. In: GAW, Bd. 6/2, S. 279 und S. 292. 130 Die Gleichsetzung von Bodmers und Klopstocks Poetologie ist bei Lichte besehen kritisch zu hinterfragen (vgl. dazu Steffen Martus, Werkpolitik. Zur Literaturgeschichte kritischer Kommunikation vom 17. bis ins 20. Jahrhundert mit Studien zu Klopstock, Tieck, Goethe und George, Berlin, New York 2007, S. 212 f.). Das änderte jedoch nichts daran, dass der Messias im 18. Jahrhunderts von beiden Parteien des Dichterkriegs durch die Brille der literaturpolitischen Konfrontation gesehen wurde. 131 Seit 1748 zog sich eine massive Ablehnung des Messias durch Gottscheds Zeitschriften. Belege bei Ball, Moralische Küsse, S. 200–232. 132 Den Gedanken, dass Scheyb für ein solches Vorhaben der geeignete Autor sein könne, hatte Gottsched schon im Zuge seiner Besprechung der Theresiade erwogen – im Zeichen des Bedauerns, dass der Österreicher für sein Herrscherlob in diesem Text gerade noch nicht die epische Gattung gewählt habe, sondern die des Ehrengedichts (Gottsched, Theresiade [Rezension]. In: NB, Bd. 4, März 1747, St. 3, Abt. 1, S. 199). 133 Dieses Programm hatte Jean-Baptiste Dubos in seinen Réflexions critiques sur la poésie et sur la peinture (1719) Voltaires Henriade auf den Leib geschrieben, von deren Entstehung er unterrichtet war (Finsler, Homer in der Neuzeit von Dante bis Goethe, S. 236 f.). 134 Schon die Beteiligten bezeichneten die literaturpolitische Auseinandersetzung als ‚Krieg‘: Der Begriff ‚Dichterkrieg‘ geht auf eine Satire zurück, die 1741 in drei Fortsetzungen in der Leipziger Zeitschrift Belustigungen des Verstandes und des Witzes erschien (Der Dichterkrieg.  



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fruchtbar zu machen, den er mit der verfeindeten Literaturpartei aus der Schweiz führte. Dementsprechend hart ging Gottsched in seiner öffentlichen Anzeige des sächsisch-österreichischen Epos mit dem Messias ins Gericht. Laut dem Leipziger Protestanten, der literarische Äußerungen der Religiosität viel kritischer beäugte als die offenbarungsaffinen Calvinisten in Zürich,135 hatte diese „Frucht aus Bodmers Lehren“136 die Ideale der literarischen Aufklärung regelrecht auf den Kopf gestellt. Das machte er im Gedicht an Scheyb klar, indem er seinen Wiener Schüler ironisch ermahnte, beim Entwurf seines epischen Textes den neuen ästhetischen Standard zu berücksichtigen, der „Vernunft und Licht verwirft, / Die Dunkelheit verehret“. So habe der Messias, der für einige Leser schon die Position eines „deutschen Heldenwerk[s]“ eingenommen habe, mit seinen erhabenen Impressionen aus dem Reich der Engel und Teufel eine Umkehr der dichtungstheoretischen Ideale eingeleitet. „Wer ihm nicht ähnlich schreibt, kann Deutschland nicht gefallen; / Homer ist abgesetzt, Virgil misfällt uns allen“, stichelte Gottsched. Die Autoritäten der klassizistischen Poetik seien nun durch die Spätrömer Lukan, Claudian und Silius abgelöst worden, die in Gottscheds eigenen Schriften für Dunkelheit und Irrationalität standen.137 Dagegen entwarf Gottsched im Schulterschluss mit Scheyb einen Dualismus zwischen religiösem und nationalem Epos, in dem die eigene Position erheblich von der Beziehung zur Kaiserstadt Wien profitierte. Als Gegenspieler zu Klopstock hatte er einen Protegé vorzuweisen, der aufgrund seiner Herkunft für eine besondere Nähe zum Zentrum des Alten Reichs stand und der damit die politische Nation gleichsam in eigener Person vertrat.138 Auf diese Rollenverteilung ging Scheyb billigend ein. In einer Antwort auf Gottsched öffentlichen Brief, die ebenfalls in Gottscheds Gedichten abgedruckt war, affirmierte er mithin die gemeinsame Front gegen die Zürcher Literaturpartei: Einst habe auch er den Olymp

Erstes Buch. In: BVW, Heumonat, 1741, S. 49–66; Fortsetzungen erschienen in den Ausgaben vom Brachmonat, 1742, S. 518–541 und Wintermonat, 1742, S. 434–463). 135 Vgl. ausführlich Detlef Döring, Der Literaturstreit zwischen Leipzig und Zürich in der Mitte des 18. Jahrhunderts. Neue Untersuchungen zu einem alten Thema. In: Bodmer und Breitinger im Netzwerk der europäischen Aufklärung, hg. von Anett Lütteken und Barbara Mahlmann-Bauer, Göttingen 2009, S. 60–104, hier: S. 97–88. 136 Hier und im Folgenden: Gottsched, An Seine Hochwohlgeborne [sic], Herrn Franz Christoph von Scheyb. In: Ders., Gedichte, 2. Aufl., Bd. 2, S. 555 f. 137 Zu Gottscheds Urteil über Lukan und Silius in der Critischen Dichtkunst vgl. GAW, Bd. 6/2, S. 285 f.; zu dem über Claudian vgl. S. 481. 138 Diese symbolischen Vorteile schienen für Gottsched über Fragen der literarischen Eignung zu überwiegen. So ist zu erklären, warum er es nicht als Nachteil sah, sich öffentlich mit einem „mittelmäßige[n]“ Dichter wie Scheyb zu assoziieren (Ball, Moralische Küsse, S. 187).  



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in der Schweiz gesucht, dem „edle[n] Milchland“, wo man „Geist und Witz nach Topf und Euter mißt“. Doch bei näherem Hinsehen habe er seinen Irrtum eingesehen, um sich nun eine bessere poetologische Orientierung in Leipzig zu suchen. Um korrekt aus Homer und Vergil zu schließen, „[w]as für Verpflichtungen zur Epopee gehören“, benötige er dabei noch die richtige theoretische Expertise: „Mein Gottsched, willst Du mir den Fingerzeig gewähren?“139 Mit dieser Bitte bestätigte Scheyb die gemeinsamen Pläne zu einem Anti-Messias, um das angekündigte Epos zugleich als Kooperation zwischen Leipzig und Wien auszuweisen. Damit war die Erweiterung des Literaturstreits zu einer Konstellation bestätigt, die auch der österreichischen Aufklärung ihren Platz zuwies. In der Frage nach dem angemessenen Gegenstand für das anvisierte Epos wich der Wiener Schüler jedoch von Gottscheds Vorstellungen ab. Zwar klang auch bei ihm eine Ausrichtung an der Nation durch, wenn er im Rückgriff auf Formulierungen der Critischen Dichtkunst andeutete: „Mein Absehn ist so weit und so uneingeschränkt, / Daß meine Muse nur auf ganze Völker denkt.“140 Doch statt das Thema seines Texts nach der Theresiade ein weiteres Mal in der Zeitgeschichte des Erbfolgekrieges zu suchen, äußerte Scheyb nun die Absicht, sich dem nationalen Altertum zuwenden zu wollen: O armes Heldenwerk! gefahrenvolles Ziel! Mein Freund! ach wage doch auf einmal nicht so viel! So warnest Du vielleicht; Ich billige Dein Sorgen; Ich wag es aber doch, und bin schon fast geborgen. Wer weis, zu was es wird? wer weis, ob der nicht siegt, Der seit Jahrhunderten im deutschen Moder liegt Und durch verborgne Kraft sich sucht empor zu schwingen; Der alten Celten Krieg und Deutschen vorzusingen?141

Zu einer Realisierung der sächsisch-österreichischen Epenpläne ist es letztendlich nicht gekommen, und so sind auch Scheybs vage Hinweise auf den intendierten Stoff nicht zweifelsfrei zu entschlüsseln. Die Forschung vermutet aufgrund zweier Indizien, dass der österreichische Autor hier an ein Arminius-Epos gedacht haben könnte.142 Denn erstens habe er ein Epenfragment über die Varusschlacht, das

139 Franz Christoph von Scheyb, Des Herrn von Scheyb Antwort auf vorstehendes Schreiben. In: Gottsched, Gedichte, 2. Aufl., Bd. 2, S. 558–562, hier: S. 559–561. 140 Scheyb, Des Herrn von Scheyb Antwort auf vorstehendes Schreiben. In: Gottsched, Gedichte, 2. Aufl., Bd. 2, S. 560. 141 Scheyb, Des Herrn von Scheyb Antwort auf vorstehendes Schreiben. In: Gottsched, Gedichte, 2. Aufl., Bd. 2, S. 561. 142 Tuma-Holzer, Franz Christoph von Scheyb (1704–1777), S. 143.

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Bodmer im Jahr 1726 verfasst hatte,143 wenig später explizit von der pauschalen Kritik an der Schweizer Literatur ausgenommen;144 zweitens könnte eine solche Zielsetzung erklären, warum Scheyb sein Projekt schließlich fallen gelassen habe. So scheint es, als sei ihm ein Dichter aus den eigenen Reihen zuvorgekommen. Zu Beginn des Jahres 1751 empfing Gottsched nämlich einen Text mit demselben Sujet „ganz fertig“145 von einem anderen Schüler in der Post und entschied, die Dichtung so schnell wie möglich in den Druck zu bringen. Statt Scheybs Nationalepos erschien somit das Heldengedicht Hermann, oder das befreyte Deutschland (1751), dessen sächsischer Autor Christoph Otto von Schönaich zwar keine regionale Verbindung zu den kriegführenden Herrschern vorzuweisen hatte, der aber zumindest auf gewisse militärische Erfahrungen im vergangenen Krieg zurückblicken konnte.146 Festzuhalten ist gleichwohl, dass das Thema ‚Nation‘ um 1750 in einer Situation auf die Agenda einer Allianz zwischen Leipziger und Wiener Aufklärung rückte, die einen spezifischen zeitgeschichtlichen Index besaß: Die Autoren versuchten, sich reichspatriotisch in den militärischen Erfolg einzuschreiben, den die Habsburger – nach Wiener Auslegung – im soeben zu Ende gegangenen Österreichischen Erbfolgekrieg gefeiert hatten. Gleichzeitig zielten sie darauf, im literaturpolitischen Wettlauf ums Epos das Gewicht der gestärkten Nation gegen die religiöse Poetik aus Zürich in die Waagschale zu werfen.147 Auch wenn sich der Wunsch nach einem Wiener Anti-Messias nicht erfüllte, lässt das auf diese Weise konturierte Programm die historischen und regionalen Voraussetzungen der Leipziger Faszination für die Nation hervortreten. Die Einsicht in diese Wechselbeziehungen zwischen Literatur und Politik in der Mitte des 18. Jahrhunderts verspricht auch eine weitere Konkurrenz im literarischen Feld der Aufklärung erhellen zu können, in den der Streit um das Epos zu dieser Zeit ausstrahlte: in die Entwürfe einer nationalen Literaturgeschichte.

143 Vgl. Martin, Das deutsche Versepos im 18. Jahrhundert, S. 146. 144 Auszug einiger Briefe gelehrter Männer aus Wien und Augspurg, die neuen deutschen Epopeen in ungereimten Hexametern betreffend. In: NAG, Bd. 2, Februar 1752, St. 2, S. 155–158, hier: S. 157. 145 Johann Christoph Gottsched, Vorrede. In: Christoph Otto von Schönaich, Hermann, oder das befreyte Deutschland, ein Heldengedicht. Nebst einer Vorrede ans Licht gestellet von Joh. Chr. Gottscheden, Leipzig 1751, S. I–XVIII, hier: S. X. 146 Vgl. unten, Kap. II.2.1. 147 Damit konnten die Parteigänger der sächsischen Dichtungslehre auf einen umso größeren Vorteil spekulieren, als die Schweizer Rivalen einen gleichsam exterritorialen Status besaßen. Als deutschsprachige Dichter außerhalb des Alten Reichs konnten sie per se nicht für die politische Nation gemäß Gottscheds Verständnis sprechen.

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1.3 Epik und Reich III: Nationale Literaturgeschichten (Gottsched, Bodmer) Während Gottscheds Freund Scheyb in Wien an einem Germanen-Epos im Zeichen des Alten Reiches feilte, arbeitete der Leipziger Gelehrte selbst auf anderem Gebiet daran, sein Dichtungskonzept mit seiner neuen Affinität zur Kaiserstadt zu harmonisieren. So trug die aktuelle und zugleich letzte Fassung des Versuchs einer Critischen Dichtkunst, die Gottsched im Jahr 1751 vorlegte, seine literaturpolitische Agenda ins Feld der Literaturgeschichte hinein. Die Erweiterung der Leipziger Dichtungslehre um eine Kartierung der nationalen Literatur wurde von Gottsched selbst offensiv beworben. [S]onderlich im II. Theile zur Geschichte der behandelten Gattungen, informierte der Untertitel des Buches, sei diese Ausgabe mit vielen neuen Hauptstücken vermehret; und in der „Vorrede“ kündigte der Verfasser an, dass diese Zusätze als „Vorschmack, von meiner weit größern Geschichte der deutschen Poesie“148 aufzufassen seien. Diese nationale Wende in Gottscheds Spätwerk hat in der Forschung erhebliche Irritation ausgelöst. So sehen die Herausgeber seiner Ausgewählten Werke (1968– 1995) die letzte Fassung der Critischen Dichtkunst als völlig „anderes Werk“,149 das der Edition nicht zugrundegelegt werden könne. Mit der Hinwendung zu einem nationalen Bewertungssystem, so die Begründung, habe der Leipziger Dichtungslehrer den universalistischen Ansatz fallen gelassen, der seine Poetik ursprünglich gekennzeichnet habe: Nun schlage der Autor der Critischen Dichtkunst einen scharfen „kulturpatriotischen“ Ton an; viele Kapitel seien auf den „polemisch[ ]“ vorgetragenen Nachweis hin umgeschrieben, „daß seine Poetik sich durchaus auf eine nationale Kulturleistung berufen konnte“150. Aus diesem Grund wurde entschieden, nicht den Text letzter Hand, sondern den der dritten Auflage (1742) als maßgebliche Form von Gottscheds Dichtungslehre in die Werkausgabe aufzunehmen.151

148 Gottsched, Vorrede zu dieser vierten Ausgabe. In: Versuch einer Critischen Dichtkunst (1751), S. III–XII, hier: S. XI. 149 Philipp M. Mitchell, Geleitwort. In: GAW, Bd. 6/4, S. 1–15, hier: S. 9. 150 Birke, Nachwort des Herausgebers. In: GAW, Bd. 6/3, S. 175. Erste Ansätze zu einer Nationalisierung finden sich bereits in der vorigen Auflage; eine derart programmatische Funktion wie in der vierten Auflage ist jedoch noch nicht festzustellen. Vgl. Alfred Pelz, Die vier Auflagen von Gottscheds Critischer Dichtkunst in vergleichender Betrachtung. Ein Beitrag zur Geistesgeschichte, Breslau 1929, S. 30 f. 151 Birke, Nachwort des Herausgebers. In: GAW, Bd. 6/3, S. 175; Mitchell, Geleitwort. In: GAW, Bd. 6/4, S. 9.  

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Dieser späte, aus dem Kanon herausgefallene Gottsched soll hier näher in den Blick genommen werden. Im Folgenden wird es darum gehen, sein Interesse an der nationalen Literaturgeschichte auf die damit verbundenen literaturpolitischen Funktionen hin zu untersuchen. Dabei scheinen zwei Dimensionen besonders wichtig zu sein: erstens die Abgrenzung von Bodmer, der parallel eine andere Form der Literaturgeschichte lancierte, und zweitens die theoretische Grundlegung für das erhoffte nationale Epos. Beide Anliegen, so wird hier nämlich zu zeigen sein, liefen konzeptionell in Gottscheds Nachforschungen zu einer deutschen Literaturgeschichte der Epik zusammen, die sich im erheblich angewachsenen Kapitel „Von der Epopee, oder dem Heldengedichte“ der vierten Auflage der Critischen Dichtkunst dokumentieren.152 In diesem Abschnitt schrieb Gottsched die poetologischen Richtlinien für ein Epos aufs Alte Reich ins Herzstück seiner Dichtungslehre ein; zugleich bezog er Position in einer philologischen Konkurrenz mit Bodmer, die ihn in der Zeit zwischen Österreichischem Erbfolgekrieg und Siebenjährigem Krieg intensiv beschäftigte.153 Ganz neu war das Interesse an der nationalen Literaturgeschichte zu diesem Zeitpunkt freilich nicht. Schon seit den 1730er Jahren hatten Gottsched und Bodmer nach Texten gesucht, die ihnen die Ursprünge der deutschen Dichtung erschließen sollten. Auf Gottscheds Seite hatten sich diese Forschungen vor allem in den Beyträgen zur Critischen Historie der deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit (1732–1744) niedergeschlagen, die er zuerst für die Deutsche Gesellschaft in Leipzig, dann in eigener Verantwortung herausgegeben hatte.154 Eine neue Dringlichkeit gewann das Projekt, als Bodmer 1748 seine Proben der alten schwäbischen Poesie des Dreyzehnten Jahrhunderts publizierte155 und seinen Leipziger Kontrahenten damit in ähnliche Bedrängnis brachte, wie Klopstock es zeitgleich auf dem epischen Feld tat. Indem der Schweizer die neu aufgespürte Minnelyrik des Codex Manesse zur historischen Legitimation für seine Poetik heranzog, forderte er Gottsched heraus, seinerseits die Bezugspunkte zwischen der Dichtungslehre und den literaturgeschichtlichen Nachforschungen in Leipzig offen-

152 Vgl. Felix Leibrock, Aufklärung und Mittelalter. Bodmer, Gottsched und die mittelalterliche deutsche Literatur, Frankfurt a. M. 1988, S. 63. Mit Blick auf die Literatur des Mittelalters präsentierte Gottsched seine Ergebnisse außerdem im Abschnitt „Von milesischen Fabeln, Ritterbüchern und Romanen“. 153 Vgl. Leibrock, Aufklärung und Mittelalter, S. 9. 154 Zur Geschichte des Projekts unter Gottscheds Regie vgl. Detlef Döring, Die Geschichte der deutschen Gesellschaft in Leipzig, Tübingen 2002, S. 273–278. 155 [Johann Jakob Bodmer,] Proben der alten schwäbischen Poesie des Dreyzehnten Jahrhunderts. Aus der Maneßischen Sammlung, Zürich 1748.  

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zulegen.156 Aus diesem Wettstreit ergaben sich zwei antagonistische Konzepte der nationalen Literaturgeschichte, die im Folgenden näher charakterisiert werden sollen. Auf dieser Grundlage kann der Blick dann in einem zweiten Schritt auf Gottscheds philologischen Traditionsentwurf für ein Nationalepos gerichtet werden. Für ein solches Unterfangen scheint es sinnvoll zu sein, die divergierenden Perspektiven auf die deutschsprachige Literaturtradition erneut aus den regionalen Dispositionen der Akteure herzuleiten. Mit Blick auf die protomediävistischen Recherchen der Rivalen lässt sich dabei eine grundsätzliche Dichotomie formulieren. So war Bodmers philologisches Engagement stets von einem „lokalen“157 Kontext motiviert – von dem Streben, die Relevanz seines eigenen Wirkungsorts für die nationale Dichtung zu beweisen. Denn Zürich besaß in der Topographie der deutschsprachigen Aufklärung eine spezifische Sonderstellung. Mit dem Westfälischen Frieden aus dem Alten Reich herausgelöst, war die Schweiz seit 1648 politisch konsequent einen eigenen Weg als Eidgenossenschaft gegangen. Für das nicht immer einfache Verhältnis zwischen den ungleichen Nachbarn, das daraus resultierte, hat Thomas Lau die Metapher der „Stiefbrüder“ geprägt.158 Auch die literarischen Beziehungen zu den Fürstentümern im Reich waren vor diesem Hintergrund unentwegt neu auszuhandeln. Die dichtungstheoretischen Geltungsansprüche der Schweizer mussten überzeugend gerechtfertigt werden, so dass Bodmer seine Suche nach einer frühen deutschsprachigen Literatur in der Schweiz mit besonderem Gewicht belegte.159 Mit solchen Herausforderungen war Gottsched bei seinen philologischen Unternehmungen hingegen nicht konfrontiert. Er konnte seine Textfunde sogleich am „eigentlich nationalen Bereich“160 messen, d. h. am Beitrag zum Wettstreit der Nationen, wie er seit der Frühen Neuzeit ausgefochten wurde. Diese Unterschiede schlugen sich in entsprechenden philologischen Interessen nieder. Bodmer ging es primär um den Nachweis einer langen Literaturtradi 

156 Fulda spricht in diesem Zusammenhang von Gottscheds „,nationalliterarischem‘ Projekt“ (Fulda, Zwischen Gelehrten- und Kulturnationalismus, S. 273). 157 Leibrock, Aufklärung und Mittelalter, S. 93. 158 Thomas Lau, „Stiefbrüder“. Nation und Konfession in der Schweiz und in Europa (1656– 1712), Köln, Weimar, Wien 2008. 159 Grundlegend zu dieser Differenzierung der Schweiz vom Alten Reich, die für die Herausbildung des spezifischen Literatur- und Kulturraums in Zürich konstitutiv war, vgl. die Ausführungen von Reinhart Meyer, Restaurative Innovation. Theologische Tradition und poetische Freiheit in der Poetik Bodmers und Breitingers. In: Aufklärung und literarische Öffentlichkeit, hg. von Christa Bürger, Peter Bürger und Jochen Schulte-Sasse, Frankfurt a. M. 1980, S. 39–83, S. 39– 83, hier: 51–57. 160 Leibrock, Aufklärung und Mittelalter, S. 102.  

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tion in der Schweiz. Die Nachricht von einer bisher unbekannten mittelalterlichen Liederhandschrift in einer Pariser Bibliothek hatte ihn deshalb so sehr elektrisiert, weil dieser konkrete Fund eine frühe „kulturelle Blüte in seiner Heimatstadt“161 nachzuweisen schien. Demonstrativ benannte er den neu entdeckten Codex darum nach seinen Sammlern, den Zürcher Patriziern Rüdiger und Johannes Manesse. Dieser Berührungspunkt zwischen der Schweiz und dem Hochmittelalter war für Bodmer Grund genug, seine poetologischen Positionen von nun an punktuell in der Dichtung des „altschwäbischen Zeitpunkts“ im 13. Jahrhundert zu spiegeln, den er schon dem Namen nach regional definierte.162 Durch Editionen und Nachdichtungen machte er ausgewählte Texte dieser Epoche einem größeren Publikum zugänglich,163 gleichzeitig versah er sie mit einer literaturpolitischen Funktion: Die Texte des Mittelalters wurden vom Zürcher immer wieder dazu eingesetzt, „gewisse[n] eigensinnige[n] Puritaner[n]“164 ein neues Sprachideal entgegenzuhalten, an das sich auch kulturtheoretische und politische Programme anlagerten. So führte Bodmer den Codex Manesse 1749 gegen die Grundlegung der deutschen Sprachkunst ins Feld, in der Gottsched das als besonders rein geltende sächsische Idiom zum Bezugspunkt der deutschen Literatursprache erhoben hatte.165 „Warum nennt er die deutsche Sprache eine Heldensprache, wenn er sie

161 Volker Mertens, Bodmer und die Folgen. In: Die Deutschen und ihr Mittelalter. Themen und Funktionen moderner Geschichtsbilder im Mittelalter, hg. von Gerd Althoff, Darmstadt 1992, S. 55–80 und S. 186–193, hier: S. 57. 162 Die anderen Epochen vor dem sogenannten „poetischen Zeitpunkt“ des 18. Jahrhundert, die Bodmer in seinem literaturgeschichtlichen Abriss Die sechs Zeitpunkte der Geschichte deutscher Poesie (1772) definierte, sind entweder nach Herrschern oder nach Autoren benannt. Dieser Text wurde 1786 posthum von Johann Heinrich Füssli publiziert (Johann Jakob Bodmer, Die sechs Zeitpunkte der Geschichte deutscher Poesie. In: Schweitzersches Museum, Bd. 3:1, 1786, S. 233– 243, hier: S. 236–238). Der räumlichen Definition des „altschwäbischen Zeitpunkts“ entsprechend, stattete der Zürcher Dichtungslehrer in der Folge auch andere Autoren des 13. Jahrhunderts, über deren Biographie nichts Genaueres bekannt war, mit einer schwäbischen Herkunft aus (Leibrock, Aufklärung und Mittelalter, S. 97 f.). 163 Leibrock, Aufklärung und Mittelalter, S. 15–31. 164 [Johann Jakob Bodmer,] Von dem wichtigen Antheil, den das Glück beytragen muß, einen Epischen Poeten zu formiren. Nach den Grundsätzen der Inquiry into the live and the Writings of Homer. In: Sammlung Critischer, Poetischer, anderer geistvollen Schriften, Zur Verbesserung des Urtheils und des Witzes in den Wercken der Wohlredenheit und der Poesie, St. 7, 1743, S. 3–24, hier: S. 15. 165 Diese Sonderstellung unter den deutschen Dialekten war der sächsischen Varietät, die sich als Hof- und Kanzleisprache ausdifferenziert hatte, seit dem 17. Jahrhundert zugeschrieben worden (Döring, Der Literaturstreit zwischen Leipzig und Zürich in der Mitte des 18. Jahrhunderts, S. 65–69).  

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nicht reden darf, wie die deutschen Helden sie geredet haben?“,166 ereiferte sich Bodmer. Dabei entwarf er eine Sprachtheorie, die darauf abzielte, der als ungehobelt verschrienen Schweizer Mundart im Zeichen der mittelalterlichen Textfunde eine neue Dignität zu verleihen.167 So ging der Zürcher davon aus, dass die heimische alemannische Varietät im Gegensatz zum geschliffenen SächsischMeißnischen einen ursprünglichen, heroischen Charakter bewahrt habe, den er in der mittelhochdeutschen Sprache angelegt glaubte. In der Schweiz könne man insofern in die Vorzeit der deutschen Sprache reisen: Begeistert lud Bodmer etwa seinen Schüler Klopstock ein, sich bei einem Besuch in Zürich davon zu überzeugen, dass der poetische Ton eines „Veldek“ oder eines „Eschilbach“ auch „nach manchem Fluge der Jahre / Zwischen dem Rhein und der Limmat noch lebet“168. Auf dieser Grundlage profilierte Bodmer die Schweiz gleichzeitig als idealen Ausgangspunkt für eine Dichtung, die an die glorifizierte Epoche vor dem „Untergang des Stammes von Hohenstaufen“ anknüpfen könne, der für die deutsche Literatur „gantz verderblich“169 gewesen sei. Mit einer sprachtheoretischen Wendung von Thomas Blackwells Enquiry into the Life and Writings of Homer (1735)170 postulierte er, dass die besten Bedingungen für eine Sprache voll „starker schöner Ausdrüke“ in der deutschen Vergangenheit im „altschwäbischen Zeitpunkt“ zusammengekommen seien. In seiner Enquiry hatte Blackwell die homerische Dichtung als Produkt einer frühen, fruchtbaren Kulturstufe gedeutet, und analog tat es nun Bodmer für die mittelalterliche Dichtung im deutschsprachigen Raum. Dabei ging es ihm vor allem um den Nachweis, dass die – vorgeblich in der Schweiz konservierte – kräftige Sprache des 13. Jahrhunderts einen Spiegel der 166 [Johann Jakob Bodmer,] Grundlegung der deutschen Sprachkunst, von J. C. Gottscheden. In: FN, Bd. 6, 5. Februar 1749, St. 6, S. 42–46, hier: S. 46. 167 Vgl. Döring, Der Literaturstreit zwischen Leipzig und Zürich in der Mitte des 18. Jahrhunderts, S. 72: In einer Schrift zu Katastrophen in der Literatur (1781) habe Bodmer sich beschwert, man diffamiere die Schweizer Mundart als „ein barbarisches geklaffe“. 168 Johann Jakob Bodmer, Verlangen nach dem Poeten. In: Bodmers Apollinarien, hg. von Gotthold Friedrich Stäudlin, Tübingen 1783, S. 82–91, hier: S. 89. 169 [Johann Jakob Bodmer,] Von den vortrefflichen Umständen für die Poesie unter den Kaisern aus dem schwäbischen Hause. In: Sammlung Critischer, Poetischer, anderer geistvollen Schriften, St. 7, 1743, S. 25–53, hier: S. 35. 170 [Thomas Blackwell,] An Enquiry into the Life and Writings of Homer, London 1735. In seiner Schrift „Von den vortrefflichen Umständen für die Poesie unter den Kaisern aus dem schwäbischen Hause“ lehnte Bodmer sich an das 3. Kapitel der Enquiry an, in dem Blackwell für „an inviolable and necessary Connexion between the Dispositions of a Nation and their Speech“ argumentierte ([Blackwell,] An Enquiry into the Life and Writings of Homer, S. 44). Vgl. Annegret Pfalzgraf, Eine Deutsche Ilias? Homer und das ‚Nibelungenlied‘ bei Johann Jakob Bodmer. Zu den Anfängen der nationalen Nibelungenrezeption im 18. Jahrhundert, Marburg 2003, S. 61.

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„einfältige[n] und natürliche[n] Sitten“171 bilde, die damals lebendig gewesen seien. Diese ideale Einfalt konzipierte der Schweizer Dichtungslehrer dabei als einen Zustand, der auf einer Skala zwischen Zivilisation und Barbarei in einer ausgewogenen Mitte liege. „Die Deutschen waren nicht mehr diese rohen und halbwilden, die aller Gemächlichkeiten des Lebens, und politischen Veranstaltungen beraubet waren“, betonte Bodmer im Aufsatz „Von den vortrefflichen Umständen für die Poesie unter den Kaisern aus dem schwäbischen Hause“. Und er führte dazu näher aus: Sie hatten friedliche Zeiten, zwischen langen und zweyträchtigen Versuchen, gehabt, wo sie es in den Künsten und Wissenschaften auf einen gewissen Grad gebracht hatten. Doch waren sie von Zucht, Höflichkeit und Cerimoniel nicht zu enge eingethan. Sie hatten noch vieles von ihrem unbändigen und ungezähmten Geist behalten, und die Schranken der Religion oder der Policey hatten die natürlichen und einfältigen Bewegungen ihres Hertzens nicht eingezwänget.172

Damit stimmte Bodmer ein Lob der Stauferzeit an, das typische Teleologien unterlief, die den Diskurs der nationalen Literatur im Alten Reich kennzeichneten. Politisch ordnete er die Kulturblüte nicht zufällig demjenigen Kaiserhaus zu, das in der deutschen Geschichte die Vorherrschaft innegehabt hatte, bevor die Habsburger die Macht übernommen hatten. Die Schweizer Version der deutschen Literaturgeschichte fokussierte damit zielgerichtet eine Epoche, von der aus sich keine Kontinuität zu den aktuellen Herrschern in Wien herstellen ließ. Kulturtheoretisch favorisierte Bodmer zugleich nicht das Ideal des künstlerischen Raffinements, das den Wettstreit zwischen Deutschen und Franzosen bestimmte, sondern eine natürliche Einfalt, wie sie in der englischen Querelle d’Homère profiliert worden war. Wie die griechische Frühzeit bei Blackwell, so entsprach Bodmers deutsches Mittelalter weder dem zivilisierten noch dem barbarischen Kulturzustand, zwischen denen man im Wettstreit der Nationen unterschieden hatte.173 „[N]either barbaric nor refined“,174 versprach das Modell naiver Natürlichkeit das 171 [Bodmer,] Von den vortrefflichen Umständen für die Poesie. In: Sammlung Critischer, Poetischer, anderer geistvollen Schriften, St. 7, 1743, S. 28 f. 172 [Bodmer,] Von den vortrefflichen Umständen für die Poesie. In: Sammlung Critischer, Poetischer, anderer geistvollen Schriften, St. 7, 1743, S. 26. 173 Bereits Max Wehrli hat betont, dass das deutsche Mittelalter im 18. Jahrhundert unter den Vorzeichen der englischen Kulturtheorie entworfen wurde. Vgl. Max Wehrli, Johann Jakob Bodmer und die Geschichte der deutschen Literatur. Leipzig 1936, S. 27 f. Vgl. dazu auch Dorothy Knight, Thomas Blackwell and J. J. Bodmer: The Establishment of a Literary Link Between Homeric Greece and Medieval Germany. In: German Life and Letters 6:4 (1953), S. 249–258. 174 Donald M. Foerster, Homer in English Criticism. The Historical Approach in the Eighteenth Century, 2. Aufl., Yale 1969, S. 39.  



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Höchstmaß poetischer Potentiale zu vereinigen, weil es sich die Vorzüge beider Kulturkonzepte lieh. Mithin entwarf Bodmer eine partikularistische Literaturgeschichte, zu der Gottscheds Ansatz in diametralem Gegensatz stand. Bereits eine kursorische Durchsicht der Leipziger Beyträge zur Critischen Historie der deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit ergibt, dass Gottsched einen Anspruch auf nationale Repräsentativität erhob, der auf maximale Reichweite setzte. So ging es ihm darum, „möglichst viele und möglichst alte deutsche Dichtungen“ aus „möglichst vielen deutschen Regionen“175 zu versammeln. Mit dieser Praxis einer „Registratur all dessen, was vorliegt“,176 stellte er sich erneut in eine Tradition des deutschen Humanismus – und zwar in die der Antibarbaries, deren Verfechter versucht hatten, in der deutschen Vergangenheit eine durchgehende Kulturleistung nachzuweisen (vgl. Kap. I.1). Nicht nur übernahm Gottsched das humanistische Streben nach einer Akkumulation von philologischem Material.177 Sein Sammeleifer war auch immer noch derselben Funktion verpflichtet: „Hohes Alter und großer Umfang der literarischen Produktion verbürgen die Ehre der Nation.“178 Aus der Leipziger Perspektive war die schiere Menge der aufgefundenen Dichtungen mithin wichtiger als der Einzeltext, und aus diesem Grund bevorzugte Gottsched hinsichtlich der Darstellungsform seiner Recherchen ein anderes Format als Bodmer. Obwohl er keineswegs weniger wichtige Manuskripte auftrieb als der Zürcher (er kannte zum Beispiel den Parzival und die Eneit noch vor Bodmer),179 legte er wenig Wert auf Editionen. Dem Verfahren der Akkumulation entsprechend, plante er stattdessen eine immer wieder angekündigte, aber wohl gerade aufgrund des Vollständigkeitsanspruchs niemals fertiggestellte deutsche Literaturgeschichte.180

175 Leibrock, Aufklärung und Mittelalter, S. 102 f. Vgl. auch Ball, Moralische Küsse, S. 103 f. 176 Fulda, Zwischen Gelehrten- und Kulturnationalismus, S. 273. 177 Vgl. Hirschi, Wettkampf der Nationen, S. 254. 178 Fulda, Zwischen Gelehrten- und Kulturnationalismus, S. 274. 179 Vgl. Phillip M. Mitchell, Gottsched and the Middle Ages. In: Semper idem et novus. Festschrift für Frank Banta, hg. von Francis G. Gentry, Göppingen 1988, S. 267–274, hier: S. 269 f. und Leibrock, Aufklärung und Mittelalter, S. 24–26. Der Eneit widmete Gottsched 1745 eine kurze Analyse, als Bodmer sie noch für verschollen hielt (Johann Christoph Gottsched, Ad capessendos in philosophia et lib. artib. honores summos invitat, et de antiquissima Aeneidos versione Germanica Henrici de Veldeck […] cuius codex mstus asservatur in biblioth. sereniss. ducis SaxoGothani, pauca disserit, Leipzig 1745). 180 Leibrock, Aufklärung und Mittelalter, S. 80–91. Seit 1757 publizierte Gottsched vorab eine Auflistung der deutschsprachigen Dramatik seit dem 15. Jahrhundert (Johann Christoph Gottsched, Nöthiger Vorrath zur Geschichte der deutschen Dramatischen Dichtkunst oder Verzeichniß  





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Die Verweise auf dieses Projekt häuften sich insbesondere in der Zeit um 1750, als Bodmer sich mit seiner Edition des Codex Manesse als Experte für die alte deutsche Literatur zu profilieren versuchte. In Reaktion darauf publizierte Gottsched verstärkt Zwischenergebnisse, die als Platzhalter für sein literaturgeschichtliches Großprojekt fungieren sollten: teils in Reden, die er zu festlichen Anlässen an der Leipziger Universität hielt und danach als Separatdrucke in Umlauf brachte,181 teils in seinen literaturkritischen Zeitschriften, und schließlich in den hinzugefügten historischen Passagen des Versuchs einer Critischen Dichtkunst von 1751. Ins Auge fällt dabei ein besonderer Fokus auf der epischen Dichtung, der sich in Beziehung zu den Plänen für ein Nationalepos setzen lässt: Im Medium der Literaturgeschichte entwarf Gottsched hier poetologische und politische Leitlinien für einen aktuellen heroischen Text, die im Folgenden nachgezeichnet werden sollen. Gottscheds umfassendem Repräsentationsanspruch entsprechend, schlug das Epos-Kapitel von 1751 dabei einen maximalen historischen Bogen. Die Traditionslinie der epischen Dichtung, die hier entwickelt wurde, führte von den germanischen Wäldern bis in die Gegenwart. Dabei konnte Gottsched insofern an traditionelle Positionen anschließen, als schon die Dichtungslehrer des 17. Jahrhunderts die nationale Poesie direkt mit der höchsten Gattung hatten einsetzen lassen. Eine solche These findet sich etwa bei Martin Opitz, der die Ursprungsszene der deutschen Poesie im Buch von der deutschen Poeterey (1624) mit folgenden Worten evoziert hatte: „Die Barden“, so berichte der römische Historiker Ammianus Marcellinus, „haben berümbter männer ritterliche thaten mit heroischen Versen beschrieben / vnd mit süßen melodien zue der leyer gesungen.“182 Auch beim Kieler Literaturhistoriker Daniel Georg Morhof stößt man auf

aller Deutschen Trauer-Lust- und Sing-Spiele, die im Druck erschienen, von 1450 bis zur Hälfte des jetzigen Jahrhunderts gesammlet und ans Licht gestellet, 2 Bde., Leipzig 1757–1765). 181 Johann Christoph Gottsched, Ad renunciationem baccalaureorum solemnem de XVII. dec. a. MDCCXLVI. […] invitat et de quibusdam philosophiae moralis apud Germanos antiquiores speciminibus pauca disserit, Leipzig 1746; mit Anmerkungen zu Hugo von Trimberg, Wolfram von Eschenbach und dem Jüngeren Titurel ders., Ad audiendas orationes tres, quibus memoriam Henricianam Seyfertianam atque Ridelianam d. X. septembris a. MDCCXLVI. […] recolent qui stipendiis ab his musarum evergetis provide constitutis gratifruuntur, qua decet invitat et de de rarioribus nonnullis bibliothecae Paullinae codicibus praefatur, Leipzig 1746; ders., Ad audiendas anniversarias tres quibus memoriae Heinriciana, Riedeliana, atque Seyfertiana more consueto d. XXVII. sept. a. MDCCLII. […] recolentur decenter invitat simulque de quibusdam poetis medii aevi veritatis evangelicae testibus aliquid praefatur, Leipzig 1752. 182 Opitz, Buch von der deutschen Poeterey, S. 356. Diese Stelle kann als implizite Referenz auf das Epos gelesen werden (Robert, Martin Opitz und die Konstitution der Deutschen Poetik, S. 299).

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ein Echo der antiken Passage, das dezidiert in Darlegungen „Von den HeldenGetichten“ eingerückt wurde. „Bey den alten Celtis und Teutschen hat man auch Helden=Tichter gehabt / die Bardos“, postulierte Morhof 1682 im Unterricht von der teutschen Sprache und Poesie, „aber dieselbe [sic] haben nur Lieder auff die alten Könige und Fürsten gemacht, die der Ammianus Marcellinus lib. 15.c.9. heroicos versus nennt.“183 Anschließend an diese Vorgänger, wählte nun auch Gottsched den Ausgangspunkt für seine Geschichte der nationalen Epik in der vierten Auflage der Critischen Dichtkunst bei den „alten deutschen Barden“. Von diesen wusste er folgendes zu berichten: Die deutsche Poesie entstund dazumal, auf eben die Art, aus eigener Erfindung, wie vormals die griechische entstanden war. Sie hob sich aus eigenen Kräften, und ohne fremde Beyhülfe allmählich empor: und wie der trojanische Krieg beynahe zu allen Heldengedichten der Griechen und Römer den Stoff an die Hand gegeben hatte; also hatten die deutschen Dichter gleichfalls in ihren einheimischen Geschichten solche berühmte Thaten gefunden, die ihnen Stoff genug zu Heldenliedern an die Hand gaben.184

In dieser Formulierung erhielt der Rückblick auf die Zeit, in der die Barden „die Thaten ihrer Helden in Liedern“185 besungen hätten, eine zentrale Funktion. Deutlich markierte Gottsched hier den Anspruch, dass die deutsche Dichtung wie Homers Ilias direkt aus dem Krieg hervorgegangen sei – und nicht etwa aus der Literatur anderer Völker. Noch nachdrücklicher betonte der Autor diesen Punkt in einer lateinischen Rede mit dem Titel De temporibus Teutonicorum vatum mythicis (1752), welche die Thesen der Critischen Dichtkunst für ein gelehrtes Publikum an der Leipziger Universität vertiefte. „Antiquissimi, ut populorum omnium, ita Teutonicarum quoque gentium scriptores, poëtarum ex numero fuerunt omnes“,186 dozierte Gottsched: Um die Heldentaten ihres Volkes festzuhalten, hätten die deutschen Barden sich ihre eigene Poesie erfunden. Im Zuge dieser Positionierung der Barden verschaffte sich Gottsched zugleich den Raum, um seiner favorisierten Form des nationalgeschichtlichen Epos einen Anstrich der Natürlichkeit zu geben. Von Anfang an, so seine Darstellung, habe

183 Daniel Georg Morhof, Unterricht von der teutschen Sprache und Poesie, deren Ursprung, Fortgang und Lehrsätzen, Kiel 1682, S. 686 f. 184 Gottsched, Versuch einer Critischen Dichtkunst (1751), S. 477 f. 185 Gottsched, Versuch einer Critischen Dichtkunst (1751), S. 477. 186 Johann Christoph Gottsched, Ad sollenia anniversaria quibus primae laureae philosophicae honores strenuis aliquot litterarum elegantiorum cultoribus fut. XXII. dec. a. NDCCLII. […] conferentur […] invitat et de temporibus Teutonicorum vatum mythicis quaedam praefatur, Leipzig 1752, S. III.  



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die heroische Poesie als Archiv für die größten politischen Leistungen der Nation gedient. Damit wurde eine Ehrgemeinschaft konstruiert, wie Gottsched sie auch vor Maria Theresia vertreten hatte (vgl. Kap. II.1.2): Schon in frühester Zeit hätten die kriegerischen Erfolge der Herrscher und Helden eine Aufgabenteilung hervorgebracht, in der die einen für die Taten gesorgt hätten, während die anderen sie aufgezeichnet hätten. Mit dieser Auslegung der Bardendichtung bewegte sich Gottsched noch in Spielräumen, die der nationale Diskurs lange zuvor erschlossen hatte.187 Neu war dagegen eine weitere postulierte Blütezeit der frühen Nationalepik, auf die er in der Folge zu sprechen kam. Vieles spricht dafür, dass es ihm dabei darum ging, ein literaturgeschichtliches Relais zwischen dem nordischen Altertum und dem Alten Reich der Gegenwart einzuschalten. So lenkte Gottsched die Aufmerksamkeit seiner Leser auf die schwach ausgeleuchteten Jahrhunderte zwischen Antike und Mittelalter, die er zugleich als Epoche der wichtigsten nationalen Heldentaten markierte („æv[um] maxime bellicos[um], maxima ab Heroibus Germanorum facinora patrata“188): Immerhin, so Gottsched, sei dies die Zeit gewesen, in der „die Sueven, die Burgunder, die Vandalier, die Gothen, Heruler und Longobarden dem römischen Reiche das Garaus machten“189. Das ideologische Potential, das die adressierte Völkerwanderungszeit für die Selbsterzählung der deutschen Nation enthielt, tritt durch dieses Argument deutlich hervor – hatte die Epoche doch den historischen Schauplatz für den Sieg der Germanen über die Römer geboten, der laut der Ansicht der frühneuzeitlichen Gelehrten die translatio imperii ins Heilige Römische Reich deutscher Nation vorbereitet hatte.190 In der lateinischen Fassung seiner Überlegungen führte Gottsched genau diesen Zusammenhang genauer aus. So hätten die germanischen Völker ihre Kämpfe mit dem erklärten Ziel geführt, auf den eroberten Gebieten irgendwann ein eigenes Reich zu gründen („germanico[ ] tandem aliquando imperio locum facturi“191). Laut Gottsched konnten Kriegserfolge dieses Formats nicht ohne poetische Resonanz geblieben sein. In der zweiten großen Periode des nationalen Altertums, mutmaßte er, „werden die Dichter dieser Völker nicht gesäumet haben,

187 Zur Literatur des 17. Jahrhunderts vgl. Conrad Wiedemann, Druiden, Barden, Witdoden. Zu einem Identifikationsmodell barocken Dichtertums. In: Sprachgesellschaften. Sozietäten. Dichtergruppen. Arbeitsgespräch in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel 28. bis 30. Juni 1977. Vorträge und Berichte, hg. von Martin Bircher und Ferdinand van Ingen, Hamburg 1978, S. 131– 150, hier: S. 134. 188 Gottsched, De temporibus Teutonicorum vatum mythicis, S. IV. 189 Gottsched, Versuch einer Critischen Dichtkunst (1751), S. 477. 190 Vgl. Garber, Vom universalen zum endogenen Nationalismus, S. 23 f. 191 Gottsched, De temporibus Teutonicorum vatum mythicis, S. V.  

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auch ihre Helden zu preisen“192. Der Potentialis war hier nicht zufällig verwendet – faktisch besaß man keine Überlieferung aus den dunklen Jahrhunderten nach dem Ende des Imperium Romanum, die sich national vereinnahmen ließ.193 Damit tat sich eine historische Leerstelle auf, in die der Autor des Versuchs einer Critischen Dichtkunst nun vorstieß, um eine habsburgische Note in seine Literaturgeschichte der heroischen Dichtung einzutragen. Dieses Manöver vollzog Gottsched, indem er eine konkrete Zwischenstation vorschlug, die der heroischen Dichtung der Barden ihren Weg ins Mittelalter gebahnt habe.194 Die Überlieferungskette, mutmaßte er, müsse dabei über einen Ort gelaufen sein, an dem die Literatur zu dieser Zeit nachweislich floriert habe. Aus diesem Grund richtete er seinen Blick gezielt auf den Hof des Hunnenkönigs Attila. Denn hier, referierte Gottsched, habe es auch während der Zeit der Völkerwanderung eine verbriefte literarische Kultur in Europa gegeben: So finden wir im Cassiodor und Jornandes, sonderlich von den Gothen, daß sie dergleichen Sänger und Lieder gehabt: und selbst vom Attila, der sowohl der Gothen als Hunnen König war, und mehr gothisch als hunnisch bey seinem Hofe redete, berichtet der alte Redner Priscus, der in der seiner Gesandtschaft vom griechischen Hof an ihn geschicket gewesen: daß er sich nach der Tafel, von seinen Dichtern, Loblieder auf kriegerische Thaten vorsingen lassen; ja bey seiner Rückkunft, von ganzen Chören singender Mägdchen empfangen worden.195

Von den deutschen Barden gelangte Gottsched somit zu den Sängern der Goten, die sich an Attilas Hof versammelt hätten. Angeregt worden war diese These offensichtlich durch Wiener Kontakte. Das zeigt sich schon an der angeführten Textbasis. Auf den Bericht des Priskos von Panion, der im 5. Jahrhundert als byzantinischer Gesandter eine Reise zu Attilas Hof unternommen hatte,196 war

192 Gottsched, Versuch einer Critischen Dichtkunst (1751), S. 477. 193 Die ersten Zeugnisse für eine Dichtung in deutscher Sprache setzen erst im 8. Jahrhundert n. Chr. ein. Vgl. Astrid Stedje, Deutsche Sprache gestern und heute. Einführung in Sprachgeschichte und Sprachkunde, 6. Aufl., neu bearbeitet von ders. und Peter Prell, Paderborn 2007, S. 17. 194 So behauptete Gottsched, dass die sagenumwobenen, aber verlorenen deutschen „Heldenlieder“, die Karl der Große bei der Begründung seines Kaisertums „nach Eginhards Berichte, gesammlet, und aufbehalten wollen“, die reichsbegründenden Kriege zum Thema gehabt haben müssten (Gottsched, Versuch einer Critischen Dichtkunst (1751), S. 477). Vgl. Einhardi Vita Caroli Magni, cap. 29 (Scriptores rerum Germanicarum in usum scholarum separatim editi, Bd. 25, post G. H. Pertz recensuit G. Waltz), hg. von Oswald Holder-Egger, Hannover, Leipzig 1911, S. 33. 195 Gottsched, Versuch einer Critischen Dichtkunst (1751), S. 477. 196 Überblickshaft zu Priskos vgl. Barry Baldwin, Priscus of Panium. In: Byzantion 50 (1980), S. 18–61.  

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Gottsched in einer jüngst erschienenen Übersetzung des ungarischen Gelehrten Mátyás Bél gestoßen, den er in der Olmützer Gesellschaft der habsburgischen Reformer kennengelernt hatte.197 Bél selbst hatte den Text in seinem Adparatus ad Historiam Hungariae (1735–1745) als Baustein zu einem ungarischen Pendant des deutschen Germanendiskurses publiziert:198 Ausgehend von einer suggestiven Lautähnlichkeit zwischen (H)unni und (H)ungari, hatten die Ungarn sich ihre eigene Antike in „hunnisch-skythischen Vorzeiten“199 konstruiert; dabei hatten sie Attilas Herrschaft zur Glanzzeit erhoben, in der dieses Altertum seine größte politische Geltung besessen habe.200 Gottsched dagegen glaubte in Priskos’ Bericht den missing link für seine Geschichte der deutschen Heldendichtung zu finden, der die Lücke zwischen Antike und Mittelalter zu schließen versprach. So meinte er, bei dem Byzantiner eine Fülle von Anhaltspunkten dafür zu finden, dass Attila sich bei seiner „Hofhaltung“201 die administrative und die kulturelle Kompetenz der alten Deutschen geborgt habe. Bereits 1747 hatte Gottsched diese Indizien in seinem Neuen Büchersaal anlässlich einer Rezension von Béls Edition aufgelistet. Priskos’ Bemerkung, man habe in Attilas „Residenz“202 genauso viele gotische wie hunnische Unterhaltungen gehört, hatte ihn hier zu ausführlichen Spekulationen über die Reichweite der kulturellen Verflechtungen veranlasst: Da sich bereits der Name Attila „von Atta, Vater, wie man noch an einigen Orten spricht“ aus einer „alte[n] deutsche[n] Mundart“ ableite und zudem noch dessen „Statsminister Onesegius“, ergo: „ohne Segen“,203 offenkundig selbst Gote gewesen sei, deutete

197 Tuma-Holzer, Franz Christoph von Scheyb (1704–1777), S. 92 f. 198 Matthias Belius, Apparatus ad historiam Hungariae sive Collectio Miscella Monumentorum ineditorum partim, partim editorum, sed fugientium […], 2 Bde., Pressburg 1735–1745. Im lateinischen Text berief sich Gottsched in den beigegebenen Fußnoten auf Béls Textausgabe (Gottsched, De temporibus Teutonicorum vatum mythicis, S. VI f., Anm. d) und e)). 199 Josef Deér, Entstehung des ungarischen Nationalbewußtseins. In: East Central Europe, 20:2 (1993), S. 11–53, hier: S. 32. 200 Vgl. Gábor Klaniczay, The Myth of Scythian Origin and the Cult of Attila in the Nineteenth Century. In: Multiple Antiquities – Multiple Modernities. Ancient Histories in Nineteenth Century European Cultures, hg. von dems., Michael Werner und Ottó Gecser, Frankfurt a. M., New York 2011, S. 185–212. 201 [Johann Christoph Gottsched,] Attila, missis acceptisque legationibus illustris; ex Prisco, Rhetore Sophista […] edidit atque notas adiecit Matthias Bel. Adparatus ad Historiam Hungariae Decad. II. Monumentum I. Pressburg 1745. In: NB, Bd. 5, September 1747, St. 3, S. 195–211, hier: S. 196. 202 [Gottsched,] Attila, missis acceptisque legationibus illustris; ex Prisco, Rhetore Sophista. In: NB, Bd. 5, September 1747, St. 3, S. 205. 203 [Gottsched,] Attila, missis acceptisque legationibus illustris; ex Prisco, Rhetore Sophista. In: NB, Bd. 5, September 1747, St. 3, S. 207.  





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für den Leipziger Leser alles auf eine protodeutsche Hofkultur im Hunnenreich hin. Diese Überlegungen führten ihn zu seiner eigentlichen These, die der literarischen Kultur am hunnischen Hof galt. So war es für Gottsched ausgemacht, dass die heroischen Gesänge auf Attilas „Siege“, von denen der antike Text berichtete, auf „gothisch“ verfasst gewesen sein müssten.204 Dementsprechend lautete sein Fazit: „Wir Deutschen haben also mehr Ursache uns der Ehre des Attila anzunehmen, als man bisher gedacht hat.“205 Gottscheds Nachweis einer durchgängigen heroischen Dichtung gelang mithin dadurch, dass der Hof des Hunnenkönigs Attila in den eigenen Kulturraum eingemeindet wurde. Im Altertum wurde eine Gemeinschaft von Germanen und Hunnen konstruiert, welche die Geschichte der nationalen Epik in der Critischen Dichtkunst von 1751 nun auch auf der politischen Ebene mit einer habsburgischen Signatur versah. Diese Lesart ergibt sich aus der Assoziation zwischen Hunnen (Hunni) und Ungarn (Hungari), die der behaupteten, zunächst kurios wirkenden Symbiose unter den Bedingungen des 18. Jahrhunderts durchaus eine gewisse Plausibilität verlieh. Denn für den zeitgenössischen Leser nahm das Nebeneinander von protodeutschen und protoungarischen Elementen genau die politische Konstellation vorweg, die aktuell an der Spitze des Alten Reiches existierte. Das höchste formale Amt der Habsburgerin Maria Theresia war schließlich das der Königin von Ungarn; an der Herrschaft über das Alte Reich konnte sie als Frau nur repräsentativ teilhaben.206 Dieser deutsch-ungarischen Kultursynthese war sich Gottsched sehr bewusst. Schon früher hatte er sie mehrfach genutzt, um die Reichweite der deutschen Überlieferung auszuweiten. Ein aufschlussreiches Beispiel dafür findet sich 1748 in seinem „Kurzen Verzeichniß einiger österreichischen alten Dichter, die in deutscher Sprache geschrieben haben“. Um zu beweisen, dass es auch schon vor seinem Freund Scheyb „den österreichischen Erblanden und Unterthanen an

204 [Gottsched,] Attila, missis acceptisque legationibus illustris; ex Prisco, Rhetore Sophista. In: NB, Bd. 5, September 1747, St. 3, S. 209 f; in seiner lateinischen Rede postulierte Gottsched analog: „Gothicas igitur, i. e. germanicas fuisse etiam Odas istas, quas scythicas vocat, suspicor: eo, quod per Scythas sæpius germanicæ quoque gentes intellectæ fuerint“ (Gottsched, De temporibus Teutonicorum vatum mythicis, S. VI, Anm. e). Umso mehr sei zu bedauern, „daß Priscus nicht anmerkt, ob die Verse der Scythen gereimt, oder sonst nach einem Sylbenmaaße ausgearbeitet gewesen“ ([Gottsched,] Attila, missis acceptisque legationibus illustris; ex Prisco, Rhetore Sophista. In: NB, Bd. 5, September 1747, St. 3, S. 210 f.). 205 [Gottsched,] Attila, missis acceptisque legationibus illustris; ex Prisco, Rhetore Sophista. In: NB, Bd. 5, September 1747, St. 3, S. 196. 206 Zur politischen und repräsentativen Bedeutung der ungarischen Königswürde vgl. die Beiträge in Maria Theresia als Königin von Ungarn. 15. Mai – 26. Oktober 1980. Ausstellung im Schloß Halbturn, hg. von Gerda Mraz, Eisenstadt 1980.  

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poetischen Geistern niemals gefehlt habe“, hatte er hier unter den „Vorläufer[n] der neuen Theresiade“ die Gedichte des sagenhaften mittelalterlichen Zauberers Klingsor angeführt, der laut dem Sängerkrieg auf der Wartburg (13. Jh.) gegen Wolfram von Eschenbach angetreten war.207 Zwar fehle es noch an einer selbstständigen Überlieferung von Klingsors Texten, bedauerte Gottsched. „Doch vielleicht fände sich in österreichischen Bibliotheken noch hier und dar [sic] etwas, das uns seine Stärke zeigen könnte“, schrieb er. Und diese Vermutung begründete er wie folgt: Zu den österreichischen Poeten aber habe ich ihn darum gerechnet, weil er, allem Ansehen nach, ein österreichischer Unterthan gewesen; da er ohne Erlaubniß des Herzogs von Oesterreich nicht hat nach Thüringen gehen dörfen. Und hat er gleich Güter in Ungarn gehabt, so ist doch dieß Königreich, nachmals auch zu den österreichischen Staaten gekommen, und ihnen gleichsam einverleibet worden.208

Dichter aus Ungarn waren für Gottsched also stets Dichter aus dem Habsburgerreich; und unter diesen Prämissen ergibt auch die seltsame Synthese zwischen dem hunnischen und dem germanischen Altertum, die er im Epos-Kapitel der Critischen Dichtkunst von 1751 entwarf, diskursgeschichtlichen Sinn. Denn hier fügte sich der implizite Verweis auf die Habsburgermonarchie passgenau in die reichspatriotischen Tendenzen ein, die Gottscheds Aspirationen auf ein Epos um 1750 charakterisierten. Laut dem Traditionsentwurf, den er vorlegte, war schon einmal heroische Dichtung aus einer Kulturgemeinschaft hervorgegangen, die deutsche und ungarische Elemente integriert hatte. Auf diesem Fundament hätte einer seiner Schüler aufbauen können, um das angekündigte Epos auf Maria Theresia in diese Linie zu stellen – zum Beispiel Franz Christoph von Scheyb. Die Idee von einem Nationalepos, dessen Spitzenposition in der Gattungshierarchie sich politisch im Schulterschluss mit dem Wiener Kaiserhof spiegeln sollte, beschäftigte Gottsched in der Mitte des 18. Jahrhunderts also doppelt: zum einen beim Versuch, selbst eine Leitfunktion für die frühe literarische Aufklärung in Österreich zu übernehmen, die ihren ersten zentralen Gegenstand in der abgewehrten Gefahr für die Kaiserkrone im Zuge des Österreichischen Erbfolgekrieges fand; zum anderen im Zuge seiner literaturgeschichtlichen Studien, in denen er die Vorzeichen für eine literarische Inszenierung der Nation ebenfalls zugunsten der angestrebten Kulturallianz zwischen Leipzig und Wien setzte.

207 [Johann Christoph Gottsched,] Kurzes Verzeichniß einiger österreichischen alten Dichter, die in deutscher Sprache geschrieben haben. In: NB, Bd. 6, Januar 1748, St. 1, Abt. V, S. 57–73; Februar 1748, St. 1, Abt. 3, S. 126–143, hier: Februar 1748, S. 143. 208 [Gottsched,] Kurzes Verzeichniß einiger österreichischen alten Dichter. In: NB, Bd. 6, Januar 1748, St. 1, Abt. V, Januar 1748, S. 64 f.  

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Trotz dieser intensiven Arbeit an einer Literatur mit ‚reichsweiter Reichweite‘ wurde das sächsisch-österreichische Nationalepos letztendlich nicht geschrieben. Stattdessen konnte sich die Leipziger Partei im Wettlauf ums Epos bis zu einem gewissen Grad über einen anderen Text profilieren, den Gottsched gleich nach seinem Erscheinen209 in den philologischen Abriss aufnahm, der hier betrachtet worden ist. Denn im Versuch einer Critischen Dichtkunst von 1751 führte Gottsched seine Literaturgeschichte des Epos bis ins eigene Jahrhundert fort, um beim Blick auf die jüngste Gegenwart einen triumphierenden Schlusspunkt zu setzen. „[S]o haben wir von dem Freyherrn von Schönaich nur itzo eine vollständige und überaus wohlgerathene Epopee bekommen; womit er den großen deutschen Helden, Hermann, besungen hat“,210 betonte der Dichtungslehrer siegesgewiss. An diesem Hermann-Epos, das der Autodidakt Schönaich nach Gottscheds Lehrbüchern verfasst hatte, entzündeten sich jedoch unverzüglich neue Streitigkeiten über eine zeitgemäße nationale Poetik. Damit gelangte der Streit um die Nationaldichtung um 1750 in den Blick von immer mehr Literaturparteien, wie das folgende Teilkapitel rekonstruieren soll.

209 Schönaichs Hermann erschien zur Herbstmesse, das heißt im Oktober des Jahres 1751 (Adolf Stern, Ein gekrönter Dichter (Christoph Otto von Schönaich). In: Beiträge zur Litteraturgeschichte, Leipzig 1893, S. 97–127, hier: S. 110). Die vierte Auflage des Versuchs einer Critischen Dichtkunst folgte wohl etwas später zum Ende des Jahres. 210 Gottsched, Versuch einer Critischen Dichtkunst (1751), S. 484.

2 Leipzig vs. Zürich: Dynamisierungen des Nationaldiskurses Im Jahr 1751 glichen sich die Entwicklungen auf beiden Seiten des Literaturstreits. In Leipzig erhielt Gottsched im März in anonymer Sendung die Rohfassung für ein Epos auf die Hermannsschlacht, die ein 25jähriger Debütant aus der Lausitzer Provinz als „geschworner Verehrer“211 für seinen „Aristarch“212 verfasst hatte. Auf diese Kontaktaufnahme folgte eine kurze und intensive Redaktionsarbeit, die im Herbst in der Publikation von Schönaichs Hermann, oder das befreyte Deutschland (1751) mündete. Ohne jede Kenntnis von diesen Vorbereitungen213 versuchte ein nicht minder unbekannter siebzehnjähriger Dichter aus Tübingen Anfang August, Bodmer auf sich aufmerksam zu machen, indem er ihm „vier gesänge […] in manuscripto“ nach Zürich schickte, die auf der gleichen Idee für ein episches Gedicht basierten. „Das Sujet ist Arminius, und die Erlösung Deutschlands vom Joche des Kaisers Augustus“, schrieb Bodmer an seinen Freund Laurenz Zellweger, und er prophezeite sogleich euphorisch: „Klopstok bekömmt an dem Verfasser einen Nebenbuhler.“214 Diese schweizerische Hoffnung auf ein nationalgeschichtliches Pendant zu Klopstocks religiösem Epos Der Messias setzte den Auftakt für eine Zusammenarbeit zwischen Bodmer und dem jungen Christoph Martin Wieland, die bis Mitte der 1750er Jahre anhielt. Diese Duplizität der Ereignisse war kein Zufall. Um 1750 hatte eine literarische Reanimation der Germanen geradezu in der Luft gelegen. Auf einer politi211 Christoph Otto von Schönaich an Johann Christoph Gottsched, 6. März 1751. In: Danzel, Gottsched und seine Zeit, S. 369 f., hier: S. 369. 212 Schönaich an Gottsched, 30. März 1751. In: Danzel, Gottsched und seine Zeit, S. 371 f., hier: S. 371. 213 Diese Unabhängigkeit betonte Bodmer, als er Schönaichs Hermann in den eigens herausgegebenen Freymüthigen Nachrichten aus Zürich mit dem ungedruckten Fragment von Wieland verglich (Johann Jakob Bodmer, Aufgehobner Brief. In: FN, Bd. 8, 15. Dezember 1751, St. 50, S. 396–400, hier: S. 398). In der Wieland-Forschung hat man lange angenommen, der Hermann aus Tübingen/Zürich habe sich von vornherein gegen sein Leipziger Pendant gerichtet. Die genaue Chronologie, die Dieter Martin herausgearbeitet hat, bestätigt jedoch Bodmers Aussage: Schönaichs Epos erschien erst im Oktober 1751 im Druck, so dass Wieland von ihm im Sommer des Jahres noch keine Kenntnis gehabt haben konnte (vgl. Martin, Das deutsche Versepos im 18. Jahrhundert, S. 146 f., Anm. 24). 214 Johann Jakob Bodmer an Laurenz Zellweger, 19. August 1751. Zitiert wird diese Stelle nach einem Aufsatz von Bernhard Seuffert, der den ungedruckten Briefwechsel von Bodmers Freund eingesehen hat (Bernhard Seuffert, Mitteilungen aus Wielands Jünglingsalter. In: Euphorion, Ergänzungsheft 3 (1897), S. 63–101, hier: S. 64).  





https://doi.org/10.1515/9783110613575-007

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schen Ebene hatte der Aachener Frieden von 1748, wie im letzten Teilkapitel gezeigt worden ist, in Leipzig eine neue Arbeit an Narrativen nationaler Größe angeregt. Ein anderer Faktor, der die junge Autorengeneration auch kulturtheoretisch zum eigenen Altertum hinzog, spiegelt sich in der Kritik am Leipziger Entwurf, die auf der Zürcher Seite formuliert wurde. „Dieser Herr scheint die alten Scriptores, die diese Geschichte beschreiben nicht mit Sorgfalt gelesen zu haben“, monierte Wieland die „unartigen Fehler“ von Schönaich: „Er hat auch gar keine richtige Notiz von dem damahligen Zustand Deutschlands; Er setzt prächtige Städte hinein giebt den Königen eine grosse Hofstatt etc.“215 Noch klarer drückte sich Bodmer aus. Aus seiner Sicht zeigte das Leipziger Machwerk keine Spur eines Verständnisses für den „National-Charakter[ ]“ der Vorfahren; Schönaichs Helden würden genauso reden und denken wie „eine[r] unsrer Universitätsgelehrten“ und seien insofern „Amphibien, die man uns für die alten barbarischen Germanier giebt“216. In beiden Einwänden manifestiert sich das bemerkenswerte Bedürfnis, eine unbekannte, dezidiert raue Vorzeit zu erkunden. Dahinter stand unverkennbar die Umstellung der Antikenordnung, die Charles de Montesquieu kurz zuvor mit dem Esprit des Lois (1748) vorgenommen hatte: Wie im ersten Teil dieser Studie gezeigt worden ist, hatte der Franzose in seinem Hauptwerk die bis dato vorbildliche Hochkultur der Römer abgewertet und im Gegenzug die frühen, kriegerischen Gesellschaften der Antike dezidiert positiv besetzt. Beide Hermann-Epen positionierten sich somit in einer diskursiven Konstellation, die Chancen und Risiken barg. Auf der einen Seite hatte das germanische Altertum neues Prestige erhalten, seitdem Montesquieu es auf eine analoge Kulturstufe mit den antiken Republiken Athen und Sparta gestellt und gegen das kaiserzeitliche Rom ausgespielt hatte (Kap. I.2.3.2.2): Diese Verkehrung in der traditionellen Rangfolge der Kulturen ließ sich anhand der germanisch-römischen Schlacht im Teutoburger Wald vorzüglich in Szene setzen. Auf der anderen Seite beruhte die Verschiebung der Antikenordnung jedoch auf kulturellen Zuschreibungen, die man bis dato entschieden aus der deutschen Literatur eliminiert hatte. Seit dem Humanismus war man darauf bedacht gewesen, die Deutschen von alters her als eine Nation der Kunst, Moral und Zivilisation zu profilieren, um Barbareivorwürfen keinen Raum zu geben (vgl. Kap. I.1). Dagegen hatten die Franzosen nun ausgerechnet ihre Faszination für kriegerische Ur-

215 Christoph Martin Wieland an Johann Jakob Bodmer, nach dem 20. Dezember 1751. In: Briefe der Bildungsjahre (1. Juni 1750 – 2. Juni 1760) (Wielands Briefwechsel, 20 Bde., hg. von Hans Werner Seiffert, Bd. 1), Berlin 1963, S. 29 f. 216 [Johann Jakob Bodmer,] Der verbesserte Hermann. In: [Christoph Martin Wieland, ders.,] Ankündigung einer Dunciade für die Deutschen. Nebst dem verbesserten Hermann. Frankfurt, Leipzig 1755, S. 83–102, hier: S. 84 f.  



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sprünglichkeit entdeckt. Das Verhältnis zwischen den traditionellen Leitvorstellungen, zwischen Krieg und Zivilisiertheit, war ab jetzt mithin sowohl kultur- als auch dichtungstheoretisch neu zu justieren. In systematischer Terminologie gesprochen, ging es folglich darum, die Perspektive der kriegerischen Antiromanitas in einem literarischen System zu verankern, das sich bislang dem antibarbarischen Nachweis kultureller Leistung verpflichtet hatte. Die Antworten, mit denen man in Leipzig und Zürich auf diese Herausforderung reagierte, fielen dabei höchst disparat aus. Auf diesem Weg gelangte die Frage, wie der Krieg in eine Poetik der nationalen Literatur zu integrieren sei, in die Dynamiken des Literaturstreits hinein. Dabei verschränkte sich die konzeptionelle Pluralisierung des nationalen Altertums mit den dichtungstheoretischen Standpunkten der rivalisierenden Parteien (Kap. II.2.1), und die Modernisierung der Nationaldichtung wurde zum Gegenstand einer Konfrontation, in der auch im Zeichen der Regionalität verschiedene Varianten des deutschen Altertums entworfen wurden (Kap. II.2.2). Das folgende Teilkapitel soll danach fragen, wie diese Konkurrenzen eine Differenzierung des literarischen Nationaldiskurses vorantrieben.

2.1 Diskrepante Germanen (Wieland, Schönaich) Mit ihren Arminius-Epen verschrieben sich Gottscheds Protegé Schönaich und der Bodmer-Schüler Wieland einem bewährten und scheinbar sicheren Rezept, um auf dem Feld der heroischen Dichtung zu reüssieren. Als axiomatische Heldentat des nationalen Altertums war der germanische Sieg über den römischen Feldherrn Varus in der deutschen Literatur schon oft, zuletzt vom jungen Bodmer selbst,217 als Gegenstand für die epische Gattung gewählt worden, die bereits über ihren zeitgenössischen Namen ‚Heldengedicht‘ mit heroischen Taten verknüpft war.218 Die Assoziation von Krieg und Epos, die sich aus der antiken Literatur herschrieb,219 privilegierte das Sujet der Varusschlacht ebenso wie die Forderung nach einem repräsentativen Ereignis von nationaler Tragweite, der im Gattungsdiskurs der Frühen Neuzeit an das genus grande herangetragen wurde.220 Gleichwohl begaben sich die beiden Debütanten mit ihrer Stoffwahl auf vermintes Terrain. Denn der Repräsentativitätsanspruch des Epos führte sie in das spezifische Spannungsfeld zwischen Regionalität und Nationalität hinein, das 217 218 219 220

Vgl. Martin, Das deutsche Versepos im 18. Jahrhundert, S. 387 f. Vgl. von Essen, „Aber rathen Sie nur nicht den Arminius. Dieser ist mir zu sauvage“, S. 17. Vgl. Martin, Das deutsche Versepos im 18. Jahrhundert, S. 22. Martin, Das deutsche Versepos im 18. Jahrhundert, S. 1.  

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sich im Zuge des Literaturstreits herausgebildet hatte: Jeder Versuch einer Definition, was für die deutsche Dichtung verbindlich sein sollte, rief geradezu zwangsläufig den Widerspruch der konkurrierenden Partei hervor. Diese Rivalität verschärfte sich in dem Maße, in dem das nationale Altertum durch Montesquieus Esprit des Lois neues Prestige gewonnen hatte. Beide Seiten hatten sich, ohne einander „des Raubes beschuldigen“ zu können, vom kulturtheoretischen Angebot des Franzosen zu Texten von „einerley Natur, Stof, und Absichten“221 inspirieren lassen, wie Bodmer in einer Rezension von Schönaichs Text erklärte. Damit mussten sie sich dem Vergleich aussetzen, wer von ihnen den Vorrang für sich reklamieren dürfe. Dieser Konkurrenzdruck dürfte ein maßgeblicher Grund sein, warum Wieland die Veröffentlichung seines Texts immer wieder herauszögerte und schließlich vollends verabschiedete.222 Dennoch sollen die unterschiedlichen Ansätze für eine Modernisierung der nationalen Poetik, die um 1750 entwickelt wurden, hier vergleichend in den Blick genommen werden. Dabei wird der Fokus auf den spezifischen, von den regionalen Dichtungslehren geprägten Wegen liegen, die Schönaich und Wieland einschlugen, um das neue Modell kriegerischer Gemeinschaft für die Partei ihrer Wahl zu adaptieren. In den Mittelpunkt rückte dabei ein zentraler Begriff des Montesquieu’schen Altertumsdiskurses, der die jungen Autoren offenbar ebenso faszinierte wie herausforderte. Von der bisherigen Forschung ist bereits festgestellt worden, dass sich beide Arminius-Epen bis zu einem gewissen Grad durch eine gemeinsame Agenda auszeichneten, in der es um die „Konstruktion eines verinnerlichten nationalen Verhaltenskodex“223 gegangen sei. Anders als im 17. Jahrhundert, würden die topischen germanischen Attribute „Freiheit, Ehrlichkeit, Männlichkeit und Sittlichkeit“ nun nicht mehr an „veräußerlichte[ ] Verhaltensweisen“224 gebunden, sondern systematisch in die inneren Motivationslagen des epischen Personals eingelassen. An diese Beobachtung soll hier angeknüpft werden; darüber hinaus soll akzentuiert werden, dass diese Umstellung von einer ‚äußerlichen‘ zu einer ‚innerlichen‘ Nationalität sich nicht zufällig um 1750 vollzog. So wird zu zeigen sein, dass die Internalisierung der nationalen Topoi bei Schönaich

221 Bodmer, Aufgehobner Brief. In: FN, Bd. 8, 15. Dezember 1751, St. 50, S. 398. 222 Nachdem Wieland seinen Förderer Bodmer in dieser Hinsicht lange vertröstet hatte, formulierte er 1758 in einem Brief an Johann Georg Zimmermann, dass er die Arbeit an dem Fragment nicht wieder aufzunehmen gedenke. Mittlerweile sei ihm der Arminius „zu sauvage“ geworden (Martin, Das deutsche Versepos im 18. Jahrhundert, S. 151). Vgl. auch die Ausführungen von Gesa von Essen, „Aber rathen Sie nur nicht den Arminius. Dieser ist mir zu sauvage“, S. 34. 223 Blitz, Aus Liebe zum Vaterland, S. 111. 224 Blitz, Aus Liebe zum Vaterland, S. 111.

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wie bei Wieland auf einer Aneignung der politischen Tugend (vertu) basierte, die Montesquieu zum Merkmal kriegerischer Gemeinschaften erhoben hatte – explizit für die antiken Republiken Rom und Sparta, aber implizit auch für die nordischen Völker. Dementsprechend durchzog die Semantik der kriegerischen Tugend, die kurz zuvor Einzug in den französischen Diskurs gehalten hatte, unüberhörbar die Eingangsverse der beiden Epen. „Göttin“, bat Schönaich seine Muse zum Einstieg, „[s]age mir, wie tugendhaft Deutschland damals noch gewesen, / Als die Vorsicht seinen Arm [Hermanns Arm, A.H.] sich zum Werkzeug auserlesen“225. Passend dazu führte der Sachse seinen Helden durch eine symptomatische Frage aus dem Mund seines Vaters ein. „Hermann!“, rief dieser herausfordernd, „hast du Tugend?“226 Nicht weniger prominent war das politische Ethos im Proöm von Wielands Hermann platziert, das sich den „Saamen der Tugend“ im Herzen des Protagonisten auf die Spur setzt. So heißt es: Singe mir, Muse, den Helden, den Enkel des göttlichen Hermanns, Der sein Blut dem Vaterland weyhte, und Teutschlands Freyheit, Nicht ohne Gott, aus den Klauen der Römischen Barbarn herausriß. Helden, unsterblicher Väter nicht abgeartete Enkel, Löwen, die aus unentheiligten Brüsten die Saamen der Tugend Mänlich gesogen, die stritten mit dir vor geerbte Freyheit, Räubrisches Volk des tyrannischen Roms!227

Doch so parallel der Leitbegriff der Tugend bei beiden Autoren gewählt war, so unterschiedlich fielen die Konzepte aus, mit denen er im sächsischen und im schweizerischen Kontext besetzt wurde. An den verschiedenen Lesarten, die diese Kategorie in Leipzig und Zürich erfuhr, verspricht sich das Gespür für die Wechselbeziehungen zwischen regionalen und nationalen Diskursen schärfen zu lassen. Zugleich soll daran im Folgenden eine charakteristische Ambiguität aufgezeigt werden, die den literarischen Nationaldiskurs der deutschsprachigen Aufklärung um 1750 insgesamt kennzeichnete: Die traditionelle Orientierung an der Kultur (Antibarbaries) geriet merklich in Konkurrenz mit der am Krieg (Antiromanitas). So stellte sich Wieland in den soeben zitierten Versen zunächst nachdrücklich auf die Seite einer Kriegs- und Tapferkeitsemphase, die er durch einen Begriffskatalog abstützte, der klar von Montesquieu inspiriert war. Dem Prinzipat

225 Schönaich, Hermann, oder das befreyte Deutschland, S. 3. 226 Schönaich, Hermann, oder das befreyte Deutschland, S. 5. 227 Christoph Martin Wieland, Hermann (Wielands gesammelte Schriften, hg. von der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, 20 Bde., Bd. 1,1: Poetische Jugendwerke. Erster Teil, bearbeitet von Fritz Homeyer), Berlin 1909, S. 137–217, hier: S. 137.

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der Römer, das er wie der französische Philosoph mit dem Vorwurf der Tyrannei belegte,228 hielt er ein unerschrockenes Volk von Germanen entgegen, das jederzeit dazu bereit sei, das Leben für die „Freyheit“ des „Vaterland[es]“ einzusetzen. Sowohl mit der Freiheit als auch mit dem Vaterland mobilisierte Wieland hier Schlüsselbegriffe des Republikanismus, der im Esprit des Lois eine Allianz mit der Kriegstopik eingegangen war, die man seit der Frühen Neuzeit mit den Altertümern im Norden assoziierte. Folglich berief der junge Autor sich auf ein ebenso innovatives wie provokantes Modell antiker Gemeinschaft, das es ihm erlaubte, die gewohnte Ordnung der Antiken umzukehren: Als „Barbarn“ fungierten bei ihm nicht die tapferen Germanen, sondern die despotischen Römer unter Varus, die es auf deren Freiheit abgesehen hatten.229 Eine schweizerische Transformation des Montesquieu’schen Konzepts deutet sich in den zitierten Versen freilich dadurch an, dass die politische Tugend der Germanen durch eine zweite nuanciert wurde, die „[n]icht ohne Gott“ zu denken sei. Mit dieser Adaption passte Wieland seinen Hermann an den religiösen Grundzug in der Lehre von Bodmer und Breitinger an. Für die beiden Theologen,230 die ihre Dichtungstheorie auf das streng calvinistische Zürich zugeschnitten hatten, waren „Poetik“ und „Religion“231 stets aufs Engste miteinander verflochten gewesen. Akzeptabel waren für sie im Prinzip nur Gattungen und Sujets, die als säkularisierte Formen von Erbauungsliteratur durchgehen konnten232 und die höchsten moralischen Standards genügten, die im Glauben zentriert waren. Der „,Rang‘ des behandelten Gegenstandes“ leitete sich in Zürich mithin von seiner „Nähe bzw. Ferne zu Gott“233 ab. In diesem Koordinatensystem positionierte Wieland auch seinen Hermann, indem er den gesellschaftstheoretischen terminus technicus der patriotischen vertu in eine Dichotomie von Tugend und Laster integrierte, die von einem religiösen Wertesystem ausging. Die Schlacht zwischen den Germanen und den Römern wurde bei ihm dabei zu einem „Kampf um die Moral“234. Für die römische

228 Vgl. v. a. die Bücher XIII und XIV in den Considérations. Montesquieu bezeichnete mit dem Begriff ‚Tyrannei‘ einen Staat, der nach dem Umsturz einer anderen Regierungsform, meist einer Demokratie, errichtet wurde (Catherine Volphilhac-Auger, Tacite et Montesquieu, Oxford 1985, S. 149 f.). 229 Vgl. von Essen, „Aber rathen Sie nur nicht den Arminius. Dieser ist mir zu sauvage“, S. 24. 230 Vgl. Meyer, Restaurative Innovation, S. 55. 231 Jesko Reiling, Die Genese der idealen Gesellschaft. Studien zum literarischen Werk von Johann Jakob Bodmer (1698–1783), Berlin, New York 2010, S. 140. 232 Vgl. Döring, Der Literaturstreit zwischen Leipzig und Zürich in der Mitte des 18. Jahrhunderts, S. 90. 233 Meyer, Restaurative Innovation, S. 69. 234 Von Essen, „Aber rathen Sie nur nicht den Arminius. Dieser ist mir zu sauvage“, S. 24.  



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Kultur reservierte Wieland Attribute, die passend zur calvinistischen Skepsis gegenüber sinnlichen Genüssen235 mit körperlicher Sündigkeit verknüpft waren. Aus dem Vorwurf des ungezügelten Luxus, mit dem Montesquieu die römische Kaiserzeit in den Considérations sur les causes de la grandeur des Romains et de leur décadence und im Esprit des Lois belegt hatte,236 wurde in Wielands Epos die Kritik an einer überbordenden, „entkräftende[n] Wollust“, welche die Römer unter ein wahres „Joch[ ] der Laster“237 gezwungen habe. In Abgrenzung von dieser römischen Verkommenheit stattete Wieland seine Germanen mit einem stabilen sittlichen Kompass aus, der darauf ausgelegt war, sie sowohl zum Dienst am Vaterland als auch an der Religion zu animieren.238 Dementsprechend exponiert platzierte Wieland eine Szene, welche die Leitorientierungen ‚Vaterland‘ und ‚Religion‘ ins Verhältnis setzte. So trat im Zürcher Epos ein Druide auf, der den jungen Hermann in seine politischen Pflichten einweihte, die er aus einer protochristlichen Macht entspringen ließ. „Wisse, den Göttern geliebter Jüngling“, eröffnete der weise Alte, „[d]aß ein unsterblicher Geist in dir herschet“: […] Ihn schuf die Gotheit Mit unendlichen Trieben nach sich und nach göttlicher Größe. […] Siehe dort, wie der weißlichte Gürtel aus Sternen gewebet Um den himmlischen Bogen herumwindt, dort wohnen die Seelen Göttlicher Weisen und Helden, die sich dem Vaterland opfern, In gott-benachbarten Paradiesen. Hier warten mit Inbrunst Deine mit Ruhm bekränzten Väter […].239

In dieser feierlichen Initiationsszene integrierte Wieland das politische Tugendkonzept in eine kosmologische Ordnung „auf pythagoreisch-platonischer Grundlage“240. Zwar lehnte sich das Lob des Heroismus, mit dem die germanischen Helden ihr Leben für das Wohl des Vaterlands eingesetzt hätten, weiterhin an die Montesquieu’sche Semantik der vertu an. Zusätzlich motivierte Wieland den

235 Vgl. Meyer, Restaurative Innovation, S. 64. 236 Vgl. Senarclens, Montesquieu historien de Rome, S. 162 f. 237 Wieland, Hermann, S. 137. 238 Die Kategorien „Vaterland“ und „Religion“ werden von Günter Peters als die beiden Grundorientierungen von Wielands Jugendwerk herausgestellt (Günter Peters, Der zerrissene Engel. Genieästhetik und literarische Selbstdarstellung im achtzehnten Jahrhundert, Heidelberg 1981, S. 163). 239 Wieland, Hermann, S. 141. 240 Matthäus Döll, Die Einflüsse der Antike in Wielands ‚Hermann‘. Beitrag zur EntwicklungsGeschichte der deutschen Literatur im 18. Jahrhundert, München 1897, S. 48.  

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Appell zum unbedingten Kriegseinsatz nun aber durch eine religiöse Seelenlehre, die auf einer kontinuierlichen chain of being zwischen Mensch und Gott basierte.241 Als „Theil der Gottheit“,242 so die Grundannahme, bilde die Seele eine Brücke in die Unsterblichkeit. Dabei markierte Wieland nicht nur die Herkunft der Seele als göttlich und ewig. Im politisch-religiösen Programm des Zürcher Hermann fungierte die jenseitige Sphäre gleichzeitig als Ort einer paradiesischen Existenz nach dem Tod, der umso leichter erreicht werden könne, je mehr sich ein Bürger um sein Vaterland verdient gemacht habe. Im gesellschaftstheoretischen Hintergrund klang hier das berühmte „Somnium Scipionis“ aus Ciceros Schrift De re publica (1. Jh. v. Chr.) an, das römischen Staatsmännern einen privilegierten Platz in den himmlischen Sphären versprochen hatte.243 Aus diesem Verdienstmodell wurde bei Wieland ein expliziter Ruf nach dem Tod für das Vaterland. „Laß uns sterben“, ruft sein Hermann, „[w]enn uns so himlische Hoffnungen lachen!“244 Auf diese Weise erhielt die patriotische Opferbereitschaft, die Montesquieu an den frühen Römern und Spartanern fasziniert hatte, eine metaphysische Nobilitierung. Somit entwarf Wieland einen neuen konzeptuellen Rahmen für die politische Tugend der Germanen, der auf die religiösen Bedürfnisse der Zürcher Poetik zugeschnitten war. Dabei hatte seine Transformation nicht zuletzt eine entschärfende Funktion – nahm sie doch das provokante Potential halb zurück, das sich in der französischen Gesellschaftstheorie mit der Einführung der antiken Kriegergemeinschaften verbunden hatte. Denn während Montesquieu die politische vertu der frühen Griechen und Germanen von kulturellen Errungenschaften abgekoppelt hatte, holte Wieland diese in Gestalt von Religion und Moral ausdrücklich zurück ins Boot: In seinem Hermann präsentierte er Germanen, die kriegerisch und zivilisiert zugleich waren.  

241 Margit Hacker, Anthropologische und kosmologische Ordnungsutopien: Christoph Martin Wielands „Natur der Dinge“. Würzburg 1989, S. 19–44. Die „Ordnung des Kosmos in dem ursächlichen Prinzip eines Weltenschöpfers“ wird dabei, wie Walter Erhart formuliert, mit der „Garantie der menschlichen Glücksmöglichkeit in einer universalen Harmonie“ verbunden (Walter Erhart, Entzweiung und Selbstaufklärung. Christoph Martin Wielands „Agathon“-Projekt, Tübingen 1991, S. 28). 242 Wieland, Hermann, S. 146. 243 Vgl. Cic. de rep. 6, 29: „Es sind aber die Mühen um das Heil des Vaterlandes die besten. Von ihnen getrieben und geübt, wird die Seele schneller zu diesem Sitz und in ihre Heimat hinfliegen; und das wird sie schneller tun, wenn sie schon, während sie noch im Körper eingeschlossen ist, nach außen ragt und das, was außerhalb ist, betrachtend sich so sehr wie möglich vom Körper löst.“ Deutsch nach Marcus Tullius Cicero, De re publica. Lateinisch-deutsch, übersetzt und hg. von Karl Büchner, 5. Aufl., Stuttgart 1993, S. 277. 244 Wieland, Hermann, S. 141 f.  

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Gemessen an den gewohnten Regeln des Antikendiskurses, produzierte Wieland damit ein klares Paradox. Durch seine religiöse Grundierung der politischen Tugend entwarf er ein Deutungsangebot für das germanische Altertum, in dem sich das antibarbarische Lob der Kultur mit dem antiromanischen Lob des Krieges berührte, die bislang polare Gegensätze gebildet hatten. Der Vermittlungsversuch zwischen zwei Diskursen, die sich über Jahrhunderte ausgeschlossen hatten, trug somit eine latente Spannung in Wielands Antikenentwurf ein, die nicht zuletzt von seinem Lehrer Bodmer besorgt registriert wurde. Im geschützten Raum der Korrespondenz mit seinem Freund Zellweger kritisierte der Zürcher Dichtungslehrer, er würde „den Deutschen derselben Zeiten nicht so artige Sitten und Manieren zugeleget“245 haben wie sein Schüler. Eine ähnlich aufwendige Deutungsarbeit an der politischen Tugend lässt sich auch im Germanenepos von Schönaich beobachten, das im entgegengesetzten Lager des Literaturstreits entstand. Dabei orientierte sich der junge sächsische Dichter nicht minder an regionalen Präferenzen als sein Kontrahent. Bereits Gottsched hatte seine Epenpoetik an der postulierten kriegerischen Bewährung des Alten Reiches ausgerichtet (Kap. II.1); und so konzentrierte sich auch sein Protegé, der während des Zweiten Schlesischen Krieges auf sächsischer Seite mitgekämpft hatte246 und daher von Gottsched für prädestiniert erklärt wurde, „von Kriegessachen […] zu schreiben“,247 auf die genuin militärischen Qualitäten der Nation. Im Leipziger Hermann erhielt die topische Kampfkraft der Germanen dabei zusätzlich eine geschichtsphilosophische Funktion, in deren Entwurf sich auch Schönaich als aufmerksamer Montesquieu-Leser bewies. So erhob Schönaich die kriegerische Stärke zum entscheidenden Faktor, der die translatio imperii von Rom nach Deutschland eingeleitet habe. Diese Lehre aus der Varusschlacht zog bei ihm, wie schon bei Wieland, ein weiser Germane. So bietet ein Barde, der als Eremit „unter dicken Bäumen“248 lebt, Hermann in Schönaichs Text Schutz vor einem Gewitter, um ihn bei dieser Gelegenheit in die Regelhaftigkeit der Geschichte einzuführen. Für alle Weltreiche, lehrt der Alte, sehe der „Himmel“ eine begrenzte Dauer vor; wisse man um dieses Gesetz, dann würden sich die Vorzeichen mehren, dass das römische Reich in Kürze „seines

245 Bodmer an Zellweger, 19. August 1751. In: Seuffert, Mitteilungen aus Wielands Jünglingsalter, S. 64. 246 Vgl. Stern, Ein gekrönter Dichter, S. 101. 247 Gottsched, Vorrede. In: Schönaich, Hermann, oder das befreyte Deutschland, S. XVII. De facto war Schönaich schon bei seinem ersten Feldeinsatz in preußische Kriegsgefangenschaft geraten (Stern, Ein gekrönter Dichter, S. 101). 248 Schönaich, Hermann, oder das befreyte Deutschland, S. 8.

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Glückes Ziel“249 entgegengehe. In diesem Sinne mahnt er seinen cheruskischen Zuhörer, genau darauf Acht zu geben, wie sich das Verhalten der Römer in jüngster Zeit gewandelt habe: „Sterbliche, die können nur, aus den Sitten schwacher Staaten, Und der Zeiten Fügungen, den entfernten Fall errathen. Aber, wo ein kühnes Wesen je gezüchtigt worden ist; Wo sich Rom, wie jetzo, ferner in der trägen Lust vergißt: Prinz! so ist vom Himmel selbst uns das Zeichen schon gegeben, Unser ganz verworfnes Volk aus dem Staube zu erheben. Du bist jung; und Siegmar [Hermanns Vater, A.H.] weise: du kannst fechten; und er räth.“250

Was der Barde hier vorträgt, ist eine prognostisch gewendete Version der Theorie von Aufstieg und Niedergang, die Montesquieu in den Considérations sur les causes de la grandeur des Romains et de leur décadence entfaltet hatte (vgl. Kap. I.2.1). Aus der Veränderung der römischen Sitten, so der Barde, könnten die Germanen indexikalisch den nahenden Fall des Imperiums ableiten. Die „träge Lust“, die sich mehr und mehr unter den Römern ausbreite und ihr ursprünglich „kühnes Wesen“ verdränge, sei als Vorbote des politischen Niedergangs zu bewerten. Im französischen Diskurs, in dem Montesquieu seine Considérations platziert hatte, konnte man den Fokus auf dem Kippen der römischen Macht als Mahnung an Versailles dekodieren;251 in den deutschen Kontext übertragen, wurde daraus ein politischer Auftrag an Hermann und sein Volk. Dementsprechend gelangt Schönaichs Barde zu der Schlussfolgerung, dass die Germanen sich von nun an darauf vorbereiten müssten, die Römer in ihrer europäischen Vormachtstellung zu beerben. Der Weg zu dieser translatio imperii führte für Schönaich durch eine Schule des Krieges, die sich auf intrikate Weise mit einer translatio virtutis verschränkte. Als Bedingung für eine Übernahme der Herrschaft in Europa wurde im Leipziger Epos eine Nachfolge in puncto militärischer Größe angemahnt, die seit Montesquieu mit dem Begriff der politischen Tugend verknüpft war. Als Schlüsselfigur für diesen Auftrag profilierte Schönaich nicht ohne Grund seinen Protagonisten Hermann, der laut Tacitus’ Annalen (2. Jh. n. Chr.) geraume Zeit in der römischen Armee gedient hatte.252 An diese Prädisposition anknüpfend, forderte der Barde  

249 Schönaich, Hermann, oder das befreyte Deutschland, S. 10. 250 Schönaich, Hermann, oder das befreyte Deutschland, S. 11. 251 Vgl. Barrera, Les lois du monde, S. 10 f. 252 Tac. Ann. 2, 10: Als ductor popularium habe der historische Arminius in Rom Gruppen von germanischstämmigen Soldaten befehligt. In der „Vorrede“ zu Schönaichs Epos zitierte Gottsched in diesem Zusammenhang eine Passage aus Joseph Barres Histoire Générale d’Allemagne (10 Bde.,  

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seinen Gast auf, er möge das germanische Volk in der „Kriegeskunst, die dich Rom, mein Prinz! gelehret“,253 unterweisen. Für die besondere Relevanz des Krieges gibt der Barde zwei Gründe an, in denen eine sächsische Auslegung der politischen Tugend ihre Konturen gewinnt. Mit dem ersten Argument wird die zentrale These von Montesquieus Considérations rekapituliert. So urteilt der Barde über die Kriegskunst: „Die hat Rom zu seiner Größe, und die Welt ins Joch gebracht; / Und durch diese fällt und steiget jedes Reich, jedwede Macht.“254 Folglich fungiere die militärische Leistung als Gradmesser für das politische Potential eines Staates. Danach beurteilt, stellt der Text die Germanen im klaren Vorteil dar. Denn auf der römischen Seite nimmt die soldatische Nachlässigkeit des Varus bei Schönaich bereits den Fall des Imperiums vorweg: „Er vergaß der Heere Glück, Zucht und Schärfe zu erhalten; / Denn, wenn die verlohren sind, muß der Muth wohl bald erkalten.“255 Dagegen erweist sich der sächsische Hermann als strenger Verfechter militärischer Disziplin, wie der Autor den Cherusker selbst berichten ließ: Mählich nahm das tapfre Lager [des Varus, A.H.] Züge feiger Wollust an; Dieses Feldherrn weiche Seele rief den Ueberfluß heran. Dieser kam! und es folgten ihm alle Folgen weicher Sitten; Die verhaßte Kriegeskunst ward nicht mehr allda gelitten. Ich hingegen nahm sie freudig unter meine Völker auf; Und ich übte sie im Fechten, Schießen, Springen und im Lauf.256

Bis zu diesem Punkt verpflichtete Schönaich seine Germanen genauso dem Prinzip des Krieges, wie Montesquieu es am Beispiel der frühen Altertümer vorgeführt hatte. Damit schien sich der sächsische Autor zunächst auf die Seite eines antiromanischen Diskurses der Nation zu stellen. Konterkariert wurde diese Tendenz jedoch durch den zweiten Grund, aus dem sein Barde für eine Spezialisierung in Kriegssachen votierte. So empfiehlt dieser, die kriegerische Disziplin als Kultivierungsinstrument einzusetzen: „Drum verbinde Zucht und Muth mit den 1748): „Er“, also Arminius, „diente seit langer Zeit im römischen Heere. August hatte ihn mit dem römischen Bürgerrechte beehret, und zum Ritter gemachet; und zugleich verstattet, daß man ihm eine Legion, oder eine noch wichtigere Anzahl Kriegesvolkes untergeben hatte. […] Wenn er wider andre Völker, als Deutsche, kriegen sollte; so braucht er Ernst, und diente den Römern nützlich: aber gegen die Deutschen verhielt er sich anders.“ (Gottsched, Vorrede. In: Schönaich, Hermann, oder das befreyte Deutschland, S. V f.). 253 Schönaich, Hermann, oder das befreyte Deutschland, S. 12. 254 Schönaich, Hermann, oder das befreyte Deutschland, S. 12. 255 Schönaich, Hermann, oder das befreyte Deutschland, S. 39. 256 Schönaich, Hermann, oder das befreyte Deutschland, S. 39. Vgl. auch von Essen, „Aber rathen Sie nur nicht den Arminius. Dieser ist mir zu sauvage“, S. 26.  

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noch zu wilden Sitten; / So wird Deutschland einst, wie Rom, auch die ganze Welt zerrütten.“257 Wie Wieland, so bemühte sich also auch Schönaich, einen Bogen zum vertrauten Zivilisationsideal der Antibarbaries zu schlagen: Die Kriegsemphase wurde beim ihm dadurch gerechtfertigt, dass die Germanen durch geregeltes Exerzieren vom „wilden“ Volk zur Kulturnation aufsteigen könnten. Auch das zweite Germanenepos von 1751 setzte somit auf einen Mittelweg zwischen alten und neuen Konzepten der Nation. Daraus resultierten wiederum konzeptionelle Uneindeutigkeiten, die in diesem Fall vom Text selbst adressiert werden. Auf den ersten Blick kann man den Eindruck gewinnen, Schönaich habe sich einem traditionellen Modell von imitatio und aemulatio verschrieben, das auf einer antibarbarischen Logik aufbaute. Die Römer hätten demnach Standards gesetzt, an denen sich die eigene Kultur messen sollte; schließlich führte der Weg zur Nachfolge des Imperiums im Leipziger Hermann für die deutschen Völker über die ars militaris, der auch Rom seine Macht zu verdanken hatte. In dieser Konzeption rückte das Moment der Autochthonie in den Hintergrund, das für den antiromanischen Diskurs zentral war. Diese Konsequenz scheint für Schönaich jedoch problematisch gewesen zu sein. Das dokumentiert sich in einer Reihe von Bildern, in denen er sich angestrengt bemühte, eine Gleichrangigkeit von römischen und germanischen Elementen herzustellen. Diese Ausgleichsbemühungen betrafen vor allem den Titelhelden. So legte Schönaich Wert darauf, dass Hermanns exzeptionelle Tugend auf eine glückliche Kultursynthese zurückzuführen sein. Die Jahre des Kriegsdienstes in der Ewigen Stadt hätten beim cheruskischen Heerführer eine ideale Verbindung von tapferem germanischem Herzen und zivilisierten römischen Umgangsformen hervorgebracht. Dementsprechend entzückt zeigt sich im II. Gesang die Tochter des Markomannen Marbod, bei dem Hermann um ein Bündnis wirbt: Prinz! so sprach sie, deine Sitten haben nichts von wilder Art, Die der Deutsche doch bis itzund, als ein Heiligthum verwahrt. Ja!, er dächte gar den Werth seiner Tugend zu verlieren: Ließe sich die Wildigkeit bey den Sitten nicht verspüren.258

257 Schönaich, Hermann, oder das befreyte Deutschland, S. 12. 258 Schönaich, Hermann, oder das befreyte Deutschland, S. 25. Die Erkennung dieser Eigenschaften wird offenbar durch Ähnlichkeit begünstigt. Analog heißt es auch für die Tochter Mathilde selbst, sie sei „[h]old, wie eine Römerin, keusch, wie deutsches Frauenzimmer“ (S. 24). – Bettina Brandt weist auf die „Verankerung der nationalen Tugend im Herzen“ hin, verkürzt aber das entfaltete Doppelmodell, indem sie allein den letzten Vers der angeführten Passage zitiert (Brandt, Germania und ihre Söhne, S. 90).

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Die deutsch kodierte (Kriegs-)Tugend sei bei Schönaichs Heroen also keineswegs verstummt; sie habe sich lediglich von den barbarischen Sitten entkoppelt, so dass der edle Germane auch bei den Kulturnationen auf Beifall stoße: Aber, Fürst, Dein Herz verbindet, mit der deutschen Tugend Werth, Alles, was des Römers Sanftmuth; was der Griechen Scherz verehrt. Beyde werden dir dein Lob, und mit Freuden, willig gönnen: Nur an deinem Herzen kann man dich noch für deutsch erkennen.259

Die kulturelle Doppelorientierung, die hier anvisiert wurde, findet schließlich ihren Eingang in eine kunsttheoretische Allegorie. Im Tafelsaal von Marbods Palast konfrontiert Schönaich seinen Hermann mit einer Serie von Gemälden, die sich durch eine ähnliche Synthese auszeichnet. Die Dichotomie von Innen („Herz“) und Außen („Sitten“) wird dabei in eine Form-Inhalt-Beziehung übertragen. Eingefasst von „Sims[en]“ und „Säulen“, präsentieren sich Malereien einer Qualität, wie sie bisher nur „der Römer“ und „der Grieche“ hervorgebracht hätten. Die dargestellten Motive aber sind strikt national: „Wo der Deutsche nur gesieget; was dem Marbod rühmlich war; / Stamm und Herkunft; alles dieses stellet sich den Augen dar.“ In dieser Komposition bieten die kulturellen Errungenschaften des Südens das Fundament für eine Kunst des Nordens. Der formale Rahmen tritt im Rezeptionsakt, den Schönaich vorführt, letztlich hinter die Gegenstände zurück: Was Hermanns „erhabnes Herz“ berührt, ist einzig die nationale Komponente. Wenn er den Feldherrn Ariovist in der Auseinandersetzung mit Caesar abgebildet sieht, steigen ihm angesichts des mutigen Germanen „Freudenthränen“ in die Augen; diese korrespondieren mit den Blicken voller „Trotz“ und „Zorn“,260 die auf dem Gemälde zwischen den Heerführern hin- und hergehen. Exemplarisch setzte Schönaich damit die Poetik seines Hermann-Epos in Szene. Während die antik-klassizistische Form des Versepos seinem Text die Konkurrenzfähigkeit im europäischen Wettbewerb sichern sollte, war der nationale Inhalt dazu gedacht, an die Empfindungen der deutschen Leser zu appellieren. Passend dazu lancierte der junge Dichter die Kriegsliebe der Germanen in

259 Schönaich, Hermann, oder das befreyte Deutschland, S. 25. Diese Interpretation bekräftigt Hermann schließlich selbst, wenn er auf seine Zeit unter den Römern zurückblickt. „Ich befliß mich auf die Künste, die der Helden Werth erhöhn; / Ich erlernte, was die Römer, was die Griechen nur verstehn“, erinnert er sich: „Was die Wälschen an mir sahen, dünkte sie ganz wälsch zu seyn; / Und der Deutsche hüllte gänzlich sich in meinen Busen ein.“ (Schönaich, Hermann, oder das befreyte Deutschland, S. 31). 260 Schönaich, Hermann, oder das befreyte Deutschland, S. 22 f.  

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einer abgemilderten Form, die sich mit dem traditionellen Zivilisationsideal des deutschen Altertumsdiskurses vertrug. Damit hatte Bodmer mit dem eingangs zitierten Vorwurf, Schönaichs Germanen würden als amphibische Zwitterwesen zwischen Kultur und Barbarei rangieren, die diskursgeschichtliche Symptomatik des Textes präzise erfasst. Allerdings galt diese konzeptionelle Ambiguität, wie hier gezeigt worden ist, in gleichem Maße für den Hermann von Bodmers eigenem Zögling Wieland. Beide Epen trugen insofern die Signatur einer Diskursumstellung, als sie die neue, französisch inspirierte Emphase für die kriegerischen Altertümer additiv neben die vertrauten Konzepte eine zivilisierten eigenen Antike zu stellen versuchten. Diese Lösungsangebote riefen in der zeitgenössischen Kritik erhebliches Ungenügen hervor, das in den folgenden Jahren den publizistischen Schlagabtausch zwischen den Parteien am Laufen hielt. Dabei wurde die Frage nach der richtigen Poetik der Nation von Zürcher Seite in den Ruf nach einer Mobilisierung im literarischen Feld überführt, in der die Rede von der natio mit neuen Konzepten der politischen und kulturellen Gemeinschaft verknüpft wurde. Diese Auffächerung der einen deutschen Nation in mehrere Nationen soll im nächsten Schritt verfolgt werden.

2.2 Diskrepante Perspektiven (Bodmer, Wieland) Obwohl man in Leipzig und Zürich zur gleichen Zeit die Nation wiederentdeckt hatte, stellte sich die Situation auf dem Buchmarkt vorerst anders dar. Während Gottsched das Hermann-Epos seines Schülers Schönaich unverzüglich in Druck gebracht hatte, musste man sich auf der gegnerischen Seite mit einzelnen Proben zufriedengeben, die Bodmer in seinen Freymüthigen Nachrichten als Vorgeschmack auf Wielands Konkurrenzdichtung lancierte.261 Damit war eine Asymmetrie eingetreten, die von den rivalisierenden poetischen Lagern unterschiedlich ausgelegt wurde. Für Gottsched stand der Sieg seiner Partei außer Frage. So organisierte er im Jahr 1752 eine Dichterkrönung für Schönaich, die an der Leipziger Universität zelebriert wurde – das Recht, diesen Akt in Stellvertretung des Kaisers auszuführen, hatte Gottsched sich während des sächsischen Reichsvikariats (1740–1742) als literaturpolitisches „Machtmittel“262 gesichert. Auf Zürcher Seite schlug man aus der Situation hingegen in umgekehrter Weise Profit. So 261 Vgl. Martin, Das deutsche Versepos im 18. Jahrhundert, S. 146 f. 262 Stern, Ein gekrönter Dichter, S. 113. Flankiert wurde dieses Ereignis von einer pompösen Publikation, in der die Reden und Gedichte auf den Festakt versammelt waren (Der Lorberkranz, welchen der Hoch- und Wohlgeborne Herr, Herr Christoph Otto, des H.R.R. Freyherr von Schö 

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nutzten Bodmer und Wieland die gespannte Erwartung des Publikums doppelt aus.263 Nicht nur formulierten sie unablässig Kritik an der sächsischen Partei, die ihre Karten bereits aufgedeckt hatte; zugleich machten sie die taktische Defensive dafür produktiv, ihre Reflexion über eine zeitgemäße Nationalliteratur kontinuierlich fortzusetzen. Eine Schrift, die aus dieser ungleichen Konstellation auf dem Feld der nationalen Poetik literaturpolitischen Nutzen zog, erschien im Jahr 1755 unter dem Titel Ankündigung einer Dunciade für die Deutschen. Nebst dem verbesserten Hermann. Auch wenn die Publikation anonym erfolgte, bestand für die Zeitgenossen wenig Zweifel über ihre Herkunft aus der Schweiz.264 Ende des 19. Jahrhunderts hat die Wieland-Forschung auch die genauen Verantwortlichkeiten geklärt. So geht man davon aus, dass die Inventur der literarischen „Thorheit“265 in Deutschland, die sich in die Tradition von Alexander Popes Satire The Dunciad (1728) stellte, von Wieland selbst verfasst wurde. Angehängt an diesen literaturkritischen Rundumschlag war ein Frontalangriff auf den Leipziger Hermann, der in einen Alternativvorschlag für ein Nationalgedicht mündete und zu diesem Zweck neuerliche Kostproben aus Wielands Fragment zur Verfügung stellte. Dieser Appendix konnte überzeugend Bodmer zugeordnet worden.266

naich, von E. löbl. philosophischen Facultät in Leipzig feyerlichst erhalten hat, [hg. von Johann Joachim Schwabe,] Leipzig 1752). 263 Zu Recht formuliert Dieter Martin, dass Wielands Hermann so zu einer „Waffe im Kampf gegen den Antipoden in Leipzig“ geworden sei, „der Schönaichs Werk herausgegeben und als Muster eines Epos angepriesen hat“ (Martin, Das deutsche Versepos im 18. Jahrhundert, S. 147). 264 Das war nicht zuletzt deshalb der Fall, weil Wieland sowohl Johann Wilhelm Ludwig Gleim als auch den jungen Gotthold Ephraim Lessing eingeweiht hatte. Sein Ziel war es, Lessing als Herausgeber zu gewinnen, „weil man gegen alles, was aus der Schweiz komme, eingenommen sey“ (Johann Wilhelm Ludwig Gleim an Karl Wilhelm Ramler, 4. März 1755. In: Johann Wilhelm Ludwig Gleim, Karl Wilhelm Ramler, Briefwechsel zwischen Gleim und Ramler, hg. und erläutert von Carl Schüddekopf, 2 Bde., Bd. 2, Tübingen 1907, S. 183–185, hier: S. 183 f.; vgl. zuvor auch Wieland an Gleim, 21. Januar 1755. In: Wielands Briefwechsel, Bd. 1, S. 221–224, hier: S. 223 f.). Vgl. auch Theodor Wilhelm Danzel, Gotthold Ephraim Lessing, sein Leben und seine Werke. Nebst einigen Nachträgen zur Lachmann’schen Ausgabe, 2 Bde., Bd. 1, Leipzig 1850, S. 195: Nur Gottsched, der nicht in diesen Austausch einbezogen war, machte Lessing selbst für die Dunciade verantwortlich. 265 [Wieland,] Ankündigung einer Dunciade für die Deutschen, S. 2. 266 Erstmals wurde diese These vertreten von Bernhard Seuffert, Hirzel, Ludwig: Wieland und Martin und Regula Künzli, Leipzig 1891 [Rezension]. In: Göttingische gelehrte Anzeigen 6 (1896), S. 470–507, hier: S. 497 f. Der Grund besteht darin, dass Bodmer in einer späteren Schrift die Autorschaft einzelner Verse im Verbesserten Hermann für sich selbst reklamierte. Auf der Basis von Seufferts Argumenten ist der Text nicht in den Band mit den Jugendwerken der AkademieAusgabe von Wielands Schriften aufgenommen worden. Differenziert dazu vgl. Martin, Das deutsche Versepos im 18. Jahrhundert, S. 151.  





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Auffällig an dieser Streitschrift ist die abgestimmte Rhetorik der Nation, die sich durch beide Teile zog. Die Kombination aus „Dunciade“ und „Verbessertem Hermann“ stellte eine symptomatische Beziehung zwischen dem Status quo der nationalen Epik und der gesamten deutschen Literatur her; beide wurden in gleichem Maße als desolat markiert. Die Aussicht, die Misere zu überwinden, wurde dementsprechend mit einer Korrektur der nationalen Poetik in Verbindung gebracht. In diesem Kontext inszenierten Wieland und Bodmer eine Konkurrenz von verschiedenen nationale(n) Literatur(en) im deutschsprachigen Raum, die im Folgenden konturiert werden soll. Den entscheidenden Impuls, um eine Wechselbeziehung zwischen Regionalität und Nationalität zu entwerfen, bezogen die Vertreter der Schweizer Dichtungslehre dabei erneut aus dem theoretischen Arsenal von Montesquieu. Im „Verbesserten Hermann“ knüpfte Bodmer an dessen Modell des Nationalgeists (esprit national) an, der als Ausdruck der Lebensgewohnheiten in einem Staat bestimmt worden war. Aus dieser Idee schmiedete der Schweizer Gelehrte nun eine Spitze gegen Schönaich: In seiner Schrift ließ er eine Runde von „jungen Herren“267 zur kritischen Evaluation von dessen Hermann zusammenkommen, in der Montesquieus Denkfigur in einen grundlegenden Einwand gegen Autoren überführt wurde, die durch die Regierungsform des Alten Reiches geprägt waren. Denn Schönaichs Unvermögen, den „National-Charakter der Germanen“268 richtig zu erfassen, beruhte aus der Sicht von Bodmers Diskutanten auf den nachteiligen Prägungen durch den Staat, in dem er aufgewachsen war. „Der Nationalgeist der heutigen Deutschen liegt zu schwer auf Schönaich“, bedauert einer der Unterredner, „er hat sich nicht von ihm frey machen können“. Und er fragt suggestiv: Kann man läugnen, daß nicht von dem Charakter der Germanen, zu dem Charakter ihrer Nachkommen, die itzt leben, ein Abstand sey, wie von der Freyheit zur Unterthänigkeit? Erwarte man von einem Geiste, der durch so starke Bande der Dependenz gebunden ist, die Grösse des Gemüthes, die Vividam vim Animi die originale Stärke, die zur Erfindung unentbehrlich ist?269

Das Leben im Alten Reich wurde somit an „Bande der Dependenz“ geknüpft, an die sich die bei Bodmer versammelte Runde ausdrücklich nicht gebunden sah. Jeder der Anwesenden, behauptet ein junger Mann mit dem ausgestellt nordischen

267 [Bodmer,] Der verbesserte Hermann, S. 86. 268 [Bodmer,] Der verbesserte Hermann, S. 91. 269 [Bodmer,] Der verbesserte Hermann, S. 95.

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Namen Dagenbert, könne „auf der Stelle den Hermann in einer Germanischern Gestalt schildern“ als der Protegé von Gottsched. Dieses Verständnis für das deutsche Altertum wurde dabei auf eine politische und kulturelle Prägung zurückgeführt, die stolz unter andere Vorzeichen gestellt wurde als die des Sachsen. So zeichne sich der „Charakter“, der die „Nation“ der zusammengekommenen Kritiker bestimme, durch eine „gewisse[ ] Kühnheit“ aus. Im Gegensatz zu Schönaich, so der Sprecher, seien die Freunde an eine „abgesonderte, und von Kindheit an zum eigenen Denken gewöhnte Lebensart“ gewöhnt. Das erlaube ihnen eine höhere gedankliche Freiheit, die sie auch zur Imagination einer „ganz andern, fremden“270 Vorzeit befähige. Zwar wurde im Text nicht explizit ausgesprochen, welche politischen Gemeinschaften im deutschsprachigen Raum hier gegeneinander ins Feld geführt wurden. An der entfalteten Dichotomie von Freiheit und Unfreiheit ist jedoch unschwer abzulesen, dass Bodmer darauf abzielte, die Schweiz als Republik gegen das Alte Reich als Monarchie auszuspielen. Ausgehend von den Regierungsformen, die sich im Literaturstreit gegenüberstanden, formulierte der Zürcher Dichtungslehrer mithin eine provokante These: Prädestiniert dafür, das deutsche Altertum richtig zu verstehen, seien nicht die Autoren im Reich, die sich gemeinhin für die Nachfahren der Germanen hielten; ungleich näher stünden ihnen die kühnen Bürger der schweizerischen Eidgenossenschaft. Ihren helvetischen Index erhielt die Runde im „Verbesserten Hermann“ dabei durch eine Topik der Freiheit und Unabhängigkeit, die sich an das „republikanische Selbstverständnis“271 der Schweiz zurückbinden lässt. Seit der Herauslösung aus dem Alten Reich (1648) hatten die Schweizer das freiheitliche Moment ihrer Verfassung ins Zentrum ihrer politischen Identität gerückt,272 und mit der Zeit hatte es sich etabliert, die Eidgenossenschaft als Republik zu deuten und darüber positiv von den umgebenden Monarchien in Europa abzuheben.273 Entsprechend begeistert rezipierte Bodmer um 1750 die Republiktheorien von Montesquieu und Rousseau, die er sogleich für Überlegungen zum eigenen Land

270 [Bodmer,] Der verbesserte Hermann, S. 95. 271 Thomas Maissen, Die Geburt der Republic. Staatsverständnis und Repräsentation der frühneuzeitlichen Eidgenossenschaft, Göttingen 2006, S. 132. 272 Reiling, Die Genese der idealen Gesellschaft, S. 111. 273 Vgl. auch hier die exzellente Rekonstruktion von Reiling, Die Genese der idealen Gesellschaft, S. 110 f. Dabei macht Reiling deutlich, dass die Republik ein willkommenes klärendes Etikett für die Eidgenossenschaft lieferte, die sich in ihrer konkreten politischen Organisation nicht immer hundertprozentig in die zirkulierenden Modelle der antiken und frühneuzeitlichen Republik einfügte.  

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produktiv machte.274 Vor diesem diskursgeschichtlichen Hintergrund erklärt sich auch die behauptete Affinität zwischen der Schweiz und dem deutschen Altertum. Schließlich hatten die französischen Philosophen erst vor wenigen Jahren die Germanen über ihre Kriegsliebe in die Nähe der antiken Republiken Sparta, Athen und Rom gerückt: Montesquieu im Esprit des Lois, Rousseau im Discours sur les sciences et les arts (Kap. I.2.3.2.2). Bei Bodmer erhielt die republikanische Freiheit, die Germanen und Schweizer aus dieser Perspektive verband, zugleich eine literarische Dimension. So übertrug der Zürcher die politische Autonomie der Schweizer in kühner Analogie auf ihr imaginatives Vermögen. Zum Beweis ließ er die Männer im „Verbesserten Hermann“ die „seltsame, wiewohl barbarische Miene des Alterthums“275 heraufbeschwören. Bodmers Schrift konfrontierte die Leser dementsprechend mit einer konsequent kriegerischen Version der ‚alten Deutschen‘. Wo Wieland sich noch vor einer Verabsolutierung der Antiromanitas gescheut hatte, ging sein Lehrer nun über ihn hinaus und setzte ganz auf eine martialische Ursprünglichkeit, die hier den Index des Neuen erhielt: Faktisch, so wird behauptet, hätten die Germanen nicht einmal Städte oder Ackerbau gekannt.276 Stattdessen hätten sie unablässig nach dem Gesetz der „Rache“ um ihre „Freyheit“277 gekämpft – ob nun gegen die Römer oder gegeneinander. Aus dieser rauen Lebensweise sei auch eine Dichtung hervorgegangen, die man bisher sträflich übersehen habe: Die „Mythologischen Sagen der alten Nordlichen Nationen“, so Bodmer, seien trotz ihrer Ungeschliffenheit viel „poetischer […] als alle zwölf Gesänge des Schönaichschen Hermanns“. Bei der Evokation dieser Mythen blieb Bodmer der martialischen Perspektive treu. So imaginierte er, wie vorzüglich sich die nordische Vorstellung „von der Walhalle“ in eine moderne Nationaldichtung einfügen könne. Im „Glauben“ an den „seligen Sitz[ ] derer, die im Krieg umgekommen sind, wo sie sich bis zu dem Abend der Götter enthalten, aus Hirnschalen Bier trinken und ritterliche Spiele und Uebungen begehen“,

274 Vgl. Barbara Mahlmann-Bauer, Johann Jakob Bodmers Rousseau-Lektüre. In: Les écrivains suisses alémaniques et la culture francophone au XVIIIe siècle. Actes du colloque de Berne, 24–26 novembre 2004, hg. von Michèle Crogiez Labarthe, Sandrine Battistini und Karl Kürtös, Genf 2008, S. 209–272. Mit dem identifikatorischen Interesse blieb Bodmer insbesondere in Bezug auf Rousseau in seiner Heimatstadt nicht allein. Zum größeren Kontext vgl. Daniel Tröhler, Der Zürcher Rousseau-Kult der 1760er Jahre. In: Zwischen Vielfalt und Imagination. Praktiken der Jean-Jacques-Rousseau-Rezeption. Entre hétérogénéité et imagination. Pratiques de la réception de Jean-Jacques Rousseau, hg. von Jesko Reiling und dems., Genf 2013, S. 83–102. 275 [Bodmer,] Der verbesserte Hermann, S. 101. 276 Vgl. [Bodmer,] Der verbesserte Hermann, S. 91. 277 Vgl. [Bodmer,] Der verbesserte Hermann, S. 91.

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fänden sich kraftvolle literarische Bilder für die Furchtlosigkeit der Germanen – „[w]ie“, fragte Bodmer enthusiastisch, „könnte man die Frölichkeit, mit welcher sie sich dem gegenwärtigen Tode aussetzten, besser rechtfertigen?“278 Auch das immer noch ausstehende Nationalepos aus der Schweiz ordnete Bodmer dem martialischen Ideal unter, das hier formuliert wurde. So zitierte er als Kostprobe einer verbesserten Hermann-Dichtung einen Bardengesang aus Wielands unveröffentlichtem Epos, der von Anrufen an die germanischen Gottheiten Odin und Hertha durchzogen war. Zwar wurde der Autor dieses ‚besseren Hermanns‘ nicht genannt. Doch die angeführten Verse („Zeuch vor uns her, o Vater Odin, die schuldigen Seelen, / Jeden, der wider dein Volk den Arm empor hebt zu schlagen“279) wiesen durch ihre hexametrische Form deutlich auf einen Parteigänger des Messias hin. Ganz aufrichtig war die Inszenierung freilich nicht: Durch die Zuspitzung auf das kriegerische Moment wurde Wielands eigener, kulturaffiner Ansatz zum Zweck literaturpolitischer Kontrastierung kurzerhand antiromanisch „umgemodelt“280. Gleichwohl: Mit seiner Evokation von Freiheit, Kühnheit und Tapferkeit formulierte Bodmer mithilfe des neuen Ideals der Antiromanitas ein bemerkenswertes Programm schweizerischer Stärke, neben dem die Schönaich zugeordnete „Unterthänigkeit“ und „Dependenz“ umso deutlicher hervortrat. Das Untertanentum, das er dem Sachsen attestierte, war durchaus im Wortsinn zu verstehen, zielte es doch zwischen den Zeilen auf die Zwänge der Monarchie. Im „Verbes-

278 [Bodmer,] Der verbesserte Hermann, S. 101 f. Dieses Plädoyer für eine Ästhetik des Kriegerischen konnte Bodmer – anders als die Humanisten im 16. Jahrhundert – auf eine literarische Überlieferung aus der nordischen Vorzeit stützen: Angespielt war die Edda Islandorum mit ihren mythologischen Liedern, die im 17. Jahrhundert entdeckt und von Dänemark aus in den europäischen Diskurs eingespeist worden war (Bernd Roling, Odin, Apoll des Nordens: Der europäischer Antiquarismusdiskurs und die Erschließung nationaler Traditionen in der Frühen Neuzeit. In: Neue Diskurse der Gelehrtenkultur in der Frühen Neuzeit. Ein Handbuch, hg. von Herbert Jaumann und Gideon Stiening, Berlin 2016, S. 565–634). Retrospektiv rühmte Bodmer sich 1779 in seinen Literarischen Denkmale von verschiedenen Verfassern, er habe in seinen Pamphleten gegen Schönaich als einer der ersten deutschen Autoren neue Impulse aus der nordischen Dichtung aufgenommen und literarisch verarbeitet ([Johann Jakob Bodmer,] Literarische Denkmale von verschiedenen Verfassern, Zürich 1779, S. 171). Vgl. Seuffert, Hirzel, Ludwig: Wieland und Martin und Regula Künzli [Rezension], S. 498. 279 [Bodmer,] Der verbesserte Hermann, S. 98. 280 Franz Muncker, [Einleitung]. In: Christoph Martin Wieland, Hermann. Deutsche Literaturdenkmale des 18. Jahrhunderts in Neudrucken hg. von Bernhard Seiffert, Bd. 6, Heilbronn 1882; Reprint Nendeln/Liechtenstein 1968, S. I–XXX, hier: S. XX. Dabei geht Muncker noch fälschlich davon aus, dass die konzeptuellen Verschiebungen im Verbesserten Hermann von Wieland selbst vorgenommen worden seien.  

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serten Hermann“ ließ sich dieser politische Seitenhieb gegen das Alte Reich dem Dualismus zwischen Freiheit und Unfreiheit im literarischen Feld der Aufklärung entnehmen; noch expliziter ausgeführt wurde eine solche Spitze im selben Jahr in einem fiktiven Reisebericht mit dem Titel Edward Grandisons Geschichte in Görlitz (1755), der ebenfalls auf die Zusammenarbeit von Bodmer und Wieland zurückging.281 In diesem Text wurden die Aufzeichnungen eines Engländers präsentiert, der durch die deutschen Territorien reist, um sich ein Bild vom „Charakter der deutschen Nation“282 zu machen. Dabei fällt Grandisons Urteil über die Königund Fürstentümer im Alten Reich verheerend aus. So meint der freie Brite in all den „Provintzen“, die von „kleinen Prinzen“ beherrscht würden, eine bedauernswerte „Nation von Sklaven“283 vor sich zu haben. Auch hier stand die Thematisierung der Regierungsform im Dienste einer Polarisierung der aufgeklärten Literaturlandschaft. Dem Alten Reich wurde eine untertänige Moral attestiert, die ihrerseits mit kulturellem Stillstand konnotiert wurde. Laut Grandisons Einschätzung hatte die Monarchie die gedankliche Freiheit in den deutschen Gebieten zerstört: Das System des Adels habe die Untertanen gelehrt, dass jeder „Obere“ in der sozialen Hierarchie bloß „wegen seiner Titel, seines Ansehens, seines Ranges […] Glauben ohne Beweiß“284 verlangen könne. Besonders schlimme Folgen habe das auf dem Gebiet der Dichtung gezeitigt, auf dem dieselbe Alleinherrschaft konstatiert wurde wie auf dem der Herrschaft. Fahrlässig hätten die Deutschen sich damit abgefunden, sich in literarischen Fragen „dem verkehrten Geschmacke geduldig [zu] überlassen“285. Dieser Vorwurf ist unschwer als Invektive gegen Gottsched zu entschlüsseln, dessen Reformeifer Wieland auch in anderen Streitschriften als „Dictatur“286 diffamierte. Bedauerlicherweise, formulierte der fiktive Grandison, werde die Entfaltung der literarischen Potentiale im deutschen Sprachraum derzeit durch eine kritiklose Unterwürfigkeit gehemmt, von der nur eine „kleine[ ] Schaar“287 ausgenommen sei. Der Widerstandswille dieser freieren Geister wird dabei auf

281 Vgl. Dieter Martin, Johann Jakob Bodmers streitbare Koalition mit Christoph Martin Wieland. In: Bodmer und Breitinger im Netzwerk der europäischen Aufklärung, hg. von Anett Lütteken und Barbara Mahlmann-Bauer, Göttingen 2009, S. 459–473, hier: S. 466. 282 [Johann Jakob Bodmer, Christoph Martin Wieland,] Edward Grandisons Geschichte in Görlitz, Berlin 1755, S. 3. 283 [Bodmer, Wieland,] Edward Grandisons Geschichte in Görlitz, S. 102. 284 [Bodmer, Wieland,] Edward Grandisons Geschichte in Görlitz, S. 100. 285 [Bodmer, Wieland,] Edward Grandisons Geschichte in Görlitz, S. 96. 286 [Wieland,] Ankündigung einer Dunciade für die Deutschen, S. 2. 287 [Bodmer, Wieland,] Edward Grandisons Geschichte in Görlitz, S. 28.

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politische Umstände zurückgeführt, die erwartungsgemäß an die Schweizer Republik erinnern: Mutige Geister habe der Engländer nur „in einem Staate“ angetroffen, „der mit dem deutschen Kaiserthum nichts zu schaffen hat“288. Anschließend an politische Stereotypen, die auf der französischen Gesellschaftstheorie basierten, wurde der Antagonismus von (deutscher) Unfreiheit und (schweizerischer) Freiheit hier zur Ursache für eine Misere der deutschen Literatur erklärt. Exakt an diese Konstellation knüpfte Wieland auch in seiner „Ankündigung einer Dunciade für die Deutschen“ an, um mit den Dichtern jenseits der Schweiz ins Gericht zu gehen. Sie selbst seien mit ihrer „sträflichen Gleichgültigkeit und Trägheit“289 dafür verantwortlich, dass Gottsched mit seiner „Bande“290 nach wie vor als „Mund der Nation“291 fungiere und dass die deutschsprachige Dichtung im europäischen Vergleich darum fortgesetzt im Status von „Schande“292 und „Schmach“293 verweile. Schönaichs Dichterkrönung für ein Nationalepos, das nicht mehr sei als das „Schulexercitium eines jungen Menschen ohne Genie“,294 wurde dabei als paradigmatisches Zeichen für einen kollektiven Ehrverlust im literarischen Wettbewerb der Nationen gedeutet.295 In der „Dunciade“ ging der Disput ums Epos dementsprechend in einen eindringlichen Appell an die deutsche Dichtergemeinschaft über, bei dem Wieland vor allem die nächste Autorengeneration zum Widerstand anhielt: Es ist mir um verschiedene junge Dunsen zu thun, die sich zu entfalten anfangen, und eine ziemlich mißliche Mine machen. An diesen ist vielleicht noch etwas zu erholen. Wenn sie anders einige Empfindungen von Ehre oder Schande haben […]: so bin ich nicht ohne

288 [Bodmer, Wieland,] Edward Grandisons Geschichte in Görlitz, S. 96. Hien weist darauf hin, dass Bodmer die dichtungstheoretischen Positionen von Gottsched 1741 auch schon in der Sammlung Critischer, Poetischer und anderer geistvollen Schriften auf einen deutschen Geschmack zurückführte, von dem die Schweizer sich selbst ausnahmen. In den 1740er Jahren geschah das noch nicht auf politischer, sondern „auf klimatheoretischer Grundlage“ (Markus Hien, Natur und Nation. Zur literarischen Karriere einer Fiktion in der deutschen Aufklärung. In: Aufklärung 25 (2013), S. 219–246, hier: S. 224). 289 [Wieland,] Ankündigung einer Dunciade für die Deutschen, S. 5. 290 [Wieland,] Ankündigung einer Dunciade für die Deutschen, S. 64. 291 [Wieland,] Ankündigung einer Dunciade für die Deutschen, S. 61. 292 [Wieland,] Ankündigung einer Dunciade für die Deutschen, S. 76. 293 [Wieland,] Ankündigung einer Dunciade für die Deutschen, S. 6. 294 [Wieland,] Ankündigung einer Dunciade für die Deutschen, S. 55. 295 Synonym und begriffsverwandt führt der Zedler folgende Begriffe auf: „Unehre, heißt so viel, als Spott, Schmach, Schimpf, Schande, Iniurien, böse Gerüchte, üble Nachrede, und einen unehren eben so viel, als denselben schimpfen, schmähen, oder verlästern“ (Zedler, Bd. 49, 1746, Sp. 1211).

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Hoffnung, sie möchten sich etwa besinnen und sich entweder bessern oder schweigen, und, wie viele Myriaden ihrer Mitbrüder, ohne Geräusch durch diese Welt schleichen.296

Damit entwarf die schweizerische Literaturpartei ein Spiegelverhältnis zwischen dem Entwicklungsstand der nationalen Epik und dem der gesamten deutschsprachigen Literatur. Der alarmistische Rekurs auf den unzureichenden Status der höchsten Gattung, von der Repräsentativität erwartet wurde, diente in Wielands Schrift als Rechtfertigung für einen literaturpolitischen Ruf zur Abkehr von Gottsched. Der autoritäre Versuch, im Zeichen der höchsten Gattung die Loyalitäten im Literaturstreit zu beeinflussen, versieht die verstärkte Schweizer Rhetorik der Nation um 1750 mit einem spezifischen literaturgeschichtlichen Index. So reagierte Wieland mit seinem Appell zur nationalen Einheit auf eine Situation, in der die gewohnte Dichotomie des Literaturstreits ihre Orientierungsfunktion zu verlieren begann. Infolge der langen Streitigkeiten sah man sich seit den 1740er Jahren mit einer zunehmend unübersichtlichen Konstellation im literarischen Feld konfrontiert.297 Der Vorwurf der Untätigkeit, den die Zürcher aus der Untertänigkeit im Alten Reich herleiteten, mündete in der „Dunciade“ insofern in der Aufforderung an zwei Gruppen, eine klare Position im Literaturstreit zu beziehen. Inakzeptabel war für Wieland zum einen die Taktik sogenannter „poetische[r] Syncretisten“, es sich „mit keiner Parthey [zu] verderben“. Darunter subsumierte er die „Zeitungsschreiber[ ] und jungen Criticis“, die sich „so unbestimmt und zweideutig aus[drucken], daß man eigentlich nicht weis, ob sie loben oder tadeln wollen“298. Einer analogen Unentschiedenheit bezichtigte er zum anderen Autoren, die sich „ich weis nicht was für einen Mittelweg“ zurechtlegen wollten, „weil sie weder mit den Freunden der wahren Poesie und Critik, noch mit dem Pöbel der Verderber des Geschmaks recht zufrieden“ seien: In die zweyte Classe setze ich vornehmlich gewisse Scribenten, welche es entweder heraus sagen, oder doch zu verstehen geben, daß ihnen der neue Geschmak, wie sie den Geschmak Homers und Virgils nennen, und die Meßiade eben so wenig gefällt, als der WeisischGottschedische und die Hermannias des Herrn Baron von Schönaich, kaiserlich gekrönten Poeten. Sie lieben die witzigen Schriften der Franzosen, und möchten sie gerne nachahmen.

296 [Wieland,] Ankündigung einer Dunciade für die Deutschen, S. 80. Dagegen sei die „Unvernunft“ der „grauen veralteten Dunsen“ – so Wieland mit einer Spitze gegen Gottsched – zu „tief eingewurzelt“, als dass sich noch eine Umkehr erzielen ließe. 297 Martin, Johann Jakob Bodmers streitbare Koalition mit Christoph Martin Wieland, S. 466 f. 298 [Wieland,] Ankündigung einer Dunciade für die Deutschen, S. 9.  

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Sie schreiben Liedchen, Erzählungen und kleine Satyren; einige wollen wie Haller denken, andere wie Gleim schertzen; beide insgemein mit gleichem Glücke.299

Im Namen einer nationalen Ehrgemeinschaft klagte Wieland also all diejenigen Autoren des Verrats an, die sich weigerten, im literarischen Krieg zwischen Leipzig und Zürich als „Hilfstruppen“300 der einen oder anderen Seite aufzutreten. Zur Nagelprobe erhob er dabei eine Positionierung im Streit um das Epos, der hier auf einen Dualismus zwischen der christlichen Poetik aus Zürich (Klopstocks Messias) und der nationalen aus Leipzig (Schönaichs Hermann) zurückgeführt wurde. Unter dieser Prämisse eröffnete Wieland das polemische Feuer auf eine schweigende Gruppe von Dichtern, die er als mögliche Parteigänger der Zürcher Sache auffasste,301 die sich den Eigenlogiken des Literaturstreits aber wohlweislich entzogen. Im Visier stand dabei zum Beispiel der Berliner Odendichter Karl Wilhelm Ramler, der in der gemeinsam mit dem Schweizer Johann Georg Sulzer herausgegebenen Zeitschrift Critische Nachrichten aus dem Reiche der Gelehrsamkeit (1750–1752)302 eine bewusst unaufgeregt-neutrale Position gegenüber dem Epenstreit vertrat.303 Neben ihm attackierte Wieland den Ansbacher Lyriker Johann Peter Uz, der mit seiner Spezialisierung auf die kleine, anakreontische Form aus Zürcher Sicht moralisch wie generisch einen Irrweg eingeschlagen hatte.304 Und nicht zuletzt galt der Ausfall gegen die „Zeitungsschreiber“ einer neuen Stimme in der deutschen Literaturkritik, die sich seit 1751 durch pointierte Urteile einen Namen gemacht hatte. Die Rede ist von Gotthold Ephraim Lessing, der die Berli-

299 [Wieland,] Ankündigung einer Dunciade für die Deutschen, S. 12. 300 So die prägnante militärische Metapher von Döring, Der Literaturstreit zwischen Leipzig und Zürich in der Mitte des 18. Jahrhunderts, S. 81. 301 Vgl. Martin, Das Versepos im 18. Jahrhundert, S. 178. 302 Vgl. Ursula Goldenbaum, Ramler als Mitherausgeber einer gelehrten Zeitschrift. In: Urbanität als Aufklärung. Karl Wilhelm Ramler und die Kultur des 18. Jahrhunderts, hg. von Laurenz Lütteken, Ute Pott und Carsten Zelle, Göttingen 2003, S. 355–388. 303 Schon in seiner Abhandlung von den Schönheiten des epischen Gedichts der Noah (1753) hatte Wieland den Berliner heftig für seine Kritik von Bodmers Bibelepos Noah (im Erscheinen seit 1750) in den Critischen Nachrichten attackiert, die ihm trotz ihres positiven Tenors noch zu uneindeutig ausgefallen war. Vgl. [Karl Wilhelm Ramler, Johann Wilhelm Ludwig Gleim,] Noah, ein Heldengedicht. In: CN, Bd. 1, No. 12, 1750, S. 107–109 sowie Christoph Martin Wieland, Abhandlung von den Schönheiten des Epischen Gedichtes Der Noah, Zürich 1753, S. 68–72. 304 Mit Uz hatte Wieland schon seit geraumer Zeit im publizistischen Schlagabtausch gestanden, zumal dieser mit dem satirischen Gedicht „Sieg des Liebesgottes“ (1753) in einen Gegenangriff auf Bodmer und seine Bibelepen übergegangen war. Vgl. August Sauer, [Einleitung]. In: Johann Peter Uz, Sämtliche poetische Werke, hg. von August Sauer, Stuttgart 1890, S. I–LXXXV, hier: S. XX f.  

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2 Leipzig vs. Zürich: Dynamisierungen des Nationaldiskurses

nische Privilegirte Zeitung binnen kurzer Zeit derart konsequent zu einem eigenen „Schlachtfeld“305 aufgebaut hatte, dass man ihn als unberechenbar wahrnahm.306 In Zürich sah man den jungen Kritiker vorerst noch auf dem literaturpolitischen „Scheidewege“,307 und speziell Wieland bemühte sich mit allen Mitteln – mit Lob wie mit Tadel – um seine Solidarität.308 Sieben Jahre nach der Koinzidenz zwischen dem Aachener Frieden und dem Auftakt zu Klopstocks Messias (1748) stritt man in der literarischen Aufklärung also lebendiger um die Konturen einer großen, repräsentativen Dichtung als jemals zuvor; und mit der Zeit verschränkte sich der Disput immer enger mit der Frage, welche Partei im Feld der deutschen Literatur den Ton angebe. Wielands „Dunciade“ legt beredtes Zeugnis davon ab, dass die mit zunehmender Schärfe vorgetragene Alternative zwischen dem Leipziger und dem Zürcher Angebot die bisherigen Loyalitäten dabei nicht unbedingt zu stärken vermochte. Im Gegenteil: In Reaktion auf die aufgeheizte dualistische Rhetorik erschienen noch im selben Jahr anonym die Briefe über den itzigen Zustand der schönen Wissenschaften in Deutschland (1754/55), mit denen Friedrich Nicolai den Zürcher Epen genauso eine Absage erteilte wie ihrem Leipziger Pendant und mit denen er allen literaturpolitisch unabhängigen Autoren auch darüber hinaus einen dritten Weg anbot.

305 Johann Peter Uz an einen Freund [den Hofadvokaten Grötzner in Römhild], 20. Juni 1755 (Johann Peter Uz, Briefe von Johann Peter Uz an einen Freund, aus den Jahren 1753–82, hg. von August Henneberger, Leipzig 1866, S. 61). 306 Zur vielschichtigen Deutungslage vgl. Karl Siegfried Guthke, Literarisches Leben im 18. Jahrhundert in Deutschland und in der Schweiz, Bern, München 1975, S. 27–29. 307 Sulzer an Bodmer, 18, April 1755. In: Briefe der Schweizer Bodmer, Sulzer, Geßner aus Gleims litterarischem Nachlasse, hg. von Wilhelm Körte, Zürich 1804, S. 238–244, hier: S. 241 f. Bodmer selbst tendierte beim Blick in Lessings Schrifften (1753–1755) dazu, einen „hole[n] Kopf“ zu sehen, der „nicht unser Freund“ sei (Johann Jakob Bodmer an Laurenz Zellweger, 20. Juni 1754. In: Lessing im Spiegel zeitgenössischer Briefe. Ein kommentiertes Lese- und Studierwerk, hg. von Wolfgang Albrecht, 2 Bde., Bd. 1, Kamenz 2003, S. 20). 308 Das dokumentiert sich in einem Brief an Gleim, über den Wieland versuchte, Lessing als Herausgeber für Edward Grandisons Geschichte in Görlitz zu gewinnen. So schrieb er an Gleim, er würde sich freuen, „wenn Sie […] diese Schriften dem Hrn. Lessing in Berlin übergäben, welcher wie mich dünkt eben kein Feind der guten Sache ist, oder doch eben so leicht für Sie könnte in Bewegung gebracht werden. Er scheint ein rüstiger Mann zu seyn, und es sollte ihm wohl nicht viel zu schaffen machen, eine Parthei anzunehmen, bei der er seinen Vortheil findet, und seinen Witz am besten anwenden könnte. […] Es wäre meines Erachtens nicht übel, wenn man diesen Mann, der seine guten partes hat, für die gute Parthei gewinnen könnte; denn er hat alle Qualitäten zu einem Champion.“ (Wieland an Gleim, 21. Januar 1755. In: Wielands Briefwechsel, Bd. 1, S. 223 f.) Zwar erschien der Text in der Folge bei Christian Friedrich Voß in Berlin, Lessing beteiligte sich jedoch nicht an der Publikation.  



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Teil II Krieg und Literaturstreit: Konkurrenz nationaler Poetiken

Dabei sollte es darum gehen, die Positionen der „itzt bekannten Secten“309 durch eine „genaue und gesunde Kritik“ systematisch „auf die Probe zu sezzen“310. Vor dem Hintergrund hier nachgezeichneten literaturpolitischen Streitlage erscheint es nur folgerichtig, dass sich auf diesen Impuls hin in Berlin eine neue Literaturpartei um Nicolai, Lessing und Moses Mendelssohn zusammenfand, die den alten Wortführern auch auf dem derzeit zentralen Terrain ihrer Geltungskämpfe entgegentrat: auf dem Feld der national-patriotischen Dichtung. So engagierte sich insbesondere Lessing in der Konstituierungsphase dieser dritten literarischen Kraft nachdrücklich für die preußische Literatur des Siebenjährigen Krieges, der im August des Jahres 1756 als letzter und längster der Schlesischen Kriege entflammt war. Dieses Manöver zog sowohl eine regionale als auch eine poetologische Differenzierung in der Konkurrenz um die Nationaldichtung nach sich, die im Folgenden in die literaturgeschichtliche Situation um 1750 eingeordnet werden soll.

309 Gottlob Samuel Nicolai, Vorrede. In: [Friedrich Nicolai,] Briefe über den itzigen Zustand der schönen Wissenschaften in Deutschland, corrige sodes, hoc dicet et hoc, mit einer Vorrede von Gottlob Samuel Nicolai, ordentlichem Professor der Philosophie in Frankfurt an der Oder, Berlin 1755, unpag. 310 [Nicolai,] Briefe über den itzigen Zustand der schönen Wissenschaften, 17. Brief, S. 181. Den Zusammenhang zwischen Wielands Forderung nach „absolute[r] Parteigängerschaft“ und der Veröffentlichung von Nicolais Briefen betont Martin, Das Versepos im 18. Jahrhundert, S. 180 f.  

3 Berlin: Poetik der nationalen Lyrik Der Herr von N. ** ein verdienter Officier, und zugleich ein Mann von Geschmack und Gelehrsamkeit, ward in der Schlacht bey Zorndorf verwundet. Er ward nach Fr ** gebracht, und seine Wundärzte empfohlen ihm nichts eifriger, als Ruhe und Geduld. Langeweile und ein gewisser militarischer Eckel vor politischen Neuigkeiten, trieben ihn, bey den ungern verlassenen Musen eine angenehmere Beschäftigung zu suchen. Er schrieb an einige von seinen Freunden in B ** und ersuchte sie, ihm die Lücke, welcher der Krieg in seine Kenntniß der neuesten Litteratur gemacht, ausfüllen zu helfen. Da sie ihm unter keinem Vorwande diese Gefälligkeit abschlagen konnten, so trugen sie es dem Herrn Fll. auf, sich der Ausführung vornehmlich zu unterziehen.311

Mit diesem Vorspann führte Gotthold Ephraim Lessing, doppelt versteckt hinter dem fiktiven Herausgeber O. und dem Beiträger Fll.,312 das deutsche Publikum am 4. Januar 1759 in eine Zeitschrift ein, die in der Wahrnehmung der zeitgenössischen Leser eine folgenreiche Verschiebung der literarischen Kräfteverhältnisse auslöste: die Briefe, die neueste Litteratur betreffend.313 „Noch bis in das Jahr 1755. nennte man die beyden Parteyen der Schweizer und Gottschedianer“, erinnerte sich der Jenaer Gelehrte Friedrich Just Riedel 1768 in seinen Briefen Ueber das Publicum. Nachdem diese Alternative die poetische Entwicklung in Deutschland jahrzehntelang in polemischen Automatismen stillgestellt hatte, sei nun „[a]uf einmahl“ eine „neue Partey“ aufgetreten, die andere Räume erschlossen habe, indem sie „auf beyden Seiten um sich herum [schlug]“. „Die Verfaßer der Litteraturbriefe machten, daß Gottsched mit Bodmern vergeßen wurde; sie allein führten Scepter“314.

311 Einleitung. In: Briefe, die Neueste Litteratur betreffend, hg. von Gotthold Ephraim Lessing, Moses Mendelssohn und Friedrich Nicolai, 24 Bde., Berlin 1759–1765. 1. Theil (1759), S. 3 f., hier: S. 3. Aus den Literaturbriefen wird fortan mit dem Kürzel BNL, gefolgt von Band-, Brief- und Seitenangabe zitiert. 312 Dass Lessing diesen „Prologus“ verfasst hatte, legte Friedrich Nicolai 1783 in einem Rückblick auf die Entstehungsbedingungen der Literaturbriefe offen (Friedrich Nicolai, Schreiben an den Hrn. Professor Lichtenberg in Göttingen. In: Göttingisches Magazin der Wissenschaften und Litteratur 3:3 (1783), S. 387–401, hier: S. 399). Es war ebenfalls Nicolai, der in einem Brief an Herder die Kürzel der Beiträger auflöste (Friedrich Nicolai an Johann Gottfried Herder, 24. Dezember 1768, abgedruckt in Gunter E. Grimm, Kommentar. In: Gotthold Ephraim Lessing, Werke 1758–1759 (Werke und Briefe in 12 Bdn., hg. von Wilfried Barner, Bd. 4, hg. von Gunter E. Grimm), Frankfurt a. M. 1997, S. 779–1256, hier: S. 1084). Die Frankfurter Lessing-Ausgabe erhält im Folgenden das Kürzel FLA. 313 Zum Datum der Erstveröffentlichung vgl. Grimm, Kommentar. In: FLA, Bd. 4, S. 1050. 314 Friedrich Just Riedel, Ueber das Publicum. Briefe an einige Glieder desselben, Jena 1768, S. 168 f.  





https://doi.org/10.1515/9783110613575-008

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Die brachiale Metaphorik, mit der Riedel den kritischen Habitus der Berliner Aufklärer Lessing, Mendelssohn und Nicolai charakterisierte, ist mit wachsendem historischem Abstand in einer stereotypen, auf den in scharfen Rezensionen strafenden und rächenden „,Kämpfer‘ Lessing”315 fokussierten Spielart zu einer eigenen wirkungsgeschichtlichen Blüte gekommen. „Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts“, erinnert Jürgen Schröder, „wurde Lessing mehr und mehr zum unermüdlichen ‚Kämpfer‘, zum streitbaren Sympathisanten des großen Friedrich und seines Preußen, zu einem homo militans stilisiert, der seine Feder mit Vorliebe als Schwert gebrauchte und mit seinen Büchern vernichtende Feldzüge führte.“316 Diese Figur bediente das Bedürfnis des 19. Jahrhunderts, Hoffnungen auf eine politische „Befreiung“317 (sei es durch einen Staat unter preußischer Führung, sei es durch eine Revolution) auf einen nationalen Kulturheroen zu projizieren. Das aktualisierende Moment dieser Konstruktion ist nicht zu übersehen; zugleich öffnet sie den Blick für eine wahrgenommene Wechselbeziehung zwischen literarischer und politischer Geschichte, die sich bis ins 18 Jahrhundert zurückverfolgen lässt. So legt Riedels martialische Rhetorik nahe, dass ein Zusammenhang zwischen dem prägnant inszenierten Auftritt der Berliner Partei und der Sphäre des Kriegs schon für die zeitgenössische Leserschaft selbstverständlich war. Vor diesem Hintergrund erscheint es reizvoll, die zitierte Rahmenfiktion der Briefe, die neueste Litteratur betreffend wieder ernst zu nehmen und der Frage nachzugehen, welche Funktion die ausgestellte Assoziation zwischen dem Zeitschriftenprojekt und dem mittlerweile ins dritte Jahr gehenden Siebenjährigen Krieg – über die stehende Analogie von Krieg und Literaturkritik hinaus – in den literarischen Diskursen um 1750 besaß.318 Immerhin etablierte die zitierte „Einleitung“ zu den Literaturbriefen in aller Kürze eine Lesegemeinschaft zwischen dem Erscheinungsort Berlin, der prägnant auf dem Titelkupfer vermerkt war, und dem Kriegsschauplatz. Der angeführte

315 Dem „Sprachfeld von militanter Metaphorik und metaphorischer Militanz“, das sich von der Romantik bis ins 20. Jahrhundert an die Einschätzungen von Lessings Literaturkritik anlagerte, widmet sich Jürgen Schröder, Der „Kämpfer“ Lessing. Zur Geschichte einer Metapher im 19. Jahrhundert. In: Das Bild Lessings in der Geschichte, hg. von Herbert G. Göppert, Heidelberg 1981, S. 93–115, hier: S. 93. Zu dieser Deutungstradition vgl. auch Monika Fick (Hg.), Lessing-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, 3., neu bearbeitete und erweiterte Aufl., Stuttgart, Weimar 2010, S. 4 f. 316 Jürgen Schröder, G. E. Lessing. Zwischen Krieg und Frieden. In: Das Subjekt der Dichtung. Festschrift für Gerhard Kaiser, hg. von Gerhard Buhr, Friedrich A. Kittler und Horst Turk, Würzburg 1990, S. 53–64, hier: S. 55. 317 Schröder, Der „Kämpfer“ Lessing, S. 96. 318 Zum Krieg als etabliertem Modell für Literaturkritik – neben dem des Gerichts und des Hofs – vgl. Martus, Werkpolitik, S. 84–101.  

3 Berlin: Poetik der nationalen Lyrik

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„bildungsbereite Offizier“,319 der über den poetischen Status quo informiert zu sein wünschte, verwies dabei nur lose auf den mit den Herausgebern befreundeten Dichter Ewald Christian von Kleist, der mit N. ** weder Rang noch Stationierung teilte.320 Schreiben eines Preußischen Officiers waren den Berliner Lesern viel direkter aus den lokalen Zeitungen von Haude und Voß vertraut: Hinter diesen Kriegsmann steckte niemand anderes als der preußische König Friedrich II. selbst, der seine Schlachtberichte seit den 1740er Jahren unter diesem Pseudonym bei den Untertanen in Umlauf brachte.321 Die Adressatenfiktion der Literaturbriefe knüpfte folglich an eine Nachrichtenquelle zu den Schlesischen Kriegen an, die fest in der publizistischen Landschaft Berlins verankert war. Dieser Kunstgriff erlaubte es den Herausgebern, die lokale Leserschaft bei ihrem Interesse für die militärischen Ereignisse abzuholen. Damit nahm die Rahmenfiktion der Briefe, die neueste Litteratur betreffend eine Verschränkung zwischen Kriegspartei und literarischer Partei vor, der man zum Jahreswechsel 1758/59 eine konkrete zeitgeschichtliche Signatur zuweisen kann. Nachdem Friedrich II. eindrucksvolle Erfolge gegen eine übermächtige Koalition erzielt hatte,322 in der ihm seit dem Renversement des alliances (1756) die Großmächte aus Paris und Wien vereint gegenüberstanden,323 rechnete man in

319 Wilfried Barner, Lessing und sein Publikum in den frühen kritischen Schriften. In: Lessing in heutiger Sicht, hg. von Edward P. Harris, Richard F. Schade, Bremen, Wolfenbüttel 1977, S. 323– 344, hier: S. 332. 320 Kleist befand sich zu diesem Zeitpunkt als Major im Dresdner Feldlager. Vgl. die Zeittafel in Ewald Christian von Kleist, Sämtliche Werke, hg. von Jürgen Stenzel, Stuttgart 1971, S. 269–271, hier: S. 271 sowie Martin Kagel, „Er hat sterben wollen.“ Poesie und Politik bei Ewald von Kleist. Ewald Christian von Kleist, Cißides und Paches in drey Gesängen, mit einem Nachwort hg. von Martin Kagel, Erlangen 2006, S. 41–65, hier: S. 49. – Dass Kleist als Modell im Hintergrund mitgedacht wurde, hat Nicolai nahegelegt: „Der Gedanke an einen verwundeten Officier zu schreiben, gehört ganz Lessingen zu; denn, sagte er, wie leicht kann Kleist verwundet werden, so sollen die Briefe an ihn gerichtet seyn.“ (Nicolai, Schreiben an den Hrn. Professor Lichtenberg in Göttingen, S. 397). Doch eine einfache Identifikation zwischen Kleist und N. **, wie etwa Gunter Grimm sie vornimmt (Grimm, Kommentar. In: FLA, Bd. 4, S. 1126), verstellt die Sicht auf die literaturpolitische Komponente der Adressatenfigur. 321 Vgl. Wilhelm Goerisch, Friedrich der Grosse in den Zeitungen. Beiträge zur Beurteilung Friedrichs durch die Zeitgenossen, Berlin 1907, S. 52–54. Die Berichte waren „auf Ordre des Königs“ in den Berliner Zeitungen zu verbreiten (Ingrid Waßer, Christian Friedrich Voss (1724– 1795). In: Deutsche Presseverleger des 18. bis 20. Jahrhunderts, hg. von Heinz-Dietrich Fischer, Pullach 1975, S. 40–47, hier: S. 44). 322 Zum Kriegsverlauf aus der preußischen Perspektive vgl. Johannes Kunisch, Friedrich der Große. Der König und seine Zeit, 2. Aufl., München 2009, S. 329–442 sowie in zugespitzter Analyse Clark, Iron Kingdom, S. 198–206. 323 Das frappante Ungleichgewicht der neuen Konstellation betont Johannes Burkhardt, Geschichte als Argument in der habsburgisch-französischen Diplomatie. Der Wandel des frühneu-

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Berlin jetzt wieder mit einem raschen Abschluss der Kämpfe, wie er dem König in den beiden vorangegangenen Kriegen geglückt war. Diese Erwartungshaltung teilten auch die Herausgeber der Literaturbriefe. Im Rückblick berichtete Nicolai: Der damalige Krieg spannete alles mit Enthusiasmus an. Um also doch einigermassen etwas Vollständiges zu haben, und sich nicht in ein zu grosses Feld einzulassen, ward beschlossen, die Litteratur seit dem Anfange des Krieges zu übersehen, und diese Uebersicht bis zum Frieden fortzusetzen, den man damals nicht weit entfernt glaubte. Dieß war kein allzuweitläuftiges Unternehmen; wir glaubten es ausführen und das Ende absehen zu können.324

In Kürze schien mithin ein Ende des Dritten Schlesischen Kriegs in der Luft zu liegen, das nach den öffentlichkeitswirksam gewonnenen Schlachten von Lobositz, Prag und Roßbach325 einen erneuten Erfolg der Preußen erwarten ließ. Man wird dem Programm der Literaturbriefe also ein gewisses politisches Kalkül attestieren dürfen, das dann jedoch durch den langwierigen Verlauf der Kriegshandlungen durchkreuzt und invisibilisiert wurde. Geplant war, dass die Zeitschrift zeitgleich mit den militärischen Aktionen abgeschlossen werden sollte. Anfang 1759 musste das heißen: Die Herausgeber Lessing, Nicolai und Mendelssohn hofften zu Beginn ihres Projekts auf eine kurze und effektvolle Demonstration von literaturkritischer wie militärischer Stärke, die alle Augen nach Berlin richten sollte.326 Der Siebenjährige Krieg, so kann gefolgert werden, war mithin fest in die Selbstsetzung der neuen Berliner Literaturpartei integriert. Vor diesem Hintergrund betrachtet, rückt ein anderes literarisches Projekt dichter als oft angenommen an die Literaturbriefe heran, das Lessing in den vorangegangenen Monaten

zeitlichen Geschichtsbewußtseins in seiner Bedeutung für die Diplomatische Revolution von 1756. In: Frankreich im europäischen Staatensystem der Frühen Neuzeit, hg. von Rainer Babel, Sigmaringen 1995, S. 191–217. 324 Nicolai, Schreiben an den Hrn. Professor Lichtenberg in Göttingen, S. 396 f. 325 Dem Kriegsverlauf entsprach die quantitative Entwicklung der Kriegspublizistik: In den ersten beiden Kriegsjahren ist aufgrund der Legitimierungs- und Delegitimierungsversuche der militärischen Initiative Friedrichs II., aber auch wegen der Begeisterung über seine zügigen Siege die Klimax der Flugschriftenproduktion zu verzeichnen. Vgl. Blitz, Aus Liebe zum Vaterland, S. 153–157. 326 Auch Dirk Rose hat kürzlich auf die Assoziation zwischen Polemik und Krieg in den Literaturbriefen hingewiesen; er sieht ihre Funktion nur in „atmosphärischen und metaphorisch codierten Analogien zwischen dem realweltlichen Kriegsgeschehen und den Auseinandersetzungen in der Gelehrtenrepublik, welche die Literaturbriefe gleichermaßen provozierten wie dokumentierten“ (Dirk Rose, Lessings Krieg. Zum publizistischen und polemikgeschichtlichen Ort der Litteraturbriefe (1759–1765). In: Krieg und Frieden im 18. Jahrhundert. Kulturgeschichtliche Studien, hg. von Stefanie Stockhorst, Hannover 2015, S. 93–111, hier: S. 95).  

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intensiv beschäftigt hatte. Ein halbes Jahr vor dem Start der Zeitschrift hatte er selbst eine Sammlung von Kriegsgedichten herausgegeben: einen kleinen, exquisit gestalteten Band der Preussischen Kriegslieder in den Feldzügen 1756 und 1757 von einem Grenadier (1758). Dieser versammelte die Gesänge eines fiktiven Soldaten, mit denen der Halberstädter Dichter Johann Wilhelm Ludwig Gleim seit dem Sommer 1757 die aktuellen Schlachten flankiert hatte.327 Auf diese Kriegspoesie kam die sorgfältig komponierte erste Ausgabe der Literaturbriefe in bemerkenswerter Weise zurück.328 So widmete Lessing den 15. Brief dem soeben entstandenen Lied „An die Kriegesmuse nach dem Siege bey Zorndorf“ und entschied sich, genau in diesem Beitrag einen Bogen zurück zur „Einleitung“ der Zeitschrift zu schlagen. „Auch der Grenadier, unser Preußischer Barde, ist bey Zorndorf verwundet worden“, berichtete er: „Minerva hatte da noch einen andern Liebling zu schützen!“329 Diese Parallelisierung erhob den Soldaten der Kriegslieder zum Pendant des Offiziers von N. **, indem der Adressat der Literaturbriefe auf einer niedrigeren sozialen Ebene gespiegelt wurde. Denn beide Figuren etablierten eine Verschränkung von Feld und Stadt, die sich unter den Vorzeichen von Dichtung und Krieg vollzog: Während der verwundete Offizier im Heereslager das neue kritische Periodikum aus Berlin las, fieberte das urbane Lesepublikum den Liedern des preußischen Grenadiers entgegen, die ihm authentische Eindrücke aus dem Schlachtgeschehen zu liefern versprachen. Angesichts dieser Verflechtungen stellt sich die Frage, welche literaturpolitischen Ziele Lessing verfolgte, indem er der Lyrik des Siebenjährigen Kriegs einen derart zentralen Platz im Programm der Berliner Aufklärung zuwies. Eine wichtige Spur legt dabei die antike Antonomasie, die der Kritiker für den Grenadier verwendete. Offenbar eröffnete Lessing mit der Rede von einem „Preußischen Barden“ ein eigenes literarisches Schlachtfeld, das in enger Beziehung zu den Kämpfen um die nationale Literatur steht, die bisher in diesem Kapitel nachgezeichnet worden sind. So waren die germanischen Barden, wie oben deutlich geworden ist, bis dato fest mit der epischen Gattung verknüpft gewesen, in der sich Literaturparteien aus Leipzig und Zürich in den 1750er Jahren duelliert hatten (Kap. II.1.3; II.2).

327 Die Publikationsdaten der Einzeldrucke sowie der Sammlung rekonstruiert August Sauer aus Gleims Briefwechseln (August Sauer, [Einleitung]. In: Johann Wilhelm Ludwig Gleim, Preussische Kriegslieder von einem Grenadier, hg. von August Sauer, Heilbronn 1882, S. III–XXXVI, hier: S. XII–XXXVI). 328 Vgl. Hans Werner Seiffert, Neues über Lessings Literaturbriefe. In: Festschrift zur 250. Wiederkehr der Geburtstage von Johann Wilhelm Ludwig Gleim und Magnus Gottfried Lichtwer: Beiträge zur deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts, hg. vom Gleimhaus, Halberstadt 1969, S. 65–79, v. a. S. 76. 329 BNL, 1. Theil, 1759, 15. Brief, S. 81–91, hier: S. 81 f.  



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Diesen Antagonisten hielt Lessing jetzt mit herausfordernder Geste eine heroische Dichtung entgegen, die einen ganz anderen gattungspoetischen Weg einschlug. Statt auf die höchste Gattung zu zielen, verweilte sie programmatisch in der gattungstheoretisch niedrigen Sphäre des Liedes; trotzdem erhob Lessing die patriotische Lyrik durch einen konsequenten Rekurs auf die Barden, der seine Kritiken der Grenadierdichtung in der Berlinischen Privilegirten Zeitung seit der Anzeige des „Sieges-Lieds der Preussen, nach der Schlacht bey Rossbach“ (1758) durchzog,330 selbstbewusst zu einer funktionalen Alternative zum Nationalepos. Diese Provokation in Richtung Gottsched und Bodmer gewinnt umso deutlicher Profil, wenn die Kriegsgesänge in Lessings „Vorbericht“ zu den Preussischen Kriegsliedern als Ausdruck einer „ursprünglich deutsche[n] Denkungsart“ profiliert werden: „Mehr aber unter den Waffen, als in der Schule erzogen“,331 schlage der preußische Soldat einen noch nie vernommenen Ton an, der die Potentiale der eigenen Sprache neu zur Geltung bringe. Es hat also den Anschein, als schreibe Lessing die Gleim’sche Kriegslyrik gegen Ende der 1750er Jahre gegen Gottsched und Bodmer zu einer neuen Form der nationalen Dichtung hoch, die er sogleich für die dichtungstheoretischen Positionen der neuen Berliner Literaturpartei vereinnahmen konnte. Auch diese lokale Vereinnahmung lässt sich an den antiken Kodierungen nachverfolgen. So kombinierte Lessing die Analogie zwischen dem singenden Soldaten und den germanischen Barden seit seiner Rezension von Gleims „Siegeslied auf die Schlacht bei Roßbach“ durchgehend mit der zu einem Dichter, der im griechischen Sparta gelebt hatte.332 „Er ist nur ein Grenadier“, schrieb er über Gleims literarisches Alter Ego; „aber vollkommen würdig, als ein zweiter Tyrtäus, vor den neuern bessern Spartanern, mit der kriegerischen Laute einher zu ziehen.“333 Auf diesem Weg drückte Lessing den Preussischen Kriegsliedern, die in der Strophe eines englischen Volkslieds verfasst waren, einen griechischen Stempel

330 Vor dieser Kritik hatte Lessings nur dem ersten Gedicht, das Gleim in der Grenadierrolle verfasst hatte (dem „Sieges-Lied der Preussen nach der Schlacht bey Prag“) im ersten Band der Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste eine kurze Notiz gewidmet. Diese wies den Autor als „gemeinen Soldaten“ aus, ohne antike Analogien einzuführen (BSW, Bd. 1, 1757, St. 1, S. 426–429, hier: S. 426). 331 [Gotthold Ephraim Lessing,] Vorbericht. In: [Johann Wilhelm Ludwig Gleim,] Preussische Kriegslieder in den Feldzügen 1756 und 1757 von einem Grenadier. Mit Melodien, Berlin [1758], unpag. 332 Diese Kombination findet sich durchgängig seit Lessings Rezension von Gleims Lied auf die Schlacht bei Roßbach. Die einzige Ausnahme bildet die Rezension des „Siegeslieds der Preussen, nach der Schlacht bey Lissa“, in der nur die germanischen Barden und Skalden genannt werden (FLA, Bd. 4, S. 84–86, hier: S. 86). 333 FLA, Bd. 4, S. 83 f., hier: S. 83.  

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auf.334 Damit konstruierte er zwei literarische Wahlverwandtschaften, auf die er wenig später in den Literaturbriefen zurückkam. Denn bekanntlich rief sein einflussreicher „17. Literaturbrief“ eine doppelte Neuausrichtung des Dramas aus: Die Dramatik solle der „deutschen Denkungsart“335 gerecht werden, indem sie die Pfade der gottschedianischen Dichtungslehre verlasse, statt der Römer die Griechen und statt der Franzosen die Engländer zum Maßstab wähle. In Nachbarschaft zur Kriegsliteratur gelesen, erhalten diese Oppositionsbildungen336 einen neuen Unterton. Sie scheinen ihren polemischen Schwung nun auch aus der politischen Bündnislage des Siebenjährigen Kriegs zu holen: Eine Orientierung an Frankreich, das seit dem Renversement des alliances (1756) mit den Habsburgern im Bunde stand und darüber auch zum militärischen Partner der Sachsen geworden war, wurde in der Literatur für obsolet erklärt;337 zu einer zukunftsträchtigen Verbindung für die deutsche Dichtung wurde dagegen eine Koalition mit England ausgerufen, in der die preußische Armee unter Friedrich II. kämpfte. Diese ersten kursorischen Beobachtungen machen deutlich, dass Lessing keine Scheu davor hatte, politische Semantiken in seine literaturtheoretischen Argumentationen einzuspielen und sie für die eigenen Zielsetzungen fruchtbar zu machen. Dieser Befund soll in diesem Teilkapitel zum Anlass genommen werden, die literaturpolitischen Dimensionen von Lessings Einsatz für die Lyrik des Siebenjährigen Kriegs genauer zu untersuchen. Dabei wird es darum gehen, das Zusammenspiel von poetologischen und politischen Positionierungen herauszuarbeiten, die in seinen Kritiken und Paratexten zu einem spezifischen Angebot nationaler Dichtung aus Berlin verbunden wurden. Gleichzeitig soll auf diesem Weg konkretisiert werden, wie Lessing die preußische Kriegslyrik in Szene setzte, um die Berliner Literaturpartei polemisch von den literarischen Standorten Leipzig und Zürich mit ihren – weitgehend erfolglosen – Poetiken des Nationalepos abzugrenzen. Zu diesem Zweck wird sich die Analyse von den Analogien zu den

334 Zur Strophe der englischen „Ballad of Chevy Chase“, deren Formsemantik unten genauer reflektiert wird, vgl. Horst J. Frank, Handbuch der deutschen Strophenformen, 2., durchgesehene Aufl., Tübingen, Basel 1993, S. 140–145. 335 BNL, 1. Theil, 1759, 17. Brief, S. 97–107, hier: S. 99. 336 Albert Meier hat gezeigt, dass erst Lessing diese Alternativen konstruierte; Gottsched habe in seiner klassizistischen Dichtungslehre sehr wohl auch griechische und englische Impulse verarbeitet (Albert Meier: Von Paris über Leipzig nach Kopenhagen? Dystopien des Klassizismus bei Johann Christoph Gottsched und Johann Elias Schlegel. In: Topographien der Antike in der literarischen Aufklärung, hg. von Annika Hildebrandt, Charlotte Kurbjuhn und Steffen Martus, Bern 2016, S. 117–128). 337 Zur machtpolitischen Genese dieser „Umkehr der Bündnisse“ vgl. Frehland-Wildeboer, Treue Freunde?, S. 108–115.

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Spartanern und zu den germanischen Barden leiten lassen, deren Anspielungsräume im Folgenden ausgeleuchtet werden sollen.

3.1 Tyrtaios: Ortswechsel (Lessing, Ramler, Friedrich II.) Zu Beginn des Jahres 1758 geisterte ein neuer Vergleich durch die literarische Kommunikation in Preußen, der umgehend für Aufsehen sorgte. Am 6. Januar lud Johann Wilhelm Ludwig Gleim seinen Freund Ewald Christian von Kleist dazu ein, sich den singenden Soldaten der Preussischen Kriegslieder als modernen Wiedergänger eines Lyrikers aus dem griechischen Sparta zu vergegenwärtigen. „Ein neuer Tyrtäus, sollte er seine Landesleute aufwiegeln, das Heuschreckenheer vom deutschen Boden zu jagen“, imaginierte Gleim, um sogleich die zugehörige Passage aus Horaz’ Ars Poetica zu zitieren. „,Tyrtaeus mares animos in Martia bella / Versibus exacuit –‘ sagt unser Horaz“338: Tyrtaios (7. Jh. v. Chr.) habe mit seinen Liedern „Mannesseelen […] zum blutigen Kampf gestärkt“339. Dieser martialischen Selbstinszenierung war offenbar eine Abstimmung mit Lessing vorausgegangen. Denn nur einen Tag später erschien eine Besprechung von Gleims „Sieges-Lied der Preussen, nach der Schlacht bey Rossbach“ in der Berlinischen Privilegirten Zeitung, in der auch der Rezensent den Grenadier als „zweite[n] Tyrtäus“ an der Spitze der „neuen bessern Spartaner“340 feierte Von der Kritik fand diese Analogie ihren Weg in kürzester Zeit in die Dichtung selbst. So nutzte Gleim den Januar 1758, um ein neues Lied auf den Ausbruch des Siebenjährigen Kriegs zu verfassen.341 In diesem Text, der als Auftakt für die von  

338 Johann Wilhelm Ludwig Gleim an Ewald Christian von Kleist, 6. Januar 1758. In: Ewald von Kleist’s Werke, hg. und mit Anmerkungen begleitet von August Sauer, 3 Bde., Bd. 3, Berlin [1880], S. 272–274, hier: S. 273. Dabei ging es Gleim um eine poetologische Aussage, nicht um eine politische, wie er unverzüglich hinterherschob: „Zwar haben unsere Preußen dergleichen Mutheinflößung nicht nöthig. Alle, die bei uns sind, sind unzufrieden, daß sie nicht drauflos gehn dürfen; keine kleine Partei kommt ohne Sieg zurück.“. Bei der zitierten Horaz-Stelle handelt es sich um Hor. ars. 402–405. 339 So lautet die deutsche Übersetzung von Hans Färber (Horaz, De arte poetica liber. Das Buch von der Dichtkunst. In: Ders., Sämtliche Werke. Lateinisch und deutsch, nach Kayser, Nordenflycht und Burger hg. von Hans Färber, München 1964, S. 230–259, hier: S. 244). Einführend zum Lyriker Tyrtaios vgl. Mischa Meier, Tyrtaios – Die Entstehung eines Bildes. In: Antike & Abendland 49 (2003), S. 157–182. 340 FLA, Bd. 4, S. 83. Gedruckt worden war dieses Lied um den 20. Dezember, um die Veröffentlichung hatte sich Kleist gekümmert. Vgl. Sauer, [Einleitung]. In: Gleim, Preussische Kriegslieder, S. XXI. 341 Zur Datierung des Lieds auf den Januar 1758 vgl. ebenfalls die Rekonstruktion von Sauer, [Einleitung]. In: Gleim, Preussische Kriegslieder, S. XXI.

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Lessing besorgte Sammlung der Preussischen Kriegslieder dienen sollte, wurde die programmatische Wahlverwandtschaft zwischen Preußen und Sparta nun auch literarisch fixiert. Gleich die ersten Verse, in denen der Grenadier sich seinen Lesern vorstellte, standen von jetzt an unter lakedämonischem Vorzeichen. Die Devise, die der dichtende Soldat im Lied „Bey Eröfnung des Feldzuges 1756“ formuliert, lautet mithin: Krieg ist mein Lied! Weil alle Welt Krieg will, so sey es Krieg! Berlin sey Sparta! Preussens Held Gekrönt mit Ruhm und Sieg!342

Der Ruf „Berlin sey Sparta!“ verschaffte der preußischen Kriegslyrik ein so kurzes wie einprägsames Wiedererkennungszeichen, das entscheidend dazu beitrug, einen eigenen Standpunkt in der Topographie der deutschen Aufklärung zu markieren und diesen klar von den bestehenden Literaturparteien abzugrenzen. Dabei setzten Lessing und Gleim bei der kriegerischen Reputation an, die sich der preußische Staat durch den berüchtigten Drill unter dem Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I. erworben hatte343 und in Gestalt seines unablässig kriegführenden Sohnes Friedrich II. bestätigte, der die Zeitgenossen durch seine Feldpräsenz als roi-connétable umso mehr faszinierte.344 Doch auch in literatur- und diskursgeschichtlicher Hinsicht war die Ausrufung eines zweiten Spartas dazu geeignet, das Profil der neuen Literaturpartei in Berlin zu schärfen. Erst vor Kurzem war das kriegerische Altertum par excellence über Frankreich in den europäischen Diskurs eingespeist worden und besaß damit die Signatur des Innovativen; dabei bot es zugleich vielfältige Anschlusspunkte für literarische und soziale Programmbildungen. Im Folgenden soll der Frage nachgegangen werden, wie die Berliner Aufklärer sich diese Potentiale zunutze machten, um ihren Wirkungsort im Zeichen der Antike neben den etablierten Zentren der deutschen Literatur zu positionieren. So rückten Lessing und Gleim in ihrer Werbung für die Berliner Kriegslyrik eine antike Analogie für den preußischen Staat ins Sichtfeld eines breiten Publikums, die seit dem Einsetzen der französischen Lakonomanie (Kap. I.2.3.2.1)345

342 [Gleim,] Preussische Kriegslieder, S. 3. 343 Vgl. Clark, Iron Kingdom, S. 95–101. 344 Das Selbstverständnis eines Monarchen als roi-connétable, als König und Feldherr, war im 18. Jahrhundert schon mehr als ungewöhnlich; Friedrich II. hoffte, seine persönliche Präsenz auf dem Schlachtfeld als Motivationsmittel für das Heer nutzen zu können (Ute Frevert, Gefühlspolitik. Friedrich II. als Herr über die Herzen? Göttingen 2012, S. 57–59). 345 Überblickshaft vgl. Mason, Sparta and the French Enlightenment sowie Bourgault, Philhellenism among the philosophes.

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schon einige Male in weniger exponierten Kontexten erprobt worden war. Oft wird der Vergleich zwischen Berlin und Sparta mit dem Namen Voltaire in Zusammenhang gebracht. Denn nicht nur charakterisierte der französische Dichter und Philosoph den Regierungsantritt von Friedrich II., an dessen Hof er von 1750 bis 1752 residierte, in seinen Mémoires (1759; posthum 1784) wie folgt: „Sein Vater hatte in Potsdam ein schäbiges Haus bewohnt, er ließ einen Palast daraus machen […]. Die Dinge änderten sich zusehends: aus Sparta wurde Athen.“346 Auch in seinem Briefwechsel diente der Gegensatz zwischen den griechischen Republiken Sparta und Athen, an dem die französischen Philosophen seit den 1740er Jahren Konflikte über politische, ökonomische und moralische Fragen austrugen,347 immer wieder als Bewertungsgrundlage für seine Erfahrungen mit Preußen. Dabei erwies sich das Urteil Voltaires, der als Parteigänger der kulturund handelsaffinen Athener auftrat,348 keineswegs als stabil. So frohlockte er nach dem Thronwechsel von 1740 zunächst, unter Friedrich II. könne der preußische Staat zu einem Athen der Deutschen und aller Europäer aufsteigen. „Berlin sera, sous vos auspices, l’Athènes de l’Allemagne et pourra l’être de l’Europe“,349 schrieb er 1737 an den Kronprinzen. In Potsdam angekommen, meldete er 1751 deutlich zurückhaltender, dass der König den Krieg keineswegs zugunsten der Künste zurückzustellen gedenke. Allenfalls finde man unter seiner Herrschaft ein gleichberechtigtes Nebeneinander von kriegerisch-spartanischen und gelehrt-attischen Elementen („Cecy est Sparte et Athènes; C’est un camp et le jardin d’Epicure, des trompettes et des Violons, de la Guerre et de la philosophie.“350).

346 Voltaire, Über den König von Preußen. Memoiren, hg. und übersetzt von Anneliese Botond, Frankfurt a. M. 1967, S. 23 f. Analog schrieb Voltaire an den Marquis de Thibouville: „Wer hätte vor zwanzig Jahren geglaubt, dass Berlin die Heimstätte der Künste und des guten Geschmacks sein werde? Nur ein Mann war nötig, um das trübselige Sparta in ein glanzvolles Athen zu verwandeln.“ Vgl. Voltaire an Henri Lambert d’Herbigny, Marquis de Thibouville, 1. August 1750 [D4178] (Oeuvres complètes de Voltaire. Bd. 95: March 1749 – October 1750. Letters D3881–D4254, hg. von Theodore Besterman), Genf 1970, S. 309 f., hier: S. 309. Übersetzung nach Thomas Biskup, Friedrichs Größe. Inszenierungen des Preußenkönigs in Text und Zeremoniell 1740–1815, Frankfurt a. M., New York 2012, S. 81. 347 Rekonstruiert u. a. bei Bourgault, Philhellenism among the philosophes; Grell, Le Dix-huitième siècle et l’antiquité en France 1680–1789, Bd. 1, S. 456–501; Décultot, Sparta vs. Athen: Topographien der Antike im französischen und deutschen Geschichtsdiskurs des 18. Jahrhunderts. 348 Michèle Mat-Hasquin, Voltaire et l’Antiquité Grecque, Oxford 1981, S. 237–242. 349 Voltaire an Friedrich, Kronprinz von Preußen, Januar 1737 (Briefwechsel Friedrichs des Großen mit Voltaire, 3 Bde., Bd. 1: Briefwechsel des Kronprinzen Friedrich), hg. von Reinhold Koser und Hans Droysen, Leipzig 1908, S. 22. 350 Voltaire an François Etienne Devaux, 8. Mai 1751 [D4462] (Oeuvres complètes de Voltaire. Bd. 96: November 1750 – March 1752. Letters D4255–D4854, hg. von Theodore Besterman), Genf 1971, S. 183 f., hier: S. 184.  











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Es ist nicht unwahrscheinlich, dass Voltaire mit solchen Formulierungen zur Verbreitung einer Analogie von Preußen und Sparta im deutschen Diskurs beitrug. Betont werden muss allerdings, dass er damit eine eindeutig negative Bewertung verband. Bei ihm fungierte Sparta als defizitärer Pol in einem binären Modell, das auf zivilisatorischen Fortschritt ausgerichtet war: von den einfachen Anfängen einer Gesellschaft zu ihrer kulturellen Blüte und vom Krieg zu den Künsten und Wissenschaften. Affirmativ fiel erst die Variante des Vergleichs zwischen Preußen und Sparta aus, die der Berliner Dichter Karl Wilhelm Ramler 1749 in einer Ode formulierte, die später den Titel „Auf einen Granatapfel, der in Berlin zur Reife gekommen war“ erhalten würde.351 Zunächst in der Berliner Haudeschen Zeitung publiziert,352 wurde der Text 1750 von Ramler und Sulzer unter lokalpatriotischen Vorzeichen in den ersten Jahrgang ihres Journals Critische Nachrichten aus dem Reiche der Gelehrsamkeit (1750–1752) eingerückt, das in der preußischen Metropole erschien. Auswärtige Autoren, so wurde der erneute Abdruck begründet, hätten an dieser Ode großes Interesse gezeigt und die ortskundigen Herausgeber gebeten, ihnen beim Verständnis auf die Sprünge zu helfen: Man habe „verlangt, die Beschaffenheit der besungenen Stadt in unsern Blättern auswärtigen Lesern bekannter zu machen“ und „ihre Schönheiten in ein Licht zu setzen“353. Deshalb erschien das Gedicht nun mit einem Anmerkungsapparat, den Ramler und Sulzer dazu nutzten, das aufblühende Berliner Selbstverständnis darzulegen. Gemessen wurden die Vorzüge Berlins dabei an den Größen ‚Krieg‘ und ‚Kunst‘, die im Text von der Muse Kalliope regelrecht abgeschritten werden. So macht sich die Vertreterin der epischen Dichtkunst nach Norden auf, um die militärischen Erfolge des Preußenkönigs zu besingen. Dort angekommen, passiert sie die Bauwerke der Akademie und der neuen Oper354 und erkennt erstaunt, dass

351 Die wichtige Beobachtung, dass eine positive Form der Preußen-Sparta-Analogie das erste Mal bei Ramler auftauchte, formuliert Gerhard Wolf beinahe en passant in einem Aufsatz zur Dichterin Anna Louisa Karsch (Gerhard Wolf, Die Gaben der Musen sind mancherlei. Anna Louisa Karschin – die preußische Sappho. In: O, mir entwischt nicht, was die Menschen fühlen. Anna Louisa Karschin. Gedichte und Briefe. Stimmen von Zeitgenossen, hg. und mit einem Nachwort von Gerhard Wolf, Berlin 1981, S. 267–307, hier: S. 279). 352 So erkundigten sich Sulzer und Ramler bei Gleim: „Wie gefällt Ihnen das Stück in der Haudenschen Zeitung, O die du dich zur Königin der Früchte p. Der Verfaßer ist durch keine menschliche Kraft auszuspüren, wären s i e hier, so wüsten wir ihn gewiß.“ (Sulzer und Ramler an Gleim, Mitte Januar 1750. In: Briefwechsel zwischen Gleim und Ramler, Bd. 1, S. 206). 353 Zu [Karl Wilhelm Ramler, Auf einen Granatapfel, der in Berlin zur Reife gekommen war]. In: CN, Bd. 1, 1750, No. VI, S. 52–55, hier: S. 52. Die Ode erschien hier noch ohne Überschrift. 354 Beide Gebäude verweisen auf prestigereiche Projekte Friedrichs II.: die Reaktivierung der preußischen Akademie der Wissenschaften, die unter seinem Vater brachgelegen hatte (Ursula

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ihre Schwestern schon vor ihr eingetroffen sind und die Künste in Preußen eingeführt haben.355 Unter diesem Eindruck richtet Kalliope eine begeisterte Apostrophe an die Stadt, in der die Sparta-Analogie eine positive Transformation erfährt. „Wohl dir, o du, durch meinen Freund regieret, / An Künsten reich, und groß wie Sparta war“, ruft die Muse dem aufgeklärten Berlin zu, um dann sein Pendant im antiken Lakedämon heraufzubeschwören: Es zog vom Schall der Flöte schön verführet In seinen Tod, mit wohlgeschmücktem Haar, Und alle, die den Kampf verlohren, Bestätigten durch einen Eid: Die Stadt 17) sey nur gebohren Zu Waffen und zum Streit.356

All dies, so klärte die Anmerkung mit der Nummer 17, treffe genauso auf Berlin zu.357 Wichtig war Ramler dabei, dass angesichts dieser Evokation des heroischen Spartas die eigentliche Pointe seiner Ode nicht unterging. So durchkreuzte er die Konventionen des europäischen Antikendiskurses, um seiner Wirkungsstätte doppelte Größe zu bescheinigen: im Krieg und in der Kunst. Das betonte er in der Fußnote, die dem zitierten Programmvers zugeordnet war: „Sparta oder Lacedämon war zum Kriege gebohren und verbannte die Künste: Eine gewisse Stadt liebt die Künste, und ist dennoch wie Sparta.“358 In einer späteren Fassung der Ode trieb Ramler das Paradox noch weiter, indem er den Vers auf eine Synthese der rivalisierenden griechischen Republiken zuspitzte. „Wohl dir, o du, durch meinen

Goldenbaum, Der „Berolinismus“: Die preußische Aufklärung als ein Zentrum geistiger Kommunikation in Deutschland. In: Die Aufklärung in Berlin, hg. von Wolfgang Förster, Berlin 1989, S. 339–362, hier: S. 339 f.) und den Bau eines neuen Opernhauses, der auch den Anlass von Ramlers Ode bildete (David E. Lee, Berlin, Mitte des Jahrhunderts: Zwei Gedichte von Karl Wilhelm Ramler. In: Das achtzehnte Jahrhundert 30:1 (2006), S. 30–47, hier: S. 30). 355 Die komplexe mythologische Komposition der Ode wird analysiert von Walther Killy, Elemente der Lyrik, 2., durchgesehene Aufl., München 1972, S. 79 f. 356 [Ramler, Auf einen Granatapfel, der in Berlin zur Reife gekommen war]. In: CN, Bd. 1, 1750, No. VI, S. 54. 357 Die Anmerkung lautet: „17) Wird von Sparta gesagt, und deucht unserm Correspondenten schöner, als wenn es gerade zu von Berlin gesagt würde: Weil man die Eigenschaften von Sparta sonst nicht erführe, weil der Geist die angenehme Beschäftigung bekommt es auf Berlin zu deuten, weil ein solches Lob zugleich seiner ist und weil kein Lyrischer Schwung darinn wäre, wenn der Poet in eben der Construction fortführe: Du zogst vom Schall etc.“ ([Ramler, Auf einen Granatapfel, der in Berlin zur Reife gekommen war]. In: CN, Bd. 1, 1750, No. VI, Anm. 17, S. 54). 358 [Ramler, Auf einen Granatapfel, der in Berlin zur Reife gekommen war]. In: CN, Bd. 1, 1750, No. VI, Anm. 16, S. 54.  



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Freund regieret, / Athen an Geist, voll Muth, wie Sparta war“,359 lautet die modifizierte Apostrophe der Kalliope in der Textfassung, die 1767 in der Sammlung der Ramler’schen Oden erschien. Bis zu einem gewissen Grad relativierte die spätere Formulierung die selbstbewusste Analogie zwischen Berlin und Sparta allerdings schon wieder, die zum Entstehungszeitpunkt des Gedichts seinen Innovationsanspruch markiert hatte.360 Ramlers Ode machte in seinem Freundeskreis rasch Furore. Nicht zuletzt Gleim reagierte schon 1750 begeistert darauf.361 Umso mehr fällt auf, dass dieser sich beim Verfassen seiner Preussischen Kriegslieder nicht unmittelbar auf den Sparta-Vergleich besann, den er aus diesem Gedicht kannte. Im Gegenteil: Seit dem Mai 1757 hatte er die preußischen Gefechte im Siebenjährigen Krieg lyrisch begleitet;362 doch erst nach dem Jahreswechsel 1757/58, als schon sieben der insgesamt elf Kriegslieder vorlagen, formulierte er den vielzitierten Schlachtruf „Berlin sey Sparta!“ Dabei agierte er koordiniert mit Lessing, der die spartanische Analogie seither konsequent in seine Kritiken aufnahm. Somit ergibt sich der Eindruck einer konzertierten Aktion, der vermuten lässt, dass zu dieser Zeit ein konkreter Anlass für die lakedämonische Nuancierung der Grenadier-Poetik vorlag. Beim Blick auf die literarische Debatte im Dezember 1757 und Januar 1758 scheint sich dies zu bestätigen. Denn in den fraglichen Wochen rückte die spartanische Antike in den Mittelpunkt einer Verschränkung von literarischer und politischer Sphäre, vor deren Hintergrund Lessings und Gleims Vorgehen eine strategische Stoßrichtung erhält. Diese Konstellation soll im Folgenden herausgearbeitet werden. Die Protagonisten der Ereignisse, die als Auslöser für den preußischen Sparta-Diskurs fungierten, waren König Friedrich II. und Johann Christoph Gottsched – zwei Männer, die selten in einem Atemzug genannt werden, die jedoch für die antikisierende Selbstbeschreibung der Berliner Aufklärung gleichermaßen wichtig wurden. So war im Dezember 1757 in Berlin ein Nachdruck aufgetaucht, der einen der seltenen Berührungspunkte zwischen Friedrich II. und der deutschen Aufklärung dokumentierte.363 Denn veröffentlicht wurde ein Ge-

359 Karl Wilhelm Ramler, Auf einen Granatapfel, der in Berlin zur Reife gekommen war. 1749. In: Karl Wilhelm Ramlers Oden, Berlin 1767, S. 13–16, hier: S. 16. 360 Wohl nicht zufällig lag dieses Entstehungsdatum nur ein Jahr nach dem Erscheinen von Montesquieus Esprit des Lois, der einen positiven Sparta-Diskurs entworfen hatte. 361 Im Frühjahr 1750 lobte Gleim die Granatapfel-Ode gegenüber Kleist überschwänglich (Gleim an Kleist, 3. Februar 1750. In: Ewald von Kleist’s Werke, Bd. 3, S. 109–111, hier: S. 110). 362 Vgl. Sauer, [Einleitung]. In: Gleim, Preussische Kriegslieder, S. XII. 363 [Friedrich II. von Preußen,] Vers de Sa Majesté le Roi de Prusse, adressés à Mr. Gottsched, Professeur à Leipzig. Avec la Traduction Allemande, suivie d’une Parodie, o. O. 1757.

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dicht des Herrschers an Gottsched, einige Vers de Sa Majesté le Roi de Prusse, adressés à Mr. Gottsched, Professeur à Leipzig, den der König am 15. Oktober zu sich ins Winterlager bei Leipzig bestellt hatte364 – freilich in der Annahme, es handle sich um Christian Fürchtegott Gellert,365 den er wegen seiner Fabeln als einen der wenigen Vertreter einer Dichtung in deutscher Sprache akzeptierte.366 Damit geriet Gottsched unversehens in eine Lage, die sich für eine Demonstration literaturpolitischer Geltungsansprüche anbot. Nach der glücklosen Audienz bei Maria Theresia (vgl. Kap. II.1.2) erhielt er nun erneut die Gelegenheit, seine Nähe zur politischen Sphäre zu markieren. Zudem konnte er sich durch ein Treffen mit Friedrich II. als Sprachrohr der deutschen Literaten profilieren, indem er für sie auf den Auftrag antwortete, den der König in seinem Gedicht formulierte. Eine zentrale Rolle in diesem Appell spielte die Antinomie zwischen Sparta und Athen, die der französisch sozialisierte Herrscher wohl aus den Gesellschaf364 Einladung und Gedichtwechsel dokumentierte Gottsched detailliert in der Ausgabe des Neuesten aus der anmuthigen Gelehrsamkeit, die zum Februar 1758 erschien. Vgl. [Gottsched,] Vers de Sa Majesté le Roi de Prusse, adressés à Mr. Gottsched, Professeur à Leipzig […]. In: NAG, Bd. 8, Februar 1758, St. 4, S. 122–138 sowie [Gottsched,] Allerunterthänigste Antwort, an Se. Königl. Majestät in Preußen, den 27sten October 1757, persönlich überreichet von Joh. Christoph Gottscheden. In: NAG, Bd. 8, Februar 1758, St. 6, S. 141–152. Auch zu finden in Johann Christoph Gottsched, Gespräch mit Friedrich II. In: Friedrich II., König von Preußen, und die deutsche Literatur des 18. Jahrhunderts, hg. von Holger Steinmetz, Stuttgart 1985, S. 23–40, hier: S. 34–40. Im 4. Stück des NAG nannte Gottsched einige der kursierenden Drucke, die seinen Gedichtwechsel mit dem König wiedergaben, von denen er aber ausdrücklich keinen in Auftrag gegeben haben wollte. Demnach hatte die Deutsche Gesellschaft in Königsberg am 21. November 1757 die erste Publikation herausgegeben, die dann in Berlin nachgedruckt wurde ([Gottsched,] Vers de Sa Majesté le Roi de Prusse [Rezension]. In: NAG, Bd. 8, Februar 1758, St. 4, S. 131). 365 Im Manuskript des Königs trug das Gedicht die Überschrift „Au sieur Gellert“ (Friedrich II. von Preußen, Au sieur Gellert. In: Œuvres de Frédéric le Grand, hg. von Johann D. E. Preuß, 30 Bde., Bd. 12, Berlin 1849, S. 93 f., hier: S. 93, Anm. a). 366 Vgl. De la littérature allemande (1780): „Alles, was ich Ihnen, ohne mich zum Schmeichler meiner Landsleute zu erniedrigen, zugestehn kann, ist, daß wir in der kleinen Gattung der Fabel einen Gellert gehabt haben, der sich neben Äsop und Phädrus gesetzet.“ (Friedrich II. von Preußen, Über die deutsche Literatur. In: Friedrich II., König von Preußen, und die deutsche Literatur des 18. Jahrhunderts, hg. von Holger Steinmetz, Stuttgart 1985, S. 60–99, hier: S. 63) Ansonsten lobte Friedrich II. nur den preußischen Hofdichter Friedrich Rudolph Ludwig Canitz sowie Salomon Gessner, dessen Idyllen auch in der französischen Literatur erfolgreich waren, in welcher der Monarch sich besser auskannte. Vgl. Rudolf Steiner, Die Sprache der Gefühle. Der Literaturbegriff Friedrichs des Großen im historischen Kontext. In: Geist und Macht. Friedrich der Große im Kontext der europäischen Kulturgeschichte, hg. von Brunhilde Wehinger, Berlin 2005, S. 23–50, hier: S. 28. – Die Audienz für Gellert wurde im Dezember 1760 nachgeholt. Dokumente dazu sind ebenfalls bei Steinmetz zusammengestellt (Christian Fürchtegott Gellert, Gespräch mit Friedrich II. In: Friedrich II., König von Preußen, und die deutsche Literatur des 18. Jahrhunderts, hg. von Holger Steinmetz, Stuttgart 1985, S. 44–50).  

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ten an seinem Potsdamer Schloss Sanssouci kannte. Anders als sein Freund Voltaire, setzte er die Vorzeichen indes von vornherein zugunsten des Krieges. Jedes Volk, hob er an, zeichne sich durch eine spezifische Begabung („talent“367) aus: In Frankreich verstehe man sich auf die leichten Materien, in England dagegen auf die tiefsinnigen („Les François sont legers, les Anglois sont profonds“). Ein besonders günstiges Los habe im europäischen Vergleich dabei das eigene Volk („le nôtre“) gezogen. Wo genau er diese Stärke sah, machte der König klar, indem er ein kulturanalytisches Raster entwarf, das sich an den griechischen Republiken orientierte. So formulierte er: War Sparta dort ein Sitz der Tapferkeit, Wo Mars so manchen Held erzogen, So hat sich Athen der süßen Lust geweyht, Die nur aus Wissenschaft und Künsten wird gezogen. (Sparte possedoit la Valeur, Mars se plut d’y former de fameux Capitaines, Tandis que la molle douceur Des Arts & des Talents respiroit dans Athènes.) 368

Friedrichs Alternative entsprach genau derjenigen, die Rousseau im Discours sur les sciences et les arts in den europäischen Diskurs eingebracht hatte (vgl. Kap. I.2.3.2.1). Der spartanische Pol stand positiv für kriegerische Tapferkeit („Valeur“), der attische dagegen negativ für eine Verweichlichung („molle douceur“), die als Begleiterscheinung künstlerischer Blüte aufzutreten drohe. In der Übersetzung des Königsberger Tribunalrats Werner, aus der hier zitiert wird,369 wurde die kritische Implikation des Begriffsfelds mollesse freilich zugunsten der traditionellen deutschen Kulturverehrung überspielt. Auch im Weiteren folgte der König stringent der Rousscheau’schen Ordnung der Altertümer, indem er die deutschen Talente auf der Seite der lakedämonischen Kriegsliebe verortete. „De Sparte nos vaillants Germains, / Ont recueilli l’antique gloire“, postulierte Friedrich; zu deutsch: „Nachdem ward Spartens alter Ruhm / Der braven Deutschen Eigenthum“. Mit zahlreichen Heldentaten habe man sich das Recht auf einen Platz im Tempel der Erinnerung („Temple de

367 Hier und im Folgenden: [Friedrich II. von Preußen,] Vers de Sa Majesté le Roi de Prusse, adressés à Mr. Gottsched, unpag. 368 Original und Übersetzung in: Vers de Sa Majesté le Roi de Prusse, adressés à Mr. Gottsched, unpag. 369 Diese Zuordnung erfolgte bei [Gottsched,] Vers de Sa Majesté le Roi de Prusse [Rezension]. In: NAG, Bd. 8, Februar 1758, St. 4, S. 127.

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Mémoire“) erworben. Doch dieser Ruhm sei nur temporär – die Blumen für einen ewigen Siegeskranz würden in der Hand der deutschen Heroen zu rasch verwelken („Les fleurs se fanent dans leur mains, / Dont ils couronnent la victoire.“). Genau aus diesem Grund wandte sich Friedrich II. nun an Gottsched. So endete das Gedicht in einem dringlichen Appell an den sächsischen Dichter, seine literarischen Bestrebungen in den Dienst militärischer Ruhmestaten zu stellen. Bestimmt ordnete der König an: Nun magst du Schwan der Sachsen dich befleißen, Der geizigen Natur die Gabe zu entreißen, Daß eine Sprach, die rauh und widrig dröhnt, Durch dein Bemühen sanfter tönt. Durch Lieder, die schon deine Muse stimmt, Laß, wenn der Deutsche Lorbern nimmt, Die seinem Sieg zur Krone dienen, Auch noch im schönsten Flor Apollen grünen. (C’est à toi le Cygne Saxon, D’arracher ce Talent à la Nature avare: D’adoucir par tes Soins d’une Langue barbare, La dure apreté de ses Sons. Ajoute par les Chants, que ta Muse prépare Aus Lauriers des Vainqueurs, dont le Germain se pare, Les plus beaux Lauriers d’Apollon.) 370

Friedrichs Forderung nach einer Kriegspoesie in deutscher Sprache besaß im Januar 1758 unübersehbare politische Aktualität, die dadurch noch mehr unterstrichen wurde, dass er Gottsched für die Unterredung ausgerechnet in sein Leipziger Kriegslager bestellen ließ. Die Siege der Deutschen, von denen im Gedicht die Rede war, gingen damit nahtlos in seine eigenen Erfolge als Feldherr über. Diese Überblendung erhielt dadurch eine pikante Note, dass der preußische Monarch auf diesem Weg gleichzeitig seine Macht über das literarisch so wichtige Sachsen demonstrierte, das er 1756 annektiert hatte.371 Insofern sprach hier auch ein König zu einem neugewonnenen Untertan. Dass Gottsched sogar in Preußen aufgewachsen war,372 stand Friedrich II. angesichts der Verwechslung mit dem ebenfalls in Sachsen wirkenden Gellert jedenfalls gewiss nicht vor Augen.

370 [Friedrich II. von Preußen,] Vers de Sa Majesté le Roi de Prusse, adressés à Mr. Gottsched, unpag. 371 Vgl. Clark, Iron Kingdom, S. 199 f. 372 So nannte Gottsched den König in seinem ersten Dankgedicht „Monarch, den deines Vaters Knecht / Auch ungenannt, durch manches Lied erhoben“, um in einer Anmerkung zu erläutern: „Der Verfasser ist schon unter des vorigen Königs von Preußen Friedrich Wilhelms Regierung, aus  

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Doch auch jenseits dieser handfesten Demonstration militärischer Stärke wies Friedrich dem Krieg mit seinen Vers de Sa Majesté le Roi de Prusse eine hohe Relevanz zu. So steckte in der wenig schmeichelhaften Beschreibung der deutschen Sprache mit ihrem harten, rauen Klang („dure apreté de ses Sons“) eine Diagnostik der deutschen Kultur, die von einer Korrelation zwischen Krieg und literarischer Entwicklung ausging. Noch 1780 würde Friedrich II. in seiner Schrift De la littérature allemande an der Auffassung festhalten, dass das Deutsche bisher lediglich zu einer „halb-barbarische[n]“ Sprache herangereift sei und dass die Maßnahmen, um es zur Dichtungssprache zu kultivieren, „mitten in der Laufbahn“373 steckten. Nicht zu Unrecht werden diese Äußerungen allgemein als Zeichen von Friedrichs Unkenntnis über die deutsche Literatur gelesen.374 Dabei sollte man allerdings nicht übersehen, dass es für ihn durchaus auch konzeptionelle Gründe gab, die nationale Dichtung auf eine Art ewiges Anfangsstadium festzulegen. So ordnete er seine These in De la littérature allemande in ein kulturtheoretisches Schema ein, in dem es gar keine vollständige entwickelte Literatur geben konnte, solange ein Land sich noch auf die kriegerische Domäne konzentrierte. Der Zustand der deutschen Literatur bewies für den König insofern die Regel, daß man in allen Ländern mit dem Notwendigen anfängt und erst nachher das Angenehme hinzufügt. Die römische Republik fängt damit an, sich zu bilden; dann kämpft sie, um Länder zu bekommen; dann sucht sie dieselben anzubauen; und nicht eher, bis sie nach den Punischen Kriegen eine feste und dauerhafte Verfassung erhalten, entsteht der Geschmack für die Künste, und gelangt die lateinische Sprache zu einiger Vollkommenheit.375

Für Friedrich bedeutete ein Entwicklungsstand, in dem ein Staat dem Krieg noch mehr Aufmerksamkeit schenkte als der Kultur, dabei keinen Nachteil. Ganz im Gegenteil: Schon seine Vorliebe für Sparta in den Vers de Sa Majesté le Roi de Prusse legte davon Zeugnis ab. Noch genauer wurde in seinen politischen Schrif-

Preußen nach Sachsen gekommen.“ ([Gottsched,] ([Gottsched,] Vers de Sa Majesté le Roi de Prusse [Rezension]. In: NAG, Bd. 8, Februar 1758, St. 4, S. 126, Anm. *). Gottsched war vor den preußischen Werbern geflohen, die den groß gewachsenen Mann für die Elitetruppe der Langen Kerls zu rekrutieren drohten (Birgfeld, Krieg und Aufklärung, Bd. 1, S. 226 f.). 373 Friedrich II. von Preußen, Über die deutsche Literatur, S. 60–62. 374 Vgl. exemplarisch Theodor Schieder, Friedrich der Große – eine Integrationsfigur des deutschen Nationalbewußtseins im 18. Jahrhundert? In: Nationalismus in vorindustrieller Zeit, hg. von Otto Dann, München 1986, S. 113–128, hier: S. 12 f. Für eine differenziertere Lektüre plädiert Daniel Fulda, De la littérature allemande. Friedrich II. von Preußen, das deutsche Publikum und die Herausbildung des modernen Literaturbegriffs. In: Germanisch-romanische Monatsschrift N. F. 63 (2013), S. 225–243. 375 Fulda, De la littérature allemande, S. 61.  



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ten deutlich, dass er einen gewissen historischen Rückstand gerade für Preußen als politischen Vorzug betrachtete. Bereits in seiner brandenburgischen Geschichte, den Mémoires pour servir à l’histoire de la maison de Brandebourg (1747–1749), hatte er die Unterschiede zwischen dem eigenen Land und anderen europäischen Mächten damit begründet, dass „wir der Barbarey einige Jahrhunderte länger zinsbar gewesen sind, als die mittäglichen Völker“,376 als die Nationen des europäischen Südens also. Dabei legte er diese kulturelle Verspätung mithilfe der Kategorien von Aufstieg und Niedergang aus, die er 1734 in den Considérations sur les causes de la grandeur des Romains et de leur décadence von Montesquieu kennengelernt hatte, und gelangte dabei zu einer vorteilhaften Bewertung. Ebenso sind die anderen politischen Schriften Friedrichs II. von den Denkfiguren der Considérations durchzogen. Für den preußischen Herrscher bildete Montesquieus Schrift über die Römer eine Art Logbuch,377 an dem er in unablässig wiederholter Lektüre sein politisches Denken ausbildete.378 In einer erhellenden Studie hat der Historiker Ullrich Sachse gezeigt, wie der König das analytische Schema der Considérations aufs europäische Gefüge übertrug, um daran seine politische Strategie herauszubilden. 1738 zeichnete Friedrich dementsprechend in eigenen Considérations, in einer Schrift mit dem Titel Considérations sur l’état présent du corps politique de l’Europe,379 das Bild einer drohenden „zivilisatorischen Erosion“380 in Europa. Indem er das Vorgehen der zentralen Akteure Frankreich und Österreich auf abstrakte Prinzipien („principes permanents“381) zurückführte, glaubte er bei beiden Ländern besorgniserregende Anzeichen von Dekadenz zu entdecken. So sei

376 [Friedrich II. von Preußen,] Von den Sitten, den Gewohnheiten, den Manufakturen, und dem Fortgange des menschlichen Verstandes, in den Künsten und Wissenschaften. In: Nachrichten zur Geschichte des Hauses Brandenburg. Nebst einer Vorrede, und vier besondern Abhandlungen, von der Religion, den Sitten, der Regierungsart im Brandenburgischen, und den Bewegungsgründen, Gesetze einzuführen, oder abzuschaffen. […] Mit allergnädigsten Privilegiis, Berlin 1751, S. 246–295, hier: S. 296. Es handelt sich hier um die königlich autorisierte Übersetzung ([Gustav Leithäuser,] Verzeichnis sämtlicher Ausgaben und Übersetzungen der Werke Friedrichs des Großen, Königs von Preußen. In: Miscellaneen zur Geschichte König Friedrichs des Großen, Berlin 1878, S. 1–101, hier: S. 26 f.). 377 Vgl. Senarclens, Missverständnisse – Friedrich der Große als Leser von Montesquieus Considérations sur les causes de grandeur des Romains et de leur décadence (1734), S. 161. 378 Vgl. Kunisch, Friedrich der Große, S. 102. 379 Eine Einschätzung zur intendierten Funktion dieser Schrift gibt Joachim Kunisch: Friedrichs Considérations sur l'état présent du corps politique de l’Europe seien zunächst als Flugschrift konzipiert gewesen, von deren Publikation der Kronprinz dann jedoch aufgrund des brisanten politischen Inhalts Abstand genommen habe (Kunisch, Friedrich der Große, S. 117). 380 Sachse, Cäsar in Sanssouci, S. 100. 381 Friedrich II. von Preußen, Considérations sur l’état présent du corps politique de l’Europe. In: Œuvres de Frédéric le Grand, Bd. 8, S. 1–30, hier: S. 3.  

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Frankreich nur noch auf Eroberungen versessen: Man strebe danach, „d’envahir tout pour s’aggrandir sans cesse“,382 und dabei mache man auch vor den Territorien des Alten Reiches keinen Halt.383 Diese Situation berge umso größere Risiken, als die im eigenen Land regierenden Habsburger über ihren geheimen Ambitionen jegliche militärische Ordnung („ordre parmi les troups“384) hätten schleifen lassen. Auf der Grundlage dieser Einschätzungen entwarf Friedrich II. für das Alte Reich ein düsteres Zukunftsszenario, in dem sich die Geschichte Roms mit dem Übergang von der freien Republik in eine tyrannische Alleinherrschaft wiederholen würde. Demnach strebe man in Wien danach, nach dem Tod des Kaiser Karls VI. mithilfe der Pragmatischen Sanktion ein Erbkaisertum („puissance héreditaire“) zu errichten und sich auf diesem Weg der demokratischen Regierung („gouvernement démocratique“) der Kurfürsten zu entledigen, obwohl diese in Deutschland seit jeher („de temps immémorial“) bestanden habe.385 Damit sagte Friedrich eine Wiederkehr der beiden Entwicklungen voraus, die das Römische Reich laut Montesquieus Analyse in den Niedergang getrieben hatten: eine blinde Expansionswut in Frankreich und die Formierung einer Autokratie im Alten Reich. Neu war an seinem Ansatz, dass er diese nationalen Schieflagen zusammenzog, um darüber eine Bedrohung für das gesamte europäische Staatengefüge heraufzubeschwören. Schon in der Gegenwart, notierte der Preuße, sei Europa fundamental aus dem Gleichgewicht („hors de son équilibre“386) geraten. Zwischen den Zeilen hielt diese Analyse indes eine funktionale Leerstelle offen, in die das friderizianische Preußen eintreten konnte. Als dezidiert junger Staat, der erst 1701 zum Königtum ausgerufen worden war,387 war das eigene Land in Friedrichs Augen noch nicht vom Abwärtsstrudel bedroht, der die Großmächte Frankreich und Habsburg erfasst habe. Aus diesem Grund hielt der Kronprinz Preußen für prädestiniert dafür, sowohl Europa als auch das Alte Reich

382 Friedrich II. von Preußen, Considérations sur l’état présent du corps politique de l’Europe, Bd. 8, S. 21. 383 Friedrich II. von Preußen, Considérations sur l’état présent du corps politique de l’Europe, S. 18. 384 Friedrich II. von Preußen, Considérations sur l’état présent du corps politique de l’Europe, S. 7. Vgl. Sachse, Cäsar in Sanssouci, S. 102. 385 Friedrich II. von Preußen, Considérations sur l’état présent du corps politique de l’Europe, S. 16. Vgl. auch die präzise Lektüre von Kunisch, Friedrich der Große, S. 120–124. 386 Friedrich II. von Preußen, Considérations sur l’état présent du corps politique de l’Europe, S. 26. 387 Steffen Martus, Aufklärung. Das deutsche 18. Jahrhundert – ein Epochenbild, Berlin 2015, S. 23–32.

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durch ein energisches militärisches Eingreifen zu retten.388 Damit übertrug er das Schema von Aufstieg und Niedergang, das Montesquieu in den Considérations anhand der römischen Antike entwickelt hatte, sorgfältig auf das europäische Gefüge. Während das historische Stadium der älteren Mächte bei ihm dem verfallenden Rom entsprach, verglich er auf das aufstrebende Preußen mit der römischen Republik, die für ein Staatswesen im Aufstieg stand. Ein entscheidender Faktor für diese Analogie bestand dabei in der Engführung von kriegerischer Stärke und Aszendenz, die Friedrich II. an seinem eigenen Land ebenso zu beobachten glaubte wie Montesquieu am frühen Rom. Dementsprechend fixiert war der König darauf, die von seinem Vater angelegte Kriegsdisziplin in Preußen kontinuierlich auf hohem Standard zu halten.389 Furchtbesetzt war für ihn hingegen die Vorstellung, sein Land könne infolge zu rascher Siege den klimaktischen Punkt überschreiten und zusammen mit der militärischen Ordnung auch den politischen Erfolg einbüßen. Nachdem Friedrich II. 1748 endgültig die Provinz Schlesien zugesprochen bekommen hatte, widmete er exakt diesem Risiko eine Ode mit dem Titel „Aux Prussiens“390. Als Adressaten fungierten mithin die preußischen Untertanen, die den Text jedoch erst 1760 zu Gesicht bekamen, als die Gedichte des Königs (gegen seinen Willen) in einer Sammlung mit dem Titel Poësies diverses an die Öffentlichkeit gelangten.391 Vor allem vergewisserte sich Friedrich also selbst seiner politischen Agenda, wenn er die Untergebenen in diesem Gedicht ermahnte, sich nach den jüngsten Kriegserfolgen auf gar keinen Fall zurückzulehnen:

388 Überzeugend herausgearbeitet von Sachse, Cäsar in Sanssouci, S. 121 sowie S. 179. 389 Sachse, Cäsar in Sanssouci, S. 129. 390 Zur Datierung vgl. den Anmerkungsapparat in Friedrich II. von Preußen, Werke des Philosophen von Sanssouci. Oden, Episteln, Die Kriegskunst Œuvres du Philosophe de Sans-Souci. Odes, Épîtres, L’art de la guerre. Aus dem Französischen übersetzt von Hans W. Schumacher (Potsdamer Ausgabe, Werke in 12 Bdn., hg. von Gérard Laudin, Günther Lottes und Brunhilde Wehinger, Bd. 7, hg. von Jürgen Overhoff und Vanessa de Senarclens), Berlin 2012, S. 543. 391 Vgl. Gerhard Knoll, D’Argens als Herausgeber von Friedrichs Dichtungen. Von den Oeuvres du Philosophe de Sans-Souci zu den Poésies diverses. In: Der Marquis d’Argens, hg. von HansUlrich Seifert und Jean-Loup Seban, Wiesbaden 2004, S. 57–75 sowie Thomas Biskup, Die Schlacht von Sanssouci. Der roi-philosophe und die klandestine Literatur im Siebenjährigen Krieg. In: Krieg und Frieden im 18. Jahrhundert. Kulturgeschichtliche Studien, hg. von Stefanie Stockhorst, Hannover 2015, S. 75–92; zur Funktionalisierung, die dieser königliche Gedichtband anschließend in der deutschen Literatur des Siebenjährigen Kriegs erhielt, vgl. Annika Hildebrandt, Unter Kriegsdichtern. Die Poësies diverses Friedrichs II. in der Buchgestaltung der Berliner Aufklärer. In: Kupferstich und Letternkunst. Buchgestaltung im 18. Jahrhundert, hg. von Peter-Henning Haischer, Charlotte Kurbjuhn, Steffen Martus und Hans-Peter Nowitzki, Heidelberg 2016, S. 361–393.

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Völker, deren Wagemut zum Ruhme führte, Helden, gegürtet mit dem Lorbeer, der den Sieg verleiht, Mars’ geliebte Kinder, teilhaftig seiner Gunst, ihr müsst fürchten, dass die Trägheit, Stolz und Verweichlichung eure Sitten verderben. (Peuples que la valeur conduisit à la gloire, Héros ceints des lauriers que donne la victoire, Enfants chéris de Mars, comblés de ses faveurs, Craignez que la paresse, L’orgueil et la mollesse Ne corrompent vos mœurs.)392

Um der historischen Kausalkette zu entgehen, die bereits die Griechen von militärischen Erfolgen („grandeurs“) in träge Feigheit („lacheté“) geführt habe,393 sei laut dem König der Fehler der antiken Vorgänger zu vermeiden, sich am Ziel angekommen zu glauben und darüber die kriegerische Disziplin zu vernachlässigen. Das einzige Mittel gegen einen drohenden Niedergang bestehe darin, die Anstrengungen auf Dauer zu stellen. „Soutenez votre ouvrage, ou votre gloire expire“, mahnte Friedrich seine Mitstreiter: „[H]elft eurem Werk oder euer Ruhm geht dahin.“394 Diesen Auftrag fasste er in ein bemerkenswertes Bild. Nicht der Blitz, der nur ein einziges Mal aufleuchte, solle der Maßstab für das Handeln der Untertanen sein. Stattdessen entwarf der König eine kollektive Version der wohl einschlägigsten absolutistischen Herrschaftsikonographie, indem er den Preußen zur Orientierung die Sonne vorhielt. Denn das Zentralgestirn beweise seine Macht in einem ewigen Lauf („cours éternel“), der sich ewig gleichbleibe: Das ist, ihr Preußen, euer erhabenes Vorbild. Haltet wie sie euren neuen Ruhm am Leben, und ohne euch bei der ersten Arbeit aufzuhalten, beweist der Welt, dass eine fruchtbare Tugend neue Tugenden gebiert.

392 Friedrich II. von Preußen, Ode VII, Aux Prussiens; deutsche Übersetzung von Hans W. Schumacher. In: Werke des Philosophen von Sanssouci (Potsdamer Ausgabe, Bd. 7), S. 74–79, hier: S. 74 f. 393 Friedrich II. von Preußen, Ode VII, Aux Prussiens. In: Werke des Philosophen von Sanssouci (Potsdamer Ausgabe, Bd. 7), S. 76. 394 Friedrich II. von Preußen, Ode VII, Aux Prussiens; deutsche Übersetzung von Hans W. Schumacher. In: Werke des Philosophen von Sanssouci (Potsdamer Ausgabe, Bd. 7), S. 78 f.  



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(Tel est, ô Prussiens, votre auguste modèle; Soutenez comme lui votre gloire nouvelle, Et sans vous arrêter à vos premiers travaux, Sachez prouvez au monde Qu’une vertu féconde En produit de nouveaux.)395

Zusammengefasst, war es für Friedrich mithin entscheidend, den preußischen Staat vorerst auf den Krieg festzulegen: Jedes Abrücken vom militärischen Primat war gemäß seiner Lektüre von Montesquieus Considérations mit einem Vorrücken in einer linearen Entwicklungslogik verbunden, die wie bei den Römern teleologisch in den Niedergang führte. Genau diese Vorstellung spiegelte sich in der Identifikation mit Sparta, die er im Januar 1758 in seinen Vers de Sa Majesté le Roi de Prusse gegenüber Gottsched formulierte. Da der Erfolg des eigenen Lands vom Krieg abhänge – so Friedrichs Idee –, sei eine Literatur wünschenswert, die sich in den Dienst seiner militärischen Stärke stelle. Auch in der Poesie sollte Preußen demnach seinen spartanischen Charakter fest im Blick behalten. Athen befand sich woanders – und das sollte in den Augen des Königs vorerst auch so bleiben. Friedrichs Forderung nach einer heroischen Schlachtenliteratur diente also dem Zweck, die heimischen Autoren für das Projekt des preußischen Aufstiegs in Verantwortung zu nehmen. Mit Gottsched hatte der König jedoch den falschen Adressaten für diesen Auftrag ausgewählt. Denn mit dem Projekt des Dichtungslehrers, im Sinne der humanistischen Antibarbaries die Fortgeschrittenheit der deutschen Kultur zu beweisen,396 war ein solches Anliegen inkompatibel. Dementsprechend harsch fiel Gottscheds Replik aus. Bei einer zweiten Audienz im Kriegslager überreichte er Friedrich feierlich eine „Allerunterthänigste Antwort“ auf das an ihn gerichtete Gedicht, welche die vorgetragene Kulturdiagnose des Königs auf den Kopf stellte. Zwar entwarf auch Gottsched das Bild einer Staatsentwicklung, in der Kunst auf Krieg folge: „Der Völker Tapferkeit ist ihres Ruhmes Wiege, / Der Künste Flor folgt auf die Siege.“ Dabei ließ er die Stadien von Krieg und Kunst jedoch in die gewohnte Rangfolge zurückschnellen. In der Alternative zwischen Sparta und Athen schlug Gottsched sich klar auf die Seite der Kulturrepublik, indem er vom attischen Ursprung der Künste schwärmte: Die Künste keimten erst nach langen Bürgerkriegen; Nachdem Athen verjüngt aus seinem Schutt gestiegen.

395 Friedrich II. von Preußen, Ode VII, Aux Prussiens; deutsche Übersetzung von Hans W. Schumacher. In: Werke des Philosophen von Sanssouci (Potsdamer Ausgabe, Bd. 7), S. 76 f. 396 Vgl. Fulda, Zwischen Gelehrten- und Kulturnationalismus, S. 273 f.  



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Perikles baut und pflanzt, und sein Geschmack wird fein; Nun stellt sich Geist und Weisheit ein! […] Kurz, jede Kunst hob sich empor, Indem der Heldenmut sich in Athen verlor.397

Einen analogen Fortschritt vom Krieg zur Kultur zeichnete Gottsched auch für Rom und Deutschland nach, wo er den Aufstieg der Künste bereits unter Karl dem Großen einsetzen ließ: „Der große Sieger hilft die Barbarey besiegen; / Liebt auch der rauhen Dichter Rohr; / Schreibt selbst der Sprache Regeln vor“398. Unter diesen Vorzeichen konnte der Leipziger Autor Friedrichs Einschätzung nicht auf sich beruhen lassen, dass die deutsche Dichtung erst in ihren Anfängen stecke. So führte er den König in einem Schnelldurchlauf durch die nationale Literaturgeschichte, um den Parcours in Preußen enden zu lassen. Tatsächlich stehe das Land schon lange in „Apollons Gunst“, belehrte Gottsched den König: Unter der Regentschaft seines Vaters hätten bereits Friedrich Rudolf Ludwig Canitz, Johann von Besser und Johann Valentin Pietsch „den deutschen Helikon“ bereichert. Mithin lebe Friedrich II. längst in seinem eigenen Athen, das er nur noch zur Kenntnis nehmen müsse und fortan durch seinen „holde[n] Wink“399 befördern solle. Der Gedichtaustausch zwischen Friedrich II. und Gottsched mündete somit in einem eklatanten Missverständnis. Als Kleist die zitierten Antwortverse gegen Ende Januar im Neuesten aus der anmuthigen Gelehrsamkeit zu Gesicht bekam, notierte er so knapp wie derb: „Gottsched ist ein rechtes Pecus.“400 In der Tat hatte der Leipziger Dichtungslehrer das Identifikationsangebot, das der König in der Diskurslogik der Antiromanitas formuliert hatte, an seinem antibarbarischen Denksystem abprallen lassen. Wo Friedrich II. um die Attraktivität des kriegerischen Spartas geworben hatte, rief Gottsched unbeirrt nach einem kunstaffinen Athen. Diese Uneinigkeit hinderte den sächsischen Dichtungslehrer dennoch nicht an dem Versuch, aus der Begegnung symbolisches Kapital zu schlagen. Seit der Februar-Ausgabe des Neuesten aus der anmuthigen Gelehrsamkeit kam die Zeitschrift über den gesamten Jahrgang immer wieder auf das Treffen zurück. So hielt Gottsched sein Publikum auf dem Laufenden darüber, was in Europa über seine

397 [Gottsched,] Allerunterthänigste Antwort, an Se. Königl. Majestät in Preußen. In: NAG, Bd. 8, Februar 1758, St. 6, S. 144. 398 [Gottsched,] Allerunterthänigste Antwort, an Se. Königl. Majestät in Preußen. In: NAG, Bd. 8, Februar 1758, St. 6, S. 147. 399 [Gottsched,] Allerunterthänigste Antwort, an Se. Königl. Majestät in Preußen. In: NAG, Bd. 8, Februar 1758, St. 6, S. 150–152. 400 Kleist an Gleim, 19. Januar 1758. In: Ewald von Kleist’s Werke, Bd. 2, S. 471 f., hier: S. 472.  

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Unterhaltung mit dem König spekuliert wurde.401 Und auch sonst erhöhte sich im Jahrgang 1758 die Zahl der Beiträge, die sich preußischen Neuigkeiten widmeten. Mal lieferte Gottsched Abdrucke und Übersetzungen von Gedichten, die als (angebliche) Erzeugnisse Friedrichs II. und Voltaires in Umlauf gekommen waren,402 mal wies er auf aktuelle Projekte der preußischen Historiographie hin.403 Innerhalb seiner politischen Spielräume bemühte Gottsched sich also, sein tête-à-tête mit dem Herrscher in Erinnerung zu halten. Zwar schloss er aus, die Kriegserfolge eines Monarchen zu rühmen, der seine eigene Wirkungsstätte Sachsen besetzt hielt.404 Doch auch schon mit der publizistischen Auskostung seiner Audienz erregte er das Missfallen derjenigen Dichter, die sich aktiv mit Friedrich identifizierten. Exemplarisch dafür war die Reaktion von Kleist. Dieser erging sich im Januar 1758 in einer Tirade über die soeben erschienenen Verse, die der „Tölpel“ an „unsern großen Friedrich“ gerichtet habe. Der Gedichtaustausch war für ihn Grund genug, zum Angriff überzugehen: Nachdem der König sich „aus Spaß“ mit Gottsched „abgegeben“ habe, sei der Leipziger Professor es „wieder werth […], daß man Satiren auf ihn macht“405. Eine solche lokalpatriotische Entrüstung kann man Lessing gewiss nicht unterstellen. Der gebürtige Sachse entzog sich stets Gleims Forderungen nach Gedichten, mit denen er beweisen solle, dass er „den preußisch. Friedrich so lieb haben woll[e], als den sächsischen“406. Gegenüber Kleist scherzte er nach der Audienz im Kriegslager sogar, Gott möge verhindern, „daß unser Gleim seinen Patriotismum auch so weit treibt, daß ihm Gottsched durch diese Bekanntschaft

401 Zum Beispiel sei ein in Paris erschienener Precis d’une Lettre de Mr. Gottsched de Leipzig, à Mr. de Voltaire eine Fälschung; Gottsched betonte, er habe kein Resumé des Gesprächs an Voltaire gesandt ([Johann Christoph Gottsched,] Precis d’une Lettre de Mr. Gottsched de Leipzig, à Mr. de Voltaire. In: NAG, Bd. 8, Mai 1758, St. 6, S. 389–398). In dieser Kritik verschaffte sich Gottsched zugleich die Gelegenheit, von Übersetzungen seiner poetischen Korrespondenz mit Friedrich II. zu berichten, die in der Zwischenzeit neu erschienen waren (S. 395–398). 402 Vgl. [Johann Christoph Gottsched,] An Epistle, to Mr. Voltaire, in Answer to his Scandalous Verses. In: NAG, Bd. 8, März 1758, St. 3, S. 188–193 sowie [Johann Christoph Gottsched,] Reponse de S. M. le Roi de Prusse, à Mr. de Voltaire. In: NAG, Bd. 8, März 1758, St. 7, S. 214–218. 403 [Johann Christoph Gottsched,] Supplément aux Mémoires pour servir à l’Histoire de BrandeREDE RIC G UILLAUME UILL AUME Roi de Prusse […]. In: NAG, Bd. 8, bourg, concernant la Vie & l’Histoire de F REDERIC Februar 1758, St. 1, S. 85–94; [Johann Christoph Gottsched,] Nachricht von Herrn Professor Danovs in Danzig Vorhaben, einige der noch ungedruckten preußischen Geschichtsschreiber und Urkunden auf Vorschuß ans Licht zu stellen. In: NAG, Bd. 8, März 1758, St. 14, S. 238–240. 404 Seine Zurückhaltung begründet Gottsched dem König gegenüber höflich so: „Dein siegreich Schwert ist längst umlaubt.“ [Gottsched,] Vers de Sa Majesté le Roi de Prusse [Rezension]. In: NAG, Bd. 8, Februar 1758, St. 4, S. 126. 405 Kleist an Gleim, 19. Januar 1758. In: Ewald von Kleist’s Werke, Bd. 2, S. 472. 406 Gleim an Lessing, 27. April 1757. In: FLA, Bd. 11/1, S. 184.

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respectabler wird“. Nichtsdestoweniger sah er in dem öffentlichen Treffen ebenso wie Kleist eine Steilvorlage, um literaturpolitisch gegen Gottsched vorzugehen. Nun sei die richtige Zeit gekommen, „neue und blutigere Satyren wider ihn zu machen, als man noch je gemacht hat“407. Somit stellte sich um den Jahreswechsel 1757/58 eine Situation ein, in der die Analogie zwischen Preußen und Sparta in aller Munde war. Friedrich II. selbst hatte sie in einer seltenen Adresse an die deutschen Poeten im Zeichen seiner Erfolge im Siebenjährigen Krieg ins Spiel gebracht, und Gottsched hatte sie stolz zurückgewiesen. Vor diesem Hintergrund scheint es plausibel, dass Lessing und Gleim genau auf diese Konstellation reagierten, als sie die Preussischen Kriegslieder sofort nach dem Publikwerden des betrachteten Gedichtaustauschs zur Poesie eines neuen Spartas erhoben. Dabei eröffnete sich ihnen angesichts der verfehlten Annäherung zwischen dem König und dem sächsischen Dichter die Gelegenheit, der Berliner Aufklärung ein antikes Label zu geben, das eine politische Standortbestimmung mit einer poetologischen verband. Am differenziertesten wird diese Positionierung im „Vorbericht“ zu der Buchausgabe von Gleims Preussischen Kriegsliedern von einem Grenadier ausgearbeitet, an die Lessing sich wohl noch im Januar 1758 machte.408 Dieser Text, der anonym erschien, soll deshalb in einem letzten Schritt in den Blick genommen werden. Interessant ist dabei die dichtungstheoretische Volte, die Lessing im Anschluss an den Sparta-Diskurs schlug. So bahnte er sich in seinem „Vorbericht“ einen dezidiert gattungstheoretischen Pfad, um zur Analogie zwischen dem preußischen Grenadier und dem spartanischen Kriegslyriker Tyrtaios zu gelangen, die er bereits in Kritiken zu Einzeldrucken von Gleims Preussischen Kriegsliedern erprobt hatte. So warf er die Frage auf, wie sich das „poetische[ ] Genie“ am ehesten beschreiben lasse, aus dem der einfache Soldat seine „eigene Gattung von Ode gemacht“409 geformt habe. Dabei prüfte Lessing zunächst die antiken Dichter, die in der Frühen Neuzeit Pate für die heroische Ode standen, der die Grenadierlieder angesichts des kriegerischen Sujets grob zugeordnet werden konnten. Weder beim Römer Horaz, der für eine Lyrik des mittleren bis hohen Tons stand, noch beim Griechen Pindar mit seinen erhabenen Hymnen wurde der

407 Lessing an Kleist, 14. März 1758. In: FLA, Bd. 11/1, S. 285–287, hier: S. 286. 408 Am 6. Februar konnte Lessing bereits nach Halberstadt melden, dass er sich in Vorbereitung auf den „Vorbericht“ auf die Suche nach Informationen über die „alten Kriegslieder“ gemacht habe; und dabei habe er sowohl Ausschau nach den „Kriegsliedern der Barden und Skalden“ als auch der „Griechen“ gehalten (Lessing an Gleim, 6. Februar 1758. In FLA, Bd. 11/1, S. 271–273, hier: S. 272). 409 [Lessing,] Vorbericht. In: [Gleim,] Preussische Kriegslieder, unpag.

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Vorredner jedoch recht fündig.410 Horaz könne allenfalls als Vergleichsgröße für den Grenadier dienen, was seinen „Ruhm […], als ein lyrischer Dichter überhaupt“,411 betreffe: Die Lieder eines „ungekünstelten Krieger[s]“ besäßen ganz andere „Schönheiten“ als die horazischen Carmina, die „den feinsten Hofmann“ voraussetzten. Ebenso gering seien die äußerlichen Ähnlichkeiten, wenn man die Kriegslieder neben die pindarischen Oden halte. Gemeinsam sei beiden lediglich eine starke Affektivität, die den Gesängen „das anhaltende Feuer“ verleihe. Auf der Spur dieses Affekts gelangte Lessing schließlich zum gesuchten Wahlverwandten für Gleims Grenadier, den er nach dem vorher Ausgeführten nicht zufällig in der spartanischen Literatur fand. So heißt es: „Von dem einzigen Tyrtäus könnte er die heroischen Gesinnungen, den Geitz nach Gefahren, den Stolz für das Vaterland zu sterben, erlernt haben, wenn sie einem Preussen nicht eben so natürlich wären, als einem Spartaner“. Daraus leite sich ein starker Affekt ab, den Lessing wie folgt charakterisierte: Und dieser Heroismus ist die ganze Begeisterung unsers Dichters. Es ist aber eine sehr gehorsame Begeisterung, die sich nicht durch wilde Sprünge und Ausschweifungen zeigt, sondern die wahre Ordnung der Begebenheiten zu der Ordnung ihrer Empfindungen und Bilder macht.412

Die Analogie, die dieser implikationsreichen Passus entwirft, lässt sich auf zwei Ebenen lesen. Erstens kam Lessing hier unumwunden auf das Identifikationsangebot zurück, das Friedrich II. in den Vers de Sa Majesté le Roi de Prusse formuliert hatte: Die Preussischen Kriegslieder wurden als Dichtungen aus dem Geiste eines modernen Spartaners markiert. Diese These mobilisierte Logiken von Inklusion und Exklusion, die der Berliner Kritiker produktiv machen konnte, um ein Profil für die preußische Literatur zu entwerfen. So schien sich in den Liedern des einfachen Soldaten zu bestätigen, was der König über den kriegerischen Charakter seiner Untertanen hatte verlautbaren lassen. Die Grenzen der politischen Gemeinschaft definierten zugleich die Grenzen einer literarischen Gemeinschaft, und diese distanzierte sich klar von Gottscheds Geltungsansprüchen: Neben Lessings „Vorbericht“ musste dessen Replik auf Friedrich II. als die verständnislose Reaktion eines Nicht-Preußen gelten, der für die Kriegsbegeisterung des neuen Spartas keinen Sinn hatte. Eine gültige Antwort auf Friedrichs Ruf nach einer Poesie des Siebenjährigen Kriegs wurde mithin an die preußische Literatur

410 Vgl. Hans-Henrik Krummacher, Principes Lyricorum. Pindar- und Horazkommentare seit dem Humanismus als Quellen der neuzeitlichen Lyriktheorie. In: Ders., Lyra. Studien zur Theorie und Geschichte der Lyrik vom 16. bis zum 19. Jahrhundert, Berlin, Boston 2013, S. 3–76. 411 Hier und im Folgenden: [Lessing,] Vorbericht. In: [Gleim,] Preussische Kriegslieder, unpag. 412 [Lessing,] Vorbericht. In: [Gleim,] Preussische Kriegslieder, unpag.

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gebunden. Damit ordnete Lessings Text der Berliner Aufklärung das Erkennungszeichen des Spartanischen zu, das von der Buchgestaltung der Preussischen Kriegslieder noch zusätzlich hervorgehoben wurde: Das Frontispiz, das der Kupferstecher Johann Wilhelm Meil in Absprache mit Lessing entworfen hatte,413 setzte den preußischen Grenadier in der antikisierenden Pose eines griechischen Soldaten in Szene (Abb. 1). Zugleich bettete Lessing die „heroischen Gesinnungen“ des neuen Tyrtaios in eine poetologische Argumentation ein, die eine klare gattungspoetische Pointe setzte. So erhielt das spartanische Kriegsethos in diesem Paratext eine odentheoretische Wendung. Montesquieu hatte das politische Prinzip der antiken Republiken in einer Liebe zum Vaterland verortet, die sie auf dem Schlachtfeld zum bedingungslosen Einsatz ihres Lebens angetrieben habe (Kap. I.2.3.1.2). Dieser „Stolz für das Vaterland zu sterben“ rückte auch in Lessings Beschreibung des Grenadiers ins Zentrum; den Vergleichspunkt zwischen alten und neuen Spartanern bildete jedoch nicht die Regierungsform: Bei Lessing glichen Preußen und Lakedämonier einander vielmehr im Hinblick auf die Kriegsleidenschaft. „Und dieser Heroismus ist die ganze Begeisterung unsers Dichters“, heißt es knapp im „Vorbericht“ der Preussischen Kriegslieder. In geradezu lakonischer Kürze schloss Lessing hier den patriotischen Enthusiasmus, der im Mittelpunkt der neuerwachten Sparta-Faszination in der Mitte des 18. Jahrhunderts stand, mit der Begeisterung kurz, die in der Frühen Neuzeit als dichtungstheoretischer Schlüsselbegriff der Odentheorie etabliert war.414

413 Vgl. Doris Schumacher, Der Siebenjährige Krieg in der bildenden Kunst. Von den Anfängen durch Johann Wilhelm Ludwig Gleim und Friedrich II. bis zu den populären Illustrationsfolgen des späten 18. Jahrhunderts. In: „Krieg ist mein Lied“. Der Siebenjährige Krieg in den zeitgenössischen Medien, hg. von Wolfgang Adam und Holger Dainat, Göttingen 2007, S. 240–267, hier: S. 248. 414 Vgl. Hans-Henrik Krummacher, Odentheorie und Geschichte der Lyrik im 18. Jahrhundert. In: Ders., Lyra. Studien zur Theorie und Geschichte der Lyrik vom 16. bis zum 19. Jahrhundert, Berlin, Boston 2013, S. 77–124, hier: S. 99.

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Abb. 1: [Johann Wilhelm Ludwig Gleim,] Preussische Kriegslieder von einem Grenadier in den Feldzügen 1756 und 1757 (1758), Frontispiz von Johann Wilhelm Meil.

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Im Vergleich zwischen Preußen und Sparta konzentrierte sich damit eine doppelte Programmatik. Nicht nur wurde eine Literaturpartei aus Berlin profiliert, indem sie sich als politische Partei im Siebenjährigen Krieg definierte. Mit einem ausgestellten Bekenntnis zu den antiken Analogien Friedrichs II. entzogen Lessing und Gleim demonstrativ Gottsched die literaturpolitische Autoritätsposition, die dieser sich aus seiner Antwort auf die Vers de Sa Majesté le Roi de Prusse erhofft hatte. Zugleich bahnte Lessing sich mithilfe der Sparta-Referenz einen Weg, um die Berliner Aufklärung als Ausgangspunkt für eine heroische Poesie zu bestimmen, die sich ausdrücklich der lyrischen Gattung verschrieb. Diese Assoziation zwischen Krieg und Lyrik entfaltet spätestens dann ihre Brisanz für die Rivalitäten im literarischen Feld, wenn man sie im Zusammenhang mit der zweiten antiken Analogie für Gleims Preussische Kriegslieder liest, den Gesängen der germanischen Barden. Denn wie in einem nächsten Schritt gezeigt werden soll, arbeitete Lessing im Rekurs auf das deutsche Altertum eine Poetik des Kriegslieds aus, die darauf zielte, die Nationalepen aus Leipzig und Zürich durch eine neuartige Alternative aus Berlin zu besetzen: durch eine nationale Lyrik.

3.2 Barden: Gattungswechsel (Lessing, Bodmer, Addison) Während Friedrich II. in den ersten Jahren des Siebenjährigen Krieges von Sieg zu Sieg eilte, wartete Bodmer vergeblich darauf, dass einer der preußischen Dichter sich der Erfolge auf eine für ihn überzeugende Weise annahm. „Ich höre nicht, daß Ramler oder Gleim oder Lessing oder einer von ihrem Geiste den Preußischen Cyrus singe“,415 schrieb er im Januar 1758 an seinen Schweizer Landsmann, den Arzt und Philosophen Johann Georg Zimmermann. Und er fragte maliziös: „Muß man nicht glauben, jene können es nicht, wenn sie es nicht thun?“416

415 Johann Jakob Bodmer an Johann Georg Zimmermann, 25. Januar 1758. In: Eduard Bodemann, Johann Georg Zimmermann. Sein Leben und bisher ungedruckte Briefe an denselben von Bodmer, Breitinger, Geßner, Sulzer, Moses Mendelssohn, Nicolai, der Karschin, Herder und G. Forster, Hannover 1878, S. 165 f., hier: S. 166. Beide Briefschreiber wussten, dass ihr gemeinsamer Freund Wieland zu dieser Zeit an einem Epos auf den „menschlichen Helden“ Cyrus arbeitete, das als Parabel auf den Preußenkönig entworfen war (Dieter Martin, „Der Held aus Persis“. Wielands Cyrus in Bodmers Sicht. In: Wieland-Studien 2 (1994), S. 11–32, hier: S. 11 f.). Dieser Text erschien 1759 (Christoph Martin Wieland, Cyrus, Zürich 1759). Zum Cyrus vgl. die aufschlussreiche Lektüre von Cornelis van der Haven, Patriotism and Bellicism in German and Dutch Epics of the Enlightenment. In: Arcadia 47:1 (2012), S. 54–77, hier: S. 62–67. 416 Bodmer an Zimmermann, 25. Januar 1758. In: Bodemann, Johann Georg Zimmermann, S. 166.  



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Beim Formulieren dieser Spitze hatte Bodmer die Preussischen Kriegslieder nicht übersehen, mit denen Gleim nun schon seit einigen Monaten die Gefechte der eigenen Kriegspartei begleitete. Denn auch nach dem unstreitigen Erfolg, den Gleim und Lessing 1758 mit ihrer Sammlung der Grenadierlieder gefeiert hatten,417 hielt der Zürcher Dichtungslehrer unbeirrt daran fest, dass „unsere Poeten […] schwach von den Helden der gegenwärtigen Zeiten gesungen haben“418. So ließ er die Berliner Aufklärer 1766 wissen, dass sie mit ihrer Kriegsdichtung aus seiner Sicht die adäquate Gattung verfehlt hatten. Statt einen großen „Gesang von den Thaten des letztern Krieges“ zu produzieren, „welchem wir das Andenken der Nachkommen versprechen dürfen“, habe man sich an das kleine, „tändelnde“ Fach gehalten. Ein solches Versagen an einem „heroischen Stoff“,419 so Bodmer, dürfe sich keinesfalls wiederholen. Deswegen solle man aus der frühen nationalen Literatur lernen, wie man kriegerische Gegenstände richtig anzugehen habe. Gegen die preußische Lyrik des Siebenjährigen Kriegs hielt der Zürcher Dichtungslehrer aus diesem Grund noch an selber Stelle Auszüge aus dem Nibelungenlied, das er als ein Heldengedicht aus dem dreyzehnten Jahrhundert anpries, in dem die Deutschen ihre eigene „Ilias“420 besäßen. Mit diesem Manöver brachte Bodmer sich vernehmlich als Experten für eine heroische Nationaldichtung in Erinnerung, die er nach wie vor auf die Gattung des Epos festlegte. Diese Geste ging nicht zufällig mit einem Ausfall gegen die kleine Form des Kriegslieds einher, die sich während des Siebenjährigen Kriegs in Berlin etabliert hatte.421 Denn mit den Preussischen Kriegsliedern verband sich ein Programm, das in der Tat darauf angelegt war, die traditionelle Einheit von

417 Dieser Band erfuhr auch in Bodmers Freymüthigen Nachrichten eine günstige Aufnahme. Vgl. [Johann Jakob Bodmer,] Preußische Kriegs-Lieder in den Feldzügen 1756. und 1757. von einem Grenadier, mit Melodien. In: FN, Bd. 16, 21. Februar 1759, St. 8, S. 64. 418 [Johann Jakob Bodmer,] Vorzüge eines Heldengedichts aus dem dreyzehnten Jahrhundert, die Rache der Schwester. In: Wöchentliche Anzeigen zum Vortheil der Liebhaber der Wissenschaften und Künste, Bd. 3, 21. Mai 1766, S. 250–253, hier: S. 250. Fortgesetzt wird dieser Beitrag in der Ausgabe vom 4. Juni, S. 271–274. 419 [Bodmer,] Vorzüge eines Heldengedichts aus dem dreyzehnten Jahrhundert. In: Wöchentliche Anzeigen, Bd. 3, 21. Mai 1766, S. 250. 420 [Bodmer,] Fortsetzung des Artickels Seite 250 [Vorzüge eines Heldengedichts aus dem dreyzehnten Jahrhundert]. In: Wöchentliche Anzeigen, Bd. 3, 4. Juni 1766, S. 272. Diese Analogie zwischen Homers Ilias und dem deutschen Nibelungenlied zog sich durch Bodmers Beschäftigung mit dem mittelalterlichen Text; sie dient daher als Titel einer Monographie von Annegret Pfalzgraf, die sich den „Anfängen der nationalen Nibelungenrezeption im 18. Jahrhundert“ widmet (Pfalzgraf, Eine deutsche Ilias?). 421 Zu dieser Frontstellung vgl. Pfalzgraf, Eine deutsche Ilias?, S. 122 f.  

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hohem Gegenstand (Heldentaten) und hoher Gattung (Epos) herauszufordern. So formulierte Lessing in seinem „Vorbericht“ zu Gleims Grenadierliedern eine Poetik, die ihren Reiz aus der Integration von Gegensätzen bezog. Das galt bereits für stilistische Kategorien: Die Dichtung des einfachen preußischen Soldaten sei gleichzeitig „erhaben“ und „naiv“,422 spiele also auf der hohen wie auf der niedrigen Klaviatur. Zum Affront gegen die Forderungen nach einem Nationalepos, die um 1750 in Zürich wie in Leipzig laut geworden waren, wurde dieses Prinzip durch eine analoge Arbeit am Gattungsdiskurs. In diesem Punkt vollzog Lessing eine Transformation der Antike, bei der die Figur des germanischen Barden zum Berührungspunkt von hoher und niedriger Poesie wurde. Denn während der Begriff „Barde“ bei Bodmer wie Gottsched stets synonym für die epischen Sänger gestanden hatte, die man analog zum Griechen Homer am Anfang der deutschen Literatur vermutete (Kap. II.1.3), platzierte Lessing diese Instanz nun in einem eigentümlichen generischen Spannungsfeld aus Epik und Lyrik. Im „Vorbericht“ zu den Preussischen Kriegsliedern empfahl er mithin zwei Typen von Dichtern, deren Lektüre den Leser dazu befähigen sollte, recht „über unsern neuen preußischen Barden zu urteilen“. Auf der einen Seite nannte er das „jüngere[ ] Geschlecht von Barden aus dem schwäbischen Zeitalter“423. In dieser Stelle dürfte ihm Bodmers Zustimmung sicher gewesen sein, denn hinter diesem Hinweis verbarg sich das neu aufgefundene Nibelungenlied: Laut dem Titel der ersten Teiledition, die der Zürcher im Vorjahr herausgegeben hatte, galt dieses als Abfolge von mehreren „Heldengedichte[n]“424 aus der Vorzeit. Einen eigenen Weg schlug Lessing dagegen ein, indem er auf der anderen Seite auf die „kostbaren Überbleibsel[ ]“ verwies, die „einige dänische Gelehrte“ von „uralten nordischen Heldendichtern“ gefunden hätten: von den skandinavischen „Skalden“, die er als die „Brüder der Barden“425 bezeichnete. Dabei berief er sich interessanterweise nicht auf gelehrte Traktate über die Skalden, wie sie in

422 [Lessing,] Vorbericht. In: [Gleim,] Preussische Kriegslieder, unpag. 423 [Lessing,] Vorbericht. In: [Gleim,] Preussische Kriegslieder, unpag. 424 [Johann Jakob Bodmer,] Chriemhilden Rache, und Die Klage. Zwey Heldengedichte Aus dem schvvæbischen Zeitpuncte. Samt Fragmenten aus dem Gedichte von den Nibelungen und aus dem Josaphat. Darzu kœmmt ein Glossarium, Zürich 1757. Diese Gattungszuordnung griff Lessing etwas distanzierter in einem Brief an Gleim auf: Seine Recherchen hätten ihn „auf die zwei so genannten Heldengedichte aus dem Schwäbischen Jahrhunderte gebracht, welche die Schweizer jetzt herausgegeben haben. Ich habe verschiedene Züge daraus angemerkt, die zu meiner Absicht dienen können, und wenigstens von dem kriegerischen Geiste zeugen, der unsere Vorfahren zu einer Nation von Helden machte.“ (Lessing an Gleim, 6. Februar 1758. In: FLA, Bd. 1, 11/1, S. 271– 273, hier: S. 272). 425 [Lessing,] Vorbericht. In: [Gleim,] Preussische Kriegslieder, unpag.

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der Vergangenheit vor allem Gottsched rezipiert hatte,426 sondern auf eine Anthologie von „Andreas Vellejus und Petrus Septimus“,427 in der die nordische Poesie in einer liedhaften Form präsentiert wurde. So handelte es sich beim Hundredvisebog (1591; 1695)428 von Anders Sørensen Vedel und seinem Schüler Peder Syv um eine frühe Sammlung von Volksliedern, die als mündlich überlieferte „Fragmente aus den entferntesten Jahrhunderten“429 begriffen wurden. In diesem Sinne jedenfalls fasste Lessings Leser Heinrich Wilhelm von Gerstenberg einige Jahre später die Einleitung zum Hundredvisebog zusammen, als er sie in seinen Briefen über Merkwürdigkeiten der Litteratur (1767) für ein deutschsprachiges Publikum paraphrasierte: Das Alterthum der Kiämpe-Viser ist außer Zweifel, ob sie gleich mit der Zeit in die neuere Sprache übergegangen sind. Die meisten sind Ueberreste der allerältesten Lieder, die Saxo zum Theil in einer lateinis. Uebersetzung anführt, nicht selbst erfunden hat, wie er ausdrücklich sagt […]. Nachher entstanden aus den veränderten Regierungen, und neuen Kriegen, Handel und Wandel mit Fremden, neue Veränderungen, in den alten Ueberbleibseln; man behielte den Stoff bey, und maaß ihn blos den mehr modernen Begebenheiten an; zuletzt, da diese kostbaren Ueberreste dem Pöbel in die Hände geriethen, wurden sie aufs äußerste gemißhandelt […].430

426 Allen voran zu nennen wäre hier das Traktat des Schweden Fabian Törner, Dissertatio Academica de Poesi Skalldorum Septentrionalium […], Upsala 1717. Diese Abhandlung hatte Gottsched 1732 im ersten Jahrgang der Critischen Beyträge besprochen. Vgl. [Johann Christoph Gottsched,] M. Fabiani Toerneri Dissertatio Academica de Poesi Skalldorum Septentrionalium. In: CB, Bd. 1, 1732, St. V, S. 105–118. 427 [Lessing,] Vorbericht. In: [Gleim,] Preussische Kriegslieder, unpag., Anm. 4. Auf die skandinavischen Autoren war Lessing wohl über Morhofs Unterricht von der teutschen Sprache und Poesie aufmerksam geworden, der sie in einem Überblick „Von der nordischen Poetererey“ [sic] anführte (Morhof, Unterricht von der teutschen Sprache und Poesie, S. 402). 428 Anders Sørensen Vedel, It Hundrede udvaalde Danske Viser […], Kopenhagen 1591; in Fortsetzung dieser erfolgreichen Sammlung Peder Syv, Et Hundrede Udvalde Danske Viser […], Kopenhagen 1695. 429 [Heinrich Wilhelm von Gerstenberg,] 8. Brief. In: Briefe über Merkwürdigkeiten der Litteratur, 2 Bde., Bd. 1, Schleswig, Leipzig 1767, S. 144–163, hier: S. 103–115, 109. Zu Gerstenbergs Rezeption des Hundredvisebog vgl. Anne-Bitt Gerecke, Transkulturalität als literarisches Programm. Heinrich Wilhelm von Gerstenbergs Poetik und Poesie, Göttingen 2002, S. 124–126. 430 [Gerstenberg,] 8. Brief. In: Briefe über Merkwürdigkeiten der Litteratur, Bd. 1, S. 146 f. Von Gerstenberg ging eine breitere deutsche Rezeption des Hundredvisebog aus. Nachzuweisen sind etwa Lesespuren bei Herder, Goethe, den Brüdern Grimm und Heine (Carl Roos, Das erste Bekanntwerden der dänischen Kæmpe- oder Folkevise im Auslande. In: Orbis Litterarum 6:1 (1948), S. 100–114, hier: S. 114).  

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Mit dieser Parallelisierung zwischen den ‚epischen‘ Barden und den ‚lyrischen‘ Skalden vollzog Lessing eine effektvolle Geste, die durch die Übertragung auf den preußischen Grenadier ihre volle Sprengkraft entfaltete. Unterstützt durch die Überlieferung erhob er den Anspruch, dass die liedhafte Dichtung aus Berlin keineswegs auf den niedrigen Rang festgelegt sein müsse, der ihr traditionell durch das hierarchische Gattungssystem zugeordnet wurde. Ausgerechnet das Lied, das am unteren Rand dieses Systems verortet war, rückte jetzt funktional neben das Epos, das bis dato unbestritten an dessen Spitze gestanden hatte und das gerade wegen seines hohen Stellenwerts die jüngsten Streitigkeiten zwischen Gottsched und Bodmer hatte aufbrechen lassen. Eine derartige Verschiebung der nationalen Dichtung vom einen Pol des generischen Spektrums zum anderen ist vor allem dann signifikant, wenn man davon ausgeht, dass sich die Hierarchie der Gattungen in einer „strukturellen Homologie“431 zur Ordnung der frühneuzeitlichen Gesellschaft herausgebildet hatte, die sich durch eine Hierarchie der Stände auszeichnete. Dann nämlich erscheint Lessings Entwurf als Angebot einer anderen Form von Repräsentativität, bei der die Suche nach den verbindenden Eigenschaften der Nation nicht mehr durch Instanzen ‚von oben‘, sondern ‚von unten‘ bestimmt werden sollte.432 Generische, gesellschaftliche und literaturpolitische Semantiken gingen dabei nahtlos ineinander über: An die Stelle des genus grande auf Könige und Helden, das von den dichtungstheoretischen Autoritäten in Leipzig und Zürich als „Meisterstück“433 der nationalen Kultur verordnet worden war, traten jetzt die Lieder eines namenlosen Soldaten aus dem niederen Stand, der sich des besonderen nationalen Werts seiner Dichtung nicht einmal selbst bewusst war. Literaturpolitisch erhielt dieser Entwurf einer nationalen Lyrik dabei ein spezifisches preußisches Gepräge, indem er sich an soziopoetologische Konzepte aus der englischen Literatur anlehnte, die mit dem „17. Literaturbrief“ zum Orientierungspunkt für die Entdeckung des deutschen „Genie[s]“434 in der Berliner Aufklärung ausgerufen wurde. Angebahnt wurde die englische Konnotierung der preußischen Kriegsliteratur durch sprachtheoretische Überlegungen, die Lessing mit seiner Rede von den Barden verband. Eingangs der Preussischen Kriegslieder entwarf der Berliner Kritiker nämlich eine bemerkenswerte Gedankenfigur, nach der man die verlorene Dichtung des deutschen Altertums gleichsam im Mund der einfachen Leute wiederfinden könne. „[D]er Landmann, der Bürger, der Soldat und alle die niedrigern Stände, die wir das Volk nennen, bleiben in den 431 432 433 434

Köhler, Gattungssystem und Gesellschaftssystem, S. 9. Vgl. eindringlich Michler, Kulturen der Gattung, S. 177. Gottsched, Versuch einer Critischen Dichtkunst. In: GAW, Bd. 6/2, S. 279. BNL, 1. Theil, 1759, 17. Brief, S. 101.

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Feinheiten der Rede immer, wenigstens ein halb Jahrhundert, zurück“,435 heißt es in Lessings „Vorbericht“. Aus diesem Grund trage auch die Sprache von Gleims Grenadier die Zeichen eines hohen Alters, die letztlich auf eine noch sehr viel frühere Poesie hindeuten würden. So reflektierte Lessing: Auch seine Art zu reimen, und jede Zeile mit einer männlichen Sylbe zu schließen, ist alt. In seinen Liedern erhält sie noch diesen Vorzug, daß man in dem durchgängig männlichen Reime, etwas dem kurzen Absetzen der kriegerischen Trommete ähnliches zu hören glaubet. Nach diesen Eigenschaften also, wenn ich unsern Grenadier ja mit Dichtern aus dem Alterthume vergleichen sollte, so müßten es unsere Barden seyn.436

Die These, dass die Sprache der Barden dem markigen Klang einer Kriegstrompete geglichen habe, konnte deutschen Lesern schon vor dem Hintergrund des Sprachpatriotismus einleuchten, mit dem heimische Gelehrte den nationalen Wortschatz seit dem 17. Jahrhundert als schwachen Widerschein germanischer Tapferkeit interpretiert hatten (vgl. Kap. I.1).437 Darüber hinaus besaß die musikalische Analogie einen poetologischen Index, der nach England wies. Damit eröffneten sich spezifische literatur- und sozialtheoretische Anspielungsräume, die im Folgenden ausgeleuchtet werden sollen. Denn für den literarisch gebildeten Leser des 18. Jahrhunderts setzte die Nennung einer „kriegerischen Trommete“ buchstäblich ein gattungspoetisches Signal: Sie erinnerte an die sogenannten „Ballad Papers“, mit denen Joseph Addison 1711 in seiner Zeitschrift The Spectator denjenigen Text in den literaturtheoretischen Diskurs eingeführt hatte, von dem Gleim sich die Strophenform für die Grenadierlieder borgte.438 Für Aufruhr hatten diese „Papers“ gesorgt, weil sie sich mit einer populären Form von Poesie befassten, die zu diesem Zeitpunkt gemeinhin als „vile and trivial“439 verachtet wurde. Ihr Gegenstand nämlich war ein einfaches Volkslied: die beliebte „Ballad of Chevy Chase“, die davon berichtet, wie eine Jagd im Grenzgebiet zwischen Engländern und Schotten aus dem Ruder läuft, um in der blutigen Schlacht von Otterburn (1388)440 zu enden.441

435 [Lessing,] Vorbericht. In: [Gleim,] Preussische Kriegslieder, unpag. 436 [Lessing,] Vorbericht. In: [Gleim,] Preussische Kriegslieder, unpag. 437 Ausführlich vgl. Riemenschneider, Sprachpatriotismus, S. 43 f. 438 Karl Nessler, Geschichte der Ballade Chevy Chase. Kapitel I–IV, Berlin 1911, S. X. 439 Edmund K. Broadus, Addison’s Influence on the Development of Interest in Folk-Poetry in the Eighteenth Century. In: Modern Philology 8:1 (1910), S. 123–134, hier: S. 130. 440 Vgl. Nick Groom, The Making of Percy’s Reliques, Oxford 1999, S. 45. 441 Dabei handelt es sich um die 70. und die 74. Abhandlung des englischen Spectator. Als Lessing seine Kritik auf Gleims erstes Grenadierlied „Im Lager bey Prag“ verfasste, stellte Moses  

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Auch diesem Lied hatte Addison die aufrüttelnde Wirkung eines Trompetenstoßes attestiert, indem er einen prominenten Unterstützer herbeizitierte: Sir Philip Sidney in his Discourse of Poetry speaks of it in the following Words; I never heard the old Song of Piercy and Douglas, that I found not my Heart moved more than with a Trumpet; and yet it is sung by some blind Crowder with no rougher Voice than rude Stile; which being so evil apparalled in the Dust and Cobweb of that uncivil Age, what would it work trimmed in the gorgeous Eloquence of Pindar?442

Dieses Lob des elisabethanischen Dichters Philip Sidney für „the favourite Ballad of the common People“443 lieferte zugleich den Ansporn für Addisons Interesse an einem Lied, das bisher eher in den Wirtshäusern als im Diskurs der Gelehrten zu Hause gewesen war.444 Denn in diesem Zitat schien sich zu beweisen, dass es Texte gebe, die Menschen aus allen sozialen Schichten vom einfachen Volk bis zu den Gelehrten ansprächen.445 Auf die Möglichkeit solch einer standesunabhängigen Poesie war man erst kurz zuvor durch eine dichtungstheoretische Schrift aus der Antike aufmerksam geworden, die um 1700 infolge von Nicolas Boileaus Traité du sublime (1674) an Relevanz gewonnen hatte: durch den pseudo-longinischen Diskurs Vom Erhabenen (1. Jh. n. Chr.).446 In dieser Abhandlung war das „gleichlautende Urteil […] ungleich gestimmter Zeugen“, die sich in ihrer „Tätigkeit, Lebensform, Geschmack, Alter und Sprache“447 unterschieden, als praktischer „Test auf Erhabenheit“448 empfohlen worden. Kurz und prägnant hatte der  

Mendelssohn sofort eine entsprechende Verknüpfung her: „Herr Nikolai freut sich ungemein über den schönen Zusatz zur Bibliothek. Die beiden Lieder sind gewiß Meisterstücke, und kommen den bekannten Kriegsliedern in dem Zuschauer bei.“ (Mendelssohn an Lessing, September 1757. In: FLA, Bd. 11/1, S. 254 f., hier: S. 245). 442 The Spectator, Bd. 1, No. 70, 21. Mai 1712, S. 397–405, hier: S. 398. 443 The Spectator, Bd. 1, No. 70, 21. Mai 1712, S. 397–405, hier: S. 398. 444 In einem Lied aus Thomas D’Urfeys erfolgreicher Liedersammlung Pills to Purge Melancholy (1719) wird ein gemütlicher Abend imaginiert, der darin besteht, die „Ballad of Chevy-Chase“ „o’er a Pot of good Ale“ zu singen (The Old Woman’s Wish. In: Wit and Mirth; or or Pills to Purge Melancholy; Being a Collection of the Best Merry Ballads, Old and New. Fitted to all Humours, having each their proper Tune for either Voice or Instrument […], hg. von Thomas D’Urfey, 6 Bde., Bd. 2, London 1719, S. 19). 445 Albert B. Friedman, Addison’s Ballad Papers And the Reaction to Metaphysical Wit. In: Comparative Literature 12:1 (1960), S. 1–13, hier: S. 1. 446 Vgl. Dietmar Till, Das doppelte Erhabene. Eine Argumentationsfigur von der Antike bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts, Tübingen 2006, S. 26 f. 447 De subl. 7, 4. Deutsch nach Longinus, Vom Erhabenen. Griechisch/Deutsch, Stuttgart 1988, S. 19. 448 Till, Das doppelte Erhabene, S. 90.  



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griechische Verfasser formuliert: „Überhaupt halte ich das für vollkommen und wahrhaft erhaben, was jederzeit und allen gefällt.“449 Primär war es also die ästhetische Konjunktur des Erhabenen, die einen Vertreter des klassizistischen Augustan Age wie Addison dazu bewegen konnte, seine Aufmerksamkeit den Liedern der „common people“450 zuzuwenden.451 Sekundär war das Interesse zweifellos auch durch das starke Gemeinschaftsethos der englischen Republik begünstigt, das einen literarischen Blick ‚nach unten‘ wahrscheinlicher machte als die ständische Ordnung der europäischen Monarchien. Unter diesen Prämissen ergab sich eine Interpretation der „Ballad of Chevy Chase“, die soziale und literarische Hierarchien herausforderte. Das begann bereits bei der Bestimmung des rhetorischen Stils. So ordnete Addison dem Volkslied ein Attribut der „Majestick Simplicity“452 zu, in dem Boileaus Paradox von der Erhabenheit des einfachen Ausdrucks (simplicité du sublime) anklang – ebenso würde auch Lessing dem preußischen Grenadier seine Bewunderung dafür aussprechen, dass es ihm in seinen Kriegsliedern gelinge, gleichzeitig das niedrige (naive) und das hohe (erhabene) Register aufzurufen.453 Und auch in der generischen Einordnung der „Ballad of Chevy Chase“, die als „poetry outside the conventional forms“454 zuvor keine spezifische Klassifikation erfahren hatte, bewies Addison sein Interesse an einem standesübergreifenden Modus von Poesie. So unterlief er gewohnte generische Hierarchien, indem er das Volkslied hinsichtlich der pseudo-longinischen Erhabenheitsprobe mit der epischen Dichtung verglich. Beide Gattungen wurden in seinen „Ballad Papers“ als Komplementärfälle vorgestellt, in denen sich das allgemeine Gefallen am Sublimen einmal in der höchsten und einmal in der niedrigsten denkbaren Form von 449 De subl. 7, 4. Deutsch nach Longinus, Vom Erhabenen. Griechisch/Deutsch. Stuttgart 1988, S. 17. 450 The Spectator, Bd. 1, No. 70, 21. Mai 1712, S. 397. 451 Vgl. Broadus, Addison’s Influence on the Development of Interest in Folk-Poetry in the Eighteenth Century, S. 129. 452 The Spectator, Bd. 1, No. 74, 25. Mai 1712, S. 421–427, hier: S. 421. 453 Die Kombination dieser Stilkategorien hatte zu diesem Zeitpunkt den Index des Innovativen. Zeitgleich gingen Mendelssohns Betrachtungen über das Erhabene und das Naive in den schönen Wissenschaften (1758) aus den gemeinsam mit Lessing und Nicolai veranstalteten Reflexionen über das Trauerspiel hervor, in denen das Boileau’sche Konzept zum ersten Mal in die hier verwendeten Termini übersetzt wurde ([Moses Mendelssohn,] Betrachtungen über das Erhabene und das Naive in den schönen Wissenschaften. In: BSW, Bd. 2, 1758, St. 2, S. 229–267; dazu vgl. Till, Das doppelte Erhabene, S. 347 sowie Claudia Schmölders, Simplizität, Naivetät, Einfalt. Studien zur ästhetischen Terminologie in Frankreich und in Deutschland 1674–1771, Zürich 1974, S. 227). 454 Keith Stewart, The Ballad and the Genres in the Eighteenth Century. In: Journal of English Literary History 24:2 (1957), S. 120–137, hier: S. 22.

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Literatur bewies. Das Epos, behauptete Addison, vermöge kraft seiner erhabenen Sprache sogar die Herzen der ungelehrten Leute zu berühren: „Homer, Virgil, or Milton, so far as the Language of their Poems is understood, will please a Reader of plain common Sense.“ Und dieselbe kohäsive Wirkung, argumentierte er, könne in umgekehrter Richtung auch das Volkslied entfalten: So, on the contrary, an ordinary Song or Ballad that is the Delight of the common People, cannot fail to please all such Readers as are not unqualified for the Entertainment by their Affectation or Ignorance; and the Reason is plain, because the same Paintings of Nature which recommend it to the most ordinary Reader, will appear Beautiful to the most refined.455

Im Zeichen dieser Überlegungen trieb der Herausgeber des Spectator die Konvergenzen zwischen Lied und Epos in der Folge noch sehr viel weiter. So nahm er das kriegerische Narrativ der „Ballad of Chevy Chase“ zum Anlass, um sie als eine Ilias oder Aeneis im Kleinen zu interpretieren, in der die universalen Regeln des „Heroick Poem“456 gleichsam von Natur aus greifen würden. Unverkennbar griff Addison dabei auf die Epenlehre von Le Bossu zurück, der in der deutschen Literatur vor allem Gottsched anhing.457 Denn zum einen meinte er zu entdecken, dass dem Volkslied derselbe moralische Satz („important Precept of Morality“458) zugrunde liege, der auch im Zentrum von Homers Ilias stehe.459 Auch der unbekannte Sänger wolle lehren, dass politische Uneinigkeit schädlich sei, wie die Schlussstrophe der „Ballad of Chevy Chase“ demonstriere: God save the King, and bless the Land In Plenty, Joy, and Peace; And grant henceforth that foul Debate ’Twixt Noblemen may cease.460

455 The Spectator, Bd. 1, No. 70, 21. Mai 1712, S. 397 f. 456 The Spectator, Bd. 1, No. 70, 21. Mai 1712, S. 396. 457 Die Rezeption von Le Bossu betont Finsler, Homer in der Neuzeit von Dante bis Goethe, S. 316. 458 The Spectator, Bd. 1, No. 70, 21. Mai 1712, S. 396. 459 Vgl. Foerster, Homer in English Criticism, S. 18 f. Zudem kommt die Aeneis durch eine ausgedehnte Parallellektüre ins Spiel (The Spectator, Bd. 1, No. 74, 25. Mai 1712, S. 421). 460 The Spectator, Bd. 1, No. 70, 21. Mai 1712, S. 400, Hervorh. i. O. Broadus weist darauf hin, dass diese Strophe das Ergebnis einer nachträglichen Anpassung an den zeitgenössischen Literaturgeschmack sei. In der ursprünglichen Version der ballad sei sie nicht zu finden. Addisons Urteil sei darum bis zu einem gewissen Grad „criticism moving in a circle“ (Broadus, Addison’s Influence on the Development of Interest in Folk-Poetry in the Eighteenth Century, S. 127).  



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Und schließlich dürfe der Volksdichter auch dadurch einen Platz neben Homer und Vergil beanspruchen, dass er nationale Heldentaten („Persons and Actions which do Honour to their Country“) in Erinnerung halte. Diese seien in seinem Lied so subtil wie überzeugend in Szene gesetzt. Die Engländer würden einen höheren Kampfgeist beweisen als die Schotten („The English are the first who take the Field, and the last who quit it“461), und noch in Unterzahl könnten sie sich bravourös durchsetzen. Im Anschluss an diese bemerkenswerte Lektüre der „Ballad of Chevy Chase“ hat das volkstümliche Lied in England eine enorme Karriere gemacht.462 Dasselbe kann für die Analogie von Epos und Lied gesagt werden, auf die sich Lessing im „Vorbericht“ zu den Preussischen Kriegsliedern berief. Die Berliner Poetik des Kriegslieds zeigte sich dabei umso deutlicher vom englischen Diskurs zur ballad inspiriert, als schon die Briten die Figur des Barden zum Relais zwischen Epenund Volksliedtheorie erhoben hatten. Die Ursache dafür liegt in einer Polysemie des englischen Begriffs ‚bard‘. Ursprünglich der keltische Name für die heimischen Poeten,463 hatte das Wort im Laufe seiner Gebrauchsgeschichte zwei Bedeutungen angenommen: Während es in der gelehrten Sphäre seit der Frühen Neuzeit für den Sänger einer erhabenen Dichtung wie des Epos oder der hohen Ode verwendet wurde,464 diente es parallel als abfälliger Begriff („term of contempt“465) für die fahrenden Sänger und Musiker, die populäre Lieder wie die „Ballad of Chevy Chase“ auf öffentlichen Plätzen zum Besten gaben.466 Seit Beginn des 18. Jahrhunderts begannen sich diese beiden Semantiken zusehends zu durchdringen, um ein transgenerisches Konzept des Barden hervorzubringen.

461 The Spectator, Bd. 1, No. 70, 21. Mai 1712, S. 400. 462 Vgl. nach wie vor Albert B. Friedman, The Ballad Revival. Studies in the Influence of Popular on Sophisticated Poetry, Chicago 1961. 463 Art. bard, 1. In: Oxford English Dictionary, online über oed.com, Zugriff am 15. November 2018. 464 Art. bard, 4. In: Oxford English Dictionary, online über oed.com, Zugriff am 15. November 2018. 465 Art. bard, 2. In: Oxford English Dictionary, online über oed.com, Zugriff am 15. November 2018. 466 Vgl. Groom, The Making of Percy’s Reliques, S. 23 sowie Wolfgang G. Müller, Die englischschottische Volksballade, Bern, München 1983, S. 10–13. In der Frühen Neuzeit bestand das Repertoire der sogenannten ballad-mongers dabei nicht zuletzt aus politischen Balladen, die Position im englischen Bürgerkrieg bezogen. Vgl. Ansgar Nünning, ‚The World Turned Upside Down‘: Englische Straßenballaden als Medium der Zeitkritik und politischen Meinungsbildung im Zeitalter der Englischen Revolution. In: Staatstheoretische Diskurse im Spiegel der Nationalliteraturen von 1500 bis 1800, hg. von Barbara Mahlmann-Bauer und Wolfgang G. Müller, Wiesbaden 1998, S. 355–392.

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Nur auf den ersten Blick kurios erscheinen daher englische Volksliedsammlungen der 1720er Jahre, die ihre Inhalte unter die Vorzeichen von Addisons Vergleich zwischen der volkstümlichen ballad und Homers Ilias stellten. So warb der anonyme Herausgeber einer kommerziell extrem erfolgreichen Collection of Old Ballads (3 Bde., 1723–1725)467 für sein Produkt, indem er die Tradition der Lieddichtung mit halbem Augenzwinkern bis zu den alten Griechen zurückverfolgte.468 Das Frontispiz zu dieser Sammlung (Abb. 2) entwarf eine entsprechende Genealogie, indem es fünf Büsten vor einer Bibliothek aufreihte. Diese Serie nahm ihren Anfang bei Homer, um dann über die antiken Odendichter Horaz, Pindar und Anakreon bis zu den Engländern John Suckling und Abraham Cowley zu führen. Die so illustre wie heterogene Reihe von Poeten wurde in der Vorrede unter dem einheitlichen Begriff „Bards“469 zusammengefasst, und Homer wurde erneut bekräftigend als Urvater des liedhaften Genres gepriesen. So imaginierte der anonyme Herausgeber den Griechen als fahrenden Sänger aus dem Volk, dessen Lieder („Ballads“) man erst nach seinem Tod zu Großtexten vereinigt habe. Im gelehrten Duktus wird ausgeführt: [T]he very Prince of Poets, old Homer, if we may trust ancient Records, was nothing more than a blind Ballad-Singer, who writ Songs of the Siege of Troy, and the Adventures of Ulysses; and playing the Tunes upon his Harp, sung from Door to Door, till at his Death somebody thought fit to collect all his Ballads, and by a little connecting ’em, gave us the Iliad and Odyssey, which since that Time have been so much admired.470

467 Es handelte sich hier um „one of the most popular books of the 1720s“ (Dianne Dugaw, The Popular Marketing of „Old Ballads“: The Ballad Revival and Eighteenth-Century Antiquarianism Reconsidered. In: Eighteenth-Century Studies 21:1 (1987), S. 71–90, hier: S. 72). 468 Die anonyme Vorrede hält durchgehend die Mitte zwischen Legitimationsdiskurs und Satire (Paula McDowell, ‚The Art of Printing was Fatal‘: Print Commerce and the Idea of Oral Tradition in Long Eighteenth-Century Ballad Discourse. In: Ballads and Broadsides in Britain, 1500–1800, hg. von Patricia Fumerton, Anita Guerrini und Kris McAbee, Farnham 2010, S. 35–56, hier: S. 41 f.). 469 The Preface to the Second Volume of Ballads. In: A Collection of Old Ballads. Corrected from the best and most Copies extant. With Introductions Historical and Critical, 3 Bde., Bd. 2, London 1723, S. i–xi, hier: S. ix. 470 The Preface. In: A Collection of Old Ballads. Corrected from the best and most Copies extant. With Introductions Historical, Critical and Humorous, 3 Bde., Bd. 1, London 1723, S. i–viii, hier: S. iii f. Im Hintergrund stand eine These, die Richard Bentley schon 1713 in seinen Remarks upon a Late Discourse of Free-Thinking vertreten hatte. Dieser hatte erwogen, dass die Ilias weniger „the epitome of all arts and sciences“ gewesen sei als der Broterwerb eines armen Rhapsoden ([Richard Bentley,] Remarks upon a Late Discourse of Free-Thinking. In a Letter to F. H. D. D. By Phileleutherus Lipsiensis, London 1713, S. 18. Vgl. McDowell, ‚The Art of Printing was Fatal‘, S. 42 f.). Später sorgte im deutschsprachigen Raum bekanntlich eine ähnliche These Friedrich August Wolfs für Aufruhr, der zudem noch die einheitliche Autorschaft der verarbeiteten Lieder anzweifelte.  





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Teil II Krieg und Literaturstreit: Konkurrenz nationaler Poetiken

Abb. 2: A Collection of Old Ballads (1723), Frontispiz zum 1. Band.

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Zwar handelte es sich bei solchen Behauptungen nicht zuletzt um werbewirksame Spielereien.471 Doch schon wenig später erfuhren diese eine ernsthafte Resonanz, bei der die gattungspoetische Grenzgängerschaft des Barden herangezogen wurde, um über die Beziehung zwischen Literatur und Gesellschaft nachzudenken.472 So wurde der prototypische Ependichter Homer 1735 in einer Schrift ins Volk verlegt, die eine doppelte Umstellung markierte. Offensichtlich ist, dass die Enquiry into the Life and Writings of Homer des schottischen Professors Thomas Blackwell den Blick auf den Autoren Homer radikal veränderte. Aus dem verehrten „Vater der antiken und mustergültigen Kultur“ wurde hier ein „Volksdichter“473 – mit den Worten Blackwells gesagt, „a stroling indigent Bard“474. Zugleich erweist sich die soziale Absenkung Homers zum Barden als paradigmatischer Akt, mit dem das Konzept literarischer Repräsentativität neu verhandelt wurde. Zuvor hatten die homerischen Epen für die Spitzenleistung einer kulturellen Gemeinschaft gestanden, in der die wichtigsten Taten ihrer großen Männer auf dem höchsten literarischen Niveau präsentiert wurden. Für dieses Verdienst, so Blackwell, habe man Homer seit der Antike als „the greatest Genius“475 verehrt, dem die besten und gelehrtesten Dichter nacheifern sollten. Dagegen legte er selbst mit seiner Enquiry ein Modell vor, das sich programmatisch vom Exzellenzprinzip verabschiedete. Zu Liedern eines fahrenden Sängers umkodiert, forderte die homerische Dichtung nun ein anderes Entstehungsnarrativ, in dem „kulturelle[ ] Repräsentativität“476 zum Schlüsselkonzept wurde. Dazu las Blackwell die Ilias und Odyssee als Spuren einer kollektiven Mentalität, durch die sich das griechische Volk in seiner Frühzeit ausgezeichnet habe. Für ihn waren die heroischen Episoden nicht das Produkt einer sorgfältigen literarischen Gestaltung, sondern sie boten „plain natural images“477 einer antiken Gesellschaft im Zustand von „Simplicity and Heroism“,478 mit der sich der Barde Homer auf zahlreichen Reisen durchs Land vertraut gemacht habe. Statt auf eine singuläre Leistung seien die homerischen Texte demnach auf allgemeine

471 Vgl. McDowell, ‚The Art of Printing was Fatal‘. 472 Zu diesem Zusammenhang vgl. Foerster, Homer in English Criticism, S. 19 f. 473 Maike Oergel, Ende der ‚Querelle‘? Deutsche und britische Definitionen der modernen Identität im Kulturschatten der Antike. In: Unerledigte Geschichten. Der literarische Umgang mit Nationalität und Internationalität 1750–1870, hg. von Gesa von Essen und Horst Turk, Göttingen 2000, S. 72–99, hier: S. 75. Zur „bahnbrechende[n]“ Funktion Blackwells für den Homer-Diskurs vgl. dort S. 77. 474 [Thomas Blackwell,] An Enquiry into the Life and Writings of Homer, London 1735, S. 103. 475 [Blackwell,] An Enquiry into the Life and Writings of Homer, S. 3 f. 476 Oergel, Ende der ‚Querelle‘?, S. 77. 477 [Blackwell,] An Enquiry into the Life and Writings of Homer, S. 34. 478 [Blackwell,] An Enquiry into the Life and Writings of Homer, S. 29.  



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Dispositionen („Habits and Dispositions“) zurückzuführen, die Blackwell von den spezifischen historischen, politischen und kulturellen Lebensbedingungen („Circumstances“) der Griechen herleitete. Abstrakter gefasst, zielte die Enquiry folglich darauf, literarische Repräsentativität von ihren traditionellen Bindungen an die höchsten sozialen Instanzen zu lösen. Stattdessen verortete Blackwell sie in den politischen und kulturellen Prägungen, die alle Mitglieder einer Gemeinschaft miteinander zu verbinden versprachen.479 Die Grenzgänge zwischen den literarischen und sozialen Rangstufen, die Addison im Zeichen seiner Erhabenheitspoetik eingeleitet hatte, erhielten bei Blackwell somit einen theoretischen Fluchtpunkt, der in dem einheitlichen Charakter eines Volkes lag. Damit wurde der englische Barde zum frühen Paradigma für eine Dichtungsauffassung, „die das Relationale [ständischer Distinktionen] in die Horizontale verschiebt“ und zu diesem Zweck „das Volk als Substrat des Nationalen zum Sprechen und damit in die Welt bringt“480. Zum Ausdrucksmedium einer solchen Figur wurde dabei das niedrige Lied mit seinem Sitz im Leben der Gemeinschaft erkoren, das Zugänge zu einer anderen Form von Repräsentativität zu eröffnen versprach als das Epos: Durch die Zuwendung zu den niederen Schichten hoffte man, einen unverfälschten Blick auf eine „kollektive[ ] Produktivität“481 der Gemeinschaft zu erhaschen. Zusammengefasst, konzentrierte sich im englischen Begriff des Barden also ein Perspektivenwechsel, bei dem man das große Ganze von Gemeinschaften sowohl gesellschafts- als auch dichtungstheoretisch in den unteren Bereichen der traditionellen Ordnungssysteme zu suchen begann. Mit den Preussischen Kriegsliedern von einem Grenadier gelangten solche Konzepte zum ersten Mal von England nach Deutschland.482 Infolge von Lessings Inszenierung hat man die Lieder des ‚preußischen Barden‘ im hier entwickelten Sinn nicht nur als eine Brücke zwischen hoher und niedriger Poesie, sondern

479 Diese Prägungen spezifizierte Blackwell wie folgt: „First, the State of the Country where a Person is born and bred; in which I include the common Manners of the Inhabitants, their Constitution civil and religious, with its Causes and Consequences: Their Manners are seen in the Ordinary way of living, as it happens to be polite or barbarous, luxurious or simple. Next, the Manners of the Times, or the Prevalent Humours and Possessions in vogue.“ ([Blackwell,] An Enquiry into the Life and Writings of Homer, S. 12). 480 Michler, Kulturen der Gattung, S. 162. 481 Stefan Matuschek, Dichtender Nationalgeist. Von Spiel zum Ernst literarischer Anonymität. In: Anonymität und Autorschaft. Zur Literatur- und Rechtsgeschichte der Namenlosigkeit, hg. von Stephan Pabst, Berlin, New York 2011, S. 235–248, hier: S. 236. 482 Zur initiativen Funktion der Preussischen Kriegslieder bei der Konstruktion einer „volkstümlichen Nationalität“ in der deutschen Literatur vgl. Matuschek, Dichtender Nationalgeist, S. 240 f. sowie Michler, Kulturen der Gattung, S. 161.  

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auch zwischen hohem und niedrigem Stand aufgefasst. Am pointiertesten hat das wohl der 1749 geborene Johann Wolfgang von Goethe formuliert, als er in Dichtung und Wahrheit (Bd. 1, 1811) auf die prägenden Leseeindrücke seiner Kindheit und Jugend zurückblickte. Dabei nahm die Berliner Kriegsdichtung eine besonders wichtige Stellung ein: Die „Kriegslieder“, von Gleim angestimmt, behaupteten deswegen einen so hohen Rang unter den deutschen Gedichten, weil sie mit und in der Tat entsprungen sind, und noch überdies, weil an ihnen die glückliche Form, als hätte sie ein Mitstreitender in den höchsten Augenblicken hervorgebracht, uns die vollkommenste Wirksamkeit empfinden läßt.483

Schon formal sprach Goethe den Grenadierliedern somit ein besonderes repräsentatives Potential zu, das er inhaltlich im Zusammenrücken der Stände auf dem Schlachtfeld fortgesetzt sah. „Jede Nationaldichtung muß schal sein oder schal werden, die nicht auf dem Menschlich-Ersten ruht, auf den Ereignissen der Völker und ihrer Hirten, wenn beide für e i n e n Mann stehen“, postulierte er: „Könige sind darzustellen in Krieg und Gefahr, wo sie eben dadurch als die Ersten erscheinen, weil sie das Schicksal des Allerletzten bestimmen und teilen“. Die ersten und wichtigsten Dokumente einer solchen Gemeinschaftlichkeit seien in der deutschen Literaturgeschichte die Lieder aus dem Siebenjährigen Krieg gewesen, in denen sich das 18. Jahrhundert eine eigene Form von Heldengesang geschaffen habe. So jedenfalls lautete das zugespitzt formulierte Fazit, das in Dichtung und Wahrheit gezogen wurde. Denn Goethe schrieb: „In diesem Sinne muß jede Nation, wenn sie für irgend etwas gelten will, eine Epopöe besitzen, wozu nicht gerade die Form des epischen Gedichts nötig ist.“484 In dieser Formulierung zeichnet sich der durchschlagende literaturgeschichtliche Erfolg ab, den die Berliner Aufklärer mit dem Manöver feierten, das nationale Epos durch eine nationale Liedlyrik zu ersetzen. Mit seiner Inszenierung eines ‚preußischen Barden‘ hatte Lessing in Deutschland ein neues Konzept von repräsentativer Dichtung eingeführt, in dem zwei Diskurse eine feste Verbindung eingegangen waren, die ihre Wege letztlich nur zufällig gekreuzt hatten. Das Modell einer Poesie ‚von unten‘, das sich in England am Begriff des Barden herausgebildet hatte, wurde unter den deutschen Autoren von vornherein als neue Form der nationalen Literatur aufgefasst – denn in dieser Funktion hatte Lessing die Berliner Kriegslieder gegen Gottscheds und Bodmers Phantasien von einem Nationalepos ausgespielt.

483 Goethe, Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. In: HGA, Bd. 9, S. 280. 484 HGA, Bd. 9, S. 279 f.  

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Teil II Krieg und Literaturstreit: Konkurrenz nationaler Poetiken

Dementsprechend beflügelten die Lieder des fiktiven Soldaten in der Folge zahlreiche Versuche, die Potentiale der Lyrik für die literarische Vermessung politischer Gemeinschaften auszuloten. Ein beredtes Zeugnis davon legt die Vielfalt der lyrischen Kriegsliteratur ab, die unverzüglich an das Berliner Programm anschloss. Ein Panorama davon entfalten die Lieder Sineds des Barden (1772),485 in denen der Wiener Jesuit Michael Denis nach dem Friedensschluss einen Bund der modernen deutschen Barden entwarf, der sich aus den Lyrikern des Siebenjährigen Kriegs rekrutierte.486 So stellte der Österreicher Denis sich selbst als Autor der Poetischen Bilder der meisten kriegerischen Vorgänge in Europa seit dem Jahr 1756 (1760)487 in einer harmonischen Gemeinschaft mit dem Preußen Gleim und dem Sachsen Christian Felix Weiße dar, der für die eigene Kriegspartei wiederum einen Band mit Amazonen-Liedern (1762) verfasst hatte.488 Aus der Sicht der nachfolgenden Autorengeneration markierten die Grenadierlieder mithin den Auftakt für eine neue und als zeitgemäß aufgefasste Form, kriegerische Gemeinschaften in der Literatur zu entwerfen. Das hat maßgeblich mit der Innovationsrhetorik zu tun, die in Lessings „Vorbericht“ zu den Preussischen Kriegsliedern zu Tage trat. Tatsächlich hatte Gleim in seinen Grenadierliedern aber an eine schon sehr viel länger virulente Arbeit an der Kriegslyrik angeschlossen, die sich in den literarischen Zentren Preußens seit dem Ersten Schlesischen Krieg entwickelt und immer weiter ausdifferenziert hatte. Die patriotischen Lieder, die im Zuge der literaturpolitischen Kämpfe in der Mitte des 18. Jahrhunderts zur adäquaten Poesie der Nation erhoben wurden, müssen damit zuallererst unter regionalen Vorzeichen verstanden werden. Diese werden im nächsten Teil dieser Arbeit eingehend in den Blick genommen.

485 Michael Denis, Die Lieder Sineds des Barden mit Vorbericht und Anmerkungen von M. Denis, aus der G. J., Wien 1772. 486 Vgl. Annika Hildebrandt, Von Barde zu Barde. Die Wiener Aufklärung in Michael Denis’ Topographie der deutschen Literatur. In: Topographien der Antike in der literarischen Aufklärung, hg. von ders., Charlotte Kurbjuhn und Steffen Martus, Bern 2016, S. 201–215. 487 Michael Denis, Poetische Bilder der meisten kriegerischen Vorgänge in Europa seit dem Jahr 1756, Wien 1760. Zu dieser Gedichtsammlung vgl. Johannes Birgfeld, Kriegspoesie für Zeitungsleser oder der Siebenjährige Krieg aus österreichischer Sicht. Michael Denis’ Poetische Bilder der meisten kriegerischen Vorgänge in Europa seit dem Jahr 1756 im Kontext des zeitgenössischen literarischen Kriegsdiskurses. In: „Krieg ist mein Lied“. Der Siebenjährige Krieg in den zeitgenössischen Medien, hg. von Wolfgang Adam, und Holger Dainat, Göttingen 2007, S. 215–239. 488 [Christian Felix Weiße,] Amazonen-Lieder, Leipzig 1762.

Teil III Krieg und Lyrik: Ästhetik und Schlesische Kriege

Mit seinem „Vorbericht“ zu den Preussischen Kriegsliedern setzte Lessing die Maßstäbe, unter denen die Lyrik des Siebenjährigen Kriegs fortan wahrgenommen und bewertet wurde. Offensichtlich hat seine Rhetorik der Unerhörtheit nicht nur die Zeitgenossen, sondern auch die Forschung davon überzeugt, dass Gleims Lieder eine literaturhistorische Zäsur markierten. Schon als Johann Gottfried Herder in seinen Fragmenten (1766/67) prüfte, wie nahe die Deutschen dem „Ideal der Griechen in jeder Dichtart“1 bisher gekommen seien, erhielten „Tyrtäus und der Grenadier“2 eine eigene Rubrik: Inspiriert vom „preußischen Patriotismus“, habe Gleim „Nationalgesänge“3 hervorgebracht, wie sie das 18. Jahrhundert zuvor nicht gekannt habe. An diese Deutung anknüpfend, sind die Grenadierlieder von der Germanistik bislang meist als Anfangspunkt einer politischen Dichtung betrachtet worden, die proportional zu den Konflikten in der deutschen Geschichte an Aggressivität gewonnen habe. Daraus ist eine Traditionslinie abgeleitet worden, die bis in die Weltkriege des 20. Jahrhunderts reicht. So heißt es zum Beispiel bei Christoph Deupmann: Die Kriegsdichtungen Gleims, von Kleists oder Karl Wilhelm Ramlers avancierten zu paradigmatischen Referenztexten, in denen die rhetorischen und legitimatorischen Verfahren, ideologischen Stereotype und Feindbilder späterer literarischer ‚Mobilmachungen‘ des 19. und 20. Jahrhunderts ausgearbeitet worden sind – von der Lyrik der Befreiungskriege über den Ersten Weltkrieg bis hin zur nationalsozialistischen Propagandadichtung.4

1 Johann Gottfried Herder, Über die neuere deutsche Literatur. Zwote Sammlung von Fragmenten. Eine Beilage zu den Briefen, die neueste Literatur betreffend. 1767 (Werke in zehn Bdn., hg. von Martin Bollacher et al., 10 Bde., Bd. 1: Frühe Schriften 1764–1772, hg. von Ulrich Gaier), Frankfurt a. M. 1985, S. 261–366, hier: S. 312. Aus der Frankfurter Herder-Ausgabe wird im Folgenden mit dem Kürzel FHA zitiert. 2 FHA, Bd. 1, S. 349–351. 3 FHA, Bd. 1, S. 350. 4 Christoph Deupmann, Der Siebenjährige Krieg in der deutschsprachigen Lyrik. In: Geschichtslyrik. Ein Kompendium, hg. von Heinrich Detering und Peer Trilcke, 2 Bde., Bd. 2, Göttingen 2013, S. 547–573, hier: S. 550. Deupmann reformuliert damit eine Perspektive auf die Literatur des Siebenjährigen Kriegs, die seit Langem dominiert. So interpretiert z. B. Uwe-Karsten Ketelsen die bellizistische „Literatur der Aufklärung“ als „ein aufschlußreiches Feld, in dem spätere Konstellationen gleichsam symbolisch bereitgehalten werden“ (Uwe-Karsten Ketelsen, Warum wollte 1757 der Preuße aus des Ungarn Schädel süßen Tokayer trinken? Ein Beispiel symbolischer Organisierung von Feindschaft am Beginn des bürgerlichen Zeitalters. In: Feindschaft, hg. von Medardus Brehl und Kristin Platt, München 2003, S. 124–138, hier: S. 124). Und auch Hans-Martin Blitz geht es in seiner wichtigen Studie ausdrücklich darum, an der „Periodisierung des modernen deutschen Nationalismus“ zu arbeiten und seine Tradition in die Zeit vor der Französischen Revolution zu verlängern (Blitz, Aus Liebe zum Vaterland, S. 11).  



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Diese Korpusbildung hat auch die analytische Aufmerksamkeit entscheidend beeinflusst. Aus dem Interesse daran, welche Folgen die Dichtung des Siebenjährigen Kriegs für die Bellizismen der Moderne gezeitigt hat, haben viele Interpreten Gleims Gedichte mehr oder weniger ausdrücklich an der Kriegsliteratur gemessen, die sich im 19. und 20. Jahrhundert auf sie berief. Dementsprechend ist vor allem das agitatorische Potential in den Blick gekommen: Im Fokus der bisherigen germanistischen Auseinandersetzung mit den Preussischen Kriegsliedern standen zumeist die Selbst- und Fremdkonstruktionen,5 die aus der exponierten Position eines „nationalen Sängers“6 formuliert wurden. Aus dieser Konstellation erklärt sich, warum die Literaturwissenschaft die Form der Grenadierlieder bislang als Marginalie wahrgenommen hat. Offenbar ist die funktionale Definition, die in der Forschung als Klammer für die vielgestaltige, aber einheitlich „meinungs- und willensbildende“7 Kriegspoesie der späteren Jahrhunderte dient, auf das 18. Jahrhundert zurückübertragen worden. In diesem Sinn haben sich die zwei letzten großen Studien zur aufklärerischen Kriegsliteratur ganz auf die diskursiven Abhängigkeiten zwischen der „Kunstdichtung“8 und den Texten konzentriert, die im Medium der Flugschrift zur „publizistischen Propaganda“9

5 Vgl. etwa Blitz, Aus Liebe zum Vaterland, S. 275–278; Ketelsen, Warum wollte 1757 der Preuße aus des Ungarn Schädel süßen Tokayer trinken?, S. 128–133; Michael Rohrwasser, Lessing, Gleim und der nationale Diskurs. In: Lenz-Jahrbuch. Sturm-und-Drang-Studien 7 (1997), S. 137–162, hier: S. 142 f.; Hans Peter Herrmann, Individuum und Staatsmacht. Preußisch-deutscher Nationalismus in Texten zum Siebenjährigen Krieg. In: Machtphantasie Deutschland. Nationalismus, Männlichkeit und Fremdenhaß im Vaterlandsdiskurs deutscher Schriftsteller des 18. Jahrhunderts, hg. von dems., Hans-Martin Blitz und Susanne Moßmann, Frankfurt a. M. 1996, S. 66–79, hier: S. 70–74. 6 Vgl. Blitz, Aus Liebe zum Vaterland, S. 265–268; Herrmann, Individuum und Staatsmacht, S. 75; mit einer heroismustheoretischen Wendung vgl. außerdem Michael Gratzke, Blut und Feuer. Heldentum bei Lessing, Kleist, Fontane, Jünger und Heiner Müller, Würzburg 2011, S. 50–54. Wenn das 19. Jahrhundert Theodor Körner als „teutschen Tyrtäus“ verehrte, war eine entsprechende Stilisierung des Dichters zur ‚Stimme der Nation‘ impliziert (Ernst Weber, Der Krieg und die Poeten. Theodor Körners Kriegsdichtung und ihre Rezeption im Kontext des reformpolitischen Bellizismus der Befreiungskriegslyrik. In: Die Wiedergeburt des Krieges aus dem Geist der Revolution. Studien zum bellizistischen Diskurs des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts, hg. von Johannes Kunisch und Herfried Münkler, Berlin 1999, S. 285–325, hier: S. 285–287). 7 Das „funktionale Verhältnis zum Publikum“ diene, so Ernst Weber, als das „Differenzkriterium“ für die mannigfaltige Lyrik der Befreiungskriege, die wiederum wirkmächtig für die deutsche Kriegsliteratur in den folgenden Jahrzehnen geworden sei (Ernst Weber, Lyrik der Befreiungskriege (1812–1815). Gesellschaftspolitische Meinungs- und Willensbildung durch Literatur, Stuttgart 1991, S. 42). 8 Blitz, Aus Liebe zum Vaterland, S. 264. 9 Blitz, Aus Liebe zum Vaterland, S. 153.  



Teil III Krieg und Lyrik: Ästhetik und Schlesische Kriege

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beitrugen: Nachdem Hans-Martin Blitz die Kriegslieder im Paradigma des „Nationalismus vor dem Nationalismus“ neben propagandistische Medien gestellt hat,10 hat Johannes Birgfeld in dem der Kriegserfahrung daran angeschlossen.11 Daraus hat sich freilich eine markante Leerstelle ergeben, was die literarische Verfasstheit dieser Texte betrifft. Nicht nur ist bislang die Frage offengeblieben, welchen generischen Index die Preussischen Kriegslieder besaßen.12 Wo Berührungspunkte zum Gattungssystem des 18. Jahrhunderts ins Auge fallen, sind diese oft sogar als unangemessen für die politische Dichtung deklariert worden – besonders gilt das im Fall der Anakreontik.13 Die impliziten Vorannahmen, die sich aus der Literaturund Diskursgeschichte späterer Epochen ergeben, scheinen mithin eine gewisse Blindheit für die poetologischen Voraussetzungen mit sich gebracht zu haben, unter denen sich das Genre des Kriegslieds zuallererst formierte. Dabei muss man die Anhaltspunkte nicht lange suchen. Schon im zweiten Absatz seines „Vorberichts“ bemerkte Lessing, der preußische Grenadier habe sich „eine eigene Gattung von Ode“14 gemacht. Und auch in den Schlachtgesängen und Siegesliedern selbst (so die Genrebezeichnungen Gleims, die durch Lessing auf die einheitliche Kategorie ‚Kriegslied‘ gebracht wurden),15 finden sich entsprechende Markierungen fast schon im Übermaß. So wird das gesamte Spektrum von Oden abgeschritten, die das Gattungssystem der Frühen Neuzeit kannte. Reminiszenzen an die hohe Ode pindarischer Signatur, auf die Gleim im Bild des Adlerflugs anspielte,16 stehen gleich im Eröffnungslied neben solchen an die mittlere Ode des

10 Blitz wählt ein bewusst weites Korpus, das „Publizistik und Literatur“ kombiniert (Blitz, Aus Liebe zum Vaterland, S. 153). 11 Birgfeld stellt Gleims Preussische Kriegslieder in den Kontext einer langen Tradition „kunstvoller, doch für ein breites Publikum gedachter, oft singbarer und in Flugschriften verbreiteter Kriegsgedichte“ (Birgfeld, Krieg und Aufklärung, Bd. 1, S. 25). 12 So verlegt Birgfeld die „Geschichte der Kriegslyrik und der Kriegsgesänge im 18. Jahrhundert“ signifikanterweise in den Ausblick seiner nahezu 900seitigen Studie (Birgfeld, Krieg und Aufklärung, Bd. 2, S. 880). 13 Birgfeld, Krieg und Aufklärung, Bd. 1, S. 200. 14 [Lessing,] Vorbericht. In: [Gleim,] Preussische Kriegslieder, unpag. 15 Die Schlachtgesänge, die vor der Schlacht situiert wurden, und die Siegeslieder, die nach der Schlacht folgten, wurden dabei stets sauber auseinandergehalten. Vgl. z. B. die Stelle in einem Brief von Gleim an Kleist, 23. Dezember 1757. In: Ewald von Kleist’s Werke, Bd. 3, S. 267–269, hier: S. 269: „Wie hat Ihnen das Mittelstück des Lowositzischen Siegesliedes gefallen und der Roßbach’sche Schlachtgesang, den Ihnen Herr Lessing vorgelesen hat?“ 16 So fordert der Grenadier sein Lied in einer Apostrophe auf: „Dem Adler gleich erhebe dich, / Der in die Sonne sieht!“ ([Gleim,] Bey Eröfnung des Feldzuges 1756. In: Preussische Kriegslieder, S. 7). Zum Adler als Chiffre für Pindar vgl. Martin Vöhler, Ein Adler über Krähen? Zur Funktion der Antike im europäischen Kulturtransfer am Beispiel Pindars. In: Europäischer Kulturtransfer im  

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„Horatz“ und an das kleine „Lied“,17 bevor das „Siegeslied nach der Schlacht bey Lissa“ schließlich auch auf den „Psalm“18 verweist, der im 18. Jahrhundert als religiöse Ode aufgefasst wurde.19 Gleim selbst war sich darüber im Klaren, dass er mit dieser referentiellen Vielfalt ein anspruchsvolles Programm verfolgte. Es überrasche ihn nicht, „[d]aß dem Pr[inz] Heinrich’schen Hofe das Roßbach’sche Siegeslied nicht gefällt“, notierte er darum etwa in einem Brief an Kleist – zumindest, solange keine paratextuelle Einhilfe zur Hand sei, die den richtigen Weg zur Lektüre weise: Auch wird mich nicht wundern, wenn manche Andere an dieser Art Lieder keinen Geschmack finden. Sie steht zwischen der hohen Ode und dem gemeinen Liede allzu sehr in der Mitte, als daß je das Urtheil den rechten Punkt treffen könnte. Deshalb auch wird nöthig sein, daß Herr Lessing dem unbestimmten Geschmacke unserer Prinzen und Helden zurecht helfe; ich freue mich recht auf seine Vorrede […].20

Die Neuheit der Preussischen Kriegslieder konstituierte sich also nicht auf einer Tabula rasa, sondern setzte bei einem differenzierten Gattungsdiskurs an, dessen hierarchisches Gefüge bewusst in Bewegung gebracht wurde. Die Charakteristika der bekannten Odentypen traten nun zu einer anderen Ordnung zusammen, die – so Lessings Erläuterung – einer ganz bestimmten Art von „Begeisterung“ entspreche: nämlich dem „Heroismus“, der „einem Preussen […] natürlich“21 sei. Damit rückte Lessing eine Beziehung zwischen drei Diskursen ins Bewusstsein, die im Zentrum dieses Kapitels stehen soll. Die Rede von den natürlichen Empfindungen, die den ungelehrten Soldaten zum Gesang beflügelt hätten, stellte eine Assoziation zwischen dem poetischen Affekt der Ode und dem politischen Affekt des Patriotismus her, der die preußischen Bürger in Zeiten des Krieges erfasse. Seine Plausibilität gewann dieser keineswegs selbsterklärende Brückenschlag vor dem Hintergrund einer konkreten regionalen Situation, die sich im Feld der literarischen Aufklärung herausgebildet hatte. In den beiden Jahrzehnten vor der Entstehung von Gleims Kriegsliedern nämlich lässt sich eine spezifisch preußische Arbeit an der Ode, und nicht zuletzt an der politischen Ode

18. Jahrhundert. Literaturen in Europa – Europäische Literatur?, hg. von Barbara Schmidt-Haberkamp, Uwe Steiner und Brunhilde Wehinger, Berlin 2003, S. 163–178. 17 Beides ebenfalls in [Gleim,] Preussische Kriegslieder, S. 7 18 [Gleim,] Siegeslied nach der Schlacht bey Lissa den 5ten December 1757. In: Preussische Kriegslieder, S. 99–128, hier: S. 101. 19 Inka Bach und Helmut Galle, Deutsche Psalmendichtung vom 16. bis zum 20. Jahrhundert. Untersuchungen zur Geschichte einer lyrischen Gattung, Berlin, New York 1989, S. 246–252. 20 Gleim an Kleist, 6. Januar 1758. In: Ewald von Kleist’s Werke, Bd. 3, S. 272–274, hier: S. 273. 21 [Lessing,] Vorbericht. In: [Gleim,] Preussische Kriegslieder, unpag.

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verfolgen, die auf eine historische Koinzidenz zurückging.22 So war die Theoretisierung der sinnlichen Erkenntnispotentiale, die seit Alexander Gottlieb Baumgarten den Namen ‚Ästhetik‘ trug, eng mit dem Thronwechsel in Preußen zusammengefallen: Baumgarten hatte 1737 nach seiner epochemachenden Dissertation (1735) eine Professur in Halle erhalten,23 und der seit Längerem erwartungsvoll beobachtete Kronprinz Friedrich hatte im Jahr 1740 die Regierung angetreten. Zufällig hatte sich damit eine Konstellation ergeben, in der beide Faktoren auf literaturgeschichtlichem Gebiet in Berührung kamen. Denn mit einer gewissen Verspätung, die durch die Machtposition der strengen Pietisten unter dem zuvor regierenden Soldatenkönig begründet war,24 begann sich um 1740 ausgehend von Halle eine Dichtung zu entwickeln,25 die sich selbst doppelt als preußisch kennzeichnete. Erstens suchte sie sich ihr bevorzugtes Experimentierfeld in der Gattung, die einer „O RATIO SENSITIVA PERFECTA “26 im rhetorischen System am nächsten kam, wie die lokale Philosophengröße Baumgarten das Gedicht bekanntlich bestimmt hatte: in der Ode, die traditionell als Medium der Affekte galt.27 Und zweitens erschlossen sich Immanuel Jacob Pyra und Samuel

22 In Bezug auf die Genese der Empfindsamkeit herausgearbeitet von Hans-Georg Kemper, Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit, 6 Bde., Bd. 6/1: Empfindsamkeit. Tübingen 1997, S. 3. 23 Vgl. die biographische Zeittafel in der Einleitung von Heinz Paetzold zu Alexander Gottlieb Baumgarten, Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus. Philosophische Betrachtungen über einige Bedingungen des Gedichtes. Lateinisch-deutsch, übersetzt und mit einer Einleitung hg. von Heinz Paetzold, Hamburg 1983, S. VII–LX, hier: S. LV. 24 Einschlägig und differenziert zu diesem Konnex vgl. Carl Hinrichs, Preußentum und Pietismus. Der Pietismus in Brandenburg-Preußen als religiös-soziale Reformbewegung, Göttingen 1971. Friedrich II. setzte einen öffentlichkeitswirksamen Akzent gegen die Autorität der Pietisten, indem er den Philosophen Christian Wolff in seinem ersten Regierungsjahr nach Halle zurückberief, der unter seinem Vater aus religiösen Vorbehalten vertrieben worden war. Vgl. Cornelia Buschmann, Wolffianismus in Berlin. In: Aufklärung in Berlin, hg. von Wolfgang Förster, Berlin 1989, S. 73–101, hier: S. 77–81; 93. 25 Vor 1740 – und teilweise darüber hinaus – attestiert Wolfgang Martens „Halle und den brandenburgisch-preußischen Gebieten“ eine „Dürftigkeit und Unfruchtbarkeit auf dem Feld schöner weltlicher Literatur“, die er aus den „Folgen pietistischer Literaturfeindlichkeit“ erklärt (Wolfgang Martens, Hallescher Pietismus und schöne Literatur. In: Ders., Literatur und Frömmigkeit in der Zeit der frühen Aufklärung, Tübingen 1989, S. 76–181, hier: S. 133). 26 Baumgarten, Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus, § IX, S. 10. 27 Vgl. Kevin F. Hilliard, Die ‚Baumgartensche Schule‘ und der Strukturwandel der Lyrik in der Gefühlskultur der Aufklärung. In: Gefühlskultur in der bürgerlichen Aufklärung, hg. von Achim Aurnhammer, Dieter Martin und Robert Seidel, Tübingen 2004, S. 11–22, hier: S. 12. Diese Präferenz dürfte außerdem dadurch begünstigt gewesen sein, dass Oden in der grundlegend literaturkeptischen pietistischen Kultur in gewissen Grenzen, nämlich als geistliche Poesie und als Kasualdichtung, akzeptiert waren (Martens, Hallescher Pietismus und schöne Literatur, S. 80).

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Gotthold Lange, die in der sogenannten Ersten Hallischen Dichterschule agierten28 und dabei den Ästhetikern Baumgarten und Meier eng verbunden waren,29 als Gegenstand für ihre poetischen Experimente mit den Empfindungen nicht nur die Religion, der bislang meist das Augenmerk der Forschung gegolten hat.30 Ebenso präsent wie die göttliche Autorität und oft mit ihr verschränkt war in ihren Gedichten die weltliche Macht – eine Affinität, auf die schon Gerhard Kaiser mit seiner grundlegenden Studie zur literaturgeschichtlichen Beziehung von Pietismus und Patriotismus hingewiesen hat.31 Von vornherein nahmen Pyra und Lange auch die militärischen Siegeszüge, mit denen Friedrich II. zu Beginn der 1740er Jahre von sich reden machte, zum Anlass, um eine Sprache der emphatischen Ode auszuarbeiten. Diese lokale Agenda setzte sich auch dann fort, als Gleim das hallischpreußische Odenprojekt als Zentralfigur der Zweiten Hallischen Dichterschule32 wenig später vom hohen auf ein niedriges Genre, die Anakreontik, ausweitete. So verlegte er den zweiten Teil seines Versuchs in Scherzhaften Liedern bereits 1745, mehr als ein Jahrzehnt vor dem Entstehen der Grenadierlieder, versuchsweise in das preußische Kriegslager vor Prag,33 um die möglichen Berührungspunkte zwischen kriegerischen und amourösen Leidenschaften zu erkunden. Das Ziel dieses Kapitels ist es, Gleims „eigene Gattung von Ode“ konsequent in diese Zusammenhänge zu stellen. Eine solche, strikt auf die Formierung der politischen Lyrik im 18. Jahrhundert gerichtete Perspektive verspricht auf zwei Ebenen aufschlussreich zu sein. Nicht nur kann ein genauerer Blick auf die literatur- und diskursgeschichtlichen Einsatzpunkte dieser Dichtungstradition klar machen, welche regionalspezifischen Poetiken und Gesellschaftsentwürfe in

28 Kemper, Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit, Bd. 6/1, S. 96. 29 Vgl. die kanonische Studie von Theodor Verweyen, „Halle, die Hochburg des Pietismus, die Wiege der Anakreontik“. Über das Konfliktpotential der anakreontischen Poesie als Kunst der „sinnlichen Erkenntnis“. In: Halle, Aufklärung und Pietismus, hg. von Norbert Hinske, Heidelberg 1989, S. 209–238, hier: S. 215–217; zu einem früheren Zeitpunkt schon einmal größtenteils textidentisch veröffentlicht als ders., Emanzipation der Sinnlichkeit im Rokoko? Zur ästhetischtheoretischen Grundlegung und funktionsgeschichtlichen Rechtfertigung der deutschen Anakreontik. In: Germanisch-romanische Monatsschrift N. F. 25 (1975), S. 276–306, hier: S. 285–288. 30 Genau und perspektivenreich Joachim Jacob, Heilige Poesie. Zu einem literarischen Modell bei Pyra, Klopstock und Wieland, Tübingen 1997, S. 55–110. 31 Gerhard Kaiser, Pietismus und Patriotismus im literarischen Deutschland. Ein Beitrag zum Problem der Säkularisation, 2. ergänzte Aufl., Frankfurt a. M. 1973. Pyra und Lange selbst tauchen in Kaisers wichtiger Arbeit allerdings leider nicht auf. 32 Die anakreontische Schule stand über freundschaftliche Verbindungen eng mit der Ersten Hallischen Dichterschule um Lange und Pyra im Austausch. Vgl. erneut Verweyen, „Halle, die Hochburg des Pietismus, die Wiege der Anakreontik“, S. 215–217. 33 Vgl. David E. Lee, Amor im Harnisch. Gleim als Anakreontiker und Grenadier. In: Euphorion 105:1 (2011), S. 19–50, hier: S. 22–29.  

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den preußischen Entwurf der politischen Dichtung eingingen – und wie sich die Umstellung von der erhabenen Ode zu einer Liedlyrik im niedrigen rhetorischen Stil, die sich im Siebenjährigen Krieg vollzog, in eine kontinuierliche gemeinsame Arbeit an beiden Diskursen einordnete. Allgemeiner gesprochen, soll dieser Fokus die Aufmerksamkeit mithin auf eine intrikate literaturgeschichtliche Wechselbeziehung richten, die bislang noch wenig Beachtung in der Forschung gefunden hat: auf die zwischen dem empfindungszentrierten Patriotismus und der Suche nach dem „Höchstmaß an affektiver Energie“34 in der Ode. Zu zeigen wird sein, dass genau dieses Interaktionsverhältnis entscheidend zur Formierung einer eigenen literarischen Gattung für den Ausdruck der Affekte um 1770 beitrug,35 die einen „Strukturwandel der Lyrik“36 konstituierte. In diesem Sinne soll dieses Kapitel den Befund des vorigen vertiefen. Hier wird es darum gehen, im Detail auf die Modernisierung der politischen Literatur zu blicken, die sich im Schritt vom Epos zur Lyrik vollzog. Im größeren Zusammenhang betrachtet, ist diese Verschiebung symptomatisch für die neuen Ansätze der Aufklärung, mit der Vielfalt von Interessen umzugehen, die in der zusehends differenzierter werdenden Gesellschaft des 18. Jahrhunderts aufeinandertrafen. Statt diese weiterhin autoritär ‚von oben‘ in die Bahnen zu lenken, begann man nun nach den Gemeinsamkeiten zu suchen, die sie auf einer tieferliegenden Ebene zusammenhielten.37 In dieser Hinsicht erweisen sich die zunehmende Affektivierung der Literatur, die in der Erfindung der dritten Großgattung ‚Lyrik‘ als Medium des Empfindungsausdrucks mündete,38 und die Affektivierung der politischen Gemeinschaft, die sich über das zeitgenössische Stichwort ‚Patriotismus‘ adressieren lässt, gewissermaßen als historische Parallelaktionen. Ein zentraler literaturgeschichtlicher Ort für diese beiden Prozesse war das preußische Halle. Denn hier erfuhr sowohl die Literatur- als auch die Gesellschaftstheorie wichtige Impulse von der Ästhetik, die sich der Erkundung der niederen Seelenvermögen jenseits der Vernunft verschrieben hatte, um sie von minderwertigen und gefährlichen Regungen zu fundamentalen, im positiven Sinne natürlichen Kräften umzuwerten.39 Dabei entwickelten sich die poetischen Gemeinschaftsentwürfe nicht nur unter philosophischen Vorzeichen. Zugleich

34 Jacob, Heilige Poesie, S. 94. 35 Kanonisch vgl. Guthke, Die Entdeckung des Ich in der Lyrik. 36 So die Formulierung von Hilliard, Die ‚Baumgartensche Schule‘ und der Strukturwandel der Lyrik in der Gefühlskultur der Aufklärung. 37 Prägnant für die Literatur des Siebenjährigen Kriegs vgl. Martus, Aufklärung, S. 667. 38 Vgl. erneut Hilliard, Die ‚Baumgartensche Schule‘ und der Strukturwandel der Lyrik in der Gefühlskultur der Aufklärung, S. 12. 39 Martus, Aufklärung, S. 498.

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waren sie von den konkreten Bedingungen der preußischen Kultur in der Zeit der Schlesischen Kriege bestimmt. Beide Faktoren brachten eine politische Lyrik mit komplexen diskurshistorischen Implikationen hervor, die im Folgenden untersucht werden sollen.

1 Koordinaten der politischen Ode 1.1 Ästhetik, Affekt, Ode: Hallische Assoziationen (Lange, Baumgarten) In der Zeit der Schlesischen Kriege kam es in der preußischen Poesie zu einem regelrechten Odenfieber. „Die Ode ist eine der schönsten, ja die allerschönste Art der Dichtkunst, in welcher die Gedanken sowol als auch der Ausdruck die höchste Stufe der Schönheit erreichen“: Mit dieser These eröffnete Samuel Gotthold Lange eine kurze „Lehre von der Ode“, die er 1745 für seine moralische Wochenschrift Der Gesellige verfasste. „Ich könnte dieses aus dem Wesen eines Gedichtes überhaupt beweisen“, fuhr er fort; „weil ich aber von einer gewissen Art der Gedichte insbesondere handele, so würde die Ausführung für einen Bogen viel zu weitläuftig werden.“40 Eine Erläuterung dieser theoretischen Anspielung dürfte in Halle, wo Lange den Geselligen zwei Jahre lang mit Georg Friedrich Meier herausgab,41 ohnehin nicht nötig gewesen sein. Schließlich waren es Überlegungen zum „Wesen eines Gedichtes überhaupt“ gewesen, Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus, mit denen Alexander Gottlieb Baumgarten sich hier 1735 einen Namen gemacht hatte. Zum Paradigma dieser Proto-Ästhetik wurde nun die Odendichtung erklärt. „Da die Ode das affectenreicheste, und am meisten pathetische Gedicht ist“, schrieb Lange: „[S]o muß der Inhalt derselben nothwendig etwas seyn, das uns einnimt, und das Gemüth in Bewegung setzet“42. In diesen Sätzen dokumentiert sich in nuce eine Baumgarten-Lektüre, die als Impuls für die bemerkenswerte lyrische Produktivität verstanden werden kann, die von den ersten beiden Generationen preußischer Aufklärer ausging. Diese Lesart zeichnete sich durch einen Fokus auf dem Affekt aus, der ein Relais zwischen drei Dichtungslehren bildete:43 erstens dem rhetorischen System, das

40 [Samuel Gotthold Lange,] [Die Lehre von der Ode.] Das 155. Stück. In: Der Gesellige, eine moralische Wochenschrift [1745/46], hg. von Samuel Gotthold Lange und Georg Friedrich Meier, neue Aufl. in 2 Bdn., Halle 1764, Bd. 2, S. 65–75, hier: S. 65. Die einzelnen Stücke des Geselligen sind nicht signiert; da Lange aber zeitgleich mit den Oden Davids (1746) und den Horatzischen Oden (1747) beschäftigt war, ist seine Verfasserschaft sehr wahrscheinlich (Jacob, Heilige Poesie, S. 93). 41 Ausführlich charakterisiert von Wolfgang Martens, Zur Thematisierung von „schöner Literatur“ in Samuel Gotthold Langes und Georg Friedrich Meiers Moralischen Wochenschriften Der Gesellige und Der Mensch. In: Dichtungstheorien der deutschen Frühaufklärung, hg. von Theodor Verweyen und Hans-Joachim Kertscher, Tübingen 1995, S. 133–145. 42 [Lange,] [Die Lehre von der Ode.] In: Der Gesellige, Bd. 2, S. 66. 43 Vgl. Krummacher, Odentheorie und Geschichte der Lyrik im 18. Jahrhundert, S. 93 f.  

https://doi.org/10.1515/9783110613575-010

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den antiken Topos des furor poeticus in der Definition der Ode konserviert hatte;44 zweitens der – erst über Boileau, dann über Zürich vermittelten – „Affekt-Rhetorik“45 des Erhabenen, die sich im Anschluss an die Genesis-Referenzen bei Pseudo-Longin zugleich als Poetik für eine christliche Dichtung etabliert hatte; schließlich der neuen Disziplin einer philosophischen Ästhetik, die das Gedicht systematisch an die Erkenntnisvermögen jenseits des Verstandes knüpfte.46 In dieser spezifischen Scharnierfunktion fand man den Affekt in nahezu allen theoretischen Texten, von denen die hallische Odendichtung in den 1740er Jahren flankiert wurde. „Der Affect ist die Mutter der Ode“,47 heißt es etwa plakativ in der zitierten „Lehre von der Ode“. Die sublimen Implikationen dieser Terminologie wurden deutlich, als Lange die „Sprache der heiligen Poesie“ in einem Nachweis „Von dem guten Geschmack in der heiligen Schreibart“, der ebenfalls im Geselligen erschien, als genuine „Sprache der Affecten“ charakterisierte. So reiße sich „der Affect“ in den Psalmen „bis zu dem Thron des Höchsten, und vermischet sich daselbst mit den erhabenen Gesängen der unsterblichen Geister“48. Als der Autor sich kurz darauf der biblischen Poesie selbst näherte, zeichnete sich schließlich auch die ästhetische Basis seines Dichtungsverständnisses ab. So fußte das Konzept einer Poetischen Uebersezung der Psalmen, das Lange für seine Oden Davids (1746) entwickelte, begrifflich klar auf Baumgartens Meditationes. Das Anliegen des Nachdichters sei demnach nicht, sich Wort für Wort vorzutasten, sondern die „sinnliche Vorstellung“49 (repraesentatio sensitiva50) des Psalmisten wiederzugeben, indem er sich „in den Affect des Dichters“51 setze.

44 Hans-Henrik Krummacher, Poetik und Enzyklopädie. Die Oden- und Lyriktheorie als Beispiel. In: Enzyklopädien der Frühen Neuzeit. Beiträge zu ihrer Erforschung, hg. von Franz M. Eybl, Wolfgang Harms und Werner Welzig, Tübingen 1995, S. 255–285, hier: S. 259. 45 Till, Das doppelte Erhabene, S. 266. Zur Relevanz von Pseudo-Longins Schrift Vom Erhabenen für Pyra und Lange vgl. dort auch S. 224–228. 46 Damit wurde das Gedicht, wie Frauke Berndt herausgestellt hat, um 1750 zu „d[er] epistemischen Konfiguration des literarischen Textes“ (Frauke Berndt, Poema/Gedicht. Die epistemische Konfiguration der Literatur um 1750, Berlin, New York 2011, S. 3). 47 [Lange,] [Die Lehre von der Ode.] In: Der Gesellige, Bd. 2, S. 69. 48 [Samuel Gotthold Lange,] [Von dem guten Geschmack in der heiligen Schreibart.] Das 78. Stück. In: Der Gesellige, Bd. 1, S. 448–459, hier: S. 454. Langes Autorschaft ist hier aus den gleichen Gründen anzunehmen, die für die „Lehre von der Ode“ angeführt worden sind. 49 S[amuel] G[otthold] L[ange], Vorrede des Uebersetzers. In: Oden Davids, oder poetische Uebersetzung der Psalmen, mit einer Vorrede Sr. Hochwürden des Herrn Doctor Baumgartens, 4 Bde., Bd. 1, Halle 1746, unpag. 50 Vgl. Baumgarten, Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus, § III, S. 8 f. 51 Lange, Vorrede des Uebersetzers. In: Oden Davids, Bd. 1, unpag.  

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In diesen Formulierungen tritt eine Engführung von Ästhetik, Affektpoetik und Odendichtung hervor, die sich aus den Meditationes allein schwerlich ableiten ließe. Denn die vier kurzen Paragraphen, in denen Baumgarten sich mit der Poetizität der „affectus“52 befasste, besaßen an sich weder eine Priorität in der Argumentation, noch wurden sie gattungspoetisch zurückgebunden. Als eine Option unter anderen reihte sich der Affekt hier in die Aufzählung der Mittel ein, die zur Steigerung der sogenannten extensiven Klarheit beitragen sollten:53 zu der „Komplexität“,54 mit der ein Gedicht sinnliche Eindrücke vor das (innere) Auge stelle.55 Doch zugleich stand das Traktat, mit dem Baumgarten sich als Philosoph etabliert hatte, in Halle in literaturtheoretischen Kontexten, die nicht zuletzt in universitären Kollegien ausformuliert wurden. Zu greifen ist das in einigen Anmerkungen, die Gleim, Uz und Rudnick um 1741 in zwei zu Studienzwecken durchschossene Exemplare der Meditationes eingetragen haben.56 Wenn Uz etwa

52 Baumgarten, Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus, § XXV–XXVII, S. 25–27. 53 Vgl. Paetzold, Einleitung, S. XX–XXVII, hier: S. XXIII: Außer den Affekten spielt etwa das Prinzip der Konkretisierung und Individualisierung eine Rolle; ferner die Einbildungen, unter denen Baumgarten etwa Träume, das Wunderbare und die Utopie (diese in kritischer Weise) abhandelte. 54 So Verweyen, „Halle, die Hochburg des Pietismus, die Wiege der Anakreontik“, S. 219 mit Rekurs auf Ursula Franke, Kunst als Erkenntnis. Die Rolle der Sinnlichkeit in der Ästhetik Alexander Gottlieb Baumgartens, Wiesbaden 1972, S. 48. 55 Die extensive Klarheit ist derjenige Begriff, in dem Baumgarten über seine Lehrer Christian Wolff und Gottfried Willhelm Leibniz hinausging. In Leibniz’ Theorie der Erkenntnisstufen war die sinnliche Erkenntnis defizitär definiert: Sie könne dunkel oder klar sein, aber nicht zur Deutlichkeit der Vernunfterkenntnis gelangen. Durch eine „Sprengung des Klarheitsbegriffs“ stellte Baumgarten dagegen eine Gleichrangigkeit von Vernunft- und Sinneserkenntnis her (Werner Strube, Alexander Gottlieb Baumgartens Theorie des Gedichts. In: Dichtungstheorien der deutschen Frühaufklärung, hg. von Theodor Verweyen und Hans-Joachim Kertscher, Tübingen 1995, S. 1–25, hier: S. 15). Die extensive Klarheit wurde bei ihm die spezifische Erkenntnisform der Sinne, die intensive die der Vernunft (Strube, Alexander Gottlieb Baumgartens Theorie des Gedichts, S. 15; Paetzold, Einleitung, S. XVIII f.). Die Formulierung von Baumgarten lautet: „Wenn in der Vorstellung A mehr vorgestellt wird als in B, C, D usw., dennoch alle verworren sind, so wird A EXTENSIV KLARER als die übrigen sein.“ (Baumgarten, Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus, § XVI, S. 17); „[f]olglich ist es poetisch, in einem Gedicht die vorzustellenden Dinge so viel wie möglich zu bestimmen“ (Baumgarten, Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus, § XVIII, S. 17). 56 Aufgefunden und analysiert von Theodor Verweyen, Gunther Witting, Zur Rezeption Baumgartens bei Uz, Gleim und Rudnick. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 113:4 (1994), S. 496–514; unter demselben Titel ein Jahr später erneut publiziert in Dichtungstheorien der deutschen Frühaufklärung, hg. von Verweyen und Kertscher, S. 11–118. Hier wird im Folgenden auf die Version von 1994 Bezug genommen.  

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mitschrieb, wie die richtige Festlegung eines poetischen Themas (§ LXVI) in einer Vorlesung oder Übung zur Dichtkunst von Georg Friedrich Meier erläutert wurde,57 kam dabei eine Wahlverwandtschaft zur Schweizer Wirkungsästhetik zum Ausdruck. Entscheidend sei, „ob der Leser erstaunen, sich ergetzen, zittern, sich fürchten etc. soll“,58 notierte Uz zu diesem Paragraphen – und paraphrasierte damit die Vorgabe von Bodmer, dass ein Dichter sich in erster Linie auf den „Eindruck“ zu konzentrieren habe, „den er in dem Gemüthe des Lesers machen will“. Zum Beispiel, wenn er in demselben Furcht, Schrecken, Abscheu, Rache, Haß, Mitleiden, Liebe, Freude, Großmuth, oder irgend eine andere Begierde, Neigung, oder Leidenschaft, erwecken will, da er seiner besonderen Absicht gemäß in einem Gegenstand, oder einer Handlung, das Fürchterliche, oder Erschreckliche, das Abscheuliche, Grosse, Gewaltthätige, Häßliche, Traurige, Schöne, Gute, Edle, stückweise zeigt, alles andere aber sorgfältig verwirfft, was diese Absicht nicht befödert, […] und daher eine Beschreibung nur matt machete.59

Diese Verschiebung der Ästhetik in Richtung des movere diente nicht nur der Zürcher Partei, deren Dichtungslehre dadurch philosophisch nobilitiert wurde.60 Zugleich half sie, die ersten Umrisse einer ästhetischen Poetik61 in Halle mit einem konkreten literarischen Kanon zu füllen. Auf diesem Wege stellten sich Wechselbeziehungen ein, die in Uz’ Randnotizen besonders dort plastisch hervortraten, wo Baumgartens Zentralbegriff der extensiven Klarheit vertieft wurde. Denn exakt hier kehrte das Exempel wieder, an dem Bodmer in der soeben angeführten Passage das Ziel illustriert hatte, „die Phantasie am heftigsten ein[zu]nehmen“, „Catulls Brautlied auf Torquat“62. Im selben Mustertext überlagerte sich somit das Gebot sinnlicher Klarheit mit dem einer affektiven Intensität. Diese Verschränkung zog sich auch durch die weiteren Beispiele: Thematisch an Catulls

57 Verweyen, Witting, Zur Rezeption Baumgartens bei Uz, Gleim und Rudnick, S. 505. 58 Abschrift von Verweyen, Witting, Zur Rezeption Baumgartens bei Uz, Gleim und Rudnick, S. 504. 59 Johann Jakob Bodmer, Critische Betrachtungen über die Poetischen Gemählde der Dichter. Mit einer Vorrede von Johann Jakob Breitinger, [Zürich 1741], S. 72 f. 60 Döring, Der Literaturstreit zwischen Leipzig und Zürich in der Mitte des 18. Jahrhunderts, S. 88. In diesem Sinn zählt Döring die Ästhetiker zu den „Hilfstruppen im Literaturstreit“ (S. 81). 61 Eine eindrückliche Metapher für den Torso-Charakter der Meditationes hat Herder verwendet. Für ihn war die „kleine akademische Schrift“ gleichsam „jene Kuhhaut […], aus der eine ganze Königsstadt für Dido, eine wahre philosophische Poetik umzirkt werden könnte“ (Johann Gottfried Herder, [Bruchstück von Baumgartens Denkmal]. In: FHA, Bd. 1, S. 681–694, hier: S. 682). 62 Bodmer, Critische Betrachtungen über die Poetischen Gemählde der Dichter, S. 73; vgl. Uz’ transkribierte Mitschrift von Meiers Vorlesung in Verweyen, Witting, Zur Rezeption Baumgartens bei Uz, Gleim und Rudnick, S. 510.  

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Epithalamion anschließend, führte Meier einerseits Horaz mit der bukolischerotischen Ode auf die fons Bandusiae (3, 13), andererseits Anakreon mit seiner Wein- und Liebeslyrik an.63 Innerhalb des bekannten Gattungssystems konvergierte die Baumgarten’sche Klarheit in dieser Auslegung mit dem „poetischen Charakter der Ode“ – in diesem Fall mit einer Neigung zu ihrer „[s]innlich[e]rotischen“64 Variante, die gerade für die zukünftigen anakreontischen Aspirationen des Studenten wichtig wurde. Doch auch auf einer grundsätzlicheren Ebene deuten sich hier die literaturtheoretischen Präferenzen an, die bewirkten, dass die hallischen Dichter Baumgartens kurzem Hinweis auf den Affekt mehr Beachtung schenkten, als ihm auf den ersten Blick im Gefüge der Meditationes zukam. Dieser Befund rechtfertigt eine genauere Betrachtung der rezipierten Passage, die Anschlusspunkte für weitere Odentypen erschließt. Näher besehen, setzte Baumgarten nämlich einen spezifischen definitorischen Schwerpunkt, der nicht zuletzt für die politische Poesie relevant wurde. „Da Affekte merklichere Stufen der Unlust und der Lust sind“, begann er, „so werden ihre Empfindungen demjenigen, der sich etwas vorstellt, als in verworrener Weise Gutes und Schlechtes gegeben.“65 Im wolffianischen Kontext gelesen, gehörten diese Regungen mithin zu den seelischen Potentialen, bei denen die „Erkenntniskomponente“ eine „appetitive Seite“66 besaß, die ihrerseits nicht ohne ein festes moralisches, ja religiöses Orientierungssystem zu denken war.67 Auf diffuse Weise versprachen die Affekte dem Willen anzuzeigen, was „bonum et malum“68 sei und was er demnach zu erstreben und zu meiden habe. In die Logik der Ästhetik übertragen, machte genau diese Nuancierung das „[M]ehr“69 an sinnlicher Information aus, das Poetizität freizusetzen vermochte. Insofern

63 Erneut Verweyen, Witting, Zur Rezeption Baumgartens bei Uz, Gleim und Rudnick, S. 510. 64 Verweyen, Witting, Zur Rezeption Baumgartens bei Uz, Gleim und Rudnick, S. 512. 65 Baumgarten, Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus, § XXV, S. 25. 66 Paetzold, Einleitung, S. XXIII. 67 Akzentuiert von Martus, Aufklärung, S. 497–501. 68 Baumgarten, Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus, § XXV, S. 24. „Bonum et malum“ ließe sich ohne Weiteres auch als „gut und böse“ übersetzen. Das würde die Berührungspunkte zum christlichen Diskurs stärker betonen als das neutralere „gut und schlecht“. 69 So Baumgarten, Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus, § XXVI, S. 25: „Was als für uns Gutes oder Schlechtes vorgestellt wird, darin wird für uns mehr vorgestellt, als wenn dies nicht so vorgestellt würde. Folglich sind diejenigen Dinge, die in verworrener Weise als für uns gute oder schlechte dargeboten werden, extensiv klarer, als wenn sie nicht so vorgesetzt würden“. Vgl. Strube, Alexander Gottlieb Baumgartens Theorie des Gedichts, S. 6.

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beruhte der literarische Einsatz der Affekte für Baumgarten auf einer Leitdifferenz von Gutem und Schlechtem. So führte er im 27. Abschnitt der Meditationes aus: XXVII. […] Was für uns entweder als das Schlechteste oder als das Beste verworren vorgestellt wird, wird extensiv klarer vorgestellt als wenn es als weniger Gutes oder weniger Schlechtes vorgestellt würde, § 16, und ist daher poetischer, § 17. Nun bedingt die verworrene Vorstellung einer Sache als die für uns schlechteste oder beste sehr heftige Affekte. Also ist es poetischer, stärkere Affekte zu erregen als weniger heftige.70

Wenig verborgen, schien in dieser Argumentation eine moralische Agenda durch. Je stärker ein Gedicht positive und negative Affekte hervorrufe, desto klarer lasse es den Leser empfinden, was gut und schlecht sei.71 In der ästhetischen Reformulierung, bei der die seelische Aktivität ins Zentrum rückte, kehrte sich der Blick auf diesen Zusammenhang um. Im Effekt lässt sich aus den Meditationes eine konkrete poetologische Richtlinie entnehmen, die wie folgt lautet: Die Affekte kämen dann am wirkungsvollsten ins literarische Spiel, wenn ein Gedicht das bonum und das malum erstens individualisiere und zweitens auf die Spitze treibe. Der genauen Formulierung nach bestand das Ziel darin, die Umstände so auszuwählen und zu inszenieren, dass die Rezipienten sie als „nobis pessimae aut optimae“,72 als das (hier kommt es auf den Dativ „nobis“ an, der eine subjektive Komponente einführte) für sie extreme Gute und Schlechte wahrnähmen. Ein poetisches Genre, das im hallischen Kontext direkt auf diesen Suchauftrag reagierte, war die politische Ode. Denn wie im Folgenden deutlich werden soll, nahmen die preußischen Dichter die militärische Konfrontationslust ihres neuen Königs seit 1740 zum Anlass, um literarische Konstellationen auszuarbeiten, die sich mit einer maximalen affektiven Energie aufladen ließen. Dabei wurde Baumgartens Verweis auf die ästhetische Produktivität von Gegenständen, die für die anvisierten Leser das maximal Gute und Schlechte vertraten, auf den konkreten Antagonismus der Schlesischen Kriege projiziert: In der Darstellung der rivalisierenden Parteien wurde das nobis pessimae aut optimae aus einer konsequent preußischen Perspektive gegeneinandergeführt, um das poetische Erregungspotential durch diese Kollision in die Höhe zu treiben. Diese Verschrän-

70 Baumgarten, Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus, § XXVII, S. 27. 71 Die literarische „Erregung“ der Affekte sollte also immer ihrer verantwortungsvollen Führung dienen. In diesem Punkt ging Baumgarten mit den anderen Wolffianern Gottsched, Bodmer und Breitinger d’accord (Jacob, Heilige Poesie, S. 71–73, hier: S. 71). 72 Baumgarten, Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus, § XXVII, S. 26.

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kung von Ästhetik und Politik, die vor allem bei den Autoren Pyra, Lange und Gleim hervortrat, soll im Folgenden an der patriotischen Odendichtung aus der Zeit der Schlesischen Kriege konturiert werden.

1.2 Kombinatorik und Steigerung: Ein preußischer Königspsalm (Pyra) Um die hallische Arbeit an der politischen Ode zu charakterisieren, scheint es sinnvoll, mit einem weitgehend unbekannten Text von Pyra zu beginnen: mit der „Ode auf Ihro Majestät Friedrich den Andern“, die zum Regierungsantritt 1740 entstand. Die erste Ursache liegt darin, dass es sich bei diesem Gedicht um die früheste Friedrich-Panegyrik der Ersten Hallischen Dichterschule handelt. Zwar wurde die Ode einem größeren Publikum erst im „Neuen Anhang einiger Gedichte des seligen Immanuel Jacob Pyra“73 zugänglich gemacht, mit dem Lange in der zweiten Auflage der gemeinsam verfassten Freundschaftlichen Lieder (1749; zuerst 1745) an den Gefährten erinnerte, der 1744 im Alter von gerade einmal 29 Jahren verstorben war.74 Gleichwohl kursierte der Text im hallischen Freundeskreis schon sehr viel länger, so dass er die poetologischen Weichenstellungen für die Kriegsdichtungen Langes und Gleims definieren konnte.

73 Immanuel Jacob Pyra, Ode auf Ihro Majestät Friedrich den Andern König in Preussen und Chur-Fürst zu Brandenburg, bey dem Antrit der Regierung von Immanuel Jacob Pyra, aus Cotbus [1740]. In: Neuer Anhang einiger Gedichte des seligen Immanuel Jacob Pyra. In: [Samuel Gotthold Lange, Immanuel Jacob Pyra,] Thirsis und Damons freundschaftliche Lieder, hg. von Samuel Gotthold Lange […], zweyte, vielvermehrte Auflage, Halle [1749], S. 78–98. – Als Erstveröffentlichung galt lange ein Abdruck in den Bemühungen zur Beförderung der Critik und des guten Geschmacks von 1745. Christlob Mylius und Johann Andreas Cramer, die zu diesem Zeitpunkt noch als Gottscheds Schüler und Anhänger auftraten, gaben den Text des verstorbenen Gegners mit zum Teil distanzierenden Fußnoten wieder (Ode auf Ihre Majestät, Friederich den Andern, König in Preussen und Churfürst zu Brandenburg, beym Antritt der Regierung von Immanuel Jacob Pyra aus Cotbus. In: Bemühungen zur Beförderung der Critik und des guten Geschmacks, hg. von Christlob Mylius und Johann Andreas Cramer, 4 Bde., Bd. 2, St. 12, S. 291–311). Erst im Zuge seiner Neuausgabe der Freundschaftlichen Lieder von 1885 ist August Sauer auf einen Einzeldruck gestoßen, der früher erschienen sein könnte; die Jahresangabe fehlt (Immanuel Jacob Pyra, Ode auf Ihro Majestät Friedrich den Andern König in Preussen und Chur-Fürst zu Brandenburg, bey dem Antrit der Regierung von Immanuel Jacob Pyra, aus Cotbus [1740], o. O., o. J.; vgl. August Sauer, [Einleitung]. In: Samuel Gotthold Lange, Immanuel Jacob Pyra, Freundschaftliche Lieder [1749], hg. von August Sauer, Stuttgart 1885, S. III–XLVIII, hier: S. XXI f.). Der Druck scheint allerdings nicht weit verbreitet gewesen zu sein. 74 Vgl. Kemper, Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit, Bd. 6/1, S. 101.  

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Außer in der preußenbegeisterten Forschung des 19. Jahrhunderts ist die katalytische Funktion dieses Gedichts bisher kaum registriert worden.75 Das mag nicht zuletzt mit dem Erscheinungsort zu tun haben, der die literaturgeschichtlichen Abhängigkeiten auf den ersten Blick zu verkehren schien. So wirkt Pyras Text im „Neuem Anhang“ (1749) wie ein Echo auf die Horatzischen Oden (1747) von Lange, der den patriotischen Kurs des Freundes zwei Jahre zuvor weiterverfolgt hatte.76 Wenn in der jüngeren Vergangenheit nach den literaturgeschichtlichen Impulsen für die erfolgreiche Lyrik des Siebenjährigen Kriegs gefragt worden ist, hat man darum oft fälschlich nicht Pyras, sondern Langes FriedrichDichtungen als älteste „Folie“77 ins Spiel gebracht. Den zweiten Anlass, die „Ode auf Ihro Majestät Friedrich den Andern“ wieder ins Gespräch zu bringen, bildet ihre paradigmatische Affektpoetik. Im getreuen Rekurs auf Baumgarten, dessen Privatvorlesungen Pyra 1737 gehört hatte,78 setzte die Ode in dieser Hinsicht auf ein Prinzip der Maximierung. In 45 Strophen ging Pyra das Vorhaben an, die Regungen zu konturieren, die das „Hertz“79 der Preußen während der Königsberger Huldigung zum Amtsantritt erfasst hätten, den Friedrich am 20. Juli 1740 – wie schon sein Vater – betont schlicht ohne Krönung und Salbung vollzog.80 Entstanden dürfte der Text freilich einige Monate später sein. Denn ein wiederholter Seitenblick auf politische „Feinde“81 legt nahe, dass die Ode bereits auf die diplomatischen Zuspitzungen referierte, die im Herbst des Jahres zwischen Friedrich II. und Maria Theresia um die Erbfolge auf dem Kaiserthron und, damit verbunden, auch um die Provinz Schlesien entbrannten.82 So ist die Mehrzahl der Strophen dafür reserviert, die

75 Vgl. Gustav Waniek, Immanuel Pyra und sein Einfluß auf die deutsche Literatur des achtzehnten Jahrhunderts. Leipzig 1882, S. 163 f. 76 Samuel Gotthold Lange, Horatzische Oden nebst Georg Friedrich Meiers Vorrede vom Werthe der Reime, Halle 1747. 77 Ketelsen, Warum wollte 1757 der Preuße aus des Ungarn Schädel süßen Tokayer trinken?, S. 128. 78 Vgl. Carsten Zelle, „Logik der Phantasie“ – Der Beitrag von Immanuel Jacob Pyra zur Dichtungstheorie der Frühaufklärung. In: Dichtungstheorien der deutschen Frühaufklärung, hg. von Theodor Verweyen und Hans-Joachim Kertscher, Tübingen 1995, S. 55–72, hier: S. 65. 79 Pyra, Ode auf Ihro Majestät Friedrich den Andern, S. 79. 80 Am 27. Juni 1740 schrieb Friedrich an Voltaire: „Ich breche nach Preußen auf, um ohne heiliges Salbgefäß und ohne die unnützen, lachhaften Zeremonien, welche die Unwissenheit erfunden und die Gewohnheit befestigt hat, die Huldigung entgegenzunehmen“ (Voltaire – Friedrich der Große. Briefwechsel, übersetzt und hg. von Hans Pleschinski, 2. Aufl., München 1995, S. 208). Zur betont einfachen Zeremonie in Königsberg vgl. Biskup, Friedrichs Größe, S. 34 f. 81 Pyra, Ode auf Ihro Majestät Friedrich den Andern, S. 94. 82 Vgl. Waniek, Immanuel Pyra und sein Einfluß auf die deutsche Literatur, S. 90: In einigen Strophen schimmere bereits „eine Ahnung von des Königs Feldherrngenie“ durch.  



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Faktoren auszubuchstabieren, die Friedrich II. und seine Widersacher für die preußischen Untertanen zu Stellvertretern des bonum und malum machten. Die brisante politische Situation im Jahr des Thronwechsels wurde für Pyra mithin zum Ausgangspunkt, um ein intrikates Spiel der Affekte zu entwerfen, das zur zentralen Folie für die patriotische Odendichtung der Baumgarten-Schüler in den Schlesischen Kriegen wurde. Zur Instruktivität von Pyras Huldigungsode dürfte dabei nicht zuletzt ihr Umfang beigetragen haben. Wie im Folgenden nachgezeichnet werden soll, entwickelte die „Ode auf Ihro Majestät Friedrich den Andern“ mit großer Ausführlichkeit eine dualistische Struktur, die von zwei Affekten bestimmt war. Während die inszenierte preußische Gemeinschaft im Inneren durch Bänder der „Liebe“ zusammengehalten wurde, die Pyra zwischen mehreren Instanzen hin- und herspann, wandte sie sich mit „Zorn“ gegen die Gegner von außen, der das Begehren nach einer „gerechte[n] Rache“83 auslöste. So einfach dieses Schema auf den ersten Blick wirkt, so sehr gewinnt es an Komplexität, wenn man seinen dichtungstheoretischen Implikationen genauer nachgeht. Denn beide Affekte wurden in Pyras Huldigungsode eng mit den poetologischen und politischen Diskursen in Preußen verwoben, so dass eine Form der hallischen Ode entstand, die maßgerecht auf die lokale Kriegsgemeinschaft zugeschnitten war. Dieser Entwurf soll im Folgenden konturiert werden.

1.2.1 Bonum: Poetik der Liebe In seiner „Ode auf Ihro Majestät Friedrich den Andern“ zelebrierte Pyra die Liebe als den unübertroffenen Zentralaffekt der preußischen Gemeinschaft. Um die vielfältigen Funktionen des Begriffs in diesem Gedicht präzise zu analysieren, müsste man ihn streng genommen in den Plural setzen können. Denn um die Kraft der Empfindung bis zum Maximum zu steigern, setzte Pyra hier auf ein kombinatorisches Prinzip. Seine Poetologie der politischen Liebe führt den Leser der Friedrich-Ode tief in ein Netz von Beziehungen hinein, das sich in folgendem Ausruf verdichtet: Was macht denn unsern König gros, Als daß Er uns sein Hertze giebet, Und dennoch sind wir, die er liebet, Wir, Seine Lust, die Kinder Seiner Schoos, Nur Menschen, Söhne dieser Erden.

83 Pyra, Ode auf Ihro Majestät Friedrich den Andern, S. 97.

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G O tt ist vollkommen, G O tt ist gut. Wie groß muß unser König werden, Da seine Liebe selbst im Allerhöchsten ruht. Bis dahin kan nur wahre Weisheit streben. Wer aber kan Ihn gnug erheben?84

Prägnant treten hier drei Eckpunkte hervor, die im Laufe von Pyras Gedicht durch reziproke Liebesbeziehungen verbunden werden: Gott, der König und die Untertanen. Wie Gott voller Wohlwollen auf den jungen Regenten „nach [seinem] Hertzen“ blicke, so wünsche er sich im Austausch „König! Deine Liebe“85. „Du giebst sie ihm“, fuhr Pyra in einer Friedrich-Apostrophe fort, „bereit und überzeugt, / Aus reinem ungezwungnen Triebe“. Von der „ewge[n] Liebe selber“ inspiriert, die der Monarch vom „höchsten Vater aller Dinge“ empfange, zeige er sich gegenüber den Untertanen ebenso als ein liebender Vater. In dieser Übertragung deutet sich eine Analogiebildung zwischen beiden Instanzen an, die Pyra auf grammatischer Ebene mitunter bis zur Substitution trieb. So scheint das folgende Lob zunächst dem Schöpfer zu gelten: „Sein Hertz, zur Liebe nur geneigt, / Liebt das, wodurch wir glücklich werden können“. Der nächste Vers aber bezieht sich auf das Herz des Königs: „Wie solt es gegen G O tt nicht brennen.“86 Auf sprachlicher Ebene kam es somit zur Transformation der liebenden Vaterfigur von Gott in Friedrich – eine Überlagerung, in der vernehmlich der Antimachiavel (1739/40) anklang, in dem der Kronprinz gerade erst eine „auf Gerechtigkeit und Güte gegründete Staatskunst der Könige“87 entworfen und auf den Leitbegriff ‚Liebe‘ gebracht hatte.88 So lautet die berühmt gewordene Formulierung: [E]ine gute monarchische Regierungsform ist die beste aller Regierungsformen, denn wenn der Fürst gut ist, kann er seinen Untertanen unendlich viel Gutes tun […]. Also besteht das

84 Pyra, Ode auf Ihro Majestät Friedrich den Andern, S. 91. 85 Pyra, Ode auf Ihro Majestät Friedrich den Andern, S. 91. In der Formulierung, Gott habe einen Herrscher „nach seinem Herzen“ gewählt, klingt die göttliche Erwählung des Königs David in der Apostelgeschichte an (Apg. 13, 23). 86 Pyra, Ode auf Ihro Majestät Friedrich den Andern, S. 89–91. 87 Friedrich II. von Preußen, L’Antimachiavel ou Réfutation du Prince de Machiavel. Der Antimachiavel oder: Widerlegung des Fürsten von Machiavelli, übersetzt von Brunhilde Wehinger (Potsdamer Ausgabe, Bd. 6: Philosophische Schriften. Œuvres philosophiques, hg. von Anne Baillot und Brunhilde Wehinger), Berlin 2007, S. 45–260, hier: S. 51. 88 Die Schrift nahm Baumgarten sofort begeistert in seine Philosophischen Briefe auf. Das „12. Schreiben“ der Zeitschrift präsentierte dem Publikum übersetzte Auszüge aus dem Antimachiavel ([Alexander Gottlieb Baumgarten,] Philosophische Briefe von Aletheophilus, Frankfurt und Leipzig 1741, S. 33–36).

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wahre Interesse eines Fürsten darin, gut zu sein, denn er wird sich als Herr seiner Völker angesichts der Liebe, die sie ihm entgegenbringen, besser behaupten, als durch die Furcht, die er ihnen einflößen kann.89

Die zweckrationalistische Ausrichtung dieses Konzepts, bei dem es Friedrich vor allem um reibungslose Gefolgschaft ging, blieb bei Pyra freilich ebenso ausgeklammert wie seine strikte Weltlichkeit. Im Fokus des Dichters stand das Stichwort „amour“,90 das ihm dazu verhalf, das Affektdreieck der „Ode auf Ihro Majestät Friedrich den Andern“ mit Verweis auf den geehrten Herrscher selbst zu schließen. Auch die Untertanen liefen dem König bei ihm folglich „[g]antz unbesorgt aus Lieb entgegen“,91 um in dieser Zuneigung von göttlicher Seite bestärkt zu werden. Paradigmatisch kamen alle drei Instanzen in einem Gottesdienst zusammen, zu dem Pyra das „Volck“ anlässlich der Huldigung herbeiströmen ließ. Dabei ergab sich ein idealisierter Kreislauf der Empfindung: „Der Weihrauch steigt, vermischt durch Danck und Lieder“ gen Himmel auf – und „G O tt sieht“ in umgekehrter Richtung „voller Gnaden nieder“92. Schon diese kursorische Lektüre veranschaulicht, dass der Begriff ‚Liebe‘ bei Pyra als ein poetologischer Schnittpunkt fungierte, der die hallische Ästhetik zu anderen, nicht minder lokal markierten Diskursen in Beziehung setzte. Einen gewissen Grad an Aufmerksamkeit hat daran bislang nur die Tatsache erregt, dass Pyra, mit dem Tempel der Wahren Dichtkunst (1737) der erste Theoretiker einer ‚Heiligen Poesie‘,93 sich „selbst bei Behandlung dieses weltlichen Stoffes […] dem Einflusse des pietistischen Geistes nicht entziehen [konnte]“,94 wie Gustav Waniek es 1882 ausgedrückt hat. Jüngere Interpreten haben diese Diagnose nicht mehr als Widerspruch formuliert. Seit den 1970er Jahren sind die „d i r e k t e n S t r u k t u r ü b e r t r a g u n g e n “ ins Blickfeld gerückt, die „vom Pietismus zum Patriotismus“95 führten. Besonders wichtig war dabei der Standort Halle. Hier nämlich bildete sich der „Pietismus Franckescher Prägung“ zuerst als politisches

89 Friedrich II. von Preußen, Der Antimachiavel. In: Potsdamer Ausgabe, Bd. 6, S. 55. Dieses Programm wurde in der „Ode auf Ihro Majestät Friedrich den Andern“ auch angespielt, indem Pyra die Vorteile eines „weise[n] Haupt[s]“ auf dem Thron betonte. So formulierte er: „Und was ist Friedrichs Pflicht? der beste Fürst zu seyn: / Er suchet auch allein um unsert willen, / Die Königspflicht gantz zu erfüllen.“ (Pyra, Ode auf Ihro Majestät Friedrich den Andern, S. 86 f.). 90 Friedrich II. von Preußen, Der Antimachiavel. In: Potsdamer Ausgabe, Bd. 6, S. 54. 91 Pyra, Ode auf Ihro Majestät Friedrich den Andern, S. 80. 92 Pyra, Ode auf Ihro Majestät Friedrich den Andern, S. 83. 93 Vgl. den einleitenden Überblick in Jacob, Heilige Poesie, S. 2 f. 94 Waniek, Immanuel Pyra und sein Einfluß auf die deutsche Literatur, S. 90. 95 Kaiser, Pietismus und Patriotismus im literarischen Deutschland, S. 1.  



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„Ferment des Preußentums“96 heraus, bevor der christlich-patriotische Diskurs im 18. Jahrhundert weitere Kreise zog. Mit anderen Worten: Aus dem Pietismus gingen gerade an diesem Ort vielfältige Impulse für eine neue Form von „Staatsbürgermentalität“ hervor, die „jenseitige Energien ins Diesseits“97 übertrug. Im Versuch, eine dauerhafte politische Bindung zum Herrscher anzuregen, waren in der preußischen Universitätsstadt schon seit der Krönung des ersten preußischen Königs im Jahr 1701 immer wieder gefühlvolle, in der religiösen Empfindung fundierte „Regelkreis[e] zwischen Herrschenden und Beherrschten“98 entworfen worden, an die Pyra anknüpfen konnte. Die wechselseitige Dynamik von Sakralisierung und Säkularisierung, die dabei am Werke war, hat Hans-Georg Kemper in aller Kürze auch an der „Ode auf Ihro Majestät Friedrich den Andern“ veranschaulicht. Als charakteristisches Relais stellt er dabei den „Gefühlsüberschwang aus dem Geiste des Pietismus“ heraus, mit dem Pyra den „weltlichen Potentaten“ zu einem „irdischen Gott“99 hinaufhebe. In der Tat hat die religiöse Praxis des Pietismus eine reiche Sprache der Empfindungen hervorgebracht. Zumal in den 81 Komposita mit dem Wort „Liebe“ und den 48 mit „Herz“, die August Langen im Wortschatz des deutschen Pietismus auflistet,100 bildet sich einer ihrer begrifflichen Grundpfeiler ab. Neologismen wie die „Liebesarznei“, der „Liebesgrund“ oder auch das „Liebesflammenmeer“, das den Gläubigen in den „Liebesarmen“ Gottes erwarte,101 dokumentieren die Zielsetzung, in der die Reformbewegung über das orthodoxe Luthertum hinausging: das Verlangen, eine innere Begegnung mit Gott herbeizuführen, die so sinnlich wie möglich erlebt und bezeugt werden sollte.102 Entsprechend wichtig war auch der „Herzensgarten“ oder die „Herzenskammer“,103 in denen sich die „lebendige[ ] Gotteserfahrung“104 vollziehen sollte. Eine Parallele zu diesen

96 Kaiser, Pietismus und Patriotismus im literarischen Deutschland, S. 39. Preußentum und Pietismus ist ebenfalls der Titel einer wichtigen Monographie aus dem Jahr 1971, in der die Aufsätze von Carl Hinrichs zu diesem Zusammenhang versammelt sind. 97 Martus, Aufklärung, S. 65. Vgl. auch die eingehende Studie Hans Martin Sieg, Staatsdienst, Staatsdenken und Dienstgesinnung in Brandenburg-Preußen im 18. Jahrhundert (1713–1806), Berlin, New York 2003, S. 193–203. 98 Steffen Martus, Anthropologie und Staatsdienst: Friedrich Rudolph von Canitz (1654–1699). Erscheint in Anthropologie und Ästhetik. Interdisziplinäre Perspektiven, hg. von Britta Herrmann, Paderborn 2019. 99 Kemper, Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit, Bd. 6/1, S. 143. 100 August Langen, Der Wortschatz des deutschen Pietismus, Tübingen 1954, S. 514 und S. 518. 101 Langen, Der Wortschatz des deutschen Pietismus, S. 349, S. 163, S. 339, S. 350. 102 Vgl. Kaiser, Pietismus und Patriotismus im literarischen Deutschland, S. 7 f. 103 Langen, Der Wortschatz des deutschen Pietismus, S. 171; S. 422. 104 Kemper, Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit, Bd. 6/1, S. 1.  

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Semantiken liegt auf der Hand, wenn dem Ich von Pyras Ode das „Hertz vor Lust [springt]“, sobald es seinen König inmitten des „jauchzende[n] Gedrenge[s]“ erblickt: „Ja Seine Göttlichkeit“, heißt es ausdrücklich, „würckt schon in meine Brust“105. Bei dieser Beobachtung sollte man jedoch nicht Halt machen. Die eigentlich bemerkenswerte Operation der „Ode auf Ihro Majestät Friedrich den Andern“ besteht nicht darin, dass sie die pietistische „Forderung der Liebe“106 säkularisierte. Gerade in der praktischen, auf das Gemeinwohl orientierten Lehre des hallischen Pietisten August Hermann Francke tendierte der Begriff ohnehin zu einer weltlichen Applikation.107 Signifikant ist vielmehr, wie Pyra seine Liebessemantik dabei intern strukturierte. Schließlich spaltete er sie, wie oben gezeigt, in mehrere Modi auf. Während die Liebe zu Gott im engeren Sinn nur an Friedrich II. veranschaulicht wurde, der dadurch (ungeachtet seiner faktischen Skepsis in religiösen Dingen)108 einen Vorbildstatus erhielt, wurde der König selbst dreifach zum Objekt der Empfindung. Aus der quasi-religiösen Liebe zu Friedrich als neuem „Gott“,109 mit der die Ode anhob, leitete sich zum einen die zu ihm als (prospektiv) gutem Herrscher auf Erden ab,110 zu der Pyra sich von der Terminologie des Antimachiavel inspirieren ließ. Nicht weniger war es durch den pietistischen Diskurs gedeckt, wenn Friedrich zum anderen als Gegenstand einer erotischen Liebe in den Blick kam. Seit den Hohelied-Allegoresen des Mittelalters hatte die Imagination von Christus als Bräutigam ein reiches Bildfeld für religiöse Dichtung gestiftet, das auch in der pietistischen Poesie eigene Traditionslinien ausgebildet hatte –111 speziell in ihren mystischeren Spielarten, etwa den Gött105 Pyra, Ode auf Ihro Majestät Friedrich den Andern, S. 79. 106 Kaiser, Pietismus und Patriotismus im literarischen Deutschland, S. 38. 107 Vgl. Martus, Aufklärung, S. 146. 108 Um nur ein Beispiel zu nennen: Als Friedrich II. 1760 mit Raubdrucken seiner eigenen Gedichte konfrontiert wurde, bereitete ihm vor allem ein Vers erhebliche Schwierigkeiten, in dem er die Christen pauschal als feige („lâches“) bezeichnete. Vgl. Reinhart Meyer-Kalkus, „Mein Freund Lukrez“. Friedrichs „XVIII. Epistel an den Marschall von Keith: Über die leeren Schrecken des Todes und die Angst vor einem anderen Leben“. In: Friedrich der Große als Leser, hg. von Brunhilde Wehinger und Günther Lottes, Berlin 2012, S. 121–142, hier: S. 123 f. 109 Pyra, Ode auf Ihro Majestät Friedrich den Andern, S. 79. Später im Gedicht folgen Vergleiche mit Dionysos, dem „Sohn der Semelen“ (S. 82), und mit Herkules; Figuren, die den antiken Olymp nachträglich ergänzten. Friedrich wird dementsprechend zugerufen: „Ja! ja! Du dringst auf Herculs steilen Wegen / Mit Macht der Ewigkeit entgegen.“ (S. 88). 110 Im Gegenzug erhält Gott den Beinamen des „ewige[n] Monarch[en]“ (Pyra, Ode auf Ihro Majestät Friedrich den Andern, S. 93). 111 Die Gottesinstanz erschien in der frühen Literatur des Pietismus, also im Übergang vom 17. zum 18. Jahrhundert, „vorzugsweise in der Gestalt Christi als Bräutigam der bräutlichen Seele“ (Bach und Galle, Deutsche Psalmendichtung vom 16. bis zum 20. Jahrhundert, S. 226).  

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lichen Liebes-Funcken (1698) von Gottfried Arnold.112 Und auch Pyra zog die Analogie von Braut und Bräutigam als Stoff für ein ausgedehntes Gleichnis heran. Wenn nämlich das „Volck“ bei der Königsberger Zeremonie auf Friedrich zulaufe, dann geschehe das auf eine Weise, Wie eine Braut sonst unverweilt Auf ihres Liebsten blossen Namen, Ihn ungeschmückt von ihren Ramen Mit ofnem Arm entzückt entgegen eilt. Sie kommt in ihrem leichten Kleide. Es schüttert itzt zwar nicht auf Haar und Brust Mit Kunst geordnetes Geschmeide: Doch ihr Verlobter sieht mit inniglicher Lust Der Wangen Glut, die Unordnung der Triebe, Und die Nachläßigkeit der Liebe. 113

Die Trias, die sich somit profilierte, führt in das poetologische Zentrum von Pyras Ode hinein. Als Gottheit, Herrscher und Geliebter zugleich inszeniert, wurde Friedrich II. hier dreifach als bonum im Baumgarten’schen Sinne besetzt. Dabei scheint die Auswahl der Funktionen einer spezifisch literarischen Logik zu folgen, die sich am prominentesten Gattungsdiskurs in Halle orientierte: Offenbar diente der preußische König als Projektionsfläche für das Experiment, alle bekannten Formen der Ode – und damit auch das Spektrum der damit assoziierten Affekte – in einer einzigen zu kombinieren. Das soll anhand eines kurzen Seitenblicks auf die Binnengliederung der Gattung deutlich werden, die Pyras Freund Lange in seiner „Lehre von der Ode“ entwarf. Allgemein tendierte man im 18. Jahrhundert dazu, mit der Ars poetica drei Schneisen durch die „fast unzählich[en]“114 Materien der Ode zu schlagen. „Reiche Musengabe ward den Saiten der Lyra“, hatte Horaz formuliert: „Götter besingt sie und Söhne der Himmlischen, dazu den siegenden Boxer und das führende Rennpferd im Wettkampf, das Sehnen des Jünglings und den sorgenlösenden Wein.“115 Der Römer hatte in diesen Versen zwei griechische Modellautoren im Blick: Pindar, den Spezialisten für Götter und Helden, und Anakreon, den für

112 Hans-Georg Kemper, Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit, 6 Bde., Bd. 5/1: Aufklärung und Pietismus, Tübingen 1991, S. 125–129. 113 Pyra, Ode auf Ihro Majestät Friedrich den Andern, S. 80. 114 So seufzte Gottsched in seiner Critischen Dichtkunst (GAW, Bd. 6/2, S. 11). 115 Hor. ars 83–85: „Musa dedit fidibus divos puerosque deorum / et pugilem victorem, et equum certamine primum / Et iuvenem curas et libera vina referre.“ Deutsch nach Horaz, De arte poetica liber. Das Buch von der Dichtkunst, S. 235.

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Wein und Liebe.116 Den eigenen Weg berücksichtigend, den Horaz auf dieser Basis in seiner eigenen Odendichtung einschlug, gingen die deutschen Aufklärer daher normalerweise von „drei klassischen Oden-Arten“117 aus: der pindarischen, der horazischen und der anakreontischen. In Langes Klassifikation war der Akzent demgegenüber leicht verschoben. In seiner „Lehre von der Ode“ kam er „in Betrachtung der größten Meister in dieser Art der Gedichte“ zunächst nicht auf drei, sondern auf vier Namen („Pindar, Horaz, Anacreon und Sappho“118), um die anakreontische Systemstelle dann kurzerhand durch eine sapphische zu ersetzen. Die Liebe als Zentralaffekt einer Kultur des Geselligen119 wurde durch eine Leidenschaft ausgetauscht, die „zwischen zwei Menschen“120 wirksam war. Daraus ergab sich ein Raster, in dem die traditionelle Hierarchie der Odenformen121 in eine Ordnung des poetischen „Naturel[s]“ überging: Pindar stehe demnach für „das Heroische, und beschäftiget sich mit dem Lobe der Götter und der Menschen“; Horaz verweile bei vielfältigen Sujets auf „mittelmäßige[r]“Höhe; Sappho schließlich sei eine „Meisterin im Zärtlichen“122. Zum anakreontischen Typus folgte hingegen nur der lapidare Hinweis, er sei bereits an anderer Stelle „nach allen Unterscheidungsstücken abgehandelt worden“123. Das ist korrekt. So hatte das 64. Stück des Geselligen eine Apologie der anakreontischen Ode geboten, der die ersten zwei Verse von Gleims Versuch in Scherzhaften Liedern (1744) vorangestellt waren: „Anacreon, mein Lehrer, / Singt nur von Wein und Liebe“124. Auch wenn Pyra und Lange dieses Genre den

116 Vgl. Kathrin Kohl, Ode. In: Handbuch der literarischen Gattungen, hg. von Dieter Lamping in Zusammenarbeit mit Sandra Poppe, Sascha Seiler und Frank Zipfel, Stuttgart 2009, S. 549–558, hier: S. 555. 117 Hans-Georg Kemper, Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit, 6 Bde., Bd. 5/2: Frühaufklärung, Tübingen 1991, S. 40. Vgl. mit der derselben Klassifikation auch Kohl, Ode. In: Handbuch der literarischen Gattungen, S. 550. 118 [Lange,] [Die Lehre von der Ode.] In: Der Gesellige, Bd. 2, S. 74. 119 Verweyen, „Halle, die Hochburg des Pietismus, die Wiege der Anakreontik“, S. 223. 120 Michael Weißenberger, Liebeserfahrung in den Gedichten Sapphos und das Problem des Archaischen. In: Rheinisches Museum für Philologie 134:3 (1991), S. 209–237, hier: S. 223. 121 „In Absicht auf die Art zu denken“, hatte Lange kurz zuvor definiert, „sind die Oden entweder heroisch, oder ins Mittel, oder niedrig“ ([Lange,] [Die Lehre von der Ode.] In: Der Gesellige, Bd. 2, S. 73). 122 [Lange,] [Die Lehre von der Ode.] In: Der Gesellige, Bd. 2, S. 74 f. 123 [Lange,] [Die Lehre von der Ode.] In: Der Gesellige, Bd. 2, S. 75. 124 [Georg Friedrich Meier oder Samuel Gotthold Lange,] [Von der anacreontischen Ode.] Das 64. Stück. In: Der Gesellige, Bd. 1, S. 361–367, hier: S. 361. An dieser Stelle spricht einiges für Meiers Autorschaft. Schließlich verfasste der Philosoph 1744 seine Gedancken von Schertzen, mit denen er sich als Theoretiker einer anakreontischen Geselligkeit bewies. Zum Zitat vgl. auch [Johann Wilhelm Ludwig Gleim,] Anakreon. In: Versuch in Scherzhaften Liedern, Berlin [1744], S. 1.  

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jüngeren Freunden von der Zweiten Hallischen Dichterschule überließen, scheint ihr eigenes Desinteresse daran also nicht mit prinzipiellen moralischen Vorbehalten einhergegangen zu sein. Weniger reizvoll scheint das anakreontische Genre für die Älteren eher deshalb gewesen zu sein, weil es – so die Schrift „Von der anacreontischen Ode“ – „die heftigern Gemüthsbewegungen in Ruhe“ lasse, um per definitionem „leicht“125 zu wirken. Auf der Suche nach intensiven Affekten wandten Pyra und Lange sich insofern schon in den Freundschaftlichen Liedern lieber Sappho zu. Passend zu den innigen „Empfindungen des Hertzens“,126 die sie in diesen ungereimten Oden füreinander zum Ausdruck brachten, führten sie hier eine vierzeilige Strophe mit verkürztem Schlussvers ein, die sie als Reverenz an die Griechin verstanden.127 Diese Vorliebe dürfte vor allem128 darin begründet sein, dass der antike Dichtungslehrer Pseudo-Longin der sapphischen Liebe erhabene Qualitäten attestiert hatte – und zwar auf eine Weise, die für Baumgarten-Schüler enorm anschlussfähig war. Die Poetin, so der Grieche, habe die Eindrücke aller „Sinnesorgane[ ]“129 in ihrer bekanntesten Ode, die auch Catull adaptierte,130 virtuos zur Verschränkung gebracht: Bewunderst du nicht, wie sie zugleich Seele und Leib, die Ohren, die Zunge, die Augen, die Haut, alles, als sei es ihr entfremdet und zerstoben, zusammensucht und in grellem Wechsel Kälte zugleich und Hitze spürt, ohne Verstand besonnen ist […], so daß nicht nur ein Affekt an ihr hervortritt, sondern eine Versammlung von Affekten. Alles derartige geschieht wirklich mit Liebenden, doch die Auswahl, wie ich sagte, des Bedeutendsten und die Vereinigung zu einem Ganzen schufen das vollendete Kunstwerk.131

125 [Meier oder Lange,] [Von der anacreontischen Ode.] In: Der Gesellige, Bd. 1, S. 363. 126 Samuel Gotthold Lange, Vorrede zu der Zweyten Auflage. In: [Samuel Gotthold Lange, Immanuel Jacob Pyra,] Thirsis und Damons freundschaftliche Lieder, hg. von Samuel Gotthold Lange […], zweyte, vielvermehrte Auflage, Halle [1749], unpag. 127 Kemper, Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit, Bd. 6/1, S. 116. 128 Waniek begründet diese Vorliebe außerdem damit, dass sich eine ähnliche, allerdings gereimte Strophe „durch das protestantische Kirchenlied“ ins 18. Jahrhundert „herüber gerettet“ habe (Waniek, Immanuel Pyra und sein Einfluß auf die deutsche Literatur, S. 62). Konkret verweist er auf die Chöre in Johannes Kohlroß’ Eyn schön spil von Fünfferley betrachtnussen (Basel 1532). 129 Weißenberger, Liebeserfahrung in den Gedichten Sapphos und das Problem des Archaischen, S. 211. 130 Cat. 51. Vgl. Gaius Valerius Catullus, Gedichte. Lateinisch-deutsch, hg. und übersetzt von Werner Eisenhut, 11. Aufl., München 2000, S. 66 f 131 De subl. 10, 3. Deutsch nach Longinus, Vom Erhabenen, S. 33. Das Echo dieser Passage klang bei Lange wie folgt: Sappho sei eine „Mahlerin der Gemüthsempfindungen, und kan recht treffend beschreiben, wie ihr zu Muthe ist“ ([Lange,] [Die Lehre von der Ode.] In: Der Gesellige, Bd. 2, S. 75).

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Als eine solche Meisterin der Affekte fand Sappho ihren Weg auch in die preußische Odentheorie des Geselligen. Zusammengefasst, ergab sich für die hallische Dichtung damit eine Trias von pindarischer, horazischer und sapphischer Ode, die Pyra genauso in seine Inszenierung Friedrichs II. aufnahm. Systematisch schlug seine „Ode auf Ihro Majestät Friedrich den Andern“ einen Bogen über das gesamte Spektrum der Ode, „je nach dem der Dichter einen Gegenstand hat […], und nach der Leidenschaft, die bey ihm erreget ist“132. Die Gemeinschaft der Preußen wurde durch drei verschiedene Modi der Liebe – zu Gott, zum Herrscher und zu einem Geliebten – adressiert, durch die gleichzeitig die zentralen drei Typen der Ode repräsentiert waren, an denen die Erste Hallische Dichterschule arbeitete. Damit deutet sich ein hybridisierendes Programm an, das sich in der rhetorischen Ausgestaltung der Pyra’schen Ode fortsetzte So bespielte das Gedicht gleichzeitig verschiedenste Ebenen der Stilistik. Das zumindest haben die Zeitgenossen so wahrgenommen, und zwar keineswegs nur in billigender Weise. Symptomatisch sind in diesem Zusammenhang die Kritikpunkte zu nennen, die Christlob Mylius und Johann Andreas Cramer, 1745 noch ganz der Verteidigung ihres Lehrers Gottsched verpflichtet, in ihren Bemühungen zur Beförderung der Critik und des guten Geschmacks auflisteten.133 Dabei bestand ihr erklärtes Ziel darin, neben den „Ungereimtheiten“134 von Pyras Erweis, daß die G*ttsch*dianische Sekte den Geschmack verderbe (1743) auch die Defizite der Dichtung ihres Kontrahenten aufzuzeigen. Dabei lag der wesentliche Kritikpunkt in den extremen stilistischen Ausschlägen des Huldigungsgedichts. So war laut Mylius und Cramer einerseits die „Vergleichung des Aufzuges des Königes mit der Erscheinung einer Gottheit“ derart „hoch getrieben“, dass man sie selbst in einem „erhabnen“135 Gedicht auf einen weltlichen Helden schwer tolerieren könne. Andererseits würden gleich mehrere Bilder die Erwartungen an eine Ode unterschreiten, die nach den Regeln des aptum an Pindar oder Horaz ausgerichtet sein müsste. Insbesondere das oben zitierte Braut-Gleichnis war den Kritikern ein Dorn im Auge, weil es – so die Diagnose – ein viel zu niedriges soziales Setting aufrufe. „Denn die Vorstellung der Arbeit am Rahmen“, an dem die Braut gewebt habe, als die Nachricht von der Ankunft des Geliebten sie

132 [Lange,] [Die Lehre von der Ode.] In: Der Gesellige, Bd. 2, S. 73. 133 Zu dieser Zeitschrift vgl. Wilke, Der deutsch-schweizerische Literaturstreit, S. 150 134 [Christlob Mylius, Johann Andreas Cramer,] Einleitung zu [Immanuel Jacob Pyra,] Ode auf Ihre Majestät, Friederich den Andern […]. In: Bemühungen zur Beförderung der Critik und des guten Geschmacks, Bd. 2, St. 12, S. 291. 135 [Mylius, Cramer,] Anm. b. zu [Pyra,] Ode auf Ihre Majestät, Friederich den Andern […]. In: Bemühungen zur Beförderung der Critik und des guten Geschmacks, Bd. 2, St. 12, S. 294.

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erreicht habe, sei „in einer so prächtigen Ode zu klein“136. Die Webarbeit selbst konnte ein solches Urteil kaum rechtfertigen, hatte das Motiv doch seit der Odyssee als Zeichen für die Treue einer zeitweilig allein lebenden Frau gedient und somit an autoritativer Stelle Epentauglichkeit bewiesen.137 Ausdrücklich niedrig war vielmehr der Aufzug von Pyras Braut. An die traditionelle vestimentäre Metapher für rhetorischen Ornat anknüpfend,138 ließ der hallische Dichter sie „in ihrem leichten Kleide“ und ohne jegliches „Geschmeide“139 auftreten. Damit wurden zwei Markierungen verschränkt: Nicht nur vertrat die junge Frau das einfache Volk, das seinen Monarchen liebe; sie tat das außerdem als Personifikation einer einfachen, niedrigen Poesie. Was die Gottschedianer als Grenzüberschreitung wahrnahmen, war bei Pyra und Lange freilich explizit als Zielvorstellung ausformuliert. Zum Ideal gewendet, fand sich die Verbindung von Hohem und Niedrigem in ihrer Lehre von dem Odentypus wieder, mit dem ihre Namen literaturgeschichtlich eng verbunden sind. Die initiative Rolle, die das Autorenduo für die literarische Konjunktur der Psalmen im 18. Jahrhundert einnahm, ist oft hervorgehoben worden. Im Fokus der Forschung hat dabei jedoch meist nur die Poetik einer erhabenen Psalmendichtung gestanden, die Pyra und Lange im Rückgriff auf eine Analogie zwischen David und Pindar entwarfen, über die Zwingli und Melanchthon den griechischen Lyriker im „Lektürekanon der protestantischen Theologen“140 verankert hatten.

136 [Mylius, Cramer,] Anm. b. zu [Pyra,] Ode auf Ihre Majestät, Friederich den Andern […]. In: Bemühungen zur Beförderung der Critik und des guten Geschmacks, Bd. 2, St. 12, S. 296. Gleiches gilt für die Verse „Seyd sicher, ihr geliebten Heerden, / Nein! Friedrich kann kein Nero werden“, zu denen Mylius und Cramer anmerkten: „Wir wissen wohl, daß Homer, und andre alte Dichter, die Unterthanen Heerden nennen: allein in einer so prächtigen Ode, ist dieses Bild doch zu schwach und zu klein.“ (S. 308, Anm. y). 137 Die auf ihren Mann Odysseus wartende Penelope hält ihre Freier bekanntlich über Jahre auf Abstand, indem sie ein Totentuch webt und wieder auflöst (Hom. Od. 2, 93–110 sowie 19, 134– 156). 138 Diese Metapher lässt sich in die Antike zurückverfolgen. Vgl. Melanie Möller, Talis oratio – qualis vita. Zu Theorie und Praxis mimetischer Verfahren in der griechisch-römischen Literaturkritik, Heidelberg 2004, S. 108–122; Angelika Starbatty, Aussehen ist Ansichtssache. Kleidung in der Kommunikation der römischen Antike, München 2010, S. 153 f. 139 Erneut Pyra, Ode auf Ihro Majestät Friedrich den Andern, S. 80. 140 Vöhler, Ein Adler über Krähen?, S. 169 f. Zwingli verfasste 1526 die Vorrede und das Nachwort zu einer der frühesten Ausgaben, über die Pindar im Humanismus neu erschlossen wurde. Besorgt wurde sie von Jakob Wiesendanger. In wirkmächtigen Paratexten vertrat der Zürcher Reformator die These, dass „keiner der griechischen Dichter so nützlich für das Verständnis der sacrae litterae“ sei wie Pindar, weil dessen Gesänge ebenso kompliziert, aber auch ebenso voller eruditio und gratia seien wie die Psalmen oder das Buch Hiob (Wolfgang O. Schmitt, Pindar und Zwingli. Bemerkungen zur Pindar-Rezeption im frühen 16. Jahrhundert. In: Aischylos und Pindar.  



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Diese „Identifikation von ‚hoher Ode‘ und biblischem Psalm“141 entfaltete zwar eine besondere Wirkmacht, indem sie den jungen Klopstock zu seinen epochemachenden Hymnen inspirierte;142 es wäre indes kurz gegriffen, wenn man die hallischen Psalmendiskurse auf diesen Aspekt reduzieren wollte. Faktisch war die von Pindar geborgte hohe und „schöne Unordnung“143 nämlich nur ein Modus unter anderen, in dem man die biblische Dichtung in Halle in einen Wettstreit mit der antiken führte. Das Konzept der Psalmen war um 1750 erheblich weiter gefasst. In der „Einleitung“ zu seinen Geistlichen Liedern (1758) unterschied Klopstock mehrere „Classen“ von Psalmen, die er der Einfachheit halber auf zwei Typen brachte: auf erhabene „Gesänge“ und auf einfache „Lieder“144. Eine analoge stilistische Spannbreite findet sich auch schon bei Samuel Gotthold Lange: Zwar führte er die „erhabnen“ Stellen in den Psalmen in seiner Schrift „Von dem guten Geschmack in der heiligen Schreibart“ als Beweis dafür an, „daß ein stärkerer Geist, als Pindar und Horaz, von einer höhern Gluth angetrieben, alle irdische Begeisterung und Entzückung übersteige“145. Entscheidend war für ihn jedoch, dass dieser Geist in allen Abstufungen wirksam geworden sei – d. h., vom höchsten bis zum niedrigsten Pol des Gattungsspektrums. Die „lehrenden Lieder der Psalmen“, so Lange, seien etwa dezidiert „niedrig, und dem Einfältigsten deutlich, welches eine Haupteigenschaft der Kirchenlieder ist“146.  

Studien zu Werk und Nachwirkung, hg. von Ernst Günther Schmidt, Berlin 1981, S. 303–322, hier: S. 312). 141 Jacob, Heilige Poesie, S. 94. 142 Vgl. Burkhard Dohm, Pyra und Lange: Zum Verhältnis von Empfindsamkeit und Pietismus in ihren Freundschaftlichen Liedern. In: Dichtungstheorien der deutschen Frühaufklärung, hg. von Theodor Verweyen und Hans-Joachim Kertscher, Tübingen 1995, S. 86–100, hier: S. 89, Anm. 17; Jacob, Heilige Poesie, S. 2 f. 143 So für die Psalmen formuliert bei [Lange,] [Von dem guten Geschmack in der heiligen Schreibart], S. 456. Joachim Jacob hat außerdem nachgezeichnet, wie Pyra die Topik des beau désordre, mit der Alexander Pope die pindarische Lyrik in seinem Temple of Fame (1714) gepriesen hatte, in seinem eigenen Tempel der Wahren Dichtkunst sorgfältig auf die Gesänge Davids übertrug (Jacob, Heilige Poesie, S. 91 f.). 144 Friedrich Gottlob Klopstock, Einleitung. In: Geistliche Lieder. Erster Theil, Kopenhagen und Leipzig 1758, 3–26, hier: S. 5. Präzise herausgearbeitet von Hans-Henrik Krummacher, Bibelwort und hymnisches Sprechen bei Klopstock. In: Lyra. Studien zur Theorie und Geschichte der Lyrik vom 16. bis ins 19. Jahrhundert, Berlin, Boston 2012, S. 501–525, v. a. S. 510–514; aufgenommen auch von Kathrin Kohl, Rhetoric, the Bible, and the Origins of Free Verse. The Early „Hymns“ of Friedrich Gottlieb Klopstock, Berlin, New York 1990, S. 19–22; 28. 145 [Lange,] [Von dem guten Geschmack in der heiligen Schreibart.] In: Der Gesellige, Bd. 1, S. 456. 146 [Lange,] [Von dem guten Geschmack in der heiligen Schreibart.] In: Der Gesellige, Bd. 1, S. 456.  





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Wenn es darum gehe, alle Mitglieder einer Gemeinde zu erreichen, böten die Psalmen Davids dementsprechend „das beste Muster“, betonte der erfahrene Prediger in seiner „Lehre von der Ode“,147 als welche nicht alle erhaben und voll grosser Bilder sind, sondern größtentheils mittelmäßigen Vorstellungen bestehen; und der ganze 119te Psalm gehöret zu der niedrigen Art Oden. Ich erinnere dieses deswegen, damit niemand diese Psalmen gering achte, oder glaube, selbst verbunden zu seyn, lauter heroische Gedanken in seine geistlichen Andachten zu bringen.148

Aus dieser Perspektive betrachtet, lag das spezifische Potential der Psalmen gerade darin, dass sie sämtliche Typen der Ode abdeckten und somit vielfältige Bezugspunkte boten, um Adressaten aller Schichten zu erreichen. Vor diesem Hintergrund tritt das poetologische Projekt markanter hervor, das Pyra in der „Ode auf Ihro Majestät Friedrich den Andern“ verfolgte. Offensichtlich ließ der hallische Dichter sich von der stilistischen Spannbreite der Psalmen inspirieren, eine Art Meta-Ode zu entwerfen, die alle bekannten Optionen der Odendichtung in einem einzigen Gedicht vereinen sollte.149 Erhellend sind die entwickelten Affinitäten zwischen der politischen Lyrik und dem Psalmen-Diskurs in Halle darum, weil sie die interne Differenzierung der „Ode auf Ihro Majestät Friedrich den Andern“ zu begreifen helfen. Offenbar zielte Pyra darauf, das gesamte Spektrum der Ode aus einem religiösen Nukleus zu entfalten, wie es der lokalen Dichtungstheorie nach der Psalm vermochte. Dabei hob er die traditionelle Hierarchie, in der die Dignität der Gegenstände über die

147 Zu Langes Tätigkeit als Prediger vgl. Kemper, Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit, Bd. 6/1, S. 98. 148 [Lange,] [Die Lehre von der Ode.] In: Der Gesellige, Bd. 2, S. 74. 149 Traditionslos war dieser universalisierende Zugriff auf die Psalmen nicht. Wenig später, in der Schrift Les beaux-arts réduits à un même principe (1746), würde Charles Batteux an das dafür entscheidende Diktum erinnern, das Hieronymus in seinem einflussreichen Brief an den Priester Paulinus geäußert hatte: Den Christen könne David auf dem Gebiet der Ode „statt aller Griechen und aller Römer seyn: David Simonides noster, Pindarus, Alcaeus, [Horatius] Flaccus quoque“ (Hier. Epistulae 53, 8: vgl. dazu Bernd Auerochs, Die Entstehung der Kunstreligion, Göttingen 2006, S. 75–77 sowie Dieter Gutzen, Poesie der Bibel. Beobachtungen zu ihrer Entdeckung und ihrer Interpretation im 18. Jahrhundert, Bonn 1972, S. 28). Denn im Buch der Psalmen, übersetzte Karl Wilhelm Ramler, habe man „das idealische Schöne der Ode“ in jeglicher nur erdenklichen Spielart vor Augen: „Das Große, das Sanfte, das Traurige, das Heftige, alles ist hier in seiner höchsten Vollkommenheit.“ (Charles Batteux, Einleitung in die schönen Wissenschaften. Nach dem Französischen des Herrn Batteux, mit Zusätzen vermehret v. C[arl] W[ilhelm] Ramler, 4 Bde., Bd. 3, Leipzig 1757, S. 71).

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Rangfolge der einzelnen Genres entschied,150 nicht auf. Im Gegenteil: Die gattungstypische Abstufung Götter/Helden und Herrscher/Liebende diente ihm als Schablone für eine top-down-Logik, nach der er seine Affektpoetik organisierte. So ging Pyra in der Huldigungsode konzeptionell von der pietistischen Liebe zu Gott aus, um ihre säkularen Nuancierungen dann aus diesem Zentralaffekt abzuleiten. Diese hierarchische Struktur bildet sich in der „Ode auf Ihro Majestät Friedrich den Andern“ vor allem in der Abwärtsbewegung ab, in der sich die besungene affektive Kohäsion unter den Preußen konstituiert: Ausgehend von einem „grosse[n] Bund“, durch den sich Gott zum König bekennt, breitet sich die Liebe in Pyras Friedrich-Ode weiter durch die entworfene Gemeinschaft aus, um schließlich bis zum einfachen Volk zu gelangen. Gemäß dieser Abstufung jubelt das Ich des Gedichts zuerst „Mein Friedrich ists, den Gottes Schutz erhebt“; erst danach fordert es das Volk zu einem allgemeinen affektiven Echo auf: „Ihr Unterthanen jauchzt, ihr Feinde hört und bebt!“151 Zuletzt wird dabei eine deutliche Warnung an die politischen Feinde ausgesprochen, in der sich eine weitere Komponente von Pyras Poetik der politischen Ode andeutet. Machtvoll schlägt die Einheitsstiftung nach innen in eine nicht weniger leidenschaftliche Abgrenzung nach außen um, für die nun ein zweiter gemeinschaftsbildender Affekt mobilisiert wird: der rächende Zorn, durch den bei näherem Blick ein Rückgriff aufs Alte Testament vollzogen wird. An dieser Stelle wurden die Anleihen bei den Psalmen, die in der Poetologie der Huldigungsode aufgezeigt worden sind, mithin für eine Inszenierung von politischen Geltungsansprüchen unter Friedrich II. produktiv gemacht. Diesen Verschränkungen von Poetik und Politik im Zeichen der Rache soll im Folgenden genauer nachgegangen werden.

1.2.2 Malum: Poetik der Rache Mit einer Feier eines „grossen Bundes“ zwischen dem weltlichen und dem himmlischen Herrscher demonstrierte Pyra, dass seine Poetik des Psalms für eine Legitimation von Herrschaft tauglich sei. Selbstbewusst übertrug er die alttestamentliche Rede von einem exklusiven Bundesschluss auf die Königsberger Huldigung für Friedrich II. und aktualisierte damit eine Tradition biblischer Dichtung, mit deren Hilfe die Ereignisse von 1740 zum politischen Anwendungsfall für die

150 Vgl. Klaus R. Scherpe, Gattungspoetik im 18. Jahrhundert. Historische Entwicklung von Gottsched bis Herder, Stuttgart 1968, S. 21 f. 151 Pyra, Ode auf Ihro Majestät Friedrich den Andern, S. 94.  

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hallischen Konzepte der Ode werden konnten: Die Rede ist von den Psalmen auf hebräische Herrscher, in denen der pietistische Dichter seine Vorbilder für die Verschränkung von Lyrik, Religiosität und Politik fand. Dabei interessierte sich Pyra besonders für eine Gruppe von Psalmen, die Herder in der Schrift Vom Geist der Ebräischen Poesie (1783) als „Königs-Psalmen“ bezeichnen würde. In diesen Gesängen, so Herder, trete „Jehovah noch eigentlich als Nationalgott“ des Volkes Israel hervor, und der jeweils amtierende Herrscher der Israeliten erweise sich als „Vertreter seiner Stelle auf Erden“152. Dieser Begriff ist in der Theologie nach wie vor im Gebrauch.153 So liest man die Königspsalmen inzwischen historisierend als „Thronbesteigungspsalmen“, in denen die „Amtseinsetzung des neuen Königs durch Gott“ von hebräischen Dichtern gefeiert und „messianisch“154 ausgelegt wurde. Dementsprechend reich sind diese Texte an Herrschaftsmetaphoriken mit biblischer Koloristik. Aus genau diesem Bildfundus bediente sich Pyra für seine Panegyrik aus dem Geiste des Psalms, als er die Allianz zwischen Gott und Friedrich II. ausrief. Ein Vergleich zwischen der zeitgenössischen Version der Lutherbibel, die 1740 bei der Cansteinschen Bibelanstalt in Halle erschien, und seiner Huldigungsode lässt zahlreiche wörtliche Anklänge an den Text des Alten Testaments hervortreten.155 Dies beginnt schon bei der genannten Ausrufung eines „grosse[n] Bund[es]“156. „Ich habe einen bund gemachet mit meinem auserwehlten“,157 lautet auch die

152 Johann Gottfried Herder, Vom Geist der Ebräischen Poesie. Eine Anleitung für die Liebhaber derselben und der ältesten Geschichte des Menschengeschlechts, 2 Bde. In: FHA, Bd. 5, S. 661– 1301, hier: Bd. 2, Kap. XI, S. 1247, 1255. 153 Vgl. die jüngere exegetische Studie von Markus Saur, Die Königspsalmen. Studien zur Entstehung und Theologie, Berlin, New York 2004. Der Gruppe der Königspsalmen zugeordnet werden dabei die Psalmen 2, 18, 20, 21, 45, 72, 89, 101, 110, 132 und 144. 154 Bach und Galle, Deutsche Psalmendichtung vom 16. bis zum 20. Jahrhundert, S. 28. 155 Der Pietist August Hermann Francke hatte 1710 in seinem Wirkungsort Halle eine Bibelanstalt ins Leben gerufen; sie wurde mit dem Vermögen des Freiherrn Carl Hildebrand von Canstein gegründet und hieß seither ‚Cansteinsche Bibelanstalt‘. Ihr Ziel bestand darin, günstige Bibeln herzustellen, die auch unter den armen Mitgliedern der Gemeinde verbreitet werden konnten (Beate Köster, Die Lutherbibel im frühen Pietismus, Bielefeld 1984, S. 100–103). Der Text orientierte sich an den frühesten Lutherbibeln; er sollte dem „Urtext“ Luthers möglichst nahekommen (Köster, Die Lutherbibel im frühen Pietismus, S. 118). Vgl. auch Beate Köster, „Mit tiefem Respekt, mit Furcht und Zittern“. Bibelübersetzungen im Pietismus. In: Pietismus und Neuzeit 24 (1998), S. 95–115, hier: S. 96 sowie Hans–Jürgen Schrader, „red=arten u[nd] worte behalten / die der Hei[lige] Geist gebrauchet“. Pietistische Bemühungen um die Bibelverdeutschung nach und neben Luther. In: Pietismus und Neuzeit 40 (2014), S. 10–47, hier: S. 15–18. 156 Pyra, Ode auf Ihro Majestät Friedrich den Andern, S. 94. 157 Ps. 89, 4. Biblische Texte werden hier und im Folgenden zitiert nach der Ausgabe der Cansteinischen Bibel von 1740 (Biblia, Das ist: Die gantze Heil. Schrift Altes und Neues Testa-

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Legitimationsformel für David im 89. Psalm, die innerhalb des biblischen Bezugsraums einen weiten Bogen schlägt: vom Bundesschluss am Sinai, in dem Gott dem Volk Israel seine Gewogenheit bekundet,158 über König David bis hin zu den Herrschern in der Entstehungszeit der Psalmen, die sich in dessen Linie stellten.159 Im Psalm ruft dieser Bundesschluss eine Mischung aus Jubel und Angriffslust hervor, die Pyra im zitierten Vers „Ihr Unterthanen jauchzt, ihr Feinde hört und bebt!“ aufs Genaueste aufnimmt. „Wohl dem volck, das jauchtzen kann“, heißt es nämlich im Buch der Psalmen: „Denn der H ERR ist unser schild; und der heilige in Israel ist unser könig.“160 An die Widersacher der Hebräer ergeht hingegen eine scharfe Warnung, die Gott selbst in einem „gesicht“161 ausspricht: 21. Ich habe ihn funden meinen knecht David, ich habe ihn gesalbet mit meinem heiligen öhl. 22. Meine hand soll ihn erhalten, und mein arm soll ihn stärcken. 23. Die feinde sollen ihn nicht überwältigen, und die ungerechten sollen ihn nicht dämpfen. 24. Sondern ich will seine wiedersacher schlagen vor ihm her: und, die ihn hassen, will ich plagen.162

Prägnant klingt damit eine dualistische Rhetorik von Freund und Feind an, welche die Psalmen auf einer weiteren Ebene als Bildgeber für politische Dichtung qualifizierte – zumal für die hallische, die auf eine Konfrontation von bonum und malum zielte. Die Rede von Feinden zählt, wie Inka Bach und Helmut Galle in ihrer wichtigen Studie zur Psalmendichtung festhalten, zu den wesentlichen Strukturmerkmalen des Liber Psalmorum: Teils werde eine Opposition von „Feinden und Gerechten“163 entworfen, die Anlass zu individuellen Klagepsalmen gebe,164 teils finde man handfeste Drohgebärden gegen politische Gegner der

ments, Nach der Teutschen Uebersetzung D. Martin Luthers: Mit iedes Capitels kurtzen Summarien, auch beygefügten vielen und richtigen Parallelen; Mit Fleiß übersehen […]. Nebst der Vorrede Des S. Hn. C. H. von Canstein. Die LXI. Auflage, Halle 1740, hier. S. 599). 158 Ex. 24. Vgl. Jan Christian Gertz’ Ausführungen zum Bundeskonzept im Alten Testament im Artikel „Bund“. In: RGG, Bd. 1, 1998, Sp. 1861–1872, hier: Sp. 1864. 159 Vgl. Saur, Die Königspsalmen, S. 169 f. 160 Ps. 89, 16 und 19. In: Biblia (Canstein 1740), S. 600. 161 Ps. 89, 20. In: Biblia (Canstein 1740), S. 600. 162 Ps. 89, 21–24. In: Biblia (Canstein 1740), S. 600. 163 Bach und Galle, Deutsche Psalmendichtung vom 16. bis zum 20. Jahrhundert, S. 44. 164 Man spricht dabei vom Typus der „Feindklage“ (Göran Eidevall, Images of God, Self, and Enemies in the Psalms. On the Role of Metaphor Identity Construction. In: Metaphor in the Hebrew Bible, hg. von Pierre van Hecke, Leuven 2005, S. 55–65, hier: S. 56). Zu den assoziierten Bildfeldern vgl. außerdem auch Bernd Janowski, Dem Löwen gleich, gierig nach Raub. Zum Feindbild in den Psalmen. In: Die rettende Gerechtigkeit. Beiträge zur Theologie des Alten Testaments 2, hg.  

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Hebräer, die in den Königspsalmen besonders prominent seien.165 Unter diesen Vorzeichen integrierte Pyra die politischen Spannungen des Jahres 1740 in seine Adaption der biblischen Dichtung. So ließ er in der „Ode auf Ihro Majestät Friedrich den Andern“ ein imposantes „Heer der Wolcken“ aufziehen, das Friedrichs „wohlgeübtes Heer“ vom Himmel aus gegen die „Feinde“ verstärke. Dieses Bild markierte der preußische Dichter sogleich selbstreferentiell als erhaben: „Was sonsten schreckt, / scheint ietzo schön“166. Ein solcher, auf das Ästhetische zielender Hinweis war darum angebracht, weil der Ruf nach den himmlischen Streitkräften einen Affekt flankierte, der in der Debatte über die poetischen Potentiale der Psalmen tendenziell als anstößig galt. So stellte sich der Theologe und Klopstock-Freund Johann Andreas Cramer 1759 im Zuge seiner Poetischen Uebersetzung der Psalmen dem Problem, dass im biblischen Text ausdrücklich ein „H ERR G O tt, des die rache ist“167 ins Feld gerufen werde, obwohl doch „diese feindselige Begierde zuerst von der göttlichen Offenbarung als eine lasterhafte und Gott misfällige Leidenschaft verboten worden“168 sei. In einem Traktat mit dem sprechenden Titel „Wider diejenigen, welche die Verfasser der Psalmen eines rachbegierigen Geistes beschuldigen“ sprach er König David selbst von dem Vorwurf der Rachsucht frei, indem er dessen Sprechakte zu Prophezeiungen umdeutete. Als „von Gott begeisterte[r] Dichter“169 wünsche der biblische Herrscher den Untergang seiner Feinde nicht eigentlich herbei, sondern sage ihn vielmehr in seiner offenbarten eschatologischen Notwendigkeit voraus. Cramers Haltung zur Nachahmung dieser Rachepsalmen in der Gegenwart wird meist vereinfachend als restriktiv bezeichnet.170 Es wäre differenzierend

von dems., Neukirchen-Vluyn 1999, S. 49–77. Der Dualismus Feinde/Gerechte lässt sich dabei zum Teil auf religiöse, zum Teil auf juristische Kontexte zurückführen (Hermann Gunkel, Einleitung in die Psalmen. Die Gattungen der religiösen Lyrik Israels. Zu Ende geführt von Joachim Begrich, 4. Aufl., Göttingen 1985, S. 197). 165 Vgl. Bach und Galle, Deutsche Psalmendichtung vom 16. bis zum 20. Jahrhundert, S. 302 f. Beide Typen im Zusammenhang betrachtet John William Rogerson, The Enemy in the Old Testament. In: Understanding Poets and Prophets. Essays in Honour of George Wishart Anderson, hg, von A. Graeme Auld, Sheffield 1993, S. 284–293. 166 Pyra, Ode auf Ihro Majestät Friedrich den Andern, S. 96 f. 167 Ps. 94, 1. In: Biblia (Canstein 1740), S. 602. 168 Johann Andreas Cramer, Wider diejenigen, welche die Verfasser der Psalmen eines rachbegierigen Geistes beschuldigen. In: Poetische Uebersetzung der Psalmen mit Abhandlungen über dieselben, 4 Bde., Bd. 2, Leipzig 1759, S. 275–308. 169 Cramer, Wider diejenigen, welche die Verfasser der Psalmen eines rachbegierigen Geistes beschuldigen. In: Poetische Uebersetzung der Psalmen, S. 306. 170 Vgl. Bach und Galle, Deutsche Psalmendichtung vom 16. bis zum 20. Jahrhundert, S. 297 f.  





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hinzuzufügen, dass seine Argumentation gerade für eine politische Dichtung durchaus Spielräume im Umgang mit Rachemotiven beließ. Denn „[u]eberhaupt“, also abstrakt, „wider die Feinde Gottes, der Tugend, des Staates und der Kirche zu bethen“,171 hielt Cramer für denkbar, weil „das allgemeine Beste, das Beste der Frommen, das Heil der Kirche, die Sicherheit und Wohlfahrt einer rechtmäßigen Herrschaft und ihrer Unterthanen mit der Sicherheit und Glückseligkeit ihrer Feinde nicht bestehen kann“172. Die Verwobenheit von Kirche und Herrschaft vorausgesetzt, könne es folglich sehr wohl Fälle geben, in denen der Wunsch nach politischer Rache im Dienste der allgemeineren Ordnung stehe. Wie aber keine Rache in eigener Person zu dulden sei,173 so dürfe auch der Feind dabei nicht individualisiert werden. „[K]ein Christ“, so Cramer, könne spezifisch „wider diesen oder jenen ruchlosen oder für ruchlos geltenden Menschen bethen“. Der Grund dafür sei, dass in nachprophetischer Zeit „niemand, als nur Gott wissen kann, daß die Bekehrung dessen niemals erfolgen werde“174. Ein vergleichbares Orientierungssystem scheint bei Pyra wirksam zu sein. Von einem direkten, performativ ausgesprochenen Rachewunsch hielt der hallische Dichter ebenso Abstand wie von einer Konkretisierung der Feinde durch Nennung ihrer Namen. Der Modus, in dem er die göttliche Rache in seiner „Ode auf Ihro Majestät Friedrich den Andern“ ins Spiel brachte, blieb offenbar ganz bewusst der Potentialis. „Des Abends in den heissen Zeiten“, leitete Pyra mithin seine Rachevision ein, biete sich in den Wolken oft ein Schauspiel „[u]nschädlich helle[r] Blitze“. „Doch ein geheimer Schauer lehret“, fuhr er an diejenigen gewandt fort, die sich dem neuen König in den Weg zu stellen gedachten, „[d]aß der, der diese Glut zur Lust hervor gebracht, / Im Zorn auch leicht den Donner finden könne, / Der von gerechter Rache brenne“175. Auf die zentralen Motive verdichtet, rief Pyra hier das Szenario eines der Königspsalmen auf.176 So wird die Theophanie „i n S t u r m u n d W e t t e r , i n F e u e r u n d E r d b e b e n , m i t D o n n e r u n d B l i t z “, die immer

171 Cramer, Wider diejenigen, welche die Verfasser der Psalmen eines beschuldigen. In: Poetische Uebersetzung der Psalmen, S. 308. 172 Cramer, Wider diejenigen, welche die Verfasser der Psalmen eines beschuldigen. In: Poetische Uebersetzung der Psalmen, S. 294. 173 Cramer, Wider diejenigen, welche die Verfasser der Psalmen eines beschuldigen. In: Poetische Uebersetzung der Psalmen, S. 297: Cramer problematischen Fall den Terminus der „Selbstrache“. 174 Cramer, Wider diejenigen, welche die Verfasser der Psalmen eines beschuldigen. In: Poetische Uebersetzung der Psalmen, S. 308. 175 Pyra, Ode auf Ihro Majestät Friedrich den Andern, S. 97. 176 Vgl. Saur, Die Königspsalmen, S. 47–79.

rachbegierigen Geistes rachbegierigen Geistes rachbegierigen Geistes verwendete für diesen rachbegierigen Geistes

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wieder im Alten Testament zu finden ist,177 im 18. Psalm an eine quasi-militärische „rache“178 gekoppelt. Dabei wandelt der Himmel sich im Bibeltext infolge des Zorns, der Gott gegen die „feinde[ ]“179 des „gesalbten“180 aufbringt, zum imposanten Sinnbild eines Schlachtfelds: 12. Sein gezelt um ihn her war finster: und schwartze dicke wolcken, darin er verborgen war. 13. Vom glantz vor ihm trenneten sich die wolcken, mit hagel und blitzen. 14. Und der H ERR donnerte im himmel, und der höchste ließ seinen donner aus mit hagel und blitzen. 15. Er schoß seine strahlen, und zerstreuete sie: er ließ sehr blitzen, und schreckte sie. 16. Da sahe man wassergüsse, und des erdbodens grund ward aufgedeckt, H ERR , von deinem schelten, dem odem und dem schnauben deiner nasen.181

Im Rekurs auf diese Bildlichkeit drohte auch Pyras Friedrich-Ode mit einem himmlischen Krieg, der den rechtmäßigen Herrscher auf Erden bestätigen solle. In Bezug auf König David hatte Pyra die irdischen Siegeszüge, die mit einer solchen göttlichen Rückendeckung denkbar wurden, bereits 1737 in seiner allegorischen Dichtungslehre Der Tempel der Wahren Dichtkunst imaginiert. Ebenfalls mit Rückgriff auf den 18. Psalm hatte er dort die Kriegserfolge des alttestamentlichen Herrschers in Szene gesetzt. „Er bricht mit seinem G O tt / Durch Waffen, Heer und Streit, springt über alle Mauren [sic], / Und stürzet sie“,182 schrieb Pyra über den biblischen David, und dabei brachte er auch das Gewitter-Motiv zur Anwendung: [D]er Blitz fährt durch die Welt, Des Himmels Donner kracht, der Grund der Erden bebet, Da der erzürnte Gott durch große Wasser geht Und Wagen, Roß und Mann in dieser Fluth vertilget.183

Drei Jahre später, in der „Ode auf Ihro Majestät Friedrich den Andern“, verzichtete der hallische Dichter wohlweislich auf solche Schlachtvisionen; der Ausbruch des Ersten Schlesischen Krieges deutete sich schließlich zum Entstehungszeitpunkt

177 Gunkel, Einleitung in die Psalmen, S. 73. 178 Ps. 18, 48. In: Biblia (Canstein 1740), S. 564. 179 Ps. 18, 18. In: Biblia (Canstein 1740), S. 563. 180 Ps. 18, 51. In: Biblia (Canstein 1740), S. 564. 181 Ps. 18, 12–16. In: Biblia (Canstein 1740), S. 563. 182 [Pyra,] Der Tempel Der Wahren Dichtkunst, 1. Gesang, S. 102. Vgl. Ps. 18, 30, in dem das Bild des Mauersprungs vorweggenommen ist: „Denn mit dir kann ich kriegsvolck zerschmeissen, und mit meinem G O tt über die Mauer springen“ (Ps. 18, 30. In: Biblia (Canstein 1740), S. 563). 183 [Pyra,] Der Tempel Der Wahren Dichtkunst, 1. Gesang, S. 103.

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des Gedichts erst an. Stattdessen beließ er es bei der militärischen Allegorie des Unwetters, das den Krieg warnend zwischen den Zeilen als Möglichkeit aufscheinen ließ. Angesichts dieser politischen Vorsicht tritt die poetologische Funktion des rächenden Donners stärker hervor als die agitatorische, die bei der Analyse der späteren, geradezu ubiquitär auf dieses Motiv setzenden Kriegsdichtung aus Preußen in den Fokus gerückt worden ist.184 Schon im Tempel der Wahren Dichtkunst lassen sich die biblisch inspirierten Kriegsevokationen mit Jutta Heinz in den Dienst ästhetischer Steigerung stellen: Wenn der von Gott zum König erkorene David als Heerführer inszeniert werde, dann gehe es Pyra darum, die Spielräume des Erhabenen durch die Verschränkung von „Militärische[m] und Religiöse[m]“185 bis an ihr Höchstmaß auszureizen. Eine analoge Funktion hatte es, wenn Pyra den jungen, kriegsbereiten Herrscher im eigenen Lande unter weltlichen Vorzeichen in das pietistische Wechselspiel von Sakralisierung und Säkularisierung einband. Und in der Kombinatorik der Affekte, mit der Pyra in der „Ode auf Ihro Majestät Friedrich den Andern“ experimentierte, erhielten die biblischen Motive zusätzlich eine strukturelle Relevanz. So bildete die Rachetopik der Psalmen hier einen Gegenpol zum Zentralaffekt der Liebe. Um die positive Empfindung für den preußischen Monarchen zu steigern, der im Anschluss an Baumgarten als ultimatives bonum inszeniert wurde, konstruierte Pyra einen Kontrast, indem er einen negativen Affekt gleicher Stärke einführte: das Begehren nach Rache an politischen Feinden, welche die entworfene Gemeinschaft von Gott, König und Untertanen bedrohten und somit als malum fungierten. All diese Kriegsphantasien verblieben in der Huldigungsode noch im Potentialis. „Doch Mavors rauchend, blutigs’ Feld, / Der Sieger Schreyn, Besiegter

184 Einer der frühesten Interpreten von Gleims Preussischen Kriegsliedern hat das prägnante Donner-Motiv paradigmatisch in den Titel seiner Analyse aufgenommen (Jörg Schönert, Schlachtgesänge vom Kanapee. Oder: „Gott donnerte bei Lowositz“. Zu den Preußischen Kriegsliedern in den Feldzügen 1756 und 1757 des Kanonikus Gleim. In: Gedichte und Interpretationen. Bd. 2: Aufklärung und Sturm und Drang, hg. von Karl Richter, Stuttgart 1993, S. 124–139). 185 Jutta Heinz, Architektur des Erhabenen. Eine Besichtigung von Immanuel Pyras Tempel der wahren Dichtkunst. In: Dichtungstheorien der deutschen Frühaufklärung, hg. von Theodor Verweyen und Hans-Joachim Kertscher, Tübingen 1995, S. 73–86, hier: S. 81. „Erhabenheit“, so Heinz weiter, „kann ganz offensichtlich bei Pyra auch von Fürsten und besonders Heerführern in Anspruch genommen werden – weltliche Herrschaft wird dabei in Formulierung und Bildlichkeit analog zur ebenfalls oft in militärischen Termini beschriebenen Herrschaft Gottes vorgestellt.“ Paradigmatisch vereint fänden sich der literarische und der politische Aspekt der Erhabenheit dementsprechend im alttestamentlichen David, der im Tempel der Wahren Dichtkunst als „Poet, Volksheld und König“ in einer Person fungiere (Heinz, Architektur des Erhabenen, S. 80).

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Klage“, beschwichtigte Pyra, „[i]st nicht ein Schauspiel dieser Tage; / Da Friedrich sich als König dargestelt.“186 Gleichwohl legte er mit seiner „Ode auf Ihro Majestät Friedrich den Andern“ einen Entwurf der politischen Ode vor, ohne den sich die spätere und bekanntere Kriegsdichtung aus preußischer Feder nicht adäquat verstehen lässt. So stellt sein Gedicht in exponierter Weise aus, dass das Interesse am kriegerischen Konflikt in Halle entscheidend von einer spezifischen Baumgarten-Lektüre befeuert wurde: Anschließend an die Definition der Affekte in den Meditationes, wurde die politische Spannungslage als Dualismus von bonum und malum gedeutet, der Pyra die Gelegenheit gab, Kombinatoriken von positiven und negativen Affekten durchzuspielen. Die Liebe zu Friedrich II. arbeitete er dabei zu einem gattungspoetischen Meta-Affekt aus, der eine eindrucksvolle Meta-Ode inspirierte. Damit verwendete Pyra die politische Ode als Testfall für eine Dichtung, die im Anschluss an hallische Definitionen des Psalms darauf zielte, alle Stilebenen zugleich zu bespielen. Dazu kombinierte die „Ode auf Ihro Majestät Friedrich den Andern“ Semantiken von hohen und niedrigen Odenformen – ein integrativer Bogenschlag, der inhaltlich mit der Konstruktion einer Gemeinschaft aus Gott, König und Volk korrelierte. Speziell für die Preussischen Kriegslieder von Gleim wurden diese Vorgaben in der Folge axiomatisch. Denn auch sie bezogen ihren Neuigkeitsanspruch daraus, dass sie literarische Register kombinierten, die voneinander traditionell durch die Gattungshierarchie getrennt gewesen waren. „Sein Flug hält aber nie einerley Höhe“, hieß es insofern bei Lessing über den singenden Grenadier: „Eben der Adler, der vor in die Sonne sah, läßt sich nun tief herab, auf der Erde sein Futter zu suchen; und das ohne Beschädigung seiner Würde.“187 In Gleims Kriegsdichtung habe der metaphorische Adler, der in Pindars Oden für den poetischen Aufschwung „zu der Wolken Himmelszug“188 gestanden hatte,189 mithin seine stilistische Flughöhe zu variieren gelernt. Der Versuch, hohe und niedrige Semantiken zu vermitteln, zog sich in Preußen somit durch die politische Dichtung von Pyras Friedrich-Ode (1740) bis hin zu Gleims Kriegsliedern (1758). An den Gattungskonventionen des 18. Jahrhunderts gemessen, bildeten gleichwohl erst die Grenadierlieder ein dichtungstheoreti-

186 Pyra, Ode auf Ihro Majestät Friedrich den Andern, S. 97. 187 [Lessing,] Vorbericht. In: [Gleim,] Preussische Kriegslieder, unpag. 188 Hor. carm. 4, 2, 26 f. Vgl. Vöhler, Ein Adler über Krähen?, S. 168. 189 Vgl. Vöhler, Ein Adler über Krähen?, S. 166 f.: Einschlägige Stellen finden sich in den Olympien O. 2, 83–88 und in den Nemeen N. 3, 80–82 sowie 5, 20 f. Vgl. auch Glenn W. Most, Pindar, O. 2.83–90. In: The Classical Quarterly 36:2 (1986), S. 304–316 sowie René Nünlist, Poetologische Bildersprache in der frühgriechischen Dichtung, Stuttgart, Leipzig 1997, S. 56–58 und S. 277–283.  





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sches Paradox. Denn während sich die unterschiedlichen generischen Modi in Pyras „Ode auf Ihro Majestät Friedrich den Andern“ ausgehend von der höchsten Ode auffächerten, die den hohen Gegenständen von Gott und König angemessen war, kehrte sich die interne Ordnung der Gedichte bei Gleim um. Nicht nur die liedhafte Form, auch der Sänger aus dem „Volk“190 und die auf extreme Einfachheit hin konstruierte Sprache verankerten die Preussischen Kriegslieder nun primär am unteren Ende der Gattungshierarchie. Am Maßstab des traditionellen literarischen Ordnungssystems beurteilt, entstand damit ein Widerspruch in sich: eine niedrige heroische Ode. Eine wichtige Voraussetzung hatte diese Verschiebung in der fortgesetzten Reflexion über die politischen Affekte, die sich in Halle beobachten lässt. Wie in einem nächsten Schritt gezeigt werden soll, der die Analyse zwischenzeitlich von der Dichtung weg- und zu gesellschaftstheoretischen Debatten hinführt, erfuhr Pyras Zentralaffekt der politischen Liebe bei den Schülern Baumgartens schon mehrere Jahre vor dem Siebenjährigen Krieg eine konzeptuelle Transformation; und diese beruhte darauf, dass sie mit den neuen Konzepten des Patriotismus in Berührung kam.

190 [Lessing,] Vorbericht. In: [Gleim,] Preussische Kriegslieder, unpag.

2 Pietistische und patriotische Liebe (Lange, Montesquieu) Die Losung „Berlin sey Sparta!“,191 die Lessing und Gleim für die preußische Dichtung des Siebenjährigen Kriegs ausgaben, war bei Lichte besehen ein Paradox. Streng staatstheoretisch argumentiert, hätte einiges gegen die Assoziation von Preußen und antiken Spartanern gesprochen. Weiter oben in dieser Studie ist nachgezeichnet worden, dass die kriegerische Liebe zum Vaterland als politisches Prinzip der antiken Republiken in den europäischen Diskurs eingetreten war (Kap. I.2.3.1.2).192 Ihr Erfinder Charles de Montesquieu hatte sie genutzt, um das Ehrsystem im zeitgenössischen französischen Absolutismus zu kritisieren; entsprechend sorgsam hatte er auf eine strikte Abgrenzung von Republik und Monarchie geachtet.193 Auf einer verfassungstheoretischen Ebene führte mithin kein Weg von Sparta zum friderizianischen Königtum. Anders sah es mit dem terminus technicus einer ‚Liebe zum Vaterland‘ aus: Die politische Liebe erwies sich für die affektaffinen Dichter in Preußen offensichtlich auch auf anderen Ebenen als anschlussfähig. Statt die Studien fortzuschreiben, die sich auf die ideengeschichtliche Spur von „Montesquieu in Deutschland“194 gesetzt haben, soll das vorliegende Teilkapitel sich daher der Frage widmen, welche Impulse die politische Dichtung der Schlesischen Kriege aus den Considérations sur les causes de la grandeur des Romains et de leur décadence (1734) und aus dem Esprit des Lois (1748) bezog. Dabei wird zu zeigen sein, dass sich das besondere Interesse der preußischen Autoren nicht allein aus den neuen Blickwinkeln auf den Krieg speiste, die im Angebot der Republikentwürfe entfaltet wurden. Die Aufmerksamkeit beruhte auch auf einer spezifischen konzeptionellen Affinität zwischen Ästhetik und Patriotismus: Nicht zufällig, so die These, brachte Montesquieus Erkundung der inneren politischen Antriebe im Feld der deutschsprachigen Aufklärung gerade

191 [Gleim,] Bey Eröfnung des Feldzuges 1756. In: Preussische Kriegslieder, S. 3. 192 Vgl. Montesquieu, Œuvres complètes, Bd. 2, S. 274. 193 Vgl. Viroli, For Love of Country, S. 70–74. 194 So der Titel des einschlägigen Aufsatzes von Rudolf Vierhaus (Vierhaus, Montesquieu in Deutschland). Spezifisch zur deutschen Aufnahme der verschiedenen, zumeist an Montesquieu anknüpfenden Sparta-Diskurse, die sich in der französischen Aufklärung ausdifferenziert hatten, vgl. die exzellenten Studien von Barbara Mahlmann-Bauer, Der Gegensatz zwischen Sparta und Athen in der deutschen Literatur des 18. und frühen 19. Jahrhunderts. In: Staatstheoretische Diskurse im Spiegel der Nationalliteraturen von 1500 bis 1800, hg. von ders. und Wolfgang G. Müller, Wiesbaden 1998, S. 41–94, v. a. S. 51 f.; 65 f. sowie Décultot, Sparta vs. Athen: Topographien der Antike im französischen und deutschen Geschichtsdiskurs des 18. Jahrhunderts.  

https://doi.org/10.1515/9783110613575-011





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im preußischen Halle poetologische Synergieeffekte hervor, wo man verstärkt an den unteren Seelenvermögen arbeitete. So deutete sich eine Affinität zu Montesquieu in Halle lange vor Gleim an. Schon 1748, anlässlich des soeben „zu Aachen geschlossenen Frieden[s]“,195 rückten Lange und Meier eine Abhandlung in ihre Wochenschrift Der Gesellige ein, die ein bemerkenswertes Résumé aus den Schriften des französischen Philosophen zog. Der Überschrift des kurzen Texts lautete programmatisch „Von den Nutzen des Krieges“. Ein solches Plädoyer zugunsten des Krieges verstand sich zu diesem Zeitpunkt keineswegs von selbst. Darauf deutet bereits die rhetorische Strategie des anonymen Verfassers hin, hinter dem man wohl erneut Lange vermuten darf.196 Denn dieser holte sein Publikum einleitend bei der kriegsskeptischen Position ab, die bis dahin die vertraute gewesen zu sein scheint: Mehr Völker als je zuvor, erinnerte der Autor, hätten dem aktuellen Frieden „mit einer schmachtenden Sehnsucht“ entgegengesehen, weil der vergangene Krieg die „Verwüstung“ über Europa hinaus bis in die Kolonien der Neuen Welt, das heißt bis „in alle[ ] Gegenden des Erdbodens“197 getragen habe. Insofern stelle sich die Frage, wie ein Traktat mit der Überschrift „Von den Nutzen des Krieges“ mit der erklärten Zielsetzung des Geselligen in Einklang zu bringen sei, „Gesellschaften [durch die besondere freundliche Geselligkeit] zu verbessern“198. „Wie?“, fragte der Verfasser darum mit gespielter Entrüstung, „[d]er Krieg, dieses wütende Ungeheuer solte dem gesellschaftlichen Leben vortheilhaft seyn können? Zerreißt er nicht alle Banden der Gesellschaft?“ Schließlich ziehe auf die Veranlassung des Krieges hin [e]in Freund […] wider den andern zu Felde, ein Verwandter wider den andern, ein Bruder wider den andern. Der Krieg reißt die Söhne aus dem Schoosse ihrer Mütter. Den Mann entführt er von der Seite seiner Frau. Alle Verträge werden durch den Krieg zerrissen, Handel und Wandel gestöhrt, und es scheint, als mache er aus ganzen Völkern Heerden reissender und wilder Thiere, welche die Geselligkeit nicht einmal dem Namen nach kennen.199

195 [Samuel Gotthold Lange,] [Von den Nutzen des Krieges.] Das 86. Stück. In: Der Gesellige, Bd. 1, S. 501–505, hier: S. 501. 196 Dafür spricht die thematische Fixierung auf die Schlesischen Kriege, die Langes Horatzische Oden aus dem Vorjahr kennzeichnete. 197 [Lange,] [Von den Nutzen des Krieges.] In: Der Gesellige, Bd. 1, S. 510. 198 [Samuel Gotthold Lange und Georg Friedrich Meier,] [Nachricht von der Absicht bei der Ausarbeitung dieser moralischen Wochenschrift]. Erstes Stück. In: Der Gesellige, Bd. 1, S. 1–10, hier: S. 4. In dieses Programm ordneten sich auch die „manifest schönwissenschaftlichen“ Reflexionen ein, die in diesem Kapitel bislang in den Blick gekommen sind (Martens, Zur Thematisierung von „schöner Literatur“ in Samuel Gotthold Langes und Georg Friedrich Meiers Moralischen Wochenschriften Der Gesellige und Der Mensch, S. 135). 199 [Lange,] [Von den Nutzen des Krieges.] In: Der Gesellige, Bd. 1, S. 502.

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Dieser common sense, fuhr Lange fort, erweise sich bei näherer Überlegung allerdings als vorschnelles Urteil, das lediglich die „merklichsten Folgen“,200 d. h. die Oberfläche des Phänomens berühre. Eine Revision dieses Kriegsdiskurses falle sehr wohl in den Zuständigkeitsbereich des Geselligen, der sich schon dem Titel nach auf die eingehende Betrachtung des „gesellschaftlichen Leben[s] der Menschen“201 spezialisiert habe. Die grundlegenden Kräfte, die Lange daraufhin als die „Nutzen des Krieges“ profilierte, fügten sich in der Tat erstaunlich gut in das lokale Programm einer ethischen Gemeinschaftsorientierung ein.202 „Durch ein geringes Nachdenken kan man überzeugt werden, daß der Krieg eine Schule sey, in welcher man die allervortreflichsten und edelsten Tugenden am leichtesten lernt“,203 schrieb der Autor: Ebenso wie die Instruktionen des Geselligen könne die Kriegssituation helfen, die tugendhafte Natur des Menschen hervorzukehren und zu stärken.204 Anders als Wolfgang Martens annimmt, ging es Lange bei dieser These nicht einfach um ein „Gutheißen von Allem“205 aus dem Geiste einer populären Theodizee. Zu eng hielt der hallische Autor sich bei der Aufzählung der Tugenden, die er in seinem Text genauer ins Auge fasste, an eine konkrete Vorlage. So fragte er sein Publikum: „Kan für die menschliche Gesellschaft wol eine vortheilhaftere Tugend seyn, als die Liebe zum Vaterlande, die Geduld und Tapferkeit, die Liebe zu seinen Mitbürgern, und die Gottesfurcht?“ Und er versicherte nachdrücklich: „Alle diese Tugenden befördert der Krieg.“206 Mit einer markanten Ausnahme, der Gottesfurcht, enthält diese Liste genau diejenigen Qualitäten, die Montesquieu aus dem „Grundsatz des immerwährenden Krieges“ in der römischen Frühzeit abgeleitet hatte. „Standhaftigkeit und Tapferkeit“, hatte es ja in den Considérations geheißen, hätten in der Republik „von der Liebe zu sich selbst, zu Familie, Vaterland und allem, was dem Menschen heilig ist, nicht unterschieden werden“207 können. Im Esprit des Lois hatte  

200 [Lange,] [Von den Nutzen des Krieges.] In: Der Gesellige, Bd. 1, S. 502: Die negative Einschätzung des Krieges habe deshalb „nur dem ersten Ansehen nach“ Gültigkeit. 201 [Lange,] [Von den Nutzen des Krieges.] In: Der Gesellige, Bd. 1, S. 502. 202 Vgl. Mauser, Geselligkeit, S. 37–40. 203 [Lange,] [Von den Nutzen des Krieges.] In: Der Gesellige, Bd. 1, S. 503. 204 Vgl. Wolfgang Martens, Nachwort des Herausgebers. In: Der Gesellige. Eine moralische Wochenschrift hg. von Samuel Gotthold Lange und Georg Friedrich Meier. Neu hg. und mit einem Nachwort versehen von Wolfgang Martens, 6 Bde., Hildesheim, Zürich, New York 1987, S. 401*– 431*, hier: S. 416*. 205 Martens, Nachwort des Herausgebers. In: Der Gesellige, S. 417*. 206 [Lange,] [Von den Nutzen des Krieges.] In: Der Gesellige, Bd. 1, S. 503. 207 Montesquieu, Betrachtungen über die Ursachen von Größe und Niedergang der Römer, S. 9. Die angeführte Übersetzung von Schuckert ließe einen christlichen Spielraum zwar zu, weil sie

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Montesquieu den Tugendkatalog der Republik dann auf ein einziges Prinzip konzentriert, das diese Aufzählung zu einer einprägsamen Gleichung verkürzte: Die politische Tugend (vertu) wurde für identisch mit der „Vaterlandsliebe“208 erklärt, einem spezifisch antiken amour de la patrie (Kap. I.2.3.1.2).209 Das Echo, das die Aufzählung der Tugenden aus den Considérations in der Schrift „Von den Nutzen des Krieges“ fand, ist nicht zu überhören. Doch auch der Esprit des Lois, der im gleichen Jahr wie der hallische Text erschien, hinterließ bei Lange merkliche Spuren. So löste der Autor die Liebe zum Vaterland in der oben zitierten Formulierung aus der unauffälligen Mittelposition heraus, die sie in der verarbeiteten Passage der Considérations besessen hatte, um sie in seiner eigenen Aufzählung an die erste Stelle zu verschieben. Dieser Eingriff legt die Vermutung nahe, dass es die Systematik des neueren Buches von Montesquieu gewesen war, die Lange auf die Theorie der Republik aufmerksam gemacht hatte. Dies wäre insofern plausibel, als die Terminologie des Esprit des Lois eine bemerkenswerte Affinität zu den Fragestellungen aufwies, von denen sich der ästhetisch geschulte Freundeskreis in Halle leiten ließ. Denn in Montesquieus Begrifflichkeiten drückte sich aus, dass der französische Philosoph sich ebenso für die Vermögen der Seele interessierte wie die Schüler Baumgartens. Schon der titelgebende esprit verwies auf die intellektuelle „art ou de réunir […], ou de diviser“210 (Voltaire), die in Deutschland unter dem Namen „Witz“ bekannt war;211 mithilfe dieser Kunst wurde im Esprit des Lois zudem eine Trias von politischen Prinzipien aufgedeckt, die laut Montesquieus eigener Erläuterung auf den „menschlichen Leidenschaften“212 basierte.

unter den geliebten Gegenständen auch das nennt, „was dem Menschen heilig ist“. Im französischen Text der Considérations findet eine derartige religiöse Nuance sich nicht. Bei Montesquieu steht schlicht „tout ce qu’il y a de plus cher parmi les hommes“ (OC, Bd. 2, S. 94). – Wo Schuckert „Standhaftigkeit“ übersetzt, schrieb Montesquieu „Constance“ (OC, Bd. 2, S. 94); Langes „Geduld“ ließe sich also durchaus als eine alternative Übersetzung rechtfertigen. 208 GdG, Bd. 1, 5, 2, S. 63. 209 Am konzisesten formulierte Montesquieu diese Gleichsetzung, als er sein Hauptwerk in einem nachgelieferten „Avertissement de l’auteur“ gegen falsche Interpretationen absicherte. „Was ich die Tugend in der Republik nenne“, fasste er hier zusammen, „ist die Liebe zum Vaterland, das heißt die Liebe zur Gleichheit.“ Das berühmte „Avertissment“ wurde allerdings noch nicht 1748 veröffentlicht, sondern erst in der posthumen Ausgabe des Jahres 1757 (Carrithers, Democratic and Aristocratic Republics: Ancient and Modern, S. 117). 210 So die Definition in Voltaires „Lettre sur l’esprit“, der zuerst als Nachwort zur Mérope erschien, um später in einer überarbeiteten Form in das Dictionnaire philosophique aufgenommen zu werden. Vgl. Elena Russo, Styles of Enlightenment. Taste, Politics, and Authorship in Eighteenth-Century France, Baltimore 2006, S. 300, Anm. 22. 211 Vgl. Russo, Styles of Enlightenment, S. 150. 212 GdG, Bd. 1, III, 1, S. 33.

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Im Fall der antiken Republik hatte dieser Weg den Franzosen dabei exakt in die Sphäre geführt, die man in Halle als den „Grund der Seele“213 bezeichnete. So korrespondierte die früheste Form der Gesellschaft bei Montesquieu mit einem betont fundamentalen Affekt. „Die Tugend in einer Republik ist etwas sehr Einfaches“, heißt es im Esprit des Lois zur patriotischen Liebe der antiken Gemeinschaften: „Sie ist ein Gefühl, nicht Folge von Kenntnissen; der geringste Mann im Staat kann dieses Gefühl ebensogut haben wie der erste.“214 Diese Universalität und Ursprünglichkeit machte die Vaterlandsliebe bei Montesquieu zu einem kraftvollen politischen Affekt, der die Menschen zum tätigen Einsatz für ihre Nächsten anzuregen vermochte.215 Als soziale Ordnung, die sich durch die Liebe regulierte, wurde die Republik auf dieser Grundlage auch für die Baumgarten-Schüler interessant. Wie oben entwickelt worden ist (Kap. III.1), kreisten die hallischen Autoren bei ihrer Suche nach dem gesellschaftlichen Potential der bis dato verschmähten unteren Seelenkräfte ebenfalls um verschiedene Modi der Liebe. In Pyras „Ode auf Ihro Majestät Friedrich den Andern“ war es genau dieser Affekt, der in einer vertikal strukturierten Gesellschaftsordnung für Kohäsion sorgte. Und auch als die jüngeren Dichter des hallischen Freundeskreises ihr Augenmerk auf den Entwurf einer Geselligkeit verlagerten, der auf eine horizontale, „diskursiv-egalitäre Sozialethik“216 zielte, behielten sie diesen Fluchtpunkt bei. „Ohne die Liebe“, mahnte Georg Friedrich Meier 1748 in seinen Anfangsgründen aller schönen Wissenschaften, „würden wir Menschen Barbarn seyn“. Erst die Kraft dieser Leidenschaft bewege die Individuen dazu, sich einander zuzuwenden, um „gesellig, freundlich, zärtlich, mitleidig [und] gutthätig“217 zu werden. Diese These brachte der 213 Diese Übersetzung bot Baumgarten selbst ab der vierten Auflage seiner Metaphysica für den „F UNDUS ANIMAE “ (§ 511) an, in dem er die dunklen Erkenntnisvermögen situierte (Alexander Gottlieb Baumgarten, Metaphysica/Metaphysik. Historisch-kritische Ausgabe, übersetzt, eingeleitet und hg. von Günter Gawlick und Lothar Kreimendahl, Stuttgart 2011, S. 270). Vgl. Hans Adler, Die Prägnanz des Dunklen. Gnoseologie, Ästhetik, Geschichtsphilosophie bei Johann Gottfried Herder, Hamburg 1990, S. 39. 214 GdG, Bd. 1, V, 2, S. 62. 215 Russo, The youth of moral life, S. 110: „Virtue is an action-oriented passion endowed with ‚force‘ and directness.“ 216 Mauser, Geselligkeit, S. 32. In seinen Beobachtungen zum Geselligen hebt Mauser in diesem Sinn die Leitvorstellung hervor, auf die das 2. Stück mit der sozialen Allegorie eines Picknicks hinausläuft (vgl. Mauser, Geselligkeit, S. 38). In diesem Text heißt es programmatisch: „Wir wollen, es soll keine andere Gesellschaft seyn, als zu welcher ein jeder in vollkommener Gleichheit das Seinige beytragen kan.“ ([Samuel Gotthold Lange oder Georg Friedrich Meier,] [Von den regierenden Herren.] Das 2. Stück. In: Der Gesellige, Bd. 1, S. 11–15, hier: S. 15). 217 Georg Friedrich Meier, Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften, 3 Bde., Bd. 1, Halle 1748, S. 37. Vgl. Verweyen, „Halle, die Hochburg des Pietismus, die Wiege der Anakreontik“,

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Ästhetiklehrer schließlich in einer Metapher auf den Punkt, die sich ohne Weiteres mit der französischen Theorie der Republik in Einklang bringen ließ: In der Liebe, so Meier, müsse man nichts Geringeres sehen als die „Mutter aller menschlichen Tugenden“218. Auch wenn Lange mit der Formel ‚Liebe zum Vaterland‘ unübersehbar an Montesquieu anknüpfte, stand dieses Konzept in der Schrift „Von den Nutzen des Krieges“ also von vornherein in einem Kontext, der durch einen deutschen; spezifischer: durch einen hallischen Diskurs vorformatiert war. Diese Konstellation löste einen Angleichungsprozess aus, in dem beide Gemeinschaftsvorstellungen – die von Montesquieu wie die der Baumgarten-Schüler – einander wechselseitig zu modifizieren begannen. Speziell das Objekt der politischen Liebe, das Vaterland, durchlief bei Lange sofort eine merkliche Annäherung an die lokalen Vorstellungen. Eine Anpassung an den regionalen Kontext vollzog sich schon dadurch, dass der in Halle erscheinende Gesellige ausdrücklich über die Schlesischen Kriege an die „Nutzen des Krieges“ heranführte: Performativ wurde die entfaltete Theorie des Patriotismus von den antiken Republiken auf die preußische Kriegspartei übertragen, an deren Spitze ein König stand. Ebenso fällt auf, dass Lange der Liebe zum Vaterland eine Gottesfurcht zur Seite stellte, wie man sie in den latent kirchenkritischen Considérations von Montesquieu vergeblich suchen würde.219 Damit fügte der Prediger dem französischen Konzept des patriotisme eine pietistische Facette hinzu. Diese Tendenz tritt noch deutlicher an einer Stelle der Schrift hervor, in der Lange zum historischen Beweis für die behaupteten „Nutzen des Krieges“ ansetzte. Dabei behauptete er zunächst im Anschluss an Montesquieu, dass der Krieg mit Tugend korreliere, während der Frieden in einem Staat das Fundament für ein lasterhaftes Leben lege: „Ganze Völker sind durch einen langwierigen Frieden ins äusserste Verderben gerathen, und der Krieg hat ihnen wieder aufgeholfen.“220 Statt des römischen Altertums, das diese These in den Considérations illustriert hatte, führte Lange jedoch als zentrales Beispiel das Volk Israel an,221 das Pyra

S. 223; zur Liebe als Zentralaffekt der zeitgenössischen Geselligkeitskonzepte vgl. auch Mauser, Geselligkeit, S. 17. 218 Meier, Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften, Bd. 1, S. 37. 219 Vgl. Myers, Christianity and Politics in Montesquieu’s Greatness and Decline of the Romans. 220 [Lange,] [Von den Nutzen des Krieges.] In: Der Gesellige, Bd. 1, S. 502. 221 Auch in anderen Texten im Geselligen dienen Figuren aus dem Alten Testament als Exempel für ein „musterhaft[es]“ Sozialverhalten, Martens verweist etwa auf das Stück 120 über „Das gesellige Leben Abrahams“, das Stück 139 mit seiner „Lebensbeschreibung Mosis“ und das Stück 161 mit seiner „Geschichte des Königes David“ (Martens, Nachwort des Herausgebers, S. 416*).

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und er auch in der Dichtungstheorie als antike Referenzkultur bevorzugten. „Aus den heiligen Geschichten lernen wir, daß das jüdische Volk, wenn es nur einen halben Jahrhundert keinen Feind auf dem Nacken hatte, in die äusserste Zerrüttung gerieth“, berichtete er: Da war keine Vereinigung mehr unter ihnen, ein jeder that, was ihm gut dünkte. Sie vergassen die wahre Religion, und ein jeder machte sich selbst eine Gottheit, wie es ihm gut deuchte. Das Recht wurde nicht mehr gehört, und die ganze Nation ward so niederträchtig, furchtsam, kleinmüthig, daß der nächste der beste Feind sie völlig unter das Joch bringen konnte. G O tt brauchte selbst den Krieg als ein Mittel, die Juden wieder in Ordnung zu bringen. Der Krieg gab ihnen wieder neuen Muth und neues Leben. Der Krieg brachte sie wieder zu einer gemeinschaftlichen Religion, und die erloschene Tugend ward wieder von neuem angefeuret.222

Mit dieser semantischen Erweiterung ins Religiöse bewegte sich das Vaterland, das bei Montesquieu die kriegerische Leidenschaft der Römer und Spartaner entfacht hatte, inhaltlich merklich auf die pietistisch-politischen Diskurse in Preußen zu, wie sie Pyra in der „Ode auf Ihro Majestät Friedrich den Andern“ verarbeitet hatte. Das „Band der Gesellschaft“223 zog sich in Langes Gemeinschaftsentwurf offenbar umso fester zusammen, je enger Staat und Religion verschränkt waren. Die Liebe selbst, die Montesquieu zum Schlüsselaffekt seiner Republiken gemacht hatte, brachte hingegen trotz der dargelegten begrifflichen Kontinuitäten ein neues Konzept der sozialen Kohäsion nach Halle. Das bezeugt der Umbau der politischen Ode, der bald darauf in der preußischen Dichtung des Siebenjährigen Krieges einsetzte. In seinem Gedicht auf Friedrich II. hatte Pyra die prototypische Liebesgemeinschaft noch aus der erhabensten Empfindung heraus entwickelt: Bei ihm war es ein Liebesbund zwischen Gott und Herrscher gewesen,

222 [Lange,] [Von den Nutzen des Krieges.] In: Der Gesellige, Bd. 1, S. 502 f. Erst danach folgte das Beispiel des antiken Roms, in dem Lange bis in die Formulierungen hinein das Thema der Expansion aufnahm, wie es Montesquieu in den Considérations sur les causes de la grandeur des Romains et de leur décadence als Kernproblem entwickelt hatte (vgl. Kap. I.2.3.1.1). So formulierte der Autor aus Halle: „Als sie [die Römer, A.H.] ihr Gebiet noch nicht bis über die Grenzen von Italien ausgedehnt hatten, führten sie unaufhörlich Kriege unter den Mauren ihrer Vaterstadt. […] Als sie aber ihre Herrschaft über Italien ausdehnten, so führten sie bey nahe alle ihre Kriege ausser Italien, und man genoß also in Rom mitten unter dem Kriege eines immerwährenden Friedens. Und hier ist der Zeitpunct, da Rom anfing, seine alte Herrlichkeit zu verlieren. Schwelgerey, Üppigkeit, Betrug, Arglist und alle Laster nahmen überhand, und die Römer geriethen ins äusserste Verderben.“ ([Lange,] [Von den Nutzen des Krieges.] In: Der Gesellige, Bd. 1, S. 503; vgl. Montesquieu, Betrachtungen über die Ursachen von Größe und Niedergang der Römer, S. 73–76). 223 [Lange,] [Von den Nutzen des Krieges.] In: Der Gesellige, Bd. 1, S. 504.  

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der als Quelle für eine innige Verbindung zwischen dem neuen König und seinen Untertanen fungierte. Völlig anders war die patriotische Liebe im Diskurs der Republik besetzt, hatte Montesquieu sie doch entschieden im Gefühlshaushalt der einfachen Leute verankert.224 Indem sich der originäre Ort der politischen Liebe von der Spitze einer hierarchischen Ordnung an ihr Fundament verlagerte, bildete sich mithin eine neue Systemstelle heraus, auf die Gleim im Dritten Schlesischen Krieg mit der Erfindung seines preußischen Grenadiers reagierte: Jetzt war es ein anonymer Soldat aus dem Volk, der seiner Empfindung für das Vaterland stellvertretend für alle Untertanen Friedrichs II. Ausdruck verlieh. Auf einer theoretischen Ebene ging diese Verschiebung nahezu unbemerkt vonstatten, denn terminologisch blieb der Zentralaffekt der Liebe unangetastet. Weitaus größer war die Umstellung, die sich infolgedessen dichtungstheoretisch vollzog. Um das Konzept der Montesquieu’schen Liebe zum Vaterland in das Projekt der Preussischen Kriegslieder zu übersetzen, das hier mit wenigen Strichen skizziert worden ist, bedurfte es einer weitreichenden Transformation der politischen Ode. Sie soll Gegenstand des folgenden Teilkapitels sein.

224 Russo, The youth of moral life, S. 109.

3 Poetik des Patriotismus: Die Erfindung des Kriegslieds Aus Samuel Gotthold Langes Abhandlung „Von den Nutzen des Krieges“ lässt sich folgende Bilanz ziehen: Das Ideal der Vaterlandsliebe, das sich ausgehend von Halle in der preußischen Literatur etablierte, war den theoretischen Überlegungen Montesquieus von vornherein nur bedingt verpflichtet. Wie selbstverständlich wurde das neue Konzept an die Regeln und Konventionen eines lokalen Diskurses angepasst, der sich schon seit geraumer Zeit auf die Modellierung einer Empfindungsgemeinschaft spezialisiert hatte. Die Einsicht in diesen Transformationsprozess wird sich auch für den nächsten Schritt dieser Arbeit als instruktiv erweisen. Denn Langes Schrift hat deutlich gemacht, dass der französische Entwurf eines leidenschaftlichen Patriotismus in der pietistisch-ästhetischen Kultur Preußens auf eine diskursive Figuration traf, die in der Arbeit an verwandten Fragen weit fortgeschritten war. Das galt nicht nur auf dem Gebiet der Theologie. Hier hatte der hallische Pietismus zu Beginn des 18. Jahrhunderts das Fundament einer „politischen Anthropologie“225 gelegt, die auf ein liebendes Verlangen nach dem Dienst am Herrscher und am Nächsten zielte. Der Blick auf Pyras „Ode auf Ihro Majestät Friedrich den Andern“ hat zudem gezeigt, dass auch die preußische Literatur um 1750 über ausgefeilte Verfahren verfügte, um solche politischen Affekte gattungspoetisch, rhetorisch und metaphorisch in Szene zu setzen. Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass die konzeptionelle Ausgestaltung des Patriotismus in der deutschen Aufklärung einen anderen Weg nahm als in Frankreich oder in England. So wurde die Frage, was die Formel ‚Liebe zum Vaterland‘ unter der Maßgabe der eigenen politischen Verhältnisse bedeutete, im Alten Reich nicht primär von Philosophen beantwortet. Entwürfe von patriotischer Kohäsion gelangten hier zuerst in die Verantwortung der Literatur – und zwar nicht zufällig in die der preußischen Literatur, die seit Langem mit dieser Frage befasst war.226 Den berühmtesten und zugleich literaturgeschichtlich folgenreichsten Entwurf eines literarischen Patriotismus in der deutschen Aufklärung legte Johann Wilhelm Ludwig Gleim mit seinen Preussischen Kriegsliedern von einem Grenadier in den Feldzügen 1756 und 1757 (1758) vor, die im Folgenden unter genau diesen 225 Martus, Anthropologie und Staatsdienst [im Erscheinen]. 226 Zu prüfen wäre, wie dieser Befund mit dem sogenannten deutschen „Sonderweg“ in der Konstruktion der Nation zusammenhängt, die seit Herder explizit in Sprache und Dichtung verortet wurde. Vgl. Koselleck, Volk, Nation, Nationalismus, Masse. In: GG, Bd. 7, 1992, S. 316 f.  

https://doi.org/10.1515/9783110613575-012

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Bedingungen betrachtet werden sollen. Als Ausgangspunkt dient die Beobachtung, dass zwischen der erhabenen politischen Ode aus Halle und den kleinen Kriegsliedern aus Berlin trotz aller äußerlichen Unterschiede eine wesentliche Kontinuität bestand: Beide waren als Meta-Oden angelegt, die Elemente aus verschiedenen Genres zu einer eigenen Ordnung zusammensetzten. Um der literarischen Konstitution des Patriotismus auf die Spur zu kommen, soll im Folgenden profiliert werden, welche Textsorten in den Preussischen Kriegsliedern verarbeitet wurden und in welchen Funktionen Gleim sie konkret zur Geltung brachte. Heuristisch gliedert sich das Teilkapitel in zwei Abschnitte, die an der patriotischen Kernformel ‚Liebe zum Vaterland‘ orientiert sind. Es soll gefragt werden, wie Gleim einerseits das theoretische Konzept des Vaterlands und andererseits das der politischen Liebe in formale, figurale und motivische Semantiken übersetzte, die den Lesern aus dem gattungspoetischen Gefüge des 18. Jahrhunderts vertraut waren, um so eine deutsche Spielart des Patriotismus zu entwickeln. Eine solche Perspektive verspricht, besonders einen literarischen Kunstgriff von Gleim präziser in den Blick zu bekommen, als dies bisher geschehen ist: die Einführung einer soldatischen Stimme.

3.1 Der Grenadier und sein Vaterland Mit dem fiktiven Sänger seiner Kriegslieder, dem namenlosen preußischen Grenadier, brachte Gleim eine poetische Instanz hervor, die ihre zeitgenössischen Leser nachhaltig beschäftigte. Mehr als einmal wusste man in Gleims Freundeskreis von intensiven Diskussionen zu berichten, die sich an der Identität des Kriegsdichters entzündeten. Eine besondere Freude bereitete es Gleim, wenn seine Rezipienten tatsächlich durch die Augen eines Soldaten aufs Schlachtgeschehen zu blicken glaubten. So schrieb er Kleist, seinem Informanten von der Front,227 1758 voller Begeisterung von einem Disput, den der Domdechant von Halberstadt

227 Seitdem Kleist als Major der preußischen Armee in den Siebenjährigen Krieg ausgerückt war, sandte er detaillierte Schlachtberichte an Gleim, die als „Circulare“ unter den Freunden herumgehen sollten (Kleist an Gleim, 17. September 1756. In: Ewald von Kleist’s Werke, Bd. 3, S. 334– 339, hier: S. 336). Wie sich den Briefwechseln im Gleim-Kreis entnehmen lässt, behielt Gleim die Berichte allerdings bei sich, um die exklusiven Informationen als erster literarisch verwerten zu können (Christoph Willmitzer, Zuverlässige Nachrichten, unzuverlässiger Patriotismus. Der Briefwechsel Ewald von Kleists zu Beginn des Siebenjährigen Krieges. In: Krieg und Frieden im 18. Jahrhundert. Kulturgeschichtliche Studien, hg. von Stefanie Stockhorst, Hannover 2015, S. 112–129, hier: S. 114–119).

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und der Graf von Stolberg in seiner Gegenwart über den Verfasser der Preussischen Kriegslieder ausgetragen hätten: Jener behauptete, es könnte sie unmöglich Jemand gemacht haben, der nicht bei allen besungenen Begebenheiten gegenwärtig gewesen; es wären gar zu viel kleine Umstände, alle historisch beobachtet, die man nicht erdichten könnte. „Vielleicht“, sagte Letzterer, „kann man besser erdichten, aber nicht so.“ Der Herr Domdechant behauptete das Gegentheil. Ich wurde um meine Meinung gefragt, und trat dem Herrn Grafen bei. In der That dachte oder wußte Keiner von Beiden, daß sie den Grenadier fragten.228

Die Grenzverwischung, die Gleim durch diese „authentisch-unauthentische Position“229 zwischen den genuin literarischen und den journalistischen Texten in der Publizistik der Schlesischen Kriege vornahm, hat auch in der Forschung eine vielschichtige Reflexion nach sich gezogen. So hat man die bewusste Konstruktion einer „Stimme des Volkes“, die von einem Krieg als „Herzenssache“230 berichtete, von verschiedenen Seiten auf ihre Symptomatik für Tendenzen abgeklopft, die sich in der Zeit ‚um 1800‘ voll entfalten würden. Je nach Schwerpunkt werden dabei zwei Traditionslinien angeboten. In einer politischen Lesart sieht man die „Maske“231 oder die „Kostümierung des Dichters als kämpfender Soldat“232 als Indiz dafür, dass sich die Regeln der sozialen Assoziation zu verschieben begannen. Statt ständischen Strukturen zu folgen, experimentiere Gleim mit „kriegsbedingten Egalitätsphantasien“,233 in denen die „unteren Stände“234 näher an die

228 Gleim an Kleist, 28. Oktober 1758. In: Ewald von Kleist’s Werke, Bd. 3, S. 302 f., hier: S. 302. Der Freundeskreis in Halberstadt in Berlin war dagegen bald über Gleims Verfasserschaft informiert. Die Offenheit der Fiktion sorgte auch dafür, dass sich Nachahmer an Gleims Stelle zu setzen versuchten. So berichtete Nicolai von einem Fall, der ihm von Uz zugetragen worden sei: Dieser habe erzählt, „ein preußischer Unterofficier, Namens Friedrich Eyl, der von der Bataille bei Torgau nach Anspach versprengt worden, habe sich daselbst öffentlich für den preußischen Grenadier ausgegeben, der die Kriegslieder gemacht hätte, sei auch bei Hofe, wo er Verse überreicht, wohl aufgenommen und beschenkt worden. Utz habe noch verhindert, daß die Verse nicht gedruckt worden.“ (Nicolai an Lessing, 6. Februar 1761. In: FLA, Bd. 11/1, S. 360–362, hier: S. 362). 229 Gratzke, Blut und Feuer, S. 51. 230 Peters, Der zerrissene Engel, S. 108. 231 Peters, Der zerrissene Engel, S. 118. 232 Blitz, Aus Liebe zum Vaterland, S. 267. 233 Blitz, Aus Liebe zum Vaterland, S. 265. Vgl. auch Uwe-Karsten Ketelsen, Ein Ossian der Hohenzollern. Gleims Preußische Kriegslieder von einem Grenadier zwischen Nationalismus und Absolutismus. In: Exile and enlightenment. Studies in German and Comparative Literature, hg. von Uwe Faulhaber et al., Detroit 1987, S. 39–46, hier: S. 40. 234 Birgfeld, Krieg und Aufklärung, Bd. 2, S. 561. Vgl. auch Peters, Der zerrissene Engel, S. 116.  

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oberen heranrücken würden – und die so auf die moderne Nation vorauswiesen, die sich als eine „dem Stratum entgegengesetzte Entität“235 konstituiert habe. Aus einer literaturgeschichtlichen Perspektive betrachtet, gilt die Grenadierinstanz nicht minder als zukunftsweisend. Das „fiktive gemeinschaftliche Subjekt“, notiert Peter Pütz, „beobachtet, erlebt und bewertet aus eigener, dezidiert parteilicher Sicht, die nicht eine objektive, maßvoll-ausgewogene Darstellung (Anakreontik), sondern Subjektbezogenheit (Empfindsamkeit) und Exzentrik (Sturm und Drang) bewirkt“236. So ergibt sich der paradoxe Befund, dass im Dienste einer „Rollenfiktion“237 poetische Verfahren für eine „stilisierte Unmittelbarkeit“238 ausgearbeitet worden seien, auf die man wenig später im Paradigma der Erlebnisdichtung habe zurückkommen können: „[N]icht von ungefähr“,239 so Pütz, rühme Goethe ausgiebig die „glückliche Form“ der Preussischen Kriegslieder, die den Eindruck vermittle, sie seien „mit und in der Tat entsprungen“240. Durch solche Rückbezüge ist der Grenadier ex post in den Ruf eines Proto-Genies gekommen,241 während das Urteil über seinen Urheber Gleim darunter forschungsgeschichtlich erheblich gelitten hat. Denn im gesamten 19. Jahrhundert wurde die nachträgliche Assoziation von Krieg und Erlebnis derart bindend, dass die Fiktion einer soldatischen Instanz fortgesetzt als Widersinnigkeit wahrgenommen wurde.242 Allenfalls hielt man Gleim zugute, dass er sich zumindest ver-

235 So die pointierte Formulierung von Hans Carl Finsen, Die Rhetorik der Nation. Redestrategien im nationalen Diskurs, Tübingen 1991, S. 10. Vgl. mit einem analogen Argument auch Hirschi, The Origins of Nationalism, S. 94 f. 236 Peter Pütz, Aufklärung. In: Geschichte der politischen Lyrik in Deutschland, hg. von Walter Hinderer, Stuttgart, aktualisierte Neuaufl. 2007, S. 123–151, hier: S. 141. 237 Deupmann, Der Siebenjährige Krieg in der deutschsprachigen Lyrik, S. 551. 238 Pütz, Aufklärung, S. 141. 239 Pütz, Aufklärung, S. 141. 240 Goethe, Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. In: HGA, Bd. 9, S. 280. 241 Vgl. Peters, Der zerrissene Engel, S. 113. 242 Versuche zur Ehrenrettung bestanden dementsprechend darin, dass man nach Beweisen dafür suchte, dass Gleim sich eben doch mit dem unmittelbaren Kriegserlebnis vertraut gemacht habe. Symptomatisch für diese Rückprojektion ist ein Aufsatz von Karl Schwarze. Überzeugt davon, dass die Grenadierlieder nicht gänzlich fiktiv seien („daß Gleim einen direkten Weg zu dieser Kriegswirklichkeit gefunden haben mußte, spürte man unmittelbar aus Wort und Wendung, Sicherheit und Prägnanz des Bildausdrucks“), präsentiert er neu erschlossene Soldatenbriefe aus dem Siebenjährigen Krieg als deren Ausgangspunkt. Während Kleists Berichte dem Forscher zu distanziert erscheinen, findet er hier eine „Unmittelbarkeit dieser persönlichen Erlebnisbekenntnisse“, die Gleim „aufs tiefste ergriffen“ haben müsse. So postuliert Schwarze: „Sie wurden von ihm aufgefangen von der Kraft des Empfindens, zu eigenem Erleben. In dieser Wirklichkeitsergriffenheit formte sich Gleim ein neues Ausdruckswollen heraus. Ein neuer Blickpunkt hebt sich dem Leben gegenüber heraus. Nicht die künstlerisch ausgestaltete Empfindung,  

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suchsweise „[ins Feld] dachte und träumte“, während die restlichen Dichter seiner Epoche bedenkenlos „aus der Entfernung über einen Krieg [sangen], den sie nicht mitmachten, über Dinge, die sie nicht kannten“243. Unter umgekehrte, das heißt kriegskritische Vorzeichen gestellt, hält sich dieses Erbe des Sturm und Drang bis in die Gegenwart. Als die Preussischen Kriegslieder zu Beginn der 1990er Jahre wieder in die Aufmerksamkeit der Germanistik gerückt sind, hat Jörg Schönert sie unverzüglich als „Schlachtgesänge vom Kanapee“ kritisiert, mit denen ein an sich „friedfertige[r]“244 Autor den Krieg aus sicherem Abstand allzu leichtsinnig in ein literarisches und geselliges „Spiel“245 hineingezogen habe. Und infolge des Widerspruchs, den diese Wertung erregt hat, ist der analytische Kurs zuletzt wieder riskant auf die Gefilde des Erlebnishaften zugesteuert. So hat Birgfeld die „heterogene Kriegserfahrung“, die der als Sekretär des Markgrafen von Brandenburg-Schwedt mitgereiste Gleim im Zweiten Schlesischen Krieg gemacht habe, als interpretatorischen Schlüssel zu den Grenadierliedern vorgeschlagen. In der These, die Lieder seien „Ausdruck der psychologisch komplexen Erfahrungswelt […] jener Tage“,246 scheint der alte Leitbegriff des ‚Erlebnisses‘ kurzerhand durch den der Kriegserfahrung ersetzt worden zu sein. Von solchen problematischen Rückkopplungseffekten abgesehen, haben beide skizzierten Perspektiven volle Berechtigung. In der Tat ist der preußische Grenadier eine Figur, die sowohl von den Nationalismen des 19. und 20. Jahrhunderts als auch vom Sturm und Drang als Wegbereiter beansprucht wurde. Dennoch haben diese Traditionserzählungen eine Diskontinuität hergestellt, indem sie Gleims Soldatendichter von späteren Diskursen aus beurteilt haben. In dem Maße, wie die Vorläuferschaften des Grenadiers betont worden sind, ist in den Hintergrund gerückt, wie sich die Soldatenfiktion in die Poetiken und Diskussionen der Jahrhundertmitte einfügte. Somit hat sich der Eindruck eingestellt,

sondern das Geschehnis selbst ist ihm die Hauptsache.“ (Karl Schwarze, Gleims ‚Preußische Kriegslieder von einem Grenadier‘ und Soldatenbriefe als ihre Quelle. In: Germanisch-romanische Monatsschrift 25 (1937), S. 313–317, hier: S. 315) Die angeführten Briefstellen überzeugen nicht; dennoch hat sich vor Kurzem ein Anhänger von Schwarzes These gefunden (Lee, Amor im Harnisch, S. 43 f.). 243 Sauer, [Einleitung]. In: Gleim, Preussische Kriegslieder, S. V f. 244 Schönert, Schlachtgesänge vom Kanapee, S. 128. 245 Schönert, Schlachtgesänge vom Kanapee, S. 132. Noch zugespitzter vgl. Gratze, Blut und Feuer, S. 53: „In Gleims ‚Schlachtgesängen vom Kanapee‘ drückt sich eine Erregung zwischen Enthusiasmus und Sadismus aus, die in einem offenen Widerspruch zur Lebenserfahrung des Autors steht.“ 246 Birgfeld, Krieg und Aufklärung, Bd. 1, S. 197 f.; zum Widerspruch gegen Schönert vgl. S. 193. Der Deutung von Birgfeld angeschlossen hat sich Lee, Amor im Harnisch, S. 29–37.  





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der Sänger aus der Mitte der preußischen Armee sei eine gleichsam spontane Erfindung, die eine literaturgeschichtliche Zäsur setze.247 Dagegen soll die Wahrnehmung an dieser Stelle dafür sensibilisiert werden, dass Gleim mit der Konstruktion seines Grenadiers stringent an die Poetik der politischen Affekte anschloss, an der in Halle seit 1740 gearbeitet worden war. Nicht nur lässt sich die bemerkenswerte „Kriegsperspektive von unten“248 als struktureller Reflex darauf verstehen, dass die Baumgarten-Schüler sich für Montesquieus Konzept des amour de la patrie zu interessieren begannen: Der Grenadier bildete eine Funktionsstelle, um die Sprache für eine kriegerische Liebe zum Vaterland zu entwerfen, die sich durch alle sozialen Schichten ziehen sollte. Auch die literarischen Mittel, die Gleim zu diesem Zweck wählte, lassen sich erst in der Zusammenschau mit den Vorarbeiten von Pyra und Lange genau fassen. Im Folgenden soll darum deutlich werden, dass Gleim seinem Soldaten im Rahmen seiner eigenen Liedpoetik die abstrakte Entität des Vaterlands durch Verfahren sichtbar, hörbar und fühlbar machte, die er einem seit Langem etablierten Versinnlichungsprojekt entnahm. Die Rede ist von der religiösen Poesie, die eine Fülle von Techniken entwickelt hatte, um der Gegenwart Gottes eine konkrete Empfindungsqualität zu verleihen.

3.1.1 Charakter: Kirchenlied und Kriegslied (Gleim, pietistisches Lied) In seiner Zeit hat man nicht den preußischen Grenadier, sondern Gleim selbst mit dem Attribut des Ingeniösen bedacht. Natürlich geschah dies unter anderen definitorischen Vorzeichen als denen, die sich später an den Geniebegriff koppelten. Als Johann Georg Sulzer unter den vier Beispielen für einen deutschen „Originalgeist“ in der Allgemeinen Theorie der Schönen Künste (1771–1774) auch Gleim anführte,249 begründete er seine Auswahl damit, dass dieser, „obgleich

247 Selbst der sehr ausgewogen argumentierende Ketelsen verwendet eine Rhetorik der Innovation, wenn er auf die Soldatenfiktion zu sprechen kommt. Indem Gleim das „politische Räsonnement“ in den Mund des Volkes gelegt habe, habe er „eindeutig“ gegen die bestehenden „Regularien“ seiner Zeit verstoßen, „und nicht nur gegen poetische, sondern auch gegen politische. In Sinne der neuen Loyalitätsbindung überstieg Gleim hier die Grenze der alten Ständeklausel, denn es waren gerade die unteren Schichten, das ‚Volk‘, das es in dieser Weise zu binden galt.“ (Ketelsen, Ein Ossian der Hohenzollern, S. 44). 248 Blitz, Aus Liebe zum Vaterland, S. 268; an ihn schließt Birgfeld mit der (nicht als Zitat ausgewiesenen) Betonung einer „Perspektive von unten“ an (Birgfeld, Krieg und Aufklärung, Bd. 2, S. 561). 249 Unter den Literaten nannte Sulzer außer Gleim die Zürcher Dichtungslehrer Bodmer und Breitinger sowie Klopstock. Zudem erinnerte er auf dem Gebiet der Religion an den „großen

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selbst ein Nachahmer des Anakreons“, mit dem Versuch in Scherzhaften Liedern eine „ganz neue Schule von Dichtern gestiftet“250 habe. Mit dieser Würdigung erinnerte Sulzer daran, dass Gleim sich bereits vor den Preussischen Kriegsliedern als ein enfant terrible unter den Lyrikern der Aufklärung hervorgetan hatte, das sich die Genres für seine Lieddichtungen notorisch an den Rändern des Gattungssystems suchte. Durch den „bahnbrechenden“251 Band der Scherzhaften Lieder, mit dem die deutschsprachige Anakreontik „ein eigenständiges Profil und deshalb auch literaturhistorisches Gewicht“252 erhielt, hatte der junge Dichter sich gleich zu Beginn seiner Karriere ein erstes Alter ego erworben: das eines deutschen Anakreon.253 Mit Kritikern konfrontiert, die das dezent erotische Programm der Scherzhaften Lieder in Ermangelung eines generischen Standards auf die Moral ihres Autors zurückführten,254 entwickelte Gleim früh eine Reflexionsfigur für seine Liedinventionen, die auch für die Kriegslieder grundlegend blieb. So griff er Mitte der 1740er Jahre255 ein Konzept auf, das Johann Jakob Bodmer in einer Rezension als Maß-

Originalgeist“ Luther, der „viel Völker von der gewöhnlichen Bahn des Glaubens und der gottesdienstlichen Verrichtungen abgeleitet und eine neue Heerstraße errichtet“ habe (Johann Georg Sulzer, Originalgeist. In: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, in einzeln, nach alphabetischer Ordnung der Kunstwörter auf einander folgenden, Artikeln abgehandelt […], 2 Bde., Bd. 2, Leipzig 1774, S. 861–863, hier: S. 861). 250 Damit erfüllte Gleim das Sulzer’sche Kriterium eines Originalgeists: Er habe „dem Geschmak eines ganzen Volkes eine neue und vortheilhafte Wendung“ gegeben (Sulzer, Originalgeist. In: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Bd. 2, S. 861). Zu dieser Implikation des Begriffs vgl. auch Uta Schaffers, Auf überlebtes Elend blick ich nieder. Anna Louisa Karsch – Literarisierung eines Lebens in Selbst- und Fremdzeugnissen, Göttingen 1997, S. 70. 251 Kemper, Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit, Bd. 5/2, S. 194. 252 Kemper, Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit, Bd. 5/2, S. 176. Vorausgegangen waren vereinzelte Übersetzungen und Nachahmungen im 17. und 18. Jahrhundert, die jedoch nicht die genrebegründende Wirkung von Gleims Liedern entfalteten. 253 Zur späteren feldpolitischen Relevanz dieses Labels vgl. Achim Aurnhammer, Antonomastische Indienstnahmen antiker Dichter im Halberstädter Dichterkreis um Johann Wilhelm Ludwig Gleim. In: Topographien der Antike in der literarischen Aufklärung, hg. von Annika Hildebrandt, Charlotte Kurbjuhn und Steffen Martus, Bern 2016, S. 283–297, hier: S. 287–289. 254 Vgl. Karl Siegfried Guthke, Der Tod und die Mädchens. Anakreontik und Aufklärung. In: Ders., Die Erfindung der Welt. Globalität und Grenzen in der Kulturgeschichte der Literatur, Tübingen 2005, S. 369–406, hier: S. 372 f.; Kemper, Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit, Bd. 5/2, S. 175. Zudem stellte der von Gleim verehrte Hagedorn die anakreontischen Gedichte unter Deismusverdacht (Steffen Martus, Friedrich von Hagedorn – Konstellationen der Aufklärung, Berlin, New York 1999, S. 410–412). 255 Der entscheidende Text, auf den Perels hinweist (Perels, Studien zur Aufnahme und Kritik der Rokokolyrik zwischen 1740 und 1760, S. 100), ist der siebte von Sechzig freundschaftlichen Briefen, die Gleim 1760 im Rückblick auf die Korrespondenz mit Lange, Sulzer, Meier, Kleist und  

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stab für seine anakreontischen Gedichte vorschlug. „[J]ede Gemüthsbewegung“, kommentierte der Schweizer Dichtungslehrer den zweiten Teil des Versuchs in seinen Zürcher Freymüthigen Nachrichten, finde ihre Entsprechung in „eigenen Manieren und Ausdrücke[n]“, die Gleim mustergültig in Szene gesetzt habe. Unzweifelhaft hätten der Wein und die Liebe den Menschen aller Zeiten „ungefehr dergleichen Gedanken […] in das Herz und den Sinn gelegt“,256 wie sie in den Anakreonteen zur Sprache kämen. Statt eine absolute Moral anzulegen, fragte Bodmer hier danach, ob Gleim die eigentümliche Empfindung der Anakreontik überzeugend zu einer „Rolle“257 ausgearbeitet habe. Wie Christoph Perels demonstriert, rekurrierte der Zürcher mit dieser Lektüre auf ein Theorem des symbolischen Charakters,258 das auf seine eigenen Critischen Betrachtungen zurückging. Unter der Überschrift „Von den moralischen Charactern der Tugenden und der Laster“ hatte er dabei ein indexikalisches Programm formuliert. So hatte er den Poeten geraten, die Handlungen und Äußerungen ihrer Akteure stets so zu gestalten, dass ihre Leser sie als unwillkürliche „Würckungen“ von spezifischen „Tugenden“ und „Laster[n]“259 begreifen könnten. Grundsätzlich war eine solche Poetik des Charakters in der Frühen Neuzeit natürlich nicht neu. Bodmer selbst verwies sowohl auf die Typen der Moralistik als auch der Komödie.260 Doch indem er die Reichweite dieser Kategorie in seinen Musteranalysen auf die Sprechinstanzen aller Gattungen ausdehnte – sei es auf das Ich von Hagedorns Erzählungen,261 sei es auf das der Scherzhaften Lieder –, verschaffte er ihr zusätzliche Funktionen, die in der Folge auf Gleims Poetologie zurückwirkten. Auch seine späteren Liedentwürfe dachte Gleim in diesem Sinne von Bodmers Konzept des Charakters her. Das galt für seine Preussischen Kriegslieder

Hagedorn „vor etlichen Jahren“ herausgab ([Johann Wilhelm Ludwig Gleim,] [Vorrede]. In: Sechzig freündschaftliche Briefe von dem Verfaßer des Versuchs in Scherzhaften Liedern. Berlin 1760, unpag.). Diese Briefe verweisen zurück auf die erste Sammlung, die 1746 erschienen war ([Johann Wilhelm Ludwig Gleim,] Freündschaftliche Briefe, Berlin 1746). 256 [Johann Jakob Bodmer,] Versuch in Scherzhaften Liedern. Zweyter Theil. In: FN, Bd. 2, 18. September 1745, St. 26, S. 283–285, hier: S. 284. 257 Perels, Studien zur Aufnahme und Kritik der Rokokolyrik zwischen 1740 und 1760, S. 100. 258 Vgl. ausführlich wiederum Perels, Studien zur Aufnahme und Kritik der Rokokolyrik zwischen 1740 und 1760, S. 27 f. sowie S. 99 f. 259 Bodmer, Critische Betrachtungen über die Poetischen Gemählde der Dichter, S. 365. 260 Beide Gattungen wurde in Bodmers Text über ihre literaturgeschichtlichen Gewährsmänner aufgerufen: Theophast mit den Characteres (S. 368–371); Jean de La Bruyère mit seinen daran anschließenden Caractères de Théophraste, traduits du grec, avec les caractères ou les mœurs de ce siècle (1688) (S. 371 f.); schließlich Molière als Vertreter der Typenkomödie (S. 381). 261 Perels, Studien zur Aufnahme und Kritik der Rokokolyrik zwischen 1740 und 1760, S. 28.  





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ebenso wie für die daran anschließenden Lieder für das Volk (1772),262 mit denen er seinen Entwurf einer ungelehrten Dichtung in ein panoramatisches Spektrum von Liedern aus dem Volk auffächerte.263 Der Charakterbegriff verschaffte ihm dabei stilistische Freiheit, hatte Hagedorn doch schon im Vorbericht zu seinen Oden und Liedern (1742) geschrieben: „Es ist ja erlaubt und gewöhnlich gnug, in der pöbelhaften Mundart und in einem seltsamen Character Lieder abzufassen, welche sich auf eine andre Art beliebt und unvergeßlich machen, als durch die sorgfältigste Beachtung der Regeln der Sprachkunst.“264 Und auch in Gleims Korrespondenz taucht die Rede vom literarischen Charakter dementsprechend immer wieder auf. In einem Brief an Uz scherzte Gleim zum Beispiel, sein fiktiver Soldat trage sich mit der Sorge, der Freund könne ihn lediglich für den „Caracter eines GrenadierPoeten“265 halten. Und als Gleim für sein „Lied an die Kriegesmuse nach dem Siege bey Zorndorf“ (1758/59) in den gravitätischen Blankvers wechselte, beteuerte Lessing ihm gegenüber: „[Der Grenadier] ist hier weit ernster, feierlicher, erhabner, als in seinen Liedern, ohne deswegen aus seinem Charakter zu gehen.“266 Signifikant ist dieses Charaktermodell in zweifacher Hinsicht. Zum einen flexibilisierte es das feste Set der Rollenhaltungen, das sich im 17. Jahrhundert – befördert durch die Verhaltensanforderungen der absolutistischen Kultur –267 an

262 Vgl. Ernst Rohmer, Der „Personalcharakter“ in der Lyrik Johann Wilhelm Ludwig Gleims. Untersuchungen zum Dichtungsverständnis an einem Beispiel aus den Liedern für das Volk. In: G. A. Bürger und J. W. L. Gleim, hg. von Hans-Joachim Kertscher, Tübingen 1996, S. 14–28, hier: S. 21–26. Allerdings leitet Rohmer den Charakter-Begriff nicht von Bodmer her, sondern aus Meiers Anfangsgründen aller schönen Wissenschaften (Rohmer, Der „Personalcharakter“ in der Lyrik Johann Wilhelm Ludwig Gleims, S. 26 f.). Perels’ Rekonstruktion ist überzeugender, weil bei Meier der gattungspoetische Bezug fehlt. 263 [Johann Wilhelm Ludwig Gleim,] Lieder für das Volk, Halberstadt 1772. In dieser Sammlung findet sich etwa ein „Lied des Bauers“ (S. 10–12), ein „Lied des Pflügers“ (S. 13 f.) und ein „Lied der Schnitter“ (S. 19), das von einem „Lied der Schnitterinnen“ (S. 20) flankiert wird. 264 [Friedrich von Hagedorn,] [Vorbericht]. In: Sammlung Neuer Oden und Lieder, Hamburg 1742, unpag. 265 Gleim an Uz, 16. August 1758. In: Briefwechsel zwischen Gleim und Uz, S. 289–295, hier: S. 291. 266 Lessing an Gleim, 16. Dezember 1758. In: FLA, Bd. 11/1, S. 305 f., hier: S. 305. 267 So das Postulat von Conrad Wiedemann, Heroisch – Schäferlich – Geistlich. Zu einem möglichen Systemzusammenhang barocker Rollenhaltung. In: Schäferdichtung, hg. von Wilhelm Voßkamp, Hamburg 1977, S. 96–122, hier: S. 97–101. Die bestimmende Frage des Absolutismus, von der auch die Literatur des Barock beeinflusst gewesen sei, habe demnach nicht gelautet „wie läßt sich das Recht zur Individualität gegenüber dem Zwang des Institutionellen zur Geltung bringen, sondern: wie läßt sich der Mensch zum funktionierenden Staatsbürger modeln und das politische Störelement des individuellen Meinens, Empfindens, Handelns aus seinem Erschei 





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den „renaissancehumanistischen Formenfundus“268 geknüpft hatte. Dabei transformierte es zum anderen die äußere, an den Sitz im Leben gebundene Kategorie des aptum,269 indem es den Autor eines Gedichts auf die „Entfaltung“ einer inneren „Gemütsbewegung“270 festlegte. Damit stellte Gleim seine Lieddichtung in den Dienst einer Registratur der Empfindungen, die Hand in Hand mit dem Interesse der philosophischen Ästhetik ging. Angestrebt wurde eine Entsprechung von Genre und Gefühl, die dadurch vermittelt wurde, dass die Sprechinstanz den Status eines fiktiven Charakters erhielt. Wohlgemerkt bildete sich diese Poetologie des Charakters, die wichtige Anschlusspunkte für die Umstellung der Lyrik auf den „Ausdruck der Affekte“271 lieferte, unter der Prämisse der Typisierung heraus – frei nach dem Motto, das Gleim 1768 selbstbewusst in einem Brief an Johann Georg Jacobi formulierte: „[D]ie wahren Empfindungen nicht, sondern die angenommenen machen den Dichter!“272 Vor diesem Hintergrund betrachtet, erhält die Aufgabe Kontur, die Gleim sich mit den Preussischen Kriegsliedern stellte. Anders als in den Scherzhaften Liedern, wo das Eingangsgedicht „Anakreon“ einen fest definierten poetologischen Erwartungsraum aufrief, indem der Sprecher sich als „Schüler“273 eines griechischen Lyrikers bezeichnete, setzte er sich hier konsequent einem indexikalischen Prinzip aus. In diesem Fall war sein Charakter nicht durch eine literarische Tradition definiert (allzu offene intertextuelle Anspielungen untersagte die Fiktion des ungelehrten Sängers), sondern nur durch die preußische Herkunft und den militärischen Rang des fiktiven Soldaten. Als Grenadier gehörte der gewählte Charakter zu einer besonders „wagemutigen“ Einheit unter den einfachen Soldaten, die freiwillig für gefährliche Einsätze bereitstand und sich aus diesem Grund mit einer gesteigerten „emotionale[n]“274 Motivation assoziieren ließ. Das Projekt von

nungsbild tilgen?“ (S. 100). Anders als die Literatur der Aufklärung, habe die des 17. Jahrhunderts grundsätzlich „nicht auf der Seite des Individuums“ gestanden, „sondern auf der Seite der Institutionen, die die Gesellschaft ordnen“ (S. 101). 268 Wiedemann, Heroisch – Schäferlich – Geistlich, S. 101. Zum Zusammenhang von Rolle und Gattung in der Barockdichtung vgl. zudem die nach wie vor grundlegenden Ausführungen von Wilfried Barner, Barockrhetorik. Untersuchungen zu ihren geschichtlichen Grundlagen, 2. Aufl., Tübingen 2002, S. 103 f. 269 Vgl. Barner, Barockrhetorik, S. 150 f. 270 Perels, Studien zur Aufnahme und Kritik der Rokokolyrik zwischen 1740 und 1760, S. 100. 271 Grundlegend Guthke, Die Entdeckung des Ich in der Lyrik. 272 Johann Wilhelm Ludwig Gleim an Johann Georg Jacobi, 28. Januar 1768. In: [Johann Wilhelm Ludwig Gleim, Johann Georg Jacobi,] Briefe von den Herren Gleim und Jacobi. Berlin 1768, S. 247– 251, hier: S. 249). 273 [Gleim,] Anakreon. In: Versuch in Scherzhaften Liedern, S. 1. 274 Birgfeld, Krieg und Aufklärung, Bd. 2, S. 650.  



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Gleim bestand folglich darin, die Preussischen Kriegslieder formal und sprachlich so zu gestalten, dass die zentrale Empfindung dieses Charakters dadurch ein literarisches Profil erhielt: die patriotische Liebe zum Vaterland. Die „glückliche Form“, die Goethe den Grenadierliedern attestierte, erweist sich damit als sorgfältig komponiertes Syntagma. Als Thema für ein nationales Epos war die patriotische Liebe zum Vaterland im Sinne Montesquieus bisher vergeblich erprobt worden (Kap. II.1); als furor poeticus einer preußischen Ode setzt Gleim sie nun neu aus der regionalen Dichtungstradition zusammen. Wie zu zeigen sein wird, leistete das Spiegelverhältnis zwischen Patriotismus und Pietismus, das Gleim in seinem Studienort Halle kennengelernt hatte, dabei entscheidende Geburtshilfe. Tentativ nämlich lässt sich der Grenadier als säkulare Variante eines ungelehrten Dichtertyps begreifen, der um die Jahrhundertmitte in der pietistischen Poesie verbreitet war. Wolfgang Martens und Manfred Windfuhr zählen eine Vielzahl religiöser Autoren auf, die ihre Lieder zu dieser Zeit auf die bloße „Nötigung ihres Herzens“275 zurückführten. Nur einige davon seien hier herausgegriffen. Carl Heinrich von Bogatzky, der in seinem „Stübchen im Waisenhaus zu Halle“276 unermüdlich Lieder und Erbauungsschriften verfasste, betonte 1750 in der Vorrede zu seiner Uebung der Gottseligkeit in allerley Geistlichen Liedern, er habe während der ersten Jahre seiner Autorschaft „noch gar keine Anleitung zur Poesie gehabt“. Vielmehr habe er sich einzig auf das „Anliegen [s]eines Hertzens“ verlassen und seine Lieder in der Form niedergeschrieben, „wie sich iedesmal die Sache bald in Bildern und Gleichnissen, bald ohne dieselbigen, in meinem Gemüthe vorgestellet hat“277. Und im Jahr darauf kommentierte der Magdeburger Pietist Johann Heinrich Steinmetz die Geistlichen Gedichte eines Fräuleins von Posadowsky, das seine „Poesie nicht von Menschen gelernet“ habe, mit einer Einfaltsformel aus dem Matthäus-Evangelium: „Wes das Herz voll sey, davon gehe der Mund, und also auch die Feder, wenn sie dessen Statt vertreten muß, über.“278

275 Martens, Hallescher Pietismus und schöne Literatur, S. 155; vgl. auch Manfred Windfuhr, Die barocke Bildlichkeit und ihre Kritiker. Stilhaltungen in der deutschen Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1966, S. 441–456. 276 Paul Pressel, Bogatzky, Karl Heinrich von. In: ADB, Bd. 3, 1876, S. 37–39, hier: S. 38. 277 Carl Heinrich von Bogatzky, Vorrede. In: Uebung der Gottseligkeit in allerley Geistlichen Liedern, zur allgemeinen Erbauung, Halle 1750, unpag. 278 Johann Adam Steinmetz, Vorrede. In: Augusta Elisabeth Posadowsky, Geistliche Gedichte der weiland Hochwohlgebohrnen Fräulein Augusta Elisabeth von Posadowsky, gebohrner Freyin von Postelwitz […]. Magedeburg, Leipzig 1751, S. 21 f. Vgl. Matth. 12,34; zudem Luk. 6,45 sowie die kanonische Studie von Max L. Baeumer, „Fülle des Herzens“. Ein biblischer Topos der dichterischen Rede in der romantischen Literatur. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 15 (1971), S. 133–156, v. a. S. 137 f.  





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Noch weiter ging diese „Favorisierung des intuitiven dichterischen Schaffens“279 schließlich bei den Herrnhuter Pietisten. So berichtet ihr Spiritus rector Zinzendorf in einer „Erklärung an des Königs in Preussen Majestät über dem Herrnhutischen Gesang-Buch“, er habe nicht nur zahlreiche seiner eigenen Kirchenlieder spontan während der gemeinsamen Andachten „im Vorsagen“280 verfasst. Auch die Mitglieder seiner Gemeinde ermuntere er regelmäßig dazu, ihre religiösen Empfindungen in solche „Augenblicksgeburten“281 zu gießen, die er dann in der Herrnhutischen Sammlung abdrucken lasse. In der Förderung und Herausgabe von ungelehrten Dichtern zeichnete sich folglich in verschiedenen Kontexten ein poetologisches Ideal der Einfalt ab, das auch die gelehrten pietistischen Lieddichter gern für sich in Anspruch nahmen. Damit wurde die Gottesliebe als zentraler Impuls für eine Affektpoesie profiliert, wie Bodmer und Breitinger sie in ihrer ersten Programmschrift Von dem Einfluß und Gebrauche der Einbildungs-Krafft (1727) beschrieben hatten.282 Immer wieder könne man erleben, hieß es dort, dass auch „ungestudierte Leute, wenn ihr Gemüthe in eine Bewegung und Hitze gebracht wird“,283 zu dichten begännen. Unter die prototypischen Anlässe für diesen natürlichen poetischen Enthusiasmus zählten die Zürcher selbst jedoch nicht die Religion. Vielmehr nahmen sie dichtungstheoretisch eine Affinität zum Krieg vorweg, der gleichberechtigt neben der Liebe genannt wurde:

279 Kemper, Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit, Bd. 6/1, S. 34. 280 Nikolaus Ludwig von Zinzendorf, Erklärung an des Königs in Preussen Majestät über dem Herrnhutischen Gesang-Buch. In: Büdingische Sammlung Einiger In die Kirchen-Historie Einschlagender Sonderlich neuerer Schrifften, 3 Bde., Bd. 1, Leipzig 1742, St. 6, S. 799–806, hier: S. 803. 281 Kemper, Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit, Bd. 6/1, S. 35. Diese Lieder wurden im Herrnhuter Gesangbuch mit einem Asterisken markiert. 282 Diese Schrift war ursprünglich als der erste Teil einer fünfbändigen Reihe Vernünfftiger Gedancken und Urtheile von der Beredsamkeit geplant, sie ist aber schließlich ein Solitär geblieben (Carsten Zelle, ‚Vernünftige Gedanken von der Beredsamkeit‘ – Bodmers und Breitingers ästhetische Schriften und Literaturkritik. In: Bodmer und Breitinger im Netzwerk der europäischen Aufklärung, hg. von Anett Lütteken und Barbara Mahlmann-Bauer, Göttingen 2009, S. 25–41, hier: S. 27). 283 [Johann Jakob Bodmer, Johann Jakob Breitinger,] Von dem Einfluß und Gebrauche der Einbildungs-Krafft; Zur Ausbesserung des Geschmackes: Oder Genaue Untersuchung Aller Arten Beschreibungen / Worinne Die außerlesenste Stellen der berühmtesten Poeten dieser Zeit mit gründtlicher Freyheit beurtheilt werden, Frankfurt, Leipzig 1727, S. 117. Zu dieser Passage vgl. auch Dietmar Till, Affekt contra ars. Wege der Rhetorikgeschichte um 1700. In: Rhetorica. A Journal of the History of Rhetoric 24:4 (2006), S. 337–369, hier: S. 362 f.  

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Solche Redner / die von einer Leidenschaft entzündet werden / lassen das Hertze reden / und man hat recht zu sagen / daß Amor ihnen ihre Verse in die Feder geflösset / und wenn sie von der Liebe / und Mars / wenn sie von dem Kriege singen: Sie zwingen uns alsdann eben dieselben Affecten anzunehmen / von denen sie gerührt werden.284

An solche Konzepte konnten auch die hallischen Pietisten anknüpfen. Schon vor dem Siebenjährigen Krieg boten sie eine Ästhetik für eine Lieddichtung an, die ihrer eigenen Inszenierung gemäß „ohne alle schöne Gelehrsamkeit“285 auskam: Wer sich nicht von rhetorischen Regeln leiten lasse, sondern nur von der „Fülle des Inneren“ im Verhältnis zu Gott, der dichte demnach in einer Sprache, die sich durch einen „einfachen, unverstellten Ausdruck“286 auszeichne. Vieles spricht dafür, dass sich die Strukturübertragung vom pietistischen Lied auf das Kriegslied, die Kaiser exemplarisch an dem in beiden Gattungen prominenten Blut- und Wundenmotiv nachgewiesen hat,287 bereits für die formale Ebene veranschlagen lässt. Denn betrachtet man die poetischen Mittel genauer, die Gleim seinem Grenadier in den Mund legte, dann lehnte er den vom Vaterland erfüllten Laiendichter in mehr als einer Hinsicht an den der pietistischen „Herzensergießung“288 an. Das gilt bereits für die metrische Form der Kriegslieder, die später als ‚Grenadierstrophe‘ kanonisiert worden ist. In deutschen Ohren rief der ausgestellt einfache Vierzeiler, bei dem jambische, durchweg männlich schließende Vierheber im Kreuzreim wechseln,289 nicht allein die englische „Ballad of Chevy Chase“ auf (Kap. II.3.2). Vielmehr hatte diese Bauform hier zugleich eine Tradition als genuin „geistliche Liedstrophe“290 hinter sich, die bis ins 16. Jahrhundert zurückreichte. Nach wie vor bekannt ist zum Beispiel das Weihnachtslied „Lobt Gott, ihr Christen alle gleich“ (1554) aus der Feder von Nikolaus Herman.291 Eine Präferenz für diese schlichte Strophe bildete sich in der

284 [Bodmer, Breitinger,] Von dem Einfluß und Gebrauche der Einbildungs-Krafft, S. 118. 285 Martens, Hallescher Pietismus und schöne Literatur, S. 157. 286 Martens, Hallescher Pietismus und schöne Literatur, S. 156 f. In seinem biographischen Eintrag zu Bogatzky lobt Paul Pressel 1876, dass sich „die Lauterkeit und Einfalt des Mannes“ in seinen Liedern „durch den schlesischen Bilderschwulst, wie der Mond durch die Wolken Bahn bricht“ (Pressel, Bogatzky. In: ADB, Bd. 3, 1876, S. 38). 287 Vgl. Kaiser, Pietismus und Patriotismus im literarischen Deutschland, S. 124–138. 288 Martens, Hallescher Pietismus und schöne Literatur, S. 156. 289 Frank, Handbuch der deutschen Strophenformen, S. 140. 290 Frank, Handbuch der deutschen Strophenformen, S. 140. 291 Oft lehnten sich die späteren Kompositionen an die Melodie dieses bekannten Liedes an. Vgl. z. B. die Anweisungen, die Gerhard Tersteegen den entsprechenden Liedern in seinem Geistlichen Blumen-Gärtlein inniger Seelen (1729 ff.) vorschaltete (Gerhard Tersteegen, Geistliches BlumenGärtlein Inniger Seelen. Mit der Frommen Lotterie und einem kurzen Lebenslauf des Verfassers. Neue Ausgabe, 15. Aufl., Stuttgart 1956, z. B. S. 369 zum Lied „Beschauung Gottes als die Sonne  







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Frühaufklärung „im Umkreis der pietistischen Lieddichtung“292 heraus. Das erste Mal fand sie sich um 1700 in Gottfried Arnolds Lied mit dem Eingangsvers „Ihr Sions-Töchter, die ihr nicht“. Wie Horst J. Frank auflistet, häuften sich von da an die pietistischen Belege. Zu denken wäre etwa an Tersteegens „O Weisheit aller Himmel Zier“, „Es lebe Gott allein in mir“ und „Wie bist du mir so innig gut“ sowie an Zinzendorfs Lieder „Über des Heilands Treue“ und „Wir wohnen in der Mutter Schoß“. Ein gewisser Vertrautheitseffekt dürfte sich für einen preußischen Leser der Grenadierlieder somit bereits über die Form hergestellt haben. Verstärkt wurde er dadurch, dass die pietistischen Lieder nicht minder reich an säkularen Anklängen waren, als es spiegelverkehrt in den Kriegsliedern zu verzeichnen ist. Bei Gerhard Tersteegen spricht die Seele des Gläubigen ihren Gott etwa dezidiert als Monarchen an: Es lebe Gott allein in mir In Zeit und Ewigkeit! Mein König, dies gebühret dir, Dein ist die Herrlichkeit.293

Diese Analogie zwischen göttlicher und weltlicher Sphäre kehrte sich bei Gleim, wie oben bereits ansatzweise in der politischen Odendichtung von Pyra und Lange gesehen, lediglich um. „Wir kommen“, ruft der Grenadier enthusiastisch aus, „unser Kriegesgott, / Held Friedrich ist voran!“294 Von dieser Inversion der Übertragungen zwischen sakraler und säkularer Sphäre unberührt blieb die Strophenform, die als Marker für den Affekt des Soldaten diente: Das literarische Format der pietistischen Liebe zu Gott lieferte bei Gleim das Strukturmuster für die patriotische Liebe zum Vaterland. Noch enger wurde diese Beziehung durch die „Performanz“,295 die den Preussischen Kriegsliedern auf der formalen Ebene eingeschrieben war. Als maßgeblicher Kunstgriff, den sich spätere Protagonisten der politischen Lyrik bei Gleim abschauen würden, gilt allgemein der konsequente Gebrauch eines lyrischen Wir.296

der Seelen“ oder S. 401 zum Lied „Die versöhnende Gnade Jesu Christi“, das Frank über das Initium „Wie bist du mir so innig gut“ anführt. 292 Frank, Handbuch der deutschen Strophenformen, S. 141. 293 Tersteegen, Die Seele will ihr selbst entwerden, damit Gott alles in ihr sei. In: Geistliches Blumen-Gärtlein inniger Seelen, S. 434–436, hier: S. 434. 294 [Gleim,] Schlachtgesang vor der Schlacht bey Prag, den 6ten May 1757. In: Preussische Kriegslieder, S. 33–38, hier: S. 38. 295 Gratzke, Blut und Feuer, S. 52. 296 Peters, Der zerrissene Engel, S. 109.

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„Victoria! mit uns ist Gott, / Der stolze Feind liegt da!“,297 hebt zum Beispiel das „Siegeslied nach der Schlacht bey Prag“ an. Oder der Gegner wird im „Herausforderungslied vor der Schlacht bey Roßbach“ mit vereinter Kraft aufs Feld gerufen: „Wir kleiner Haufe wachen schon, / Und singen Schlachtgesang“298. So einfach wie wirkungsvoll stiftet dieser Plural ein streitendes und singendes „Kollektiv“, das gleichwohl für Nicht-Kämpfende offengehalten ist. Im Blick auf Klopstock, der diese grammatische „Solidarisierung“299 als Erster in seinem „Kriegslied, zur Nachahmung des alten Liedes von der Chevy-Chase-Jagd“ (1749) durchgespielt hatte, hat Heinrich Bosse das integrative Potential der „Wir-Rede“300 aus der Mitte des Heeres prägnant herausgestellt. „Der, der spricht, und mit ihm der Leser, finden sich in einem kämpfenden Kollektiv und da erleben sie beides, Tod und Sieg“,301 kommentiert er. Mit anderen Worten: Bei der stillen Lektüre, oder noch effizienter, bei der lauten Rezitation erweitert sich das Wir des Kriegslieds von einer exklusiven Gemeinschaft des Felds zu einer inklusiven Gemeinschaft der Poesie. Auch diese Formentscheidung für das Kriegslied des 18. Jahrhunderts lässt sich doppelt einordnen. Auf der einen Seite weist sie darauf hin, wie genau Gleim und Klopstock sich mit der englischen Vorlage auseinandergesetzt haben, die das frühere der beiden „Kriegslieder“ explizit im Titelzusatz nannte, mit der „Ballad of Chevy Chase“. In der Tat finden sich im populären englischen Lied von der Schlacht in den Cheviot Hills nicht nur Strophen in der dritten Person, auf die Addison seine These gestützt hatte, der unbekannte Dichter aus dem Volk sei von der Natur zum epischen Erzähler gebildet worden (Kap. II.3.2). In wenigen, aber markanten Passage drückt sich die Parteilichkeit („laudable Partiality“),302 in der sich der Sprecher der „Ballad of Chevy Chase“ laut dem Herausgeber des Spectator auf die Seite seiner englischen Landsleute gestellt habe, auch in einem grammatischen Wechsel zum Wir aus. So setzt der vollständige Abdruck des

297 [Gleim,] Siegeslied nach der Schlacht bey Prag, den 6ten May 1757. In: Preussische Kriegslieder, S. 39–48, hier: S. 41. 298 [Gleim,] Herausforderungslied vor der Schlacht bey Roßbach am 4ten November 1757. In: Preussische Kriegslieder, S. 61–64, hier: S. 64. 299 Peters, Der zerrissene Engel, S. 109. 300 Heinrich Bosse, Klopstocks Kriegslied (1749). Militärische Poesiepolitik im 18. Jahrhundert. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 2000, S. 50–84, hier: S. 72. Bei diesem Beitrag handelt es sich um die erste Hälfte eines Aufsatzes von monumentalem Umfang. Die zweite Hälfte folgt an gleicher Stelle im nächsten Jahrgang: Heinrich Bosse, Klopstocks Kriegslied (1749). Militärische Poesiepolitik im 18. Jahrhundert. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 2001, S. 41–99. 301 Bosse, Klopstocks Kriegslied (1749) [2000], S. 72 f. 302 The Spectator, Bd. 1, No. 70, 21. Mai 1712, S. 400.  

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Textes, der 1723 in der Collection of Old Ballads erschien, direkt mit dem Wunsch ein: „G OD prosper long our Noble King, / Our Lives and Safeties all“303. Und wenig später, als die blutigen Kampfhandlungen mit den Schotten innerhalb des Textes bereits voll entbrannt sind, heißt es aus einer eindeutig englischen Perspektive: Our English Archers bent their Bows, Their Hearts were good and true; And the first Flight of Arrows sent, Full Threescore Scots they slew.304

Zwischen diesem Wir der Parteilichkeit und dem Wir der Kriegslieder besteht gleichwohl ein wesentlicher Unterschied. Denn was die Fokalisierung betrifft, bleibt der Blick „von außen oder von oben“305 in der „Ballad of Chevy Chase“ auch dann stabil, wenn die Pronomina wechseln. Die „ganz und gar gegenwärtige[ ]“306 Verschmelzung mit der Gruppe der Kämpfenden, die Bosse zu Recht als das charakteristische Merkmal der deutschen Kriegsliedpoetik identifiziert, vollzieht sich gerade nicht. An diesem Punkt kommt eine weitere Vorlage für die Preussischen Kriegslieder ins Spiel. So lehnt sich das systematische Wir der Soldatengedichte gleichzeitig an eine Liedtradition an, für die eine Praxis des gemeinsamen Singens derart konstitutiv war, dass sie sich bis in die grammatische Struktur hinein spiegelte. Eine vielversprechende Assoziation hat Günter Peters formuliert. „Der

303 An Unhappy Memorable Song of the Hunting in Chevy-Chace, between Earl Piercy of England, and Earl Douglas of Scotland. In: A Collection of Old Ballads, Bd. 1, S. 111–119, hier: S. 111. 304 An Unhappy Memorable Song of the Hunting in Chevy-Chace. In: A Collection of Old Ballads, Bd. 1, S. 114; angeführt, aber nicht erläutert auch in The Spectator, Bd. 1, No. 74, 25. Mai 1712, S. 424. Wieviel Aufmerksamkeit Gleim der Form der „Ballad of Chevy Chase“ widmete, fällt gerade an dieser Strophe noch an einem weiteren Punkt ins Auge. Anders bei Klopstock, finden sich bei ihm stellenweise auch die dominanten Alliterationen der Vorlage. Zu Beginn des „Schlachtgesangs bei Eröfnung des Feldzuges 1757“ erklingt etwa der Appell: „Auf Brüder, Friedrich, unser Held, / Der Feind von fauler Frist, / Ruft uns nun wieder in das Feld, / Wo Ruhm zu hohlen ist.“ ([Gleim,] Schlachtgesang bei Eröfnung des Feldzuges 1757. In: Preussische Kriegslieder, S. 27–32, hier: S. 29) Eine auf den ersten Blick naheliegende nationalisierende Interpretation dieser sprachlichen Gestaltung verbietet sich insofern, als der Stabreim in der deutschen Literatur erst sehr viel später als ein Erkennungsmerkmal der germanischen Dichtung theoretisiert worden ist. Erste Beobachtungen in dieser Hinsicht gehen auf „Jacob Grimms Studien zur altgermanischen Rechtssprache“ zurück (Rüdiger Zymner, Alliteration. In: RLL, Bd. 1, S. 48 f., hier: S. 48). Grimm selbst verwendete noch den rhetorischen Begriff der Alliteration; den Begriff „Stabreim“ etablierte dann Karl Lachmann in seiner Schrift Über das Hildebrandslied (1833/35) (Christoph März, Stabreim. In: RLL, Bd. 3, S. 489–491, hier: S. 490). 305 Bosse, Klopstocks Kriegslied (1749) [2000], S. 72. 306 Noch einmal Bosse, Klopstocks Kriegslied (1749) [2000], S. 72.  

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lutherische Gemeindegesang wird auf das Schlachtfeld verlegt“,307 notiert er, ohne die Implikationen dieser Strukturübertragung aber weiter zu entfalten.308 Es lohnt sich freilich durchaus, diesem Eindruck genauer nachzugehen. Denn wie Kemper exemplarisch an der ersten Strophe von „Gott ist gegenwärtig“, dem „bekanntesten“309 Kirchenlied aus Tersteegens Geistlichem Blumen-Gärtlein inniger Seelen (1729) zeigt, hatten die typischen religiösen „Wirlieder“310 in der pietistischen Kultur eine spezifische Polyvalenz erhalten, die in Gleims patriotischem Lied von vornherein mitgedacht war. Der Text dieser Anfangsstrophe sei darum in Gänze zitiert. Er lautet: Gott ist gegenwärtig; lasset uns anbeten, Und in Ehrfurcht vor ihn treten! Gott ist in der Mitte; alles in uns schweige Und sich innigst vor ihm beuge! Wer ihn kennt, Wer ihn nennt, Schlagt die Augen nieder; Kommt ergebt euch wieder!311

Schon der erste Vers von „Gott ist gegenwärtig“ koppelt das Wir der Singenden an eine Deixis der Anwesenheit, die auf einer signifikanten Metapher basiert. Sowohl die räumliche Justierung, die Gott „in der Mitte“ verortet, als auch der Appell zur Verneigung evozieren eine erste „Sinn- und Gebrauchsebene“,312 die eine spezifische Situation aufruft: den Gottesdienst, der im Beisein der versammelten Gemeinde in der Kirche gefeiert wird. Diesem Modus entspricht die präsentische Vorstellung einer singenden Heeresgemeinschaft, die in den Preussischen Kriegsliedern ebenfalls immer wieder durch Imperative aufgerufen wird. Nicht ohne Grund überlagert sich der politische Anlass des kollektiven Gesangs bei Gleim regelmäßig mit einem religiösen, der im 18. Jahrhundert als vertraut vorausgesetzt werden kann. Zum Beispiel animiert der Grenadier seine Mitsoldaten im „Siegeslied nach der Schlacht bey Lowositz“:

307 Peters, Der zerrissene Engel, S. 109. In seiner weiteren Argumentation unterstreicht Peters diese nicht weiter untermauerte Assoziation zum Kirchenlied, indem er den Gesang des Grenadiers als „christlichen Schlachtchoral“ bezeichnet (S. 109). 308 Ebenso bei Bosse, der nur kurz bemerkt: „Auch das Kirchenlied tönt herein.“ (Bosse, Klopstocks Kriegslied (1749) [2000], S. 72). 309 Kemper, Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit, Bd. 6/1, S. 87. 310 Kemper, Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit, Bd. 6/1, S. 86. 311 Tersteegen, Geistliches Blumen-Gärtlein inniger Seelen, S. 340–342, hier: S. 340. 312 Kemper, Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit, Bd. 6/1, S. 90.

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Gott donnerte, da floh der Feind! Singt Brüder, singet Gott! Denn Friederich, der Menschenfreund, Hat obgesiegt mit Gott.313

Entscheidend für Tersteegens Lied indes ist, dass dem Ort für die Feier Gottes zugleich eine Tendenz nach innen eingeschrieben ist. So wendet sich der evozierte Kirchenraum mit dem Gebot „alles in uns schweige“ zu einem Raum „des Herzens“, in dem sich nach der pietistischen Auffassung die eigentlich wichtige Vergemeinschaftung vollzog. „Die räumlichen Bilder und liturgischen Akte“, so Kemper, „werden damit zu Metaphern für physische Dispositionen, welche die ‚unio mystica‘ zum Ziel haben“314. Auf diesem Weg transformiert sich auch das initial gesetzte Wir: Wenn das Lied in der einsamen Andacht gelesen oder gesungen wurde, dann vermochte die erste Person Plural den Kontakt zu entfernten Gleichempfindenden herzustellen, mit denen der Gläubige jenseits kontingenter Gemeindegrenzen das innige „Verhältnis zu Gott“315 teilte. Damit changiert das Wir, das sich bei Tersteegen um den gegenwärtigen Gott gruppiert, auf konstitutive Weise zwischen einer Gemeinschaft in praesentia und in absentia, die sich auch in den Diskurs des Vaterlands hineinverfolgen lässt. Paradigmatisch illustriert Kaiser diesen konzeptuellen Transfer an den Schweizerliedern (zuerst 1767) von Johann Caspar Lavater, in denen sich der Zürcher „Erbe des Pietismus“316 in der patriotischen Lust erging, „[u]ngesehen sich zu seegnen“ und „[u]nbekannt geliebt zu seyn“. Auch in diesen Liedern wird die empfindsame Fernverbindung durch ein virtuelles Wir beschworen. „Brüder, Brüder, schöner Namen!“, rief Lavater seinen Mitbürgern im „Loblied auf Helvetische Eintracht“ zu, „[u]nser Bund soll ewig stehn!“317 Für die Preussischen Kriegslieder des „Tyrtäus Gleim“, dem der Schweizer Autor in einem Vierzeiler „An den Leser“ ausdrücklich seine Reverenz erwies,318 ist diese Anleihe beim pietistischen Konzept

313 [Gleim,] Siegeslied nach der Schlacht bey Lowositz, den 11ten October 1756, S. 9–25, hier: S. 11. 314 Kemper, Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit, Bd. 6/1, S. 90. 315 Kaiser, Pietismus und Patriotismus im literarischen Deutschland, S. 71. 316 Kaiser, Pietismus und Patriotismus im literarischen Deutschland, S. 76. 317 Johann Caspar Lavater, Loblied auf Helvetische Eintracht. In: Schweizerlieder, 3., erweiterte Aufl., Bern 1768, S. 259–266, hier: S. 261. Die erste Sammlung der Schweizerlieder war im Vorjahr erschienen; die dritte Auflage wird hier zitiert, weil der betrachtete Text erst zu dieser Ausgabe hinzugefügt worden ist. 318 In diesem Gedicht, das dem Abschnitt „Historische Lieder“ vorangestellt ist, betonte Lavater die formale Inspiration durch die Preussischen Kriegslieder. „Wenn, Leser, dir mein Reim gefällt, / Dank’s dem Tyrtäus Gleim! / Der sang von Helden wie ein Held, / Und dessen ist mein Reim.“ Eine

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der Gemeinde mit seinem „gefühlvollen Brüderlichkeitskult“319 insofern aufschlussreich, als sie den gebrauchsgeschichtlichen Resonanzraum der Wir-Poetik anschaulich vor Augen stellt. Zum permeablen Wir des pietistischen Liedes hatte prinzipiell jeder Zugang, der die vorgeführte Fokussierung der Empfindungen mitvollzog: Um den innerlich gegenwärtigen Gott konstituierte sich eine Gemeinschaft, in der das religiöse Gefühl auf ein „liebende[s] Umfangen“320 von all denen übersprang, die andernorts in das gleiche Lied einstimmten. Auf diesen „Genuß der religiösen Seelengemeinschaft“ baute die Poetik der Kriegslieder auf, um im Anschluss daran einen „Genuß des patriotischen Herzensbundes“321 zu entwerfen. Konsequent schloss Gleim zu diesem Zweck an die pietistische Lieddichtung an. Indem er die Wir-Deixis über die Einführung des Grenadiers ans Gefolge Friedrichs II. im aktuellen Krieg zurückband, bildete er genau das Wechselspiel von Anwesenheit und Abwesenheit nach, das die religiöse Poesie auszeichnete.322 Wer die Preussischen Kriegslieder sang, der konnte dies folglich in der Vorstellung tun, er stimme in eine bereits bestehende Gemeinschaft ein. Dem indexikalischen Anspruch der Charakter-Poetik entsprechend, war die formale Seite der Preussischen Kriegslieder somit sorgfältig durchkomponiert. Um ein Liedgenre auszuarbeiten, an dem sich – so Gleims Auslegung von Bodmers Vorgabe – eine patriotische Gemütsbewegung ablesen lassen sollte, bediente Gleim sich beim religiösen Schwesterdiskurs zur Vaterlandsliebe, der ihm aus seiner Studienzeit in Halle vertraut war. Über eine strukturelle Analogie zur einfachen Lieddichtung des Pietismus wurde die Liebe zum Vaterland, die den Grenadier inspirierte, als ebenso natürlicher Affekt ausgewiesen wie die Liebe zu Gott. Das lyrische Wir, das an die religiöse Gesangspraxis erinnerte, regte auch den Rezipienten an, diese Empfindung aktiv nachzuvollziehen. Die Formsemantik des Kriegslieds war mithin durch ein Spiegelverhältnis von Religion und Patriotismus bestimmt; und nicht minder wichtig war diese Wechselbeziehung für die poetologische Konstitution seines Gegenstands: des Vaterlands.

performative Dimension dieses Danks ist hier offensichtlich: Wie die folgenden Lieder, so ist auch dieses in der Grenadierstrophe gehalten (Lavater, An den Leser. In: Schweizerlieder, S. 44). 319 Kaiser, Pietismus und Patriotismus im literarischen Deutschland, S. 72. 320 Kaiser, Pietismus und Patriotismus im literarischen Deutschland, S. 76. 321 Kaiser, Pietismus und Patriotismus im literarischen Deutschland, S. 75. 322 Dementsprechend sieht Kemper die Pointe von Tersteegens „Gott ist gegenwärtig“ in der „erstaunliche[n] Breite individueller Sinn-Adaptationen“, die durch den Liedtext antizipiert werde (Kemper, Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit, Bd. 6/1, S. 88).

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3.1.2 Metonymische Relationen: Predigt und Kriegslied (Gleim, Sack, Abbt) Jede Auseinandersetzung mit der Theorie- und Diskursgeschichte des Patriotismus führt rasch zu der Einsicht, dass das Konzept ‚Vaterland‘ im Diskurs der Frühen Neuzeit eine ebenso virtuelle Gemeinschaft stiftete, wie Benedict Anderson es in seinen Imagined Communities (1983) für das Konstrukt ‚Nation‘ gezeigt hat.323 Der Grad der Abstraktion, auf dem sich das Konzept ‚Vaterland‘ bewegte, war dabei keineswegs geringer. Weder das Territorium, das den Begriff in Analogiebildung zur römischen terra patria bestimmte,324 noch die politischen Institutionen, die das Leben auf diesem Gebiet regelten,325 sorgten an sich für die affektive Bindung zwischen Individuen und dem Staatsgefüge, die der patriotische Gemeinschaftsentwurf versprach (Kap. I.2.3.1.2).326 In den staatsphilosophischen Schriften der Frühen Neuzeit ist der Forschung mithin die besondere Poetizität einer Sprache des Patriotismus aufgefallen, mit der die Gelehrten dem Vaterland unmittelbare, sinnliche Qualitäten zu verleihen versuchten.327 In seinem Essay For Love of Country (1995) hat Maurizio Viroli dazu aufgefordert, genau diese rhetorisch-poetischen Verfahren ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken: We need historical interpretation rather than scientific theories to uncover and understand the meaning of the themes, metaphors, allusions, exhortations, and invectives that the language of patriotism has been crafting over the centuries to sustain or repeal, damper, inflame, or rekindle a rich and colourful universe of passions.328

Dieses Plädoyer kann ebenso für die Auseinandersetzung mit literarischen Texten gelten, die diese Bildsprache mit den ihr eigenen Mitteln differenzierten und vertieften. Ein solcher Weg soll hier für die Preussischen Kriegslieder von Gleim beschritten werden. Ein erster Hinweis auf eine zentrale poetische Figur, mit der die Lyrik der Schlesischen Kriege das Vaterland in die Sphäre der Wahrnehmung zu bringen

323 Benedict Anderson, Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, revised Edition, London, New York 2006. Anderson Begriff der „abstract community“ ist in der Forschung gewinnbringend auf die Diskurse der patria übertragen worden; vgl. z. B. Hirschi, The Origins of Nationalism, S. 51. 324 Vgl. Viroli, For Love of Country, S. 18; betont wird mit Karl Deutsch auch das konzeptuelle Kriterium der territorialen Residenz, durch das sich das Vaterland von der ethnisch definierten Nation unterscheide (Viroli, For Love of Country, S. 3 f.). 325 Viroli, For Love of Country, S. 1. 326 Hirschi, The Origins of Nationalism, S. 51. 327 Hirschi, The Origins of Nationalism, S. 50. 328 Viroli, For Love of Country, S. 5.  



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versuchte, findet sich erneut in der Studie von Bosse. Eingeführt wird sie unter dem Stichwort „Königsmetonymie“329. Dahinter verbirgt sich eine Kontiguitätsbeziehung,330 die das unsichtbare Band der patriotischen Gemeinschaft in der Person des Monarchen konkretisierte, die in der Schlacht zur sichtbaren Orientierungsfigur wurde. „Heil, Friedrich! Heil dir, Held und Mann“, ruft schon der namenlose Soldat in Klopstocks „Kriegslied“ dem König an der Spitze des Heeres zu, um von diesem Anblick auf die ideelle politische Einheit zu schließen: „Es führet uns der beste Mann / Im ganzen Vaterland.“331 Die Probe, die diese Substitutionsregel aufs Exempel führte, sieht Bosse in den Gedankenspielen über den Tod für das Vaterland, die für die Kriegsdichtung des 18. Jahrhunderts charakteristisch waren. „Allen Kämpfenden teilen sich die Qualitäten ihres Vorkämpfers mit, so daß sie mit ihm inkorporiert sind zu einem einzigen Truppenkörper, welcher stirbt und gleichwohl überlebt und so den Tod begrüßen kann“, erläutert er. Das heißt: Von der Präsenzgemeinschaft des Heeres werde die Vorstellung einer „sterblich-unsterbliche[n] Wir-Formation“ abgeleitet, deren abstrakte Dimension sich gerade darin beweise, dass sie vom Tod des Einzelnen unbeschadet bleibe. Von dieser Regel ausgenommen sei lediglich der Herrscher, der die Gemeinschaft durch seine eigene Person vertrete. „Die Soldaten“, fasst Bosse also die Logik der Königsmetonymie zusammen, „kämpfen durch den König und für das Vaterland, in das sie fallen.“332 Für Bosse, der die Umdeutungen von Kriegsdiskursen im Kontext der Genese nationalstaatlicher Bürgerethiken seit 1750 untersucht,333 ist der motivgeschichtliche Index der betrachteten Trope nur am Rande von Belang. Zwar verweist er darauf, dass Northrop Frye die profilierte politische Gedankenfigur (rhetorisch nicht ganz korrekt) unter dem Namen ‚Königsmetapher‘ eingeführt hat.334 Dessen Definition lautet dabei:

329 Bosse, Klopstocks Kriegslied [2001], S. 55. 330 Vgl. Hendrik Birus, Metonymie. In: RLL, Bd. 2, S. 588–591, hier: S. 588. 331 [Friedrich Gottlieb Klopstock,] Kriegslied, zur Nachahmung des alten Liedes von der ChevyChase-Jagd. In: Sammlung vermischter Schriften von den Verfassern der Bremischen neuen Beyträge zum Vergnügen des Verstandes und Witzes, hg. von Karl Christian Gärtner, 8 Bde., Bd. 1, St. 5, Leipzig 1749, S. 404–406, hier: S. 404. 332 Bosse, Klopstocks Kriegslied [2000], S. 73. In seiner konkreten Textanalyse macht Bosse diese These zudem daran fest, dass bei Klopstock auch „die Nicht-Kämpfer die Kämpfer feiern“: „Gekämpft wurde nicht im Auftrag des Königs, sondern im Auftrag, ja in Stellvertretung der Daheimgebliebenen […]. Und für welche Sache? Für das Vaterland, das Kämpfer und Nichtkämpfer umfaßt, aber keinen Namen hat. Einen Namen hat nur der namengebende Held.“ (Ebenfalls Bosse, Klopstocks Kriegslied [2000], S. 73). 333 Vgl. Bosse, Klopstocks Kriegslied [2000], S. 50–55, v. a. S. 55. 334 Bosse, Klopstocks Kriegslied [2000], S. 73, Anm. 56.  

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There is identification as as well as identification with. […] When we combine these two forms of identification, and identify an individual with its class, we get an extremely powerful and subtle form of metaphor, which I sometimes call the royal metaphor, because it underlies one of the most symbolically pervasive of institutions, that of kingship.335

In welchen Zusammenhängen diese Form der uneigentlichen Rede situiert war, spielt für Bosses Ansatz keine Rolle. Für die hier verfolgte Frage, aus welchen Traditionsbezügen sich die Poetologie des Patriotismus im deutschen Kriegslied zusammensetzte, eröffnet seine Beobachtung hingegen eine wichtige Perspektive. Denn bei Frye geht es um das Verhältnis von The Bible and Literature, wie der Untertitel zu seinem Buch The Great Code lautet. Dabei verschreibt der Literaturwissenschaftler sich dem Ziel, ein „imaginative frame-work“336 von Motiven und Techniken aus biblischen Texten freizulegen, von denen die europäische Literatur bis die Gegenwart geprägt sei. Die paradigmatische Figur der Heiligen Schrift, an der Frye die Königsmetonymie festmacht, ist dabei der Krieger und Sänger David. In all seinen Handlungen, so die These, fungiere König David als Verkörperung der Siege und der Niederlagen seines Volkes.337 Augenfällig werde das etwa am Tanz des hebräischen Herrschers vor der Bundeslade: Indem der König den Gott des Volkes Israel performativ für die Einnahme Jerusalems feiere, setze er ein weithin sichtbares Zeichen, dass sein Staat mit göttlicher Hilfe einen militärischen Erfolg verzeichnet habe.338 Auch dass es sich etabliert habe, dem vorbildlichen Herrscher David einen Großteil der Psalmen zuzuschreiben, könne als rezeptionsgeschichtliche Fortsetzung dieser Königsmetonymie verstanden werden. „In a hymn sung by a group, such a phrase as ‚I will praise the Lord‘ expresses the unity of that group by the metaphor of the individual, who in this case is identified with the author of the hymn“, kommentiert Frye: „The verbal figure involved is an extension of the royal metaphor, and is easily absorbed into it.“339 Anders ausgedrückt: Mit der Königsmetonymie ging bereits in der biblischen Tradition eine so genaue Beobachtung des Herrschers einher, dass nicht nur seine Taten und körperlichen Gesten eine Zeichenhaftigkeit gewannen.340 Diese Praxis steigerte sich bis zu dem Bedürfnis, einen Zugang zu den Empfindungen des

335 Northrop Frye, The Great Code. Bible and Literature, London 1981, S. 87. 336 Frye, The Great Code, S. xi. 337 Frye, The Great Code, S. 90. RRN sechs gänge, opferte 338 Vgl. 2. Sam. 6, 13 f.: „13. Und da sie einher gingen mit der lade des H EERRN man einen ochsen und ein fett schaf. 14. Und David tanzete mit aller macht vor dem H ERRN her, und war begürtet mit einem leinen leibrock.“ (Biblia (Canstein 1740), S. 328). 339 Frye, The Great Code, S. 90. 340 Vgl. erneut Frye, The Great Code, S. 90: „[T]he king is his people, their existence as a ‚body‘“.  

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Monarchen zu erlangen, die den politischen Status quo widerzuspiegeln versprachen. Aus dieser Einordnung in das Alte Testament erklärt sich, warum eine solche Trope in der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts vor allem in einer religiösen Variante der politischen Publizistik zu finden war, bevor Klopstock und Gleim sie für ihre Kriegsdichtungen entdeckten. Mit Recht hat Johannes Birgfeld unlängst dazu angehalten, die Interdependenzen zwischen Kriegspredigt und Kriegsliteratur während der Schlesischen Kriege einer eingehenderen Prüfung zu unterziehen, als dies bislang geschehen ist.341 Angesichts des „Netzwerk[s] aus Literatur, Kirche und Staatspatriotismus“ im 18. Jahrhundert, das in den freundschaftlichen Verbindungen der preußischen Aufklärer zu einflussreichen Kirchenmännern der Zeit zu Tage trete, müsse das Motivinventar der Kriegslyriker neu bewertet werden.342 So hält Birgfeld es für „[nicht] allzu unwahrscheinlich […], dass […] manche Eigenart der Literatur der späten 50er Jahre auf Redeweisen basieren könne, die in anderen Medien wie dem der Predigt bereits zehn Jahre zuvor erprobt und ausgearbeitet“343 worden sei. Für diese Wechselbeziehung spricht in der Tat die starke Präsenz eines biblischen Buches in den Kriegspredigten, in dem die Königsmetonymie besonders prominent vertreten ist. In den außerordentlichen Gottesdiensten, mit denen die Siege der friderizianischen Armee in den Schlesischen Kriegen gefeiert wurden,344 diente mehrheitlich das Alte Testament, und darin überproportional oft der Psalter als Interpretament für die politische Lage.345 Diese Perikopen wurden von einer – leider bisher nicht näher eingrenzbaren – Instanz in der preußischen „Obrigkeit“346 vorgegeben, wie am vielbeachteten, auch im Druck stark nach-

341 Johannes Birgfeld, Kirche und Krieg im 18. Jahrhundert. Überlegungen zum Verhältnis von Kriegspredigt, Kriegsgebet, Staat und Literatur. In: Krieg und Frieden im 18. Jahrhundert. Kulturgeschichtliche Studien, hg. von Stefanie Stockhorst, Hannover 2015, S. 525–543, hier: S. 525. 342 So Birgfeld im begründeten Einspruch gegen Blitz, Aus Liebe zum Vaterland, S. 171–186 und S. 271–275, der „Predigt und Lyrik gleichermaßen im Dienst preußischer Propaganda“ sehe (Birgfeld, Kirche und Krieg im 18. Jahrhundert, S. 527; vgl. außerdem S. 543). 343 Birgfeld, Kirche und Krieg im 18. Jahrhundert, S. 536. 344 Diese Gottesdienste waren in der Frühen Neuzeit allgemein üblich. Zu den preußischen Konventionen vgl. Mark Pockrandt, Biblische Aufklärung. Biographie und Theologie der Berliner Hofprediger August Friedrich Wilhelm Sack (1703–1786) und Friedrich Samuel Gottfried Sack (1738–1817), Berlin, New York 2003, hier: S. 527 f. 345 Birgfeld, Kirche und Krieg im 18. Jahrhundert, S. 541. 346 Pockrandt, Biblische Aufklärung, S. 527. Auf direkte Nachfrage hat Pockrandt dieses Problem zu einem Desiderat erklärt. Trotzdem schreibt Birgfeld die Auswahl Friedrich II. selbst zu (Birgfeld, Kirche und Krieg im 18. Jahrhundert, S. 536); überzeugende Nachweise dafür fehlen.  

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gefragten Werk des Berliner Hofpredigers August Friedrich Wilhelm Sack gezeigt worden ist.347 Ein Blick in diese Predigten legt dabei nahe, dass das Verhältnis zwischen Predigt und Literatur in Preußen keine Einbahnstraße darstellte. So scheint es, als sei die konkrete Auslegung der Bibelstellen schon in den ersten beiden Schlesischen Kriegen im stetigen Seitenblick auf die politische Lyrik erfolgt, die zeitgleich in Halle ausgearbeitet wurde.348 Die Aufmerksamkeit des Hofpredigers Sack für die psalmenbasierte Poetik von Pyra und Lange (Kap. III.1.2), mit denen der Theologe indirekt über seine Freunde Gleim und Sulzer in Kontakt stand,349 schlug sich etwa in einer stehenden Analogie zwischen den Preußen und den Hebräern unter David nieder. Wiederholt mobilisierte Sack diese auch dann, wenn die ausgewählte Perikope sie nicht notwendig gefordert hätte.350 Darüber hinaus weitete Sack die preußische Kriegspartei bis in die himmlische Sphäre aus. Eine solche Topik des Bundes hatte sich bereits im Ersten Hallischen Dichterkreis als tragender Pfeiler der politischen Diskurse etabliert; im Anschluss an Pyra

347 In der Kriegszeit erschienen Sacks Predigten als Einzeldrucke, bevor sie in die sechsbändigen Predigten über verschiedene wichtige Wahrheiten zur Gottseligkeit (1735–1764) eingingen, von denen einzelne besonders beliebte Bände bis zu sechs Auflagen erlebten (August Friedrich Wilhelm Sack, Predigten über verschiedene wichtige Wahrheiten zur Gottseligkeit, 6 Bde., Berlin 1735–1764). 348 Die Kontinuität der politischen Dichtung seit den 1740er Jahren übersieht Birgfeld. 349 Vgl. Birgfeld, Kirche und Krieg im 18. Jahrhundert, S. 532 f. Beide zählten zu dem Freundschaftszirkel um Lange, der seine Zusammengehörigkeit 1746 in den von Gleim herausgegebenen Freundschaftlichen Briefen dokumentierte. 350 Das gilt zum Beispiel für Sacks Dankpredigt auf den Sieg gegen die vereinigte Armee von Österreich und Sachsen im Winter 1745. Obwohl eine Stelle aus dem 1. Buch Samuel im Mittelpunkt stehen sollte, begann Sack programmatisch mit einem Zitat aus dem 138. Psalm. „Wenn ich mitten in der Angst wandele, so erquickest du mich, und streckest deine Hand über den Zorn meiner Feinde, und hilfest mir mit deiner Rechten“, stimmte er seine Gemeinde ein: „Mit diesen Worten druckt David beydes die grosse Noth und Beklemmung seines Gemüths, darinn ihn die List und Wuth seiner Feinde mehr als einmahl setzte, und zugleich die wunderbar-gnädige Rettung und Hülfe aus, die ihm der Allmächtige mitten in diesen Verletzungen und Aengsten erwieß. Andächtige in J E su Christo! Eine ganz gleiche Sprache hat die Vorsehung, die allmächtige und gnädige Vorsehung, auch uns in den Mund gelegt.“ (August Friedrich Wilhelm Sack, Dank-Predigt über 1. Sam. XII, 24. wegen des am 15ten Decembr. 1745. durch die Königl. Preußl. Trouppen über die feindliche vereinigte Armee nahe bey Dreßden erfochtenen Sieges, vor beyder Königinnen Maj. Maj. und dem anwesenden König. Hause gehalten. In: Predigten über verschiedene wichtige Wahrheiten zur Gottseligkeit, Bd. 5: Predigten bey verschiedenen feyerlichen Gelegenheiten gehalten, 2. Aufl. Berlin 1764, S. 27–48, hier: S. 29) – Vorgegeben war 1. Sam. 12, 24: Diese Stelle befasst nicht mit der David-Erzählung, die in den beiden Büchern Samuel großen Raum einnimmt; das 1. Sam. 12 steht in der zeitgenössischen Lutherbibel unter der Überschrift „Wie ansehnlich Samuel sein richteramt übergeben“ (Biblia (Canstein 1740), S. 297).  

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hatte auch Lange seine Horatzischen Oden 1747 mit einem Gedicht eröffnet, das berichtet, wie man „der Waffen göttliche Wunder“ habe erleben können, Da Deine rächende Faust, o Friedrich! Blitze geschleudert, Die Dir der mächtige G O tt zur Rach’ und Schutze verliehn, Und die Du nur gezwungen warffst[.]351

Mit Blick auf eine solche Koalition zwischen Gott und König ging Sack, der dem Zirkel der Reformierten am preußischen Hof angehörte und dem Staat mithin nicht minder eng verbunden war als die Pietisten,352 mit Pyra und Lange d’accord: Eine Extension ins Göttliche bestimmte auch die Variante der Königsmetonymie, die er auf dieser Basis in seinen Predigttexten ausarbeitete. Im Folgenden soll der Blick darauf gerichtet werden, wie Sack die politische Trope der Königsmetonymie in Szene setzte. Dabei wird zu zeigen sein, dass die figuralen Wechselbeziehungen zwischen religiösen und poetischen Texten in der Literatur des Siebenjährigen Kriegs in entscheidendem Maße auf seinem Predigtwerk basierten. Am Beispiel einer paradigmatischen rhetorischen Figur soll somit nachgezeichnet werden, wie sich die Rede über das Vaterland in Preußen ausdifferenzierte – wie sie zunächst von den Kanzeln der Prediger erklang, dann in Gleims Grenadierlieder wanderte, um schließlich die ersten Ansätze zu einer deutschsprachigen Philosophie des Patriotismus bei Thomas Abbt zu inspirieren.

3.1.2.1 Kriegspredigten: Gott wahrnehmen Die Predigten, mit denen der Hofprediger Sack die Siege Friedrichs II. zelebrierte, erreichten in Berlin ein großes Publikum. Bald nahm eine Deutung der Kriegssituation, die sich des Alten Testaments bediente, einen festen Platz im Erwartungshorizont seiner Zuhörer ein. „Ich will morgen in den Dom gehen und Herrn Sacken predigen hören“, schrieb Ramler 1758 an Gleim: „Wird er nicht alle Flüche die David wider die Feinde ausgestoßen hat, nehmen, und sie alle den Frantzosen an den Kopf schütteln: so – bin ich ihm nicht mehr gut.“353 Im Zuge der wiederholten Verschränkungen von Kriegspredigt und Psalm wurde die Kanzel dabei

351 Lange, An den König. In: Horatzische Oden, S. 1–3, hier: S. 1. 352 Friedrich I., der erste König von Preußen, hatte bei seiner Krönung 1701 ein Zeichen der Religionsfreiheit gesetzt, indem er der mehrheitlich lutheranischen Bevölkerung ihre Konfession beließ und nur am Hof den reformierten Glauben beibehielt. Auf diese kirchenpolitische „Sondervariante“, die in Preußen eine besondere „Verquickung von Religion und Staat“ beförderte, weist Birgfeld hin (Birgfeld, Kirche und Krieg im 18. Jahrhundert, S. 530 f., hier: S. 530). 353 Ramler an Gleim, 28. Januar 1758. In: Briefwechsel zwischen Gleim und Ramler, Bd. 2, S. 311 f., hier: S. 312.  



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zugleich zu dem Ort, an dem die Königsmetonymie sich als zentrales Verfahren etablierte, um die abstrakte Gemeinschaft der Kämpfenden rhetorisch zu vergegenwärtigen. Zum ersten Mal erklang diese Metonymie bei Sack im Herbst 1745, als er seine „Dank-Predigt […] wegen des Sr. Königl. Majestät in Preußen unserm allergnädigsten Könige und Herrn am 30. Sept. c. bey Sorr in Böhmen über die vereinigte Oesterreichische und Sächsische Armee von G OTT verliehenen herrlichen Sieges“ am 89. Psalm ausrichtete: an einem der Königspsalmen, die bei den hallischen Autoren als Relais zwischen David- und Friedrich-Diskurs fungiert hatten (Kap. III.1.2.2). Diese Übergängigkeit kehrte im Kontext der Predigt als sorgfältig ausgeführte Typologie wieder. So kündigte Sack in seiner propositio an, dass sich sein Vortrag in zwei Schritte gliedern werde. Zunächst wolle er daran erinnern, warum „David ein ganz besonderes Exempel einer göttlichen Vorsehung gewesen“, um sodann klar zu machen, „[d]aß uns G O tt in der Person unseres Königs ein ganz gleiches und neues Exempel gegeben, daß nicht der Menschen Rath und Macht, sondern seine Hand allein die Welt regiere“354. In beiden Fällen nämlich, so Sacks These, belege ein gänzlich unwahrscheinlicher Kriegserfolg die Gültigkeit des Gotteswortes, das dem feierlichen Vortrag zugrunde lag. „Meine Hand soll ihn erhalten, und mein Arm soll ihn stärken“, lautet es im Zitat des Predigers: „Die Feinde sollen ihn nicht überwältigen, und die Ungerechten sollen ihn nicht dämpfen; sondern ich will seine Widersacher schlagen vor ihm her.“355 Die Schlesischen Kriege, so ließe sich diese Rhetorik der Exemplarizität paraphrasieren, boten mithin eine der seltenen Gelegenheiten, um die göttliche Macht mit den eigenen Sinnen zu erfahren. Aktuell, so Sack, werde man Zeuge von einer der „ausserordentlich rührende[n] Begebenheiten“, die Gott „von Zeit zu Zeit“ schicke, damit die Menschen „die Hand erkennen und anbethen möchten, die alles regieret und schafft“356. Worum es dem Prediger in nuce ging, war also eine politisch-theologische Semiose, bei der die Stärke der preußischen Kriegspartei als sinnliches Zeichen für die Anwesenheit Gottes eintrat. Dabei ließ sich das himmlische Eingreifen laut seinen Ausführungen konkret auf zwei Wegen wahrnehmen, die auf signifikante Weise verschränkt wurden. Zuerst mobilisierte Sack

354 August Friedrich Wilhelm Sack, Dank-Predigt über Psal. LXXXIX, 22. 23. 24. wegen des Sr. Königl. Majestät in Preußen unserm allergnädigsten Könige und Herrn am 30. Sept. c. bey Sorr in Böhmen über die vereinigte Oesterreichische und Sächsische Armee von G OTT verliehenen herrlichen Sieges Dom XVII. post. Trinit. 1745. in Gegenwart beyder Königinnen Majest. Majest. und des sämtlichen anwesenden Königl. Hauses gehalten. In: Predigten über verschiedene wichtige Wahrheiten zur Gottseligkeit, Bd. 5, S. 1–26, hier: S. 8. 355 Sack, Dank-Predigt über Psal. LXXXIX, 22. 23. 24., S. 6 f.; vgl. Ps. 89, 22–24. 356 Sack, Dank-Predigt über Psal. LXXXIX, 22. 23. 24., S. 10.  

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zu diesem Zweck die traditionelle Sichtbarkeitslogik der Königsmetonymie. Zu den „besondern Exempeln seiner Vorsehung“, behauptete er, wählt Gott unter den Menschen, welche er will, ins besondere aber die Fürsten und Könige der Völker, nicht eben wegen ihrer Verdienste und Person (denn vor Gott sind alle Menschen gleich, und weiter nichts als Menschen, und bey Ihm gilt weder Verdienst noch Ansehen der Person, damit sich kein Fleisch vor ihm rühme;) sondern darum, weil auf diese Erhabenen unter den Menschen-Kindern mehr Augen sehen [Hervorh. A.H.], und also ein größerer Theil der Welt an ihnen die Wege seiner Vorsehung erkennen und verehren kann.357

In der fortgesetzten Unversehrtheit des mutigen roi-connétable, der schon „in mehr als einer grossen Gefahr“358 geschwebt habe, nehme demnach unter dem Blick aller Untertanen ein distinkter göttlicher Wille Form an. Trotz der asymmetrischen Konstellation, in der „die Feinde eine große und der unsrigen weit überlegene Macht“ aufböten, könnten die Preußen genauso wie die Hebräer in der Zeit Davids immer wieder ausrufen: „Unser Heer hat gesiegt, und der König lebt.“359 Die Parteinahme Gottes für die preußische Kriegspartei wurde somit zu einer Sache der Autopsie, wie Sack mit immer neuem Verweis auf den Sehsinn herausstrich: Was soll G O tt mehr thun, Andächtige, um uns und den Feinden die Augen zu öffnen, um zu erkennen, daß Er, der H E rr der Heerscharen, für uns streite, und der König unter einer ganz augenscheinlichen Bewahrung seiner Vorsehung stehe? Hier hört Unglaube und Zweifel auf; denn hier ist G O ttes Beistand zu sichtbar. Denn was sollte und könnte uns mehr von einer göttlichen Vorsehung überzeugen, als wenn wir mit unsern Augen sehen daß die Dinge und Umstände, die man aller menschlichen Einsicht nach, als Ursachen eines Sieges ansehen kann, auf einmal ihre natürliche Würkung verlieren?360

Bereits hier zeichnet sich eine spezifische Verwendung der Königsmetonymie ab. Indem Sack das zweistellige Verweissystem König/politische Gemeinschaft aus den Psalmen um eine dritte, göttliche Instanz ergänzte, erweiterte er das semiotische Gefüge. So blieb die äußerliche Evidenz der königlichen Siege bei ihm dafür reserviert, auf Gottes Gegenwart zu verweisen. Für die Metonymie der politischen

357 Sack, Dank-Predigt über Psal. LXXXIX, 22. 23. 24., S. 11. 358 Sack, Dank-Predigt über Psal. LXXXIX, 22. 23. 24., S. 14. 359 Sack, Dank-Predigt über Psal. LXXXIX, 22. 23. 24., S. 15. Auch was Davids Leistung als Feldherr betrifft, erinnerte Sack an die ungleiche militärische Konstellation: Selbst „die stärksten Verbindungen verschiedener und mächtiger Nationen wider ihn“ hätten keine Wirkung gezeigt (S. 13). 360 Sack, Dank-Predigt über Psal. LXXXIX, 22. 23. 24., S. 18.

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Gemeinschaft, in welcher der Herrscher für die Gesamtheit seiner Untertanen einstand, wurde dagegen im Anschluss ein anderer Sinneskanal eröffnet. Allgemein, führte Sack nämlich aus, sei man sich in Preußen darüber einig, dass die eigene Armee ihre zahlenmäßige Unterlegenheit in der konkreten Schlachtsituation durch homogene Tapferkeit wettmache: Der königliche „Führer“ und die „Geführte[n]“ würden hier „mit gleichem Muthe“361 kämpfen. Eine solche Kongruenz der Empfindungen, die sich vom Monarchen bis hinunter zum einfachen Soldaten erstrecke, zeigte für den Prediger nicht nur das metonymische Band zwischen den einzelnen Individuen in der politischen Gemeinschaft an. Vielmehr rief er seine Gemeinde auf, diese Einigkeit als innerlich erfahrbaren Beweis dafür zu nehmen, dass auch die Untertanen – über das Scharnier Friedrichs II. – mit Gott im Bunde stünden. „Wer ist es, der ein ganzes Heer wie mit einem einzigen Geiste belebt und treibt, daß […] so viele tausend nur ein Herz und eine Seele sind, und mit gleicher Unerschrockenheit durch Gefahr und Feuer brechen?“, fragte Sack die Gläubigen, um die Antwort darauf in einer weiteren rhetorischen Frage selbst vorwegzunehmen. Eine solche Gleichgestimmtheit könne nur Gott bewirken: „Wer anders kann dies ausrichten, als des Menschen Schöpfer, der überall nach seinem Rathe würkt, und die Begebenheiten lenkt, wie Er will?“362 Damit sich die Verbindung von Gott, König und Untertanen sinnlich konkretisierte, war es in dieser Auslegung nicht zwingend nötig, den Monarchen zu sehen. Es genügte bereits, in sich hineinzuhorchen und auf die eigenen Empfindungen zu hören. Dabei handelte es sich natürlich nicht mehr um eine Psalmenauslegung im strengen Sinn. Wenig später, in seiner Abhandlung „Von dem Nutzen moralischer Predigten“ (1750), würde Sack sich zu einem auf das „rechte Tun“363 orientierten Ansatz des Predigens bekennen: Sein Ziel bestehe stets darin, den Gläubigen eine „Pflicht“ so „practisch“364 wie möglich zu vermitteln. Vor diesem Hintergrund liegt es nahe, die evozierte Gefühlsgemeinschaft als Entwurf mit adhortativem Charakter zu verstehen. Mit dem gleichgestimmten, Gott wie Friedrich verbundenem Heer konnte sich die Gemeinde auch aus der Ferne

361 Sack, Dank-Predigt über Psal. LXXXIX, 22. 23. 24., S. 19. 362 Sack, Dank-Predigt über Psal. LXXXIX, 22. 23. 24., S. 19 f. 363 Andres Straßberger, Johann Christoph Gottsched und die „philosophische“ Predigt. Studien zur aufklärerischen Transformation der protestantischen Homiletik im Spannungsfeld von Theologie, Philosophie, Rhetorik und Politik, Tübingen 2010, S. 521–523, hier: S. 522. 364 August Friedrich Wilhelm Sack, Von dem Nutzen moralischer Predigten. In: Herrn Jacob Fosters Reden über wichtige Wahrheiten der christlichen Religion, aus dem Englischen übersetzt, 5 Bde., Bd. 1, nebst einer Vorrede August Friedr. Wilhelm Sacks, von dem Nutzen moralischer Predigten, Frankfurt, Leipzig 1750, unpag.  

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identifizieren – dafür sorgte der Wechsel vom Nahsinn des Sehens zum Fernsinn des Empfindens. In der „Beantwortung einer wichtigen Frage beym Anfange des 1758sten Jahres“, die Sack flankierend zu seinen Predigten des Siebenjährigen Kriegs veröffentlichte,365 wurde dieses Spiegelverhältnis dann auch ausdrücklich formuliert. Mit aller Vehemenz brachte der preußische Prediger hier sein Missfallen darüber zum Ausdruck, dass es unter den „Unterthanen des siegenden Friedrichs“ immer noch „Unempfindliche“ gebe, die auf dessen wahrhaft „Alt Testamentische Siege“ nicht mit einer angemessenen Loyalität reagieren würden. Angesichts der Tatsache, dass „der Allmächtige […] seinen ausgereckten Arm bey Roßbach und Borne eben so sichtbar gezeiget, als bey den wunderbaren Siegen, die er den Errettern des alten Israels verliehe“, sei von jedem Landeskind eine Einstellung zu erwarten, bei der „die Freude des Christen […] die Freude des Patrioten erhöhet und heiligt“366. Für den Gebrauch in der Kirche passte der Berliner Theologe die Königsmetonymie aus den Psalmen folglich so an, dass seine Gemeinde sich kraft ihrer Empfindung in den Verband auf dem Feld versetzen konnte. Zu diesem Zweck – und das ist entscheidend – generalisierte er den politischen Affekt soweit, dass nicht mehr nur der König ihm Ausdruck zu geben vermochte, wie David es in den Psalmen getan hatte. Das Individuum, das die Empfindung der Gemeinschaft in metonymische Worte fasste, konnte sich von nun an auch in der Gefolgschaft von Friedrich II. befinden. Bei dieser Möglichkeit setzten die Preussischen Kriegslieder an: Wenn Gleims Grenadier ein „Dreigestirn von Gott, König und Vaterland“367 besang, das innerhalb eines „triadische[n] Formular[s]“ mit vielfältigen „innere[n] Beziehungen“368 365 August Friedrich Wilhelm Sack, Beantwortung einer wichtigen Frage beym Anfange des 1758sten Jahres. In: Predigten über verschiedene wichtige Wahrheiten zur Gottseligkeit, Bd. 6, S. 5–16, hier: S. 5. Diese Abhandlung steht dem 6. Band von Sacks Predigten, in dem seine wichtigsten Texte zum Siebenjährigen Krieg versammelt sind, statt einer Vorrede voran. Allein Sacks Predigt zum Kriegsausbruch und zu der Schlacht bei Lobositz finden sich, wohl weniger aus inhaltlichen als aus pragmatischen Platzgründen, separat im 5. Band. 366 Sack, Beantwortung einer wichtigen Frage beym Anfange des 1758sten Jahres, S. 5 f. Die im Titel der Abhandlung angekündigte Frage lautet dementsprechend, „[w]ie es möglich sey, daß gewisse Leute, bey so thätigen und ausserordentlichen Beweisen einer göttlichen Vorsehung, dennoch unüberzeugt bleiben?“ (S. 7). 367 Peters, Der zerrissene Engel, S. 108. 368 So die präzise Beobachtung von Christian Senkel, der sich mit dem differenzierenden Blick des Theologen an die Kriegsdichtung des 18. Jahrhunderts wagt und in dieser Hinsicht einen notwendigen, aber bislang kaum initiierten interdisziplinären Austausch einfordert (Christian Senkel, Göttlicher König und deutscher Gott. Irdische und himmlische Vaterländer im Protestantismus von 1749 bis 1813. In: Krieg und Frieden im 18. Jahrhundert. Kulturgeschichtliche Studien, hg. von Stefanie Stockhorst, Hannover 2015, S. 431–449, hier: S. 438).  

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auftauchte, dann evozierte er genau die preußische Gemeinschaft mit ihrer Reichweite vom Himmel bis in die Reihen des Heeres, die zuvor in den Predigten beschworen worden war. Das Abstraktum des Vaterlands, das bei Gleim neben die göttliche und die weltliche Autorität trat, fokussierte das semiotische Spiel dabei neu. Indem die Stimme des Grenadiers die des Predigers beerbte, zielten die Mittel der Königsmetonymie im Kern nicht mehr auf eine Vergegenwärtigung der göttlichen Macht. Bei Gleim wurden sie von nun an dafür adaptiert, eine sinnliche Sprache für ein Konzept der patriotischen Gemeinschaft zu finden. Diese Inszenierung des Vaterlands in den Grenadierliedern soll im Folgenden genauer charakterisiert werden.

3.1.2.2 Kriegslieder: Das Vaterland wahrnehmen Die Preussischen Kriegslieder operieren unentwegt mit der Königsmetonymie – dies ist eine Beobachtung, die bereits Heinrich Bosse formuliert hat.369 Bei näherem Blick eröffnet sich dabei ein vielgestaltiger Gebrauch dieser Trope, mit dem Gleim die Sprache des Patriotismus immer weiter ausdifferenzierte. Vor der Folie der betrachteten Kriegspredigten fällt vor allem ins Auge, dass der Übergang vom Sehen zum Empfinden der patriotischen Gemeinschaft, den Sack vorgemacht hatte, Schritt für Schritt in der Poetologie der Grenadierlieder nachvollzogen wurde. Auf einer chronologischen Achse angeordnet, lassen sich regelrechte Etappen abgrenzen, in denen die Internalisierung voranschritt. So gingen die zuerst entstandenen Kriegslieder noch systematisch von einer visuellen Relation aus. Welche Dynamik sich durch den Anblick des Königs entfalten sollte, wurde im „Siegeslied nach der Schlacht bey Lowositz, den 11ten October 1756“, das Gleim als „das allererste von seinen Siegsliedern“370 konzipierte, mustergültig in einem vierstufigen Prozess vorgeführt. „Bey Außig sahen wir den Held“, erinnert sich das Wir der Soldaten zuerst. In einem zweiten Schritt schließt diese Bewunderung das Heer zu einer kampfbereiten Einheit zusammen: „Wie feurig brannten wir, / Zu stehn mit ihm im Siegesfeld!“ Dieses Begehren löst sich schließlich durch die Schlacht ein: „Nun stehen wir es hier.“ Nach dieser

369 Bosse, Klopstocks Kriegslied [2001], S. 55 f. 370 Diese Aussage traf Lessing in seiner Rezension zum „Siegeslied der Preussen, nach der Schlacht bei Lissa, den 5 December 1757“ vom 11. März 1758, um dem Publikum das Lobositz-Lied als nächste Publikation anzukündigen (FLA, Bd. 4, S. 86). Sauer stimmt bei seiner Rekonstruktion der Entstehungsreihenfolge mit Blick auf den Briefwechsel zwischen Gleim und Kleist zu, dass dieses Lied den ersten Entwurf gebildet habe. Unter den publizierten Einzeldrucken folgte es, wie Sauer zu Recht bemerkt, jedoch erst an vierter Stelle (Sauer, [Einleitung]. In: Gleim, Preussische Kriegslieder, S. X f.).  



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Formierung kann sich der Heereskörper – immer mit Blick auf den König, der „voran [ging]“ – in Bewegung setzen. Die göttliche Instanz wird dabei über eine separate Operation hinzugeholt, die, wie schon bei Sack, über die Scharnierstelle des Monarchen führt. Erst im Anblick des „Menschenfreund[s]“ Friedrich II., der „[mit Gott] obgesiegt“ habe, erschließt sich Gleims Armee die Verstärkung aus der metaphysischen Sphäre. Davon in Begeisterung versetzt, hebt der Verband mit einer religiösen Formel zum gemeinsamen Lied an, die oben schon einmal in die Aufmerksamkeit gerückt ist (Kap. III.3.1.1). „Gott donnerte, da floh der Feind“, ruft der Grenadier: „Singt Brüder, singet Gott!“371 Wenn Gleims Soldat in dem kurz darauf verfassten372 „Siegeslied nach der Schlacht bey Prag, den 6ten May 1757“ „[a]uf Leichen hoch einher“ schreitet, wird die Logik der Sichtbarkeit hingegen schon konsequent nach innen gekehrt. In einer einzigen Strophe ließ Gleim hier zwei parallel gebaute Verspaare aufeinander folgen, die programmatisch mit den Verben „Sah“ und „Dacht“ beginnen. Was der Grenadier „tief in schwarzem Rauch und Dampf“ sah, war nach wie vor „sein[ ] Friederich“. Was sich durch dieses Bild „in dem mörderischen Kampf“ vor seinem inneren Auge manifestierte, war jedoch bereits die vollständige Trias des preußischen Vaterlandsentwurfs: An den König gewandt, gelobt der Soldat, sein Gedanke gelte „Gott, Vaterland und Di[r]“373. Damit entwarf Gleim eine innere Schau der Schlachtgemeinschaft, die ihren Weg wenig später zurück in die Kirche fand. In der „Wegen des Herrlichen Sieges über das Rußische Krieges-Heer gehaltenen Predigt“, nach der verlustreichen Schlacht bei Zorndorf im August 1758,374 beschwor Sack ein solches Bild performativ auf seiner Kanzel herauf. Plastisch berichtete er davon, dass der König in der akuten Bedrohung mehr als alle anderen Mitstreiter „sein Leben […] in seinen Händen getragen“ habe, indem er „selbst eines seiner Paniere ergrief, und seine Streiter zur Anstrengung ihrer letzten Kraft, um das schon sinkende Vaterland zu retten, durch sein eigenes Exempel anfrischte“. Derart eingestimmt, wandte der

371 [Gleim,] Siegeslied nach der Schlacht bey Lowositz, den 11ten October 1756, S. 11 f. 372 Es war dieser Text, der 1757 als erstes der Grenadierlieder in den Druck gelangte (Sauer, [Einleitung]. In: Gleim, Preussische Kriegslieder, S. XI f.). 373 [Gleim,] Siegeslied nach der Schlacht bey Prag, den 6ten May 1757, S. 46. Genauso würde der Grenadier in der Ode „An die Kriegesmuse nach dem Siege bey Zorndorf den 25 August 1758“ im Kampf „[d]ie Augen und Gedanken“ auf den „Gesalbten“ richten ([Johann Wilhelm Ludwig Gleim,] Der Grenadier an die Kriegesmuse nach dem Siege bey Zorndorf den 25 August 1758, [Berlin] 1759, S. 47). 374 Vgl. Clark, The Iron Kingdom, S. 203: „Frederick completely misread the Russian deployment and, wheeling around from the north to roll up the Russian wing, found that the enemy in fact was facing him head-on“. Diese Fehleinschätzung kostete Friedrich II. 13 000 Soldaten.  



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Prediger sich direkt an die Akteure der Schlacht. „O ihr neben ihm kämpfende Helden!“, sprach er die imaginierte Armee von Zorndorf an, wie müßt ihr bey diesem Anblicke für sein Leben, für euch, und für das Vaterland gezittert haben! Aber, auch ihr könnt es uns am besten sagen, daß sich da der ausgestreckte Arm der allmächtigen Vorsehung sichtbar gezeiget, und einen Schutz-Engel gesandt habe mit dem Befehl: Bewahre ihn; denn auch jetzt soll er unverwundet siegen. Ja! der König hat gesiegt und lebt.375

Durch das Verfahren der Apostrophe gelang es Sack hier, von einer Präsenz- in eine Absenzkonstellation überzuleiten. Rhetorisch wandte er sich den abwesenden Soldaten zu, die den bedrohten Friedrich direkt vor sich sahen; der triadischen Kommunikationslogik der Apostrophe entsprechend, war das „kopräsente[ ] Publikum“ dabei weiterhin „mitadressiert“376. Dieses Modell apostrophischer Rede, das Carlos Spoerhase für die – immer auch für die Darbietung gedachte – Ode des 18. Jahrhunderts profiliert hat, lässt sich auch für die Vortragssituation der Predigt fruchtbar machen: In seiner Zorndorf-Predigt versetzte Sack die Zuhörenden kraft der Apostrophe in die Lage, in ihrer Vorstellung zu evozieren, was die Soldaten in der Schlacht gesehen haben mochten. Mithilfe der Königsmetonymie gestaltete er so eine emotional aufgeladene Szene aus, die gleichsam als sinnlich ausgestaltetes Erinnerungsbild des Vaterlandes abgerufen werden konnte. Denn der konstante Appell an die innere Schau appellierte an das imaginative Vermögen, zeitgenössisch gesprochen: an die Einbildungskraft, die etymologisch mit dem Wort ‚Bild‘ verknüpft war. Dieser Einbildungskraft schrieb man das Potential zu, „lebhaffte[ ] Bildnisse[ ] und Gemählde[ ]“377 in der Seele hervorzurufen, über die sich der Mensch Gegenstände und Situationen „auch in der

375 August Friedrich Wilhelm Sack, Die am XV. Sonntage nach Trinitatis 1758. im Dom über Psalm 126, v. 3. vor der Königin Majestät und dem anwesenden Königlichen Hause wegen des Herrlichen Sieges über das Rußische Krieges-Heer gehaltene Predigt. In: Predigten über verschiedene wichtige Wahrheiten zur Gottseligkeit, Bd. 6: Predigten, davon die mehresten bey verschiedenen ausserordentlichen Gelegenheiten sind gehalten worden, Berlin 1764, S. 105–124, hier: S. 117 f. 376 Carlos Spoerhase, Die lyrische Apostrophe als triadisches Kommunikationsmodell. Am Beispiel von Klopstocks Ode Von der Fahrt auf der Zürcher-See. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 87:2 (2013), S. 147–185, 174. Die kommunikative Logik der Apostrophe wird mithin wie folgt rekonstruiert: „Der Redner wendet sich von seinem regulären (ersten) Publikum ab und ruft plötzlich in Anwesenheit des regulären (ersten) Publikums ein weiteres (zweites) Publikum an; das reguläre (erste) Publikum lauscht unterdessen dieser Anrufung“ (Spoerhase, Die lyrische Apostrophe als triadisches Kommunikationsmodell, S. 176). 377 [Bodmer, Breitinger,] Von dem Einfluß und Gebrauche der Einbildungs-Krafft, S. 9.  

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Abwesenheit und entferntesten Abgelegenheit“378 (Bodmer/Breitinger) vergegenwärtigen könne. Zeitgleich setzte Gleim selbst die Arbeit an der Königsmetonymie im Gesang des Grenadiers „An die Kriegesmuse nach dem Siege bey Zorndorf den 25 August 1758“ weiter fort, mit dem er den Soldaten nach dem Abschluss des KriegsliederProjekts auf Lessings Bitte ein vorerst letztes Mal für sein „Schwanenlied“379 zurückkehren ließ. In der Forschung ist man sich einig, dass dieses Gedicht gegenüber den zuvor publizierten Liedern erhebliche konzeptuelle Unterschiede aufweist. Diese betreffen vor allem die verschärfte Feind-Topik, die Lessing zum ersten Mal dazu veranlasste, explizite Kritik an Gleim zu üben. Der Vorwurf eines „übertriebenen Patriotismus“,380 der dabei aufgebracht wurde, ist in der Forschung immer wieder als Zeugnis für die wachsende Aggressivität politischer Rhetoriken im Siebenjährigen Krieg herangezogen worden.381 Zu dieser Lesart sei differenzierend angemerkt, dass die Kontroverse zwischen Lessing und Gleim faktisch sehr viel komplexer war, da sie parallel auf drei Ebenen geführt wurde: erstens auf einer der regionalen Zugehörigkeit, weil der in Sachsen geborene und ausgebildete Lessing die erstmals „antisächsische“382 Rhetorik des Preußen

378 [Bodmer, Breitinger,] Von dem Einfluß und Gebrauche der Einbildungs-Krafft, S. 5. Für diese Definition der Einbildungskraft als Vermögen, um sich „Abwesendes als anwesend vorzustellen“, konnten sich die Schweizer auf die Philosophie von Christian Wolff stützen. Vgl. Zelle, ‚Vernünftige Gedanken von der Beredsamkeit‘, S. 30, Anm. 19. 379 Lessing an Gleim, 5. September 1758. In: FLA, Bd. 11/1, S. 299 f., hier: S. 299. 380 Lessing an Gleim, 14. Februar 1759. In: FLA, Bd. 11/1, S. 310–313, hier: S. 311. 381 Aufs Genaueste dokumentiert wird die „längere[ ], ziemlich erregte[ ] Korrespondenz“, die sich anlässlich der Zorndorf-Ode zwischen Lessing, Gleim, Kleist, Uz und Ramler entspann, bei Sauer, [Einleitung]. In: Gleim, Preussische Kriegslieder, S. XXV–XXXIV, hier: S. XXV und in den Anmerkungen zu Schüddekopfs Ausgabe des Briefwechsels zwischen Gleim und Uz, S. 494–500. Die ablehnende Haltung von Lessing betont nicht nur die ältere Forschung (etwa Klaus Bohnen, „Was ist ein Held ohne Menschenliebe!“ (Philotas, 7. Auftritt) Zur literarischen Kriegsbewältigung in der deutschen Aufklärung. In: Lessing und die Toleranz, hg. von Peter Freimark, Franklin Kopitzsch und Helga Slessarev, Detroit, München 1986, S. 23–38, hier: S. 28 f.), sondern auch Blitz, Aus Liebe zum Vaterland, S. 274 f. Ansatzweise differenzierend vgl. aber Michael Rohrwasser, Lessings Verhältnis zu Preußen. In: Geistiges Preußen – preußischer Geist, hg. von Gabriele Hundrieser und Hans G. Pott, Bielefeld 2003, S. 83–106, hier: S. 101–103. 382 So Ramler, der darin gleich die Chance erblickte, zukünftig als Gleims Herausgeber zu fungieren. „[S]ie müssen dergleichen antisächsische Stücke künftig lieber an mich adressiren, ich werde gewiß geneigter seyn sie publici juris zu machen, als er [d.h. Lessing, A.H.] nach der Natur der Sachen vielleicht seyn kann“, ließ er Gleim wissen (Ramler an Gleim, 9. Dezember 1758. In: Briefwechsel zwischen Gleim und Ramler, Bd. 2, S. 340–346, hier: S. 345). Vgl. Blitz, Aus Liebe zum Vaterland, S. 215. Gleim freilich zeigte sich in seiner Antwort überrascht von Ramlers Deutung: „[I]ch schwere Ihnen, daß ich ganz vergeßen habe, daß Er ein Sachse ist. Aber er sey es, so sehr er will, so ist er doch jetzo ein Preuße, und soll es auch wohl bleiben, er ist ein Philosoph,  





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Gleim aus persönlichen Gründen zurückwies; zweitens auf einer literaturpolitischen, da Lessing die Ode für den ersten Band der Literaturbriefe eingeplant hatte (vgl. Kap. II.3) und sie dafür rechtzeitig die Zensur passieren musste; und drittens auf einer poetologischen, die in engem Zusammenhang mit den hier betrachteten Evokationen der politischen Gemeinschaft stand. Aus diesem Grund sind die poetologischen Verschiebungen in der ZorndorfOde auch hier von Interesse. Oben ist gezeigt worden, dass Lessings Interesse an den Kriegsliedern primär darauf beruhte, dass er sie gattungspoetisch gegen die Nationalepen von Gottsched und Bodmer ausspielen konnte: Zentral dafür war die Verwendung des einfachen Liedes, die Lessing ermöglichte, eine niedrige Gattung gegen eine hohe zu stellen (Kap. II.3.2). Mit diesem Programm jedoch war die neue Wendung nicht mehr kompatibel, die Gleim dem Lied des Grenadiers unter dem Eindruck des „annahende[n] Tod[es]“383 bei Zorndorf gab. So deutet alles darauf hin, dass Gleim im Sinn hatte, den Soldatendichter generisch avancieren zu lassen. Eine gattungspoetische Orientierung ‚nach oben‘ zeichnet sich sowohl in der Einführung einer Muse als auch im metrischen Wechsel von der Chevy-Chase-Strophe zum Blankvers ab, den Kleist parallel für seinen epischlyrischen Hybrid Cißides und Paches (publiziert 1759) erschloss.384 Beides ist als Assimilation an das Epos zu lesen.385 Darüber hinaus intensivierte Gleim nun auch die Anleihen bei den Psalmen. Insofern setzte der aggressive Racheruf der Zorndorf-Ode, den Lessing aus politischen Gründen zu Recht missbilligte, zu-

und wird also unpartheyisch seyn.“ (Gleim an Ramler, 11. Dezember 1758. In: Briefwechsel zwischen Gleim und Ramler, Bd. 2, S. 346–351, hier: S. 347). 383 Eine solche Wendung brachte Lessing selbst ins Spiel (Lessing an Gleim, 5. September 1758. In: FLA, Bd. 11/1, S. 299); welchen Weg Gleim dabei dichtungtheoretisch beschreiten würde, hatte er offensichtlich nicht vorausgesehen. 384 Dieter Martin nimmt den Cißides als „eine der ersten deutschen Dichtungen in Blankversen“ zu Recht in seine Darstellung der epischen Texte des 18. Jahrhunderts auf, auch wenn Kleist die Bezeichnung „kriegerischer Roman“ bevorzugte (Martin, Das deutsche Versepos im 18. Jahrhundert, S. 19). 385 Dazu passt speziell ein Vergleich, den Gleim für die Veränderung des Grenadiers wählte. „Es kommt mir vor“, teilte er Lessing mit, „als wenn er Glovers Leonidas gelesen hat.“ (Gleim an Lessing, 22. November 1758. In: FLA, Bd. 11/1, S. 303–305, hier: S. 303) Beim Blankvers-Epos Leonidas (1737), in dem sich der englische Kaufmann Richard Glover der Schlacht der Spartaner bei den Thermopylen widmete, handelte es sich um eines der erfolgreichsten Epen im Europa des 18. Jahrhunderts (Albertz, Exemplarisches Heldentum, S. 148). – Gleim selbst hatte dieses Epos sofort rezipiert, nachdem es 1748 in der Sammlung der Vermischten Schriften von den Verfassern der Bremischen neuen Beyträge in einer deutschen Übersetzung von Johann Arnold Ebert erschienen war. Das belegt eine kurze Notiz aus dem Januar 1748: „Ich lese itzt den Leonidas des Glover.“ (Gleim an Ramler, 5. Januar 1748. In: Briefwechsel zwischen Gleim und Ramler, Bd. 1, S. 96).

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gleich ein poetologisches Signal: Er diente Gleim dazu, seine Grenadierlyrik näher an die erhabenen Oden von Pyra und Lange heranzurücken. In diese Gemengelage muss auch die neue Wendung der Königsmetonymie eingeordnet werden, über die Gleim in der Zorndorf-Ode das Vaterland heraufbeschwor. Im Zuge einer symbolischen Erhöhung seiner Kriegslyrik zielte der Autor darauf, den Radius der evozierten patriotischen Gemeinschaft auszudehnen. Das geschah, indem er sein aisthetisches Programm um eine auditive Dimension erweiterte. Schon in der Befragung der „Kriegesmuse“,386 die dem Gedicht als formvollendete invocatio387 vorangestellt ist, wird der Rezipient für eine besondere Relevanz des Hörens sensibilisiert. So bittet der Grenadier die Muse, die Schlacht bei Zorndorf „durch göttlichen Gesang“ zu „verewige[n]“,388 um sodann seine eigene Aufgabe zu definieren. Wie der Soldatendichter in einer Selbstansprache klarstellt, gehe es nun nicht mehr nur um bezeugende Autopsie.389 Gegenüber der Kriegsmuse in eine passive Rolle gerückt, muss der preußische Grenadier jetzt auch seinen Ohren vertrauen. „Held, Soldat und Patriot“, spricht er sich selbst an, Steh [sic] um dich her und höre, lauter Ohr! Bewundernd Gottes Thaten, Friedrichs Mut, Wenn er sein Vaterland zu retten geht, Und lerne Gott und Friederich vertraun.390

Derart vorbereitet, tritt die entscheidende sinnliche Relation in der Zorndorf-Ode prägnant hervor. Auch in der Folge ist es der auditive Kanal, über den die

386 [Gleim,] Der Grenadier an die Kriegesmuse nach dem Siege bey Zorndorf den 25 August 1758, S. 5. 387 Vgl. Ulrich Schmitzer, Musenanruf. In: DNP, Bd. 8, 2000, Sp. 514 f., hier: Sp. 514. 388 [Gleim,] Der Grenadier an die Kriegesmuse nach dem Siege bey Zorndorf den 25 August 1758, S. 5.7. 389 Lessing hatte den Grenadier in einer Rezension als „tätige[n] Augenzeuge[n]“ bezeichnet (FLA, Bd. 4, S. 83). 390 [Gleim,] Der Grenadier an die Kriegesmuse nach dem Siege bey Zorndorf den 25 August 1758, S. 7 f. Der augenscheinliche Druckfehler im ersten der zitierten Verse setzt den Akzent noch stärker auf den akustischen Sinn als ohnehin intendiert. In der Ausgabe der Sämmtlichen Werke von Gleim korrigierte sein Herausgeber und Großneffe Wilhelm Körte den Wortlaut 1811 zu dem Doppelappell „Sieh um dich her und höre, lauter Ohr!“ (Johann Wilhelm Ludwig Gleim, An die Kriegesmuse nach der Niederlage der Russen bei Zorndorf. Den 25. August 1758. In: J. W. L. Gleim’s sämmtliche Werke. Erste Originalausgabe aus des Dichters Handschriften durch Wilhelm Körte, 7 Bde., Bd. 4. Halberstadt 1811, S. 63–78, hier: S. 64). Obwohl Körtes Ausgabe keineswegs immer als zuverlässiger philologischer Anlaufpunkt gelten kann, scheint diese Konjektur semantisch sinnvoll. Das gilt gerade vor dem Hintergrund der hier entwickelten Zusammenhänge, schließt die Lesart doch sehr viel besser an die bisherige Emphase des Sehens in der Königsmetonymie an.  



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patriotische Gemeinschaft evoziert wird. Dabei wird das Hören mit räumlichen Relationen verknüpft. So spricht der Grenadier Gott seinen Dank dafür aus, „[d]aß du auf unsern ebnen Siegesweg ein Ollmütz stelletest“391. Denn die langwierige Belagerung der mährischen Stadt, die sich von Mai bis Juli 1758 erstreckte,392 habe die Armee stets in Rufweite zu ihrer patria gehalten. Unter zu schnellen Siegen, beteuert der Soldat, „hätten wir uns allzuweit entfernt / Von unserm Vaterlande, dessen Schutz / Wir sind, nach dir, o Gott!“ Und in zu großer Entfernung wäre [d]as Ach und Weh, der Jammer, das Geschrey Der Weiber und der Kinder, welche wir Zurück gelassen hatten, allzu spät Uns nach erschollen. Friedrich hätte wohl Des Vaterlandes Ruf um Rache nicht Zu rechter Zeit und Stunde da gehört, Wo umzukehren war!393

In dieser Passage dokumentiert sich eine doppelte Umstellung von Gleims Poetologie der Gemeinschaft. Erstens konstituierte sich die politische Kohäsion nicht mehr durch den aktiven Blick des aufmerksamen Soldaten, sondern durch passives Hören:394 In der Klage der Frauen und Kinder, die sich von der heranziehenden russischen Armee bedroht gesehen hätten, artikuliert sich in der ZorndorfOde metonymisch die Stimme des Vaterlandes selbst. Diese Umstellung erlaubte es Gleim zweitens, die literarische patria auf eine breitere soziale Basis zu stellen als zuvor. Während es bisher nur das preußische Heer gewesen war, das den Staat im Kleinen vertreten hatte, wurden nun auch die Zivilisten zu Akteuren. Denn sobald der Ruf der „Weiber und Kinder“ in der Ode auf das Gehör des Königs stößt, kommt es zu einer räumlichen Vereinigung, in der Gleim die ganze Kriegspartei zusammenfinden ließ. Gerade noch „zu rechter Zeit“ habe Friedrich II. „deinen bangen schwachen Ruf, / O Vaterland, zu Gott und ihm!“ vernommen, um sofort „[m]it einem kleinen edlen Heldenheer“ dorthin zu ziehen,

391 [Gleim,] Der Grenadier an die Kriegesmuse nach dem Siege bey Zorndorf den 25 August 1758, S. 14 f. 392 Vgl. Kunisch, Friedrich der Große, S. 385–387. 393 [Gleim,] Der Grenadier an die Kriegesmuse nach dem Siege bey Zorndorf den 25 August 1758, S. 15–17. 394 So die Dichotomie bei Gleim: Prinzipiell zeichnen sich die Fernsinne des Sehens und Hörens dadurch aus, dass sich eine aktive, gerichtete Wahrnehmung von einer passiven unterscheiden lässt. Vgl. Eve E. Sweetser, From etymology to pragmatics: Metaphorical and Cultural Aspects of Semantic Structure, Cambridge 1990, S. 38.  

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„wo sein gequältes banges Volk / Nach ihm sich umsah“395. Wenn der König angesichts der zerstörten Stadt Küstrin in „gerechte[n] Zorn“ gerät und vor seinen Soldaten schwört, „sein rächend Schwerd zu zücken, und mit Gott / zu züchtigen die Henker seines Volks!“,396 dann sorgt Gleim mit diesem drastischen Rekurs auf die Rachepsalmen dafür,397 dass Gott im entscheidenden Moment der politischen Formierung ebenfalls zugegen ist. Im letzten Grenadierlied des Siebenjährigen Kriegs stellte sich die Beziehung von Gott, König und Untertanen also durch eine akustische Direktverbindung her, mit der Gleim eine wirkmächtige Denkfigur einführte: den Ruf eines Vaterlands, das sich potentiell in jedem Mitglied der politischen Gemeinschaft personifizieren konnte. Mit diesem Modell legte er den konzeptionellen Kern für eine preußische Theorie des Vaterlands vor, die sich gegen Ende des Kriegs herausbildete. Damit vollzog die Königsmetonymie schließlich einen Schritt von der Dichtung in die Philosophie, der nun in einem letzten Schwerpunkt betrachtet werden soll.

3.1.2.3 Kriegsphilosophie: Das Vaterland evozieren Zu einer virtuosen Synthese kamen die in diesem Teilkapitel verfolgten Entwürfe der patriotischen Gemeinschaft in einem Text, der bisher allzu streng von der Dichtung des Siebenjährigen Kriegs abgegrenzt worden ist: in Thomas Abbts populärphilosophischem Essay Vom Tode für das Vaterland, der 1761 im Verlag von Friedrich Nicolai in Berlin erschien.398 In seinem flammenden Aufruf zu einer neuen Opferbereitschaft schloss Abbt programmatisch an Gleims Ode „An die 395 [Gleim,] Der Grenadier an die Kriegesmuse nach dem Siege bey Zorndorf den 25 August 1758, S. 20 f. Immerhin, so Gleim, handle es sich dabei um die Stadt, „[i]n welcher er, ein künftiger König, einst / Der Weisheit in die Arme fiel, und sich / Entschloß zu seyn, ein Vater seines Volks, / Zu tragen stets in königlicher Brust / Ein sanftes menschlichs Herz!“ ([Gleim,] Der Grenadier an die Kriegesmuse nach dem Siege bey Zorndorf den 25 August 1758, S. 25 f.) Körte ergänzt das angespielte Ereignis aus Friedrichs Kronprinzenzeit: „Friedrichs Jugendfreund, Herr von Katt, wurde bekanntlich zu Küstrin enthauptet.“ (J. W. L. Gleim’s sämmtliche Werke, Bd. 4, S. 70, Anm. *) Nahezu psychologisierend diente die biographische Episode in Gleims Zorndorf-Ode also dazu, den Regierungsstil Friedrichs II. als Modell der liebenden Vaterschaft zu profilieren, mit dem sich der König bewusst von dem disziplinarischen Ansatz seines Vaters abgrenzte. 396 [Gleim,] Der Grenadier an die Kriegesmuse nach dem Siege bey Zorndorf den 25 August 1758, S. 28. 397 Zur Relevanz der Rachepsalmen, die Gleims Grenadierlieder „auffällig“ formatieren, vgl. Bach und Galle, Deutsche Psalmendichtung vom 16. bis zum 20. Jahrhundert, S. 301 f., hier: S. 301. 398 So die Einordnung von Zwi Batscha, Thomas Abbts politische Philosophie. In: Ders., „Despotismus von jeder Art reizt zur Widersetzlichkeit“. Die Französische Revolution in der deutschen Popularphilosophie, Frankfurt a. M. 1989, S. 126–168.  







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Kriegesmuse nach dem Siege bey Zorndorf“ an, indem er einen diagnostizierten Mangel patriotischer Gesinnungen auf einen „Fehler am Gehör“399 zurückführte. Die akustische Variante der Königsmetonymie wurde mithin zum Ausgangspunkt für eine Philosophie des Patriotismus, die hier auf ihre motivischen Kontinuitäten zur patriotischen Dichtung befragt werden soll. Bei Abbt stand die Rede von einer politischen Schwerhörigkeit dabei im Dienste des ambitionierten Projekts, die kriegerische Gemeinschaft des Altertums wiederzubeleben. So bescheinigte der Autor jedem Zeitgenossen eine geschwächte Wahrnehmung, der mit Montesquieus Lehre der Regierungsformen behaupte, es könne in der modernen Monarchie keine „Verbindlichkeit zur Liebe für das Vaterland“400 mehr geben, wie sie die Republiken des Altertums zu ihrer Größe geführt habe. Gleich in den ersten Sätzen der Schrift wurde das gesellschaftstheoretische Problem in eine auditive Metaphorik gekleidet, indem Abbt beklagte, dass die „Stimme des Vaterlandes“ in der Moderne keinen Resonanzraum mehr finde. Anklagend fragte er: Solte wol die Stimme des Vaterlandes die ehemals in den Versammlungen der Griechen und Römer mächtig ertönete, die in der Sterbenden Ohr schalte, und auf iedem Gedicht des Patrioten die lächelnde Miene in der Todesangst schuf: sollte diese Stimme der Stärke ihre Stärke unter uns verloren haben, oder solten wir dieses feinern Gefühls ganz beraubt seyn? Wir haben keine öffentlichen Plätze, wo wir uns zu Berathschlagungen versammlen; man findet keine Demosthenen, keine Ciceronen, die uns auf diese Stimme aufmerksam machen; wir erblicken nur wenig Bildsäulen, die uns stumm die Lehre predigen: Stirb fürs Vaterland.401

Diese Einleitung dokumentiert nicht zuletzt die weite Verbreitung des patriotischen Diskurses. Im nunmehr fünften Jahr des Siebenjährigen Krieges konnte Abbt offenbar zwei Annahmen als bekannt voraussetzen: erstens, dass die Bürger der antiken Republiken von einer selbstlosen Liebe zum Vaterland beseelt gewesen seien, und zweitens, dass sie ihr „feineres Gefühl“ für die Belange der Allgemeinheit durch vorbehaltslosen militärischen Einsatz bewiesen hätten. „O Sparta“, sprach Abbt also die kriegerische Republik par excellence an, „würdest du nicht einen Bürger aus deinen Mauren verbannet haben, der sich […] nur einen Augenblick bedacht hätte, den für das Vaterland gebohrnen Sohn der glänzenden Rolle seiner Streiter einzuverleiben?“402 In missbilligender Weise lenkte diese

399 400 401 402

[Thomas Abbt,] Vom Tode für das Vaterland, Berlin 1761, S. 11. [Abbt,] Vorbericht. In: Vom Tode für das Vaterland, unpag. [Abbt,] Vom Tode für das Vaterland, S. 7. [Abbt,] Vom Tode für das Vaterland, S. 24.

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Apostrophe den Blick nun darauf, wie weit sich die Gegenwart von der martialischen Opferbereitschaft der Antike entfernt habe. Als Ursache für den beklagten Verlust einer patriotischen Empfindung gab die Einleitung zu Vom Tode für das Vaterland freilich weder die historische Distanz noch die abweichende Regierungsform an, sondern setzte den Schwerpunkt auf ein mediales Problem.403 So schloss Abbt an Tacitus’ Dialogus de oratoribus (2. Jh. n. Chr.) an, der einen Zusammenhang zwischen dem Niedergang der Republik und dem Verfall der öffentlichen Redekunst diagnostiziert hatte;404 seither, so Abbt, habe auch die Stimme des Vaterlandes ihre angestammte Bühne verloren. Diese Problembestimmung hat die Forschung dazu veranlasst, die Schrift als eine frühe Reflexion über die Konstitution von Öffentlichkeit zu lesen:405 Der Kriegszustand diene dem jungen Philosophen demnach als Anlass, um sich auf die Suche nach „new, informal, and inclusive terms and modes of address“ zu begeben, mit denen der „public speaker“ der Antike unter den Bedingungen moderner literarischer Kommunikation als ein „public writer“406 zu reaktivieren sei. Zwei Dispositionen, die Abbt bei diesem Projekt leiteten, lassen sich bereits der kurzen Biographie des 22jährigen entnehmen. Nach einem Studium der Theologie in Halle, wo er sich mit der über Georg Friedrich Meier vermittelten Ästhetik vertraut gemacht hatte,407 bekleidete er seit 1760 als Kollege von Baumgarten eine Stelle als außerordentlicher Professor an der philosophischen Fakultät der preußischen Universität zu Frankfurt an der Oder.408 Der Zugriff des Theologen dokumentiert sich in der Schrift Vom Tode für das Vaterland in einem vielbeachteten, nach Kriegsende in Nicolais satirischem Roman Leben und Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker (3 Bde., 1773–1776) ironisierten Ruf nach einer politischen Predigt,409 in dem sich das preußische Dispositiv aus Patriotismus  

403 Vgl. Martus, Aufklärung, S. 666. 404 Dieser Zusammenhang war auch zeitgenössisch präsent. Zu der Rezeption dieses Topos in der französischen Aufklärung vgl. Jean Starobinski, Eloquence and Liberty. In: Journal of the History of Ideas 38:2 (1977), S. 192–210. 405 Benjamin W. Redekop, Thomas Abbt and the Formation of an Enlightened German „Public“. In: Journal of the History of Ideas 58:1 (1997), S. 81–103, hier: S. 82. Zur Formierung des Begriffes ‚Publikum‘ vgl. auch ders., Enlightenment and Community. Lessing, Abbt, Herder and the Quest for a German Public, Montreal 2000. 406 Redekop, Thomas Abbt and the Formation of an Enlightened German „Public“, S. 82. 407 Martus, Aufklärung, S. 658 f. Vgl. auch Eva Piirimäe, Dying for the Fatherland. Thomas Abbt’s Theory of Aesthetic Patriotism. In: History of European Ideas 35 (2009), S. 194–208, hier: S. 201. 408 Piirimäe, Dying for the Fatherland, S. 194. 409 Eine ausführliche Analyse der Abbt-Rezeption im Sebaldus Nothanker findet sich bei Birgfeld, Krieg und Aufklärung, Bd. 2, S. 811–842.  

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und Religion aufs Neue bewies. Wolle man der Stimme des Vaterlandes „noch den einzigen Ort gönne[n], wo sie in den Ohren einer grossen Anzal von Zuhörern donnern“410 könne, formulierte Abbt, dann müsse man sie auf die Kanzel tragen.411 „Sollte wol ein Diener der Religion sich entweyhen, wenn er ein Werkzeug würde, diese Stimme zu verbreiten“, fragte der Philosoph kämpferisch, „und solte er wol dadurch sein Ampt vernachlässigen, wenn er anstatt tausendmal zu sagen: Thut Busse; auch einmal riefe: Sterbt freudig fürs Vaterland?“412 Gleichwohl formulierte der Autor hier nicht einfach einen „agitatorischen Auftrag“413 an die Pastoren seines Landes. Gegen die Verlockung, diese Stelle wörtlich zu lesen, spricht die Wendung, mit der Abbt seine Einleitung abschloss. Denn weil die Kirche sich in der Gegenwart eben nicht als Ort durchgesetzt habe, an dem öffentlich über das Vaterland gesprochen werden könne, delegierte er die Mission weiter. „[J]eder unter uns“, forderte er, müsse in dieser Situation zum „Prediger der Tapferkeit“414 werden. Als Auftakt vor einem Essay mit dem Titel Vom Tode für das Vaterland platziert, kann der Ruf nach einer patriotischen Predigt mithin als Leseanweisung für den eigenen Text verstanden werden. In seiner Schrift ging es Abbt darum, die öffentliche Beredsamkeit der Antike in einen rhetorischen Modus zu übersetzen, der das moderne Äquivalent der mündlichen Predigt durch einen „Predigtstil“415 beerben sollte, der von vornherein für das Medium des Buchdrucks entworfen war. Geht man nun der Frage nach, wie Abbt diesen Predigtstil in Vom Tode für das Vaterland konkret umsetzte, dann müssen jenseits seiner expressiven Sprache voller Apostrophen und rhetorischer Fragen, die seinem Freund Moses Mendelssohn erst Faszination und dann Verzweiflung entlockte,416 vor allem 410 [Abbt,] Vom Tode für das Vaterland, S. 7. 411 Den obligatorischen sonntäglichen Kirchgang vorausgesetzt, lässt sich der Gottesdienst in der Tat als „die größte regelmäßige Menschenansammlung“ und damit zugleich als „die größte regelmäßige Konstitution von Öffentlichkeit im 18. Jahrhundert“ betrachten (Birgfeld, Kirche und Krieg im 18. Jahrhundert, S. 527 f.). 412 [Abbt,] Vom Tode für das Vaterland, S. 7. 413 Birgfeld, Krieg und Aufklärung, Bd. 2, S. 842. 414 [Abbt,] Vom Tode für das Vaterland, S. 10. 415 Martus, Aufklärung, S. 667. 416 Nachdem Lessing sich 1760 nach Breslau zurückgezogen hatte, wurde Mendelssohn über Vom Tode für das Vaterland auf Abbt aufmerksam, den er nicht zuletzt für „Feuer, Kühnheit und Nachdruck“ der Sprache bewunderte (BNL, 11. Theil, 181. Brief, S. 39–48, hier: S. 39). Begeistert überzeugten Nicolai und er Abbt, die vakante Stelle bei den Literaturbriefen zu übernehmen (Eva J. Engel, Moses Mendelssohn und die „Briefe, die neueste Litteratur betreffend“ (1759–1765). In: „Gedanck und Empfindung“. Ausgewählte Schriften von Eva J. Engel, hg. von Oliver Schütze und Michael Albrecht, Stuttgart-Bad Cannstatt 1994, S. 251–306, hier: S. 289–292). Als Abbt die erste Fassung seiner nächsten Schrift Vom Verdienste (gedruckt 1765) an seinen Freund Mendelssohn  

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die Versinnlichungstechniken hervorgehoben werden, deren vorherige Laufbahn in Sacks Predigten und Gleims Kriegslyrik hier nachgezeichnet worden ist. In Abbt populärphilosophischer Schrift wurden sie zum Kernstück eines Programms, das sich mit Blick auf den zweiten theoretischen Baustein der Abhandlung als „Aesthetic Patriotism“417 bezeichnen lässt. Eva Piirimäe hat präzise herausgearbeitet, wie die Kenntnisse der philosophischen Ästhetik, die Abbt in Halle erworben hatte, in seine Überlegungen zum Patriotismus eingingen. Sie schreibt: Combining the general emphasis of Shaftesbury on the role of aesthetic appreciation in moral and political agency with the more specific German Baumgartenian analysis of ‚beauty‘ as a central principle in human ‚empirical psychology‘, Abbt in On Dying attempted to show that modern patriotism could be grounded in an aesthetic passion of enthusiasm generated through sensuous examples of great virtue.418

Die Schrift Vom Tode für das Vaterland entwickelte folglich ein Programm der patriotischen Mobilisierung, das einen Dreischritt aus Schönheit, Enthusiasmus und Anreiz zur Handlung entwarf: Die Liebe zum Vaterland und die entsprechende Todesbereitschaft sollte laut Abbt durch „Phantasien“ stimuliert werden, die der Seele eine so „neue Art von Schönheit“ zur Verfügung stellen müssten, dass diese sich „über ihre gegenwärtigen und gewöhnlichen Verbindungen hinaussetzt“ und „die erforderten Handlungen unternimt um zu ihrem Besitz zu gelangen“. Auch mit diesem Modell des patriotischen „Enthusiasmus“419 schloss Abbt unmittelbar an seinen hallischen Lehrer Meier an.420 In der Theoretischen Lehre von den Gemüthsbewegungen überhaupt (1744) nämlich hatte dieser die Schönheit

schickte, ging diesem jedoch dessen „seltsame Affectation“ in der Sprache zu weit. „Ihr Werk vom Verdienste enthält sehr gute Sachen, in einer sehr guten Ordnung, aber in der unerträglichsten Schreibart von der Welt“, lautete die Rückmeldung. „Verunzieren Sie das schöne Werk nicht durch den eiteln Kützel, alles selbst zu schaffen, nichts einem andem schuldig zu seyn, auch nicht einmal Worte und Redensarten.“ (Moses Mendelssohn an Thomas Abbt, gegen Ende August 1764 (Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe, hg. von Alexander Altmann, Eva J. Engel, Michael Brocke und Daniel Krochmalnik, Bd. 12,1: Briefwechsel II, 1, bearbeitet von Alexander Altmann), Stuttgart-Bad Cannstatt 1974, S. 57–62, hier: S. 59). 417 So der Untertitel des bereits zitierten Aufsatzes von Piirimäe, Dying for the Fatherland. 418 Piirimäe, Dying for the Fatherland, S. 195. 419 [Abbt,] Vom Tode für das Vaterland, S. 89. 420 Meier zählte in Halle nicht nur zu den bevorzugten Lehrern von Abbt, der Student verfasste dort auch einige kleine Beiträge zu Meiers Zeitschrift Das Reich der Natur und der Sitten (Alexander Altmann, Moses Mendelssohn. A Biographical Study. First digital on-demand edition, Oxford, Portland 2011, S. 100).

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als Ursache für einen Zustand des „Enthusiasmus“ bestimmt, der die Seele auf einen „noch zukünftigen Zustand“421 reagieren lasse. Worum es Abbt wie Meier ging, war insofern letztlich das Potential der schönen Künste, Wahrnehmungskategorien mithilfe eines Appells an die Affekte zu vertauschen: einerseits Anwesenheit und Abwesenheit, andererseits Gegenwart und Zukunft. Pate dafür stand, wie Abbts Begriff „Phantasien“ anzeigt, der in Halle wie in der Schweiz hochgeschätzte Pseudo-Longin. In einer Passage der Schrift Vom Erhabenen, die Boileau in seiner Übersetzung mit der Überschrift „Von den Bildern“ („Des images“) versah,422 hatte der hellenistische Dichtungslehrer die rhetorische Technik des Vor-Augen-Stellens unter Verwendung dieses Begriffs als wirkungsvolle Strategie der sublimen Rede profiliert. „Ferner rufen, junger Freund, die Bilder der Phantasie [φαντασίαι] auch Erhabenheit, Größe und Energie des Stils hervor“, hatte der Grieche gelehrt. Die sogenannte enargeia sei geglückt, wenn „man das Gesagte in Begeisterung und leidenschaftlich erregt zu schauen meint und es den Hörern vor Augen stellt“;423 „was als Bild erschüttert“, werde „mit seinem Glanz den Sachbeweis überstrahl[en]“424. Durch diesen Präsenzeffekt sei ein wohlkomponiertes literarisches Bild in der Lage, den Rezipienten nicht nur zu „überzeugen“, sondern zu „überwältigen“425. Über die Bande der Ästhetik gespielt, erschloss Abbt die pseudo-longinische Lehre hier nachträglich als dichtungstheoretische Basis für die Vergegenwärti-

421 Georg Friedrich Meier, Theoretische Lehre von den Gemüthsbewegungen überhaupt, Halle 1744, § 84, S. 115. Eingehender zu den konzeptuellen Affinitäten zwischen Abbts Vom Tode für das Vaterland und der Theoretischen Lehre von Meier vgl. Piirimäe, Dying for the Fatherland, S. 201– 204. 422 Vgl. David B. Morris, The Religious Sublime. Christian Poetry and Critical Tradition in 18thCentury England, Lexington 1972, S. 34. 423 De subl. 15, 1; deutsch nach Longinus, Vom Erhabenen, S. 43. 424 De subl. 15, 11; deutsch nach Longinus, Vom Erhabenen, S. 51. „Enargeia“, erläutert Gyburg Radke-Uhlmann, „ist in diesem hellenistischen Kontext die vollendete Herstellung einer Illusion singulärer, sinnlicher Präsenz in der Vorstellung durch möglichst facettenreiche und vollständige Schilderung der begleitenden Umstände und mit dem Ziel, die Zuhörer emotional direkt anzusprechen und durch das Hören ein quasi-visuelles Bild vor dem geistigen Auge des Rezipienten entstehen zu lassen.“ (Gyburg Radke-Uhlmann, Über eine vergessene Form der Anschaulichkeit in der griechischen Dichtung. In: Antike und Abendland 55 (2009), S. 1–22, hier: S. 5 f.). 425 De subl. 15, 9; deutsch nach Longinus, Vom Erhabenen, S. 49. – Mit Blick auf das decorum hatte der antike Autor bei der Komposition der Vorstellungsbilder eine Orientierung am „Glaubhafte[n]“ angemahnt (De subl. 15, 8; deutsch nach Longinus, Vom Erhabenen, S. 49), die bei Abbt als moralische Restriktion wiederkehrte: Ein produktiver Enthusiasmus, der nicht in überspannte Schwärmerei kippe, beruhe demnach auf einer überzeugenden Bildkonstruktion, die „unmögliche“, „durch eine unordentliche Dichterkraft […] zusammen[gesetzte]“ sowie „unanständige[ ]“ Elemente ausschließe ([Abbt,] Vom Tode für das Vaterland, S. 89 f.).  



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gungstechniken, die sich in der Literatur des Siebenjährigen Kriegs seit mehreren Jahren ausdifferenziert hatten. Die Anleihen bei der Dichtung werden spätestens dann evident, wenn im finalen Kapitel des Essays Vom Tode für das Vaterland ein Bild entworfen wird, das Abbt als den ultimativen inneren Stimulus für die Liebe zum Vaterland empfahl. Denn dabei handelte es sich, wie rasch klar wird, um nichts anderes als um ein elaboriertes Produkt der verfolgten metonymischen Verfahren. So imaginierte Abbt: Ich sehe das Vaterland von allen Seiten bedränget, durch dessen Feinde allenthalben bestürmet, an seinen Grundpfeilern erschüttert. Es breitet die ringenden Hände gegen mich aus, es flehet um die Hülfe meiner Kinder. – – Wer ist denn jener Mann, dessen Gesichtszüge unter Schweis und Staub, wie unter einer Maske verborgen liegen, auf welchen sich das Vaterland stüzt? Keine Pracht, keine äussere Zeichen unterscheiden ihn: aber ein Eifer, für alle das Muster zu seyn; ein wachsames Auge, vor dem sich die Feinde zu verbergen suchen; ein ausgestreckter Arm, der sie zurück hält. Merkmale genug; er ist mein König. Er hält den Fall des Vaterlandes noch auf, hält ihn zum Wunder aller Nationen auf. Um ihn herum stehen seine tapfern Soldaten: um ihn herum liegen auch die edlen Streiter, die fechtend zu seinen Füßen niedergesunken sind. Magnarum animarum prodigi. Wie arbeitet meine Einbildungskraft diese grossen Bilder zu fassen! Auch die Seufzer und die Wehklagen der Unmündigen, der Greise, dringen auf sie zu[.]426

Nicht nur im Griff zur enargeia, sondern auch in der rhetorischen Umsetzung erweist sich Abbt in dieser Passage als aufmerksamer Schüler Pseudo-Longins. Im sorgfältigen Anschluss an die Textbeispiele, die der Grieche hauptsächlich aus der Tragödie gewählt hatte, wechselte der junge Philosoph in einen dramatischen Modus. Ebenso wie Euripides laut dem antiken Dichtungslehrer „selbst die Erinyen sah“ und darüber auch „die Hörer [zwang], das Bild seiner Phantasie zu schauen“,427 kleidete Abbt seine Vision des Vaterlandes in eine Rhetorik der Autopsie. Dabei hielt er sich bis in die Syntax hinein an die Ratschläge des Traktats Vom Erhabenen. Unter Verzicht auf die „Bindewörter“, die der „Sprache der Leidenschaft“ laut Pseudo-Longin den „Schwung eines vom Katapult fliegenden Geschosses“428 rauben würden,429 entwarf er in „abgehackten und dennoch 426 [Abbt,] Vom Tode für das Vaterland, S. 93 f. 427 De subl. 15, 2; deutsch nach Longinus, Vom Erhabenen, S. 45. Bezogen ist diese Aussage auf eine Stelle in Euripides’ Orestes, in der sich der Protagonist von imaginären Rachegöttinnen umringt sieht und ausruft: „O Mutter, hab’ Erbarmen, hetze nicht auf mich / Die Jungfrauen mit blutrotem Aug und Schlangenleib! / Da kommen sie, sind nahe, springen mich schon an!“ (Eur. Or. 255 f.; zitiert nach Longinus, Vom Erhabenen, S. 45). 428 De subl. 21, 1; deutsch nach Longinus, Vom Erhabenen, S. 61. 429 Ein nicht minder wichtiges Kriterium für die Sprache der Ode (vgl. Andrea Polaschegg, Ausdruckskunst! Satzzeichen als Indizien des Affekts in Ode und Briefroman des 18. Jahrhun 



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dahineilenden“430 Asyndeta eine sinnliche Repräsentation des Vaterlands, die vom Abstrakten zum Konkreten fortschritt. Dabei stand die emphatische Formel „Ich sehe“ zu Beginn von Abbts Phantasiebild am Rande der Katachrese – schließlich kannte das 18. Jahrhundert keine bildliche Allegorie für die Personifikation der patria, die hier flehentlich um Hilfe bat.431 Diese Lücke suchte Abbt in der Folge zu füllen, indem er seine ungegenständliche Hauptfigur in eine umso gegenständlichere Ikonographie integrierte. Als Ausgangspunkt fungierte die inzwischen wohlvertraute Königsmetonymie. Im ersten Hauptstück von Vom Tode für das Vaterland formulierte Abbt im Rückgriff auf diese politisch-rhetorische Trope: „In den Monarchien ist eine genaue Verbindung zwischen dem Monarchen und dem Vaterland, davon uns ein Theil immer sichtbar vor Augen steht; der andere Theil giebt sich uns blos durch seine Wirkungen zu erkennen.“432 Dementsprechend beschwor er vor dem inneren Auge seiner Leser auch jetzt zunächst den König herauf, dessen Portrait während der Schlesischen Kriege auf allerlei Devotionalien kursierte.433 Die direkte Frage „Wer ist denn jener Mann […]?“– eine weitere Technik des Sublimen –434 leitete in Abbts Phantasiebild eine imaginäre Gegenüberstellung ein, die den Rezipienten direkt ins Antlitz des Herrschers schauen ließ. So einfach wie effizient etablierte Abbt damit eine Eins-Zu-Eins-Beziehung als Kern einer patriotischen Gemeinschaft, die er anschließend in dem Maße erweiterte, wie er innerhalb seines Vorstellungsbilds das Sichtfeld größer werden ließ. In konzentrischen Kreisen ließ er den Blick in seiner Schilderung immer mehr Untertanen erfassen, die sich um das Paar aus König und Vaterland gruppierten: zuerst die Soldaten der preußischen Armee, dann ihre gefallenen Mitstreiter. Nicht zufällig nahm die Vignette, die den Titel des Essays zierte, diese patriotische Kernbeziehung zwischen dem König und seinen Soldaten auf (Abb. 3). Und wohl auch nicht zufällig geschah das im Zeichen des spartanischen Altertums, derts. In: Die Poesie der Zeichensetzung. Studien zur Stilistik der Interpunktion, hg. von Alexander Nebrig und Carlos Spoerhase, Bern. u. a. 2012, S. 157–182, hier: S. 174 f.). 430 Vgl. De subl. 19, 1; deutsch nach Longinus, Vom Erhabenen, S. 59. 431 Diese Aporie unterschied das Vaterland medial von der Nation. Darstellungen der Germania in der Gestalt einer weiblichen Figur existierten im Alten Reich seit dem Mittelalter; als selbstbewusstes Bild der Nation setzte sie sich seit dem 16. Jahrhundert durch (Brandt, Germania und ihre Söhne, S. 37–39). 432 [Abbt,] Vom Tode für das Vaterland, S. 19 f. 433 Vgl. Frevert, Gefühlspolitik, S. 88; Patrick Der öffentliche König? Herrschaft in den Medien während der drei Schlesischen Kriege. In: Friedrich der Große in Europa. Geschichte einer wechselvollen Beziehung, hg. von Bernd Sösemann und Gegor Vogt-Spira, 2 Bde., Bd. 1, Stuttgart 2012, S. 209–223, hier: S. 217 f. 434 Denn, so Pseudo-Longin, „die Frage an sich selbst und die Antwort ahmt das plötzliche Aufsteigen der Leidenschaft nach“ (De subl. 18, 1; deutsch nach Longinus, Vom Erhabenen, S. 57).  







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das durch Gleims Grenadierlieder als ‚Berliner‘ Antike etabliert worden war (Kap. II.3.1). So zeigt die Vignette ein antikes Pendant zu Friedrich II. und seinen Soldaten auf dem Sockel einer Urne; unter dem Relief steht in griechischer Schrift das Simonides zugeschriebene, bei Herodot überlieferte und schließlich in Schillers Übersetzung kanonisierte Epigramm435 auf die spartanischen Helden der Thermopylenschlacht, die im Kampf gegen die persische Übermacht einen ehrenvollen Tod gestorben waren („Wanderer, kommst du nach Sparta […]“)436. Der Kupferstecher Johann Wilhelm Meil, der diese Vignette ebenso entwarf und ausführte wie zuvor auch die der Preussischen Kriegslieder, hat das Motiv selbst wie folgt erläutert: Ich habe hier die Geschichte und den rühmlichen Tod des Lacedämonischen Königs Leonides [sic] gewählt, der bei den Thermopylischen Pässen, welche er mit einigen hundert Soldaten gegen eine erschreckliche Menge Perser so lange mit der größten Herzhaftigkeit verteidigte, bis er endlich mit all den Seinigen erschlagen für sein Vaterland starb. Für diese große That habe ich den Griechen ein Denkmal gesetzt […].437

435 Vgl. Hdt. 7, 228: ὦ ξεῖν᾽, ἀγγέλλειν Λακεδαιμονίοις ὅτι τῇδε / κείμεθα τοῖς κείνων ῥήμασι πειθόμενοι. Seit Ciceros kanonischer Übersetzung hatte es sich etabliert, die „κείνων ῥήμασι“ des Originals statt als militärischen „Befehl einzelner Leute“ als eine moralische Pflicht gegenüber dem Vaterland aufzufassen – daraus wurden die „heiligen Gesetze des Vaterlandes“ („Dic, hospes, Spartae, nos te hic vidisse iacentes / Dum sanctis patriae legibus obsequimur.“ (Cic. Tusc. I, 101; Marcus Tullius Cicero, Gespräche in Tusculum. Tusculanae Disputationes. Lateinischdeutsch, mit ausführlichen Anmerkungen neu hg. von Olof Gigon, 6. Aufl., München, Zürich 1992, S. 96) Ausführlich zu den sprachgeschichtlichen Ursachen dieser Umdeutung vgl. Günther B. Philipp, Wie das Gesetz es befahl? Bemerkungen zu einer neuen Leonidaslegende. In: Gymnasium 75 (1968), S. 1–45, hier: S. 41–45). Erst die römische Adaption machte das Epigramm also brauchbar für Abbts Vom Tode für das Vaterland. 436 Die kanonische Fassung der Elegie „Der Spaziergang“ (1799) war schon die dritte Schiller’sche Version des Sparta-Epigramms. Ein erster Übersetzungsversuch von 1790 findet sich zuvor im Aufsatz über „Die Gesetzgebung des Lykurgus und Solon“: „Erzähle Wandrer, wenn du nach Sparta kommst, daß wir seinen Gesetzen gehorsam, hier gefallen sind.“ (Friedrich Schiller, Die Gesetzgebung des Lykurgus. In: Thalia 3:11 (1790), S. 30–82, hier: S. 45) Schillers Interesse stammte folglich aus dem französisch vermittelten Gesetzesdiskurs um Sparta, der im Kontext der Französischen Revolution zusätzliche Aktualität erhielt. Ein zweiter Ansatz erscheint 1790 unter dem schlichten Titel „Elegie“ im 10 Stück der Horen. Ausführlich rekonstruiert bei Manuel Baumbach, „Wanderer, kommst du nach Sparta …“. Zur Rezeption eines Simonides-Epigramms. In: Poetica 32:1,2 (2000), S. 1–22, hier: S. 14–20. 437 Abgedruckt bei Wilhelm Dorn, Meil-Bibliographie. Verzeichnis der von dem Radierer Johann Wilhelm Meil illustrierten Bücher und Almanache, Berlin 1928, Nr. 104, S. 63.

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Abb. 3: Thomas Abbt, Vom Tode für das Vaterland (1761), Titel mit Vignette von Johann Wilhelm Meil.

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Der spartanische Herrscher Leonidas, in dem Meil das monarchische Moment der spartanischen Mischverfassung in den Mittelpunkt rückte,438 werde auf der Vignette „mitten untern seinen tapfern Soldaten“ abgebildet, „in der rechten Hand noch sein Schwerdt, am linken Arm das Schild haltend, so wie er ohne sich das Schild, welches ein großer Schimpf bey den Griechen war, nehmen zu lassen, hingefallen“439. Meils Spartaner bildeten damit eine vorbildliche Gemeinschaft der Toten; im Gegensatz dazu symbolisierte der aufrechte Preußenkönig inmitten seines kampfbereiten Heeres in Abbts Text umso nachdrücklicher das Überleben der modernen patria. Bei der bildlichen Evokation des Vaterlandes machte Abbt jedoch nicht Halt. In der zitierten Passage entwarf er auch gleich ihre anvisierte Wirkung. So ließ der Philosoph seine „Einbildungskraft“ im vorgeführten Versuch, „diese grossen Bilder zu fassen“, bewusst kollabieren. Das hatte seine Ursache in seiner oben skizzierten Theorie des ästhetischen Patriotismus, die auf den Überforderungseffekt der sublimen Rede zielte. Im Austausch mit Mendelssohn bestimmte Abbt das „Erhabene der Beschreibung“ wenig später als „Anordnung eines Bildes“, das „ins Unendliche gränzet“440. Auf genau diese Inkommensurabilität des Erhabenen zielte Abbt auch bei seinem Bild des Vaterlandes, um die Grenzen von Anund Abwesenheit in einem letzten Schritt wie angekündigt zu unterlaufen. So versetzte er den Leser im Moment der Überforderung in die Lage, die „Seufzer“ und „Wehklagen“ der Kinder und Alten zu vernehmen, die an anderen Orten an den Geschicken seines Landes anteilnahmen. Mit dem Wechsel vom Visuellen ins Auditive wurde die Nahgemeinschaft mithin in eine Ferngemeinschaft überführt, so dass sich die diffusen Stimmen der abwesenden Mitbürger zur Stimme eines abstrakten Vaterlandes verdichteten. So jedenfalls formulierte Abbt es, der an diesem Punkt eine geglückte Mobilisierung für das Vaterland in Szene setzte. „Pulchrum mori sucurrit in armis!“, rief er: Mit diesem Zitat aus Vergils Aeneis441 ließ er der patriotischen Bereitschaft,

438 Montesquieu setzte den Akzent anders: „Diese sogenannten Fürsten von Sparta waren keine Könige, sondern untergeordnete Beamte, Heerführer, welche bei ihrer Heimkehr in die Stadt fast auf die ganze Macht verzichteten.“ (GdG, Bd, I, XI, 9, S. 232) Das ist gegen den gängigen französischen und englischen Diskurs gesprochen, der einen monarchischen Akzent setzte. Vgl. etwa Charles Rollin in der Histoire ancienne: „Le Gouvernement de Lacédémone n’étoit donc pas purement Monarchique: Les Grands y avoient beaucoup de part, & le Peuple n’étoit pas exlus.“ (Charles Rollin, Histoire ancienne des Égyptiens, des Carthaginois, des Assyriens, des Babyloniens, des Médes et des Perses, des Macédoniens, des Grecs, 6 Bde., Bd. 2, Amsterdam 1731, S. 403). 439 Dorn, Meil-Bibliographie, Nr. 104, S. 63. 440 Abbt an Mendelssohn, 7. März 1761. In: Jubiläumsausgabe, Bd. 11, S. 197–200, hier: S. 199. 441 Verg. Aen. 2, 317.

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zum Nutzen der Gemeinschaft dem Tod ins Auge zu sehen, ihren rhetorischen Lauf. „Alsdann stürmt der Gedanke in mir empor, daß es edel sey, fechtend fürs Vaterland zu sterben“, schrieb er im Finale seiner Schrift. „Nun ordnet sich die neue Schönheit, die ich nur schaffe: sie entzückt mich; ich eile zu ihrem Besitz; […]; höre nicht den Ruf der Verwanten, sondern des Vaterlandes; nicht den Klang der furchtbaren Waffen, nur den Dank, den mir jenes zuruft.“442 Die innere Stimme der politischen Gemeinschaft, des preußischen Vaterlandes, hatte damit den ursprünglich religiösen Fluchtpunkt der patriotischen Metonymien ersetzt, die in diesem Teilkapitel verfolgt worden sind. Je länger der Siebenjährige Krieg angedauert hatte, desto mehr hatte sich folglich eine deutschsprachige Variante des Patriotismus mit eigenen rhetorischen Logiken ausdifferenziert. Am Ende des Krieges war es nicht mehr Gott, der die Bürger in den Kampf rief, sondern die personifizierte politische Gemeinschaft. Sowohl die Analogie zwischen politischem Schriftsteller und Prediger, mit der Abbt seine Schrift Vom Tode für das Vaterland eröffnete, als auch die figurale Verfasstheit seiner patria legen allerdings weiterhin Zeugnis davon ab, dass diese Sprache des Vaterlandes auf einer Austauschbeziehung beruhte, die im preußischen Pietismus verankert war: Um 1750 hatten Dichter und Philosophen gelernt, das abstrakte Konzept der patria mit Leben zu füllen, indem sie sich bei Formaten, Motiven und Tropen aus der religiösen Literatur bedienten.

3.2 Literarische Liebe: Anakreontik und Kriegslied In der Poetik des Patriotismus, die Gleim in seinem Kriegslied entwarf, gingen vertraute literarische Semantiken eine neue Verbindung ein. Um das Vaterland und seinen Sänger zu profilieren, griff Gleim auf das religiös-politische Spiegelverhältnis der pietistischen Tradition zurück und verlegte es in ein niedriges Register: Was zu diesem Zweck im Lied seines Grenadiers anklang, waren das Kirchenlied und die Kriegspredigt. Um die patriotische Liebe in einen Modus der zeitgenössischen literarischen Kommunikation zu übersetzen, konnte Gleim dagegen die eigene werkbiographische Vergangenheit geltend machen. Wie die Liebeslyrik des ‚deutschen Anakreon‘ in die Kriegspoesie des ‚deutschen Tyrtäus‘ hineinspielte, soll im Folgenden untersucht werden. Denn das Projekt der Scherzhaften Lieder, in dem Gleim den hallischen Zentralaffekt in einen ständigen Kreislauf von Trinken, Scherzen und Lieben inte-

442 [Abbt,] Vom Tode für das Vaterland, S. 94 f.  

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grierte,443 war nur auf den ersten Blick strikt von dem der Kriegslieder geschieden. Innerhalb des amourösen Werksegments finden sich zahlreiche Querbezüge zur heroischen Sphäre. Schon wenn Gleim das Lob der Helden mit der gattungstypischen recusatio aus der Anakreontik ausschloss, blieben die Liebe und der Krieg dabei stets metaphorisch aufeinander bezogen. „Meine Laute will nicht schallen / Wenn ich euch ein Loblied singe“, wandte sich der anakreontische Dichter 1744 „An die Helden“. Sein Instrument ertöne nur dann, wenn er nicht Schwerter und Kanonen, sondern „Amors Waffen“444 rühme. Ein Jahr später baute der Zweete Theil des Versuchs in Scherzhaften Liedern systematisch auf diesem Topos der militia amoris auf, nach dem der Liebende eine andere Form von Eroberer sei.445 So verlegte Gleim die Scherze sein scherzendes Alter ego nun in den Zweiten Schlesischen Krieg,446 wo es sich auf erotische Belagerungen spezialisierte. Die Frage, ob diese launigen Analogien von einer prinzipielleren gattungspoetischen Bewandtnis sein könnten, wurde spätestens mit den Liedern Nach dem Anakreon von 1766 virulent. Denn hier ließ Gleim sein anakreontisches Ich anlässlich der Friedensfeierlichkeiten von Hubertusburg447 in einem Gedicht „An den Preußischen Grenadier, den Verfasser der Kriegeslieder“ Auge in Auge mit seinem kriegerischen Pendant treten. Statt als Antagonisten führte er die zwei Dichterfiguren dabei ausdrücklich als Freunde vor. So wendet sich der Liebesdichter anerkennend an den Kriegsdichter:

443 Guthke, Der Tod und die Mädchens, S. 372. 444 [Gleim,] An die Helden. In: Versuch in Scherzhaften Liedern, S. 47. Die Liebe, betont auch Guthke, nehme in der anakreontischen Dichtung auffällig oft die Form eines „schäkernde[n] Kriegsspiel[s]“ an (Guthke, Der Tod und die Mädchens, S. 372). 445 Zu diesem Topos besteht eine reiche Literatur, von der hier nur einige Titel genannt werden können. Vgl. z. B. Alfons Spies, Militat omnis amans. Ein Beitrag zur Bildersprache der antiken Erotik, Tübingen 1930; Paul Murgatroyd, Militia amoris and the Roman Elegists. In: Latomus 34 (1975), S. 59–79 oder Leslie Cahoon, The Bed as Battlefield. Erotic Conquest and Military Metaphor in Ovid’s Amores. In: Transactions and Proceedings of the American Philological Association 118 (1988), S. 293–307. 446 So berichtet Doris, die fiktive Geliebte der Scherzhaften Lieder, dass ihr „zärtliche[r] Freund“ laut seiner eigenen Beteuerung „viele dieser Gesänge in seinem Zelte angestimmet, wenn Kugeln über dasselbe ehrerbietig hinweg geflogen sind, oder Bomben gewüthet haben“ ([Johann Wilhelm Ludwig Gleim,] [Vorrede]. In: Versuch in Scherzhaften Liedern. Zweeter Theil, Berlin 1745, S. III– XXIV, hier: S. VI). 447 So der „Vorbericht“: „Diese Lieder wurden in den Tagen der Freude gesungen, an welchen die preußischen Lande den Frieden feyerten, welcher den 15ten März 1763. zu Hubertusburg geschlossen worden war!“ ([Johann Wilhelm Ludwig Gleim,] Vorbericht. In: Lieder. Nach dem Anakreon von dem Verfasser des Versuchs in scherzhaften Liedern, Berlin, Braunschweig 1766, S. 3 f., hier: S. 3).  



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Du singest Patrioten Und Weis’ in unsern [sic] Krieg, Kommst aus der Schlacht ein Sieger! Und singest Friedrichs Sieg! Und ich, o Freund! ich singe Mich selbst als einen Held! Mit Krieg hab ich bezogen, Die ganze schöne Welt.448

Angesichts der ausgestellt parallel gebauten Strophen, mit denen Gleim hier die Domänen seiner beiden Charaktere absteckte, stellt sich die Frage nach möglichen Konvergenzen zwischen beiden lyrischen Genres umso dringlicher. Die Fülle solcher Berührungspunkte zwischen scherzhaft-amouröser und patriotischer Dichtung hat in den vergangenen Jahren zunehmend das Interesse der Forschung erregt. Biographisch orientierte Erklärungsansätze, die Gleim seit seiner Zeit im preußischen Kriegslager vor Prag in einer Art double bind zwischen „Kameradschaftsglück und Abscheu vor den Abgründen des Militärwesens, Liebe zur Literatur und Liebe zur Tat“449 sehen, laufen dabei insofern ins Leere, als ein Nebeneinander von Anakreontik und Kriegslyrik prinzipiell zur „Signatur der lyrischen Szenerie der Jahrhundertmitte“450 gehörte. Einen eindrucksvollen Beleg dafür liefert der 45. Band einer von dem Lexikographen Joseph Kürschner initiierten Reihe der Deutschen National-Litteratur, in dem Franz Muncker 1894 der Einfachheit halber Anakreontiker und preußisch-patriotische Lyriker zusammenfasste.451 So disparat diese Kombination auf den ersten Blick wirken mag, so überzeugend ist sie in editionspragmatischer Hinsicht. Denn die Mehrzahl der hier vertretenen Rokokodichter (Gleim, Uz, Kleist, Ramler und Karsch) hatte sich ebenso in der einen wie in der anderen Gattung hervorgetan. Vielversprechender scheint mithin der Vorschlag von Martin Disselkamp zu sein, Kriegslyrik und Anakreontik als komplementäre Antworten auf eine Reihe von gemeinsamen, epochentypischen Fragen zu betrachten. Auf unterschiedliche Weise, so seine These, gehe es in beiden Gattungen um die „Aktivierung brachliegender anthropologischer Potentiale“ und um die Stiftung von „soziale[r] Kohä-

448 [Gleim,] An den Preußischen Grenadier, den Verfasser der Kriegeslieder (Nach der sechzehnten Ode). In: Lieder, S. 38 f., hier: S. 38. 449 Birgfeld, Krieg und Aufklärung, Bd. 2, S. 197; in diesem Sinne auch Lee, Armor im Harnisch. 450 Disselkamp, Wein und Liebe, Stahl und Eisen, S. 201. 451 Anakreontiker und preußisch-patriotische Lyriker. Zwei Teile in einem Bande. Hagedorn. Gleim. Uz. Kleist. Ramler. Karschin, hg. von Franz Muncker, Stuttgart [1894].  

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renz“452. Prototypisch gesprochen, ziele die Anakreontik auf eine universale Ethik, die sich jedoch vorerst nur unter der Bedingung des „Kleine[n], Ort- und Zeitlose[n]“453 und in der idealisierten Freundschaft einiger happy few realisieren lasse; die patriotische Dichtung gehe dagegen aufs Große und Ganze einer heroischen politischen Gemeinschaft, was sie sich auf moralischer Ebene mit Partikularismus erkaufe.454 Und während beide Genres versuchen würden, ihre sozialen Bindekräfte durch gezielte Appelle an die Affekte zu entfalten, bediene sich die Anakreontik einer Klaviatur der sanften Empfindungen, die Kriegsdichtung hingegen einer der heftigen Leidenschaften.455 Dieser Kontiguität, auf die Gleim in der Anakreontik immer wieder aufmerksam machte, soll hier mit Blick auf die andere der beiden Gattungen, auf die Kriegslyrik nachgegangen werden. Angepasst an die Fiktion des unbelesenen Grenadiers, bildete sie sich in diesem Werksegment freilich nicht auf einer expliziten, textuellen, sondern auf einer impliziten, medialen Ebene ab: Die Rede ist von den Melodien, die den Preussischen Kriegsliedern in der Buchfassung von 1758 beigegeben waren und die sie in eine gesellige Kultur der Freundschaft eingliederten, wie die Forschung sie bisher nur mit der Anakreontik verbunden hat. Dieser Befund gibt Anlass dazu, auch auf der poetologischen Ebene nach der Grundlage für die funktionalen und inhaltlichen Affinitäten zwischen den Gleim’schen Dichtungsarten zu fragen. Im Folgenden wird es also darum gehen, die patriotische Dichtung in einem Spannungsfeld von Liebe und Krieg zu verorten, in dem sich um die Mitte des 18. Jahrhunderts ein neues, übergeordnetes Konzept von lyrischer Dichtung herausbildete: das einfache Lied, das schon auf einer theoretischen Ebene an die Erzeugung von affektiver Kohäsion gekoppelt wurde.

3.2.1 Geselligkeiten: Krieg und Liebe in der musikalischen Poesie (Gleim, Ramler) Die langlebige Vorstellung, die Preussischen Kriegslieder hätten ihren Weg rasch vom Mund des fiktiven Soldaten in den seiner realen Kameraden zu Felde gefunden, gehört in den Bereich der Phantasmagorie – einer Phantasmagorie aller-

452 Disselkamp, Wein und Liebe, Stahl und Eisen, S. 221. 453 Disselkamp, Wein und Liebe, Stahl und Eisen, S. 207. 454 Disselkamp, Wein und Liebe, Stahl und Eisen, S. 215–220. Diese Gegenüberstellung wird auch aufgegriffen von Deupmann, Der Siebenjährige Krieg in der deutschsprachigen Lyrik, S. 554. 455 Disselkamp, Wein und Liebe, Stahl und Eisen, S. 206 sowie S. 210; S. 217.

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dings, an der Gleim selbst tatkräftig mitwirkte. Denn als er sich im Namen des Grenadiers bei Lessing dafür bedankte, dass dieser die gemeinsamen „Freunde[ ]“ unmittelbar nach dem Druck mit Exemplaren seiner Lieder versorgt habe, bat er noch im selben Brief um weitere, identisch ausgestattete Bändchen für die preußische Front: [W]ollten sie dieselben noch mit sechs Exemplar, so schön gebunden, wie das Übersandte für einige Grenadiers von seiner Compagnie, die so gern singen als Er, und eines in blauem Sammet, wo mit er sie beschenken will, so bald als möglich vermehren, so werden sie sich ihn von neuen [sic] verbindl. machen!456

Sozialgeschichtlich betrachtet, führte diese Geste ins Leere. Weder in den Briefwechseln der Zeit noch in den Quellen zu der Militärmusik des Siebenjährigen Kriegs finden sich Anzeichen dafür, dass die preußischen Regimenter ihr gewohntes, von protestantischen Chorälen dominiertes Repertoire von Kampfgesängen um die neue patriotische Lyrik erweitert hätten.457 Aus einer literaturgeschichtlichen Perspektive stellt Gleims Anfrage hingegen eine aufschlussreiche Beziehung her. In aller Kürze entwarf der Autor hier zwei Rezeptionskontexte für seine Kriegslieder, zwischen denen er auffällige Parallelen einzog. So scheint der Verband der militärischen compagnons, die ihren Zusammenhalt im Gesang bekunden sollten, konzeptionell aus dem der beschenkten Freunde „Sulzer, Rammler, Krause, Agricola“458 hervorzugehen: einer Auswahl derjenigen Autoren und Komponisten, die sich regelmäßig mit anderen Protagonisten der Berliner Auf-

456 Gleim an Lessing, 16. August 1758. In: FLA, Bd. 11/1, S. 296 f., hier: S. 297. Kaum zwei Wochen später präzisierte Gleim diese Aufforderung insofern, als er gern jeweils ein Exemplar an die „Hautboisten“ – die Militärmusiker an der Oboe – „eines jeden [Regiments, A.H.]“ senden würde. „Sorgen Sie doch, daß Herr Voß, für beigehende Zehn Rtlr. eine gewisse Anzahl von den Liedern an des Grenadiers etwas nur in dunkel blau Papier binden läßt, und an unsere Armee, die Cüstrin rächen will, überschickt.“ (Gleim an Lessing, 27. August 1758. In: FLA, Bd. 11/1, S. 298) Damit setzte Gleim eine Idee in die Tat um, die für ihn ein Jahr zuvor kaum mehr als ein scherzhaftes Gedankenspiel gewesen war: Nach dem Sieg bei Roßbach hatte er laut überlegt, er wolle sich „einen Spaß zu machen und an alle Regimenter, die bei der Schlacht gewesen, für jeden Capitän ein Exemplar zu schicken“ (Gleim an Kleist, 23. Dezember 1757. In: Ewald von Kleist’s Werke, Bd. 3, S. 268). Nach eigener Aussage verschenkte Gleim mit der Zeit um 2000 Bände der Kriegslieder an Regimenter und Kadettenhäuser (Gerhard Alicke, Bibliophilie in der Literatur. 9. Folge: Johann Wilhelm Ludwig Gleim. In: Philobiblon 43:4 (1999), S. 289–293, hier: S. 292). 457 Vgl. Sascha Möbius, Eine feste Burg ist unser Gott…! und das entsetzliche Lärmen ihrer Trommeln. Preußische Militärmusik in den Schlachten des Siebenjährigen Krieges. In: „Mars und die Musen“. Das Wechselspiel von Militär, Krieg und Kunst in der Frühen Neuzeit, hg. von Jutta Nowosadtko, Matthias Rogg und dems., Berlin 2008, S. 261–290. 458 Lessing an Gleim, 11. August 1758. In: FLA, Bd. 11/1, S. 297 f., hier: S. 298.  



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klärung im Donnerstagsklub (dem späteren Montagsklub) zur geselligen Unterhaltung mit Literatur und Musik zusammenfanden.459 Damit deutet sich eine Affinität zwischen patriotischer Literatur und geselliger Kultur an, die sich durch eine Reihe von weiteren Rezeptionszeugnissen erhärten lässt. Nicht nur wusste Ramler davon zu berichten, dass die genannte Berliner Gesellschaft ihre lebhaften Debatten über das aktuelle Kriegsgeschehen460 mit einer gemeinschaftlichen Lektüre des „Siegeslieds nach der Schlacht bey Roßbach“ verknüpft habe. „Wie viel Vergnügen haben Sie unsrer Donnerstagsclubbe dadurch gemacht!“, schrieb er Gleim: „Wir konten uns den gantzen Abend nicht satt lesen.“461 Andernorts, zu Besuch bei der Familie des Hofpredigers, fand Ramler das „Sackische Haus“ so „entzückt“462 von den Liedern des Grenadiers, dass man sie sogleich im freundschaftlich-familiären Kreis zu Gehör brachte: „Madame Bamberg, gewesene Mademoiselle Sack, hat mir das Roßbachische Lied, nach Rollens Composition von einem Ende bis zum andern vorgesungen“,463 konnte Ramler nach Halberstadt melden. Vieles spricht dafür, dass diese bürgerliche Reinszenierung der Schlachtgesänge zu den gängigen Rezeptionsmodi der Preussischen Kriegslieder zählte. So bestätigt der Blick in die musikalischen Drucke der 1750er Jahre, dass eine Nachfrage nach Noten für die patriotische Lyrik von Gleim bestand, die selbst über die angeführte Vertonung des Magdeburger Organisten Johann Heinrich Rolle464 und die in der Buchfassung enthaltenen Melodien hinausging. In Max Friedlaenders Handbuch Das deutsche Lied im 18. Jahrhundert (1902) stößt man zum Beispiel auf eine anonyme Publikation, die unter dem Titel Kriegslied, Schlachtgesang und Siegeslied eines Preußischen Soldaten (etwa 1759) ein apartes patriotisches Liedprogramm zusammenstellte: Zwei der Gleim’schen Grenadierlieder wurden mit Klopstocks „Kriegslied“ zum Werk ein- und desselben Kriegers zusammengezogen, das man jetzt Mit seines Bruders Melodien am eigenen Klavier nachsingen

459 Vgl. Kenneth Keeton, The Berliner Montagsklub, a centre of German enlightenment. In: Germanic Review 39:2 (1961), S. 148–153. 460 Auf entsprechende Briefbelege weist David E. Lee hin (David E. Lee, Berlin in Halberstadt und Halberstadt in Berlin. Wunschbilder und ihre Auswirkungen im Gleim/Ramler-Briefwechsel. In: Urbanität als Aufklärung. Karl Wilhelm Ramler und die Kultur des 18. Jahrhunderts, hg. von Laurenz Lütteken, Ute Pott und Carsten Zelle, Göttingen 2003, S. 61–78, hier: S. 74). 461 Ramler an Gleim, 14. Januar 1758. In: Briefwechsel zwischen Gleim und Ramler, Bd. 2, S. 308–310, hier: S. 308. 462 Ramler an Gleim, 31. Dezember 1758. In: Briefwechsel zwischen Gleim und Ramler, Bd. 2, S. 353 f., hier: S. 353. 463 Ramler an Gleim, 9. Dezember 1758. In: Briefwechsel zwischen Gleim und Ramler, Bd. 2, S. 342–347, hier: S. 345 f. 464 Vgl. Hans Michael Schletterer, Johann Heinrich Rolle. In: ADB, Bd. 29 (1889), S. 78–84.  



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konnte (Abb. 4).465 All diese Hinweise stellen Ramlers Aussage, die Kriegslieder würden mittlerweile „überall gesungen“,466 in einen konkreten gebrauchsgeschichtlichen Kontext.

Abb. 4: Johann Wilhelm Ludwig Gleims „Siegeslied nach der Schlacht bey Prag, den 6ten May 1757“ im musikalischen Druck Mit seines Bruders Melodien (etwa 1759).

Vor dem Hintergrund der Entgegensetzung von (privater) Geselligkeit und (politischer) Gesellschaft,467 die in der Forschung zum 18. Jahrhundert nach wie vor

465 Kriegslied, Schlachtgesang und Siegeslied eines Preußischen Soldaten, mit seines Bruders Melodien. Gesungen im Lager bey Prag, o. O. [1759]. Vgl. Max Friedlaender, Das deutsche Lied im 18. Jahrhundert. Quellen und Studien. Mit 350 theils gestochenen, theils in den Text gedruckten Notenbeispielen, 2 Bde., erster Bd., erste Abth.: Musik, Stuttgart, Berlin 1902, S. 11. 466 Ramler an Gleim, 11. April 1759. In: Briefwechsel zwischen Gleim und Ramler, Bd. 2, S. 378– 380, hier: S. 378 f. Zu diesem Jubel ließ sich Ramler durch den Bericht des „braven Sohne[s]“ von Sack verleiten, der einen vagen Hinweis auf eine weitere Vertonung enthält. Auf seinem Heimweg von einer Reise nach England habe jener die Grenadierlieder mit Melodien gehört, die ein „gewiße[r] General componirt“ habe. 467 Verweyen, „Halle, die Hochburg des Pietismus, die Wiege der Anakreontik“, S. 212. Kritisch und differenzierend zu dieser Gegenüberstellung vgl. Manfred Beetz, Anakreontik und Rokoko im Bezugsfeld der Aufklärung – Eine Forschungsbilanz. In: Anakreontische Aufklärung, hg. von dems. und Hans-Joachim Kertscher, Tübingen 2005, S. 1–18, hier: S. 9 f.  



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weit verbreitet ist, birgt dieser Befund ein gewisses Irritationsmoment. Denn sowohl der Bedarf nach einer musikalischen Untermalung für die Preussischen Kriegslieder als auch die beschriebene Vortragssituation im Hause Sack verbinden die patriotische Lyrik mit einer Rezeptionspraxis, die man bislang allein der geselligen Dichtung par excellence, der Anakreontik mit ihrer „Kuß-, Trink-, Scherz-, Sing-, Tanz- und Geselligkeitskultur“,468 zugeordnet hat. Was den literarischen Standort Berlin betrifft, hat sich gerade der hier so rege Berichterstatter Ramler als Förderer einer solchen Kultur hervorgetan. Auf ihn nämlich ging die erste Sammlung von Oden mit Melodien (1753) mit lokaler Signatur zurück,469 in deren „Vorbericht“ diese Mode einschlägig charakterisiert wurde. „Wir fangen in unsern Hauptstädten an, artige Gesellschaften zu halten. Wir leben mit mehreren Leuten gesellig, als blos mit unserer Familie“, hieß es hier: „Und was ist bey diesen Gelegenheiten natürlicher, als daß man singt?“470 Aus der Zusammensetzung dieser Runden leiteten sich auch die Ansprüche ab, denen die dort vorgetragenen Stücke genügen sollten: Sie sollen artig, fein und naiv seyn: Nicht so poetisch, daß die schöne Sängerin sie nicht verstehen kann, auch nicht so leicht und fliessend, daß sie kein witziger Kopf lesen mag. Sie müssen dem Trinker mehr gefallen, als dem Säuffer, und die Keuschen müssen sie lieber singen als die Spröden.471

Die erwünschte Funktion von geselligen Liedern bestand also darin, auf eine sittlich angemessene Weise die Beziehungen zwischen beiden Geschlechtern jenseits von Ehe und Familie zu befördern, die sich als Teil einer neuen, spezifisch urbanen Lebensform herausbildeten. In Berlin schien Ramler damit einen besonderen Nerv zu treffen, stieg doch die Kurve der Liedpublikationen in den Jahren zwischen 1753 und 1768 steil zu einer „Flut“ von schätzungsweise „600 bis

468 Verweyen, Emanzipation der Sinnlichkeit im Rokoko?, S. 301. 469 Vgl. Gudrun Busch, Karl Wilhelm Ramler als Liedersammler. Die Lieder der Deutschen (1766) und die Lieder der Deutschen mit Melodien (1767–1768). In: Urbanität als Aufklärung. Karl Wilhelm Ramler und die Kultur des 18. Jahrhunderts, hg. von Laurenz Lütteken, Ute Pott und Carsten Zelle, Göttingen 2003, S. 225–260, hier: S. 227. 470 [Karl Wilhelm Ramler, Christian Gottfried Krause,] Vorbericht. In: [Diess.,] Oden mit Melodien. Erster Theil, Berlin [1753], unpag. Der Text des „Vorberichts“ geht auf Ramler zurück; dabei orientierte der Autor sich eng an Formulierungen eines Briefs, den Krause am 19. Dezember 1752 an Gleim gesandt hatte (rekonstruiert von Bernhard Engelke, Neues zur Geschichte der Berliner Liederschule. In: Riemann-Festschrift: Gesammelte Studien. Hugo Riemann zum 60. Geburtstage überreicht v. Freunden und Schülern, hg. von Carl Mennicke. Unveränderter Nachdruck der Ausgabe von 1909, Tutzing 1965, S. 456–472, hier: S. 467–469). 471 [Ramler, Krause,] Vorbericht. In: [Diess.,] Oden mit Melodien, unpag.

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1000 Einzelkompositionen“472 an. In einer erhellenden Studie hat Ulrich Leisinger dafür plädiert, diese Liedbegeisterung in ihrem dezidiert regionalen Kontext zu betrachten, aus dem zugleich die Einsatzpunkte für eine Verzweigung ins Politische deutlich werden. Grundsätzlich nämlich, so Leisinger, sei die Blüte der Berliner Liedkultur als ein bürgerlicher Reflex auf die Aufwertung der Musik zu verstehen, die Friedrich II. in Abgrenzung zu seinem sittenstrengen calvinistischen Vater vornahm.473 So hatte bereits Friedrich Nicolai die Aufklärung in Berlin in seinen Briefen über den itzigen Zustand der schönen Wissenschaften in Deutschland (1755) als den aktuellen „Sammelplaz der Musik“474 gepriesen. „Der Held, gleich groß in Fried und Kriegen, / Macht hier, nach Lorberreichen Zügen, / Sich von Regierungssorgen los“, zitierte er programmatisch aus der Ode „Die Musik“ (1751) des Mindener Juristen Florens Arnold Consbruch,475 der sich über Friedrichs eigene musikalische Ambitionen ganz entzückt zeigte: Hier müßt ihr Ihn nur einmal hören, Ihr, die ihr niemals Reize fühlt, Wann Er in Grauns erlesnen Chören, Mit Meistern um den Vorzug spielt. Hier zwingt die Anmuth seiner Flöten, Den größten Künstlern ein Erröthen, Und iedem Herz und Beifall ab[.]476

Eines ihrer Zentren besaß diese lokale Musikkultur in dem 1742 eröffneten Opernhaus, das in Consbruchs Gedicht über den Hofkapellmeister und Komponisten

472 Ulrich Leisinger, Die Ode in der poetischen Theorie und in der musikalischen Praxis. In: Musik und Ästhetik im Berlin Moses Mendelssohns, hg. von Anselm Gerhard, Tübingen 1999, S. 187–216, hier: S. 189. Die Spannbreite dieser Schätzung kam laut Leisinger dadurch zustande, dass neben den 24 erfassten Berliner Liedsammlungen von vielen weiteren Publikationsformen auszugehen ist. Eine systematische Bibliographie der Lieder, die während der Berliner Liedermode in Einzeldrucken und Zeitschriften erschienen, existiere bislang nicht. 473 Leisinger, Die Ode in der poetischen Theorie und in der musikalischen Praxis, S. 187. 474 [Nicolai,] Briefe über den itzigen Zustand der schönen Wissenschaften in Deutschland, 8. Brief, S. 85. 475 Zu Consbruch vgl. Rolf Straubel, Biographisches Handbuch der preußischen Verwaltungsund Justizbeamten 1740–1806/15, 2 Bde., Bd. 1: Biographien A–L, München 2009, S. 179. 476 Zitiert nach [Nicolai,] Briefe über den itzigen Zustand der schönen Wissenschaften in Deutschland, 3. Brief, S. 26 f. Zuvor mit leicht abweichender Orthographie und Strophengliederung erschienen in E. C. [= Florens Arnold Consbruch,] Die Musik. Eine Ode. In: Ders., Versuche in Westphälischen Gedichten, Frankfurt 1751, S. 23–31, hier: S. 29. Dieses Lob enthielt zugleich eine Stoßrichtung gegen Gottsched, der die Oper als unnatürlich verabscheute.  

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der Libretti Friedrichs II., Carl Heinrich Graun, aufgerufen wird.477 Daneben entwickelte sich zusehends eine zweite Aufführungsform von musikalischen Stücken in den privaten Stuben, die ihre höchste Relevanz aus praktischen Gründen während des Siebenjährigen Kriegs entfaltete. Denn solange nicht nur der König im Feld weilte, sondern auch der Großteil seines Hofstaats nach Magdeburg evakuiert war,478 blieben sowohl die Oper als auch das Hoftheater in Berlin zeitweilig geschlossen.479 Dementsprechend interpretiert Leisinger die ‚Berliner Liedermode‘ mit ihrer Klimax zwischen 1756 und 1760 überzeugend als einen „Zeitvertreib in unruhigen Zeiten“480. Dieser Zusammenhang zwischen Lied- und Kriegsbegeisterung spiegelt sich nicht zuletzt in der eingangs beobachteten Differenzierung der Themen wider. Nun bekundeten die selbstbewussten bürgerlichen Kreise der Metropole ihre Zusammengehörigkeit nicht mehr allein dadurch, dass sie die Kultur einer heiteren, eleganten Geselligkeit zum lyrischen „Sound“481 der Freundschafts-, Liebes- und Weinpoesie von Gleim, Uz, Götz, Kleist, den Bremer Beiträgern und Hagedorn zelebrierten.482 Der historische Konnex zwischen dem Siebenjährigem Krieg und der Liederflut veranschaulicht, warum dieses musikalisch affirmierte „Gemeinschaftsgefühl“483 im aufgeklärten Berlin sich seit 1756 ausgerechnet um eine patriotische Dimension erweiterte.484

477 Friedrich II. verfasste zum Beispiel eigene Libretti für die Opern Sémiramis (1754), Montezuma (1755) und Mérope (1755) (vgl. dazu Babette Kaiserkern, Spiegelungen – Friedrich II., Montezuma (1755) und Voltaire. In: Friedrich der Große als Leser, hg. von Brunhilde Wehinger und Günther Lottes, Berlin 2012, S. 185–201, hier: S. 186 f.). 478 Vgl. Guido Heinrich, Leibhaftige Ästhetisierung und mediale Endverwertung. Die Rezeption der Kriegslyrik von Anna Louisa Karsch in Berlin, Halberstadt und Magdeburg. In: „Krieg ist mein Lied“. Der Siebenjährige Krieg in den zeitgenössischen Medien, hg. von Wolfgang Adam und Holger Dainat, Göttingen 2007, S. 137–176, hier: S. 147 f. 479 Leisinger, Die Ode in der poetischen Theorie und in der musikalischen Praxis, S. 194; S. 205; für das Theater vgl. analog Claudia Terne, Friedrich II. und das Berliner Hoftheater. In: Friedrich der Große als Leser, hg. von Brunhilde Wehinger und Günther Lottes, Berlin 2012, S. 202–226, hier: S. 209; S. 214. 480 Leisinger, Die Ode in der poetischen Theorie und in der musikalischen Praxis, S. 205. 481 Martus, Aufklärung, S. 531. 482 Dies sind die Autoren, deren Gedichte in überarbeiteter und anonymisierter Form in Ramlers Oden mit Melodien eingingen (Busch, Karl Wilhelm Ramler als Liedersammler, S. 228). Vgl. dort auch den Anhang, in dem Busch die Autoren und Komponisten der anonym abgedruckten Lieder auflistet (S. 258 f.). 483 Leisinger, Die Ode in der poetischen Theorie und in der musikalischen Praxis, S. 205. 484 Auf die Präsenz der Kriegslyrik in der musikalischen Kultur der Berliner Aufklärung macht Leisinger ausdrücklich aufmerksam (Leisinger, Die Ode in der poetischen Theorie und in der musikalischen Praxis, S. 195; S. 205).  





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Dieser Übergang wurde durch die poetische Faktur der Kriegslieder erleichtert, knüpften diese doch in ihren Sound-Qualitäten konsequent an die Anakreontik an. Das galt nicht nur für die einfache Sprache von Gleims Grenadier, die Lessing mit genau demjenigen Stilmerkmal versah, das die Zeitgenossen bis dahin idealtypisch in den Scherzhaften Liedern realisiert gesehen hatten:485 Die Lieder des einfachen Soldaten seien schön, weil sie durchgängig „naiv“486 seien. Auch die Melodien der Preussischen Kriegslieder, die für die Ausgabe von 1758 „auf Kupfer gestochen und in den Text eingefügt“487 wurden, stellten einen Berührungspunkt zwischen den Gattungen her. Ebenso wie die Begleitstimmen, die fünf Jahre zuvor zu den Oden mit Melodien erschienen waren,488 stammten sie aus der Feder von Christian Gottfried Krause – einem Anwalt und Komponisten aus dem Zirkel des Donnerstagsklubs, der seit dem Ende der 1740er Jahre mit seinem Berliner Nachbarn489 Ramler und mit Gleim an den Grundlagen für einen „deutschen Chanson[ ]“490 arbeitete. Damit deutet sich ein intermediales Projekt an, das sich nicht zuletzt in gemeinsamen theoretischen Überlegungen niederschlug. So griff das Freundespaar Gleim und Ramler dem Komponisten konzeptionell bei einer Schrift Von der Musikalischen Poesie (1752) unter die Arme, die sich systematisch auf die Suche nach den Bedingungen der Sangbarkeit begab. Diese Abhandlung ist bisher wenig beachtet worden; ein genauerer Blick darauf verspricht jedoch neue Perspektiven auf das Nebeneinander von Liebe und Krieg in der preußischen Lyrik um 1750 zu eröffnen. So soll im Folgenden der Frage nachgegangen werden, welche Funktion beiden Sujets bei dem Versuch zukam, eine gesellige, liedhafte Dichtung zu entwerfen, die genuin von der musikalischen Kultur in Berlin her gedacht war.

485 Perels, Studien zur Aufnahme und Kritik der Rokokolyrik zwischen 1740 und 1760, S. 197. Dabei erinnert Perels nicht zuletzt daran, dass Gleim sich dieses Prädikat mit dem zweiten Band seines Versuchs in Scherzhaften Liedern selbst zueigen machte, indem er ihm das folgende Voltaire-Zitat als Motto voranstellte: „Ah, que j’aime ces vers badins, / Ces riens naifs & pleins de grace. Voltaire“ ([Gleim,] Versuch in Scherzhaften Liedern. Zweeter Theil, Titelblatt; vgl. Perels, Studien zur Aufnahme und Kritik der Rokokolyrik zwischen 1740 und 1760, S. 195). 486 [Lessing,] Vorbericht. In: [Gleim,] Preussische Kriegslieder, unpag. 487 Friedlaender, Das deutsche Lied im 18. Jahrhundert, Bd. 1, S. 157. 488 Leisinger, Die Ode in der poetischen Theorie und in der musikalischen Praxis, S. 191. 489 „Hier ist eine gantze Straße voll Freunde“, berichtete Ramler 1750 nach Halberstadt: „Langemack, Sulzer, Bergius, Ramler, Krause wohnen alle in einer graden Linie.“ (Ramler an Gleim, [Mitte Mai 1750]. In: Briefwechsel zwischen Gleim und Ramler, Bd. 1, S. 227–330, hier: S. 227). 490 Busch, Karl Wilhelm Ramler als Liedersammler, S. 227.

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3.2.2 Krieg und Liebe im Berliner Lied (Gleim, Krause) Wie die Anakreontik und die Kriegsdichtung aus Berlin, so war auch die Schrift Von der Musikalischen Poesie das Ergebnis einer engen Zusammenarbeit zwischen Dichtern und Musikern. „Es ist gewissermaßen ihr eigen Werk“, formulierte Krause in einem anstelle einer Vorrede platzierten „Schreiben an Herrn G.“, der sich ohne großen Aufwand als Gleim entschlüsseln lässt.491„Sie haben mir den ersten Vorschlag dazu gethan, und auch währender Arbeit, durch Ihre Urtheile, manche Wahrheit besser einsehen und bestimmen helfen.“492 Von der gemeinsamen Anstrengung zeugt auch ein Brief, den Ramler im Frühjahr 1748 an Gleim schickte. „Herr Krause ist jetzt in der größten Hitze mit seiner musicalischen Poesie“, meldete er, ohne aber schon mit der aktuellen Gliederung zufrieden zu sein. „Wir wollen zu seinem besten zusammentreten und ihm die Linien ziehen, worauf er sein Werk bauen soll. […] Es wäre gut wenn er ein Meisterstück machte, wie du-Bos, von der Mahlerey und Poesie, es ihm vorgethan hat.“493 Fast beiläufig deutet sich durch diesen Verweis auf Jean-Baptiste Dubos an, in welche Umstellung sich das rasch vergessene, zuletzt vom jungen Herder emphatisch begrüßte Traktat Von der Musikalischen Poesie einordnete.494 Während dessen Réflexions critiques sur la Poësie et sur la Peinture (1719) paradigmatisch für die – oft agonal ausgelegte, aber doch allgemein akzeptierte – Verschwisterung von Malerei und Dichtung unter der Devise des ut pictura poiesis in der aufgeklärten Kunsttheorie gestanden hatten,495 richtete sich das Interesse seit der Mitte des 18. Jahrhunderts mehr und mehr auch auf das Verhältnis von Musik und Dichtung.496 Spannt man einen weiten literaturgeschichtlichen Bogen, der 491 Für die Zuordnung der Widmung vgl. Rainer Bayreuther, Ästhetische Wahrnehmung in Christian Gottfried Krauses Von der musikalischen Poesie. In: Anakreontische Aufklärung, hg. von Manfred Beetz und Hans-Joachim Kertscher, Tübingen 2005, S. 275–286, hier: S. 276. 492 [Christian Gottfried Krause,] Schreiben an Herrn G. In: Von der Musikalischen Poesie, Berlin 1752, unpag. 493 Ramler an Gleim, 3. Februar 1748. In: Briefwechsel zwischen Gleim und Ramler, Bd. 1, S. 96– 98, hier: S. 97). 494 Für einen kurzen Abriss der Rezeption vgl. Bayreuther, Ästhetische Wahrnehmung in Christian Gottfried Krauses Von der musikalischen Poesie, S. 275. Hier findet sich auch ein Briefzitat, mit dem Herder im Herbst 1766 gegenüber Johann Georg Scheffner seine Verehrung für die Schrift ausdrückte. „Und wer hat Poesie u. Musik zusammengehalten, mit einem philosophischen Kopf?“, fragte er emphatisch: „Keiner, als Krause […].“ 495 Vgl. Rémy G. Saisselin, Ut Pictura Poiesis: DuBos to Diderot. In: The Journal of Aesthetics and Art Criticism 20:2 (1961), S. 144–156, hier: S. 147–150. 496 Vgl. Paul F. Marks, The Rhetorical Element in Musical Sturm und Drang. Christian Gottfried Krause’s Von der Musikalischen Poesie. In: International Review of the Aesthetics and Sociology of Music 2:1 (1971), S. 49–64, hier: S. 53 f.  

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bis in die 1770er Jahre reicht, dann läutete die Differenzierung der Schwesterkünste bedeutende Umstellungen in der deutschen Literaturgeschichte ein. Retrospektiv betrachtet, begleitete dieser Prozess die Substitution einer Lehre der Nachahmung (ideale Dichtung ist ein Bild der schönen Natur) durch eine des Ausdrucks (ideale Dichtung ist die schöne Natur), die mit einer theoretischen Engführung von Musikalität und Empfindung einherging.497 Gattungspoetisch schlug sich diese Entwicklung in einer Neuordnung der Lyrica nieder, in deren Merkmalskatalog traditionell auch die Sangbarkeit enthalten war – bewahrte doch der Name des bislang losen Genreverbunds die etymologische Verbindung zu einem Instrument, zur antiken Lyra. Der Prozess, in dem die Affinität zur Musik von einer peripheren, hauptsächlich für die griechisch-römische Vorgeschichte von Ode, Hymne oder Dithyrambus relevanten Eigenschaft498 zum zentralen Kriterium der lyrischen Poesie aufstieg, lässt sich an einer konzeptionellen Verzweigung verfolgen. So begann die Ode, wie Hans-Henrik Krummacher in mehreren Studien nachgezeichnet hat, seit etwa 1750 ihren Status als Oberbegriff für alle nur theoretisch „als sangbar gedachte[n] Gedichte“499 einzubüßen, um in Konkurrenz zu einem neuen, konstitutiv vom Singen her gedachten Genre zu geraten. Im Verhältnis von Lied und Ode, die bisher als Synonyme behandelt worden waren (,Lied‘ galt seit den deutschen Barockpoetiken als volkssprachliche Entsprechung des griechischen Wortes oda),500 kam es in den Jahrzehnten um 1800 zu einer folgenreichen Differenzierung: Die Ode wird entschiedener noch als bisher zu einer lyrischen Dichtart erhabenen Charakters und immer enger gebunden an den Gebrauch der antiken Stophenformen, das Lied, immer mehr als schlichte, im eigentlichen Sinne sangbare, schon durch seine Sprache musikalische Form verstanden, entwickelt sich geradezu zum Gegenpol der Ode.501

497 So die Kernthese des nach wie vor erhellenden Aufsatzes von Anna Tumarkin, Die Überwindung der Mimesislehre in der Kunsttheorie des XVIII. Jahrhunderts. Zur Vorgeschichte der Romantik. In: Festgabe für Samuel Singer. Überreicht zum 12. Juli 1930 von Freunden und Schülern, hg. von Harry Maync, Tübingen 1930, S. 40–55. 498 Vgl. Hans-Henrik Krummacher, Principes Lyricorum. Pindar- und Horazkommentare seit dem Humanismus als Quelle der neuzeitlichen Lyriktheorie. In: Ders., Lyra. Studien zur Theorie und Geschichte der Lyrik vom 16. bis zum 19. Jahrhundert, Berlin, Boston 2013, S. 3–76, hier: S. 23–27. 499 Krummacher, Poetik und Enzyklopädie, S. 259. Diesen Stellenwert hatte die Ode in der humanistischen und in der barocken Poetik stabil besessen (Krummacher, Poetik und Enzyklopädie, S. 264–270), wie der Autor auch an anderer Stelle zeigt (Krummacher, Odentheorie und Geschichte der Lyrik im 18. Jahrhundert, S. 83–93). 500 Kohl, Ode. In: Handbuch der literarischen Gattungen, S. 550. 501 Krummacher, Poetik und Enzyklopädie, S. 260. Vgl. analog Scherpe, Gattungspoetik im 18. Jahrhundert, S. 110: „Bei näherem Hinsehen zeichnet sich eine Zweiteilung in einen hohen

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Auf lange Sicht nahm diese Auseinanderentwicklung einen entscheidenden Einfluss auf die deutsche Ausgestaltung der Gattungstrias, die als theoretisches Angebot seit Batteux’ Cours de belles lettres vorlag (in der Neuausgabe von 1764; fünf Jahre später übersetzt von Ramler)502. Denn wenn es darum ging, neben den aristotelisch verbrieften Großgattungen Epik und Dramatik eine lyrische zu etablieren, bei der es auf die Nachahmung von Empfindungen statt auf die von Handlungen ankam,503 stützten sich die Autoren bevorzugt auf das neuere Modell: Zum „Inbegriff“504 der Lyrik im modernen Sinn entwickelte sich nicht die Ode, die man mit der Zeit immer mehr auf ein hohes, komplexes und deswegen nach einer konzentrierten Lektüre rufendes Gedicht festlegte. Entscheidende Impulse für eine Dichtung, die Raum für eine spontane, mündliche Aussprache der Gefühle zu geben versprach, lieferte vielmehr das einfache Lied.505 In der frühen Phase dieser literaturgeschichtlichen Dynamiken, in die sich das Projekt von Gleim, Ramler und Krause einordnete, begann sich eine solche Alternative freilich erst langsam zu formieren. Schon der Umgang mit den Gattungsbegriffen schwankte bei diesen Autoren in der Latenzzeit der 1740er und 1750er Jahre auf charakteristische Weise zwischen Ode, Lied und diversen Kombinationen hin und her, um erst nach dem Siebenjährigen Krieg zum Stillstand zu kommen:506 Als Ramler und Krause 1767/68 den Nachfolger der Oden mit Melodien vorlegten, versahen sie die stark erweiterte Sammlung sangbarer Gedichte mit der selbstbewussten Überschrift Lieder der Deutschen.507 In der Zeit des Siebenjährigen Kriegs wies dagegen vorerst nur die theoretische und praktische Konjunktur der liedhaften Dichtung darauf hin, dass sich literarische und musikalische Liedkonzepte anzunähern begannen.

und einen niederen Bereich lyrischer Dichtung ab, in Ode und Lied. Die bisher gültige Gleichsetzung der Ode mit der gesamten Gattung lyrische Poesie wird unter dem Einfluß neuer liedhafter Ausdrucksformen, die nicht mehr allein nach dem Muster der antikisierenden Oden erfaßt werden können, aufgegeben.“ 502 Scherpe, Gattungspoetik im 18. Jahrhundert, S. 78. Ramler hatte sich seit 1756 als zuverlässiger Batteux-Übersetzer etabliert; bis 1802 übersetzte er in schöner Regelmäßigkeit die neuesten Auflagen des Cours de belles lettres. Vgl. Lütteken, Verzeichnis der zeitgenössischen Drucke Karl Wilhelm Ramlers, S. 487–493. 503 Vgl. Ludwig Völker, Einleitung. In: Lyriktheorie. Texte vom Barock bis zur Gegenwart, hg. von dems., Stuttgart 2000, S. VII–XXV, hier: S. XVI. 504 Krummacher, Odentheorie und Geschichte der Lyrik im 18. Jahrhundert, S. 119. 505 Krummacher, Poetik und Enzyklopädie, S. 260. 506 Leisinger, Die Ode in der poetischen Theorie und in der musikalischen Praxis, S. 191–193. 507 [Karl Wilhelm Ramler, Christian Gottfried Krause,] Lieder der Deutschen. Mit Melodien, 4 Bde., Berlin 1767/68; zuvor ohne Melodien als [Karl Wilhelm Ramler,] Lieder der Deutschen, Berlin 1766.

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Diese Konvergenzen sind bislang nur von einer der zuständigen Fachrichtungen näher betrachtet worden. Anders als in der Germanistik ist die „Ästhetik des Berliner Liedes“508 in der Musikgeschichte seit Langem ein Thema, da die sogenannte ‚Erste Berliner Liederschule‘ den Grundstein für ein deutsches Kunstlied legte, wie es in der Romantik weiterverfolgt wurde.509 Aus der Perspektive der Musikwissenschaft markiert Krauses Schrift Von der Musikalischen Poesie mithin the beginning of a new era for the lied, and the foundation of the first Berlin lied school. In this work Krause advocated a return to a folklike simplicity, in contrast to the instrumentorientated style of the Leipzig lied school led by Sperontes. He […] called for unornamented lieder with simple accompaniments which could be be eliminated without destroying the continuity of the vocal line.510

Disziplinär bedingt, hat der analytische Schwerpunkt dabei bisher auf dem Verhältnis von Theorie und Komposition des chanson allemand gelegen, das sich bei den beiden wichtigsten beteiligten Musikern Krause und Friedrich Wilhelm Marpurg511 abzeichnete. Hier soll es darum gehen, nun auch nach den literaturhistorischen Signifikanzen des frühen Berliner Lieds zu fragen, um den Blick für die konzeptionelle Funktion seiner beiden dominanten Sujets zu schärfen: Krieg und Liebe. Denn dass sich Amouröses und Kriegerisches in besonderer Weise für eine liedhafte Poesie eignen könnten, schien im theoretischen Diskurs schon einige Jahre vor dem Siebenjährigen Krieg mit den Preussischen Kriegsliedern von Gleim und Krause festzustehen. Im 5. Hauptstück der Schrift Von der Musikalischen Poesie, das „Von der Beschaffenheit und Einrichtung der Singstücke, und von ihren Theilen überhaupt“ handelt, heißt es: Da die Musik hauptsächlich mit Empfindungen, Rührungen und Affecten zu thun hat, so müssen auch alle Oden, die in die Musik gesezt werden sollen, rührend seyn; und da nicht zu jedweder Strophe eine besondere Melodie gesezt wird, so sind nur diejenigen Lieder

508 Gotthold Frotscher, Die Ästhetik des Berliner Liedes in ihren Hauptproblemen. In: Zeitschrift für Musikwissenschaft 6 (1923/24), S. 431–448. 509 John William Smeed, German song and its poetry 1740–1900, Beckenham 1987 (hier zu den „early songs“ aus Berlin S. 1–19); Hans-Günter Ottenberg, Die 1. Berliner Liederschule im Urteil der zeitgenössischen Presse. In: Studien zum deutschen weltlichen Kunstlied des 17. und 18. Jahrhunderts, hg. von Gudrun Busch und Anthony Harper, Amsterdam, Atlanta 1992, S. 247–268; MiYoung Kim, Das Ideal der Einfachheit im Lied von der Berliner Liederschule bis zu Brahms, Kassel 1995, S. 19–34. 510 Raymond A. Barr, Krause, Christian Gottfried. In: The New Grove Dictionary of Music and Musicians, hg. von Stanley Sadie, 20 Bde., Bd. 10, London 1980, S. 244. 511 Leisinger, Die Ode in der poetischen Theorie und in der musikalischen Praxis, S. 187 f.  

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musikalisch, welche nicht mehr als eine Gemüthsbewegung abschildern. […] Was ihre Materie betrift, so lasse man darinn das Lob der Helden und der Sieger, den Wein und die Liebe herrschen. Man besinge, wie Gresset sagt, die Triumphe des Bacchus und die Grabmäler seiner Söhne.512

Vom Wortlaut her zu urteilen, setzte Krause hier bei einer gängigen Lehre der Ode an, nämlich dem Kapitel „Von Oden, oder Liedern“ aus Gottscheds Versuch einer Critischen Dichtkunst.513 Darin hatte der Leipziger Poetiker die horazische Trias der Odenthemen – Götter, Helden und die anakreontische Symbiose aus Wein und Liebe – zu einer Alternative verkürzt, in der er gleichzeitig mit allen nichtantiken Ausprägungen der Ode auch die ihm ungeliebte religiöse Poesie beiseitefallen ließ. „Doch wenn man die Natur der Sachen ansieht“, meinte der rationalistische Dichtungslehrer, „so ist es wohl am besten, wenn man sich von der ersten Erfindung so wenig entfernt als möglich ist, und das Lob der Helden und Sieger, den Wein und die Liebe darinn herrschen läßt.“514 Diese Themenwahl erhielt im argumentativen Gefüge der Musikalischen Poesie indes einen anderen Akzent, der sie um einen Schritt von der traditionellen Poetik der Ode in die Richtung des Liedes verschob. Offensichtlich führte Krause die Anakreontik und die Kriegsdichtung jetzt als Paradigmen für den „Konnex zwischen musikalischer Affektation und ästhetischem ‚Empfinden‘“515 ein, den

512 [Krause,] Von der Musikalischen Poesie, S. 114 f. Krause zitierte hier indirekt aus dem Discours sur l’harmonie (1737) des französischen Lyrikers und Dramatikers Jean-Baptiste-Louis Gresset, der 1747 auf den Ruf Friedrichs II. in die Berliner Akademie der Wissenschaften aufgenommen worden war (Gerhard Splitt, Zwischen Einverständnis und Kritik. Metastasio in der Opernpoetik Christian Gottfried Krauses. In: Metastasio im Deutschland der Aufklärung: Bericht über das Symposion Potsdam 1999, hg. von Laurenz Lütteken und dems., Zürich 2002, S. 157–182, hier: S. 171, Anm. 53). 513 In einer langen Liste verarbeiteter Schriften, die Krause gegenüber Gleim aufzählte, erhielt auch Gottsched seinen Platz. „Ich habe alles gelesen und durchgedacht, was ich über die musikalische Poesie gekannt habe. / Ihre Bodmer und Breitingerischen Werke, die ich ehestens wiederschicken will. Lami L’art de parler. Die critische Dichtkunst. Matthesons, Mitzlers Schriften. Die Abhandlung in den Memoires de l’academie de belles lettres Tome XI. Es ist die wo ich die Stelle draus haben wollte. Horatii Art poeti mit Daciers weitläufigem und mir nützlich gewesenem Commentair. Le traite de l’opinion; Le Spectacle de la Nature; Gresit, und ich weiß nicht mehr was alles. Ich bin durch diese und jene Stelle in meinen Meynungen bestärket worden. Nichts neues aber habe ich gefunden.“ Nachlesen lässt sich Krauses Briefwechsel in der Transkription von Darrell M. Berg, The Correspondence of Christian Gottfried Krause. A Music Lover in the Age of Sensibility, Ashgate 2009. Vgl. darin für den zitierten Brief von Christian Gottfried Krause an Johann Wilhelm Ludwig Gleim, 3. August 1748 S. 68–71, hier: S. 69–71. 514 GAW, Bd. 6/2, S. 12. 515 Bayreuther, Ästhetische Wahrnehmung in Christian Gottfried Krauses Von der musikalischen Poesie, S. 275.  

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Rainer Bayreuther als das systematische Zentrum der Abhandlung herausgearbeitet hat. So stelle der Komponist die musikalische Affektenlehre, die im 17. und 18. Jahrhundert die klanglichen Mittel für die Nachahmung der menschlichen Gemütsbewegungen geregelt habe,516 konsequent auf eine Wirkungsästhetik im Geiste von Alexander Gottlieb Baumgarten um,517 bei dem auch er von 1741 bis 1746 in Frankfurt an der Oder studiert hatte.518 Der ästhetische Ansatz der Musikalischen Poesie, durch den Krause die philosophische Theorie des Gedichts auf die Musik übertrug, ist den Zeitgenossen keineswegs entgangen, wie sich an einer weiteren Bemerkung Friedrich Nicolais zur Berliner Musikszene ablesen lässt. Man wisse seit Kurzem, referierte der Verleger aus Krauses Schrift, indem er zugleich die einschlägige Terminologie aus den Meditationes ausbreitete, daß die Musik, nach der philosophischen Sprache zu reden, nicht deutliche, sondern nur klare Vorstellungen verursache, daß sie unmittelbar auf die untere Selenkräfte [sic], und nur mittelbar auf die obern Kräfte wirke; aber indem man dieses zugiebt, so öffnet man der Musik das ganze Feld der Gemüthsbewegungen dieser Seile, wodurch alle menschliche Handlungen regieret werden […]. Es ist nichts destoweniger ausgemacht, daß in gewissen Fällen mehrere vereinte Künste vortreffliche Wirkungen herfürbringen können, und ein weiser Kunstrichter verbindet sie auf die vortheilhafteste Art, an statt sie zu trennen: So machen es Batteux, Pope und der Verf. der schönen Abhandlung von der musikalischen Poesie […].519

Ein „sinnlich vollkommenes Werk“,520 in dem sich die beiden Künste berührten, hing bei Krause nun zentral von einer ästhetischen Transformation der Affektenlehre ab. Für den Komponisten stand außer Frage, dass die Musik ihre Domäne im Ausdruck von Affekten habe.521 Anders als die dominierenden Musiktheoreti-

516 Vgl. Smeed, German song and its poetry 1740–1900, S. 5–8. 517 Bayreuther, Ästhetische Wahrnehmung in Christian Gottfried Krauses Von der musikalischen Poesie, S. 278. 518 Zu diesem wichtigen Punkt in Krauses Bildungsbiographie vgl. Joseph Beaujean, Christian Gottfried Krause: Sein Leben und seine Persönlichkeit im Verhältnis zu den musikalischen Problemen des 18. Jahrhunderts als Ästhetiker und Musiker, Dillingen 1930, S. 9. 519 [Nicolai,] Briefe über den itzigen Zustand der schönen Wissenschaften in Deutschland, 3. Brief, S. 27. Vgl. [Krause,] Von der Musikalischen Poesie, S. 25–45, v. a. S. 27–30. 520 [Krause,] Vorrede. In: Von der Musikalischen Poesie, unpag. 521 Zu den musiktheoretischen Hintergründen der Affektenlehre, für die Descartes und Spinoza eine bedeutende Rolle spielten, und ihren Spuren in der Musikalischen Poesie vgl. Beaujean, Christian Gottfried Krause, S. 35–37. Recht gibt Krause der Literaturtheoretiker Dubos, den er nachweislich rezipierte. So heißt es in den Réflexions critiques: „So wie der Mahler die Züge und Farben der Natur nachahmt, so ahmt der Musikus die Töne, die Accente, die Seufzer, die  

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ker der Zeit, allen voran Johann Mattheson, ging er dabei jedoch nicht von einem fein aufgeschlüsselten Katalog von Empfindungen aus, die sich gezielt über bestimmte, nach einer rhetorischen Logik organisierte522 Klänge und Rhythmen imitieren lassen sollten.523 Stattdessen hielt er es mit dem dualistischen, sehr viel allgemeineren Affektbegriff von Baumgarten, auf dessen Relevanz für die preußischen Dichter hier schon hingewiesen worden ist (Kap. III.1.1). Was die Musik auszudrücken vermöge, seien demnach „Lust oder Unlust“ beziehungsweise „eine Begierde oder einen Abscheu“524 vor spezifischen Dingen, die Krause in der Folge zu einem Spektrum von „affektive[n] Grunddispositionen“525 oder „Grundaffekten“526 auffächerte. „Nun sind aber die Schönheiten der Tonkunst, und die Affecten, die sich darinn am besten ausdrücken lassen, hauptsächlich in den edlen Empfindungen gegründet, welche die Natur in uns geleget hat“, formulierte der Autor: „Liebe, Güte, Dankbarkeit, Wohlgefallen an Uebereinstimmungen u. d. g.“527 Auf diese basalen Empfindungen, so seine Folgerung, habe sich eine musikalische Poesie zu konzentrieren, um sowohl ästhetisch als auch moralisch den größten Effekt zu erzielen.528 „[J]e natürlicher uns eine Neigung ist, Gemüthsbeschaffenheit und Leidenschaft ist“, schärfte Krause den Dichtern ein, „je musikalischer ist sie, und je leichter und deutlicher läßt sie sich

Brechungen der Stimme, mit einem Worte, jedweden Laut nach, vermittelst dessen die Natur selbst ihre Empfindungen und Leidenschaften ausdrückt.“ (Jean-Baptiste Dubos, Kritische Betrachtungen über die Poesie und die Mahlerey, aus dem Französischen des Abtes Dü Bos, Eines der Vierziger und beständigen Secretärs der französischen Akademie, [übersetzt von Gottfried Benedikt Funck], 2 Bde., Kopenhagen 1760/61, S. 413). 522 Marks, The Rhetorical Element in Musical Sturm und Drang, S. 55. 523 Vgl. Beaujean, Christian Gottfried Krause, S. 38. Frotscher verweist in diesem Zusammenhang auf die „berüchtigten Affektentabellen“ der Frühen Neuzeit (Frotscher, Die Ästhetik des Berliner Liedes in ihren Hauptproblemen, S. 434). 524 [Krause,] Von der Musikalischen Poesie, S. 57 f. Aus einer späteren Stelle geht noch eindeutiger hervor, dass hier der Baumgarten’sche Affektbegriff zugrundelag. „Ein Affect“, erläuterte Krause, „entstehet aus der Empfindung und Vorstellung des Guten oder des Bösen, und ist nach Beschaffenheit der sinnlichen Begierde und des sinnlichen Abscheues mit allerhand gewaltsamen in dem Cörper und Geblüte veranlassten Veränderungen verknüpft.“ ([Krause,] Von der Musikalischen Poesie, S. 79). 525 Bayreuther, Ästhetische Wahrnehmung in Christian Gottfried Krauses Von der musikalischen Poesie, S. 283. 526 Beaujean, Christian Gottfried Krause, S. 37 527 [Krause,] Von der Musikalischen Poesie, S. 71. 528 Zum Aspekt der Tugendvermittlung, der bei Krause wie bei allen ästhetischen Projekten mitschwingt, vgl. Bayreuther, Ästhetische Wahrnehmung in Christian Gottfried Krauses Von der musikalischen Poesie, S. 282–284, v. a. S. 284: „Tugend und ästhetisches Wahrnehmen sind Kognitionen eines einfachen Grundgefühls, dessen epistemische Struktur sich ethisch wie ästhetisch gleichermaßen als cognitio clara et confusa beschreiben läßt.“  



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in Tönen ausdrücken.“529 Wenn Klang und Text in der Evokation der musikaffinen Grundaffekte zusammenwirken würden,530 dann könne sich das „Gemüth“ ihrer Empfindung kaum entziehen, weil es „auf allen Seiten, am empfindlichsten Orte, und so wohl mit seinen eigentlich natürlichen Waffen, ich meyne mit den Tönen, als auch mit den Worten angegriffen wird“531. Mit dieser militärischen Metapher stellte Krause seinen Lesern die intendierte Wirkung des Liedes ungemein plastisch vor Augen. Dieser Zug zum Allgemeinen, Natürlichen und Anthropologischen war es, den Krause nun besonders in den Liedthemen ‚Krieg‘ und ‚Liebe‘ zu finden meinte. Seine Theorie der Grundaffekte ging mit einer Naturalisierung der traditionellen Odensujets einher, die sich in der Musikalischen Poesie an einer aufwendigen Deutungsarbeit verfolgen lässt. Statt sich bei seiner Themenvorgabe auf die Autorität Horaz532 zu verlassen, wie es Gottsched in seinen zitierten Ausführungen zu Ode getan hatte, nahm Krause verteilt über die Schrift mehrfach Anlauf, um die Trias der Odenformen auf grundlegende Empfindungen des menschlichen Zusammenlebens zurückzuführen. Dabei gewann die Tatsache, dass die kanonischen Typen der Ode im Altertum entstanden waren, bei ihm entscheidend an argumentativem Gewicht. Inspiration für die Anthropologisierung der Gattung holte Krause sich mithin bei einem Text zur antiken Lyrik, der eng mit der deutschen Literaturgeschichte der liedhaften Poesie verknüpft war. „Bey Hagedorns Oden ist eine Abhandlung des de la Nauze von den Liedern der alten Griechen“, schrieb er während der Recherche an Gleim: Ich möchte gern den Anfang davon haben etwann 2 Seiten bis wo die Stelle aufhört, daß Plutarch gezeiget, die Liebe habe (der?) die Poesie und Musik u. sondl. die Lieder gelehret;

529 [Krause,] Von der Musikalischen Poesie, S. 101. 530 Vgl. Bayreuther, Ästhetische Wahrnehmung in Christian Gottfried Krauses Von der musikalischen Poesie, S. 285. 531 [Krause,] Von der Musikalischen Poesie, S. 81. Bei der Behauptung einer natürlichen, da universalen Sprache der Töne, stand erneut Dubos im Hintergrund. Wenn die Musik die unwillkürlichen Äußerungen der Empfindungen, etwa Seufzer, nachahme, habe sie „eine bewundernswürdige Kraft, uns zu rühren, weil sie Zeichen der Leidenschaften sind, welche die Natur, von der sie ihren Nachdruck erhalten, selbst dazu gemacht hat; da hingegen die buchstäblichen Töne blos willkührliche Zeichen sind, deren Bedeutung und Wert auf dem angenommenen Gebrauche der Menschen beruht, die sie nur in einigen Ländern gültig machen können“ (Dubos, Kritische Betrachtungen über die Poesie und die Mahlerey, S. 413) 532 Auch Krause führte die Stelle der horazischen Ars Poetica, in der die Odengenres aufgezählt werden, im direkten Zitat an. „Horaz redet von den Objecten der lyrischen Poesie folgendergestalt: Musa dedit fidibus Divos, pueroque Deorum, / Et pugilem victorem, & equum certamine primum, / Et juvenem curas & libera vina referre.“ ([Krause,] Von der Musikalischen Poesie, S. 60 f.).  

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ich möchte gern die eigentlichen französischen Worte haben. Deutsch habe ich sie schon. […] Bitte lassen sie dieses beides gütigst abschreiben […].533

Vermittelt durch die beiden „Mémoires sur les chansons de l’ançienne Grèce“ (1736) des Historikers Louis Jouard de la Nauze,534 die der von Gleim verehrte Friedrich von Hagedorn der zweiten Auflage seiner Oden und Lieder (1744; zuerst 1742) als Anhang beigegeben hatte, richtete Krause den Blick auf eine griechische Antike, die den Index der menschheitsgeschichtlichen Frühzeit trug. So gingen die darin ausgebreiteten Beobachtungen zum Sitz der Lieder im antiken Leben implizit von einem der „Mythen des Anfangs“ aus, die Hans-Robert Jauß im Diskurs der Aufklärung herausgestellt hat: von der Vorstellung, dass die Musik als Naturzustand der Sprache in einem (unterstellten) harmonischen Naturzustand der Gesellschaft am lebendigsten gewesen sei.535 Wie de la Nauze legte Krause Wert darauf, dass Lieder unabhängig von der Schrift536 bereits „in den allerältesten Zeiten“537 verbreitet gewesen seien. Und wie der Franzose entwarf er Situationen, in denen der Gesang „im Grunde der Natur“538 lag. Anders als sein Vorbild kam er auf diesem Weg jedoch verlässlich bei der Liebe und dem Krieg, bisweilen auch flankiert von der Religion, an. Dies geschah zum einen, indem Krause den lyrischen Kanon mit der Frühgeschichte der antiken Dichtung engführte. Es sei „gewiß, daß die Griechen anfangs alle ihre Verse recht eigentlich gesungen haben“, konstatierte er in einem Abriss „Von der ehemaligen und jetzigen Verbindung der Poesie mit der Tonkunst“: „Es waren nichts als Lieder, und die lyrische Poesie ist bey ihnen, so wie bey allen andern Nationen, die älteste gewesen.“539 Belegt wurde diese These dann an einer Paraphrase von Horaz’ Bericht über die Ursprünge der Dichtung, den Krause gegenüber der Ars Poetica wirkungsvoll modifizierte. So überging er

533 Krause an Gleim, 18. Juni 1748. In: Berg, The Correspondence of Christian Gottfried Krause, S. 65. 534 Louis Jouard de la Nauze, Premier Mémoire sur les chansons de l’ançienne Grèce. Second Mémoire sur les chansons de l’ançienne Grèce. In: Histoire de l’Académie Royale des Inscriptions et Belles Lettres, avec les Mémoires de Littérature tirez des Registres de cette Académie, depuis l’année M.DCCXXXI jusques et compris l’année M.DCCXXXIII, T. 9, Paris 1736, S. 320–359. 535 Vgl. Jauß, Mythen des Anfangs, S. 28–31. 536 [Louis Jouard de la Nauze,] Abhandlungen von den Liedern der alten Griechen. [Übersetzt von Johann Arnold Ebert]. In: [Friedrich von Hagedorn,] Sammlung Neuer Oden und Lieder. 2. Theil. Hamburg 1744, S. 1–40, hier: S. [3]; [Krause,] Von der Musikalischen Poesie, S. 8. 537 [Krause,] Von der Musikalischen Poesie, S. 1. 538 Vgl. [La Nauze,] Abhandlungen von den Liedern der alten Griechen. In: [Hagedorn,] Sammlung Neuer Oden und Lieder [1744], S. [4] sowie [Krause,] Von der Musikalischen Poesie, S. 71. 539 [Krause,] Von der Musikalischen Poesie, S. 5.

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die Namen der beiden ersten verbürgten Dichter der Antike, um ihre Epen (Homer) und Kriegsparänesen (Tyrtaios)540 allgemeiner als heroische Lieder zu bestimmen, auf die wenig später die anakreontischen gefolgt seien. Am Anfang der europäischen Poesie standen bei Krause damit genau die beiden Liedtypen, die er auch den Autoren des 18. Jahrhunderts ans Herz legte: Die mit der Musik vereinigten Gesänge des Orpheus und des Amphions, hatten unter den Griechen so viel Gutes gestiftet, daß in den nächstfolgenden Zeiten, die Poesie auch nur zu Lobgesängen der Helden und der Götter gebrauchet wurde. Es währete aber nicht lange, so fing dieses wollüstige Volk an, sich der Dichtkunst auch bey den Tänzen, und Festen, zu Scherz- Trink- und Liebes-Liedern, und überhaupt bey vielen andern Gelegenheiten zu bedienen.541

Zu einer anderen Ordnung traten die Sujets der Oden zusammen, als Krause diesen Prozess ein weiteres Mal an der Leitlinie der Grundaffekte darstellte, um die es ihm im Kern ging. In seinem Kapitel „Von den Empfindungen, Rührungen und Affecten, welche in der Musik vorgestellet werden“ brachte er dazu den „Spruch“ des Plutarch zur Geltung, der laut dem angeführten Schreiben an Gleim sein Interesse für die „Abhandlungen von den Liedern der alten Griechen“ bei Hagedorn geweckt hatte. „Die Liebe lehret uns die Musik und die Poesie“,542 hieß es dort. Diese These erweiterte sich bei dem Musiker zu einem kleinen eigenen Narrativ, das wie folgt lautete: Ein heiteres Gemüth, Zufriedenheit, Vergnügen, und die Begierde zu gefallen, lehrte die Menschen zu singen, und musikalische Instrumente erfinden. Besonders bemeisterte sich die Kraft der Liebe der Herzen; der Wein machte sie frölich, und man erfand Lieder zum Lobe des Bachus und zum Preise der Cythere. Die Töne gaben dem Lobe der Götter Pracht, und den verliebten Klagen Nachdruck und Ueberredung. Man sahe, daß sie Muth und Tapferkeit erweckten, Zorn und Traurigkeit dämpften, und Sanftmuth und Freundschaft einflößten.543

Die Grundaffekte, die den Menschen zum Gesang inspirieren sollten, konvergierten für Krause also in der Liebe: in demjenigen Affekt, den vor ihm bereits die Baumgarten-Schüler der Ersten wie der Zweiten Dichterschule facettenreich ausbuchstabiert hatten. Obwohl der Berliner Komponist konzeptionell von den Zen-

540 Vgl. Hor. ars 391–407: Horaz behandelte hier Orpheus, Amphion, Homer und Tyrtaios. 541 [Krause,] Von der Musikalischen Poesie, S. 5. 542 [La Nauze,] Abhandlungen von den Liedern der alten Griechen. In: [Hagedorn,] Sammlung Neuer Oden und Lieder [1744], S. 36. 543 [Krause,] Von der Musikalischen Poesie, S. 71.

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tralvokabeln des geselligen Diskurses ausging – Heiterkeit, Zufriedenheit und Vergnügen –, sah er diesen ersten Antrieb zum Miteinander544 nicht im anakreontischen Setting erschöpft. Vielmehr erwies sich die Liebe bei ihm erneut als Empfindung von übergeordneter Qualität. So verstand Krause nicht allein die heroischen Lieder, die anderen Mitgliedern einer Gemeinschaft „Muth und Tapferkeit“ vermitteln könnten, sondern in diesem Fall auch die religiösen, in denen man „Dankbarkeit, Liebe, Freude, Verlangen, Hofnung und Vertrauen“545 in Gott artikuliere, als Varianten eines natürlichen Gesangs, der aus den elementaren Situationen des Zusammenlebens erwachse. Bislang unbemerkt von der germanistischen Forschung, versuchte sich der musikalische Ansprechpartner von Gleim und Ramler mithin an einer konturierten Begründung für die Übergängigkeit zwischen unpolitischen und politischen Liedern, die der literarische Diskurs um 1750 implizit voraussetzte. Mit seiner Theorie der lyrischen Grundaffekte profilierte Krause die liedhafte Dichtung als Medium von Empfindungen, die sich aus seit frühester Zeit wiederkehrenden und darum universalen sozialen Situationen herleiteten. Die anthropologische Frage nach den zwischenmenschlichen Kohäsionskräften, in der Disselkamp Anakreontik und patriotische Lyrik subkutan zusammenlaufen sieht,546 führt damit ins Zentrum eines entstehenden Gattungsdiskurses hinein, der mehrere Antworten darauf prüfte und zuließ. Die Überlegungen des Komponisten erlauben es, auch die poetischen Annäherungen zwischen geselligem Lied und Kriegslied neu unter die Lupe nehmen, an die er literaturgeschichtlich anknüpfte. Die verschiedenen Relationierungen von Krieg und Liebe, die dabei hervortreten, seien darum unter den hier entwickelten Vorzeichen betrachtet und ins Verhältnis zum Berliner Projekt des Liedes gesetzt.

3.2.3 Krieg und Liebe in der geselligen Ode (Gleim, Hagedorn, Klopstock) In den Poetiken des Liedes, die in der literarischen Aufklärung entwickelt wurden, lagen Liebe und Krieg von Anfang an dicht beieinander. Bereits Friedrich von Hagedorn, der als erster deutscher Autor die Frage aufbrachte, „welchen Unterschied die Lehrer der Dichtkunst zwischen den Oden der Neuern und den

544 Mauser reformuliert das zeitgenössische Ideal der freundschaftlichen Liebe als den primären sozialen „Trieb der Menschen, sich zu vereinigen“ (Mauser, Geselligkeit, S. 17). 545 [Krause,] Von der Musikalischen Poesie, S. 61. 546 Disselkamp, Wein und Liebe, Stahl und Eisen, S. 221.

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eigentlichen Liedern, Chansons bestimmen“,547 fand die letzteren nicht nur in der freundschaftlichen Poesie wieder, mit der er sich selbst einen Namen machte. Vielmehr liefert die Vorrede zu seiner Sammlung Neuer Oden und Lieder (1742), die bei der nächsten Autorengeneration zur „Programmschrift[ ] der Rokokolyrik“548 avancierte, sofort auch Anschlusspunkte für kriegerische Spielarten. Denn neben den „kleinen Oden und Liederchen“549 von Anakreon, Sappho und Horaz, die Hagedorn als die antiken Muster für eine Lyrik im „gefälligen Charakter“550 aus dem englischen Guardian übernahm, französischen Chansons, spanischen Romanzen und Villanellen sowie der Lieddichtung der „freyen Britten“551 mit ihren Protagonisten Lord Dorset und Edmund Waller kam hier auch Martialisches in den Blick. Konkret geschah dies, indem der Hamburger Dichter die Pfade des europäischen Kanons verließ,552 um die Natürlichkeit des Liedes bewusst jenseits der kulturellen Zentren zu suchen. Dabei tauchten nicht nur die „alten Gesänge[ ] nordischer und americanischer Völker“553 auf, die als Altertümer der Peripherie mit Krieg assoziiert waren (vgl. Kap. I.1). Auch die soziale Peripherie fand hier zum ersten Mal in der aufgeklärten Poetologie554 mit den anonymen Liedtraditionen ihren Platz, die Hagedorn bei verschiedenen Völkern der Gegenwart fand. Thematisch bildeten die Exempla einer natürlichen, kollektiven Lieddichtung, die der anglophile Hagedorn mit Seitenblick auf Addisons und Steeles Spectator aufzählte,555 dabei den amourös-kriegerischen Doppelcharakter ab, den

547 Friedrich von Hagedorn an Matthäus Arnold Wilken, 12. August 1741. In: Friedrich von Hagedorn, Briefe, hg. von Horst Gronemeyer, 2 Bde., Bd. 1, Berlin, New York 1997, S. 69 f., hier: S. 69. 548 Perels, Studien zur Aufnahme und Kritik der Rokokolyrik zwischen 1740 und 1760, S. 35. 549 [Hagedorn,] [Vorbericht]. In: Sammlung Neuer Oden und Lieder [1742], unpag. 550 [Hagedorn,] [Vorbericht]. In: Sammlung Neuer Oden und Lieder [1742], unpag.; vgl. dazu Anm. 19. 551 Nochmals [Hagedorn,] [Vorbericht]. In: Sammlung Neuer Oden und Lieder [1742], unpag. 552 Die genannten Genres waren Hagedorn bei seinen Überlegungen, was Ode und Lied voneinander unterscheide, als erstes eingefallen. So schrieb er: „Ich begreiffe, daß in dem ursprünglichen Begriffe eine jede Ode ein Lied sey, daß aber in den nachherigen Zeiten die Lieder, die blosserdings des Singens und der Frölichkeit halber, abgefasset worden, als Balladen, Mey-Lieder […] u. die Villanelle p sich des erhabern Nahmens der Oden verlustig gemacht haben. Ich würde eher auch anacreontische Lieder setzen, als pindarische, wenn ich ja einer von diesen beyden die Benennung eines Liedes beyzulegen hätte. Aber die eigentliche notam characteristicam der Oden und der Lieder getraue ich mir nicht anzugeben, und dazu bedarf ich die autoritaet anderer.“ (Hagedorn an Wilken, 12. August 1741. In: Hagedorn, Briefe, S. 69). 553 [Hagedorn,] [Vorbericht]. In: Sammlung Neuer Oden und Lieder [1742], unpag. 554 Perels, Studien zur Aufnahme und Kritik der Rokokolyrik zwischen 1740 und 1760, S. 40. 555 Hagedorns Affinität zur englischen Kultur, die nicht zuletzt durch die Handelsbeziehungen seiner Heimatstadt Hamburg bedingt war, schlug sich auch biographisch nieder. Nach einem  

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der aufgeklärte Diskurs dem „Allgemein-Menschliche[n]“556 teils im Rückgriff auf antiromanische Vorstellungen, teils in Analogie zur frühesten griechischen Dichtung zuwies. So berichtete Hagedorn, man habe ihm versichert, „daß viele Scherzund Liebeslieder der Polen und die kriegerischen Dumy der Cosaken, zu welchen sie auf der Pandore zu spielen pflegen, in ihrer Art unvergleichlich sind“557. Und nicht zuletzt gab er in seiner Vorrede zu der Sammlung Neuer Oden und Lieder den ersten expliziten Hinweis auf die „Ballad of Chevy Chase“, der in der deutschen Literatur zu finden ist.558 Wie Addison vom populären Lied auf die Schlacht von Otterburn geschwärmt hatte (vgl. Kap. II.3.2), so tat es auch Hagedorn: Einige alten Ballads der Engelländer sind unvergleichlich. Unter diesen Liedern ist dasjenige, welches im Zuschauer stehet, eines der schönsten. Benjamin Johnson pflegte zu sagen, daß er es lieber gemacht haben mögte, als alle seine Werke; und, gewiß, die witzigsten Franzosen haben nichts aufzuweisen, das poetischer, kräftiger und, in der natürlichen Einfalt, edler wäre, als dieses Lied.559

Im Beispielpanorama der Oden und Lieder trat somit probeweise ein Paradigma der Natur neben das der Kultur, um Hagedorns Forderung nach großzügigen stilistischen und moralischen Spielräumen für die liedhafte Dichtung zu unterstreichen.560 Die ältere Forschung hat für das Nebeneinander von Anakreontik und Kriegslied, das sich dabei konturierte, nur wenig Verständnis aufgebracht, weil sie letzteres mit einem anachronistischen Gattungsbegriff belegt hat. So beanstandet Bruno Markwardt, dass der Aufklärer noch nicht ausreichend zwischen der „doch immer kunstreiche[n] und irgendwie künstliche[n] Zwanglosigkeit des anakreontischen Liedes“ und „der naturnahen Frische und der Ursprünglichkeit des Volksliedes“ zu unterscheiden gewusst habe. Dieser Vorgriff auf Konzepte des Sturm und Drang, der Markwardt auch von „Hagedorns ahnende[r] Begegnung mit dem Volkslied“561 sprechen lässt, behindert die Sicht auf die

zweijährigen England-Aufenthalt in seiner Jugendzeit übernahm Hagedorn 1733 eine Stelle am englischen Handelshaus in Hamburg; und auch seine Ehefrau Elisabeth Butler stammte von der Insel. Vgl. Martus, Friedrich von Hagedorn, S. 45–47. 556 Perels, Studien zur Aufnahme und Kritik der Rokokolyrik zwischen 1740 und 1760, S. 39. 557 [Hagedorn,] [Vorbericht]. In: Sammlung Neuer Oden und Lieder [1742], unpag. 558 Vgl. die kurze rezeptionsgeschichtliche Übersicht in Nessler, Geschichte der Ballade Chevy Chase, S. X. Voraus ging dieser Nennung bei Hagedorn nur die deutsche Übersetzung des Spectator, die Luise Adelgunde Victorie Gottsched angefertigt hatte. 559 [Hagedorn,] [Vorbericht]. In: Sammlung Neuer Oden und Lieder [1742], unpag. 560 Vgl. Perels, Studien zur Aufnahme und Kritik der Rokokolyrik zwischen 1740 und 1760, S. 39. 561 Bruno Markwardt, Geschichte der deutschen Poetik, 5 Bde., Bd. 2: Aufklärung, Rokoko, Sturm und Drang, 2. Aufl., Berlin 1970, S. 257 f.  

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programmatische Exploration des Natürlichen, auf die es Hagedorn – ebenso wie Krause – beim Entwurf einer liedhaften Poesie ankam. Dabei bestand zwischen der Liebes- und der Kriegsdichtung eine doppelte strukturelle Analogie. Nicht nur versprachen beide Genres einen unverstellten Blick auf das positiv Einfältige,562 weil sie gleichermaßen an den bisher nur wenig ausgeleuchteten Randbezirken der Kultur angesiedelt wurden: die Anakreontik als „älteste“563 Form der Lyrik am historischen, und die kriegerischen Liedtraditionen am geographischen und sozialen. Zugleich ordneten sich beide Genres dem geselligen Primat der Hagedorn’schen Oden und Lieder unter. In Einzelfällen ist dies auch schon früher gesehen und einfühlend romantisiert worden. „Wenn er etwa im Spectator Kenntnis von einer lappländischen Ode nahm“, erläutert Arthur Eloesser in seiner Deutschen Literatur (1930) an einem weiteren Beispiel der anonymen, kollektiven Poesie bei Hagedorn, „so verstand er, daß die Lieder der Jäger und Hirten, zur Arbeit oder am Feuer in einer Hütte gesungen, ebenfalls aus einer Geselligkeit entstanden waren, wenn sie auch tiefer lag als seine fortgeschritten bürgerliche, und wie primitiv sie sonst sein mochte“564. Der Querbezug zwischen den verschiedenen Modi einer „gesellschaftlich[en]“565 Poesie ist bei den jüngeren Dichtern, die der martialischen Option in diesem Liedkanon nachgegangen sind, latent erhalten geblieben und weiter ausgelotet worden. Vor allem eine Vertiefung dieser Beziehung, die man oft als literaturhistorisches Kuriosum abgetan und übergangen hat, erhält vor der Folie der späteren Berliner Reflexionen eine durchaus ernsthafte Facette. So ist das „Kriegslied, zur Nachahmung des alten Liedes von der Chevy-Chase-Jagd“, mit dem Klopstock 1749 zuerst diesen Weg einschlug, ursprünglich „unter geradezu rätselhaften Umständen“,566 nämlich als das erste Glied einer Kette von „drei Nachahmungen“567 erschienen, die einen unmissverständlichen Gattungszusammenhang herstellte: Im Publikationskontext der Sammlung vermischter Schriften, die von den Bremer Beiträgern herausgegeben wurde, folgte auf Klopstocks Gedicht zunächst ein „Trinklied, zur Nachahmung des Kriegsliedes“, das sodann

562 Den gemeinsamen Nenner der „Einfalt“ stellt Perels heraus (Perels, Studien zur Aufnahme und Kritik der Rokokolyrik zwischen 1740 und 1760, S. 40). 563 [Hagedorn,] [Vorbericht]. In: Sammlung Neuer Oden und Lieder [1742], unpag. 564 Arthur Eloesser, Die Deutsche Literatur. Vom Barock bis zur Gegenwart, 2 Bde., Bd. 1: Bis zu Goethes Tod, Berlin 1930, S. 174. 565 [Hagedorn,] [Vorbericht]. In: Sammlung Neuer Oden und Lieder [1742], unpag. 566 Bosse, Klopstocks Kriegslied (1749) [2000], S. 77. 567 Bosse, Klopstocks Kriegslied (1749) [2000], S. 68.

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wiederum von einem „Liebeslied, zur Nachahmung des Trinkliedes“ flankiert wurde.568 Wer dieses anakreontische Echo auf das „Kriegslied“ verfasste, ist umstritten. Karl Friedrich Cramer, der Klopstocks Werkgeschichte in seiner fünfbändigen, hymnischen Biographie Klopstock. Er; und über ihn (1780–1792) dokumentierte,569 hat seinem Idol im Rückblick auf dessen Jugendjahre die gesamte Gedichtserie zugeschrieben. „Das feurige Kriegslied […] gehört in diese Zeit, und er ist einmal lustig genug gewesen, es doppelt zu parodiren; ein Scherz, den ich bey ihm um so viel lieber habe, da er sich selten vor den Augen des Publicum drauf einläßt“,570 lobte er apologetisch. Bedauerlicherweise habe der Tadel allzu strenger „Moralisten“, vor allem Lavaters, den Poeten später jedoch zu der Einsicht bewogen, dass „gewisse Scherze mehr kleinern Gesellschaften angemessen sind, als der Grössern“571. Aus diesem Grund habe Klopstock die Parodien aus den folgenden Sammlungen seiner Oden ausgeschlossen. Während die Germanisten des 19. Jahrhunderts Cramers Darstellung vehement widersprochen haben, um die „verballhornte[n]“572 Versionen des Kriegslieds verschiedenen Anakreontikern im Kreis der Bremer Beiträger zuzuordnen,573 lassen die Herausgeber der aktuellen Werkausgabe die Frage der Autorschaft mittlerweile wieder offen.574 Für das publizistische Phänomen selbst scheint eine eindeutige Antwort darauf insofern nachrangig zu sein, als Klopstock sich zu

568 Sammlung vermischter Schriften von den Verfassern der Bremischen neuen Beyträge zum Vergnügen des Verstandes und Witzes, Bd. 1, St. 5, Leipzig 1749, S. 404–410. 569 Hurlebusch spricht von einem durchweg „panegyrischen“ Projekt (Klaus Hurlebusch, Klopstock-Editionen. Annäherungen an einen Autor. In: Editionen zu deutschsprachigen Autoren als Spiegel der Editionsgeschichte, hg. von Bodo Plachta, Tübingen 2005, S. 285–314, hier: S. 293). 570 Karl Friedrich Cramer, Klopstock. Er; und über ihn, 5 Bde., Bd. 2: 1748–1750, Dessau 1781, S. 313. 571 Cramer, Klopstock. Er; und über ihn, Bd. 2, S. 314. 572 Erich Schmidt, Beiträge zur Kenntniss der Klopstockschen Jugendlyrik. Aus Drucken und Handschriften nebst ungedruckten Oden Wielands gesammelt, Straßburg, London 1880, S. 18. 573 Erich Schmidt ordnet beide Parodien Johann Christoph Schmidt zu, dem für seine Spöttereien berüchtigten Cousin Klopstocks (Schmidt, Beiträge zur Kenntniss der Klopstockschen Jugendlyrik, S. 18 f.); dagegen bringt Edward Schröder die Idee auf, dass sich „in Klopstocks Freundeskreis zwei Genossen wetteifernd überboten haben“ könnten und schlägt als Autor des „Liebesliedes“ Johann Arnold Ebert vor, den Christian Felix Weiße als Verfasser des „Kriegslieds“ vermutet habe (Edward Schröder, Klopstock-Studien. I. Die ältesten Sammlungen der Oden. In: Vierteljahrschrift für Litteraturgeschichte 5 (1892), S. 53–87, hier: S. 65). 574 Sowohl das „Trinklied“ als auch das „Liebeslied“ fallen hier unter die Rubrik „Oden, deren Autorschaft Klopstocks fraglich ist“ (Friedrich Gottlieb Klopstock, Oden. Bd. 2: Apparat (Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe, Bd. I 2, hg. von Horst Gronemeyer und Klaus Hurlebusch), Berlin, Boston 2015, S. 800–805, im Folgenden HKA).  

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keinem Zeitpunkt von den korrespondierenden Gedichten distanzierte. Im Gegenteil: Sobald die Sammlung vermischter Schriften des Jahres 1749 im Druck erschienen war, empfahl er die drei Texte grundsätzlich im Verband. „Wie gefällt Ihnen im vorigen Stücke die Chevy-Chase-Jagd, u ihre Nachahmungen?“,575 erkundigte er sich beispielsweise sogleich nach der Veröffentlichung bei seinem Zürcher Förderer Bodmer.576 Der literarische Kontext, in dem Klopstock das erste deutschsprachige Kriegslied in der Manier der populären „Ballad of Chevy-Chase“ an die Öffentlichkeit übergab, scheint also keine Marginalie zu sein, zumal ein direkter politischer Bezugsrahmen fehlte: Im Jahr 1749, zum Zeitpunkt der Veröffentlichung, herrschte im Alten Reich das erste Mal seit Beginn der Dekade wieder Frieden. Für die deutschen Leser erfolgte der Primärkontakt mit dem patriotischen Lied somit in einer eigentümlichen Distanz zum militärischen Geschehen; und auch das „Kriegslied“ selbst ließ jedes propagandistische Interesse durch den Verzicht auf politische Konkretisierungen ins Leere laufen. Den einzigen verwendeten Namen, „Friedrich“,577 hat Klopstock nach dem Ende einer kurzen Begeisterung für den preußischen roi-connétable darum problemlos durch den des mittelalterlichen Frankenkönigs „Heinrich der Vogler“ ersetzen können.578 Statt auf politische Konflikte lenkte die spielerische Reihenbildung in der Sammlung vermischter Schriften die Aufmerksamkeit zielgerichtet auf den generischen Einsatzpunkt der kriegerischen Lyrik, der sich dem zeitgenössischen Rezipienten durch eine zirkuläre Lektüre erschloss: Nach einem Durchgang durch die Parodien, deren scherzhaftes Programm dem Publikum vertraut war, fügte sich das noch ungewohnte „Kriegslied“ auf den zweiten Blick in das bestehende Gattungsgefüge ein. Dabei erhält die dreifache Verkettung von „Kriegslied“, „Liebeslied“ und „Trinklied“ die Funktion einer Lektürehilfe, die auf Äquivalenzbildungen aufbaut. So führten die Nachbargedichte mithilfe typisch anakreontischer Verfahren

575 Friedrich Gottlieb Klopstock an Johann Jakob Bodmer, 28. November 1749; hier zit. nach HKA, Bd. I.2, S. 800. 576 Nicht zuletzt dieses Zitat hat Bosse in seiner extensiven Lektüre des „Kriegslieds“ dazu veranlasst, wieder zu Cramers Position zurückzukehren: „Doch die Komposition spricht für einen Komponisten.“ (Bosse, Klopstocks Kriegslied (1749) [2000], S. 78). 577 [Klopstock,] Kriegslied, zur Nachahmung des alten Liedes von der Chevy-Chase-Jagd, S. 404. 578 So der Titel, den das Lied seit der Überarbeitung von etwa 1771 trug (HKA, Bd. I.1, S. 90 f.). Vgl. dazu Bosse, Klopstocks Kriegslied (1749) [2000], S. 83. Bosse weist in diesem Zusammenhang auch auf ein Zitat des jüngeren Cramers hin, das diese Austauschbarkeit unterstrich. So habe Klopstock später behauptet, er habe niemals auch nur „an den König von Preussen“ gedacht: „Friedrich war blos hier ein willkührlich gewählter Name“ (Cramer, Klopstock. Er; und über ihn, Bd. 2, S. 345 f.).  



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wie „Permutation, Variation und Transformation“579 von gattungsspezifischen Motiven vor, dass sich die syntagmatische Struktur des Klopstock’schen „Kriegslieds“ nahtlos in die von geselligen Liedern überführen ließ. Aus dem soldatischen Ruf „Es führet uns der beste Mann / Im ganzen Vaterland“580 wird durch diese Verschiebetechnik zunächst der Trinkspruch „Wir trinken heut beim besten Mann / Im ganzen deutschen Reich!“581 und dann das Liebesbekenntnis „Das liebste Mädchen küßt mich heut / Im Europäerland!“582 Und aus der Klimax der patriotischen Empfindung, die den Sprecher vom Tod auf dem Schlachtfeld träumen lässt, entstehen durch die Ersetzung weniger Worte zwei Szenarien, in denen er stattdessen vom Rausch des Weines und der Liebe übermannt wird. An diesen drei Strophen lässt sich das angewandte Substitutionsverfahren exemplarisch nachvollziehen; sie seien deshalb an dieser Stelle vollständig zitiert. Kriegslied, zur Nachahmung des alten Liedes von der Chevy-Chase-Jagd Willkommen, Tod fürs Vaterland! Wann unser sinkend Haupt Schön Blut bedeckt; dann sterben wir Mit Ruhm fürs Vaterland.583 Trinklied, zur Nachahmung des Kriegsliedes Willkommen, Rausch zu Deutschlands Ruhm! Wenn unser bangend Haupt Vom Wein ist schwer; dann sinken wir Zu Deutschlands Ehren hin.584

579 Berndt, Poema/Gedicht, S. 182. Die Aufmerksamkeit für die spezifische ars combinatoria der anakreontischen Gedichte teilt Berndt mit der, wie sie selbst formuliert, „fast vergessenen Verfahrensanalyse“ (Berndt, Poema/Gedicht, S. 182) von Werner Schlotthaus, Das Spielphänomen und seine Erscheinungsweise in der Dichtung der Anakreontik, Göttingen 1958. 580 [Klopstock,] Kriegslied, zur Nachahmung des alten Liedes von der Chevy-Chase-Jagd, S. 404. 581 [Friedrich Gottlieb Klopstock oder Johann Christoph Schmidt,] Trinklied, zur Nachahmung des Kriegsliedes. In: Sammlung vermischter Schriften von den Verfassern der Bremischen neuen Beyträge zum Vergnügen des Verstandes und Witzes, Bd. 1, St. 5, Leipzig 1749, S. 407–409, hier: S. 407. 582 [Friedrich Gottlieb Klopstock, Johann Christoph Schmidt oder Johann Arnold Ebert,] Liebeslied, zur Nachahmung des Trinkliedes. In: Sammlung vermischter Schriften von den Verfassern der Bremischen neuen Beyträge zum Vergnügen des Verstandes und Witzes, Bd. 1, St. 5, Leipzig 1749, S. 409–411, hier: S. 409. 583 [Klopstock,] Kriegslied, zur Nachahmung des alten Liedes von der Chevy-Chase-Jagd, S. 405. 584 [Klopstock oder Schmidt,] Trinklied, zur Nachahmung des Kriegsliedes, S. 408.

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Liebeslied, zur Nachahmung des Trinkliedes Willkommen, Herz für mich gemacht! Wenn seelenvoll ihr Blick Von Wollust glüht; dann sink ich sanft An ihre volle Brust.585

Während das syntagmatische Gefüge in den drei Liedern unverändert bleibt, reiht sich der Krieg auf einer paradigmatischen Achse neben die bekannten Inzitamente der Geselligkeit, den Wein und die Liebe, ein. Durch diese ausgestellte Analogie wurde der Leser zu einer Suche nach Gemeinsamkeiten aufgefordert, die ihm bei der Einordnung der patriotischen Lyrik den Weg wiesen. Ein Feldzug, so das nahegelegte Résumé, stifte ebenso grundlegende verbindende Gefühle wie das gesellige Treiben. Aus dieser Perspektive betrachtet, war das „Kriegslied“ lediglich eine andere Form des gesellschaftlichen Liedes. „Es geht hier um maximale soziale Kohäsion“, fasst schon Bosse das Programm Klopstocks zusammen und bringt zu diesem Zweck Shaftesburys Sensus Communis (1709) in Erinnerung: „Der Krieg zieht die mitmenschlichen Bände fester, er steigert Sympathie und Empathie, die reziproken Kräfte der Sozialisierung.“586 Noch direkter als die Schriften des englischen Philosophen scheint sich freilich der im Jahr vor dem „Kriegslied“ erschienene Esprit des Lois niederzuschlagen; denn bestimmt erhob Klopstock das dort als Kriegsgemeinschaft lancierte Vaterland zur Chiffre für das Zusammengehörigkeitsgefühl von einander unbekannten Bürgern, die bis an die Herzen drang. Auf dieser theoretischen Basis entwarf er nunmehr ein politisches Pendant zur Empfindungsgemeinschaft der Anakreontik, als die sich seine Generation seit geraumer Zeit im Medium des Liedes inszenierte.587 Die für die jüngere Forschung virulente Frage, wie sich diese anscheinend so disparaten Formen von Gemeinschaftlichkeit zueinander verhielten, wurde von den drei Nachahmungen selbst auf vergleichsweise unkomplizierte Art beantwortet. So fällt auf, dass sich gleichzeitig mit dem Vokabular von Krieg, Wein und Liebe auch die Extension der Affektgemeinschaften verschob. Die Bindekraft des Krieges wirkte soweit, wie die direkte politische Loyalität zum Landesvater reichte; der gesellige Weingenuss wurde im launigen Anklang an das humanistische Stereotyp des trinkfreudigen Deutschen588 auf die Nation bezogen, so dass man

585 [Klopstock, Schmidt oder Ebert,] Liebeslied, zur Nachahmung des Trinkliedes, S. 410. 586 Bosse, Klopstocks Kriegslied (1749) [2000], S. 74. 587 Vgl. Martus, Aufklärung, S. 531. 588 Noch 1763 verfasste Christian Felix Weiße ein scherzhaftes Gedicht mit dem Titel „Der Vorzug der Deutschen“, das die ungeminderte Bekanntheit dieses Nationalstereotyps demonstriert. Demnach seien alle anderen Nationen „halb so weise nicht, als wir“: „Der leere Franzmann

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sich beim Heben der Gläser „im ganzen deutschen Reich“ verbunden fühlen konnte; die Liebe schließlich machte die Grenzen „[i]m Europäerland“ durchlässig und gewann so eine kosmopolitische Dimension. In einem Dreischritt wurde der Leser so von einer Gemeinschaft durch „das jeweils Eigene“ im „Kriegslied“ zu der durch das „universell Geltende“589 im „Liebeslied“ geleitet. Anders als moderne Interpreten, die das Verhältnis zwischen patriotischer Lyrik und Anakreontik meist in Form von Dichotomien zu rekonstruieren versuchen – zum Beispiel Krieg vs. Frieden,590 Politik vs. Literatur,591 Kollektivität vs. Individualität592 oder Realgeschichte vs. Aufklärungsideal593 –, entwarfen die Zeitgenossen also eine Skala, in der die Genres durch eine Modifikation der Reichweite auseinander hervorgingen. Ihr gemeinsames Fundament hatten die verschiedenen Textsorten dabei in der Gattungssemantik einer niedrigen Lyrik, die sich in einem betont weiten Sinne Empfindungen verschrieb, die Menschen sowohl zusammenbrachten als auch zusammenhielten. Das verbindende Element, das sich durch die Titel von allen drei Nachahmungen zog, liegt darum in der unauffälligen Gattungsbezeichnung: dem Lied. Hagedorns Streifzug durch die unterschiedlichen Liedkulturen der Völker, Klopstocks Differenzierung des geselligen Gesangs und schließlich Krauses universalisierende Frage nach den Situationen im sozialen Leben, von denen sich die Menschen immer wieder zum gemeinsamen Singen inspirieren ließen: All diese Phänomene belegen sowohl die Bereitschaft der literarischen Aufklärung als auch ihr Bedürfnis, das gesellschaftliche Lied auch in einem größeren als dem privaten Rahmen zu denken. Die Strukturübertragung von der Anakreontik auf das Kriegslied, die dabei zusehends in den Mittelpunkt rückte, schlug sich während des Siebenjährigen Kriegs zum ersten Mal auch medienpoetisch nieder. So erhielt der Leser mit dem Kauf von Gleims Grenadierliedern zugleich Melodien mitgeliefert, zu denen er sie allein oder im Kreis von Gleichgesinnten singen konnte (Abb. 5a und 5b).

pfeift, und schneidet Capriolen; / Der römische Castrate singt; / Der Britte läßt am Strang sich Miltons Teufel holen, / Der Deutsche, was thut der? er trinkt!“ (Christian Felix Weiße, Der Vorzug der Deutschen. In: Scherzhafte Lieder, 3., vermehrte und verbesserte Aufl., Berlin 1763, S. 146) Vgl. auch Ruth Florack, „… nicht gewohnt zu fliehen vor des Franzmanns leerem Wind“. Zu nationalen Stereotypen in Dichtung und Flugschriften. In: „Krieg ist mein Lied“. Der Siebenjährige Krieg in den zeitgenössischen Medien, hg. von Wolfgang Adam und Holger Dainat, Göttingen 2007, S. 65–87. 589 Disselkamp, Wein und Liebe, Stahl und Eisen, S. 212. 590 Deupmann, Der Siebenjährige Krieg in der deutschsprachigen Lyrik, S. 553 f. 591 Birgfeld, Krieg und Aufklärung, Bd. 1, S. 198; S. 200 f. 592 Disselkamp, Wein und Liebe, Stahl und Eisen, S. 221. 593 Lee, Amor im Harnisch, S. 48–50.  



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Abb. 5: [Johann Wilhelm Ludwig Gleim,] Preussische Kriegslieder von einem Grenadier in den Feldzügen 1756 und 1757 (1758). Lied „Bey Eröfnung des Feldzuges 1756“ mit beigefügter Melodie.

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Wenn es für die Protagonisten der Berliner Liederschule keiner gesonderten Diskussion darüber bedurfte, dass die Preussischen Kriegslieder durch die Beigabe von Noten für die geselligen Runden des Landes zu empfehlen seien, dann ist der hier entwickelte diskursive Vorlauf der Grund dafür. Bereits als noch die Einzeldrucke von Gleims Liedern zirkulierten, fragte der Autor bei Ramler an, ob Krause „die Melodie gefällt, die Herr Rolle zu Magdeburg auf das Roßbachische gemacht hat, und ob Er dem Grenadier nicht die Freundschaft erweisen, und auch eine machen will!“594 Und sobald die Planungen für die Lessing’sche Sammlung anliefen, stand auch für Ramler fest, „daß alle diese Stücke mit männlichen und Spartanischen Melodien versehn und mit diesen Melodien auch gedruckt“ werden müssten. Als literarischer Kopf der Berliner Liederschule bot er sich im gleichen Atemzug zur Koordination für die musikalische Umsetzung der patriotischen Gedichte an: Breitkopfs oder unsers hiesigen Winters Druckerey würde ich dazu vorschlagen. In diesen hat man die neuen Schrift-Noten am saubersten. Nennen Sie mir doch in ihrem nächsten Briefe diejenigen Stücke die componirt sind, ich will die Composition der übrigen besorgen, so wie ich glaube daß sich das Lied für einen jeden Musicum schicken wird. Herr Leßing muß so lange warten, bis ihm alle Noten zugeschickt werden können: schreiben Sie ihm das.595

Wie schon 1753 bei Ramlers und Krauses Oden mit Melodien,596 reichten sowohl der Hofkapellmeister Graun, der königliche Flötenlehrer Johann Joachim Quantz, der Hofkomponist Johann Friedrich Agricola als auch der als bedeutendster Komponist seiner Zeit geltende Bach-Sohn Carl Philipp Emanuel597 bereitwillig

594 Gleim an Ramler, 9. Februar 1758. In: Briefwechsel zwischen Gleim und Ramler, Bd. 2, S. 320 f., hier: S. 320. 595 Ramler an Gleim, 9. April 1758. In: Briefwechsel zwischen Gleim und Ramler, Bd. 2, S. 326 f., hier: S. 326. Passend zur aktuellen Liedermode hatte der Leipziger Drucker Johann Gottlob Immanuel Breitkopf 1754 ein erheblich verfeinertes Verfahren für den Notendruck mit Typen vorgelegt (August Potthast, Geschichte der Buchdruckerkunst zu Berlin im Umriß, hg. von Ernst Crous, Berlin 1926, S. 43). Dennoch wurden die Preussischen Kriegslieder letztlich bei dem Berliner Verleger Voß gedruckt, der auch für die anderen programmatischen Veröffentlichungen der Berliner Aufklärung wie etwa die Briefe, die neueste Litteratur betreffend verantwortlich zeichnete. 596 Vgl. Busch, Karl Wilhelm Ramler als Liedersammler, S. 258 f. 597 In der Gunst des 18. Jahrhunderts überflügelte Carl Philipp Emanuel Bach sogar seinen Vater, wie es Willibald Gurlitt anhand der geläufigen Verwendung seines Nachnamens illustriert. „Bei seinen Zeitgenossen und der Nachwelt bedeutet der Name Bach immer nur Carl Philipp Emanuel, nicht Johann Sebastian.“ (Willibald Gurlitt, Bach, Carl Philipp Emanuel. In: NDB, Bd. 1, S. 488 f., hier: S. 489).  







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ihre Vorschläge für die Melodien einzelner Grenadierlieder ein.598 Doch letztlich zerschlug sich die Idee einer kunstübergreifenden preußischen Einheitsdemonstration, bei der alle illustren Berliner Komponisten ihren Teil zur patriotischen Lyrik beigetragen hätten. Stattdessen setzte sich als alleiniger Verantwortlicher Krause durch, der nicht nur dem Zeitplan für die Drucklegung am ehesten nachkam,599 sondern dessen musikalische Entwürfe auch den stilistischen Vorstellungen Gleims am meisten entsprochen zu haben scheinen. So zeichnet sich sein Ansatz durch einen formalen Minimalismus von nur einer Stimme und einem begleitenden Bassinstrument600 sowie durch dynamische Melodien aus, die man „recht feurig wird hersingen können; denn also habe ich sie gedacht“601. Dadurch erhielten die Lieder des Grenadiers eine Wiedererkennbarkeit, die Max Friedlaender in seinem Kompendium Das deutsche Lied im 18. Jahrhundert, wenn auch nur zähneknirschend, würdigt: „Die Melodien sind kräftig und gesund, aber durchaus nicht schön oder musikalisch reich; vielmehr geht durch Alle eine stereotype Art von Siegesfanfare.“602 Zusammengefasst betrachtet, stellte sich die Eingemeindung des Krieges in das gesellige Lied, die sich damit auch praktisch vollzog, als eine Art literatur-

598 Graun, Quantz und Bach wurden in einem Brief von Gleim an Uz ins Spiel gebracht (Gleim an Uz, 25. März 1759. In: Briefwechsel zwischen Gleim und Uz, S. 309–313, hier: S. 313); Agricola hatte zwischenzeitlich Krause selbst empfohlen, der gegenüber Gleim betonte, die lokalen „Musici“ rissen sich um die Vertonung des Lissa-Liedes (Krause an Gleim, 1. April 1758. In: Berg, The Correspondence of Christian Gottfried Krause, S. 155–159, hier: S. 159). Ein Melodienentwurf von Graun lässt sich mit Bestimmtheit zuordnen: „Herr Capellmeister Graun, der Sie grüßen läßt, hat: Victoria mit uns ist Gott! componirt“, berichtete Ramler (Ramler an Gleim, 3. Mai 1758. In: Briefwechsel zwischen Gleim und Ramler, Bd. 2, 327 f., hier: S. 328). Vgl. Berg, The Correspondence of Christian Gottfried Krause, S. 168, Anm. 292. 599 Vgl. die Rekonstruktion der zeitlichen Zusammenhänge beim Druck der Preussischen Kriegslieder, die für die These von Krause als Komponisten spricht, bei Beaujean, Christian Gottfried Krause, S. 21 f.: Im Mai 1758 berichtete Ramler, dass die Melodievorschläge der anderen Komponisten noch nicht fertig seien, während er einen vollständigen Satz von Krause vorlegen konnte (Ramler an Gleim, 3. Mai 1758. In: Briefwechsel zwischen Gleim und Ramler, Bd. 2, 327 f., hier: S. 328). Als Lessing zwei Monate später vom Stand des Drucks berichtete, war nur noch von Krause die Rede. Gleims zuletzt verfasstes Lied auf die Schlacht von Collin könne gerade noch aufgenommen werden, „obgleich der Druck schon bis in das Roßbachsche Lied fortgerückt war“, schrieb er: „Sieben Lieder hat Herr Krause componiert; das Collinsche muß das achte sein.“ (Lessing an Gleim, 8. Juli 1758. In: FLA, Bd. 11/1, S. 293 f., hier: S. 292). 600 Vgl. Friedlaender, Das deutsche Lied im 18. Jahrhundert, Bd. 1, S. 157: „Ihre äußere Form ist die denkbar einfachste; in 2 Systemen stehen nur Singstimme und Baß, dieser ist nicht beziffert, Mittelstimmen fehlen“. 601 Krause an Gleim, 14. April 1758. In: Berg, The Correspondence of Christian Gottfried Krause, S. 167–169, hier: S. 169. Hervorh. i. O. 602 Friedlaender, Das deutsche Lied im 18. Jahrhundert, Bd. 1, S. 157.  







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geschichtliches Doppelbild dar. Auf der einen Seite stand die Verbindung von Vaterlandsethik und musikalischer Kultur im Dienste einer ästhetischen Leitung der Empfindungen, die viel von der typischen Tugend-Didaxe der aufgeklärten Kunstlehre hatte. Wenn man die Menschen zu richtigen Einstellungen bewegen wolle, argumentierte Krause prägnant in der Schrift Von der Musikalischen Poesie, dann komme es „nicht allemal auf die tiefe Einsicht in die Wahrheiten an; die eigentliche Vernunft thut vielleicht nur wenig in die Welt“. Gerade was den Gemeinsinn in seinen mannigfaltigen Formen betreffe, etwa „die Verwandtschaftsliebe, die Sorge für die Nachkommen, die Liebe zum Umgange, das Mittleiden, die Hülfsbegierde“,603 könne man durch einen konzertierten Appell an die unteren Erkenntniskräfte ungleich mehr erreichen. Schon die Musik allein stelle das Gemüt ihrer Zuhörer auf eine Harmonie ein, „welche liebreich, gesellig und umgänglich machet“604. Noch besser aber sei sie in Kombination mit einem darauf abgestimmten, auf die sozialen Grundaffekte ausgerichteten poetischen Text in der Lage, eine persuasive Funktion zu entfalten: Lehrreiche, feurige Worte, durch eine einnehmende Melodie noch mehr erhoben, sind von grossem Nutzen, und von unvergleichlicher Würkung. Klären jene den Verstand auf, und greifen sie das Herz schon für sich an, so kömmt diese mit ihrer entzückenden Kraft ihnen zu Hülfe; und dadurch wird die Wahrheit angenehmer, eindringender, und die Liebe zur Tugend stärker gemacht. […] Die Musik arbeitet, so wohl als die Worte, zur Erläuterung der Gedanken und zur Ueberzeugung und Bewegung der Zuhörer, und sie verleihet Worten, vor denen viel Herzen verschlossen sind, solche Annehmlichkeiten, die die Herzen eröfnen, und den Wahrheiten Eingang verschaffen.605

Auf die Preussischen Kriegslieder angewandt, ließe sich die musikalische Poesie damit als ein höchst erfolgversprechendes Instrument für die Verbreitung eines spezifisch politischen Wir-Gefühls begreifen: Wenn die seit einigen Jahren etablierten freundschaftlichen und familiären Zirkel die patriotischen Lieder von Gleims Grenadier in ihr abendliches Repertoire aufnahmen, dann überlagerte sich der empfindsame Zusammenhalt der kleinen Runde wirkungsvoll mit dem der anderen singenden Zirkel in den Städten und zu Felde. Imaginär rückten die städtischen Bürger und die Soldaten somit zu einer Gruppe von Gleichgesinnten

603 [Krause,] Von der Musikalischen Poesie, S. 40. 604 [Krause,] Von der Musikalischen Poesie, S. 39. 605 [Krause,] Von der Musikalischen Poesie, S. 44 f. Diese Einstimmung auf die Wahrheiten und Tugenden könne auf diesem Weg sogar unbemerkt vonstatten gehen: und zwar dadurch, „daß ihr Gemüth zu einer gewissen darinn [im Text., A.H.] angewiesenen Handlung, durch die Rührung mehr bestimmet als angetrieben wird, ohne daß das Gedächtnis viel von den vorgetragenen Sachen deutlich behält“ ([Krause,] Von der Musikalischen Poesie, S. 108).  

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zusammen, und die liedhafte Poesie wurde zu einem literarischen Medium für das sozialphilosophische Ideal von einem fühlbaren Band zwischen ansonsten weit entfernten Untertanen. Auf der anderen Seite lagerten sich an die Musikalisierung des kriegerischpatriotischen Affekts Fragestellungen an, die über eine solche erzieherische Funktion hinauswiesen. So tastete sich speziell Krause bei seiner ästhetischen Erkundung des Fundamentalen zu einer anthropologischen Wendung der Perspektive vor, die sich mit einem Blick in die historische Tiefe verband. Für ihn versprachen die kanonischen Gegenstände der Ode, die aus der Antike überliefert waren, nun zugleich Aufschluss darüber zu geben, in welchen Situationen die Menschen im Stand der Natur ihre Empfindungen geteilt und darüber zum Gesang gefunden hätten. In den frühen Liedtheorien deutete sich somit eine Reinterpretation der lyrischen Dichtung an, bei der Affektivierung, Naturalisierung und Kollektivierung insofern Hand in Hand gingen, als die Vorstellung einer singenden Gemeinschaft den konkreten Autor in einem sozialen Gefüge aufgehen ließ. Literarisch wurde ein derartiges Modell zum ersten Mal in dem anonymen Grenadier für die Gegenwart erprobt, der die kriegerischen Empfindungen der Preußen ebenso repräsentativ artikulieren sollte wie vormals Tyrtaios die der Spartaner. Sowohl theoretisch als auch praktisch etablierte sich der Krieg damit um die Mitte des 18. Jahrhunderts neben der Liebe als Sujet mit einem besonderen Natürlichkeitsversprechen, an dem sich die Arbeit an der lyrischen Gattung auch in Zukunft fortsetzen würde.

4 Eine Parallelgeschichte: Weibliche Kriegsdichtung um 1750 Das soeben abgeschlossene Kapitel hat die Preussischen Kriegslieder von Johann Wilhelm Ludwig Gleim in den Mittelpunkt gestellt. Sein Ziel war es, die literaturgeschichtlichen Diskussionszusammenhänge freizulegen, auf die Gleim mit der Erfindung des preußischen Grenadiers reagierte; einer Figur, welche die deutschen Dichtungstheorien noch über viele Jahrzehnte mitbestimmen sollte. Als Konvergenzpunkt der nachgezeichneten Debatten hat sich dabei die Suche nach grundlegenden poetischen Affekten herauskristallisiert, die der fiktive Soldat paradigmatisch einzulösen versprach: Der Sänger aus dem Volk schien die Leidenschaften des Krieges, den die politische Philosophie der Aufklärung um 1750 zur anthropologischen Situation erhoben hatte, in eine natürliche Sprache des Enthusiasmus zu überführen. Die Konstruktion des preußischen Grenadiers ist nicht das einzige Zeugnis für den Versuch geblieben, die Kriegssituation für eine Anthropologisierung der Dichtung fruchtbar zu machen. Die papierne Geburt des ungelehrten Poeten hat eine Parallelgeschichte in der Förderung von ganz realen Schreibenden, in denen man aus einem anderen Grund die Stimme der Natur zu vernehmen hoffte. Die Rede ist von den Dichterinnen der Schlesischen Kriege. Denn in den literarischen Zentren Halle und Berlin konstituierten sich in den Jahrzehnten um 1750 immer wieder Ansätze, Kriegsgedichte aus weiblicher Feder anzuregen und zur Publikation zu bringen. Die hier profilierten Diskurse legen nahe, dass diese Patronage aus den gleichen dichtungstheoretischen Interessen hervorging wie die Imagination des Grenadiers. Dieser Zusammenhang ließe sich wie folgt auf den Punkt bringen: Aufgrund des empfindsamen Geschlechterstereotyps, das Weiblichkeit mit Gefühl verknüpfte,606 konnten die patriotischen Texte von Frauen in der Mitte des 18. Jahrhunderts mit analogen Natürlichkeitsverheißungen belegt werden wie die eines einfachen Soldaten. Die Frage, wie zentrale Protagonisten dieser Studie die poetologische Konstellation von Krieg, Lyrik und Weiblichkeit entwarfen und wie sie die entstehenden Gedichte – zum Teil auch gegen die Intentionen der Autorinnen – in Beziehung zu den eigenen, männlich kodierten Texten setzten, wäre eine umfangreiche eigene Untersuchung wert. An diesem Punkt kann jedoch nur ein Ausblick stehen,

606 Nach wie vor kanonisch hergeleitet und kontextualisiert von Silvia Bovenschen, Die imaginierte Weiblichkeit. Exemplarische Untersuchungen zu kulturgeschichtlichen und literarischen Präsentationsformen des Weiblichen, Frankfurt a. M. 1979, S. 150–256.  

https://doi.org/10.1515/9783110613575-013

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der die Funktion hat, die Ergebnisse des vorausgegangenen Kapitels zu nuancieren und zu facettieren. Um die literaturgeschichtliche Assoziation von Krieg, Lyrik und Weiblichkeit zu belegen, bedarf es im Prinzip nur des Verweises auf eine der wenigen Frauen, der es gelang, sich in der literarischen Aufklärung einen Namen zu machen. Die Rede ist von Anna Louisa Karsch. Die ungewöhnliche Erscheinung einer Autorin aus dem niederen Stand,607 die mit martialischen Oden auf die Schlachten des Siebenjährigen Kriegs für Aufsehen sorgte, ließ sich noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf folgende Formel bringen: Friedrichs des Großen Volksdichterin.608 Diese Charakterisierung bildet den Untertitel von Elisabeth Hausmanns Biographie Die Karschin, die 1933 erschien. Gestützt auf größtenteils neu erschlossene Briefe, wird die patriotische Erregung der Kriegsjahre hier als der entscheidende Impuls markiert, durch den die schlesische Gelegenheitsdichterin in tiefere Sphären der poetischen Empfindung vorgestoßen sei. Unumwunden formuliert Hausmann: „Durch Friedrichs Siege […] wird sie zur Dichterin.“609 Die Tatsache, dass man den Krieg als Geburtshelfer einer natürlichen weiblichen Dichtungskraft noch derart lange ohne Weiteres akzeptierte, dokumentiert den Erfolg des interpretativen Schemas, unter dem das Phänomen ‚Karsch‘ seinen Platz in den poetologischen Debatten des 18. Jahrhunderts fand. Den Ausgangspunkt dafür bildet der nach wie vor bekannteste Text zu Karsch, der nicht auf die Autorin selbst zurückgeht, sondern auf Johann Georg Sulzer. 1764, ein Jahr nach dem Ende des Kriegs, veranstaltete der Schweizer Philosoph, Literatur- und Kunsttheoretiker gemeinsam mit Gleim die erste Sammlung von Auserlesenen Gedichten der Schlesierin, die er mit einer programmatischen „Vorrede“ flankierte.610 Darin erzählte Sulzer eine ungewöhnliche poetische Biographie, in der Karsch nicht auf der Achse der Kunst fortschritt, sondern durch den Krieg zu einer reinen Sprache der Natur fand. Karschs früheste Kasualgedichte auf Hochzeiten oder Todesfälle, so Sulzer, könnten demnach bloß als Vorspiel zu ihrem eigentlichen Werk gelten. Solche

607 Karsch war die Tochter eines Bierbrauers aus Schlesien. Ihre Herkunft wird detailreich rekonstruiert von Barbara Becker-Cantarino, Schlesien und Polen im Werk von Anna Louisa Karsch (1722–1791). In: Kulturgeschichte Schlesiens in der Frühen Neuzeit, hg. von Klaus Garber, 2 Bde., Bd. 2, Tübingen, 2002, S. 1079–1093 sowie von Ernst Josef Krzywon, Tradition und Wandel. Die Karschin in Schlesien (1722–1761). In: Anna Louisa Karsch (1722–1791). Von schlesischer Kunst und Berliner „Natur“. Ergebnisse des Symposions zum 200. Todestag der Dichterin, hg. von Anke Bennholdt-Thomsen und Anita Runge, Göttingen 1992, S. 12–56. 608 Die Karschin. Friedrichs des Großen Volksdichterin. Ein Leben in Briefen, eingeleitet und hg. von Elisabeth Hausmann. Mit 31 Bildern, Frankfurt a. M. 1933. 609 Die Karschin. Friedrichs des Großen Volksdichterin, S. 9 f. 610 Anna Louisa Karsch, Auserlesene Gedichte, Berlin 1764.  



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Schreibanlässe hätten lediglich „kleine Funken, des halb unterdruckten Feuers“ in der Seele der Autorin aufscheinen lassen. Erst die „Siege Friederichs“ hätten diesem Feuer eine angemessene Nahrung gegeben, „die alle Hindernisse seines vollen Ausbruchs verzehrte, und die es in vollen Flammen darstellte“611. Offensiv baute Sulzer die Schlesierin hier zum lebendigen Anschauungsobjekt dafür auf, „wie die Natur durch die Begeisterung würket“612: Sein Paratext machte die patriotisch beflügelte Frau zum empirischen Bezugspunkt, um die Idee einer natürlichen, ohne Hilfe von Regeln verfertigten Poesie auszubuchstabieren und im dichtungstheoretischen Diskurs zu platzieren. Die Forschung hat zu Recht darauf hingewiesen, dass Sulzer seinen Lesern hier eine idealtypisch zurechtgestutzte Version von Karsch präsentierte, die wenig mit der historischen Person zu tun hatte, umso mehr indes mit einer literaturtheoretischen Agenda. Bis jetzt ist dabei vor allem die Wechselbeziehung zwischen Geschlechts- und Affektdiskurs im 18. Jahrhundert in den Blick gerückt: Diese Affinität habe bewirkt, dass die zielbewusst und geschäftstüchtig agierende Kasualdichterin613 zum Medium einer natürlichen Empfindung umkodiert worden sei.614 Die dienende Funktion, die Weiblichkeitsstereotypen im Falle Anna Louisa Karschs beim Entwurf einer Poetik des Ausdrucks übernahmen, ist also gut ausgeleuchtet; zumeist wird sie historisch ‚nach vorn‘ auf die Autonomieästhetik um 1800 bezogen. Dieser Fokus scheint viel mit der Kanonisierung von Sulzer zu tun zu haben, der heute vor allem für seine Allgemeine Theorie der Schönen Künste (2 Bde., 1771–1774) bekannt ist. Diese Enzyklopädie identifizierte den gemein-

611 [Johann Georg Sulzer,] Vorrede. In: Anna Louisa Karsch, Auserlesene Gedichte, Berlin 1764, S. XX. 612 [Sulzer,] Vorrede. In: Karsch, Auserlesene Gedichte, S. IX. 613 Vgl. Krzywon, Tradition und Wandel, S. 27 f. Für Karschs strategisches Geschick bei der Platzierung ihrer Gedichte sprechen ihre Beziehungen zur schlesischen Funktionselite, besonders zu Predigern, die sie in einem Lebensbericht als Förderer nennt. Dieser autobiographische Text lag Sulzer als Grundlage für seine „Vorrede“ vor (abgedruckt in Anna Louisa Karsch, Johann Wilhelm Ludwig Gleim, Mein Bruder in Apoll. Briefwechsel zwischen Anna Louisa Karsch und Johann Wilhelm Ludwig Gleim, 2 Bde., hg. von Regina Nörtemann, Göttingen 1996, Bd. 1, S. 342– 363, hier: S. 352–360). Vgl. dazu Johannes Birgfeld, Patriotische Erregung als literarische Chance. Vom Einfluss der Geschichte auf das Verhältnis von Gattung und Geschlecht im 18. Jahrhundert oder: Anna Louisa Karsch und die Kriegslyrik. In: Das achtzehnte Jahrhundert 29:2 (2005), S. 192– 208, hier: S. 206. 614 Vgl. Schaffers, Auf überlebtes Elend blick ich nieder, S. 41–44; Susanne Kord, Der Autor ist tot, das Werk begraben: Anna Louisa Karsch (1722–1791) und Sophie Mereau (1770–1806) zwischen Autonomieästhetik und Frauenliteratur. In: Sophie Mereau. Verbindungslinien in Zeit und Raum, hg. von Katharina von Hammerstein und Katrin Horn, Heidelberg 2009, S. 31–60, hier: S. 37–46; Bettina Bannasch, Wenn Frauen zuviel dichten. Die Lyrik der Anna Louise Karsch im Kontext der Geniedebatte. In: Sprache und Literatur 30:2 (1999), S. 28–39.  

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samen Nenner aller Künste nicht mehr in der Nachahmung, sondern in der Empfindung.615 Die bekanntesten Artikel wie der zum Genie sind dabei schon unübersehbar von den Literaturparadigmen der frühen 1770er Jahre inspiriert.616 Ein größeres Irritationspotential besitzt dagegen die Verschränkung von Weiblichkeit und Krieg, deren Funktion sich im Blick auf Sulzers Kunsttheorie nicht ohne Weiteres erhellt. Hier fällt der zeitliche Abstand zwischen den Auserlesenen Gedichten und der Allgemeinen Theorie erheblich ins Gewicht – denn in den literaturgeschichtlich geschäftigen Jahren zwischen 1764 und 1771/1774 waren die Impulse der Kriegsliteratur schon lange von der Ausgangssituation entkoppelt, weitergedacht und verallgemeinert worden. Mit der Ausklammerung des Krieges ist freilich der entscheidende Faktor für das dichtungstheoretische Interesse der Berliner Autoren an Karsch in der Zeit um 1750 übergangen worden. Das hat zur Folge, dass auch ein bemerkenswerter Eingriff in ihr Werk bisher keine größere Aufmerksamkeit in der Forschung erhalten hat.617 So tauchen ausgerechnet die sieben Kriegsoden aus ihrer schlesischen Zeit,618 die den Kristallisationspunkt für die dargelegte Dichterbiographie der „Vorrede“ bilden, in der Sammlung von Sulzer und Gleim nicht auf und sind deshalb für lange Zeit aus den Ausgaben herausgefallen.619 An ihre Stelle sind

615 Elisabeth Décultot, Kunsttheorie als Theorie des Empfindungsvermögens. Zu Johann Georg Sulzers psychologischen und ästhetischen Studien. In: Kunst und Empfindung. Zur Genealogie einer kunsttheoretischen Fragestellung in Deutschland und Frankreich im 18. Jahrhundert, hg. von ders. und Gerhard Lauer, Heidelberg 2012, S. 81–102. 616 Dieser Artikel wird in der Karsch-Forschung gern als Paralleltext zu Sulzers „Vorrede“ herangezogen. Vgl. z. B. Schaffers, Auf überlebtes Elend blick ich nieder, S. 64–66; Kerstin Barndt, „Mein Dasein ward unvermerkt das allgemeine Gespräch“. Anna Louisa Karsch im Spiegel der zeitgenössischen Popularphilosophie. In: Anna Louisa Karsch (1722–1791). Von schlesischer Kunst und Berliner „Natur“. Ergebnisse des Symposions zum 200. Todestag der Dichterin, hg. von Anke Bennholdt-Thomsen und Anita Runge, Göttingen 1992, S. 162–176, hier: S. 168 f. 617 Kurze Hinweise finden sich lediglich bei Heinrich, Leibhaftige Ästhetisierung und mediale Endverwertung, S. 143 und bei Krzywon, Die Karschin in Schlesien (1722–1761). 618 Aufgeführt sind diese Gedichte bei Krzywon, Tradition und Wandel, S. 39–56; vgl. auch die Ausführungen weiter unten in diesem Ausblick. Zählt man nicht nur die Kriegsoden, sondern alle Kasualgedichte zusammen, sind laut Krzywon 37 Texte aus der schlesisch-polnischen Lebensphase von Karsch erhalten sowie zwölf weitere dem Titel nach bekannt (Krzywon, Tradition und Wandel, S. 13 f.). In die Auserlesenen Gedichte wurde lediglich Karschs „Zuruf an Glogau“ aufgenommen (Karsch, Auserlesene Gedichte, S. 106–109). Das Gedicht handelt nicht von Schlachtereignissen, sondern formuliert den Dank dafür, dass die Stadt Glogau nicht in den Fokus der Kämpfe gerückt war. 619 Auch in der Werkausgabe, die Karschs Tochter Caroline von Klencke nach dem Tod der Mutter veranstaltete, fehlt von den frühen Kriegsgedichten jede Spur (Anna Louisa Karsch, Gedichte von Anna Louisa Karschin, geb. Dürbach, nach der Dichterin Tode nebst ihrem Lebenslauf hg. von ihrer Tochter C[aroline] L[uise] v. Klenke, geb. Karschin, Berlin 1792).  





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hingegen andere Kriegsgedichte getreten, die Karsch erst in Berlin unter der Anleitung ihrer Herausgeber verfasste – darauf wird zurückzukommen sein. Diese Substitution ist ein deutliches Anzeichen dafür, dass klar definierte Erwartungen an die Kriegspoesie aus der Perspektive einer Frau im Raum standen. Karsch, so könnte man sagen, besetzte für ihre Förderer eine Systemstelle im Gefüge der politischen Dichtung, die sich erst im Zusammenspiel von allen drei genannten Faktoren erschließt: Lyrik, Weiblichkeit und Krieg. Um diesen Diskursraum zu konturieren, scheint es sinnvoll, Sulzer nicht nur als den Urheber der Allgemeinen Theorie zu sehen, sondern auch als Akteur in den literarischen Netzwerken des 18. Jahrhunderts.620 Tatsächlich stand der Schweizer seit den 1740er Jahren in Kontakt zu genau denjenigen Autoren, die hier als Protagonisten einer politischen Dichtung profiliert worden sind. Prägnant bildet sich diese Vernetzung in einem Projekt ab, das die Herausgeberkonstellation der Auserlesenen Gedichte schon 1746 vorwegnahm. In diesem Jahr nämlich verfasste Sulzer die „Vorrede“ zu den Freundschaftlichen Briefen, die er gemeinsam mit Gleim edierte.621 Diese Sammlung anonymisierter Briefe stellte selbstbewusst die empfindsame Freundschaftskultur aus, die sich im Kontext der Universitätsstadt Halle etabliert hatte.622 Anhand der publizierten Korrespondenz wird klar, dass Sulzer zu den engen Vertrauten von Gleim und Samuel Gotthold Lange gehörte.623 Kontinuierlich nahm er an deren Austausch über literarische Projekte teil, zu denen nicht zuletzt die Kriegsdichtungen zählten –624 im Schutze der Briefkommunikation wagte der Schweizer sich sogar selbst an begeisterte Verse auf den preußischen König.625

620 Zu dieser Perspektive vgl. Annika Hildebrandt, Steffen Martus, Einleitung: Johann Georg Sulzer in den literarischen Diskursen des 18. Jahrhunderts. In: Johann Georg Sulzer, Dichtung und Literaturkritik, hg. von Annika Hildebrandt und Steffen Martus (Gesammelte Schriften, hg. von Hans Adler und Elisabeth Décultot, 10 Bde., Bd. 7), Basel 2019 [im Erscheinen]. 621 [Johann Georg Sulzer,] [Vorrede]. In: [Johann Wilhelm Ludwig Gleim,] Freundschaftliche Briefe, Berlin 1746, unpag. 622 Kemper, Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit, Bd. 6/1, S. 121–128; Mauser, Geselligkeit, S. 37– 40. 623 Genauer vgl. Hildebrandt, Martus, Einleitung: Johann Georg Sulzer in den literarischen Diskursen des 18. Jahrhunderts. 624 Vgl. z. B. das 1., 13. und 46. Schreiben der Freundschaftlichen Briefe. 625 Das 52. Schreiben in den Freundschaftlichen Briefen (S. 126) lässt sich auf Sulzer zurückführen (Carl Schüddekopf, Erläuterungen zu Briefwechsel zwischen Gleim und Uz, S. 465). In diesem Brief finden sich patriotische Verse auf König Friedrich II.: „Nun hat die Welt den hohen Frieden, / Von Friedrichs hohem Sinn erlangt, / Er hat den Harnisch ausgezogen / Da schon sein Feind am Schlund des Abgrunds / Wohin er ihn geiagt, erzittert stand. / Nach schwerem zornigen Gewitter, / Lacht Phöbus nicht so freundlich auf die Welt, / Als Friedrich auf den Feind, dem er verziehen.“  

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Das vorige Kapitel hat nachgezeichnet, dass genau dieses literarische Milieu um 1750 den Resonanzraum für diskursgeschichtliche Synergien bildete, in denen zwei Projekte in Interaktion traten: erstens eine Versinnlichung der Poesie im Zeichen von Baumgartens Ästhetik, und zweitens der Entwurf eines literarischen Patriotismus, der von den Feldzügen Friedrichs II. befeuert wurde. Ihren Berührungspunkt hatten Ästhetik und Patriotismus dabei im Bestreben, die starken Affekte am ‚Grund der Seele‘ zu erkunden und daraus eine Literatur zu generieren, die alle Menschen, unabhängig von Stand und Herkunft, auf der Ebene des Gefühls ergreifen sollte. Vor diesem Hintergrund betrachtet, erhält Sulzers Karsch-Vorrede eine literaturgeschichtliche Tiefenschärfe, die weit vor die Allgemeine Theorie der Schönen Künste zurückreicht: Die Evokation einer natürlichen Begeisterung im Angesicht der Schlachten fügt sich kohärent in die Diskurse ein, die den Krieg (neben Religion, Freundschaft und Liebe) für eine Anthropologisierung der Literatur empfahlen.626 Umgekehrt lädt Sulzers Argumentation mithin auch dazu ein, einen näheren Blick darauf zu werfen, wie die Autoren aus Halle das Verhältnis von Literaturund Geschlechterkonzepten vor der Entdeckung von Karsch konfigurierten. Dabei fällt auf, dass Frauen in diesem Kontext immer wieder zur Überprüfung und Vertiefung der anthropologischen Dichtungsprogramme herangezogen wurden. Es ist bezeichnend, dass die ästhetisch geprägten Autoren ihre Gedichte geradezu systematisch auf gefühlsmäßige Anschlussfähigkeit testeten, indem sie weibliche Reaktionen einforderten. Speziell Langes Ehefrau Anna Dorothea Lange, die im Freundeskreis den pastoralen Namen Doris trug,627 war eine gefragte Leserin für die Produkte des Zirkels; zudem hielten Lange, Gleim und Sulzer sie energisch dazu an, selbst zu dichten.628 Für das Fundament ihrer poetischen Eignung hielt

626 Zugleich entwickelte Sulzer die ästhetischen Ansätze in die Richtung von verwandten literaturtheoretischen Theorien weiter. Zentrale Bezugspunkte bilden die platonische Enthusiasmuslehre aus dem Ion (4. Jh. v. Chr.) und Edward Youngs Theorie des Originalgenies aus den Conjectures on Original Composition (1759). Ausführlich vgl. Schaffers, Auf überlebtes Elend blick ich nieder, S. 64–74. 627 Zu Anna Dorothea Lange vgl. genauer Kemper, Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit, Bd. 6/1, S. 128–133. 628 Im 4. der Freundschaftlichen Briefe, wahrscheinlich von Lange an Gleim, heißt es zum Beispiel: „Doris soll scherzhafte Lieder machen, und sie ihnen bis in die neue Welt nachschiffen.“ (Freundschaftliche Briefe, S. 8–10, hier: S. 8) Gleim erkundigt sich bei Lange: „Wie kommts, daß Doris nicht mehr singt? Wenn ich wüste, daß sie der horazischen Muse ungetreu geworden wäre, so wollte ich die anakreontische wieder zu ihr schicken.“ (Johann Wilhelm Ludwig Gleim an Samuel Gotthold Lange, 8. August 1747. In: Samuel Gotthold Lange, Sammlung gelehrter und freundschaftlicher Briefe, 2 Bde., Halle 1769/70, Bd. 1, S. 101–106, hier: S. 104) Sulzer lässt über Lange ausrichten: „Ich bitte die Doris gar sehr, daß sie sich etwas mehr, als bis dahin, ins  

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man dabei ihre innige eheliche Liebe, die der Prediger Lange in einer Ode „An Doris“ (Horatzische Oden, 1747) in der Güte Gottes verankerte.629 Auf dieser Grundlage erhob er Anna Dorothea zur Verkörperung einer reinen Empfindung, die ihr einen geraden Weg zur Dichtung gebahnt habe. Zentrale Gedankenfiguren von Sulzers Karsch-Vorrede werden mithin schon in Langes Ode „An Doris“ vorweggenommen. „Denn weil Du natürlich denkst und schreibst, / Weil du immer zärtlich denkest, // Wird Dir auch der Sprache Ausdruck leicht“, lobte der hallische Autor seine Frau: Nicht durch fremde Regeln abgehalten, Sondern von den Musen angeführt, Rührest Du Dein reines Saitenspiel, Nach Empfindung Deines Herzens.630

Mühelos, heißt es weiter, bewege sich die Besungene durch alle Formen der Ode, die von der Ersten und Zweiten Hallischen Dichterschule erprobt wurden. „Anacreontsche Scherze“ gelängen ihr ebenso leicht wie Liebeslieder „nach der Sappho starken Ton, / Wenn Du zärtlich Deinen Mann erhebst“. Und nicht zuletzt sei Anna Dorothea ein Loblied „nach Flaccus Art“631 gelungen; ein Text, der für den Zusammenhang von Lyrik, Weiblichkeit und Krieg in der preußischen Literatur von zentraler Bedeutung ist. Denn dabei handelt es sich um ein Kriegsgedicht aus der Feder einer Frau, das lange vor der Karschs Texten in den Druck ging: Die Ode mit dem Titel „Friedrichs Zurückkunft in sein Land“ erschien bereits 1747 im Anhang von Langes Horatzischen Oden. Dieser Erscheinungsort setzte das Gedicht von Anna Dorothea Lange in ein klares Korrespondenzverhältnis zu den Friedrich-Oden ihres Mannes; dasselbe Signal für die Einordnung des literarischen Experiments sendet die Form. So ist das Gedicht in der gleichen Strophenform verfasst wie eine erfolgreiche patriotische Ode von Samuel Gotthold Lange, „Die Siege Friedrichs“632. Beide Texte

Schreiben und Dichten menge. Durch die Uebung erlangt man Fertigkeit“ (Johann Georg Sulzer an Samuel Gotthold Lange, 10. Februar 1746. In: Lange, Sammlung gelehrter und freundschaftlicher Briefe, Bd. 1, S. 289–291, hier: S. 291). 629 „Dich, o Werthe, hat der ewge Vater / Liebreich meinen Tagen, eh sie waren, / In der grauen Ewigkeit ersehen“, schrieb Lange in seinem Gedicht „An Doris“: „Da Er mich dereinst zum Seyn erwählte, / Hat er um mein Leben zu versüssen, / Segnend Dich zugleich vor mich bestimmt.“ (Samuel Gotthold Lange: An Doris. In: Horatzische Oden, S. 123–138, hier: S. 123). 630 Lange, An Doris. In: Horatzische Oden, S. 135 f. 631 Lange, An Doris. In: Horatzische Oden, S. 136. 632 Im Briefwechsel von Lange erfährt dieser Text die meisten positiven Rezeptionsbelege. Der Philosoph Meier verfasste darauf zum Beispiel die Verse: „Mein Lange ist es, der des Flaccus Leyer / Mit göttlich starken Griffen schläget. / Er singt mit Macht. Der ganze Hämus schallt / Von  

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verwenden eine lose, aber identisch gebaute Nachahmung der sapphischen Strophe, die Lange als Marker des Erhabenen gleichermaßen für Oden auf Gott, heroische Taten wie Freundschaft und Liebe verwendete (vgl. Kap. III.1.1). Offenbar machte Georg Friedrich Meier in seiner Untersuchung Einiger Ursachen des verdorbenen Geschmacks der Deutschen, in Absicht auf die schönen Wissenschaften (1746) nicht ohne Grund genau diese Oden zu Metonymien der beiden Verfasser, wenn er „Denjenige[n], der die Siege Friedrichs, und den Frieden, den derselbe der Welt gab, besungen“ und „[d]ie Dichterin, welche die Zurückkunft Friedrichs in sein Land besungen“,633 pries. Eine Verschränkung spiegelt sich auch auf inhaltlicher Ebene. So zeichnet sich im Vergleich zwischen dem Ende von „Die Siege Friedrichs“ und dem Anfang von „Friedrichs Zurückkunft“ eine Komplementärbeziehung von männlicher und weiblicher Kriegspoesie ab: Hintereinandergelesen, entfalten die Oden ein Spiel der Interdependenz, in dem sich in nuce abbildet, welche Potentiale man in Halle mit einem weiblichen Blick in der Kriegsdichtung verband. Aus der männlichen Perspektive entwarf Samuel Gotthold Lange in „Die Siege Friedrichs“ dabei zunächst eine Gesamtschau der preußischen Erfolge im Zweiten Schlesischen Krieg, die er in pietistischer Manier als Beweis für göttliche Unterstützung deutete. Seine finale Apostrophe an den König schwingt sich zur Feier der Vorsehung auf, mit der eine patriotische Gemeinschaft auf religiöser Basis entworfen wird: Gott, „[d]er Vater und der H E rr der Engel und Menschen“, habe den Herrscher „Friederich“ durch seinen militärischen Erfolg neuerlich im Amt bestätigt, so dass die Untertanen sich des Schutzes zweier erhabener Instanzen freuen könnten. Im Schlussvers kommt diese politische Gemeinschaft zu Wort, die begeistert ihre Folgebereitschaft artikuliert. So spricht das Volk: „Und hör unser Lob.“634 Exakt an dieser Stelle setzt das Gedicht von Anna Dorothea Lange ein. In ihrer Ode auf „Friedrichs Zurückkunft in sein Land“ geht es darum, die Empfindungen des Volks angesichts des Sieges zur Sprache zu bringen. Angepasst an die weibliche Sprecherposition, ist die Ode dabei freilich in ein ziviles Setting verschoben: Pars pro toto für alle Daheimgebliebenen feiern die preußischen Frauen die Rückkehr ihrer Armee. Die Orientierungen der pietistisch geprägten Stadt Halle klingen auch hier unüberhörbar durch, wenn der Willkommensruf der

Friedrichs großen Heldenthaten. Die Musen stehn erstaunt, noch nicht gewöhnt, / Ein feurig deutsches Lied zu hören.“ (Georg Friedrich Meier an Samuel Gotthold Lange, 14. November 1745. In: Lange, Sammlung gelehrter und freundschaftlicher Briefe, Bd. 2, S. 194–197, hier: S. 195). 633 Georg Friedrich Meier, Untersuchung Einiger Ursachen des verdorbenen Geschmacks der Deutschen, in Absicht auf die schönen Wissenschaften, Halle 1746, S. 5. 634 Lange, Die Siege Friedrichs. In: Horatzische Oden, S. 4–21, hier: S. 18; 20.

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Frauen religiöse und weltliche Affekte überblendet. So wird der einreitende Herrscher dreifach angesprochen: als „göttliche[r] Friedrich“, als „Vater der Preussen“ und als „weiseste[r] König“635. Gegenüber dem männlich kodierten Pendantgedicht fällt dabei jedoch eine wesentliche Transformation ins Auge. Denn aus der weiblichen Perspektive erfolgt die Analogiebildung in umgekehrter Richtung: Statt die Ausbreitung der göttlichen Autorität bis zum Volk mit universalem Überblick ‚von oben nach unten‘ zu verfolgen, wie es die Sprechinstanz in „Die Siege Friedrichs“ tut, blickt die jubelnde Untertanin von der untersten Stelle der hierarchischen Ordnung ‚nach oben‘ zum Herrscher auf, in dem sich Gottes Macht sichtbar verkörpert. Dass diese Umstellung vom Blick ‚hinab‘ zu einem Blick ‚hinauf‘ enorme Potentiale für die patriotische Dichtung barg, muss nach der eingehenden Analyse von Gleims Preussischen Kriegsliedern nicht mehr betont werden. Sehr wohl ist aber zu akzentuieren, dass die Perspektive im betrachteten Text – unter dem Vorzeichen einer weiblichen Sprecherposition – literaturgeschichtlich zum ersten Mal ins Volk kippte. Anna Dorothea Langes Ode „Friedrichs Zurückkunft in sein Land“ erschien 1747; zwei Jahre später entwarf Klopstock im „Kriegslied, zur Nachahmung des alten Liedes von der Chevy-Chase-Jagd“ (1749) dann die Figur des „Dichters-mitten-in-der-Schlacht“,636 der das Verfahren der sozialen Absenkung in die Sphäre der kämpfenden Männer übertrug. Berührungspunkte zwischen dem weiblichen Blick auf den Krieg und der Poetik des soldatischen Kriegslieds dokumentieren sich auch in der zitierten Rede vom „Vater der Preussen“, die in den Liedern von Gleims Grenadier zum Topos wurde.637 Als Bezugspunkt kommt dabei nur Anna Dorothea Lange in Frage, denn bei den Friedrich-Dichtern Lange und Pyra war die Vater-Metapher noch für Gott reserviert gewesen.638 Indem die Basis der weiblichen Kriegspoesie von der

635 Anna Dorothea Lange, Friedrichs Zurückkunft in sein Land. In: Lange, Horatzische Oden, S. 161–166, hier: S. 161. 636 Bosse, Klopstocks Kriegslied (1749) [2001], S. 69. 637 Nach dem Tod von „Vater“ General Schwerin ([Gleim,] Siegeslied nach der Schlacht bey Prag. In: Preussische Kriegslieder, S. 41–48, hier: S. 42) rückt Friedrich II. im „Lied nach der Schlacht bey Collin, den 18ten Junius 1757“ in die Rolle des „Vater Friederich“ ([Gleim,] Lied auf die Schlacht bei Collin den 18ten Junius 1757. In: Preussische Kriegslieder, S. 55–60, hier: S. 55) und wacht er über das Wohlergehen seiner Anvertrauten. Bei einem aussichtslosen Angriff beweist er sich als mitleidiger Soldatenvater, indem er die Armee bittet: „Laßt, rief er, Kinder, laßt doch ab!“ (S. 58); gemäß dieser familiären Logik sehen die Soldaten sich im gleichen Lied als „Heldenbrüder“ (S. 59). 638 Pyra reservierte die Rede vom „höchste[n] Vater aller Dinge“ für Gott (Pyra, Ode auf Ihro Majestät Friedrich den Andern, S. 89). Lange versicherte dem König in seinem Gedicht „Die Siege Friedrichs“: „Der Vater und der H E rr der Engel und Menschen, / Der Dich der Welt zum Schutz

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religiösen Empfindung zu den zwischenmenschlichen Affekten verschoben wurde, verfing sich das Bild nun im irdischen Vertreter Gottes. Auf diese Weise wurde der König zum Zentrum einer patriotischen Empfindung, in der sich privatisierende und sakralisierende Momente aufs Engste verschränkten. Motiviert durch die Sozialrolle der Frau als liebender Gattin, werden dabei auch dezidiert amouröse Töne laut. So ist „Friedrichs Zurückkunft in sein Land“ reich an „Weibern“ und an „Bräuten“, die ihrem König wie die Frauen des biblischen Hohelieds „mit Schritten die die Liebe verrathen“,639 entgegeneilen.640 Es scheint kein Zufall, dass Anna Dorothea just an diesem Punkt in die Kurzverse der Anakreontik hinüberwechselt, indem sie einen Chor der preußischen Frauen in Gegenwart des Königs singen lässt: „Dich ehren die Töchter, / mit zärtlichen Trieben“641. Neben familiären Gefühlen wird hier die erotische Sehnsucht der wartenden Frauen für die patriotische Lyrik erschlossen. Gewiss nicht zu Unrecht sieht Bosse dabei eine „Männerphantasie“642 am Werke. Doch trotz aller Innovationen: Die Kriegsode von Anna Dorothea Lange ist ein einmaliges Experiment geblieben, bei dem es darum ging, den poetischen Patriotismus der Kriegszeit in die Wiederbegegnung des Heeres mit der Zivilbevölkerung einzutragen und damit in den Frieden zu überführen. Gleichwohl hatte das Ehepaar Lange mit der Publikation des Gedichts weitergehende Begehrlichkeiten geweckt, was die Potentiale einer weiblichen Perspektive in der Kriegsdichtung betraf. Ganz vorn unter den Interessierten stand Sulzer, der sofort konkrete Ideen zur geschlechtlichen Differenzierung des literarischen Patriotismus vortrug. 1746 schlug er Lange vor: „Sie sollen beyde die Früchte des Friedens in besondern Oden besingen.“ Dabei imaginierte er folgende Aufgabenverteilung: „Doris könnte die Wirkungen besingen, die ihr Geschlecht oder ein Haus insbesondere angehen, Sie aber würden auf den ganzen Staat sehen.“643 Diesen Vorschlag könnte man geradezu als Blaupause für die Art von weiblicher Kriegsdichtung sehen, die Sulzer noch fünfzehn Jahre später vor Augen stand, als er auf Anna Louisa Karsch traf. Darauf zumindest deuten die Gedichte der Schlesierin hin, die in die Auserlesenen Gedichte eingegangen sind. Denn die patriotischen Oden, die Karsch seit ihrer Begegnung mit Sulzer schrieb, waren

und Rächer gegeben, / Entdecket durch den Blitz, den er Dir verliehen, / Den ewigen Schluß.“ (Lange, Die Siege Friedrichs. In: Horatzische Oden, S. 18). 639 Anna Dorothea Lange, Friedrichs Zurückkunft in sein Land, S. 164. 640 Vgl. Hld. 3, 11. 641 Anna Dorothea Lange, Friedrichs Zurückkunft in sein Land, S. 165. 642 Bosse, Klopstocks Kriegslied (1749) [2001], S. 47. 643 Sulzer an Lange, 10. Februar 1746. In: Lange, Sammlung gelehrter und freundschaftlicher Briefe, Bd. 1, S. 290.

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konsequent in weiblich markierte Räume fernab der Schlachtfelder verlegt. Typisch sind Gedichte auf die Damen am preußischen Hof, die den Lesenden in die Lage versetzen, die Frauen der Hohenzollern als liebende Angehörige von Soldaten zu sehen. Wie schon bei Anna Dorothea Lange, wurde auch in den Auserlesenen Gedichten immer wieder die Situation des Wiedersehens nach dem Feldzug beschworen. So imaginierte Karsch die Prinzessin Amalia beim zärtlichen Wiedersehen mit ihrem Bruder, Prinz Heinrich („Er kommt, wie nennet hoch in deinem Busen hüpfend / Dein zärtlich Herze, den, den alles Sieger heißt?“644); und auch die Tochter von Prinz Ferdinand forderte sie auf, im „kleinen Busen“ das „siegrische[ ] Ergötzen“645 des Onkels Heinrich nachzuempfinden. Als paradigmatisch für diesen zärtlich-zivilen Patriotismus muss jedoch ein „Gesang am Geburthstage der Königin“ (1761) gelten, in dem Karsch die Gefühle der Untertanen mit denen der ersten Gattin im Staate verkoppelte. Hier wurde politische Nachfolgebereitschaft anhand der Sehnsucht einer Ehefrau modelliert – eine Strukturübertragung, die seit Canitz’ berühmter Trauerode für seine Gattin (entstanden 1695)646 immer wieder durch die preußische Literatur geisterte.647 Auch Karsch ließ das Volk gemeinsam mit der Regentin voller liebender Ungeduld an den Herrscher denken: „Ihn bald zurücke rufen Sie und wir; / Er aber bleibt nach Schlachten und nach Siegen / Noch immer fern von Ihr.“648 An diesen Beispielen wird deutlich, dass Karsch Kriegspoesie sich unter Sulzers Einfluss an die funktionale Differenzierung anpasste, die das Ehepaar Lange entworfen hatte. Für die politische Dichtung aus der Feder von Frauen sah dieses Komplementärmodell einen relativ stereotypen Affekthaushalt vor: Liebe, Zärtlichkeit, Sehnsucht. Im Rahmen eines sich Schritt für Schritt ausdifferenzierenden literarischen Patriotismus kam diesen weiblich kodierten Regungen integrale Bedeutung zu – versprachen sie doch, die heroischen Affekte der Heeresgemeinschaft mit den Gefühlen der Daheimgebliebenen zu verkoppeln und somit auf dem Feld wie in den Städten eine emotionale Kohäsion zu erzielen. Für die Dichterinnen des 18. Jahrhunderts setzte dieses korrelative Denken indes klare

644 Karsch, An Ihro Königliche Hoheit die Prinzeßin Amalia bey dem Empfang des Prinzen Heinrichs. Den 5ten Jenner 1763. In: Auserlesene Gedichte, S. 120 f., hier: S. 120. 645 Karsch, Lied der Musen an die junge Prinzeßin Tochter des Prinzen Ferdinands vom Hause. In: Auserlesene Gedichte, S. 122–125, hier: S. 124. 646 Kanonisch zur literaturgeschichtlichen Signifikanz von Canitz’ „Klag-Ode über den Tod seiner ersten Gemahlin“ vgl. Ernst Osterkamp, Liebe und Tod in der Frühaufklärung. In: „Der Kraft spielende Übung“. Studien zur Formgeschichte der Künste seit der Aufklärung, hg. von Jens Bisky et al., Göttingen 2010, S. 9–38, bes. S. 21–28. 647 Vgl. Martus, Anthropologie und Staatsdienst [im Erscheinen]. 648 Karsch, Gesang am Geburthstage der Königin zu Magdeburg den 8ten des Wintermonats 1761. In: Auserlesene Gedichte, S. 67–70, hier: S. 68.  

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Restriktionen, die durch die Überlagerung von Weiblichkeit und Natürlichkeit im ästhetischen Diskurs verschärft wurden. Vor den Autorinnen lag der Drahtseilakt, den Krieg so zu beschreiben, dass die entfalteten Gefühlsregungen nicht mit der unterstellten Natur von Frauen in Konflikt gerieten. Eine solche Erwartungshaltung jedenfalls würde erklären, warum Karschs ältere Kriegslyrik von ihren Förderern unter den Tisch gekehrt wurde. Denn mit der hier rekonstruierten Vorstellung von natürlicher weiblicher Empfindung hatte diese wenig gemein. In ihren eigens konzipierten Kriegsgedichten setzte Karsch auf maximale Erhabenheit und scheute dabei weder die sakrale Sphäre noch den Blick ins Gemetzel. Sie selbst bezeichnete ihre Gesänge entsprechend als „Eine Art von Siegespsallm[en]“649. Nach dem Sieg bei Lissa (1757) evozierte sie Friedrich II. mithin als Vollstrecker göttlicher Rache („So schlug Jehov mit seines Knechtes Schwerdte / Das Schwerdt, das unser Bluth begehrte“650): eine Anleihe bei den Rachepsalmen, die in der Folge immer wieder Gewaltvisionen motivierte. Besonders gilt das für Karschs Gedichte auf die Schlacht bei Zorndorf. Sie zeigen den König als inkorporierten „Schrecken Gottes“, der wilde „Tartarhorden“ aus Russland in die Knie zwingt. Die Barbarisierung des Gegners rechtfertigt dabei eine enorme Brutalität, wie man sie weder bei Lange noch bei Gleim findet: Dein Schwert durchstrich die grimmigen Entschlüsse, Die Mordsucht und Gewalt gebar; Es wälzte sich vor Deine Füsse In seinem Blut der brüllende Barbar.651

649 Die Formulierung findet sich im autobiographischen Bericht der Autorin in Karsch/Gleim, Mein Bruder in Apoll, Bd. 1, S. 356. 650 Anna Louisa Karsch, Freudige Empfindungen redlicher Herzen, die, wegen des verliehenen herrlichen Sieges dem Höchsten Dank opferten, welchen Se. Königl. Majest. von Preussen den 5ten December 1757. bey Fröbelwitz, zwischen Neumarck und Lissa über die Oesterreichische grosse Armee erfochten haben. Beschrieben von Anna Luise Karschin, geb. Dürbachin, eines Schneiders Frau aus Glogau, Glogau 1757, unpag. 651 Beide Zitate stammen aus dem unpaginierten Druck von Anna Louisa Karsch, Siegesode Friedrich, dem Ueberwinder der Russen, dem großen und besten König allerunterthänigst zu Füssen gelegt, o. O. Den 3ten September 1758. In einer anderen Ode auf die Schlacht bei Zorndorf formuliert Karsch, das russische Heer sei „[b]ewaffnet mit dem Schwert und mit der Barbarey“ (Anna Louisa Karsch, Die gedemüthigte Russen zur Ehre Gottes und des Grossen Friedrichs am Tage der öffentlichen Freude beschrieben, Glogau 1758, unpag.). Evokationen des Grauens, von „Feuer und Tod, Verwüstung, Heulen und Wimmern“, durchziehen auch eine „Ode an das zerstörte Cüstrin“ (o. O. 1758, unpag.). Noch weiter geht schließlich das Gedicht „Friedrich der Beschützer, und Liebenswürdige“, das ebenfalls in den Zorndorf-Kontext gehört. Der Text ist stark von Gleim inspiriert und daher begrenzt aussagekräftig, was Karschs eigene Poetik betrifft: Formal wird die Grenadierstrophe gewählt, motivisch finden sich immer wieder Echos von Gleims Zorndorf-Ode. Karschs Darstellung fällt jedoch düsterer aus. Als „Cherub“ wirft Friedrich II. bei

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Diese Tendenz zur drastischen Darstellung war Karschs Förderern in Berlin durchaus bekannt. Es sei nur auf den größten Publikumserfolg der Schlesierin verwiesen, die Ode „Groß durch den Sieg des Königs bey Torgau“ (1760), die sowohl Gleim auf sie aufmerksam machte als auch die Verfasser der Literaturbriefe.652 In einer Strophe, die Moses Mendelssohn für ihre „männliche, und fast etwas wilde Imagination“653 pries, schreibt Karsch nicht minder martialisch: Der König winkt, die Reuter falten Ernsthaft die Stirnen, und ihr Arm Wird ihren Feinden schwer, geschwungne Säbel spalten Den Kopf, und vom Gehirn noch warm Zerfleischt das Schwerdt die Eingeweide: So kämpfen Löw und Tygerthier.654

Solche Stellen übergehen die Auserlesenen Gedichte mit beredetem Schweigen. Ein derartiger Blutrausch schien den Herausgebern offenbar nicht geeignet, um die weibliche Kriegspoesie als eine Sprache der Natur zu platzieren, wie es in der „Vorrede“ zu den Auserlesenen Gedichten geschah.655 Für Sulzer und Gleim war die poetologische Trias von Krieg, Lyrik und Weiblichkeit offensichtlich nur unter der

ihr „den Feind ins Grab“, dessen Niederlage ungewohnt blutig für das 18. Jahrhundert dargestellt wird: Die russische Macht „fällt, und athmet ihre Wuth / Zu Friedrichs Füßen aus; / Leckt Staub, und sprudelt mit dem Blut / Die Seele schwarz heraus“. Diese Gewaltvision hindert Karsch nicht daran, den preußischen König im Anschluss als ein „Wesen voller Licht“ zu rühmen, das von Gott nach der „Art / Erhabner Engel“ in die Welt gerufen worden sei (alle Zitate aus dem unpaginierten Einzeldruck von Anna Louisa Karsch, Friedrich der Beschützer, und Liebenswürdige. Besungen den 24. Jenner 1759, o. O. 1759). 652 Im Februar 1761 wurden fast zeitgleich Auszüge aus dem Text in den Berliner Literaturbriefen und in der Magdeburgischen Zeitung abgedruckt; auf diesem Weg erfuhr Gleim von der schlesischen Dichterin (Heinrich, Leibhaftige Ästhetisierung und mediale Endverwertung, S. 147 und 165 f.). 653 [Moses Mendelssohn,] 143. Brief. In: BNL, Bd. 9, 1761, S. 21–35, hier: S. 35. 654 Anna Louisa Karsch, Den 3ten November 1760. groß durch den Sieg des Königs bey Torgau, Glogau 1760, unpag. 655 Dazu passt, dass Gleim schon angesichts der Friedrich-Ode der sogenannten ‚Langin‘ sein Unbehagen äußerte. So schrieb er an ihren Ehemann Samuel Gotthold Lange: „Das Gedicht der Doris lasse ich nicht drucken, es ist nicht besser, als alles, was die Dorissen oder Kulmussen vor ihr geschrieben haben. Dennoch wäre es so geschehen, wenn nicht die letzte Strophe eine so abscheuliche Klage wider die Natur enthalten hätte. Doris soll und muß, ja sie soll und muß eine Doris bleiben. Sie soll und muß kein Soldat werden, und wenn Friedrich noch einmal Friedrich wäre, so soll sie ihr Blut nicht vor ihn versprützen.“ (Gleim und Sulzer an Lange, 15. [kein Monat] 1746. In: Lange, Sammlung gelehrter und freundschaftlicher Briefe, Bd. 2, S. 169–173, hier: S. 172).  

4 Eine Parallelgeschichte: Weibliche Kriegsdichtung um 1750

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Bedingung einer Dekanonisierung der Texte zu haben, die Karsch zuallererst bekannt gemacht hatten. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass diese Konstellation ausschlaggebend für das rasch nachlassende Interesse an Karsch war, die nach dem Ende des Siebenjährigen Kriegs nie wieder recht an ihre anfängliche Popularität anknüpfen konnte. Zum Abschluss seien zwei Versuche für einen Ausweg aus diesen Dilemma angeführt, die zeigen, dass das Konzept der weiblichen Kriegspoesie die Zeitgenossen ungeachtet der Schwierigkeiten mit einer empirischen Kriegsdichterin nicht losließ. Auf der einen Seite steht ein literarisches Projekt aus Karschs eigener Zeit, das gezielt auf die Produktivität eines weiblichen Patriotismus setzte. Dabei konnte es Sprechgebote und -verbote für Frauen umgehen, indem es die Freiheiten der Rollendichtung auskostete. Anstelle einer Frau formulierte hier nämlich ein Mann: 1762, ein Jahr nach Karschs Ankunft in Berlin, verfasste der Leipziger Dichter Christian Felix Weiße Amazonen-Lieder, in denen er genüsslich die Gefühlslage einer bangenden Geliebten während der Schlachten ausmalte. Glorifizierungen des Kampfes wurden hier mit amourösen Phantasien verschränkt, so dass eine affektgeladene Kriegsvision entstand. Weißes Poetik gipfelte dabei in einer säkularisierten Blut-und-Wunden-Erotik, in der das Blut der christlichen Passion sich mit den Tränenströmen der Empfindsamkeit vermischte.656 So spricht die leidenschaftliche Amazone beim Abschied ihres Helden: „Du küssest mir die Thränenfluth / Vom glühenden Gesicht / Ach! wischt ich dort die Tropfen Blut / Und Schweiß dir vom Gesicht!“657 Diese Affektpoetik hat wohl niemand prägnanter auf den Punkt gebracht als Karsch, die nach der Lektüre der Amazonen-Lieder begeistert an Gleim schrieb: wellcher Jüngling wird die Gefahr achten gegen die Vorstellung nach dem feldzug so schön Empfangen zu werden wie reizend wenn daß Mädchen Seine brust entblößen heist und die

656 Herausgehoben von Gerhard Sauder, Christian Felix Weißes Amazonen-Lieder im Siebenjährigen Krieg. In: „Krieg ist mein Lied“. Der Siebenjährige Krieg in den zeitgenössischen Medien, hg. von Wolfgang Adam und Holger Dainat, Göttingen 2007, S. 193–214, hier: S. 204 f.; 206–209; vgl. auch Koschorke, Körperströme und Schriftverkehr. Zur Tradition der erotischen Passionsmotivik s. Ferdinand van Ingen, Die Thematik von Blut und Wunden in der geistlichen Lyrik des 17. und 18. Jahrhunderts. In: Das Blut Jesu und die Lehre von der Versöhnung im Werk Johann Sebastian Bachs, hg. von Albert Clement, Amsterdam u. a. 1995, S. 15–26. 657 [Christian Felix Weiße,] Abschied einer neuen Amazone bey Eröffnung des Feldzuges. In: Amazonen-Lieder. Zwote vermehrte Aufl., Leipzig 1762, S. 1–8, hier: S. 7. Im Frühjahr des Jahres 1762 war die erste Auflage erschienen, die sieben Lieder enthielt ([Christian Felix Weiße,] Amazonen-Lieder, Leipzig 1762); nachdem diese innerhalb von zwei Wochen vergriffen war, legte Weiße die hier zitierte zweite, erheblich erweiterte Auflage mit 14 Liedern nach. Zur Publikationsgeschichte vgl. Sauder, Christian Felix Weißes Amazonen-Lieder im Siebenjährigen Krieg, S. 196 f.  





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Teil III Krieg und Lyrik: Ästhetik und Schlesische Kriege

Narben zählt und spricht hier Eine und Eine da wie nah dem Herzen ach wie nah wenn Sie sich wünscht diese Wunden zugedrückt zu haben.658

Und gleich darauf stellte die Autorin eine bezeichnende Frage. „[W]ißen Sie den Ort nicht wo diese Mädchen leben? Ich wollt Ihnen schreiben meine Schwestern in Apoll wollt ich sagen Ich lieb Euch mein Herz schmellzt bey Eurem Gesang“659. Diese Bitte überrascht nicht, schließlich waren die fiktiven „Mädchen“ mit ganz anderen Sprechlizenzen ausgestattet als eine Dichterin des 18. Jahrhunderts. Man könnte sagen: Weißes Amazonen kamen aus Gefilden, zu denen Karsch vorerst keinen Zutritt hatte. Vor dem Hintergrund dieser Spannungen scheint es folgerichtig, dass sich die dichtungstheoretische Liaison von Lyrik, Weiblichkeit und Krieg in der späteren Rezeption von Karsch an einigen Stellen wieder lockerte. Eine grundlegende Reinterpretation der Konstellation, die hier als zweiter zeitgenössischer Ausweg angeführt werden soll, geht auf Johann Gottfried Herder zurück. Dieser entdeckte die Poetin aus dem niederen Stand um 1800 für sein Konzept des Liedes, indem er sie in erster Linie als Angehörige des Volkes konzeptualisierte –660 eine Operation, die es ihm erlaubte, den Faktor ‚Geschlecht‘ für sekundär zu erklären. Anlässlich der zweiten Auflage einer Sammlung von Karschs Gedichten, die ihre Tochter Caroline von Klencke posthum veranstaltete, rühmte Herder die Dichterin 1797 vor allem für ihr „reine[s] Volksgefühl“;661 aus diesem Grund privilegierte er ausdrücklich diejenigen Teile ihres Werks, die er auf Situationen mit kollektiver Relevanz zurückführen konnte: Alle reinen Empfindungen, über Gott, Vorsehung, über die Schicksale und Erfahrungen ihres eigenen Lebens, über Menschenpflichten, über sich selbst, so wie auch über große Situationen der Menschheit, insonderheit im Kriege, beym Brande, in Hunger, Kummer und Elend, über tröstende Hoffnungen der Religion u.f. setze ich in die Sphäre ihrer hohen und starken Naturempfindungen. […]

658 Karsch an Gleim, 26. März 1762. In: Diess., Mein Bruder in Apoll, Bd. 1, S. 90. 659 Karsch an Gleim, 26. März 1762. In: Diess., Mein Bruder in Apoll, Bd. 1, S. 90. 660 Hergeleitet und eingeordnet von Hannelore Scholz, „Doch mein Herz, … dieses ist ganz Gefühl, ganz Freundschaft, so wie es den Dichtern geziemt.“ Die Karschin im Kontext der Volkspoesiedebatte in Deutschland. In: Anna Louisa Karsch (1722–1791). Von schlesischer Kunst und Berliner „Natur“. Ergebnisse des Symposions zum 200. Todestag der Dichterin, hg. von Anke Bennholdt-Thomsen und Anita Runge, Göttingen 1992, S. 132–148, hier: S. 141–145. 661 Johann Gottfried Herder, Gedichte von Anna Louisa Karschin, geb. Dürbach. Nach der Dichterin Tode nebst ihrem Lebenslauf herausgegeben von ihrer Tochter C. L. von Klenke, geb. Karschin. Berlin. In: Nachrichten von gelehrten Sachen, hg. v. der Akademie nützlicher Wissenschaften zu Erfurt, Bd. 1, 1797, 25. Stück, 8. May 1797. In: HSW, Bd. 20, Berlin 1880, S. 269–276, hier: S. 271.

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Gerade diesem Gefühl entgegen stehen die bloßen Gegenstände der Pracht; Illuminationen, fürstliche Einzüge, gnädigste Herablassungen u. f. – Was konnte die Naturdichterin hier singen, hier beschreiben?662

Im Gefolge der „Naturempfindungen“ des Volkes, das Männer wie Frauen einschloss, konnte nun auch der Krieg zurück ins Spiel kommen. Herders Besprechung der Karsch-Ausgabe schließt insofern mit einer bitteren Klage über das fortgesetzte Fehlen der frühen Schlachtgesänge, die er „zu den schönsten Begeisterungen der Karschischen Muse“ zählte. Eine Liste von sechs Gedichtanfängen zeigt eindrucksvoll, dass die oben zitierten Oden aus dem Siebenjährigen Krieg auch um 1800 noch im kulturellen Gedächtnis präsent waren.663 Ihre Wahrnehmung hatte sich nun jedoch verschoben: Aus Karschs Kriegsdichtung war bei Herder Volksdichtung geworden. Es ist kein Zufall, dass am Ende dieser kurzen Parallelgeschichte zu den poetologischen Wechselbeziehungen von Lyrik, Weiblichkeit und Krieg der Literaturtheoretiker Herder ins Bild rückt. Denn hier deutet sich die entscheidende Rolle an, die der Gelehrte prinzipiell in den Diskursen spielte, in denen die literarischen Entwicklungen aus der Zeit der Schlesischen Kriege generalisiert und in allgemeine Literaturprojekte überführt wurden. Vor allem in Herders Frühwerk findet sich ein außerordentlich einflussreiches zeitgenössisches Fazit aus der Kriegsdichtung um 1750, das auch in dieser Studie zu einer abschließenden Reflexion dienen soll. Seinen Überlegungen soll darum der letzte Abschnitt dieser Arbeit gewidmet sein.

662 Herder, Gedichte von Anna Louisa Karschin, S. 271 f. 663 Herder wünschte sich „eine zweyte Nachlese Karschischer Gedichte“, in der weitere Texte Platz finden würden: „,Der seinen Stuhl hoch über alle Thronen.‘ Die malerische Ode der Einzug: ‚Mit hunderttausend Stimmen ruft.‘ Eine andre: ‚Was hör ich? mit dem Klang von zehntausend Flöten.‘ Ein Lied im Ton der Kriegslieder: (1759). ‚Wuth und Verwüstung waffnen sich.‘ An den Ueberwinder der Russen: (1758). ‚Held und Monarch! aus feindlichen Gefilden.‘ An das zerstörte Cüstrin: ‚Schwarz wie die Pforten der Nacht.‘“ (Herder, Gedichte von Anna Louisa Karschin. In: HSW, Bd. 20, S. 276) Alle Texte stammen aus dem Umfeld des Siebenjährigen Kriegs; einige aus den oben genannten Einzeldrucken, einige aus der Sammlung Gesänge bey Gelegenheit der Feierlichkeiten Berlins (1763), die Karsch anlässlich des Hubertusburger Friedens veröffentlichte. In der genannten Reihenfolge führt Herder die Initia folgender Texte an: 1) „An das Vaterland bei der triumphirenden Wiederkunft des Königes“, 2) „Der Einzug Friedrichs des Unüberwindlichen“, 3) „An den König. Bei Seinem dritten Triumph“ (alles aus Gesänge bey Gelegenheit der Feierlichkeiten Berlins, unpag.), 4) „Friedrich der Beschützer, und Liebenswürdige“, 5) „Siegesode Friedrich, dem Ueberwinder der Russen, dem großen und besten König allerunterthänigst zu Füssen gelegt“, 6) „Ode an das zerstörte Cüstrin“.  

Generalisierungen: Krieg, Lyrik und Nation bei Herder Anfang 1763 kam der Siebenjährige Krieg zu einem Ende, das alle politischen Akteure ernüchtert zurückließ. Konsterniert musste man anerkennen, dass der längste Waffengang der drei Schlesischen Kriege territorial nichts verändert hatte. Nachdem das Pendel sieben Jahre lang einmal zugunsten dieser, einmal zugunsten jener Kriegspartei ausgeschwungen war, atmete man nun auf beiden Seiten verhalten auf, als der Frieden von Hubertusburg den status quo ante bellum wiederherstellte.1 Die deutsche Literatur ging dagegen nach 1763 nicht zurück auf Anfang. Gerade unter den jungen Autoren hatte die Dichtung des Siebenjährigen Kriegs begeisterte Anhänger gefunden, die daraus auch nach dem Ende der Schlachten poetologische Lehren zogen. Besonders einen aufstrebenden, kaum zwanzigjährigen Gelehrten aus Königsberg beschäftigte der literarische Gemeinschaftsentwurf der Preussischen Kriegslieder so nachhaltig, dass er diese Lyrik zu einem zentralen Referenzpunkt für seine frühen dichtungstheoretischen Überlegungen machte: Die Rede ist von Johann Gottfried Herder. Angesichts der ersten Schrift, mit der Herder sich auf einen Schlag unter den deutschen Autoren bekannt machte, ist diese Faszination für einen der wichtigsten Programmtexte der Berliner Aufklärung nicht überraschend. So markierte der debütierende Autor seine Fragmente Über die neuere Deutsche Litteratur, die 1766/67 in drei Bänden in Riga erschienen, im Titelzusatz als Beilage zu den Briefen, die neueste Litteratur betreffend und stellte sich damit selbstbewusst in die Linie des preußischen Literaturprojekts.2 Die Auseinandersetzung mit der Berliner Kriegslyrik reichte zu diesem Zeitpunkt freilich bereits zwei Jahre weiter bis zu der unvollendeten Abhandlung Von der Ode zurück, in der Herder sich 1764/65 die dichtungs- und kulturtheoretische „Argumentationsgrundlage“3 für die Fragmente erarbeitet hatte. Beide Texte widmen der Poetik des Kriegslieds

1 Clark, Iron Kingdom, S. 206; Martus, Aufklärung, S. 670 f. 2 Vgl. Joachim Jacob, Johann Gottfried Herders Fragmente über die neuere deutsche Litteratur und Heinrich Wilhelm von Gerstenbergs Briefe über Merkwürdigkeiten der Litteratur. Gibt es eine Poetik des Sturm und Drang? In: Sturm und Drang. Epochen – Autoren – Werke, hg. von Matthias Buschmeier und Kai Kauffmann, Darmstadt 2013, S. 68–84, hier: S. 70. 3 So Gaier im Überblickskommentar zu Von der Ode in FHA, Bd. 1, S. 928–931, hier: S. 931. Vgl. auch ders., Poesie als Metatheorie. Zeichenbegriffe des frühen Herder. In: Johann Gottfried Herder 1744–1803, hg. von Gerhard Sauder, Hamburg 1987, S. 202–224 sowie Michler, Kulturen der Gattung, S. 190.  

https://doi.org/10.1515/9783110613575-014

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besonderes Augenmerk und schärfen so den Blick für die neuen poetologischen Projekte, die nach 1763 aus der Literatur des Siebenjährigen Kriegs hervorgingen. So diente der Kriegsgesang dem jungen Herder in seinen Gedanken Von der Ode als entscheidende Denkhilfe, um sich aus einem dichtungstheoretischen Dilemma herauszukämpfen, das sich seit Johann Adolf Schlegels Einspruch gegen Batteux’ Les Beaux-Arts réduits à un même principe (1746) stellte. In immer neuen Anläufen kreisen Herders Entwürfe um die Frage, ob die Ode tatsächlich die Grenzen der „Nachahmung“ hinter sich lassen und einer authentischen „Sprache der Leidenschaft“4 Raum geben könne, wie Schlegel es 1751 in den Anmerkungen zu seiner Batteux-Übersetzung behauptet hatte.5 Diese These war für Herder ebenso fragwürdig wie verheißungsvoll. Denn einerseits zweifelte er die Affektfähigkeit der aufgeklärten Gegenwart an, während die Ode bei den Völkern der Antike noch die „Muttersprache der Poesie“6 und das „erstgeborne Kind der Empfindung“7 gewesen sei. Andererseits mochte er diesen Verlust nicht hinnehmen. Mithin machte er sich auf die Suche nach Residuen der „Naturempfindung“, die „mitten unter dem Zwange“8 erhalten geblieben seien. Ein Paradigma dafür fand er just im Krieg. So geht ein Textbruchstück der Schrift Von der Ode der Möglichkeit nach, dass Schlachten zu jeder Zeit „Affekt, Handlung, und Leben“ bereithalten könnten, ohne dass man über die Bande einer Nachahmung der Antike spielen müsse. Schon die alten Griechen habe der Krieg zum Gesang animiert, bemerkte Herder mit Verweis auf die poetologische Zentralfigur der Berliner Kriegslyrik. „Tyrtäus singt – Kriegslieder – die mehr als Armeen überwanden“, erinnerte er: Tyrtäus singt: um ihn klingen spartanische Waffen; Fahnen fliegen um ihn: der Befehl des Apolls in seinen Ohren das Bürgerrecht Sparta’s sein Zweck: vor ihm wütende Messenier, hinter ihm Spartaner, noch in den Narben der Feigheit Helden […].

Das gleiche Potential kriegerischer Empfindungen, mutmaßte der junge Gelehrte, dürfe auch noch in der Gegenwart schlummern, die „dreifach starke Spartaner“ hervorbringe. „Und hier kann man die Alten und Neuern vergleichen, ohne über den Grundsatz der Nachahmung zu richten“, konstatierte er, um sich in der

4 Johann Gottfried Herder, . In: FHA, Bd. 1, S. 57–101, hier: S. 63. 5 Vgl. die detaillierte Schlegel-Lektüre bei Guthke, Die Erfindung des Ich in der Lyrik, S. 109–112. Zu Herders Auseinandersetzung mit Schlegels These vgl. auch Gaiers Stellenkommentar zu Von der Ode in FHA, Bd. 1, S. 931–968, hier: S. 934 f. 6 Herder, . In: FHA, Bd. 1, S. 61. 7 Herder, . In: FHA, Bd. 1, S. 78. 8 Herder, . In: FHA, Bd. 1, S. 73.  

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Konsequenz eine neue Lyrik des Krieges herbeizuwünschen: „Wer singt dir nach, Tyrtäus!“9 Ein vernehmliches Echo dieser Passage findet sich auch in den Fragmenten Über die neuere Deutsche Litteratur, in denen Herder die „Ablehnung einer unbedachten Nachahmung der Alten“10 bekräftigte und unter einen neuen Leitbegriff stellte. Nicht zufällig hatte er im Titel gegenüber den Briefen, die neueste Litteratur betreffend ein Adjektiv ergänzt:11 In seinem Résumé aus den Berliner Briefen sollte es um die Konstitution einer dezidiert deutschen Literatur gehen, so dass bereits die „Einleitung“ die Kategorie der Nation in den Mittelpunkt rückte. „Auf welcher Stufe befindet sich diese Nation? und zu welcher könnte und sollte sie kommen? Was sind ihre Talente, und wie ist ihr Geschmack?“,12 fragte Herder hier programmatisch. In diesem Sinne hob er die Preussischen Kriegslieder als Musterbeispiel für eine Dichtung hervor, die den Weg für eine nationale Neuausrichtung weise, indem sie ein Verfahren der kulturspezifischen Nachahmung erprobe.13 Unter den sieben Parallelen zwischen griechischen und deutschen Dichtern in seinen Fragmenten erhielt dementsprechend nur die an der Mittelposition platzierte Analogie zwischen „Tyrtäus und de[m] Grenadier“ sein uneingeschränktes Lob, weil ihr ein Paradox gelungen sei: die Nachahmung einer antiken Gattung, die zugleich fest in der deutschen Kultur verankert sei.14

9 Herder, . In: FHA, Bd. 1, S. 96. 10 Gaier, Überblickskommentar zu Von der Ode. In: FHA, Bd. 1, S. 928–931, hier: S. 930. 11 Jacob, Johann Gottfried Herders Fragmente über die neuere deutsche Litteratur und Heinrich Wilhelm von Gerstenbergs Briefe über Merkwürdigkeiten der Litteratur, S. 70. Zur Abgrenzung von der literaturpolitischen Ausrichtung der Literaturbriefe, die ihren preußischen Standort betonten, vgl. auch Ulrich Gaier, Von nationaler Klassik zur Humanität. Konzepte der Vollendung bei Herder. In: Nationen und Kulturen. Zum 250. Geburtstag Johann Gottfried Herders, hg. von Regine Otto, Würzburg 1996, S. 49–64, hier: S. 49. 12 Johann Gottfried Herder, Über die neuere deutsche Literatur. Erste Sammlung von Fragmenten. Eine Beilage zu den Briefen, die neueste Literatur betreffend. 1767. In: FHA, Bd. 1, S. 161–260, hier: S. 170. Zur dezidiert nationalen Programmatik der Fragmente vgl. Ulrich Gaier, Epidemischer Zeit- und Nationalwahnsinn. Herder zwischen geläutertem Patriotismus und Kritik am Nationalismus. In: Königsberg-Studien. Beiträge zu einem besonderen Kapitel der deutschen Geistesgeschichte des 18. und angehenden 19. Jahrhunderts, hg. von Joseph Kohnen, Frankfurt a. M. u. a. 1998, S. 179–190, v. a. S. 180: Herders Zielvorstellung sei die einer „nationalen Klassik, in der die Deutschen nicht inhaltlich, aber strukturell eine ähnliche Blütezeit sich erarbeiten sollten wie die athenischen Griechen des 5. Jahrhunderts vor Chr.“. 13 Zu diesem Ansatz der Fragmente vgl. Karl Menges, Particular Universals: Herder on National Literature, Popular Literature, and World Literature. In: A Companion to the Works of Johann Gottfried Herder, hg. von Hans Adler und Wulf Koepke, Rochester 2009, S. 189–214, hier: S. 190. 14 In der ersten Auflage der Fragmente votierte Herder darüber hinaus in einem kurzen Abschnitt positiv für eine Analogie zwischen „Alciphron und Gerstenberg“; diese reichlich konstruierte  





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Tyrtäus sei „das Geschenk des Orakels für Sparta“ gewesen, während der preußische Grenadier dasselbe „für den Ruhm Deutschlands“15 sei, jubilierte Herder. Aus diesem Grund dürften die Grenadierlieder den Rang der ersten „Nationalgesänge“ behaupten: „[H]ier hat einmal ein deutscher Dichter über sein deutsches Vaterland ächt und brav deutsch gesungen, ohne an andre Nationen sein Genie zu verpachten.“ Das gelte nicht nur für Gleims Konzentration auf die deutsche Zeitgeschichte: „Der Grenadier redet von großen bekannten Begebenheiten, die jedermann aufmerksam machen: die heroischen Gesinnungen, der Geiz nach Gefahren, der Stolz für das Vaterland zu sterben, ist seine einzige Begeisterung[.]“ Der patriotische Enthusiasmus des fiktiven Soldaten finde seinen Ausdruck zudem in einer Sprache, die in ihrer „edle[n] Einfalt“ und „rauhe[n] Stärke“ genuin deutsch und darum „unübersetzbar“ sei. „Diese Sprache ist die wahre deutsche Nationallaune“, rief Herder: „[M]üßt ihr schon nachahmen, so ahmt lieber eure Landesleute nach, als fremde Nationen“16. In dieser doppelten Referenz auf die Preussischen Kriegslieder zeichnet sich eine Wechselbeziehung zwischen Lyrizität und Nationalität ab, die für die Literaturtheorie des jungen Herders paradigmatisch ist. Beide Elemente konvergierten in einem Reformprogramm für die deutsche Literatur, das von der Nachahmung fremder Kulturen entwöhnen und stattdessen zur Freisetzung der eigenen Kräfte befähigen sollte.17 Dabei steht der Gegenstand ‚Krieg‘ an der konzeptionellen Gelenkstelle zwischen zwei Ressourcen, in denen Herder dieses Eigene situierte: in der Empfindung und in der Nation, die sich sowohl in der Schrift Von der Ode als auch in den Fragmenten Über die neuere Deutsche Litteratur als zwei Seiten derselben Medaille präsentierten. Mit dieser Verschränkung bewies Herder ein feines Gespür für die poetologische Pointe der Berliner Literatur des Siebenjährigen Kriegs, die das Lied als Medium eines politischen Gemeinschaftsgefühls gegen das überkommene Nationalepos gestellt hatte. Und auch darüber hinaus eignet sich sein Frühwerk dazu, einen resümierenden Blick auf die neuen dichtungstheoretischen Perspektiven zu

Parallele erfuhr jedoch heftige Kritik und tauchte in der zweiten Auflage nicht mehr auf (Gaier, Stellenkommentar zu Über die neuere Deutsche Litteratur. In: FHA, Bd. 1, S. 1019–1232, hier: S. 1142 f.). 15 Herder, Über die neuere deutsche Literatur. Zwote Sammlung von Fragmenten. In: FHA, Bd. 1, S. 349. 16 Herder, Über die neuere deutsche Literatur. Zwote Sammlung von Fragmenten. In: FHA, Bd. 1, S. 350 f. 17 Vgl. Gaier, Von nationaler Klassik zur Humanität, S. 51 sowie Gunter E. Grimm, „Der Kranz des Patrioten“. Nachahmungspraxis und Originalitätsideal bei Herder. In: Lenz-Jahrbuch. Sturmund-Drang-Studien 4 (1994), S. 101–112, hier: S. 103–105.  



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werfen, die aus den literaturpolitischen Kämpfen der Schlesischen Kriege hervorgingen. Denn wie im Folgenden zu zeigen sein wird, entwickelte Herder aus der dort angebahnten Assoziation von Lyrik und Nation ein Dichtungsprogramm, das die berührten ästhetischen, gattungspoetischen und gesellschaftstheoretischen Diskurse zu einem komplexen Bezugssystem verflocht. Dieses Programm wies dabei insofern über den Krieg hinaus, als es die Kontingenzen tilgte, unter denen sich die Poetik der nationalen Lyrik formiert hatte. So blendete Herder das regionale und konkurrentistische Moment bewusst aus, das der preußischen Kriegsliteratur ihren Provokationswert verschafft hatte. Stattdessen versuchte er sich daran, die verschiedenen Positionierungen, mit denen die Berliner Aufklärer in Abgrenzung von Gottsched und Bodmer ihr Feld abgesteckt hatten, zu einem theoretischen „Ganzen“18 zu generalisieren. Ein Blick auf dieses Systematisierungsangebot erlaubt es, abschließend an der Seite von Herder das Verhältnis der Umstellungen in den Literatur-, Kultur- und Gesellschaftskonzepten zu reflektieren, die sich im Traditionsverhalten der Kriegsliteratur um 1750 manifestierten. Dieser Zugriff bietet sich insofern an, als Herder aus seinem generalisierenden Ansatz keinen Hehl machte. Im Gegenteil: Ausdrücklich rechtfertigte er seine Fragmente damit, dass die Verfasser der Literaturbriefe selbst noch viel zu tief in den literaturpolitischen Konkurrenzen ihrer Zeit gesteckt hätten, als dass sie bereits zu einer übergeordneten literatur- und kulturgeschichtlichen Diagnose hätten kommen können. „Die Briefe über die n Literatur haben kein Lehrgebäude liefern wollen, doch aber nennen sie es ein Gemälde der Literatur in den letzten Jahren“,19 schrieb er mit Verweis auf den „333. Literaturbrief“, mit dem sich die Berliner Autoren von ihrem Publikum verabschiedet hatten.20 Und indem er einen Malerei-Vergleich aufnahm, den Friedrich Nicolai in seinem Lebewohl für das kritische Panorama der Briefe, die neueste Litteratur betreffend eingeführt hatte, klagte Herder: „Hätten sich die Verfasser weniger durch Streitigkeiten hinreißen lassen; hätten sie nicht öfters vergessen, daß sie mit dem Publikum sprächen: so wäre dies Gemälde vollständiger und gleichmäßiger in seinen Teilen

18 Herder, Über die neuere deutsche Literatur. Erste Sammlung von Fragmenten. In: FHA, Bd. 1, S. 172. 19 Herder, Über die neuere deutsche Literatur. Erste Sammlung von Fragmenten. In: FHA, Bd. 1, S. 174. 20 Vgl. BNL, 23. Theil, 333. Brief, 1765, S. 89–96. Bereits hier strich Herder das zeitgeschichtliche Moment des Projekts heraus. Vollständig hieß es im „333. Literaturbrief“ nämlich, die Verfasser würden sich glücklich schätzen, „wenn die Sammlung ihrer Briefe, zu einem allgemeinen Gemälde der deutschen Literatur in fünf merkwürdigen Jahren des letzten Krieges, etwas beitragen kann“ (BNL, 23. Theil, 333. Brief, 1765, S. 96).

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geraten.“21 Dabei erhielt die Metaphorik des vollständigen Bildes in den Fragmenten einen programmatischen Wert, der deutlich über Nicolais Intentionen hinausging.22 So war Herder davon überzeugt, dass sich aus den verstreuten Berliner Urteilen eine „verborgene […] Ordnung“23 extrahieren lasse, die er nun selbst freilegen wollte. Insofern machte Herder sich auf, aus seiner Lektüre der Literaturbriefe den „Plan […] zu einem ganzen und vollendeten Gemälde über die Literatur“ zu entwickeln, „das als eine „pragmatische Geschichte im gelehrten Staat“24 fungieren könne. Anvisiert war somit ein spezifischer Typ von Geschichtsschreibung, der laut einem Konzept von Thomas Abbt darauf zielte, durch eine historische Momentaufnahme die „Triebfedern“25 einer individuellen Gesellschaft zu profilieren.26 Die Ganzheitsvision der Fragmente war dementsprechend für Herder mit der Erwartung verbunden, dass sein Gemälde der jüngsten Literatur in der Lage sei, eine mobilisierende Wirkung auf die deutschen Autoren zu entfalten.

21 Dieses Argument kehrt in den Fragmenten verschiedentlich wieder. So monierte Herder die Zersplitterung der deutschen Literatur in „Sekten in Geschmack; Parteien in der Dichtkunst; Schulen in der Weltweisheit“ (Herder, Über die neuere deutsche Literatur. Erste Sammlung von Fragmenten. In: FHA, Bd. 1, S. 171), um in dieser Hinsicht auch kritisch auf die Autoren der Berliner Zeitschrift zu blicken: „[S]chätzen sie [die Literaturbriefe, A.H.] nicht die Merkwürdigkeit gewisser Werke beinahe bloß nach dem Maß, wie sie dabei Raum zum eigenen Urteil, zur Strafe und Spekulationen finden?“ (Herder, Über die neuere deutsche Literatur. Erste Sammlung von Fragmenten. In: FHA, Bd. 1, S. 175). 22 Dieser Vollständigkeitsemphase trat Nicolai nach der Lektüre der Fragmente entschieden entgegen. So schrieb er in einem Brief, mit dem er 1766 die Korrespondenz mit Herder eröffnete: „Die Briefe sind und bleiben nichts als Berichte von demjenigen, was man gelesen hatte, und was man bey einer fruchtbaren Lectüre gedacht hatte; daher wählten die V. freilich am liebsten die Bücher, die Ihnen zu weitern Aussichten Gelegenheit gaben […]. Ein höheres idealisches Bild, muß man von diesem Werke nicht geben; die Verfaßer waren nicht so stolz, daß sie glaubten, sie könten die ganze Deutsche Gelehrsamkeit in ihrem ganzen Umfange übersehen.“ (Friedrich Nicolai an Johann Gottfried Herder, 26. November 1766. In: Herder’s Briefwechsel mit Nicolai, im Originaltext hg. von Otto Hoffmann, mit neuem Facsimile, München 1877, S. 1 f.). 23 Gaier, Überblickskommentar zu Über die neuere deutsche Literatur. In: FHA, Bd. 1, S. 1007– 1009, hier: S. 1006. 24 Herder, Über die neuere deutsche Literatur. Erste Sammlung von Fragmenten. In: FHA, Bd. 1, S. 170. 25 Entwickelt in BNL, 9. Theil, 1761, 151. Brief, S. 118–128, hier: S. 119. 26 Exzellent dargestellt von Karl Menges, Was leistet „Pragmatische Geschichtsschreibung“? Zur Aktualisierung der Historiographie bei Abbt und Herder. In: Humanität in einer pluralistischen Welt? Themengeschichtliche und formanalytische Studien zur deutschen Literatur. Festschrift für Martin Bollacher, hg. von Christian Kluwe und Jost Schneider, Würzburg 2000, S. 185–201, v. a. S. 196–198. Dieser Ansatz der Historiographie wurde auch wichtig für Herders Bückeburger Geschichtsschrift (Menges, Was leistet „Pragmatische Geschichtsschreibung“?, S. 188).  



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Vergangenheits- und Zukunftsorientierung gingen für ihn Hand in Hand:27 So hoffte Herder, den Deutschen an der Leitlinie der Briefe, die neueste Litteratur betreffend ihren Platz im Gefüge der Literatur- und Kulturgeschichte deutlich zu machen, so dass sie in der Folge ihre eigenen Potentiale konsequent ausschöpfen könnten. Seine Agenda lautete also: „Man stelle ihnen die Alten als Vorläufer, die Nachbarn als Nebenbuhler vor, und suche die Triebfeder des Nationalstolzes so rege zu machen, als man das Nationalgenie untersucht hat.“28 Auf den ersten Blick weist dieser Entwurf von Herders ‚Literaturgemälde‘ eine gewisse konzeptuelle Spannung auf, der Peter Michelsen eine instruktive Lektüre gewidmet hat. Einerseits verschreibe sich Herder einer Aufwertung des „Charakteristische[n]“, „Individuelle[n]“ und „National-Typische[n]“,29 die um 1750 den Wechsel von einer Universal- zu einer Individualgeschichte einleite. Von dieser Tendenz zur kulturellen Differenzierung30 zeugen sowohl das Konzept einer pragmatischen Geschichte31 als auch die an Montesquieu erinnernde Rede vom ‚Nationalgenie‘, mit der Herder im Feld der deutschen Literatur gleichzeitig an Lessings „17. Literaturbrief“ anschloss. Andererseits führe der Autor der Fragmente mit dem Hinweis auf die „Nebenbuhler“ der Deutschen in der Vergangenheit wie in der Gegenwart ein normatives Moment ein,32 das die kulturrelativistischen Ansätze sogleich wieder unterlaufe. Auffällig ist für Michelsen, dass er die unterschiedlichen Literaturen dabei an einem Maßstab beurteilte, der genau entgegengesetzt zu dem des traditionellen Wettkampfs der Nationen definiert war. Denn auf einer Skala zwischen Natur und Kunst favorisierte Herder nicht mehr den Pol der kulturellen Leistung, wie es in der Frühen Neuzeit üblich gewesen war;33 stattdessen assoziierte er Poetizität und Natürlichkeit. Daraus resultierte eine „Zwickmühle“,34 die Michelsen exemplarisch an den sprachphilosophischen

27 Vgl. Gaier, Überblickskommentar zu Über die neuere deutsche Literatur. In: FHA, Bd. 1, S. 1013. 28 Herder, Über die neuere deutsche Literatur. Erste Sammlung von Fragmenten. In: FHA, Bd. 1, S. 170. 29 Peter Michelsen, Regeln für Genies. Zu Herders „Fragmenten“ „Ueber die neuere Deutsche Litteratur“. In: Johann Gottfried Herder 1744–1803, hg. von Gerhard Sauder, Hamburg 1987, S. 225–237, hier: S. 227. 30 Zu Herders charakteristischem „Interesse an historischer und kulturgeographischer Differenzierung“, das sich bereits in seinen odentheoretischen Überlegungen angedeutet hatte, vgl. auch Gaier, Überblickskommentar zu Von der Ode. In: FHA, Bd. 1, S. 928–931, hier: S. 929. 31 Vgl. Menges, Was leistet „Pragmatische Geschichtsschreibung“?, v. a. S. 185–188. 32 Gaier, Von nationaler Klassik zur Humanität, S. 51 f. 33 Vgl. Hirschi, The Origins of Nationalism, S. 142. 34 Michelsen, Regeln für Genies, S. 227.  



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Überlegungen herausgearbeitet hat, die der junge Rigaer Gelehrte in den Fragmenten anstellte: Alle seine Bemerkungen über die verschiedenen Stufen der Sprache sollen zunächst fraglos als historische Feststellungen im Rahmen eines Geschichtsmodells verstanden werden, das jeder Epoche ihr Eigenrecht zuerkennt. Dieses Modell wird auf verwirrende Weise durchkreuzt von einem dualen, stark antithetischen Bewertungsmuster, das seine affirmativen Akzente stets auf die ursprünglichen oder dem Ursprung nahen Frühstufen einer Entwicklung setzt.35

Dieser Befund eignet sich als Ausgangspunkt, um einen genaueren Blick auf Herders Versuch zu werfen, allgemeine Lehren aus der (Kriegs-)Literatur der Berliner Aufklärung zu ziehen. So deuten Michelsens Ausführungen darauf hin, dass die eingangs beobachtete Assoziation von Lyrizität und Nationalität ins dichtungstheoretische Zentrum der Fragmente führt. Denn in dieser Verbindung spiegelt sich paradigmatisch das parallele Interesse für anthropologische Ursprünglichkeit und für historische Spezifität wider, das in der zitierten Analyse als charakteristisch für Herders Frühwerk herausgestellt wird. Als Fazit aus der Literaturgeschichte der Schlesischen Kriege gelesen, die in dieser Arbeit betrachtet worden ist, stellt sich diese Doppelorientierung jedoch keineswegs als widersprüchlich dar. Im Gegenteil: Im Folgenden soll gezeigt werden, dass Herder sich ein kohärentes Bezugssystem entwarf, indem er den Homologien zwischen den Umstellungen nachging, die in den vergangenen Jahren im literarischen, historischen und sozialen Diskurs eingetreten waren. Ein solcher Zusammenhang zwischen dem Ursprünglichkeits- und dem Nationaldiskurs erhält Kontur, wenn man sich klarmacht, dass Herders Faszination für das Nationale an bestimmte Paradigmen gebunden war. Bereits seine Überlegungen Von der Ode dokumentieren eine Präferenz für diejenigen Nationen, die an der räumlichen oder zeitlichen Peripherie der traditionellen Kulturordnung situiert waren. Eine begonnene „“, die sich unter den Entwürfen findet, beschränkt sich in der Frühzeit von vornherein auf „Hebräer, Griechen, Celten“ und „Druiden“,36 während die gewohnte Leitantike Rom ausgespart bleibt. Auch mit Blick auf die Gegenwart beweist der Entwurf seine Affinität zu den Randzonen der Kultur, indem er die Nachfahren der germanischen Sänger bei den Völkern im Nordosten Europas sucht, den die aufgeklärten Philosophen gemeinhin noch im Übergangsstadium „between civili-

35 Michelsen, Regeln für Genies, S. 232. 36 Herder, . In: FHA, Bd. 1, S. 61.

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zation and barbarism“37 sahen. So vermerkt die Gliederung für Herders Liedgeschichte unter der Rubrik der nordischen „Skaldrer“ und ihrer Erben den folgenden Punkt: „Angränzende Völker: Russen: Letten: Liven: Polen: Holländer“38. Diese Schwerpunkte waren nicht zufällig gewählt. Mit seiner Vorliebe für die Griechen und die Germanen vollzog Herder – genauso wie Lessing in seinem „Vorbericht“ zu den Preussischen Kriegsliedern – die Verschiebung der Antikenordnung nach, die im ersten Teil dieser Arbeit verfolgt worden ist: Im Anschluss an Montesquieus Esprit des Lois wandte er sich von der axiomatischen Hochkultur Rom ab, um die wesentlichen poetischen Potentiale dort zu suchen, wo die römische Zivilisation entweder noch nicht existiert hatte oder wo sie niemals angekommen war. Als er in der Skizze zu einer „Metempsychosis der Ode in Ansehung der Empfindung“ auf die Römer zu sprechen kam, ließ er ihre Dichtung dementsprechend als „trockner und kälter“39 gegenüber der Poesie zurückfallen, die bei den anderen Altertümern entstanden war. Dabei setzte die politische Philosophie von Montesquieu gleichzeitig den theoretischen Rahmen für die Verbindung von Nationalität und Lyrizität. So ging Herder davon aus, dass die Ode als angenommener „Ursprung der Dichtkunst“40 in den frühesten Gesellschaften als Schlüssel zu der politischen, kulturellen und religiösen „Verfassung“ sowie zu den „Sitten“41 dienen könne, in denen sich der spezifische Charakter der Völker ausdrücke. Beide Begriffe verweisen auf das

37 Zur Konstruktion des europäischen Ostens als intermediärer Zone zwischen Barbarei und Zivilisation und zwischen Orient und Okzident vgl. Larry Wolff, Inventing Eastern Europe: The Map of Civilization on the Mind of the Enlightenment, Stanford 1994, hier: S. 25; ders., Die Erfindung Osteuropas. Von Voltaire zu Voldemort. In: Europa und die Grenzen im Kopf. Enzyklopädie des europäischen Ostens, Bd. 11, hg. von Karl Kaser, Dagmar Gramshammer-Hohl und Robert Pichler, Klagenfurt, Wien 2003, S. 21–34. 38 Herder, . In: FHA, Bd. 1, S. 63, Hervorh. i. O. Der in Königsberg und Riga sozialisierte Herder fasste die Völker im europäischen Norden und Osten stets zu einem gemeinsamen nördlichen Kulturkreis zusammen, wie sich nicht zuletzt in den Sammlungen seiner Alten Volksliedern (1774) zeigte (vgl. Ulrich Gaier, Stellenkommentar zu Volkslieder. In: FHA, Bd. 3, S. 929–1198, hier: S. 960; s. auch Leonid Arbusow, Herder und die Begründung der Volksliedforschung im deutschbaltischen Osten. In: Im Geiste Herders. Gesammelte Aufsätze zum 150. Todestage J. G. Herders, hg. von Erich Keyser, Kitzingen 1953, S. 129– 256). Damit stand Herder in einer langen Tradition, die europäische Kulturgeographie zu konstruieren. Vgl. instruktiv Piotr Kochanek, Die Vorstellung vom Norden und der Eurozentrismus. Eine Auswertung der patristischen und mittelalterlichen Literatur, Mainz 2004, v. a. S. 289 sowie Wolff, Inventing Eastern Europe, S. 5. 39 Herder, . In: FHA, Bd. 1, S. 80 f. 40 Herder, . In: FHA, Bd. 1, S. 78. 41 Herder, . In: FHA, Bd. 1, S. 62.  



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Gemeinschaftsmodell des Esprit des Lois. Als Gegenstände der ersten Oden notierte Herder mithin genau die Domänen, die Montesquieu zu den Manifestationsformen des Nationalgeistes (esprit de nation) erhoben hatte (vgl. Kap. I.2.3.2). In der „“ beginnt die Aufzählung im Rückgriff auf den Esprit des Lois insofern mit „1) Gesetze[n]“ und „2) Nationalhistorien“,42 um dann mit den Punkten „3) Siegslieder“ und „4) Weissagungen“43 eigene Akzente zu setzen, die den Krieg und die Religion betrafen. Festzuhalten ist, dass die Bestimmung der Nation über kollektive Denk- und Empfindungsarten für Herder dabei latent an die frühen Altertümer gekoppelt blieb, die als Paradigmen für die neuen Theorien des Esprit des Lois fungiert hatten: Nationalität war in seiner Dichtungslehre eine Ursprungskategorie, die auf die Anfänge der Vergesellschaftung verwies.44 Unter diesen Prämissen fügt sich auch die Lyrik des hebräischen Altertums in den Herder’schen Kanon ein, die schon durch die Psalmen-Anleihen in der preußischen Kriegslyrik (Kap. III.1.2; III.3.1.2.2) mit dem bardisch-griechischen Referenzsystem assoziiert worden war. Nicht nur konnte die Poesie des Alten Testaments, die Herder synonym als „jüdische“45 oder als „[o]rientalische“46 bezeichnete,47 ebenfalls als das Produkt einer Ursprungskultur gelten, welche die beiden anderen Antiken sogar noch an Alter übertraf. Zudem widersetzten sich die biblischen Texte nach einer Lesart, die an Robert Lowths Praelectiones de sacra Poesi Hebraeorum (1753) anknüpfte,48 so grundlegend einer Trennung zwischen Dichtung, Gesetzgebung und Geschichte, dass Herder seine literaturtheoretische Adaption des Nationalgeist-Konzepts an ihr mustergültig durchspielen konnte. So listete er unter der Überschrift „Von der Hebräischen Ode“ erneut alle Inhalte von den Gesetzen bis zu den Weissagungen auf, die er zuvor auch für

42 Vgl. die Definition des esprit général einer Nation in GdG, Bd. 1, XIX, 4, S. 413. 43 Herder, . In: FHA, Bd. 1, S. 60. 44 Zu dieser Implikation in dem Konzept der Nation, das der junge Herder vertrat, vgl. auch Wolfgang Förster, Herders Zivilisationskritik als Bestandteil seiner Auffassung von der Nation. In: Nationen und Kulturen. Zum 250. Geburtstag Johann Gottfried Herders, hg. von Regine Otto, Würzburg 1996, S. 165–175, v. a. S. 175. 45 Herder, . In: FHA, Bd. 1, S. 62. 46 Herder, . In: FHA, Bd. 1, S. 65 47 Zur Assoziation von jüdischer und orientalischer Kultur, die seit dem 18. Jahrhundert in zahlreichen Diskursen von der Literatur bis zu Gesellschafts- und Geschlechterfragen zu finden war und sowohl positiv als auch negativ gewendet werden konnte, vgl. umfassend Kathrin Wittler, Morgenländischer Glanz. Eine deutsche jüdische Literaturgeschichte (1750–1850), Tübingen 2019. 48 Zum Rekurs auf Lowth vgl. z. B. Herder, . In: FHA, Bd. 1, S. 86.  



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seine Definition der nationalen Ode verwendet hatte, und machte sie lyrikfähig, indem er sie als Gegenstände eines religiösen „Nationalenthusiasmus“49 deklarierte. Mithin war Herders Rede von der Nation konzeptuell von den frühen und peripheren Kulturen bestimmt, die noch zu Beginn des 18. Jahrhunderts im Schatten des hochentwickelten Roms gestanden hatten. Herzuleiten ist diese Formatierung aus der Umstellung der Antikenordnung um 1750, die in der deutschen Literatur der Schlesischen Kriege ein neues Nachdenken über die nationale Literatur angeregt hatte: Dieser Zusammenhang ist im zweiten Teil dieser Arbeit betrachtet worden. Diese Präferenz wirkte auf doppelte Weise in die Fragmente Über die neuere Deutsche Litteratur hinein. Erstens kam Herder an dieser Stelle auf die Analogie zwischen Hebräern, Griechen und Germanen zurück, indem er den modernen Deutschen riet, bei der Suche nach ihrem eigenen Nationalgeist eher auf die orientalische und hellenische Frühzeit zu blicken als auf das saturierte Rom. So sind zwei große Exkurse zu der Frage, wie sich „Denkart und Polizei, Laune und Sitten, kurz das Nationalgeheimnis“50 der Völker in ihrer Poesie niederschlage, in den Fragmenten nicht zufällig vor Reflexionen zur richtigen Nachahmung von alttestamentlich-morgenländischer und griechischer Literatur platziert. Dabei konzentrierte sich Herder im Kapitel „Von den deutsch-orientalischen Dichtern“ auf das Verhältnis zwischen Lebensform und Mythologie bei den Hebräern,51 um seine Landsleute zur Suche nach den Relikten ähnlich ursprünglicher Erzähltraditionen aufzufordern: Man möge wie ein fremder „Prophet in Ziegenfellen“ durch die eigenen Territorien reisen und auf die „alten Nationallieder“ hören, in denen sich die „poetische Denkart der Vorfahren“52 erhalten habe. Ergänzend empfahl Herder anlässlich seines Panoramas „Von der griechischen Literatur in Deutschland“, in der antiken Sprache wie auch in der eigenen auf Wörter und Ausdrücke Acht zu geben, die als „Nationalnamen“ den Schlüssel zum „Charakter[ ]“53 eines Volkes bieten könnten.54 49 Herder, . In: FHA, Bd. 1, S. 62. 50 Herder, Über die neuere deutsche Literatur. Zwote Sammlung von Fragmenten. In: FHA, Bd. 1, S. 322. 51 Vgl. Herder, Über die neuere deutsche Literatur. Zwote Sammlung von Fragmenten. In: FHA, Bd. 1, S. 281–285. 52 Herder, Über die neuere deutsche Literatur. Zwote Sammlung von Fragmenten. In: FHA, Bd. 1, S. 285. 53 Herder, Über die neuere deutsche Literatur. Zwote Sammlung von Fragmenten. In: FHA, Bd. 1, S. 322. 54 Ähnliches hatte Herder in den Fragmenten zuvor in seinen Erwägungen zur Sprache formuliert. Besonders die nationalspezifischen „Idiotismen“, die sich schwer von einer Sprache in die

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Die Ursache dafür, dass solche Forschungen an der eigenen Nation überhaupt nötig seien, lastete Herder nachdrücklich dem als verheerend wahrgenommenen Einfluss des römischen Altertums an. So steht die Einleitung zum Abschnitt „Von der neueren römischen Literatur“, der den Reigen der Vergleiche komplettiert, unter dem Vorzeichen einer kulturellen Fremdherrschaft. Die Zusammenfassung im Inhaltsverzeichnis der Schrift bringt dies wie folgt auf den Punkt: „Die neuere Literatur hat durchaus eine lateinische Gestalt. Da wir alles durch die Hände der Römer bekommen: so haben sie uns alles geraubt, was wir hatten.“55 Heftig beklagte Herder die Dominanz der lateinischen Bildung, die seit dem Mittelalter die Identität der Deutschen zerstört habe, indem sie die Vorfahren unter ein unpassendes Joch gezwungen habe. Dabei habe der Imperativ zum zivilisatorischen Fortschritt die natürlichen, nationalspezifischen Sitten verbannt. „Wäre Deutschland bloß an der Hand der Zeit, an dem Faden seiner eignen Kultur fortgeleitet: unstreitig wäre unsre Denkart arm, eingeschränkt; aber unserm Boden treu, ein Urbild ihrer selbst“56. Mit Herder beurteilt, bestand folglich eine strukturelle Analogie zwischen der deutschen, der griechischen und der hebräischen Nation: In seiner Rezeption der ‚neuen Antiken‘, die das Referenzsystem der Berliner Kriegsliteratur zur Leitlinie für eine gesamtdeutsche Literatur machte, luden diese drei Völker zu einer Erkundung von Ausdrucksformen ein, die aus dem Zusammenleben einer konkreten Gemeinschaft erwachsen seien. Dagegen verlor Rom seine Vorbildfunktion, weil die Anhänger einer lateinischen Bildung eine so verstandene nationale Poesie mit ihrem universalen Zivilisationsprojekt bei den späteren Deutschen unterminiert hätten. Auf diese Weise verschränkte Herder das Nationale mit dem Ursprünglichen, Natürlichen und Unterdrückten, so dass der Berliner Antikenkanon von Griechen, Germanen und Hebräern theoretisch homogenisiert und zugleich nobilitiert wurde. Diese nationalen Wahlverwandtschaften waren freilich nicht die einzige Spur, den die neue Ordnung der Kulturen in den Fragmenten hinterließ. Ein zweiter zentraler Reflex setzt auf einer systematischen Ebene an. So schickte

andere übersetzen ließen, würden „dem Sprachweisen die Schachten [eröffnen], um das Genie der Sprache zu untersuchen, und dasselbe zuerst mit dem Genie der Nation zusammenzuhalten“; das gelte auch für die deutsche „Waid- und Bergmannssprache“ (Herder, Über die neuere deutsche Literatur. Erste Sammlung von Fragmenten. In: FHA, Bd. 1, S. 193). 55 Johann Gottfried Herder, Über die neuere deutsche Literatur. Fragmente, als Beilagen zu den Briefen, die neueste Literatur betreffend. Dritte Sammlung. Riga, bei Johann Gottfried Hartknoch. 1767. In: FHA, Bd. 1, S. 367–539, hier: S. 369. 56 Herder, Über die neuere deutsche Literatur. Dritte Sammlung von Fragmenten. In: FHA, Bd. 1, S. 376 f.  

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Herder seinen Betrachtungen zur deutschen Literatur richtungsweisende Überlegungen „Von den Lebensaltern einer Sprache“ voraus, in denen er die neue, von Montesquieu angestoßene Faszination für die Frühzeit in ein allgemeines kulturtheoretisches System einzubetten versuchte. Schon die einleitende Passage macht klar, dass hier der Anspruch erhoben wurde, eine generalisierende Sicht auf literarische, historische und gesellschaftliche Phänomene zu entwickeln. Denn in einem bewusst universalisierenden Duktus heißt es: „So wie der Mensch auf verschiedenen Stufen des Alters erscheinet: so verändert die Zeit alles.“ Über dieses Schema, so die These, ließen sich verschiedenste Abläufe synchronisieren: Das ganze Menschengeschlecht, ja die tote Welt selbst, jede Nation, und jede Familie haben einerlei Gesetze der Veränderung: vom Schlechten zum Guten, vom Guten zum Vortrefflichen, vom Vortrefflichen zum Schlechtern, und zum Schlechten: dieses ist der Kreislauf aller Dinge. So ists mit jeder Kunst und Wissenschaft: sie keimt, trägt Knospen, blüht auf und verblühet. – So ists auch mit der Sprache.57

Über die traditionelle geschichtsphilosophische Metapher der vier Lebensalter (Kindheit, Jugend, Mannesalter, Greisentum)58 führte Herder hier ein Raster ein, das es erlauben sollte, die Vielfalt der kulturgeschichtlichen Prozesse auf eine generelle Logik zu bringen. Dabei verschränkten sich die Stadien der Individualbiographie auf eine intrikate Weise mit denen von Nationen, ihrer Sprache und ihrer Kunst. Zu Recht hat Michelsen darauf hingewiesen, dass die einzelnen Etappen bei Herder dabei nicht gleichrangig nebeneinanderstanden. Vielmehr trage die zweite, organologische Bildlichkeit vom Blühen und Vergehen von vornherein ein klares „Wertungsgefälle“59 in das Raster ein. Auf dieser normativen

57 Herder, Über die neuere deutsche Literatur. Erste Sammlung von Fragmenten. In: FHA, Bd. 1, S. 181. 58 Hans Dietrich Irmscher weist darauf hin, dass diese Metaphorik schon seit Augustinus’ Gottesstaat zum festen „Bild-Arsenal der geschichtsphilosophischen Reflexion“ gezählt und diesen Status auch über ihn hinaus behauptet habe (Hans Dietrich Irmscher, Witz und Analogie als Instrumente des entdeckenden Erkennens. In: Ders., „Weitstrahlsinniges“ Denken. Studien zu Johann Gottfried Herder, hg. von Marion Heinz und Violetta Stolz, Würzburg 2009, S. 207–236, hier: S. 214). Als mögliche Anreger für Herder zieht Gaier besonders Thomas Blackwell, Thomas Abbt und William Wartburton in Betracht (Gaier, Stellenkommentar zu Über die neuere deutsche Literatur. In: FHA, Bd. 1, S. 1034 f.). 59 Überzeugend dargelegt in Michelsen, Regeln für Genies, S. 229. Auch Gaier verweist auf die eigentümliche Mehrschichtigkeit der zitierten Passage, die zu einer Verschränkung von verschiedenen Geschichtsmodellen führe. „Für Herders Verfahren ist es charakteristisch, daß er drei verschiedene Reihen (Lebensalter, schlecht – gut – schlecht, Pflanze) übereinanderlegt und einander kommentieren und korrigieren läßt. In dem Pflanzenbild sind die drei bis dahin miteinander konkurrierenden Grundformen der Zeit- und Geschichtserfahrung verbunden: Kreislauf,  

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Ebene kristallisierte sich ein Dualismus heraus, in dem Herder die zivilisationskritische Logik von Aufstieg und Niedergang aufnahm, die der Montesquieu’schen Antikenordnung inhärent war. Sehr plastisch zeigt sich diese Tendenz zum dichotomischen Denken daran, wie Herder die Sprachstufe seiner eigenen Epoche beschrieb, die er mittlerweile im Mannesalter der Kultur angekommen sah.60 Denn statt sie als Etappe mit charakteristischen Vorzügen auf einer Kreisbahn zu verorten, entwarf er sie über ein Wortfeld, das dem Leser eine lineare Aufwärts- und Abwärtsbewegung vor Augen stellt. Eindeutig ruft das Verb „neigen“ die Vorstellung einer Kulturentwicklung auf, die auf eine Klimax zulaufe, um danach wieder in einen „Abfall“ von Sprache und Kunst zu kippen: Eine Sprache, in ihrem männlichen Alter, ist nicht eigentlich mehr Poesie; sondern die schöne Prose. Jede hohe Stufe neiget sich wieder zum Abfall, und wenn wir einen Zeitpunkt in der Sprache für den am meisten poetischen annehmen: so muß nach demselben die Dichtkunst sich wieder neigen. Je mehr sie Kunst wird, desto mehr entfernet sie sich von der Natur. Je eingezogener und politischer die Sitten werden, je weniger die Leidenschaften in der Welt wirken, desto mehr verlieret sie an Gegenständen. Je mehr man an Perioden künstelt […], je mehr Regeln eine Sprache erhält: desto vollkommener wird sie zwar, aber desto mehr verliert die wahre Poesie.61

Signifikant ist diese Passage freilich noch in einer zweiten Hinsicht. So demonstriert sie, dass der Gegensatz von Frühzeit und Hochkultur in den Fragmenten zum Grundgerüst für einen strukturellen Dualismus wurde, an den Herder eine Reihe von weiteren kultur- und dichtungstheoretischen Dichotomien anfügte.62 Allen diesen Oppositionen war gemein, dass sie eine homologe Umkehr von gewohnten Hierarchien vollzogen, so wie sich auch das alte Verhältnis der Altertümer verschoben hatte. In der Parallelisierung dieser Umstellungen bildet sich der ambitionierte Versuch ab, die Dynamisierung verschiedener Diskurse in der Zeit der Schlesischen Kriege auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Als Leitdifferenz fungierte dabei ein Gegensatz von (positiv besetzter) Natur und (negativ besetzter) Kunst, mit dem Herder an den Discours sur les sciences et les arts (1750) anknüpfte, mit dem Rousseau die traditionelle Rangfolge von Zivilisa-

Dekadenz und Progreß.“ (Gaier, Stellenkommentar zu Über die neuere deutsche Literatur. In: FHA, Bd. 1, S. 1035 f.) Im Detail ausgeführt werden diese Thesen in Gaier, Poesie als Metatheorie, S. 220. 60 Herder, Über die neuere deutsche Literatur. Erste Sammlung von Fragmenten. In: FHA, Bd. 1, S. 186 f. 61 Herder, Über die neuere deutsche Literatur. Erste Sammlung von Fragmenten. In: FHA, Bd. 1, S. 183. 62 Vgl. Michelsen, Regeln für Genies, S. 228 f.  





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tion und Barbarei fast zwanzig Jahre zuvor provokant in eine Gegenüberstellung von Natur und Kultur verkehrt hatte (Kap. I.2.3.2.1).63 Eine dezidiert literaturtheoretische Wendung erhielt diese Opposition nun, indem Herder sie mit einem Kontrast zwischen Poesie und Prosa engführte. Dahinter verbarg sich mehr als nur die Unterscheidung zwischen gebundener und ungebundener Rede, die im 18. Jahrhundert noch die Grenze zwischen literarischen und nicht-literarischen Textsorten markierte.64 So nutzte Herder diese Begriffskonstellation, um dem „Lieblingsgedanken so vieler neuen [sic] Sprachverbesserer“ entgegenzutreten, dass eine Sprache defizitär bleibe, solange sie lediglich die „Mundart des sinnlichen Volkes“65 sei und sich noch nicht zum Instrument der Philosophie ausdifferenziert habe. In der Tat, so stimmte Herder diesen Sprachgelehrten zu, sei die philosophische Prosa als das Produkt einer fortgeschrittenen Kulturstufe zu betrachten. Doch damit setze sie keineswegs den Anfang der eigentlichen Literatur. Vielmehr verdränge sie eine frühere Form der Rede, die Herder nun in ihre Rechte zu setzen versuchte, indem er sie unter dem Namen ‚Poesie‘ für eigenständig erklärte.66 „Jede Nation lieferte die vortrefflichste Meisterstücke der Poesie, ehe sich noch die Prose von jener getrennet und zu ihrer Runde ausgebildet hatte“, behauptete er. Insofern markiere der Zeitpunkt, an dem die Prosa „die Dichtkunst verdrungen“ habe, keineswegs einen Zugewinn für eine Kultur. Konsequent setzte Herder seine Aufwertung der Frühzeit fort, indem er die These aufstellte, dass die genuin poetische Sprache nach dem Einsetzen der philosophischen Wissenschaften „nie wieder ihre vorige Höhe erreichen“67 könne. In der Ausgestaltung dieser Dichotomie von Poesie und Prosa zeichnet sich ab, dass Herder hier eine weitere diskursive Umstellung der Zeit um 1750 in sein theoretisches Bezugssystem integrierte, die zuvor besonders von preußischen

63 Zur Relevanz der Rousseau’schen Natur-Kultur-Dichotomie für den jungen Herder vgl. Birgit Nübel, Zum Verhältnis von ‚Kultur‘ und ‚Nation‘ bei Rousseau und Herder. In: Nationen und Kulturen. Zum 250. Geburtstag Johann Gottfried Herders, hg. von Regine Otto, Würzburg 1996, S. 97–110, v. a. S. 101–104 sowie die Ausführungen von Förster, Herders Zivilisationskritik als Bestandteil seiner Auffassung von der Nation, S. 167 f. 64 Vgl. Art. Prosa. In: Zedler, Bd. 29, 1741, Sp. 915. 65 Herder, Über die neuere deutsche Literatur. Erste Sammlung von Fragmenten. In: FHA, Bd. 1, S. 185. Hier wandte Herder sich stellvertretend gegen Johann Jakob Breitinger: Eine Anmerkung verweist auf „Breitingers Crit. Dichtk. T. 2 durchgängig“. 66 Zu Herders charakteristischem Poesie-Begriff vgl. Hans-Georg Kemper, Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit, 6 Bde., Bd. 6/2: Sturm und Drang. Genie-Religion, Tübingen 2002, S. 149–286, v. a. S. 195 f. sowie Heinz Peyer, Herders Theorie der Lyrik, Wintherthur 1955, S. 43–52. 67 Herder, Über die neuere deutsche Literatur. Erste Sammlung von Fragmenten. In: FHA, Bd. 1, S. 185.  







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Autoren vorangetrieben worden war. Das Stichwort bildete hier der Begriff der ‚Sinnlichkeit‘, über den Herder sein Konzept der poetischen Sprache an die Lehre der philosophischen Ästhetik band, die er als zentralen theoretischen Bezugspunkt für die Literaturbriefe identifizierte. So fasste er die verehrten Berliner Aufklärer Gleim, Kleist, Ramler, Lessing und Abbt unter dem Etikett einer „Baumgartensche[n] Schule“68 zusammen. Mit dieser treffenden Begriffsbildung69 bewies der junge Gelehrte sein Gespür für die paradigmatische Funktion, die der Ästhetik in der Literaturgeschichte der vergangenen Jahre, und besonders in der Dichtung des Siebenjährigen Kriegs,70 zugekommen war. In diesem Sinne hatte Herder ursprünglich eine vierte Sammlung von Fragmenten geplant, die sich auf die Impulse der ästhetischen Lehre konzentrieren sollte;71 die Arbeiten daran gingen dann jedoch direkt in sein nächstes Projekt, die Kritischen Wälder (1769), ein.72 In den publizierten Fragmenten legen die Attribute, die zwischen Poesie und Prosa unterschieden, gleichwohl bereits ihrerseits ein prägnantes Zeugnis von Herders Aufmerksamkeit für die neue Philosophie des Schönen ab.73 So mobilisierte der Autor zu diesem Zweck einerseits eine Antinomie von „sinnliche[m] Nachdruck“ und „Deutlichkeit“ in der Sprache, andererseits von „Leidenschaft“ und „Verstand“74 als ihrer Quelle. Hinter diesen Formulierungen schimmerte

68 Herder, Über die neuere deutsche Literatur. Erste Sammlung von Fragmenten. In: FHA, Bd. 1, S. 192. 69 Auf Herder zurückgeführt und übernommen von Hilliard, Die ‚Baumgartensche Schule‘ und der Strukturwandel der Lyrik in der Gefühlskultur der Aufklärung, S. 14. 70 Mit Gleims Philotas (1760), einer patriotischen Adaption von Lessings gleichnamigem Einakter, erhob Herder ausgerechnet einen Text der Kriegsdichtung zum Paradigma für die besondere Poetizität der jüngsten Berliner Literatur (Herder, Über die neuere deutsche Literatur. Erste Sammlung von Fragmenten. In: FHA, Bd. 1, S. 185). Zum Philotas vgl. Volker Riedel, Gleims Versifizierung des Lessingschen „Philotas“. In: Der Aufklärer Gleim heute, hg. von dems., Stendal 1987, S. 27–38 sowie Winfried Woesler, Lessing als Herausgeber von Gleims Kriegsliedern und von Gleims Bearbeitung seines Philotas. In: Autoren und Redaktoren als Editoren, hg. von Jochen Golz und Manfred Koltes, Tübingen 2008, S. 144–153. 71 Ulrich Gaier, Überblickskommentar zu . In: FHA, Bd. 1, S. 1233–1237, hier: S. 1234. 72 Bernhard Suphan, Einleitung. In: Johann Gottfried Herder, Sämmtliche Werke, hg. von Bernhard Suphan, 33 Bde., Bd. 1, Berlin 1877, S. XV–XLIV, hier: S. XXXVI. Die Suphan-Ausgabe erhält hier das Kürzel HSW. 73 Vgl. Christian Helmreich, Herders Lyrik. Über die Möglichkeit von Poesie im prosaischen Zeitalter der Sprache. In: Herder und die Künste. Ästhetik, Kunsttheorie, Kunstgeschichte, hg. von Elisabeth Décultot und Gerhard Lauer, Heidelberg 2013, S. 141–159, hier: S. 146 f. 74 Herder, Über die neuere deutsche Literatur. Erste Sammlung von Fragmenten. In: FHA, Bd. 1, S. 186.  

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unverkennbar Baumgartens Plädoyer für die affektiven Potentiale der Dichtung durch, mit dem sich ein weiterer Orientierungswechsel zugunsten des vormals Peripheren verband: In diesem Fall ging es um eine Exploration der niedrigen Seelenvermögen, die sich als Medium einer sinnlichen, klaren Erkenntnis gegenüber der rationalen, deutlichen Erkenntnis autonomisiert hatten. Diese Aufwertung der Affekte, Empfindungen und Leidenschaften75 war in den vergangenen Jahrzehnten besonders von der politischen Lyrik der Schlesischen Kriege ausgelotet worden, wie im dritten Teil dieser Arbeit nachgezeichnet worden ist. Auffällig ist dabei, dass Herder die Unterscheidung von den oberen und den unteren Kräften der Seele, die Baumgarten wie seine Lehrer Leibniz und Wolff als ein vertikal geordnetes Gefüge dachte,76 mit dem zeitlichen Nacheinander von frühen und späteren Kulturstufen kurzschloss. „Da die Sprache aus der Wildheit zur politischen Ruhe trat, war sie merklich von der prosaischen unterschieden“, schrieb er: Die „stärksten Machtwörter“, „kühne Inversionen“ und „der klingendste Rhythmus“ hätten die erste Poesie mit einer zutiefst „sinnlichen Schönheit“ versehen. Indem die Prosa aufgekommen sei, habe sich diese „Sprache der Leidenschaft“ dann jedoch sukzessive zu einer „Sprache des mittlern Witzes: und endlich des Verstandes“ herabgestimmt, die sich auf deutliche „Exempel“77 statt auf einen Appell an die Sinne verlasse.78 In der Forschung ist diese Übertragung treffsicher registriert worden. So hat man Herders Historisierung des Sinnlichen als Startschuss für eine theoretische Hinwendung zur Lyrik – der sinnlichen Gattung par excellence – identifiziert, in der sich „das Projekt der Ästhetik“ mit dem einer „Zivilisationskritik“79 verbinde.80 Der Ursache für diese Assoziation zwischen der menschheitsgeschichtlichen 75 Vgl. Ernst Stöckmann, Anthropologische Ästhetik. Philosophie, Psychologie und ästhetische Theorie der Emotionen im Diskurs der Aufklärung, Tübingen 2009, v. a. S. 36–42. 76 Vgl. Strube, Alexander Gottlieb Baumgartens Theorie des Gedichts, S. 1 f. und Berndt, Poema/ Gedicht, S. 21. Zu Recht weist Berndt darauf hin, dass Baumgarten bei einer gleichbleibenden Metaphorik von Oben und Unten die „vertikale Raumordnung“ der Seele konzeptuell „in eine horizontale [überführt], in der die Sinnlichkeit gleichrangig und gleichwertig neben dem Verstand steht“. 77 Herder, Über die neuere deutsche Literatur. Erste Sammlung von Fragmenten. In: FHA, Bd. 1, S. 186. 78 Vgl. Helmreich, Herders Lyrik, S. 146 f. 79 Hilliard, Die ‚Baumgartensche Schule‘ und der Strukturwandel der Lyrik in der Gefühlskultur der Aufklärung, S. 16. 80 Im Einklang damit ist die Synchronisation von Seelenkräften und Zeitaltern auf der Werkebene als Schlüssel zu Herders philosophischem Verfahren gelesen worden, das durch die Kombination von vernunftorientierten Thesen und sinnlich-bildreichem Stil auf die Wiederherstellung des „ganzen Menschen“ ziele (Gaier, Poesie als Metatheorie, v. a. S. 217–224. Wiederaufgenommen in ders., „… ein Empfindungssystem, der ganze Mensch“: Grundlagen von Hölderlins  







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Frühzeit und den Empfindungen aus den Tiefen der Seele, dem Baumgarten’schen fundus animae, ist dabei jedoch noch nicht näher nachgegangen worden. Ein Erklärungsansatz dafür bietet sich in der Lektüre der Fragmente, die hier vorgeschlagen wird: Es scheint plausibel, diese Verbindung als Resultat aus Herders Versuch zu betrachten, einen inneren Zusammenhang zwischen den verschiedenen Perspektivwechseln zugunsten des Ursprüngliche(re)n herauszuarbeiten, die um 1750 in der deutschen Literatur verhandelt worden waren. Die Reihe der Homologien, die Herder als die unterstellte verborgene Ordnung hinter den kritischen Urteilen der Berliner Literaturbriefe präsentierte, lässt sich somit auf das folgende Schema bringen (s. Abb. 6):

Abb. 6: Schema: Literatur- und kulturtheoretische Umstellungen in Johann Gottfried Herders Fragmenten (1766/1767).

Das „ganze und vollendete Gemälde über die Literatur“, das Herder eingangs der Fragmente angekündigt hatte, gewinnt seine Form nun also in Gestalt einer Verkettung von analogen Diskursumstellungen. Die zentrale Parallele, auf der dieses System aufbaute, verweist dabei auf die patriotische Lyrik des Siebenjährigen Kriegs: In den Preussischen Kriegsliedern war der Austausch von antiken Paradigmen nationaler Gemeinschaft (Germanen und Griechen statt Römer) erstmals eine Verbindung mit der ästhetischen Aufwertung der Empfindungen (Lyrik statt Epik) eingegangen. Dieses Verhältnis generalisierte Herder nun, indem er sich von einem Spiel der Beziehungen leiten ließ, das ihn vom Diskurs der Nation bis zu einer Dichtungstheorie führte, die auf anthropologische Ressourcen statt auf Gelehrsamkeit setzte. Als Relais zwischen politischem und literarischem Diskurs fungierte dabei der rousseauistisch inspirierte Gegensatz von Natur und Kunst, der seit dem Discours sur les sciences et les arts zivilisationskritische Diagnosen

poetischer Anthropologie im 18. Jahrhundert. In: Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. DFG-Symposion 1992, hg. von Hans-Jürgen Schings, Stuttgart, Weimar 1994, S. 724–746).

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von Gesellschaft und Literatur verschränkte. Die Antinomien Frühzeit/Spätzeit und Poesie/Prosa lassen sich schließlich als Abstrahierungen verstehen, die es Herder erlaubten, die verarbeiteten Umstellungen in Gesellschafts- und Kunsttheorie auf kompakte Weise aufzurufen und in neue Zusammenhänge zu setzen. Die Ordnung, die der Verfasser der Fragmente in das von ihm beobachtete Traditionsverhalten der Jahre um 1750 brachte, war somit nicht nur retrospektiv orientiert. Gleichzeitig stellte Herder eine griffige Terminologie bereit, an die zukünftige Reflexionen anschließen konnten. Natürlich kann eine solche Übersicht nur schematisch dazu dienen, die verschiedenen Elemente und ihre Relation zueinander sichtbar zu machen, die Herder in seinem Fazit aus der jüngsten deutschen Literaturgeschichte zu einem vielschichtigen Bezugssystem verband. In der konkreten Argumentation standen die einzelnen Anteile selten separat nebeneinander; vielmehr ist es für die Herder’schen Ansatz wie für die an ihn anschließende „Wiedergeburt einer ächt nationalen Poesie“81 im Sturm und Drang82 charakteristisch, dass die beteiligten Diskurse nahtlos ineinander übergingen. Bereits in den Aufzeichnungen Von der Ode überlagerte sich die ästhetische Reflexion mit der nationalen, indem Herder die lyrische Gattung zum „Proteus unter den Nationen“ erhob, deren ständig wechselnde Gestalten nur im „Zauberspiegel des Aesthetikers“ ihren unveränderlichen Kern preisgäben: „Indessen gibts doch ein gewisses allgemeines Eins der Empfindung, des Ausdrucks und der Harmonie, das eine Parallele zwischen ihnen allen möglich macht.“83 Und auch in den Fragmenten ließe sich die oben zitierte Begeisterung für die „deutsche Nationallaune“ in den Kriegsliedern des preußischen Grenadiers nur als einer der zahlreichen Belege für die typischen Kompositabildungen anführen, mit denen Herder von nun an das Nationale an die Aktivitäten der Seele koppelte: an das „Denken, Wahrnehmen und Fühlen“84.

81 Suphan, Einleitung. In: HSW, Bd. 1, S. XXIV. 82 Zu der katalytischen Funktion, die das Frühwerk Herders beispielsweise für den jungen Goethe und für Gottfried August Bürger entfaltete, vgl. Kemper, Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit, Bd. 6/2, S. 150 sowie Gaier, Überblickskommentar zu Über die neuere deutsche Literatur. In: FHA, Bd. 1, S. 1009. Allgemein vgl. auch Jacob, Johann Gottfried Herders Fragmente über die neuere deutsche Litteratur und Heinrich Wilhelm von Gerstenbergs Briefe über Merkwürdigkeiten der Litteratur sowie Michelsen, Regeln für Genies, die Herders Fragmente gleichermaßen als eine inoffizielle Poetik des Sturm und Drang positionieren. 83 Herder, . In: FHA, Bd. 1, S. 79. 84 Sigrid G. Köhler, Nationale ‚Hirngemälde‘. Bildpoetik, Selbstgefühl und die Schatzkammern der Nation bei Johann Gottfried Herder. In: Das Imaginäre der Nation. Zur Persistenz einer politischen Kategorie in Literatur und Film, hg. von Katharina Grabbe, ders. und Martina WagnerEgelhaaf, Bielefeld 2012, S. 23–48, hier: S. 27. Als andere Komposita, die typisch für Herders Nationaldiskurs seien, führt Köhler etwa die Rede von der ‚Nationaldenkart‘ oder dem ‚National-

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Die verfolgte Assoziation zwischen den verschiedenen Neuausrichtungen um 1750 begründete in Herders Frühwerk mithin einen multireferentiellen Diskurs, der sich in einem beständigen Wechselspiel von ästhetischen, literaturgeschichtlichen und nationaltheoretischen Gedankenfiguren bewegte. Dabei formatierte das ästhetische Denken das nationale und umgekehrt. So ging der Königsberger Gelehrte davon aus, dass der von Montesquieu ausgerufene Nationalgeist auf dieselbe Weise in die Wahrnehmung trete, wie es Baumgarten für das Gedicht entworfen hatte. Nationale Gemeinschaft sollte laut Herder durch ein Gefühl der „Zusammenstimmung“85 erfahrbar werden, das eine tieferliegende Harmonie unter den Einzelnen kenntlich mache – ebenso ging es in der Ästhetik um das Registrieren von Beziehungen, die nicht offen zutage lagen.86 Der prädestinierte Ort, um nach diesen verbindenden „Grundstimmungen“87 zu suchen, lag für den Schüler der Berliner Aufklärer dabei auf dem Kerngebiet der Baumgarten’schen Ästhetik: in der Dichtung. Diese wurde nun als Sphäre betrachtet, in der sich anthropologische Prägungen mit nationalen Dispositionen berührten.88 Dieses Interesse an den Wechselwirkungen zwischen dem Anthropologischen und dem Nationalen in der Poesie ist nur wenige Jahre nach den Fragmenten in ein eigenes Projekt gemündet, das zu Herders bekanntesten Unternehmungen zählt. Seit der Publikation des „Auszugs aus einem Briefwechsel über Ossian und die Lieder alter Völker“ in der eigens herausgegebenen Aufsatzsammlung Von Deutscher Art und Kunst (1773) fasste der Autor die beiden Leitfragen seines Frühwerks in der Rede von sogenannten „Volksliedern“89 zusammen, deren

charakter‘ an. Anknüpfen kann sie dabei an die Beobachtungen von Hans Adler, der feinsinnig beobachtet hat, dass das Wort ‚Nation‘ bei Herder meist in modulierenden Wortverbindungen auftritt (Adler, Nation, S. 43 f.). 85 Gaier, Von nationaler Klassik zur Humanität, S. 57 f. 86 Vgl. Martus, Aufklärung, S. 520 f. 87 Adler, Nation, S. 55. 88 Diese Verschränkung, die den deutschen Diskurs der Nation auch im 19. und 20. Jahrhundert von den stärker staatspolitisch gedachten Nationalismen der anderen europäischen Länder unterschied, ist in der begriffs- und konzeptgeschichtlichen Forschung zur Nation immer wieder hervorgehoben worden. Nationen, so Koselleck in seiner vielzitierten Analyse, seien bei Herder „Kollektivindividuen“, die mit „quasi-personalen Eigenschaften wie Gesinnung, Geist und Seele“ ausgestattet seien und die man am besten im Blick auf ihre „Sprache und Poesie“ verstehen lerne (Koselleck, Volk, Nation, Nationalismus, Masse. In: GG, Bd. 7, 1992, S. 316 f.). 89 Die systematische Verwendung des Begriffs ‚Volkslied‘ geht in der deutschen Literatur auf Herder zurück (Rudolf Brandmeyer, Volkslied. In: Metzler Lexikon Literatur. Begriffe und Definitionen. Begründet von Günther und Irmgard Schweikle, hg. von Dieter Burdorf, Christoph Fasbender und Burkhard Moennighoff, 3., völlig neu bearbeitete Aufl., Stuttgart, Weimar 2007, S. 814).  







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Erkundung und Sammlung ihn ein Leben lang beschäftigen sollte.90 Berühmt geworden ist dieses Konzept einer ursprünglichen, kollektiven Liedlyrik vor allem für den Einfluss, den es auf die Poetologien des Sturm und Drang nahm.91 In seinem exzellenten Kommentar zu Herders Volkslieder-Projekt hat Ulrich Gaier darauf hingewiesen, dass die von der jungen Dichtergeneration „mühsam aufgerichteten Grenzpfähle zwischen ‚Aufklärung‘ und ‚Sturm und Drang‘“92 dennoch nicht dazu verleiten sollten, die literaturgeschichtlichen Kontinuitäten zu übersehen. So zeigt Gaier, dass die Alten Volkslieder (1774) die Auseinandersetzung mit den Dichtungsprogrammen der Berliner Aufklärung weiter fortsetzten. Als maßgeblichen Referenztext für das zugrundeliegende Modell von Volkspoesie profiliert er dabei zielsicher Lessings „Vorbericht“ zu den Preussischen Kriegsliedern von einem Grenadier, den Herder schon in seiner Abhandlung Von der Ode und in den Fragmenten immer wieder umkreist hatte.93 Damit erfuhr die Berliner Kriegslyrik, deren Paradigmatizität für das Dichtungsmodell des jungen Herder hier konturiert worden ist, eine weitere Stufe der Verallgemeinerung. In seinem Entwurf der Alten Volkslieder brachte Herder die Verschränkung von Lyrizität und Nationalität, die er im Umfeld der Literaturbriefe rezipiert und Schritt für Schritt in seinen theoretischen Schriften vertieft hatte, auf die Vision einer kollektiven Poesie mit einer eminenten Reichweite bis tief ins 19. Jahrhundert.94 Auf die literaturtheoretische Generalisierung der Kriegsdichtung folgte somit eine poetologisch-praktische von hoher Produktivität. Dieser Ableitung, mit der ein zunächst regionales Programm aus den literaturpolitischen Konkurrenzen der Schlesischen Kriege zur langlebigen Folie für einen zentralen Modus des Nationalen in der deutschen Literatur wurde, soll darum ein letzter Hinweis gewidmet sein.

90 Ulrich Gaier, Überblickskommentar zu Volkslieder. In: FHA, Bd. 3, S. 848–927, hier: S. 848. Zur initiativen Funktion des Ossian-Briefwechsels für das Volkslieder-Projekt vgl. Howard Gaskill, Ossian, Herder, and the Idea of Folk Song. In: Literature of the Sturm und Drang. Camden House History of German Literature, Vol. 6, hg. von David Hill, Rochester, New York u. a. 2003, S. 95–116. 91 Die Sammlung Von Deutscher Art und Kunst, in der das Konzept des Volkslieds zum ersten Mal auftauchte, gilt insgesamt als eine der wichtigsten Programmschriften des Sturm und Drang. Vgl. Regine Otto, Von deutscher Art und Kunst. Aspekte, Wirkungen und Probleme eines ästhetischen Programms. In: Impulse 1 (1978), S. 67–88, v. a. S. 84–86. 92 Gaier, Überblickskommentar zu Volkslieder. In: FHA, Bd. 3, S. 852. 93 Gaier, Überblickskommentar zu Volkslieder. In: FHA, Bd. 3, S. 848 f. Vgl. außerdem Ulrich Gaier, Volkspoesie, Nationalliteratur, Weltliteratur bei Herder. In: Die europäische République des lettres in der Zeit der Weimarer Klassik, hg. von Michael Knoche und Lea Ritter-Santini, Göttingen 2007, S. 101–116, hier: S. 103 f. 94 Vgl. Michler, Kulturen der Gattung, S. 161–186.  







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Denn wie Gaier überzeugend nachweist, setzte Lessings so kurzer wie dichter „Vorbericht“ zur preußischen Lyrik des Siebenjährigen Kriegs die entscheidenden Impulse für Herders Suche nach einem „populären, lebendigen Gesang“,95 der auf einem doppelten Volksbegriff basierte.96 Einerseits bildete der Text den Bezugspunkt für die initiale Motivation des Volkslieder-Projekts, die auf die Erkundung der poetischen Kräfte eines Volks zielte, das Herder alternativ auch als ‚Nation‘ bezeichnete.97 In Kontinuität zu den Fragmenten ging es ihm dabei um eine Vermessung der eigenen Kulturgemeinschaft. Mit seinem Vergleich zwischen dem ungelehrten preußischen Grenadier und den germanischen Barden, so Gaier, habe Lessing bei seinem Rigaer Leser98 das Interesse für eine „ursprünglich deutsche Denkart“ sowie für eine „alte Sprache und Dichtung, verwandt mit der nordgermanischen“ geweckt, die als „Wurzelgrund für starke und ungekünstelte Dichtung aus dem Volk“99 dienen solle. In diesem Sinn fokussierte Herder seine frühe Sammlertätigkeit auf Lieddichtungen aus Deutschland, England und Skandinavien, die er wie vor ihm auch schon Lessing zu einer gemeinsamen „nordischen“ Kulturlandschaft zusammenzog. Die Alten Volkslieder gliedern sich mithin in englische und deutsche Balladen (Buch I und III), „Lieder aus Shakespear“ (Buch II) sowie „Nordische Lieder“ (Buch IV).100 Auf einer zweiten Ebene konnten die Kriegslieder des einfachen Soldaten vor dem Hintergrund des regen Lieddiskurses um 1750, der im dritten Teil dieser Arbeit betrachtet worden ist, als Ausgangspunkt für eine anthropologische Sicht auf das singende Volk dienen. Zum ersten Mal deutete sich dieser zweite Aspekt von Herders Volksbegriff, mit dem die Poesie der einfachen Leute zum Spiegel einer gemeinsamen „Origo der Menschheit“101 erhoben wurde, in der Binnenvorrede zu den „Nordischen Liedern“ an. Hier öffnete Herder den Blick programmatisch für die Lieder anderer Völker, um über den Vergleich nach „anthropologischen Grundsituationen“102 zu suchen, die den natürlichen Menschen zum

95 Matuschek, Dichtender Nationalgeist, S. 236. 96 Gaier, Überblickskommentar zu Volkslieder. In: FHA, Bd. 3, S. 865–878. 97 Gaier, Überblickskommentar zu Volkslieder. In: FHA, Bd. 3, S. 855. Zur Überlagerung von Volk und Nation bei Herder vgl. erneut auch Koselleck, Volk, Nation, Nationalismus, Masse. In: GG, Bd. 7, 1992, S. 316. 98 Zur Präsenz Lessings in Herders Frühwerk vgl. Wilfried Zieger, Zur Lessing-Rezeption in Herders Fragmenten „Über die neuere deutsche Literatur“. In: Impulse 12 (1989), S. 245–279. 99 Gaier, Überblickskommentar zu Volkslieder. In: FHA, Bd. 3, S. 850. 100 Gaier, Überblickskommentar zu Volkslieder. In: FHA, Bd. 3, S. 918 f. 101 Hans Adler, Weltliteratur – Nationalliteratur – Volksliteratur. Johann Gottfried Herders Vermittlungsversuch als kulturpolitische Idee. In: Nationen und Kulturen. Zum 250. Geburtstag Johann Gottfried Herders, hg. von Regine Otto, Würzburg 1996, S. 271–284, hier: S. 273. 102 Gaier, Überblickskommentar zu Volkslieder. In: FHA, Bd. 3, S. 880.  

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Gesang rühren würden. „Alle unpolicirte Nationen sind singend“, hieß es unter der Überschrift „Ausweg zu Liedern fremder Völker“: Bücher, Künste, Städte, gemachte Gesellschaftsdenkart haben sie noch nicht; und wo sich ihre Naturdenkart offenbaret, konnte bloß sein, was ihnen Gott gegeben hatte; Sprache, Ton, Bewegung, Schilderung, Proportion, Tanz: und was Alles also allein zusammenband, – Lied. Diese kriegerische Nation singt Taten ihrer Vorfahren; und muntert sich auf zu Taten: jene zärtliche Nation singt Liebeslieder voll Natur und Einfalt: jenes scharfsinnige, witzige Volk gibt Rätsel auf, löst Rätsel, macht seine Gleichnisse und Wortspiele […].103

Nicht zufällig führte Herders Liste der Themen, die für solche ursprünglichen Lieder des Volkes im Singular104 charakteristisch seien, an den ersten beiden Stellen den Krieg und die Liebe an: Exakt dieses Paar hatte der Berliner Komponist Christian Gottfried Krause in seiner Abhandlung Von der Musikalischen Poesie (1752) als die zwei Grundanlässe des menschlichen Gesangs profiliert, um in Herder einen enthusiastischen Leser zu finden (Kap. III.3.2.2).105 Auf derselben liedtheoretischen Basis hatte auch Lessing operiert, als er im „Vorbericht“ zu den Preussischen Kriegsliedern wie selbstverständlich behauptet hatte, dass die Schlachten des Siebenjährigen Kriegs die einzig notwendige „Schule“106 für den singenden Grenadier gewesen seien.107

103 Johann Gottfried Herder, Alte Volkslieder. In: FHA, Bd. 3, S. 11–68, hier: S. 60. 104 Gaier, Überblickskommentar zu Volkslieder. In: FHA, Bd. 3, S. 865. 105 Vgl. den Briefbeleg in Bayreuther, Ästhetische Wahrnehmung in Christian Gottfried Krauses Von der musikalischen Poesie, S. 275 f. 106 [Lessing,] Vorbericht. In: [Gleim,] Preussische Kriegslieder, unpag. 107 Als direkten Anreger für die anthropologische Seite der Volkslieder hat Gaier zu Recht noch auf einen anderen Text von Lessing hingewiesen (Gaier, Überblickskommentar zu Volkslieder. In: FHA, Bd. 3, S. 851 f.). Im „33. Literaturbrief“ hatte der Berliner Kritiker das „Lied eines Lappländers“ (1758) angepriesen, in dem Kleist ein im Spectator gelesenes Liebeslied nachgedichtet hatte. Dabei hatte Lessing die These vertreten, dass die Poesie „kein Vorrecht gesitteter Völker“ sei: Auch bei der Lektüre von „Littauischen Dainos oder Liederchen, wie sie die gemeinen Mädchen daselbst singen“, habe ihn der „naive[ ] Witz“ und die „reizende Einfalt“ hingerissen, die man bei Nationen auf einer früheren Kulturstufe antreffen könne (BNL, 2. Theil, 33. Brief, 1765, S. 239–244, hier: S. 241 f.; vgl. [Ewald Christian von Kleist,] Lied eines Lappländers. In: Neue Gedichte von dem Verfasser des Frühlings, Berlin 1758, S. 16–18). Das Modell der einfachen, liedhaften Lyrik, auf das hier referiert wird, hatte der preußische Grenadier in der deutschen Literatur der vergangenen Jahre ebenso vertreten wie der verliebte Lappe oder sein weibliches Pendant, das litauische Mädchen. Die Vorbilder für beide Liedentwürfe hatten bereits in dem Text nebeneinandergestanden, der die Initialzündung für die deutschen Poetiken der niedrigen Ode gesetzt hatte, nämlich in Friedrich von Hagedorns „Vorbericht“ zu seiner Sammlung Neuer Oden und Lieder ([Hagedorn,] [Vorbericht]. In: Sammlung Neuer Oden und Lieder [1742], unpag.).  





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Die zentrale Funktion, die der Lyrik des Siebenjährigen Kriegs demzufolge bei Herders Entwurf einer lebendigen Poesie aus der Mitte der Gemeinschaft zukam, hat auch in der weiteren Literaturgeschichte des deutschen Volkslieds eine deutliche, wenngleich selten beachtete Spur hinterlassen. Nicht nur nannte Herder unter den „Zeugnissen über Volkslieder“, die er der nächsten Version seiner Volkslieder-Sammlung (2 Bde., 1778/79) voranstellte, gleich an zweiter und dritter Position die begeisterten Äußerungen von Sir Philip Sidney und Joseph Addison über die martialische „Ballad of Chevy Chase“108. In seiner Preisschrift Über die Wirkung der Dichtkunst auf die Sitten der Völker in alten und neuen Zeiten (1777; publiziert 1781),109 in der er sein Konzept einer natürlichen Poesie flankierend vertiefte, ließ er den Kriegsgesang etwa zur selben Zeit zudem auch theoretisch zum Musterfall für die „niedere[ ] heteronome[ ] Volkspoesie“110 aufrücken. Auf diesem Weg etablierte Herder eine enge konzeptionelle Verbindung zwischen kriegerischen Ereignissen und der poetischen Aktivität des Volkes, die sich über die Epochengrenzen hinaus fortschrieb. Als sich unter den Vorzeichen der napoleonischen Besatzung die nächste Konjunktur des Volkslieds formierte, spielte die paradigmatische Janusköpfigkeit des Kriegslieds zwischen anthropologischem und nationalem Versprechen den Autoren der Heidelberger Romantik vorzüglich in die Hände. So profilierte Achim von Arnim seine Theorie der kollektiven Lyrik im Aufsatz „Von Volksliedern“ (1806), der dem ersten Band der Sammlung Des Knaben Wunderhorn (2 Bde., 1806–1808) als Programmschrift nachgestellt war,111 erneut am Beispiel eines Kriegslieds. Als er nämlich laut seiner Schilderung bei einem Aufenthalt auf dem Lande in „warmer Sommernacht“ von seinem Fenster aus einen Gesang der „Dorfleute“ vernommen habe, die sich freudig auf den Aufbruch „zu ihren Regimentern“ vorbereitet hätten, habe er zum ersten Mal „die volle thateneigene Gewalt und den Sinn des Volksliedes“112 verstanden. Politisch ist dieses kriegerische Proto-Volkslied in eine

108 Johann Gottfried Herder, Volkslieder. In: FHA, Bd. 3, S. 69–428, hier: S. 71. 109 Vgl. Jürgen Brummack, Martin Bollacher, Überblickskommentar zu Über die Wirkung der Dichtkunst. In: FHA, Bd. 4, S. 903–936, hier: S. 930 f. 110 Jost Schneider, Herder und der deutsche „Kriegsgesang“. In: Germanisch-romanische Monatsschrift 47:1–2 (1997), S. 53–64, hier: S. 56; ausführlich vgl. auch S. 58 f. 111 Ausführlich analysiert wird dieser Programmtext in Ulfert Ricklefs, Das „Wunderhorn“ im Licht von Arnims Kunstprogramm und Poesieverständnis. In: Das „Wunderhorn“ und die Heidelberger Romantik: Mündlichkeit, Schriftlichkeit, Performanz. Heidelberger Kolloquium der Internationalen Arnim-Gesellschaft, hg. von Walter Pape, Tübingen 2005, S. 147–194. 112 Achim von Arnim, Von Volksliedern. In: Ders., Clemens Brentano, Des Knaben Wunderhorn. Alte deutsche Lieder, 2 Bde., Bd. 1, Heidelberg, Frankfurt a. M. 1806, S. 425–464, hier: S. 428 f.  







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allgemein-menschliche Sphäre entrückt;113 formsemantisch hat Goethe darin zu Recht „den Halberstädter Grenadier [spuken]“114 gehört. So erklingt das Lied, das Arnims poetisches Erweckungserlebnis in „Von Volksliedern“ hervorruft, in der charakteristischen Strophenform der Preussischen Kriegslieder. So singt die Dorfgemeinschaft: Auf, auf, ihr Brüder und seyd stark! Der Abschiedstag ist da, Wir ziehen über Land und Meer Ins heisse Afrika.115

Diese Engführung von Volkslied und Kriegslied war nicht zufällig gewählt: In diesem Konnex spiegelte sich Arnims Hoffnung wider, er könne in der aktuellen politischen Misere gemeinsam mit Clemens Brentano durch das Sammeln alter deutscher Lieder auf eine alternative Mobilisierung der nationalen Kräfte hinwirken.116 So hat Arnim denn auch einzelne der Texte mit militärischem Sujet, deren Zahl im zweiten Band des Wunderhorns – nach dem Schock der Reichsauflösung im Jahr 1806 – überproportional anstieg,117 in einer separaten Flugschrift mit dem schlichten Titel Kriegslieder (1806) unter die Leute gebracht und so die Ziele der poetischen und der politischen Selbstsetzung der Deutschen performativ verschränkt.118 Das Volkslied, das seit Herder als das privilegierte Medium der literarischen Gemeinschaftsbildung galt, blieb damit dem Krieg eng

113 Vgl. Walter Pape, „Der König erklärt das ganze Volk adlig“: ‚Volksthätigkeit‘, Poesie und Vaterland bei Achim von Arnim 1802–1814. In: 200 Jahre Heidelberger Romantik, hg. von Friedrich Strack, Berlin 2008, S. 531–549, hier: S. 538 f.: Bewusst ignoriere Arnim den politischen Subtext des zitierten „Kaplieds“ (1787) von Christian Friedrich Daniel Schubart, in dem es um den „Verkauf von Soldaten nach Südafrika an die niederländisch-ostindische Kompagnie“ gehe; dem Autor des Aufsatzes „Von Volksliedern“ komme es allein auf die „gemeinschaftsbildende Kraft“ des Krieges an. 114 Johann Wolfgang von Goethe, Des Knaben Wunderhorn. Alte deutsche Lieder, herausgegeben von Achim von Arnim und Clemens Brentano [Rezension]. In: HGA, Bd. 12, S. 270–284, hier: S. 279. 115 Arnim, Von Volksliedern. In: Ders., Brentano, Des Knaben Wunderhorn, Bd. 1, S. 429. 116 Vgl. Pape, „Der König erklärt das ganze Volk adlig“, v. a. S. 533 f. 117 Zu diesem politischen Zusammenhang vgl. Ulfert Ricklefs, Kunstthematische und politische Rahmenbildung in Des Knaben Wunderhorn. In: 200 Jahre Heidelberger Romantik, hg. von Friedrich Strack, Berlin 2008, S. 119–159, hier: S. 125–132. 118 Vgl. Dieter Martin, Barock um 1800. Bearbeitung und Aneignung deutscher Literatur des 17. Jahrhunderts von 1770 bis 1830, Frankfurt a. M. 2000, S. 205 sowie Heinz Rölleke, „Kriegslieder“. Achim von Arnims Imitation eines Fliegenden Blattes im Jahre 1806. In: Jahrbuch für Volksliedforschung (16) 1971, S. 73–80. Das Flugblatt selbst ist nicht überliefert; der Text lässt sich jedoch nachlesen in Reinhold Steig, Achim von Arnim und die ihm nahe standen, 3 Bde., Bd. 1:  







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verpflichtet, der in den Gesellschaftstheorien des 18. Jahrhunderts als Probefall für die Formierung von politischer Gemeinschaft profiliert worden war. Die deutschen Volkslied-Konzepte bieten mithin einen anschaulichen Fluchtpunkt für die Assoziation von Lyrizität und Nationalität, die sich in der Literatur des Siebenjährigen Kriegs eingestellt hatte. Johann Gottfried Herder war der erste Autor, der diese Verbindung als immanenten Zusammenhang von universaler Geltung proklamierte. Diese These war so erfolgreich, dass das lyrische „Sprechen vom Ursprung her“ zum Präzedenzfall für ein neues Verständnis von Nationalliteratur wurde, das in der Folge sukzessive ein „doppeltes Gattungssystem“119 hervorbrachte: Als Ableitungen aus dem Herder’schen „Volkslied“ entstanden mit der Zeit Konzepte des „Volksepos (Bürger)“, das als „epischlyrische[ ] Dichtart“120 aus alten Volksliedern und Balladen emporwachsen sollte, oder des „Volksmärchen[s] (Grimm)“121. All diese neuen Gattungen versprachen, den angenommenen Geist der Nation durch Alter, Mündlichkeit und Sinnlichkeit besser einfangen zu können als ihre Pendants in der Kunstliteratur.122 Die Gemeinsamkeiten zwischen den vielfältigen Varianten einer nationalen „Volks-“ oder „Naturpoesie“, die seit dem Ende des 18. Jahrhunderts entworfen wurden, bestanden also in Eigenschaften, die man im traditionellen Gattungssystem noch einzig der Ode zugeordnet hätte.123

Achim von Arnim und Clemens Brentano, Stuttgart 1894, S. 197–206. Zu den Überschneidungen mit dem Wunderhorn vgl. Pape, „Der König erklärt das ganze Volk adlig“, S. 540 f. 119 Michler, Kulturen der Gattung, S. 162. 120 [Gottfried August Bürger,] Aus Daniel Wunderlichs Buch. II. Herzensausguß über Volks Poesie. In: Deutsches Museum, Bd. 1, Stück 5, Mai 1776, S. 440–450, hier: S. 447 f. Zu Bürger vgl. auch Gunter E. Grimm, Vom poeta doctus zum Volksdichter? Bemerkungen zum Selbstverständnis deutscher Schriftsteller im 18. Jahrhundert. In: Europäische Aufklärung(en). Einheit und nationale Vielfalt, hg. von Siegfried Jüttner und Jochen Schlobach, Hamburg 1992, S. 203–217, hier: S. 214– 216. 121 Zur Trias von Volkslied, Volksepos und Volksmärchen vgl. Michler, Kulturen der Gattung, S. 173 f. 122 Vgl. auch Matuschek, Dichtender Nationalgeist, v. a. S. 236. 123 Impulse für diese Verzweigung finden sich bereits bei Herder, der die Ode als Nukleus aller Gattungen verstanden hatte. „Die Ode des Affekts ist Monologue; die Ode der Handlung wird selbst ein kleines Drama, so wie das Drama der Kern der Epopee sein mochte.“ (Herder, . In: FHA, Bd. 1, S. 94) Michler sieht im lyrischen „master genre“ bei Herder den Vorläufer der Ballade als „Ur-Ei“ aller Gattungen, die später von Goethe lanciert wurde (Michler, Kulturen der Gattung, S. 193–195). Vgl. außerdem Matiás Martinez, Lyric – Keeper of the Past. On the Poetics of Popular Poetry in T. Percy’s Reliques of Ancient Poetry and J. G. Herder’s Volkslieder. In: Genres as Repository of Cultural Memory, hg. von Hendrik van Gorp und Ulla Musarra-Schroeder, Amsterdam, Atlanta 2000, S. 205–217, hier: S. 211.  







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In der Zeit um 1800 hatte sich folglich eine neue Ordnung des literarischen Diskurses konstituiert, in der sich zwei grundlegende Umstellungen aufeinander eingetaktet hatten. Anders als in der Frühen Neuzeit, orientierte sich der politische Diskurs nun an einer zunehmend modern aufgefassten Nation, die anders als die kompetitive natio der Humanisten auf der Suche nach den angenommenen inneren, überständisch relevanten Eigenschaften einer kulturellen Gemeinschaft basierte.124 Diese Idee der nationalen Eigentümlichkeit scheint geradezu organisch in der zeitgleich erfolgenden Umschichtung der Dichtungslehre aufzugehen, in der die neue Großgattung Lyrik zum Paradigma für ein Literaturverständnis wurde, in dem es auf den Ausdruck individueller Eigentümlichkeit ankam.125 Das Frühwerk von Herder, einem Protagonisten beider Prozesse, legt freilich Zeugnis davon ab, dass man es hier mit einer nachträglichen Synchronisierung von verschiedenen Strängen eines äußerst regen Traditionsverhaltens zu tun hat, in dem kontrovers über die Leitorientierungen in der Literatur-, Staats- und Gesellschaftstheorie gestritten wurde. Die martialischen Untertöne in Herders Entwurf einer nationalen Poesie halten im Gedächtnis, dass diese Arbeit an der Tradition nicht zufällig in den Jahrzehnten „bis zum Ende des Siebenjährigen Krieges“126 kulminierte, wie Barner in seinen Überlegungen zum literarischen Traditionsverhalten treffsicher registriert hat. Denn wie in dieser Arbeit gezeigt worden ist, bildeten die Schlesischen Kriege einen historischen Brennpunkt, der unterschiedliche Diskurse in Berührung brachte. So lenkten die Waffengänge der Jahrhundertmitte den Blick der Zeitgenossen erstens auf die neuen Konzepte politischer Gemeinschaft, die kurz zuvor in Frankreich entstanden waren: Der Einspruch gegen die rigide ständische Ordnung des Absolutismus fand sein Medium hier im Entwurf einer integrativen Gemeinschaft,

124 Vgl. Wiedemann, Rom, Athen und die germanischen Wälder, S. 265–268. 125 Guthke spricht von der Idee der „unmittelbare[n] Selbstaussprache eines unverwechselbaren Ichs“, das „kurz nach dem Ende des Siebenjährigen Kriegs“ in die deutsche Literatur, und insbesondere in die Lyrik Einzug gehalten habe (Guthke, Die Entdeckung des Ich in der Lyrik, S. 93). Zur Zentralvorstellung der ‚Eigentümlichkeit‘, die um 1800 zwischen den Ideen von nationalem und individuellem Ausdruck vermittelte, vgl. Wolfgang Fleischhauer, Eigentümlichkeit: Ein Beitrag zur Wortgeschichte. In: Herkommen und Erneuerung. Essays für Oskar Seidlin, hg. von Gerald Gillespie und Edgar Lohner, Tübingen 1976, S. 56–63. An Fleischhauer anknüpfend, hat Gerhard Plumpe wenig später zudem die Berührpunkte zu entstehenden Konzepten des rechtlichen Eigentums an literarischen Texten herausgearbeitet (Gerhard Plumpe, Eigentum – Eigentümlichkeit. Über den Zusammenhang ästhetischer und juristischer Begriffe im 18. Jahrhundert. In: Archiv für Sozialgeschichte 23 (1979), S. 175–196). 126 Vgl. noch einmal die wichtigen Vorüberlegungen von Wilfried Barner zum Band Tradition, Norm, Innovation (Barner, Einleitung, S. XVI f. sowie S. XX).  

Generalisierungen: Krieg, Lyrik und Nation bei Herder

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die man seit Montesquieu mit den kriegerischen Republiken der Antike assoziierte. Die Aufwertung des Krieges korrelierte seither mit einer Faszination für die frühen Gesellschaften verschiedenster Kulturräume, denen eine innere, affektive Bindung an Vaterland und Nation attestiert wurde. Im deutschen Zusammenhang wurden diese Visionen einer Empfindungsgemeinschaft zweitens zu einem Leitmotiv der letzten Phase des Literaturstreits, die unter den Vorzeichen der Schlesischen Kriege stattfand. So entbrannte anlässlich dieser Konflikte im Feld der literarischen Aufklärung ein Wettstreit um eine zeitgemäße Nationaldichtung. Dabei überboten so einflussreiche Autoren wie Gottsched, Bodmer, Wieland und Lessing einander mit poetologischen Entwürfen, in denen dieselbe Idee einer germanischen Kriegernation vielfach facettiert wurde. Den regionalen Dispositionen der jeweiligen Literaturparteien entsprechend, erwiesen die angebotenen Revisionen des Nationalen um 1750 sich sowohl poetisch als auch politisch als extrem vielgestaltig; oft schlossen sie einander sogar programmatisch aus. Es ist diskursgeschichtlich aufschlussreich, dass sich in dieser Gemengelage gerade die Berliner Kriegslyrik als ein neues Paradigma der nationalen Dichtung durchsetzte, das die Umstellung der sozialen Perspektive auf einen Blick ‚von innen‘ und ‚von unten‘ am konsequentesten in literarische Verfahren überführte. Hervorgegangen war diese Poetik indes aus einem Diskurszusammenhang, in dem der Krieg keineswegs als nationaler, sondern als lokaler Integrationsfaktor entdeckt worden war. So sind die Literaturprogramme der Ersten und Zweiten Hallischen Dichterschule, die sich im Anschluss an Baumgartens Ästhetik formierten, als dritter Kristallisationspunkt für die diskursive Produktivität der Schlesischen Kriege zu nennen. Seit dem Ausbruch des Ersten Schlesischen Kriegs (1740) ließen Pyra, Lange und Gleim sich von den militärischen Siegeszügen Friedrichs II. zu einer Arbeit an der politischen Ode inspirieren, in der es darum ging, die affektiven Potentiale einer höchst parteiischen Vergemeinschaftung per bellum zu erkunden. Die Verknüpfung von Krieg und Lyrik hatte dabei dezidiert noch nichts von dem Universalitätsversprechen, das ihr in den späteren (Volks-)Liedtheorien zugewiesen wurde; sie ergab sich aus den Gattungsvorlieben der ehemaligen Baumgarten-Schüler. Es scheint zu den inhärenten Ironien der deutschen Literaturgeschichte zu gehören, dass dieses vielgestaltige Traditionsverhalten auf unterschiedlichen Diskursfeldern dazu beitrug, dass sich das Vierteljahrhundert der Schlesischen Kriege am Ende selbst vergessen machte. Denn die nächste Generation, allen voran der aufmerksame Leser Herder, begann die poetischen und politischen Affektivierungsprojekte der vorausgegangenen Jahrzehnte schon wenig später in großen Singularen wie ‚Nation‘ und ‚Lyrik‘ zusammenzufassen, in denen sich die Pluralität und die Offenheit der Debatten um 1750 nicht mehr widerspiegel-

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te.127 Mehr noch: Die Bindung der neuen Leitbegriffe an Kategorien wie ‚Ursprünglichkeit‘ und ‚Natürlichkeit‘ war so stark, dass man ihre traditionellen Voraussetzungen bald ganz negieren konnte, um eine Epochenzäsur zwischen Aufklärung und Sturm und Drang zu inszenieren.128 Diese Arbeit versteht sich darum als Plädoyer dafür, dass ein genauerer Blick auf die vorausgegangenen poetischen Kriege unabdingbar ist, wenn man die Rede von der vermeintlichen Natürlichkeit nationaler Literaturprogramme nüchtern zergliedern und damit letztlich auch entzaubern will. Die Zeit um 1750 bildete den Schauplatz für eine – buchstäblich aufgefasste – Mobilisierung der Poesie, in der traditionelle Ordnungssysteme der Frühen Neuzeit in Bewegung gerieten, sich verschoben und dabei sukzessive die Bezugssysteme moderner Literaturkonzepte hervorbrachten. Erst der Reichtum der Angebote, mit denen die Protagonisten der literarischen Aufklärung um die Mitte des 18. Jahrhunderts Poesie und Politik vor dem Hintergrund der Schlesischen Kriege neu ins Verhältnis zu setzen versuchten, macht dabei die immanenten Kontingenzen in der literarischen Ordnung um 1800 sichtbar, die heute noch so trügerisch vertraut scheint.

127 Zur allgemeinen Tendenz der Jahrzehnte ‚um 1800‘, Kollektivsingulare zu bilden, vgl. Koselleck, Einleitung. In: GG, Bd. 1, 1974, S. XIII–XXVII, hier: S. XVII f. 128 Vgl. Barner, Über das Negieren von Tradition S. 3–16 und S. 22–29.  

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https://doi.org/10.1515/9783110613575-015

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Abbildungsverzeichnis Abb. 1

Abb. 2

Abb. 3

Abb. 4

[Johann Wilhelm Ludwig Gleim,] Preussische Kriegslieder in den Feldzügen 1756 und 1757 von einem Grenadier, Berlin [1758], Frontispiz. Bildnachweis: Bayerische Staatsbibliothek München, Signatur: Rar. 133, Frontispiz. http://mdz-nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bvb:12-bsb00073537-3. A Collection of Old Ballads. Corrected from the best and most Copies extant. With Introductions Historical, Critical and Humorous, 3 Bde., London 1723–1725, Frontispiz zum 1. Band (1723). Bildnachweis: Bayerische Staatsbibliothek München, Signatur: P.o.angl. 69 n-1, http://mdz-nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bvb:12-bsb10745561-0. [Thomas Abbt,] Vom Tode für das Vaterland, Berlin 1761, Titel mit Vignette von Johann Wilhelm Meil. Bildnachweis: Zentralbibliothek Zürich, Signatur: ZB Alte Drucke, 24.45. http://doi.org/10.3931/e-rara-54871. Siegeslied. In: Kriegslied, Schlachtgesang und Siegeslied eines Preußischen Soldaten, mit seines Bruders Melodien. Gesungen im Lager bey Prag, o. O. [1759], unpag. Bildnachweis: Koninklijke Bibliotheek Den Haag, Signatur: KW 11 A 25. [Johann Wilhelm Ludwig Gleim,] Preussische Kriegslieder in den Feldzügen 1756 und 1757 von einem Grenadier, Berlin [1758]. Lied „Bey Eröfnung des Feldzuges 1756“ mit beigefügter Melodie. Bildnachweis: Bayerische Staatsbibliothek München, Signatur: Rar. 133, http://mdz-nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bvb:12-bsb00073537-3. Schema: Literatur- und kulturtheoretische Umstellungen in Johann Gottfried Herders Fragmenten (1766/1767).  

Abb. 5

Abb. 6

https://doi.org/10.1515/9783110613575-016

Personen- und Werkregister A Abbt, Thomas 327, 332, 344–351, 354–362, 364–365, 411, 421, 428 – Vom Tode für das Vaterland (1761) 344, 346–348, 350–351, 355, 357–362, 365 – Vom Verdienste (1765) 357 Addison, Joseph 70–71, 79, 92, 245, 250–253, 255, 258, 260–263, 322, 377–378, 429 – The Spectator (1712–1715, mit Richard Steele) 70, 80, 92, 250, 253, 260–264, 322, 332–333, 377, 379, 388, 438 Agricola, Johann Friedrich 359, 386 Alciphron 418 Ammianus Marcellinus 184–185 Anakreon 255, 275, 284–285, 314, 317, 327, 355, 366, 377 Archenholz, Johann Wilhelm von 1–4, 9, 11–13 – Geschichte des siebenjährigen Krieges in Deutschland (1788/1793) 1 – Minerva. Ein Journal historischen und politischen Inhalts (1792–1858) 1, 11 Aristoteles 75, 115 – Nikomachische Ethik (4. Jh. v. Chr.) 75 Arminius 45–46, 56, 175, 192, 195, 211 Arnim, Achim von 429–430, 439–441 – Des Knaben Wunderhorn (1806–1808, mit Clemens Brentano) 429–430, 441 – Kriegslieder (1806) 430 – Von Volksliedern (1806) 429 Arnold, Gottfried 284, 321 – Göttliche Liebes-Funcken (1698) 284 – Poetische Lob- und Liebes-Sprüche (1700) 321 Attila 109, 187–189, 198–199 August Ferdinand, Prinz von Preußen 400 Augustinus 116, 428 – De civitate Dei (426 n. Chr.) 116 Augustus 27, 48, 56, 62, 64, 68, 71, 81, 87, 102, 156, 192 B Bach, Carl Philipp Emanuel 386, 396– 397

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Ballad of Chevy Chase (1757–1765) 232, 250, 252–254, 320, 322–323, 378, 429 Batteux, Charles 300, 368, 371, 378, 407 – Cours de belles lettres (1747–1750) 368, 378 – Les Beaux-Arts réduits à un même principe (1746) 300, 407 Baumgarten, Alexander Gottlieb 16, 26, 267– 268, 271–279, 282–286, 290, 297–299, 303–305, 313–314, 346, 348, 371–372, 375, 382, 395, 421–423, 425, 431–433 – Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus (1735) 267, 271– 273, 275–277, 282–286, 298, 371 Bayle, Pierre 148 – Verschiedene Gedanken bey Gelegenheit des Cometen (1680) 148 Bél, Mátyás 188, 198 – Adparatus ad Historiam Hungariae (1735– 1745) 188 Belustigungen des Verstandes und des Witzes (1741–1744), hg. von Johann Joachim Schwabe 27–28, 184 Bemühungen zur Beförderung der Critik und des guten Geschmacks (1743–1747) , hg. von Christlob Mylius und Johann Andreas Cramer 287 Berkeley, George 76 Berlinische Privilegirte Zeitung 214 Besser, Johann von 239 Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste (1757–1765), hg. von Friedrich Nicolai und Moses Mendelssohn 232 Blackwell, Thomas 70–71, 81, 87, 181–182, 191–192, 257–258, 267–268, 428 – Enquiry into the Life and Writings of Homer (1735) 181, 191, 257–258, 267–268 – Memoirs of the Court of Augustus (1753– 1755) 70, 81, 87 Bodin, Jean 121 Bodmer, Johann Jakob 27, 142, 152, 173–174, 176–184, 188–195, 197, 200, 202–203, 205–211, 216–225, 245–247, 249, 255–

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Anhang

257, 259, 274, 284, 286, 314–315, 319, 323, 325–326, 329–330, 340–341, 349– 350, 380–381, 391, 410, 433 – Critische Betrachtungen über die Poetischen Gemählde der Dichter (1741) 315 – Der verbesserte Hermann (1755, mit Christoph Martin Wieland) 203, 206–210, 216, 220 – Freymüthige Nachrichten von Neuen Büchern und Andern zur Gelehrtheit gehörigen Sachen (1744–1763) 202, 205, 256, 315 – Von dem Einfluß und Gebrauche der Einbildungs-Krafft (1727, mit Johann Jakob Breitinger) 319 – Von den vortrefflichen Umständen für die Poesie unter den Kaisern aus dem schwäbischen Hause (1743) 182, 191–192 Bogatzky, Carl Heinrich von 318, 328, 330 – Uebung der Gottseligkeit in allerley Geistlichen Liedern (1750) 318 Boileau-Despréaux, Nicolas 47, 251–252, 262, 272, 349 – Traité du sublime (1674) 251 Bolingbroke, Henry St. John 68, 78–93, 96, 100, 106, 113, 116, 123, 126, 132, 145 – Dissertation upon parties (1733/34) 80–81, 100 – On the Spirit of Patriotism (1736) 116 – Remarks on the History of England (1730/31) 81, 85–86, 90, 92, 101, 265 – The Craftsman (1726–1752, mit William Pulteney) 77, 80–82, 90, 92–94, 96–97, 102, 123, 142 Bossuet, Jacques Bénigne 59 – Discours sur l’histoire universelle (1681) 59 Bouhours, Dominique 48 – Entretiens d’Ariste et d’Eugène (1647) 48 Boulainvilliers, Henri de 134–135, 142, 144–145 – Histoire de l’ancien gouvernement de la France (1727) 134 Brandenburg-Schwedt, Markgraf Wilhelm von 312 Breitinger, Johann Jakob 142, 184, 197, 221, 284, 286, 319, 323, 329–330, 340, 349–350, 430

Breitkopf, Johann Gottlob Immanuel 386, 396 Bremer Beyträge (Neue Beyträge zum Vergnügen des Verstandes und Witzes, 1744–1759), hg. von Karl Christian Gärtner 173, 380 Brentano, Clemens 430, 439, 441 – Des Knaben Wunderhorn (1806–1808, mit Achim von Arnim) 429–430, 441 Briefe, die neueste Litteratur betreffend (1759–1765), hg. von Gotthold Ephraim Lessing, Moses Mendelssohn und Friedrich Nicolai 217–221, 223, 227, 230–231, 341, 357, 396, 402, 406, 408, 410–412, 418, 421, 423, 426 Bürger, Gottfried August 431 C Caesar (Gaius Iulius Caesar) 34–35, 62, 64, 99, 108, 116, 204 Campano, Giannantonio 36, 46 Canitz, Friedrich Rudolf Ludwig 239–240, 292, 400, 410 Canstein, Hildebrand von 302 Cassiodor 51, 187 Cassius Dio 87 Catrou, François 55 – Histoire romaine, depuis la fondation de Rome (1728, mit Pierre Julien Rouille) 55 Catull (Gaius Valerius Catullus) 129, 274, 286 Celtis, Konrad 38, 46, 48, 158, 169, 180, 185 – Ad Apollinem repertorem poetices (1486) 38 – Amores (1502) 38 – Ars versificandi et carminum (1486) 38 – Germania generalis (1498/1500) 38, 46, 48 Cesare, Francesco Maria 155, 158–161, 165, 168–170 – Eugenius (1724) 155, 165 – Theresia sive Ostenta Dei O.M. (1752) 155, 158–159 Cicero (Marcus Tullius Cicero) 73, 82, 113–114, 123–124, 209, 345, 362 – De officiis (44 v. Chr.) 113, 124 – De partitione oratoria (1. Jh. v. Chr.) 123 – De re publica (51 v. Chr.) 199, 209 – Tusculanae disputationes (45 v. Chr.) 114, 362

Personen‑ und Werkregister

Claudian (Claudius Claudianus) 51, 174, 184 Clüver, Philipp 41 Codex Manesse 180, 184 Coke, Edward 89 Collection of Old Ballads (1723–1725) 255, 265, 323, 333 Collins, William 24 Conring, Hermann 150 Consbruch, Florens Arnold 363 – Die Musik (1751) 363 Coyer, Gabriel-François 23, 25, 33 – Dissertation sur le vieux mot de patrie (1755) 23, 25 Cramer, Johann Andreas 287, 294–295, 297– 298, 304–305 – Poetische Uebersetzung der Psalmen (1755– 1764) 294 Cramer, Karl Friedrich 380, 391 Critische Nachrichten aus dem Reiche der Gelehrsamkeit (1750–1752), hg. von Karl Wilhelm Ramler und Johann Georg Sulzer 214, 224, 227 D Dante 31, 33, 263 – De Monarchia (um 1316) 33 Demosthenes 345 Denis, Michael 260, 270 – Lieder Sineds des Barden (1772) 260 – Poetische Bilder der meisten kriegerischen Vorgänge in Europa seit dem Jahr 1756 (1760) 260 Der Gesellige, eine moralische Wochenschrift (1745/46), hg. von Samuel Gotthold Lange und Georg Friedrich Meier 271–272, 285, 301–302, 305, 314 Descartes, René 47, 381 Diogenes 91 Dorset, Thomas Grey of 377 Dubos, Jean-Baptiste 134, 144, 183, 366, 381– 383 – Histoire critique de l’établissement de la monarchie française dans les Gaules (1734) 134 – Réflexions critiques sur la Poësie et sur la Peinture (1719) 183, 366, 381, 383

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Dyer, John 77 – The Ruins of Rome (1740) 77 E Ebert, Johann Arnold 351 Edda (13. Jh.) 220 Elisabeth Christine, Königin von Preußen 400 Euler, Leonhard 2 Euripides 350 F Fontenelle, Bernard le Bovier de 47 Francke, August Hermann 281, 283, 302 Franz Stephan I., Kaiser des HRRDN 1, 152, 161, 167 Friedrich August II., Kurfürst von Sachsen 151, 157 Friedrich II. von Preußen 1, 6, 60–61, 70–71, 151, 157, 163, 219, 223–226, 229–230, 232–237, 239–248, 250, 253, 268, 277– 279, 283–284, 287, 290–293, 298, 306– 307, 326, 332, 335–336, 338, 340, 343, 348, 352, 354, 363, 373–374, 380, 395, 401, 404, 408, 411, 433 – Antimachiavel (1739/40) 280, 283, 290–291 – Aux Prussiens (1748) 236, 247–248 – Considérations sur l’état présent du corps politique de l’Europe (1738) 234, 244–245 – De la littérature allemande (1780) 233, 240, 243 – Mémoires pour servir à l’histoire de la maison de Brandebourg (1747–1749) 234, 250 – Mérope (1755) 373 – Montezuma (1755) 373 – Poësies diverses (1760) 236 – Sémiramis (1754) 373 – Vers de Sa Majesté le Roi de Prusse (1757) 229, 233, 238–242, 245, 250 G Gellert, Christian Fürchtegott 230, 232, 240 Gerstenberg, Heinrich Wilhelm von 248, 258, 418 – Briefe über Merkwürdigkeiten der Litteratur (1767) 248 Gervinus, Georg Gottfried 5, 7, 11–13, 15, 22

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Anhang

– Geschichte der poetischen National-Literatur der Deutschen (1835–1842) 5, 11 Gleim, Johann Wilhelm Ludwig 13, 20, 141, 146, 151, 214, 216, 221–222, 224–225, 229, 231–232, 234–235, 237, 239–242, 245–247, 249–250, 253, 257, 259–260, 263–266, 268, 273–278, 283–285, 295, 298–301, 307–327, 330–333, 335–338, 340–344, 347–348, 350–360, 364–371, 373–376, 380, 384, 386–388, 390–391, 393–398, 401–405, 408, 411–412, 414, 421, 431, 433 – Der Grenadier an die Kriegesmuse nach dem Siege bey Zorndorf (1759) 221, 316, 340–343, 348, 350, 353–354, 411 – Freundschaftliche Briefe (1746) 341, 394, 404–405 – Lieder für das Volk (1772) 316 – Lieder Nach dem Anakreon (1766) 356 – Philotas (1760) 431 – Preussische Kriegslieder von einem Grenadier (1758) 13, 141, 220, 222, 224, 229, 241–243, 246–247, 249, 254, 258, 260, 263, 265–266, 268, 298–299, 307–312, 314–315, 317–318, 320–321, 323–327, 335–337, 352, 356, 358, 360, 362, 365, 369, 386, 388, 390, 396–398, 406, 408–409, 414, 423–424, 426, 428, 430 – Sechzig freündschaftliche Briefe (1760) 324 – Versuch in Scherzhaften Liedern (1744) 285, 314, 317, 355, 365 – Versuch in Scherzhaften Liedern. Zweeter Theil (1745) 268, 356 Glover, Richard 116, 126, 351 – Leonidas (1737) 117, 351 Goedeke, Karl 4, 7, 14 – Grundrisz zur Geschichte der deutschen Dichtung (1859–1881) 4, 14 Goethe, Johann Wolfgang von 5–6, 9, 13, 15– 16, 18, 23, 154, 258–259, 263, 269, 311, 318, 321, 430, 434, 440–441 – Dichtung und Wahrheit (1811–1833) 5–6, 15–16, 23, 259, 269, 321 Gottsched, Johann Christoph 15, 27, 50, 60, 142, 147–153, 158–159, 162, 164–202, 205, 207, 210–213, 216–217, 222–223,

229–230, 232–233, 238–242, 245, 247, 249–250, 253, 258–259, 286–287, 294, 301, 341, 345, 370, 373, 380, 388, 410, 433 – Allerunterthänigste Antwort, an Se. Königl. Majestät in Preußen (1758) 238, 240, 249 – Beyträge zur Critischen Historie der deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit (1732–1744) 178, 183 – Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit (1751–1762) 239–240 – De temporibus Teutonicorum vatum mythicis (1752) 185, 196, 198–199 – Der deutsche Dichterkrieg (1741) 27 – Deutsche Sprachkunst (1748) 164, 174, 180, 191 – Gedichte (1736/1751) 171 – Neuer Büchersaal der schönen Wissenschaften und freyen Künste (1745–1750) 162, 165, 174, 188 – Versuch einer Critischen Dichtkunst (4. Aufl., 1751) 177–178, 184, 189, 191 – Versuch einer Critischen Dichtkunst (1729/30) 173, 175, 180, 183–184, 187, 190, 195–197, 201, 259, 294, 370 – Wettstreit der Tugenden (1728) 165 Gottsched, Luise Adelgunde Victorie 167, 177, 388 – Geschichte der königlichen Akademie der schönen Wissenschaften zu Paris (1749) 167, 177–179, 181 Götz, Johann Nikolaus 364 Graun, Carl Heinrich 363, 386, 397 Gray, Thomas 24 Grimm, Jacob 333, 431 Grimm, Wilhelm 431 H Hagedorn, Friedrich von 315–316, 324–326, 364, 373–379, 384–385, 387–389, 438 – Sammlung Neuer Oden und Lieder (1742) 316, 326, 374, 377–378, 384–385, 387– 389, 438 Hannibal 111 Harrington, James 71–72, 87–88, 95, 98–99 – The Commonwealth of Oceana (1656) 72, 82, 87–88, 98

Personen‑ und Werkregister

Haudesche Zeitung 227 Heinrich IV. von Frankreich 173 Heinrich von Veldeke 181 – Eneit (12. Jh.) 183 Heinrich, Prinz von Preußen 266, 400 Herder, Johann Gottfried 28, 154, 227, 258, 263, 273, 284, 292, 301–302, 314, 318, 366, 376, 404–439, 441 – Alte Volkslieder (1774) 424, 426–427 – Auszug aus einem Briefwechsel über Ossian und die Lieder alter Völker (1773) 425 – Kritische Wälder (1769) 421 – Über die neuere Deutsche Litteratur (1766/67) 263, 406, 408–413, 416–419, 421, 423–427 – Über die Wirkung der Dichtkunst auf die Sitten der Völker in alten und neuen Zeiten (1781) 429 – Volkslieder (1778/79) 429 – Vom Geist der Ebräischen Poesie (1783) 292 – Von der Ode (1764/65) 406–407, 409, 413, 415, 426 – Von Deutscher Art und Kunst (1773) 425, 436 Herman, Nikolaus 320 – Lobt Gott, ihr Christen alle gleich (1554) 320 Herodot 352 Herrnhuter Gesangbuch (1733) 319 Hesdin, Jean de 33 Hettner, Hermann 5, 12–13, 15, 22 – Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts (1856–1870) 5, 12 Hieronymus 300 Hillebrand, Joseph 5, 15 – Deutschen Nationalliteratur seit dem Anfange des achtzehnten Jahrhunderts (1845 f.) 5 Hippokrates 32 – De aeribus aquis locis (5. Jh. v. Chr.) 32, 42 Hobbes, Thomas 115, 121 Hoheslied 283 Homer 174–175, 181, 185, 190–192, 213, 247, 253–257, 263, 267–268, 298, 375, 385 – Ilias (8. Jh. v. Chr.) 172, 185, 191, 246, 253, 255–257, 265 – Odyssee (8. Jh. v. Chr.) 255, 288 Horaz (Quintus Horatius Flaccus) 68, 224, 234, 241–242, 255, 266, 275, 284–285,

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287, 289, 294, 300, 373–374, 377, 383, 385, 396, 406 – Ars Poetica (14 v. Chr.) 224, 284, 374, 383 Hutcheson, Francis 76 J Jacobi, Johann Georg 317 Jordanes 133, 187 Joseph II., Kaiser des HRRDN 155–156 K Karl Albrecht von Wittelsbach 151 Karl I. von England 66 Karl VI., Kaiser des HRRDN 151, 154, 161, 166, 235 Karsch, Anna Louisa 237, 255, 324, 357, 367, 374, 391–396, 399–405, 410–412, 414– 415 – Auserlesene Gedichte (1764) 391, 393–394, 399–400, 402–403 – Gesänge bey Gelegenheit der Feierlichkeiten Berlins (1763) 415 – Groß durch den Sieg des Königs bey Torgau (1760) 402 Kleist, Ewald Christian von 219, 224, 229, 234, 239–241, 249–251, 263, 266, 274– 276, 309, 319–320, 324, 341, 347, 350– 351, 357, 364, 369, 421, 438 – Cißides und Paches (1759) 341, 351 – Lied eines Lappländers (1758) 438 Klencke, Caroline von 403–404 Klopstock, Friedrich Gottlieb 3, 143, 173–174, 178, 181, 183, 192, 214–215, 289, 294, 322–323, 328, 330, 332–333, 338, 349, 360, 376, 379–384, 389–393, 398 – Der Messias (1748–1773) 143–144, 173– 174, 183, 192, 210, 213–215 – Geistliche Lieder (1758) 289 – Kriegslied, zur Nachahmung des alten Liedes von der Chevy-Chase-Jagd (1749) 322, 328, 338, 379–382, 384, 391–392, 398 – Liebeslied, zur Nachahmung des Trinkliedes (1749) 380–381, 383, 392 – Trinklied, zur Nachahmung des Kriegsliedes (1749) 379, 381–382, 390, 392 Körner, Theodor 274

492

Anhang

Körte, Wilhelm 225, 352, 354 Krause, Christian Gottfried 359, 365–366, 368–376, 378–389, 397–398, 428 – Von der Musikalischen Poesie (1752) 365– 366, 369–371, 373, 376, 380–386, 388, 398, 428 Kriegslied, Schlachtgesang und Siegeslied eines Preußischen Soldaten (etwa 1759) 360 L La Bruyère, Jean de – Caractères de Théophraste (1688) 325 La Nauze, Louis Jouard de 373–374, 384–385 – Mémoires sur les chansons de l’ançienne Grèce (1736) 374 Lachmann, Karl 333 – Über das Hildebrandslied (1833/35) 333 Lange, Anna Dorothea 395–400, 405–406, 408–409, 412 – Friedrichs Zurückkunft in sein Land (1747) 396–398 Lange, Samuel Gotthold 268, 271–272, 277– 278, 281–282, 285, 287–288, 296, 299– 303, 305–306, 308, 311, 313–314, 331– 332, 341–342, 394–398, 405–408 – Freundschaftliche Lieder (1745, mit Immanuel Jacob Pyra) 277, 286–287 – Horatzische Oden (1747) 278, 281, 288, 311, 332, 342, 396, 406–409 – Lehre von der Ode (1745) 271–272, 281– 282, 284–285, 290, 295–297, 300 – Oden Davids (1746) 272, 281–282 – Von dem guten Geschmack in der heiligen Schreibart (1745) 272, 282, 289, 299 – Von den Nutzen des Krieges (1748) 301, 303, 305, 308, 311–312, 315–316 Lavater, Johann Caspar 325, 335–336 – Schweizerlieder (1767) 325 Leibniz, Gottfried Wilhelm 283, 422 Leonidas 126–127, 354 Lessing, Gotthold Ephraim 3, 15, 28, 214, 216–218, 220–225, 227–229, 232–233, 240–243, 245–252, 254, 257–262, 265– 266, 274–276, 298, 300, 308–309, 316, 320, 326, 340–341, 347, 350–352, 357,

359, 364, 369, 375, 386, 397, 414, 421, 427–428, 431, 433, 437–438 – 17. Literaturbrief (1759) 223, 249, 412 – Philotas (1759) 431 – Schrifften (1753–1755) 225 – Vorbericht zu Gleims „Preussischen Kriegsliedern“ (1758) 222, 241–243, 247, 250– 251, 254, 260, 263, 265, 366, 414, 426– 428 Livius (Titus Livius) 72, 115 – Ab urbe condita (1. Jh. n. Chr.) 72 Locke, John 76 Logau, Friedrich von 41 Lowth, Robert 415 – Praelectiones de scacra Poesi Hebraeorum (1753) 415 Ludwig XIV. von Frankreich 47, 51, 53, 55, 57– 58, 64, 77, 156 Lukan (Marcus Annaeus Lucanus) 34, 45, 174, 184 Luther, Martin 302, 324 Lykurg 73, 75, 124, 135, 362 M Machiavelli, Niccolò 68, 71–74, 76, 81–88, 90, 94–96, 98–100, 102, 105–107, 110–111, 113–115, 119, 121, 123, 134, 136 – Discorsi sopra la prima deca di Tito Livio (1513–1522) 72–74, 76, 82–84, 86, 90, 94–96, 100, 105–106, 109–111, 113, 115, 119, 121, 134 – Il Principe (1513) 71, 111, 121 Maria Theresia, Erzherzogin von Österreich 1, 151–153, 155, 165–168, 171, 176, 186, 189–190, 230, 278 Martial (Marcus Valerius Martialis) 129 Mattheson, Johann 372 Maximilian I., Kaiser des HRRDN 168, 170 Meier, Georg Friedrich 268, 271, 274–275, 295–296, 301, 304–305, 311, 326, 348– 349, 358–359, 397, 406 – Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften (1748–1750) 304, 326 – Das Reich der Natur und der Sitten (1757– 1762) 358 – Gedancken von Schertzen (1744) 295

Personen‑ und Werkregister

– Theoretische Lehre von den Gemüthsbewegungen überhaupt (1744) 348, 359 – Untersuchung Einiger Ursachen des verdorbenen Geschmacks der Deutschen (1746) 397 Meil, Johann Wilhelm 243, 352, 354, 362, 364 Mendelssohn, Moses 216–217, 220, 260– 262, 347, 354, 357–358, 364, 402, 412 Mengs, Anton Raphael 2 Milton, John 89, 144, 152, 172, 253, 394 – Paradise Lost (1667) 144, 172 Molière 325 Montesquieu, Charles de 52–73, 75–79, 81, 89, 91–137, 141–147, 193, 195–202, 207–209, 234–236, 238–239, 243–244, 300–308, 310, 312–313, 315–316, 318, 345, 364, 412, 414–415, 418–419, 425, 433 – Considérations sur les causes de la grandeur des Romains et de leur décadence (1734) 53–67, 70–71, 81, 91–97, 99, 101–106, 108–109, 112, 114, 116–118, 120–121, 125, 129, 198, 201–202, 207, 234, 236, 238, 244, 300, 302–303, 305, 313, 316 – Esprit des Lois (1748) 53, 63, 81, 92, 104, 111, 114–115, 117–122, 124–126, 128–133, 136, 141, 145, 193, 195, 197–198, 209, 239, 300, 302–304, 383, 414–415 – Lettres persanes (1721) 54 – Réflexions sur la monarchie universelle en Europe (1733/34) 56–58, 66–67, 97 Morhof, Daniel Georg 184–185, 195, 258 – Unterricht von der teutschen Sprache und Poesie (1682) 185, 195, 258 Moyle, Walter 91 – Select Collection of Tracts (1728) 91 Mylius, Christlob 287, 297–298 N Nero (Nero Claudius Caesar Augustus Germanicus) 56 Nibelungenlied (13. Jh.) 191, 246–247, 256 Nicolai, Friedrich 215–217, 220, 226–227, 229–230, 262, 320, 344, 346, 357, 363, 371, 373, 381, 410–411, 421

493

– Briefe über den itzigen Zustand der schönen Wissenschaften in Deutschland (1754/55) 215, 226, 363, 373, 381 – Leben und Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker (1773–1776) 346, 356 O Opitz, Martin 42–46, 52–56, 144, 184, 194 – Aristarch (1617) 42, 44–46, 52–54 – Buch von der Deutschen Poeterey (1624) 42, 44–46, 52–56, 184, 194 Ovid (Publius Ovidius Naso) 68, 129 P Pemberton, Henry 127 – Observations on Poetry, especially the Epic (1738) 127 Perrault, Charles 47–48, 57–58 – Le Siècle de Louis le Grand (1687) 48 Petrarca, Francesco 31, 33, 46 – Invectiva contra eum qui maledixit Italie (1373) 33 Pfinzing, Melchior 169–170 – Theuerdank (1517) 169–170, 180 Piccolomini, Enea Silvio 36, 46 Pietsch, Johann Valentin 239 Pindar 241, 251, 255, 275, 284–285, 287–289, 298, 308 Platon 405 – Ion (4. Jh. v. Chr.) 405 Polybios 32, 42, 68, 70–72, 74–77, 83–86, 90, 108, 115–116 – Historien (2. Jh. v. Chr.) 32, 71, 74 Pope, Alexander 68, 76, 78, 88, 127, 206, 299, 371 – Essay on Man (1734) 88 – Temple of Fame (1714) 299 – The Dunciad (1728) 206 Posadowsky, Augusta Elisabeth 318, 328 – Geistliche Gedichte (1751) 318 Premlechner, Johannes B. 163–164 – Lucubrationes poeticae et oratoriae (1789) 164 Priskos von Panion (5. Jh. n. Chr.) 187–188, 197, 199

494

Anhang

Psalmen 266, 272, 288–294, 296–300, 302–306, 329–330, 332–334, 336, 341, 344, 349, 401, 415 Pseudo-Longinos 272, 282, 286, 349–350, 359–361 – Vom Erhabenen (1. Jh. n. Chr.) 251, 296, 349–350 Pufendorf, Samuel 150 Pulteney, William 80 Pyra, Immanuel Jacob 267–268, 277–299, 301–302, 304–308, 313, 321, 331–332, 342, 398, 408, 433 – Erweis, daß die G*ttsch*dianische Sekte den Geschmack verderbe (1743) 287 – Ode auf Ihro Majestät Friedrich den Andern (1740) 277–279, 281–283, 287–291, 293–299, 301–302, 304–306, 308, 408 – Tempel der Wahren Dichtkunst (1737) 129, 231, 281, 296–297, 299, 306–307 Q Quantz, Johann Joachim 386, 397 R Raffael 2 Ramler, Karl Wilhelm 214, 216, 224, 227–229, 237–238, 245, 263, 300, 332, 342, 350–351, 357–362, 365–366, 368, 370–372, 374–376, 378, 386, 396–397, 421 – [Auf einen Granatapfel, der in Berlin zur Reife gekommen war] (1750) 227–228, 237–239 – Lieder der Deutschen (1767/68, mit Christian Gottfried Krause) 368 – Oden (1767) 229 – Oden mit Melodien (1753, mit Christian Gottfried Krause) 362, 365, 368, 372, 374, 386 Riedel, Friedrich Just 217 – Ueber das Publicum (1768) 217 Rienzo, Cola di 31 Rolle, Johann Heinrich 360, 370, 386 Rollin, Charles 55, 364 – Histoire ancienne (1730–1734) 364

– Histoire romaine depuis la fondation de Rome jusqu'à la Bataille d'Actium (1738–1754) 55 Ronsard, Pierre de 46 Rouille, Pierre Julien 55 Rousseau, Jean-Jacques 15, 25, 111, 126–130, 136–139, 208–209, 218–219, 231, 419, 430 – Discours sur les sciences et les arts (1750) 15, 126, 130, 209, 231, 419, 423 Rudbeck, Olof der Ältere 133, 143 – Atlantica sive Manheim (1679–1702) 133, 143 Rudnick, Paul Jakob 273, 283–285 S Sack, August Friedrich Wilhelm 332, 336, 340, 343–346, 371 – Beantwortung einer wichtigen Frage beym Anfange des 1758sten Jahres (1758) 336 – Predigten über verschiedene wichtige Wahrheiten zur Gottseligkeit (1735–1764) 331, 333, 338, 341 – Von dem Nutzen moralischer Predigten (1750) 335, 345 Sallust (Gaius Sallustius Crispus) 105–108, 115–120 – Der Krieg mit Jugurtha (1. Jh. v. Chr.) 106 – Die Verschwörung Catilinas (1. Jh. v. Chr.) 106 – Historien (1. Jh. v. Chr.) 106 Sappho 285–287, 296, 377, 396 Scherer, Wilhelm 5, 7, 15 – Geschichte der deutschen Litteratur (1883) 5 Scheyb, Franz Christoph von 162, 165–166, 171, 173–177, 182–185, 189, 198 – Theresiade (1746) 165–166, 175–176, 183, 190 Schiller, Friedrich 352, 362 – Der Spaziergang (1799) 362 Schlegel, Johann Adolf 407 Schlegel, Johann Elias 148, 152, 159 – Herrmann (1740/41) 148–149, 152 Schönaich, Christoph Otto von 141, 147, 176, 186, 191–196, 200–208, 210–216, 220

Personen‑ und Werkregister

– Hermann, oder das befreyte Deutschland (1751) 141, 176, 192, 200, 203–204, 206–207, 214 Schubart, Christian Friedrich Daniel 440 – Kaplied (1787) 440 Scipio (Publius Cornelius Scipio Africanus) 111 Shaftesbury, Anthony Ashley-Cooper of 76, 348, 383 – Sensus Communis (1709) 383 Sidney, Philip 251, 429 Silius Italicus 174, 184 Simonides 300, 352, 362 Solon 362 Spinoza, Baruch de 381 Steinmetz, Johann Heinrich 318 Strabo 34, 51 Sueton (Gaius Suetonius Tranquillus) 60 Sulzer, Johann Georg 214, 225, 227, 237, 313–314, 323–324, 331, 359, 375, 391– 395, 399, 402–406, 409, 412 – Allgemeine Theorie der Schönen Künste (1771–1774) 313, 392–395 – Vorrede zu Karschs „Auserlesenen Gedichten“ (1764) 391–392, 395, 402 Syv, Peder 247–248 T Tacitus (Publius Cornelius Tacitus) 35–36, 38, 40, 45–46, 49–51, 56, 60, 87, 90, 99–100, 117, 120, 131–134, 157–158, 160, 201, 346 – Annales (110–120 n. Chr.) 46, 201 – Germania (98 n. Chr.) 35–40, 45, 50, 90, 131–132 – Historien (110 n. Chr.) 160 Tersteegen, Gerhard 321, 325, 330–331, 334 – Geistliches Blumen-Gärtlein inniger Seelen (1729 ff.) 321, 324, 331, 334 Theresias (1746) 154–158, 165–168 Thieriot, Nicolas Claude 54, 65, 89 Thomasius, Christian 49, 57 Thomson, James 24, 78 – Liberty (1735) 78 Thukydides 108, 115

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Tyrtaios 222, 224, 234, 241–243, 263, 274, 325, 335, 355, 375, 385, 389, 407–409 U Uz, Johann Peter 141–142, 146, 151, 214, 224–225, 273–274, 283–285, 316, 320, 326, 350, 357, 364, 397, 404 V Varus (Publius Quinctilius Varus) 194, 197, 202 Vedel, Anders Sørensen 247–248 – Hundredvisebog (1591) 248, 258 Vergil (Publius Vergilius Maro) 68, 155, 165, 174–175, 213, 253–254, 354 – 4. Ekloge (40 v. Chr.) 155 – Aeneis (19 v. Chr.) 172, 253, 263, 354 Voltaire 54, 56, 65–66, 76, 79, 89, 173, 183, 225–226, 230, 236, 240, 249–250, 288, 303, 313, 373, 375 – Henriade (1723) 173 – Lettres philosophiques (1734) 66, 76 – Mémoires (1759; posthum 1784) 226 Voß, Christian Friedrich 219, 225, 369, 396 W Waller, Edmund 377 Walpole, Robert 70, 80, 82, 89–90, 92, 99– 100, 126–127 Wartburton, William 428 Weiße, Christian Felix 260, 270, 390, 393– 394, 403–404, 413 – Amazonen-Lieder (1762) 260, 403, 413 – Der Vorzug der Deutschen (1763) 393 Wieland, Christoph Martin 3, 141, 147, 153, 192–200, 202–203, 205–209, 211–216, 220–225, 255, 433 – Abhandlung von den Schönheiten des epischen Gedichts der Noah (1753) 224 – Ankündigung einer Dunciade für die Deutschen (1755, mit Johann Jakob Bodmer) 203, 206–207, 212–213, 215–216, 221–224 – Cyrus (1759) 245, 255 – Edward Grandisons Geschichte in Görlitz (1755, mit Johann Jakob Bodmer) 211, 225 – Hermann (1751) 141, 196–197, 199, 205

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Anhang

Wienerisches Diarium (1703–1779) 159, 169 Wilken, Matthäus Arnold 387 Winckelmann, Johann Joachim 2, 64, 120 Winter, Georg Ludewig 386 Wolff, Christian 277, 283, 350, 422 Wolfram von Eschenbach 181, 190 – Parzival (13. Jh.) 183 Y Young, Edward 405 – Conjectures on Original Composition (1759) 405

Z Zellweger, Laurenz 192, 200, 202, 210, 225 Zimmermann, Johann Georg 205, 245 Zinzendorf, Nikolaus Ludwig von 319, 321 – Erklärung an des Königs in Preussen Majestät (1742) 319 – Teutsche Gedichte (1735) 321