Krieg und Literatur: Studien zur sowjetischen Prosa von 1941 bis zur Gegenwart [Reprint 2022 ed.] 9783112617229, 9783112617212


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German Pages 300 [301] Year 1978

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Krieg und Literatur: Studien zur sowjetischen Prosa von 1941 bis zur Gegenwart [Reprint 2022 ed.]
 9783112617229, 9783112617212

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Nyota Thun

Krieg und Literatur

Literatur und Gesellschaft Herausgegeben von der Akademie der Wissenschaften der DDR Zentralinstitut für Literaturgeschichte

Nyota Thun

Krieg und Literatur Studien %ur sowjetischen Prosa von 1941 bis %ur Gegenwart

Akademie-Verlag • Berlin *977

Erschienen im Akademie-Verlag, 108 Berlin, Leipziger Straße 3—4 © Akademie-Verlag Berlin 1977 Lizenznummer: 202 100/236/77 Gesamtherstellung: IV/2/14 VEB Druckerei »Gottfried Wilhelm Leibniz«, 445 Gräfenhainichen/DDR • 4910 Bestellnummer: 753 170 6 (2150/50) • LSV 8036 Printed in GDR DDR 9,50 M

Inhalt

Vorbemerkung

7

D i e Neuentdeckung Tolstois

15

Konstantin Simonow, Michail Scholochow, Hemingway, Anna Seghers

Ernest

Dokumentation und Erzählkunst

91

Ilja Ehrenburg, Olga Bergholz, Thomas Mann, Wassili Subbotin, Sergej Smirnow, Alexander Adamowitsch, Alexander Kluge, Heiner Müller, Ibuse Masuji, Wladimir Bogomolow, Alfred Andersch Individuum und gesellschaftliche Welt

154

Alexander Bek, Juri Bondarew, Juri Baklanow, Julius Fucik, Norman Mailer, Noma Hiroshi, Umezaki Haruo, Enn Vetemaa, Wassil Bykau, Tschingis Aitmatow, Mihailo Lalic Historisierung der Gegenwart Viktor Astafjew, Daniii Christa Wolf

223 Granin, Juri

Bondarew,

Anmerkungen

270

Personenregister

295

5

Für Franziska, Andreas und Andrea

Vorbemerkung

Die Idee zu diesem Buch entstand aus der Verbindung von Leseerlebnis, Zeitgeschichte und eigenem Leben. (Letzteres pflegt der Wissenschaftler gewöhnlich zu verschweigen.) Sie weitete sich mit den Jahren zu einem immer umfangreicheren Vorhaben, so daß schließlich eine feste Eingrenzung von Material und theoretischen Problemen geboten schien. Bereits heute läßt sich übersehen, daß die Kriegsdarstellungen im gesamten sowjetischen Literaturprozeß der letzten drei Jahrzehnte eine Bedeutung erlangt haben, die mit der Bedeutung der sowjetischen Literatur über den Bürgerkrieg während der zwanziger und dreißiger Jahre vergleichbar ist. Wir haben es mit Erscheinungen zu tun, die sowohl literaturhistorisch als auch literaturtheoretisch wichtige Tendenzen und ästhetische Errungenschaften anzeigen. Daß es dabei insbesondere in den letzten zwanzig Jahren zu kräftigen Wechselbeziehungen zwischen den Werken mit zeitgenössischen und den Werken mit geschichtlichen Stoffen kam, konnte nicht näher untersucht werden. Aber der enge Zusammenhang mit neuen ästhetischen Fragestellungen im gesamten Kunstprozeß ist schon aus den theoretischen Komplexen der einzelnen Studien ersichtlich. Ein historischer Abriß der für diesen Literaturstrom wichtigen Erscheinungen unter einem einzigen übergreifenden theoretischen Gesichtspunkt wurde aus zwei Gründen nicht angestrebt: Erstens hätte die große Anzahl der zu behandelnden Werke, die bei weitem nicht alle in deutscher Übersetzung vorliegen, der Untersuchung einen mehr literaturgeschichtlichen Charakter verliehen, der jedoch nicht beabsichtigt war. Und zweitens sind in der Sowjetunion in jüngster Zeit sehr 7

gründliche wissenschaftliche Untersuchungen dieser Art erschienen1, die vom heutigen Forschungsstand aus betrachtet diese Arbeit bereits geleistet haben. Das historische Prinzip ist dennoch streng eingehalten. Einzelne literaturgeschichtliche Linien werden unter verschiedenen Aspekten betrachtet und weiter verfolgt. Im Text wird mehrmals und jeweils in einem anderen Kontext auf wichtige Zäsuren der Literaturentwicklung verwiesen, ohne daß sie stets ausführlich begründet und erklärt wurden. Sie stimmen mit den Grundtendenzen der Sowjetliteratur von 1941 bis in die Gegenwart überein, wobei von den Kriegsdarstellungen nicht selten einige wichtige Impulse für den gesamten Literaturprozeß ausgegangen sind. E i handelt sich im wesentlichen um drei Etappen 2 : Der Kriegsbeginn 1941 konfrontierte die sowjetischen Schriftsteller mit einer gesellschaftlichen Situation, die von ihnen nicht nur eine neue Art und Weise des operativen Eingreifens in die Wirklichkeit forderte, sondern auch die Überprüfung des Verhältnisses von Kunstmittel und Kunstwirkung. Angesichts der Härte des Krieges, die alle bisherigen Vorstellungen weit übertraf, wurden einige literarische Verfahren in Frage gestellt. Die Publizistik von Schriftstellern zeigte Ende des Jahres 1941 als erste jene Veränderungen an, die sich ab 1942 auch in der Prosa durchzusetzen begannen: die nüchterne, sachliche Darstellung der schweren Kämpfe und der Anstrengungen des ganzen Volkes, mit der Tendenz, das Selbstvertrauen der kämpfenden Menschen zu festigen, ihre Überzeugung, daß trotz der anfänglichen Rückschläge der Gegner zu bezwingen ist. In der Literatur dieser Jahre bildete sich eine neue Beziehung zur eigenen Geschichte heraus, vor allem zu Oktoberrevolution und Bürgerkrieg, die erstmalig bewußt als eine verpflichtende historische T r a d i t i o n des Sowjetvolkes begriffen wurden. Die aus dieser Zeit stammenden Vorstellungen von der welthistorischen Mission der revolutionären Volksmassen Rußlands - der Gedanke von der Weltrevolution - erhielten im Krieg einen neuen historisch konkreten Inhalt. Die Sowjetarmee kämpfte um die Verteidigung des eigenen Landes ebenso wie um die Befreiung aller vom Hitlerfaschismus versklavten Völker Europas. So entwickelte sich schon im Krieg ein neues Geschichtsverständnis, 8

das sich mit dem endgültigen Sieg über Hitlerdeutschland und dem Entstehen der sozialistischen Länder und in den folgenden Jahren mit der Herausbildung des sozialistischen Weltsystems festigte. Die dadurch bewirkte Historisierung der Literatur äußerte sich vor allem in der Darstellung, wie die sowjetischen Menschen in der Praxis ihre Geschichte selbst machten und auf diese Weise auch den Weltprozeß zu ihren eigenen Gunsten und zugunsten anderer Völker gestalteten. Das war ein Gewinn an neuen ästhetischen Möglichkeiten, der allerdings im Werk einiger Schriftsteller mit künstlerischen Einbußen verbunden war, d. h. mit dem Verlust an Kunstmitteln, die bereits während des Krieges zur Wiedergabe der Realien des Krieges ausgebildet worden waren. Etwa Mitte der fünfziger Jahre setzte eine neue Etappe ein: Fast gleichzeitig veröffentlichten bereits profilierte Schriftsteller und bislang noch unbekannte junge Autoren Bücher, die sich durch eine neue, unkonventionelle künstlerische Sicht auf den Krieg auswiesen. In diesem nach dem XX. Parteitag der KPdSU einsetzenden Entwicklungsprozeß zeichneten sich zwei Richtungen ab, die in direktem Zusammenhang mit dem gesamten politischen und geistigen Leben in der Sowjetunion jener Zeit zu betrachten sind. Bisher nicht bekannte Tatsachen vom Kriegsverlauf - Ursachen der militärischen Rückschläge zu Kriegsbeginn, die tatsächliche Zahl der Opfer und Zerstörungen, genaue Details von den einzelnen Schlachten, dem Kräfteverhältnis auf beiden Seiten der Front und anderes mehr - wurden veröffentlicht. Forscherkollektive befaßten sich mit einem gründlichen wissenschaftlichen Studium der Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges. Hohe Militärs schrieben ihre Memoiren. Auf Grund der exakteren Kenntnisse von den historischen Vorgängen erhöhte sich in der Öffentlichkeit der Anspruch an die Literatur. Die Schreibenden überprüften erneut Kunstprogrammatik und Kunstmittel, ob sie den gewachsenen Anforderungen gerecht werden. Einige Schriftsteller waren unmittelbar an der Aufhellung der geschichtlichen Vorgänge beteiligt und bemühten sich um eine genauere, historisch gesicherte Wiedergabe der Ereignisse, indem sie unbekannte historische Tatsachen rekonstruierten. Die Autoren, die zu dieser Zeit ihre 9

ersten literarischen Arbeiten vorlegten, schrieben darüber, wie sie selber als Soldaten oder Offiziere im Krieg gekämpft hatten. In diesen meist kleineren Prosawerken bestimmt das Empfinden für die Tragik des Menschen im Krieg, für die Härte der Situationen und für die hohen Verluste in den eigenen Reihen stärker denn je zuvor Erzählstoff und Erzählmittel. Beide Richtungen verband das Streben, ein Geschichtsbild zu vermitteln, das der harten Wahrheit des Krieges entspricht. Die auf diese Weise weitergetriebene Historisierung der Kriegsbeschreibungen war vornehmlich auf die Rekonstruktion der wirklichen Vorgänge gerichtet, mit der Wirkungsabsicht, zu zeigen, wozu der Mensch fähig ist, wenn er sich bewußt einer großen gesellschaftlichen Aufgabe stellt, wenn er weiß, wofür er sein Leben einsetzt. Bereits in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre waren die ersten Anzeichen einer neuen Tendenz zu erkennen, die seit Beginn der siebziger Jahre als die dominierende angesehen werden kann. Der Blick auf die Geschichte weitet sich erneut bei gleichzeitiger breiterer Auffächerung und Differenzierung der Themen und Schreibweisen. Der Große Vaterländische Krieg wird als ein Ereignis innerhalb der geschichtlichen Hauptbewegung des 20. Jahrhunderts begriffen. Der internationalistische Charakter dieses Krieges von Seiten der Sowjetunion tritt unter dem Druck der neuen Zeitereignisse wieder stärker ins Blickfeld. Angesichts der Verschärfung des internationalen Klassenkampfes, der bedrohlichen militärischen Konflikte und der Gefahren des Einsatzes neuer, noch furchtbarerer Massenvernichtungsmittel fühlen sich die Schriftsteller verpflichtet, die tragischen Folgen eines Krieges für ein Volk wie für den einzelnen Menschen noch Jahrzehnte danach sichtbar zu machen. Die Gegenwart wird häufig zu dem entscheidenden historischen Bezugspunkt, von dem sowohl die Kriegsvergangenheit als auch die Zukunft der Menschheit beurteilt wird. Die humanisierende Funktion der Literatur, die sich mit sittlichen Problemen des Menschen im Krieg befaßt, macht den besonderen Wert dieser Darstellungen aus. Diese hier kurz skizzierten Linien des Literaturprozesses bestimmen die innere Struktur der vier Studien, die allerdings nach besonderen theoretischen Aspekten unterschiedlich ge10

gliedert sind. Während die erste und die vierte Stüdie literarische Werke jeweils nur einer Etappe behandeln, werden in der zweiten und dritten Studie die künstlerischen Veränderungen über einen längeren Zeitabschnitt verfolgt. Das Auswahlprinzip - sowjetische Prosa über den Großen Vaterländischen Krieg - kann nicht als ein ausschließlich thematisches verstanden werden, ebenso wenig wie die Analysen etwa als Motivforschung betrieben wurden* Die literarischen Beispiele wurden in ihren historischen und logischen Zusammenhängen nach folgenden theoretischen Gesichtspunkten untersucht: Erbebeziehung, Dokument und Fiktion, Humanismusproblematik, geschichtsphilosophische Drehpunkte. Nicht Vollständigkeit, sondern eine paradigmatische Darstellung wurde angestrebt. Von der Auswahl der behandelten Werke kann nicht grundsätzlich eine positive bzw. negative Bewertung der künstlerischen Leistung abgeleitet werden. In einigen Fällen wurden bewußt solche Bücher zur Analyse herangezogen, die in wissenschaftlichen Arbeiten von DDR-Forschern wenig oder noch gar nicht behandelt wurden, zum Verständnis des sowjetischen Literaturprozesses aber sehr wichtig sind. Einen weiteren Schwerpunkt bildet die Untersuchung von Neuerscheinungen, die zum Teil erst zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieser Studien in deutscher Übersetzung vorliegen werden. Hauptgegenstand der Arbeit ist die sowjetische Prosa. Doch es wurde darüber hinaus versucht, Werke anderer Nationalliteraturen dort in die Analyse einzubeziehen, wo es sich vom theoretischen Aspekt oder von literarischen Bezügen her anbot. Das in gewisser Weise experimentelle Verfahren wurde durch die Konferenz Die Sowjetliteratur und der weltliterarische Prozeß3 angeregt, die im Oktober 1972 im Gorki-Institut für Weltliteratur in Moskau stattfand. Boris Sutschkow formulierte damals die Aufgabe, „eine prinzipiell neue Betrachtungsweise für das vielschichtige literarische Bild zu finden, das wir gegenwärtig in der Welt sehen. Wir beobachten nicht nur Momente einer Divergenz mit der Sowjetliteratur, sondern auch Momente einer wesentlichen Annäherung an sie"4. Die Tatsache, daß Autoren verschiedener weltanschaulicher und künstlerischer Auffassungen das gleiche Epochenproblem 11

die militärische Auseinandersetzung mit dem Faschismus von fortschrittlichen Positionen gestaltet haben, ermöglicht, solche Tendenzen von Nichtübereinstimmung und Annäherung eingehender zu untersuchen. Dabei sind allerdings stets die jeweils besonderen sozial-politischen und literarischen Kämpfe, die auf das Entstehen der Werke eingewirkt haben, zu berücksichtigen. Im Rahmen dieser Studien konnte letzteres häufig nur sehr knapp angedeutet werden. Wenn es gelungen ist, zu zeigen, daß die analysierten sowjetischen Kunstleistungen in einem größeren weltliterarischen Zusammenhang stehen, so wurde das Anliegen dieses - das sei nochmals betont - Versuches erreicht. Der Verfasser erhebt weder Anspruch auf eine umfassende Darlegung solcher Erscheinungen noch auf eine konsequent durchgeführte literaturvergleichende Methode mit dem Ziel,' typologische Ähnlichkeiten zu bestimmen. Letzteres kann nur mit Hilfe von detaillierten Analysen einiger weniger Beispiele gelöst werden. Bemerkenswert unter diesem Aspekt ist die Arbeit von Miroslav Zahrädka Die Stalingrader Schlacht in literarischer Darstellung5, der Versuch, die mitunter einander widersprechenden literarischen Zeugnisse eines bedeutenden Kriegsereignisses in einer vergleichenden Analyse vorzustellen. Es gibt bisher noch wenige wissenschaftliche Arbeiten, die die Darstellung des zweiten Weltkrieges als ein weltliterarisches Phänomen in ihren Zusammenhängen erforscht haben. Zu nennen ist an erster Stelle die Monographie von Pawel Toper Um des Lebens willen . . . 6 , in der die Traditionslinien bis ins 19. Jahrhundert zurück verfolgt werden. Auf die Behandlung wesentlicher Werke und Grundtendenzen in den Literaturen der sozialistischen Staatengemeinschaft konnte in der vorliegenden Arbeit verzichtet werden, da inzwischen der Band Verteidigung der Menschheit7 erschienen ist - eine Ausnahme bildet der Roman von Lalic, der im konkreten Zusammenhang besonders wichtig erschien. Verwiesen sei auch auf die Publikation von Sigrid Töpelmann Autoren - Figuren - Entwicklungen. Sie gibt einen umfassenden Überblick über die Spezifik und Leistung von Werken unserer Literatur, in denen Stoffe und Probleme des zweiten Weltkrieges gestaltet sind. Der zweite Weltkrieg ist in den Literaturen der Länder, die 12

an diesem Krieg beteiligt waren, künstlerisch ebenso wie quantitativ ungleichmäßig behandelt und dabei von grundverschiedenen ideologischen Positionen interpretiert worden. Die Neuerscheinungen steigen weiterhin von Jahr zu Jahr an und sind kaum noch überschaubar. Ih den vier Studien wurden mittels eines selektiven Verfahrens Möglichkeiten erkundet, wie die benannten literarischen Prozesse in ihren historischen und logischen Zusammenhängen zu beschreiben sind. Die Studien wurden als Beitrag zur gegenwärtigen Literaturdebatte verfaßt und sollen zugleich auf Literatur aufmerksam machen, die geschrieben wurde, auf daß die Kriegsgefahr für immer aus der Welt gebannt wird. September 1976

Die Neuentdeckung Tolstois

1 Mitten im zweiten Weltkrieg, 1942, schrieb Ernest Hemingway im Vorwort zur Anthologie Menschen im Krieg. Die besten Kriegsgeschichten aller Zeiten: „Es ist nichts Besseres über den Krieg geschrieben worden als bei Tolstoi. Und das ist derart gewaltig und überwältigend, daß jede beliebige Anzahl von Kämpfen und Schlachten herausoperiert werden kann und dennoch all deren Wahrheit und Kraft bewahrt, daher empfindet man auch keine Skrupel beim Schneiden . . Aus Krieg und Frieden wählte Hemingway folgende Texte: Der Volkskrieg über die Partisanenkämpfe für den 5. Teil, betitelt Der Krieg ist das Gebiet des Zufalls, sowie Bagrations Nachhutgefecht und Borodino für den 7. Teil, Der Krieg erfordert Entschlossenheit, Festigkeit und Standhafigkeit. Bemerkenswert ist die Bauweise der umfangreichen Anthologie. Sie enthält Texte von Xenophon, Vergil, der Bibel, von bekannten Autoren vergangener Jahrhunderte bis zur Gegenwart. Hemingway gliederte sie thematisch nach Aussprüchen von Karl von Clausewitz und verknüpfte die in Vom Kriege benannten Grundeigenschaften des Kriegers und militärischen Grundsituationen mit literarischen Darstellungen, die den Menschen im Krieg von verschiedenen Seiten beleuchten. Das Beispiel Tolstoi bezeichnet genau den Schnittpunkt der ethischen und ästhetischen Anschauungen Hemingways in bezug auf die Darstellung des Krieges. Das geschilderte Nachhutgefecht unter Bagrations Führung stellt er über die Schlachtbeschreibung von Borodino. Zutiefst beeindruckt von der Figur Hauptmann Tuschins ebenso wie von den Soldaten der Batterie, schlußfolgert er: „ . . . schließlich ist ein Mechanismus niemals besser als das Herz des Menschen, der die Kontrolle ausübt."10 15

Das Anliegen, „der Wahrheit über den Krieg so nahe zu kommen, wie wir können"11, war für Hemingway vorrangig ein eigenes Werkstattproblem. Wer wie er so viele und so unterschiedliche Kriege erlebt und beschrieben hatte, kannte sehr genau die Schwierigkeiten beim Aufschreiben dessen, was das Wesen des Krieges ausmacht, was er den Menschen abfordert und wie der Mensch innerhalb einer solchen großen historischen Bewegung sich als Mensch bewährt oder wie er als Mensch versagt. Spätestens seit den verschiedenen Versuchen, den spanischen Bürgerkrieg darzustellen, ringt Hemingway um neue Lösungen einer wahrheitsgetreuen Wiedergabe des Verhaltens des Menschen im Krieg. Im zweiten Weltkrieg verschärft sich die kritische Sicht auf das von der Weltliteratur bisher Geleistete. Und obwohl er die Bedeutung auch anderer großer Realisten - so von Stendhal, Henri Barbusse, Stephen Crane - herausstellt, verknüpft er seine Überlegungen über die künstlerische Wahrheit ausschließlich mit Krieg und Frieden. E t habe zwar nie etwas für Tolstois Ideen, dessen Messiasgedanken übrig gehabt, betont Hemingway, aber er bewundere Tolstoi als Künstler: „ . . . ich habe von ihm gelernt, meinem eigenen D E N K E N in großen Lettern gesetzt, zu mißtrauen und zu versuchen, so wahr, so aufrichtig, so objektiv und so anspruchslos wie nur irgend möglich zu schreiben."^ Die aus Krieg und Frieden genommenen Texte sind mit Bedacht den erwähnten Grundthesen eines Clausewitz zugeordnet. Sie machen sichtbar, was Hemingway selber so sehr an Tolstoi bewunderte: die Fähigkeit, den Menschen von innen, mit all seinen Widersprüchen, und gleichzeitig von außen, in den komplizierten Bewährungssituationen des Auf und Ab militärischer Operationen, zu erfassen. Auswahl und Kommentierung der Anthologie rücken jedoch noch ein weiteres Moment ins Blickfeld - die gesellschaftliche Funktion von Kriegsbeschreibungen zu Kriegszeiten. Hemingway erwähnt seine drei Söhne (der älteste geriet 1944 in deutsche Kriegsgefangenschaft), erinnert sich, wie unvorbereitet er selber seinerzeit 1918 mit dem Krieg in Europa konfrontiert wurde, und befragt nun Literatur danach, was sie vornehmlich den jungen Amerikanern zu geben vermag, denen zu kämp16

fen bevorstand. Die in den „besten Kriegsgeschichten aller Zeiten" vermittelte Wahrheit über den Krieg könne zwar die Erfahrungen eines einzelnen Menschen nicht ersetzen, aber sie könne Erfahrung vorbereiten, und schließlich könne sie erworbene Erfahrung ergänzen oder auch korrigieren. Dieses Beispiel, wie im zweiten Weltkrieg, unter dem lastenden Druck des Zeitgeschehens, Tolstoi von einem Autor anderer Nationalität und anderer Handschrift neu gelesen und neu verstanden wurde, war kein Einzelfall. Krieg und Frieden wurde in der Sowjetunion wie im Ausland, in Ländern der Antihitlerkoalition, in hohen Auflagen verlegt. In New York erschien der Roman im gleichen Jahr wie die Anthologie Menschen im Krieg. In dem Leseerlebnis von Krieg und Frieden kreuzten sich - auch bei den Schriftstellern - zwei Vorgänge. Man suchte bei Tolstoi Antwort auf die Frage, warum Hitlers Armeen den Widerstandswillen des russischen Volkes ebensowenig brechen konnten wie seinerzeit die Truppen Napoleons. Und gleichzeitig überwältigte auf Grund der eigenen Kriegserfahrung, so verschieden sie im gegebenen Fall auch war, Tolstois künstlerische Kraft, gesellschaftliche Katastrophen, die solche Kriege zwischen mehreren Völkern immer sind, mit individuellen Schicksalen und Empfindungen zu verknüpfen. Anna Seghers schrieb 1944 im mexikanischen Exil: „Die Invasion des Vaterlandes geht in Krieg und Frieden durch das Privatleben von Menschengruppen, deren alltägliche Schicksale sich mit dem einmaligen Schicksal ihres Volkes und Vaterlandes schneiden. Die Invasion zwingt alle in gemeinsames Leid und in gemeinsamen Widerstand . . ." 13 Es ist jedoch nicht nur dieser Gleichklang einer allgemeinen Kriegssituation, der Anna Seghers seinerzeit so stark bewegte und für Tolstoi interessierte. Sie stieß bereits damals viel tiefer vor, zu einem Problem, dessen ästhetische Bedeutung und Tragweite erst im Nachkrieg von den meisten deutschen Schriftstellern begriffen wurden. Den Anstoß zur Niederschrift gab die Beunruhigung darüber, wie tief sich faschistische Gedankengänge in das Bewußtsein der Deutschen eingenistet haben und wie selbst die Möglichkeit nicht ausgeschlossen werden dürfe, daß von diesem 2

Thun, Krieg

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Gedankengut sogar Menschen angesteckt werden, die mit der Waffe gegen den Faschismus gekämpft haben. Sie durchforschte das weltliterarische Erbe nach ähnlichen Konstellationen und entdeckte „zweierlei Formen, den Eindringling ins Volk darzustellen, die direkte Darstellung, die sich auf das sichtbare Faktum, die militärische Okkupation, bezieht, und die scheinbar indirekte, die sich mit der unklareren langsameren Wirkung, mit dem ideologischen Haftenbleiben des bereits militärisch besiegten Feindes befaßt" 14 . In diesem Zusammenhang untersuchte sie erstmalig Schuld, und Sühne und Krieg und Frieden, Werke, die in Stil und künstlerischem Gesetz fast gegensätzlich seien und dennoch im obigen Sinne einander viel enger berührten, als gewöhnlich angenommen werde. Anna Seghers hat diese Gedanken nach dem Krieg auf der Grundlage intensiver Matcrialstudien weiterentwickelt. Im Gegensatz zu Hemingway lenkte die deutsche Autorin die Aufmerksamkeit vornehmlich auf die Schlacht von Austerlitz, auf eine Stelle, die ihr hinsichtlich des Tolstoischen künstlerischen Prinzips am bedeutsamsten erschien: die Heilung des schwerverwundeten' Andrej Bolkonski von seinem geheimen Napoleonkult, der napoleonischen Machtidee. Diese Stelle, so schrieb Anna Seghers, werde „den den Menschen innewohnenden Forderungen nach ethischer und ästhetischer Wahrheit in einem gerecht".15* Die unterschiedliche Beziehung zu der Verknüpfung von ethischer und ästhetischer Wahrheit in ein und demselben Roman hängt von der Funktion ab, die der Literatur im Krieg auf Grund anderer sozialhistorischer Faktoren zuerkannt wurde. So schließt Anna Seghers mit dem Hinweis auf die schwere Verantwortung ihrer Generation, die verblendete deutsche Jugend „zum Bewußtsein von Schuld und Sühne" zu bringen. Ein Jahr vor Kriegsende sah sie bereits die Konturen einer neuen Literatur, neuer ästhetischer Fragestellungen, für die es noch keine Lösungen gab, erkannte sie ein Grundproblem der ins Exil getriebenen deutschen Autoren nach 1945. Ihr wachsendes Interesse für die Tradition des russischen Gesell* Die mit einem Stern gekennzeichneten Ziffern verweisen auf Sachanmerkungen.

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schaftsromans, für Tolstoi und Dostojewski nun aus gänzlich verändertem Blickwinkel bezeichnet den markanten Punkt ihres schöpferischen Suchens, wie der durchlebte Krieg literarisch darstellbar ist, ein globaler Krieg, der nach Ausmaß und nach der Wirkung auf die Psyche des Menschen mit den vorhergegangenen Kriegen nicht vergleichbar war. Die Neuentdeckung von Krieg und Frieden vollzog sich in der Sowjetunion wiederum in anderen Formen. Die sich überstürzenden Kriegsereignisse und deren Folgen im Leben des Volkes ließen alle literarisch vorgeprägten Vorstellungen von einem modernen Krieg verblassen. Dennoch hatten Tolstois Schilderungen vom Befreiungskrieg des russischen Volkes gegen Napoleon eine starke Ausstrahlungskraft. Juri Krymow, der Verfasser des Romans Tanker „Derbent", schrieb kurz vor seinem Tod - er fiel am 20. 9. 1941 - , weder Erich Maria Remarques Im Westen nichts Neues noch Henri Barbusses Das Feuer entsprächen seinen Fronterfahrungen: „Literarisch am nächsten kommt dem, was ich sehe, Krieg und Frieden. In uns allen reifen eine ähnliche Stimmung und ähnliche Gedanken wie in Andrej Bolkonski vor der Schlacht bei Borodino." 16 Krymow war überzeugt, daß dieser Krieg, wie er ihn an der Front erlebte, den „grandiosen Stoff" zu einer Epopöe in der Art von Krieg und Frieden liefere. Und so wie er dachten seinerzeit viele. Konstantin Simonow erinnerte sich: „Bei aller Genialität hatte er (Tolstois Roman - N. T.) nie zuvor eine so unmittelbare Wirkung auf das Bewußtsein des russischen Lesers wie in den von sowohl tragischen als auch heroischen Assoziationen erfüllten Jahren des bei uns zweiten Vaterländischen Krieges." Der Roman habe eine so starke emotionale Erschütterung ausgelöst, weil er Antwort gab auf die unmittelbaren Fragen der Zeit: „ . . . was ist eigentlich Tapferkeit und was eigentlich Feigheit? Wer, welche Menschen sind die eigentlichen Triebfedern des Krieges und wer die scheinbaren? Und schließlich das Entscheidende: Können wir diejenigen niederzwingen, die bis Moskau und dann sogar bis zur Wolga vorgestoßen sind? Ja oder nein?" Obwohl es auch in Krieg und Frieden keine fertigen Rezepte für menschliche Verhaltensweisen im Krieg gebe, habe dieses Buch ganz direkt den Widerstandswillen 2»

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gefestigt, der das Land angesichts der faschistischen Invasion ergriffen hatte. 17 Die literarischen Folgen der Neuentdeckung Tolstois im zweiten Weltkrieg waren beträchtlich. Sie können jedoch nicht generell verallgemeinert werden. In der individuellen Schreibweise eines Schriftstellers brechen und kreuzen sich vielfältige national- und weltliterarische Traditionen und Tendenzen. Hemingway beeindruckte die Wahrheitstreue eines Tolstoi, mit der dieser den Menschen unmittelbar im Kampf gezeichnet hat, genau betrachtet, die psychologische Seite des Kriegshandwerks. Angeregt durch Krieg und Frieden, das gemeinsame Leid und den gemeinsamen Widerstand, die ein Volk im Verlaufe einer Invasion zusammenschweißen, und im Gegensatz dazu durch die „Macht-und-Größe"-Ideologie eines Raskolnikow, formulierte Anna Seghers erstmalig das Problem von Schuld und Sühne, ohne dessen gründliche Analyse der zweite Weltkrieg von deutschen Autoren nicht zu bewältigen sei. Krymow, stellvertretend für die Mehrzahl sowjetischer Schriftsteller, betrachtete den Roman als bisher unübertroffenes Modell epischer Gestaltung eines Befreiungskrieges, den nun auch das Sowjetvolk auf Leben und Tod zu führen gezwungen war. Der Rückgriff auf Tolstoi im zweiten Weltkrieg berechtigt nicht zu voreiligen Rückschlüssen auf die Wege und Methoden, wie der Kriegsstoff bereits damals im Roman verarbeitet wurde. Außerdem ging die Menschheit noch durch Erschütterungen hindurch, die jenseits der menschlichen Vorstellungskraft lagen und bereits im Krieg erkundete literarische Mittel erneut in Frage stellten: Babi Jar, Auschwitz, Hiroshima. Und die Nachkriegswirklichkeit brachte wiederum andere Probleme, andere Aufgaben. Der abgeschlossene Vorgang zweiter Weltkrieg konnte nicht einfach als etwas Vergangenes im Bewußtsein der Völker aufbewahrt werden. Er hatte historisches Gedächtnis geschärft und blieb ständig arbeitende Geschichte. In der Literatur wurde das Durchlebte als wichtige zeitgeschichtliche Erfahrung von Jahrzehnt zu Jahrzehnt genauer durchdacht und der Mensch im Krieg analytisch erforscht. Seit über dreißig Jahren dauert das Ringen um literarische Darbietungsweisen an, die dem grausamen wie heldenhaften Krieg der Völker gegen den deutschen Faschismus gemäß sind. 20

In der Sowjetunion ist in diesen dreißig Jahren das Gespräch über Krieg und Frieden in Zusammenhang mit dem aktuellen Literaturprozeß nicht abgeklungen. Leser, Kritiker und auch Schriftsteller leiteten von dem Roman ästhetische Vorstellungen ab, wie der Große Vaterländische Krieg literarisch zu gestalten sei. Konstantin Simonow gab hierfür eine sachliche Erklärung. Eine indirekte Widerspiegelung des geistigen Widerhalls während der Kriegsjahre sei die häufig geäußerte Forderung: „Schafft eine neuen Krieg und Frieden!" Solcherart naive Forderungen hätten einen rationellen Kern. Es bestand das Bedürfnis, „zu eigenen Lebzeiten ,über sich selber', d. h. über die Teilnehmer dieses Krieges, etwas mit der gleichen künstlerischen Wahrhaftigkeit Geschriebenes zu lesen, wie Tolstoi ,über sie', die Teilnehmer jenes Vaterländischen Krieges des Jahres 1812, geschrieben hatte" 18 . Die Versuchung lag nahe, bei Tolstoi wenn nicht nach fertigen Lösungen, so Zumindestens nach erprobten Lösungswegen zu suchen. Eine derartige Identifikation mit einigen Werken Tolstois hatte es bislang in der Sowjetunion weder in der Öffentlichkeit noch in der Kritik gegeben. In den Erbe-Diskussionen der zwanziger Jahre stand Tolstoi erstmalig im Mittelpunkt harter Meinungsverschiedenheiten. „Lernt bei Tolstoi!" und „Zurück zu Tolstoi!" oder „Wir brauchen keinen ,roten' Tolstoi!" diese und ähnliche Losungen beschreiben die extremen Auffassungen der führenden Theoretiker der RAPP und des L E F im Tolstoi-Jubiläumsjahr 1928. Verfechter unterschiedlicher ästhetischer Konzeptionen, wie die neue, sozialistische Literatur beschaffen sein soll, prallten in der Frage aufeinander, ob die russische Klassik, ein Tolstoi oder ein Ostrowski, ihre ästhetische Wirkung nach der Oktoberrevolution eingebüßt hat oder nicht. Die Ablehnung des geistigen Gehalts bedeutender Kunstwerke der Vergangenheit führte häufig zu einer formalen Trennung von Inhalt und Form. In der RAPP, der zahlenmäßig stärksten Schriftstellervereinigung, dominierte die Auffassung, von Tolstoi sollten die Schriftsteller zweierlei lernen: die Methode der psychologischen Analyse und den schonungslosen Realismus. Dieser Realismusbegriff wurde von der Äußerung Lenins abgeleitet, daß Tolstoi der Gesellschaft seiner Zeit 21

jegliche Masken heruntergerissen habe. Und obwohl die Realismusdebatte erst in den dreißiger Jahren ihren Höhepunkt erreichte, rückte schon damals die tolstoische realistische Traditionslinie ins Blickfeld. Der von Sergej Tretjakow in Der neue Lew Tolstoi (1927) vertretene extreme Standpunkt - „Wir brauchen nicht auf Tolstois zu warten, wir haben unser Epos. Unser Epos ist die Zeitung" 19 - verweist auf den Kern vieler Mißverständnisse. Angesprochen waren Autoren wie Libedinski und Fadejew, die das Tolstoische Erbe nach den ästhetischen Entdeckungen befragten, um die unerhört neuen Fragen bei der literarischen Gestaltung von Revolution und Bürgerkrieg eigenständig zu lösen und gleichzeitig an die großen Leistungen der Vergangenheit anzuknüpfen. Bei einigen, so bei Michail Scholochow (Donerzählungen, Der stille Don), war das Verarbeiten der Tolstoischen Erfahrung ein wichtiges Moment bei der Bestimmung des eigenen Weges, ohne daß er bereits mit theoretischer Schärfe artikuliert wurde. Fadejew dagegen trieb diese theoretischen Überlegungen bis zur äußersten Konsequenz. 1928 nahm er zur eigenen Arbeitsweise Stellung und sah einen wesentlichen Mangel seines Romans Die Neunzehn darin, daß ihm - wie anderen - noch keine kolossalen Verallgemeinerungen gelungen seien, derart, wie sie Tolstoi mit Pierre Besuchow und Andrej Bolkonski erreichte. Die Kritiker der RAPP, die diese Bemühungen unterstützten, boten durch schematische Vereinfachung eher Angriffsflächen, als daß sie die neuen Versuche als einen dialektischen Prozeß zu beschreiben wußten. Die rigorose Ablehnung solcher Anstrengungen, die am konsequentesten von einigen Theoretikern der Zeitschrift Nowy Lef (Ossip Brik, Viktor Schklowski, Nikolai Tschushak) artikuliert wurde, trieb den geforderten Bruch mit einigen literarischen Traditionen einem Punkt zu, der die eindeutige Beantwortung einer Grundfrage sozialistischer Literatur erforderte: Welche ästhetischen Konsequenzen ergeben sich aus der von Grund auf neuen Funktion von Literatur in der sozialistischen Gesellschaft? Vermag das Erbe beim operativen Eingreifen der Literatur in die gesellschaftliche Entwicklung Hilfestellung zu leisten? Und wenn ja - innerhalb welcher Grenzen? Inwieweit erfaßte die Abgrenzung von veralteten bürgerlichen Kunstauf22

fassungen auch das vom siegreichen Proletariat in Besitz zu nehmende fortschrittliche Erbe? Genau besehen handelte es sich bei dem knapp beschriebenen Streit nicht um Tolstoi, um das Verhältnis der neuen Literatur zum Erbe, sondern um die Bestimmung der neuen Wege. Die starre Festlegung auf nur einen Weg von jeweils unterschiedlichen ästhetischen Positionen führte zur schroffen Polarisierung der Meinungen, zum Anspruch auf Ausschließlichkeit des eigenen Standpunktes. Die Vorstellungen von den literarischen Formen und Gattungen, die neu zu entwickeln waren, gingen auseinander. Tolstois Erbe lieferte den Zündstoff für die Kontroverse. Den Praktiker Tretjakow kümmerten weniger die theoretischen Finessen bzw. Grobheiten der miteinander polemisierenden Richtungen. In dem programmatischen Artikel Der neue Lew Tolstoi ging es ihm „nur" darum, das neue Ziel zu bezeichnen. Das tolstoische Arbeitstempo tauge nicht mehr in einer Zeit, meinte er, da „die Elastizität der sozialen Bewegung" außerordentlich sein müsse und „die Direktive veränderlich je nach der Situation des Tages" 20 . Ein Arbeitsproblem beschäftigte ihn im Moment am meisten: Wie war der neuen Wirklichkeit ästhetisch beizukommen? Welche Mittel waren auszuarbeiten und in Bewegung zu setzen, damit Literatur ihrer neuen Funktion gerecht werde, an der revolutionären Veränderung der Wirklichkeit teilzuhaben? Nur wenige Zeitgenossen begriffen, daß es sich bei Tretjakow nicht um eine fixe, sich verfestigende Idee handelte, sondern um ein weit vorgreifendes ästhetisches Konzept, das er ständig an der Wirklichkeit überprüfte, korrigierte, weitertrieb.21 Mitte der dreißiger Jahre rückte Tolstois Werk wiederum ins Zentrum theoretischer Selbstverständigung. Auch dieses Mal ging es im Grunde nicht um das Erbe schlechthin. Es ging um das Schreiben von Literatur heute und morgen. Die 1932 begonnenen Diskussionen über den sozialistischen Realismus, über das Verhältnis von Schaffensmethode und Weltanschauung, entbrannten aufs neue. Der Meinungsstreit entzündete sich vor allem um eine exakte wissenschaftliche Bestimmung des literarischen Erbes, vornehmlich des kritischen Realismus. Von Engels' Äußerung über den „Sieg des Realismus" in den 23

Romanen Balzacs wurde die These abgeleitet, daß sich im 19. Jahrhundert der Realismus auch e n t g e g e n der reaktionären Weltanschauung eines Schriftstellers durchgesetzt habe. Der Begriff der Volksverbundenheit der Literatur, der seinerzeit in der literaturwissenschaftlichen und -historischen Forschung eine wesentliche Rolle spielte, wurde häufig abstrakt angewandt, losgelöst vom Ensemble der jeweiligen gesellschaftlichen Kräfte und vom Klassenkampf. Einer der konsequentesten Verfechter der Theorie, Vertreter des „großen Realismus" wie Tolstoi hätten ihre Meisterwerke „auf der Basis" einer grundfalschen Weltanschauung geschaffen, war der damals in Moskau lebende Georg Lukäcs. Seine Auffassung vom „Diktat der Wirklichkeit", dem sich der realistische Künstler unterwerfe, sowie die von ihm entwickelte Erbelinie Balzac Tolstoi im Sinne von Vorbildern realistischer Gestaltungsweisen lösten eine über Jahre geführte Debatte aus. Sie berührte den Nerv der marxistisch-leninistischen Ästhetik und bezog daher auch bald führende Schriftsteller aus der internationalen sozialistischen Literaturbewegung ein. Werner Mittenzwei hat die Brecht-Lukäcs-Debatte jener Jahre gründlich untersucht und auf ein wesentliches Moment aufmerksam gemacht: die anfechtbare Inanspruchnahme von Lenins Tolstoi-Analysen durch Lukäcs. Lenin habe entgegen der Interpretation von Lukäcs nicht einen Tolstoi gezeigt, „dessen Realismus über seine antirevolutionäre Seite siegt", schreibt Mittenzwei, „sondern wie die verschiedenen Seiten und Linien, um hier eine Ausdrucksweise Brechts zu gebrauchen, durch die Person und das Werk hindurchgehen." Er stützt sich in der Argumentation auf eine Notiz Lenins zu Tolstoi: „Aber sein Erbe enthält etwas, was nicht dahingegangen ist, was der Zukunft gehört. Dieses Erbe übernimmt das russische Proletariat, an diesem Erbe arbeitet es." Auf den Hinweis, „an diesem Erbe arbeitet es", komme es vor allem an, betont Mittenzwei. „Denn damit brachte Lenin zum Ausdruck, daß eine revolutionäre Aneignung des Erbes darin besteht, nicht nur Verpflichtungen und eine Vorbildrolle aus der Vergangenheit abzuleiten, sondern m i t d e m E r b e w i r k l i c h z u a r b e i t e n (Hervorhebung - N. T.)."22 Der in diesem Zusammenhang zitierte Einwand Brechts ge24

gen Lukäcs* Erbevorstellung wird uns noch später zu beschäftigen haben: „aus dem ERBE werden oft genug lediglich Verpflichtungen abgeleitet und zwar nicht nur qualitativer art, sondern solche zu ganz bestimmten qualitäten, d. h., die ästhetischen kriterien werden zu fixen großen ernannt.. Z'23 Zu der Zeit, da Brecht diese Eintragung in sein Arbeitsjournal vornahm, am 28. Januar 1940, hatte die Debatte in der Sowjetunion bereits ihren Höhepunkt überschritten. Die Zeitschrift Literaturny kritik, auf deren Seiten Lukäcs hauptsächlich seine Thesen verfochten hatte, stellte ihr Erscheinen ein. Ein Vergleich der streitenden Parteien kam zwar nicht zustande. Einige Meinungen hatten sich verfestigt und sind noch in den Nachkriegsjahren, obgleich modifiziert, nachweisbar. Aber die Thesen vom „Sieg des Realismus" und vom „Diktat der Wirklichkeit", die auch von sowjetischen Theoretikern verfochten worden waren, hatten sich als nicht haltbar erwiesen. Die Leninsche Auffassung vom Erbe Tolstois setzte sich durch. Die Tolstoi-Forschung nahm sich des Gesamtwerkes an und untersuchte vor allem das Verhältnis von Methode (kritischer Realismus) und Weltanschauung, weltliterarischer Leistung und geistig-philosophischer Begrenztheit dialektisch aus historischer Sicht. Hingegen war in der sowjetischen Realismusdebatte der dreißiger Jahre der Funktionsaspekt, der in den endzwanziger Jahren der theoretische Drehpunkt der zugespitzten Polemik um Tolstoi gewesen war, aus dem Blickfeld geschwunden. Er wurde nicht mehr als ein zentrales Problem der sozialistischen Literatur behandelt. Die zeitgenössische Kritik wandte sich vornehmlich den inhaltlichen Problemen eines fertigen Kunstwerks zu und schenkte den wirkungsästhetischen Faktoren im Schreibvorgang selbst kaum noch Beachtung. Die ständig neu auszubildenden literarischen Möglichkeiten zum Zwecke ihrer erhöhten Wirkung auf den Leser beschäftigten zwar die Schreibenden mehr denn je, die Theoretiker nahmen sie jedoch kaum zur Kenntnis. Bezeichnend hierfür war, daß Lukäcs in seinem Antwortbrief an Anna Seghers vom 28. 7. 1936 den von ihr geäußerten wichtigen Gedanken nicht aufgriff, von den antifaschistischen Schriftstellern werde beim Schreiben noch „die Rücktransportierung des Werks auf die Realität" 24 gefordert. Diese Äußerung ist in unserem Zusammenhang um so bemer25

kenswerter, da Anna Seghers, ausgehend von einer Tagebuchnotiz Tolstois über den künstlerischen Schaffensprozeß, hier erstmalig von den verschiedenen Stufen dieses Prozesses spricht. Diese Überlegungen führte sie Jahre später in der Tolstoi-Studie (1953) weiter aus. Ein Aspekt der theoretischen Anstrengungen der dreißiger Jahre hatte jedoch nachhaltenden Einfluß auf die Theorie und Praxis: die e p i s c h e Leistung der russischen Klassik, insbesondere Tolstois. Es setzte sich die Meinung durch, daß der Roman des sozialistischen Realismus zur großen Form, zur Verknüpfung individueller Schicksale mit einer historisch bedeutsamen gesellschaftlichen Bewegung tendiere, daß er die epische Tradition Tolstois auf der Grundlage der marxistischen Weltanschauung fortführe. Bekräftigt wurde diese Auffassung durch die Ausbildung der neuen Romanepopöe, das Entstehen von Gorkis Klirn Samgirt, Scholochows Der stille Don, Alexej Tolstois Der Leidensweg und auch Fadejews Der letzte IJdehe. Die Überzeugung, daß sich der sowjetische Roman auch in Zukunft in dieser Richtung weiterentwickeln werde, hatte folglich eine reale Grundlage. Nach dem Überfall des faschistischen Deutschlands auf die Sowjetunion kam es zu der beschriebenen Neuentdeckung Tolstois. Sie brachte seine „Vorbildrolle", vor allem Krieg und Frieden, wieder ins Gespräch. Nie zuvor waren seine künstlerischen Errungenschaften ebenso wie die von ihm behandelten moralischen Probleme in einer derartigen Breite und Tiefe in das Bewußtsein der Leser und Schriftsteller eingedrungen. Simonow erinnerte an die „nicht nur ästhetische, sondern auch ethischc Erschütterung" zu jener Zeit. Von „den den Menschen innewohnenden Forderungen nach ethischer und ästhetischer Wahrheit" hatte auch Anna Seghers, wie wir sahen, bereits im Krieg gesprochen. Ein wesentliches Moment darf jedoch dabei nicht außer acht gelassen werden. Die Kriegsereignisse und die Kriegserfahrungen der sowjetischen Menschen drängten alle theoretischen Erwägungen oder gar eine kritische Verarbeitung dessen zurück, was in Tolstois Werk nicht mehr rezipierbar und was geblieben war. Die Schicksale der Menschen im Krieg von 1812 - ihr Patriotismus, ihre wachsende Verteidigungskraft, der Partisanenkampf gegen die napoleonische In26

vasion - ebenso wie ihre innersten Gefühle unmittelbar im Kampf und auch angesichts der großen historischen Prüfung des ganzen Volkes wurden tief nachempfunden. Das nationalgeschichtliche Moment, das allgemein im Bewußtsein des Sowjetvolkes im Krieg zunehmend an Bedeutung gewann, bestimmte die Rezeption. Dennoch war die unmittelbare, nahezu spontane Begeisterung für den Roman Tolstois durchaus nicht unkritisch. Auf Grund des von den eigenen Kriegserfahrungen geprägten Leseerlebnisscs war das Interesse für die geschichtsphilosophischen Auffassungen Tolstois weitaus geringer. Diese standen im Widerspruch zum Geschichtsbild und zu den eigenen historischen Erfahrungen des Sowjetvolkes seit Revolution und Bürgerkrieg. Vom wirkungsästhetischen Aspekt handelt es sich geradezu um einen Modellfall, wie in einer veränderten sozialhistorischen Situation ein Kunstwerk der Vergangenheit zu einem unmittelbaren Beispiel der Weltempfindung und Haltung eines Volkes werden kann, ohne daß die Rezeption die geistig-politische Position des Autors in a l l e n geschichtlichen Fragen automatisch einschloß, da sie im eigenen revolutionären Befreiungskrieg nicht assoziierbar war. Pjotr Palijewski führte die Untersuchung von Tolstois Erzählung Hadshi Murat zu der Schlußfolgerung, die literaturwissenschaftliche Forschung müsse bei der Interpretation klassischer Werke bemüht sein, sie als „lebendige" zu bewahren: „Das setzt voraus, daß die Analyse verschiedener Kategorien von Zeit zu Zeit zum Ganzen, zum Kunstwerk zurückkehrt. Denn nur über das Werk und nicht über Kategorien kann die Kunst auf den Menschen in der Weise wirken, wie nur sie und nichts anderes zu wirken vermag." 25 Das ist jedoch nicht ausschließlich ein Problem der Literaturwissenschaft, sondern vielleicht noch ausgeprägter ein Problem der literarischen Praxis, des Traditionsverständnisses der Autoren. Die ästhetische Wirkung von Krieg und Frieden konfrontierte ganz in diesem Sinne die sowjetischen Schriftsteller mit einer Fülle komplizierter Fragen, als sie Romane über den Großen Vaterländischen Krieg zu schreiben begannen. Im Krieg war das noch weniger deutlich als im Nachkrieg. Am Beispiel der Versuche Konstantin Simonows und Michail Scholochows werden die Wirkungen und neuen Lösungen untersucht. 27

Die Wertungen der Tolstoischen Leistung, die Ernest Hemingway und Anna Seghers im Kriege gaben, lassen sich wesentlich schwieriger als ein direkter Bezug des eigenen ästhetischen Konzepts auf das Tolstois bestimmen. Dennoch waren die Impulse weitaus stärker, als gewöhnlich angenommen wird. Sie gerieten allerdings in ein kompliziertes Spannungsverhältnis zwischen der bisherigen künstlerischen Erfahrung, den nationalliterarischen Traditionen und den Kriegserlebnissen des eigenen Volkes, die sich von dem des Sowjetvolkes grundlegend unterschieden. Trotz gravierender Divergenzen und eigenständiger Wege gibt die Analyse von Impuls, Kunstleistung und Wirkungsabsicht im Werk aller vier Autoren Aufschluß über das Allgemeine wie das Besondere in der literarischen Praxis bedeutender Schriftsteller, die Mitte des 20. Jahrhunderts das Problem von Krieg und Frieden im Schicksal der Völker gestalteten.

2 Simonows Romane rückten mitten ins Polemikfeld der Erbedebatte um die Nachfolge Tolstois. Diese nun schon über drei Jahrzehnte geführten Diskussionen zeigen Entwicklungsetappen der sowjetischen Ästhetik an und erhellen ganz entscheidende Vorgänge in der Tiefe des Literaturprozesses. Dem ersten Romanversuch Tage und Nächte (1943/1944) ging eine fast zweijährige Arbeit als Frontberichterstatter voraus. Die unter dem Druck der Kriegsereignisse geschriebenen Verse und publizistischen Artikel hatten dem Autor von Kriegsbeginn an die Lösung von Fragen abverlangt, angesichts derer die Fronterfahrungen am Chalchin-Gol im Sommer 1939 versagten. Der derzeitige Blickwinkel auf den modernen Krieg, den Einsatz von Mensch und Technik in einer militärischen Auseinandersetzung mit einem gut ausgerüsteten und erbittert kämpfenden Feind, den Japanern, erwies sich als unzureichend unter der Last der Tragik und der Härte des Krieges, der sich nun auf sowjetischem Boden abspielte. Aber wie sollte er, der Schriftsteller, über diesen Krieg schreiben, der hart und grausam, blutig und schrecklich war? 28

Mußte der Schreibende außer dem Schrecklichen, dem Kriegsalltag, den Toten nicht gerade auch jene - ebenfalls realen Seiten zeigen, die vom Heldentum und von der Standhaftigkeit der Soldaten kündeten? „Über den Krieg schreiben ist schwer", notierte Simonow 1942. „Schreibt man über ihn wie über etwas Paradehaftes, Triumphales und Leichtes, so wäre das eine Lüge. Schreibt man nur über die schweren Tage und Nächte, die morastigen Schützengräben und eisigen Schneehalden, nur über Tod und Blut, so hieße das auch lügen. Das alles gibt es zwar, aber wenn man nur darüber schreibt, vergißt man die Innenwelt des Menschen, der in diesem Krieg kämpft, das tapfere Herz des Soldaten, der in den Minuten des Schlachtenrausches Blut, Tod, Kälte vergißt und nur an das eine glaubt, an den Sieg, der vor ihm liegt."26 Ein Vergleich mit der oft zitierten Stelle aus Krieg und Frieden drängt sich auf, wo Tolstoi Hauptmann Tuschin im Kampf beschreibt - jene „phantastische Welt", „die ihm in diesem Augenblick Genuß gewährte"27, als ihm im Moment höchster Gefahr und unmittelbaren Handelnmüssens „immer fröhlicher ums Herz" wurde und er sich in einem Zustand befand, „der dem eines Fiebernden oder eines Betrunkenen glich"28. Drei Jahrzehnte später, 1972, hat jedoch Simonow eine strengere, realere Auffassung vom inneren Zustand des kämpfenden Soldaten. In Zwanzig Tage ohne Krieg bezeichnet Lopatin Worte wie „Rausch", „Genuß", „Begeisterung" als phrasenhaft, unpassend für den Krieg, den sein Land durchlebt.29 Diese Äußerung ist nicht nur als kritische Überprüfung eigener Positionen des Autors zu werten. Sie ist das Ergebnis neuer ästhetischer Erfahrungen nach Abschluß der Trillogie Die Lebenden und die Toten sowie Ergebnis der Kollektiverfahrung der sowjetischen Schriftsteller bis auf den heutigen Tag. Eigenes, Selbstentdecktes bildet sich im Schaffensprozeß heraus, sobald neue Wirklichkeitserfahrungen und ein dementsprechend verändertes Geschichtsbewußtsein die Beziehung des Schriftstellers zur bisherigen Leistung wie zum Ererbten verunsichern und diese einer kritischen, mitunter radikalen Überprüfung unterziehen. Dieser Vorgang ist in der Sowjetliteratur des ersten Kriegsjahres noch zu wenig beachtet worden. Alexej 29

Surkow analysierte im Juli 1943 die Faktoren, die 1941 zu einem „Umbruch" beim Schreiben über den Krieg nach den ersten Kriegsmonaten geführt hatten. Erst die Absage an Vorstellungen, die vor dem Krieg als absolut gegolten hatten, und das Bewußtsein, wie in d i e s e m Krieg auf eigenem Boden gekämpft werden müsse, hätten den Schriftstellern „eine echte Stimme im Gespräch über diesen Krieg" verliehen. So mußte vor allem die Vorstellung vom Charakter des Feindes und vom Wesen des aufgezwungenen Krieges grundlegend korrigiert werden. „Und diese Korrektur mußten wir nicht nur e r f a s s e n , sondern auch e r f ü h l e n." 30 Das war zugleich die Absage an einige literarische Standards, mit denen die harte Kriegswirklichkeit nicht zu beschreiben war. Zu dieser Erkenntnis kamen die einen früher, die anderen später. Das Abstoßen vom Automatismus gewohnten literarischen Erzählens über den Krieg war viel komplizierter und langwieriger, als allgemein angenommen wird. Der sowjetische Kritiker L. Lasarew äußerte in einem Gespräch mit dem Schriftsteller Wassili Subbotin einen wichtigen Gedanken: Es sei gar nicht so einfach, über das im Krieg Erlebte zu sprechen und zu schreiben. Vorgeprägte, tradierte Schemata seien zu durchbrechen. Als Beweis führte er an, wie Tolstoi Nikolai Rostow seine Feuertaufe erleben und wie anders er ihn dann darüber sprechen läßt. 3 1 Zu Kriegsbeginn wurden die sowjetischen Schriftsteller hart mit dieser Tatsache konfrontiert, die in jeder neuen Phase der gesellschaftlichen Entwicklung immer wieder neue Lösungen verlangt. So erklärt sich die im Krieg geführte direkte wie indirekte Polemik gegen eine „falsche Romantisierung" beispielsweise im Werk Scholochows und Simonows. Und darauf ist auch eine der Ursachen zurückzuführen, warum sich bei vielen Autoren die Tendenz zur dokumentarischen Genauigkeit des Berichts durchsetzte. Sie ist bis in alle ästhetischen Strukturen zu verfolgen: die Faktur eines literarischen Werkes, die Stilmittel, ob nun mit publizistischem Zuschnitt (Simonow, Scholochow, Bek) oder romantisch-lyrischer Färbung (Fadejew). Wesentliche Impulse gingen von der neuartigen Wirkung einiger Werke Tolstois aus, die allerdings nur als ein vielschichtiger Prozeß zu begreifen ist, in Abhängigkeit von der künstlerischen Individualität des jeweiligen Autors. 30

Die Gedichte An Alexej Surkow (3. Februar 1942) und Wenn dir dein Haus teuer ist (18. Juli 1942) wie auch die Frontberichte, unter anderem ]uni-Dezember (31. Dezember 1941) und Ein Tag ohne besondere Vorfälle (16. Juni 1942), geben Aufschluß über die Stellung Simonows in der offenen oder auch verschlüsselten Polemik in den ersten Kriegsjahren, wie über den Krieg zu schreiben sei. Tage und Nächte waren die logische Konsequenz dieser Haltung - Ergebnis neuer künstlerischer Erfahrungen, innerhalb einer literarischen Richtung zu schreiben und sich gleichzeitig von dieser Richtung abzustoßen. Der Anfang seines Weges hatte zunächst im Zeichen der sogenannten Verteidigungsliteratur gestanden, die sich ab Mitte der dreißiger Jahre in zwei Richtungen entwickelte, der historisch-monumentalen und der dokumentarischen. Der authentische Bericht vom spanischen Bürgerkrieg - Michail Kolzows Spanisches Tagebuch (1938), deutsch unter dem Titel Die rote Schlacht erschienen, Ilja Ehrenburgs Reportagen Die harte spanische Schule (1938) - und von der drohenden Kriegsgefahr im Westen geriet bereits damals in Widerspruch zu literarischen Erscheinungen, die den möglicherweise nicht zu verhindernden Krieg verharmlosten, ihn nur von seiner paradehaften, leichten Seite betrachteten. Simonow war anfangs stärker der historischen Richtung verpflichtet. Er schrieb die Poeme Die Schlacht auf dem Eisfeld (1938) und Suworow (1939). Die erlebten Kämpfe am Chalchin-Gol stülpten bereits einige seiner Vorstellungen vom Krieg um. Erstmalig kritisierte er offen einige romantisch gefärbte, vereinfachende Kriegsdarstellungen und versuchte, in seinen Versen und Frontberichten ein reales Bild zu zeichnen. Aber zu einer grundlegenden Überprüfung der eigenen Position kam es erst nach den ersten Monaten des Großen Vaterländischen Krieges. Simonows Roman Tage und Nächte trägt ganz die Spuren eines solchen Übergangs - Bruch, Weiterführen, Neuansatz. Der Kritiker Alexander Makarow hat 1944 in einer Rezension von Tage und Nächte kritisch vermerkt, Simonow sei einseitig bei Tolstoi in die Lehre gegangen - bei dem Autor der Sewastopoler Erzählungen anstatt bei dem Autor von Krieg und Frieden. Diese Wertung beeinflußte dann die Einschätzung 31

nicht nur dieses Romans, sondern der gesamten Prosa Simonows bis auf den heutigen Tag. Wie verhält es sich nun aber tatsächlich mit Simonows Verhältnis zum Erbe Tolstois? L. Lasarew hat in seiner Simonow-Monographie nachgewiesen, von Anfang an hätten dem P r o s a i k e r Simonow die Sewastopoler Erzählungen als „Orientierungspunkt" gedient. So selbstverständlich das heute auch erscheine, denn „in der Literatur über den Großen Vaterländischen Krieg hatten die Traditionen Tolstois allgemein den meisten Einfluß", so dürfe nicht die Kompliziertheit übersehen werden, zu Kriegsbeginn in der Tolstoischen Art und Weise zu schreiben: „Dem Leser den Glauben an den Sieg zu bewahren, war damals das Hauptziel jedes Schriftstellers. Aber in Anbetracht der sich bei uns entwickelnden ungünstigen militärischen Umstände - in jenen Jahren wichen wir zurück - war das in der Nachfolge der Tolstoischen Traditionen äußerst schwer."32 Lasarew führt als Beispiel die bekannte Schilderung eines Sewastopoler Lazaretts bei Tolstoi an. Übereinstimmungen findet er dort, wo Simonow das Wesen des Kriegsalltags zu entschlüsseln sucht, wo Simonow bemüht ist, das Heldische im Alltäglichen zu erkennen und darzustellen, indem er ohne Pathos der bedeutsamen Einzelheit auf der Spur ist. Dennoch erhebt sich die Frage, ob diese Tendenz, den Krieg ganz real, ohne romantische Verbrämung, zu gestalten, ausschließlich in der Traditionsfolge der Sewastopoler Erzählungen betrachtet werden kann. Aufschlußreich ist Simonows Beziehung zu seinen Zeitgenossen: Alexej Surkow, Nikolai Tichonow, Michail Scholochow. Im Krieg gewann er ein neues Verhältnis zu der Leistung eines jeden von ihnen. Bisher beeindruckte ihn vorwiegend das Pathos beispielweise von Tichonows Ballade von den Nägeln (1919-1922) - Einflüsse sind in Simonows Vorkriegsballaden nachweisbar. Nun findet er in Tichonows Poem Kirow ist mit uns (1941) etwas Wichtiges für die eigene Schreibweise heraus: Die Last der Kriegsumstände, vergegenständlicht durch so erschütternde Tatsachen wie die Wassersuppe der vom Hungertod bedrohten Leningrader und ihre „wie Gold gewogene" kärgliche Brotration, verbindet sich mit der legendären 32

Gestalt Kirows, der die Gefühle und Gedanken det kämpfenden Soldaten verkörpert, deren Bereitschaft, die Errungenschaften des Roten Oktober rijcht preiszugeben. Die sowjetische Bürgerkriegsliteratur war für den jungen Simonow etwas Gegenwärtiges. In ihren Traditionen und gleichermaßen auch noch als ihr Zeitgenosse hatte er sich als Lyriker entwickelt. Besonderes Interesse bekundet er für die Biographie Surkows: Bürgerkrieg, finnischer Krieg, Großer Vaterländischer Krieg. Die Fronterfahrung von früher Jugend an habe Surkow mit besonderer Schärfe „die ganze Kompliziertheit und Härte des m o d e r n e n Krieges (Hervorhebung N. T.)" 33 spüren lassen. Die innere Bindung an den Menschen und Dichter Surkow war in diesen Jahren besonders stark. Dem nur sechzehn Jahre Älteren verdankte Simonow offensichtlich auch das bereits erwähnte kritische Überprüfen der eigenen Position, das Bewußtwerden der notwendigen „Korrektur". Surkow hat im Krieg vorübergehend bei Simonow gewohnt. So kam es zu einem engen Gedankenaustausch und der gleichen Überzeugung, daß der Krieg als etwas Schweres, Grausames dargestellt werden müsse, das den Menschen die höchste Anspannung ihrer Kräfte abverlangt. Nicht zufällig trägt eines der besten Gedichte Simonows den Titel An Alexe) Surkow (1941). Er betrachtet es heute als sein bestes Gedicht überhaupt. Das erschütternde Pathos dieser Verse, die bitteren Erinnerungen an die Tage des Rückzugs übertrugen sich auch auf seine journalistischen Arbeiten um die Jahreswende 1941/1942. So schreibt er in Juni-Dezember von jenen schweren Tagen auf der Minsker Chaussee: „Ich erinnere mich eines Dorfes, in dem man uns fragte: ,Ihr laßt doch die Deutschen nicht hierher? Wie?' Und man blickte uns in die Augen. Man fragte: ,Sagt, vielleicht sollten wir schon von hier fortgehen? Wie?' Und wieder blickte man uns in die Augen. Und sterben schien leichter, als auf diese Frage antworten."34 Simonow fügte hinzu: Bisher habe er nicht daran zu rühren vermocht, weil es zu schwer war. Nun aber, da der Feind vor Moskau geschlagen und teilweise nach Westen zurückgedrängt wurde, könne er diese Eindrücke und Bilder ins Gedächtnis zurückrufen. Psychische Härte, Tragik, Rückschläge bestimmen immer deutlicher Simonows Stil. Allerdings fehlt noch der Versuch, 3

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den Ursachen dieser Erscheinungen auf den Grund zu gehen. Jahre später durchdachte er rückblickend die derzeitige komplizierte Dialektik von historischer Begrenztheit (nicht alles konnte zu einem gegebenen Zeitpunkt im Krieg ausgesprochen werden) und historischer Notwendigkeit (was in der gegebenen Kriegssituation unbedingt gesagt werden mußte). Dem Wesentlichen war er aber bereits damals auf der Spur: die Wahrheit über den Krieg schreiben und dabei stets die unmittelbare Wirkung des geschriebenen Wortes vor Augen haben. Der nach den ersten Kriegsmonaten neu begriffene historische Auftrag an die Literatur schloß das ein, was Surkow als Erklärung für die notwendige Korrektur des Autorenstandpunktes 1943 näher erläuterte: „Und so begann für mich persönlich mit jener Umwertung erst das eigentliche Thema des jetzigen Krieges, das Grundthema, das wohl bis zu dem Tag, da der letzte Schuß verhallt, das bestimmende und unveränderliche bleiben wird: das Thema des Hasses."35 Simonows Gedicht Wenn dir dein Haus teuer ist, in der Erstfassung vom 18. Juli 1942 unter dem Titel Töte ihn erschienen, entstand ganz im Surkowschen Sinn unter dem unerhörten Druck der Zeitereignisse. In dem drei Jahrzehnte später geschriebenen Autorkommentar zu diesem Gedicht betont Simonow, es habe keine andere Wahl, mehr gegeben: Entweder du tötest den Feind, oder er tötet dich. Wenige Wochen zuvor, am 22. Juni 1942, hatte die Prawda Scholochows Ezählung Schule des Hasses veröffentlicht; unter dem Titel standen die Worte Stalins aus dem Befehl zum 1. Mai: „Man kann den Feind nicht besiegen, wenn man nicht gelernt hat, ihn mit aller Kraft aus tiefster Seele zu hassen." Dieser Kontext ist wichtig zum Verständnis dafür, „wie die verschiedenen Seiten und Linien" durch die Person, Simonows und sein Werk hindurchgehen. Die Beziehung Simonow-Scholochow ist bisher überhaupt noch nicht untersucht worden. Das hat offensichtlich seine Ursache in dem persönlich belasteten Verhältnis beider Autoren zueinander. Und trotz der Tatsache, daß beide sehr verschiedene künstlerische Naturen sind, darf die Wirkung des nur zehn Jahre älteren Scholochow auf Simonow, der sich erst im Krieg zum Prosaiker entwickelte, nicht unterschätzt werden. In Simonows Kriegstagebuch vom August 1941 findet sich 34

eine kurze Notiz über eine Autofahrt von Moskau zur Krim: „Ich hatte eine gewichtige Ausgabe des Stillen Don mitgenommen - das Ganze in einem Buch. Und wenn ich nicht am Steuer saß, las ich. Ich las und las es aus bis zum Ende unserer Landreise zwischen Simferopol und Sewastopol."36 Das Leseerlebnis schilderte er fast zwei Jahrzehnte später ausführlich: „In jenem schrecklichen Jahr haben mir zwei Bücher am meisten gegeben. Das erste war Krieg und Frieden. Wie so viele andere suchte und fand ich darin historische Analogien . . . Das zweite Buch war für mich Der stille Don. Es enthielt keine direkten Analogien. Die Verknüpfung der Tragik der gegebenen Situationen mit der Kraft der modellierten Charaktere, vornehmlich aus dem Volk, machte dieses tragische Buch zu einem Buch über die Kraft des Volkes, seine zähe Ausdauer, seine Furchtlosigkeit angesichts von Unheil und Tod. Als ein solches Buch ist Der stille Don bis heute in meinem Gedächtnis geblieben . . . Mich erschütterten die Scholochowsche Kraft und die Wahrheit menschlicher Leidenschaften, die Tiefe der Charaktere, die Schärfe der Auseinandersetzungen."37 Simonow bezeichnete den Stillen Don sogar als sein „Lieblingsbuch" aus der Sowjetliteratur. Auch den zweiten Band, den manche wegen der vielen allgemeinen Beschreibungen von Kampfhandlungen und vom Kriegsverlauf nicht sehr schätzen, habe er mit großem Interesse gelesen. Simonow fragte sich, warum Der stille Don ihn, der aus der Intelligenz stammte, stärker beeindruckt hatte als Alexej Tolstois Trilogie Der Leidensweg. Und er kam zu der Schlußfolgerung, auf Grund seines Talents und seiner Erfahrungen habe Scholochow Revolution und Bürgerkrieg umfassender betrachtet, begriffen und beschrieben. Er bewunderte vor allem Scholochows Fähigkeit, die Menschen aus dem Volk in den Mittelpunkt der Darstellung zu rücken: „Und es gab für ihn keine psychologischen Probleme, die er nicht vermittels der Analyse des Innenraums dieses sogenannten einfachen Menschen zu lösen versuchte, dessen ganze Kompliziertheit er so entschieden und kraftvoll auf den Seiten seiner Bücher bewiesen hat." 38 Er habe zwar an literarische Vorbilder anknüpfen können, schreibt Simonow, aber so überzeugend und folgenichtig sei ihm das in der Sowjetliteratur als erstem 3*

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gelungen. In dieses Urteil bezieht Simonow auch Sie kämpften für die Heimat und Ein Menscbenschicksal ein ebenso wie Neuland unterm Pflug. Simonows künstlerische Entwicklung im Krieg war folglich auch das Ergebnis einer sehr engen, dabei durchaus nicht reibungslosen Beziehung zu den vorangegangenen bedeutenden Leistungen seiner sowjetischen Zeitgenossen, ohne daß er einem von ihnen streng folgte. Nicht nur Lebenserfahrung und künstlerische Veranlagung unterschieden ihn von seinen Vorbildern. Er sah sich vor völlig neue Fragen gestellt, als er sein erstes größeres Prosawerk schrieb. Scholochow erging es übrigens nicht anders, als er fast zum gleichen Zeitpunkt mit der Arbeit an Sie kämpften für die Heimat begann. Er verfügte jedoch bereits über reiche Erfahrungen, lebensvolle Charaktere aus dem Volk zu schaffen. Diese Erfahrung mußte sich Simonow erst noch hart erarbeiten. An einem Punkt kreuzten sich jedoch ihre literarischen Erkundungen. Bestrebt, den Krieg, den sie gerade durchlebten, real - in seiner ganzen Härte und Größe - zu gestalten, lasen beide Tolstoi unter neuen Aspekten. Während der Kämpfe um Moskau hatte Scholochow, als er an die vorderste Kampflinie fuhr, den dritten Band von Krieg und Frieden mit der Schlachtbeschreibung von Borodino bei sich. Erinnern wir uns: Simonow las auf der Fahrt nach dem Süden den Stillen Don und war von dem Roman nicht weniger beeindruckt als von Krieg und Frieden. (Vielleicht schärfte der unmittelbar erlebte Krieg gerade im Hinblick auf die beschriebene Neuentdeckung Tolstois seinen Blick für das Scholochow Eigene, weltliterarisch Neue, das weiterzuführen war?) Und dennoch war er als Prosaiker der Tolstoischen Tradition stärker verpflichtet als der Scholochowschen Erzählweise, ungeachtet einiger Übereinstimmungen in der Richtung des Weges. Das unterschiedliche Abstoßen vom Magnetfeld Tolstois wird am deutlichsten im Vergleich von Sie kämpften für die Heimat und Waffengefäbrten, wie noch dargelegt wird. Lasarew beobachtete eine Besonderheit der Schreibweise, die Simonow im Krieg zunächst rein intuitiv und schließlich immer bewußter ausbildete: die Vorliebe für Menschen, deren Vorkriegsbiographie in der Regel nichts Außergewöhnliches auf-

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weist. Lasarew erklärte sie wie folgt: „ . . . Simonow möchte die sozialen Quellen der Charaktere erfassen, ihre Verbindung mit der Zeit, mit der gesellschaftlichen Atmosphäre im Land, denn gerade die Biographien gewöhnlicher Menschen geben sehr genau die Tiefe der durch die Revolution hervorgerufenen Veränderungen an." 39 In Tage und Nächte ist diese Besonderheit Grundprinzip des Figurenaufbaus. Es war offenbar die künstlerische Absicht des Autors, das Heldenhafte in „gewöhnlichen" Menschen zu entdecken, so wie es ihm an der Front in den Gesprächen mit Soldaten ständig begegnet war. Die charakterisierte Eigenart beweist, wie stark Simonow in den Erzähltraditionen der Sowjetliteratur von Gorki bis Scholochow verwurzelt war, als er den Roman Tage und Nächte schrieb, der jedoch meistens n u r in der Tradition der Sewastopoler Erzählungen betrachtet wird. Simonow bekennt sich bis heute zum Erbe der sowjetischen Bürgerkriegsliteratur. Pas waren die ersten Bücher, die seine Generation über den Krieg gelesen hatte. Er nennt Fadejews Die Neunzehn und Der letzte Udehe sowie Furmanows Tschapajew und Aufruhr. Mit Furmanow verbindet ihn vor allem die Tendenz zur dokumentarischen Genauigkeit. Ferner: Als Frontberichterstatter der Armeezeitung Krasnaja swesda war Simonow gewohnt, sehr schnell auf die Tagesereignisse zu reagieren und sich an einen Leserkreis zu wenden, der sich vorwiegend aus Soldaten und Offizieren zusammensetzte. Er wußte, daß er für Menschen schrieb, die die Tragödie der Rückzüge, die harten Kämpfe, Entbehrungen, Not und Tod durchlitten hatten. Und er wußte auch, daß diesen Menschen noch ein langwieriger, nicht Weniger harter und opferreicher Kampf bis zum Endsieg bevorstand. Als Schriftsteller bewegte ihn daher nicht nur die Frage: W i e sagt er diesen Menschen die Wahrheit über den Krieg? sondern gleichzeitig: W a s war in der gegebenen Situation tatsächlich die Wahrheit über den Krieg? 1948 erinnerte sich Simonow: Als im August 1942 Stalingrad brannte und Hitlers Soldaten bis an die Wolga vordrangen, boten sich dem Auge erschütternde Bilder von der Evakuierung der Bevölkerung. Aber hatte damals der Schriftsteller das Recht, nur all diese „Qualen, Leiden und Schrecken des 37

Krieges" zu zeigen? Mußte er nicht, wenn er die Wahrheit schreiben wollte, „in dem Augenblick der Todesgefahr für sein Land und sein Volk den Kampf und das Pathos des Kampfes zum Hauptgegenstand der Darstellung" 40 wählen? Als er an Tage und Nächte arbeitete, war das für ihn keine Alternativfrage mehr. Im Gegensatz zu den ersten Frontberichten schrieb er bereits mit dem Wissen um den siegreichen Ausgang der Schlacht. Stoffwahl und Erzählpathos, Romananfang und Romanende entsprechen sowohl der Schwere der Kriegsumstände als auch der veränderten Psyche der Kämpfer angesichts der Tatsache, daß im Zuge der einsetzenden Gegenoffensive der Feind in Stalingrad bezwungen wird. Die ersten Seiten geben ein reales Bild von der Lage: der Flüchtlingsstrom jenseits der Wolga, die Details von der Tag und Nacht brennenden Stadt - Brandgeruch, Trümmer, Ruß und Asche in den Straßen, nicht verlöschender Feuerschein. Die Worte des Obersten Bobrow auf Saburows Frage, wie es In Stalingrad stehe, lassen keinen Zweifel an der äußerst komplizierten, kritischen Situation: .„Schwer", sagte der Oberst. .Schwer . . . ' und wiederholte noch einmal, kaum hörbar: .Schwer', als sei diesem alles erschöpfenden Wort nichts hinzuzufügen." Und anschließend der Autorkommentar: „Und wenn das erste .Schwer' nichts weiter als eben schwer bedeutete, und das zweite .Schwer' - sehr schwer, besagte das dritte, kaum hörbar geflüsterte .Schwer', daß es furchtbar schwer, daß es kaum noch zu ertragen sei."41 Eine andere Episode konfrontiert den Leser direkt mit der Tatsache vereinfachender Kriegsdarstellungen. Saburows Blick gleitet über die Gegenstände einer in Hast verlassenen Stalingrader Wohnung - Wachstuchdecke, Strickzeug, technische Zeitschriften, Schulbücher, abrupt abgebrochener Schulaufsatz und bleibt haften auf den Zeichnungen eines kleinen Kindes, „schiefe Häuser, brennende Nazi-Panzer, mit -schwarzen Rauchfahnen abstürzende Nazi-Flugzeuge, und über allem ein kleiner, mit Rotstift gezeichneter Sowjetjäger. Das war die althergebrachte kindliche Vorstellung vom Krieg: geschossen haben nur wir, und nur die Faschisten explodierten. So bitter es auch war, sich der Fehler der Vergangenheit zu erinnern, unwillkürlich dachte Saburow daran, daß vor dem Krieg nur allzu 38

viele Erwachsene von dieser Vorstellung nicht weit entfernt gewesen waren." 42 Das Motiv der naiven Kinderzeichnung greift Simonow später in der Trilogie wieder auf, ohne sich allerdings eines künstlerischen Bildes zu bedienen. Auf verschiedenen Ebenen wird über Charakter und Funktion der Kriegsberichterstattung debattiert. Und in der 1972 veröffentlichten Erzählung Zwanzig Tage ohne Krieg setzt er sich erstmalig direkt mit der Haltung des Schriftstellers im Krieg auseinander. Der Beitrag des einzelnen in diesem Ringen auf Leben und Tod, seine Wahrhaftigkeit und sein Mut werden zum Gradmesser seines Menschseins. Trotz der Eigenart von Kunst und Literatur räumt der Autor den Künstlern keine Sonderstellung ein. Die schroffe Gegenüberstellung zweier bekannter Autoren bringt diese Überzeugung deutlich zum Ausdruck - von Wjatscheslaw, einer verschlüsselten real existierenden Figur, und A. P. (Andrej Platonow), den die Zeitungsredakteure unter sich „Tuschin" nannten. Der Zusammenhang der zitierten Romanstelle aus Tage und Nächte mit einem Disput auf der Parteiversammlung der Moskauer Schriftsteller am 22. Mai 1942 ist offensichtlich. Surkow hatte die „in buntem Bonbonpapier" dargebotenen desorientierenden Vorkriegsschilderungen künftiger militärischer Prüfungen scharf verurteilt und auf die psychologischen Schwierigkeiten verwiesen, mit denen die Menschen im Sommer 1941 fertig werden mußten, weil die von Literatur, Lied und Film geprägten Vorstellungen mit der rauhen Kriegswirklichkeit nicht übereinstimmten. In einem Kommentar zu dieser Rede äußerte Surkow 1964: Als er später an der Front erlebte, welch großen Widerhall Twardowskis Poem Wassili Tjorkin, Grossmans Roman Das Volk ist unsterblich, Kornejtschuks Theaterstück Front und Simonows Tage und Nächte bei den Soldaten hatten, überzeugte er sich ein weiteres Mal, „wirklichen Erfolg, wirkliche Übereinstimmung mit dem Volk erreicht die Kunst nur, wenn sie die Lebenswahrheit trifft und nicht bezuckerte, vereinfachte .Bilderbogen' schafft".43 Simonows Ablehnung der „althergebrachten kindlichen Vorstellung vom Krieg", polemisch gegen eine „rhetorische romantisierte Darstellungsweise"44 gerichtet, erklärt sein wachsendes 39

Interesse für Tolstois Schreibweise und zugleich die spezifische Erzählhaltung von Tage und Nächte. Die „Fehler der Vergangenheit", über die Saburow verschiedentlich nachdenkt, werden in einigen Szenen variiert. Der Hauptkonflikt im Figurenaufbau wird zwischen Saburow und Babtschenko ausgetragen, allerdings nur in den Ansätzen. Diese werden erst später in der Trilogie tiefer analysiert und ausgebaut. Hingegen zieht «ich ein anderer Gedanke durch das ganze Buch. Saburow wirft im achten Kapitel Kommissar Wanin, bisher Sekretär des Stadtkomitees des Komsomol, vor, statt mit Grünanlagen hätten sich die Komsomolzen vor dem Krieg mit anderen Dingen befassen und früher an eine militärische Ausbildung denken sollen. Er bricht dann den Disput ganz unvermittelt ab: „Aber wozu diese müßigen Erinnerungen? Jetzt sind wir Soldaten und haben - unabhängig von den früheren Irrtümern, den eigenen wie den fremden - diese drei Häuser zu halten . . . " 45 Im einundzwanzigsten Kapitel gesteht schließlich Wanin ein, wahrscheinlich habe Saburow recht: Vielleicht hätten wir früher zum Gewehr greifen und schießen lernen müssen. Aber diese Gedanken seien ihm, Wanin, erst jetzt im Krieg gekommen. Der plötzliche Abbruch des Gesprächs seitens Saburows erhellt Simonows Grundanliegen. Der Akzent liegt auf der harten Arbeit, die der Soldat im Krieg vollbringen muß, um zu siegen, auf seiner Einsatz- und Opferbereitschaft ohne große Worte und unüberlegte tollkühne Vorstöße des einzelnen. Diese sind im Krieg gefährlich, da sie eigenes wie fremdes Leben unnütz aufs Spiel setzen. Nicht zufällig beschreibt der Autor Saburows Gedanken über die „kindliche Vorstellung vom Krieg" während eines Gesprächs mit Maslennikow. Das Polemikfeld Saburow - Maslennikow baut illusionäre Vorstellungen von Heldentaten und vom Heldentod ab, obwohl beide Figuren durchaus keine Antipoden sind. Der bereits erwähnten Tendenz einer Entromantisierung des Heldentums im Krieg, die vorrangig mit Maslennikow verbunden ist, entspricht eine nüchterne, realistische Erzählweise, die gegen Romanende, als sich der Ring um Stalingrad schließt, nicht einer feierlichen Stimmung entbehrt. Die Figur Maslennikows ist häufig in der Tolstoischen Tra40

dition gesehen worden. Simonow habe ihr einige Züge Nikolai Rostows verliehen. Obwohl solche Beobachtungen naheliegen, sind sie jedoch nicht beweiskräftig. Menschen wie Maslennikow wurden zum literarischen Typ nicht in Ableitung von literarischen Vorlagen, sondern weil sie im Leben eine verbreitete Erscheinung waren. Autoren wie Juri Bondarew, Wladimir Bogomolow und Viktor Astafjew haben später diesen Typ in seiner Vielschichtigkeit analysiert. Anders verhält es sich jedoch mit den beschriebenen Einzelheiten, wie sich der Mensch im Kampf verhält, und mit einigen Stilelementen. Hier sind eindeutige Beziehungen zu den Sewastopoler Erzählungen gegeben.4® Hingegen liegen die publizistischen Mittel außerhalb dieser Tradition. Diese Besonderheit der Schreibweise des Prosaikers Simonow wurde häufig auch als Unfähigkeit des Autors interpretiert, in der journalistischen Tagesarbeit entwickelte kommunikative Mittel im Roman zu überwinden. Lediglich Markus Tscharny betrachtet sie nicht als „Ersatz künstlerischer Gestaltung", sondern als ein Mittel zur Steigerung der künstlerischen Aussage.47 Die b e w u ß t e Verbindung erzählerischer und publizistischer Momente wurde am Text noch ungenügend vom funktionalen Aspekt untersucht. Sie hängt offenbar mit dem angestrebten engen Kontakt zwischen Autor und Leser zusammen. Die im Krieg in der Armeepresse erworbene Fähigkeit, einem breiten Leserkreis eigene Erfahrungen als Erfahrungen des Volkes mitzuteilen, beeinflußte entscheidend Simonows Romanstil. In den Autorkommentaren und in den wiedergegebenen Gedanken Saburows, selbst in seiner Redeweise, kommt stellenweise der Simonow eigene Gestus zum Ausdruck. Diese Eigenart kann vom Standpunkt der wirkungsästhetischen Komponenten seines Romans nicht nur als Abstrich von der künstlerischen Qualität bewertet werden. Sie ist ein durchaus produktives Stilmittel seiner Prosa. Simonow hat nach dem Krieg von dem Tagebuchcharakter des Romans Tage und Nächte gesprochen, als er die Schreibumstände erläuterte. Er könne allerdings aus der Erinnerung nicht mehr Dokument und Fiktion scharf voneinander trennen. Dieses Selbstzeugnis ist wichtig zur Bestimmung der genrespezifischen Züge des Romans. Der Streit, ob es sich um eine Epo41

pöe handelt oder nicht, ist inzwischen beigelegt. Die Versuche, Simonows Romane durch Gattungsbestimmungen in der Art von Krieg und Frieden zu überfrachten und daran bestimmte Wertmaßstäbe zu knüpfen, sind jedoch in Verbindung mit der Trilogie bis heute nicht verebbt. Viktor Perzow hat 1946 Tage und Nächte den „militärisch-funktionalen" literarischen Kriegsdarstellungen zugeordnet, da der Held vorwiegend bei der Erfüllung seiner militärischen Funktion geschildert sei.48 Diese in gewisser Weise einseitige Wertung, von der im Vergleich zu Tolstoi wesentliche Mängel der Charakteristik Saburows abgeleitet wurden, berührt das bereits erwähnte ästhetische Grundprinzip Simonows. Auch Tage und Nächte schrieb er wie seine publizistischen Arbeiten unter dem Blickwinkel: Welche persönlichkeitsund bewußtseinsbildende Wirkung kann und soll sein Roman auf die Leser, an die er sich im Krieg wandte, erreichen? In dieser Frage sah und sieht er zugleich ein zentrales ästhetisches Kriterium des sozialistischen Realismus. Perzow engte die Wirkung auf rein militärische Aspekte ein und berücksichtigte ungenügend die von der Kriegszeit diktierte Notwendigkeit, daß die Literatur entsprechend ihrer spezifischen Funktion beim Leser unmittelbare Reaktionen auslöste: Erkenntnis des revolutionären Charakters dieses Krieges auf sowjetischem Boden, Stärkung der Kampfkraft, psychische Härte angcsichts des eigenen Leids wie des Leids von Millionen, die Überzeugung, daß der anfangs an Technik und Kriegserfahrung überlegene faschistische Gegner zu bezwingen ist. Diese - im weiteren Sinne - funktionale Seite des Schreibens über den Krieg noch während des Krieges bezeichnet eine entscheidende Komponente des Romans. Sie unterscheidet sich wesentlich von der Tolstoischen Tradition, die Simonow nicht unkritisch aufnehmen k o n n t e und eigenständig verarbeiten m u ß t e . Hingegen überzeugt Perzows kritischer Einwand, die Heldentat mobilisiere in der Darstellung Tolstois immer alle Kräfte der Persönlichkeit, bei Simonow jedoch nicht.49 Wenn der Autor dieser Tradition Tolstois konsequenter gefolgt wäre, hätte er zweifellos eine weitaus größere emotionale Wirkung seiner Figuren und deren Verhalten erreichen können. Dennoch hat der Roman seinen Platz in der Literatur be42

hauptet. Er löste auch im Ausland großen Widerhall aus. Die erste deutsche Ausgabe im SMA-Verlag 1947 fand einen breiten Leserkreis. Die Rezensenten hoben vor allem die Wahrhaftigkeit der Darstellung hervor. „Konstantin Simonow . . . hätte eine Apologie des Sieges schreiben können, die nichts weiter gewesen wäre als eben eine Apologie", schrieb damals Stephan Hermlin. „Er hat es nicht getan, glücklicherweise. Die siebzig Tage und Nächte von Stalingrad, denen hier ein Monument errichtet wurde, sind voller Trauer und Not, voll von flüchtigem Glück und Furcht, voller Einfachheit und Wahrheit. Einfachheit ohne Vereinfachung, Wahrheit ohne erhobenen Zeigefinger - es ist anzunehmen, daß diese Qualitäten dem Buch seinen großen Erfolg gebracht haben." 50 Völlig neue Momente der Aufnahme, Weiterführung und kritischen Überwindung der Tradition von Krieg und Frieden traten ins Blickfeld, als Simonow nach dem Krieg seine großen Romane veröffentlichte. 1952 erschien der Roman Waffengefährten über die Kämpfe am Chalchin-Gol. Die Schilderung des ersten Vorgefechts kommender militärischer Auseinandersetzungen war als Anfang eines Romanzyklus über den Großen Vaterländischen Krieg geplant. Simonow, zu dieser Zeit mehrfacher Staatspreisträger, sah sich erstmalig einer vernichtenden Kritik ausgesetzt. Versuchte noch Vera Smirnowa in ihrer Prawda-Rezension die breite historische Anlage der Romanhandlung positiv hervorzuheben, ohne wesentliche literarische Schwächen - Charakteristik der Figuren, Kampfschilderungen, Stil - zu übersehen, so stellten Michail Scholochow und Valentin Owetschkin auf dem II. Sowjetischen Schriftstellerkongreß 1954 die Grundsubstanz in Frage. „Äußerlich gesehen, ist da alles glatt, alles an seinem Fleck", sagte Scholochow. „Hat man es (das Buch Waffengefäbrten - N. T.) aber zu Ende gelesen, ist einem zumute, als wäre man hungrig zu einem Essen gegangen, zu dem man geladen war, und nur mit Brotsuppe bewirtet worden, und das noch nicht einmal zum Sattwerden. Da gesellt sich zum Hunger der Verdruß, und im Herzen verflucht man den geizigen Hausherrn." 51 Heute wissen wir, daß Simonow Waffengefährten mehrmals erheblich gestrafft und überarbeitet hat, daß er sie als einen 43

selbständigen Roman, nicht einmal als Prolog zur Trilogie betrachtet - zu unterschiedlich ist die ästhetische Konzeption im Vergleich zur Trilogie. Diese kritische Haltung zur eigenen Leistung hat sich in den letzten Jahren ständig vertieft. Damit stellte sich auch ein sachlicheres Verhältnis zur ersten Kritik ein, vor allem zu Twardowskis gründlicher Analyse während einer Diskussion in der Redaktion der Zeitschrift Nowy mir. Die Polemik mit seinen Kritikern auf dem II. Schriftstellerkongreß löste beim Autor zunächst noch keine grundsätzlich neue Beziehung zum Roman aus. Das Krisenbewußtsein vom eingeschlagenen Weg stellte sich erst später ein. Die sich Mitte der fünfziger Jahre in der sowjetischen Literatur abzeichnenden Veränderungen zwangen auch Simonow zum Überdenken seiner Schreibweise, führten aber noch nicht zum Bruch mit einigen Arbeitsprinzipien, die er bisher konsequent verteidigt hatte. Erst bei der Arbeit an den Lebenden und Toten begann er zu begreifen, daß der Werkplan seines Romanzyklus einer radikalen Neufassung bedurfte. Die Entstehungsgeschichte der Trilogie gibt wichtige Aufschlüsse über den komplizierten, widersprüchlichen Prozeß des Sich-Abstoßens vom Magnetfeld der epischen Bauweise von Krieg und Frieden,52 Dieser Vorgang vollzog sich entgegen der in Literaturkritik und -theorie zu jener Zeit vorherrschenden Auffassung, der Große Vaterländische Krieg könne in seinen nationalgeschichtlichen Ausmaßen wie in seiner welthistorischen Bedeutung nur in der Tradition der Epopöe Tolstois umfassend gestaltet werden. Dadurch provozierte der Roman Die Lebenden und die Toten nach seinem Erscheinen eine Grundsatzdebatte über Gattungsfragen des modernen Romans. Die Diskussionen vergangener Jahre über Gewinn und Verlust der verschiedenen erzählenden Gattungen bei der Vermittlung der Kriegswirklichkeit sind heute verebbt. Das Nebeneinander sehr unterschiedlicher Erzählweisen und -strukturen einschließlich der zwischen ihnen existierenden inneren Verbindungen und gegenseitigen Ergänzungen wird allgemein anerkannt und als eine wesentliche Errungenschaft des Literaturensembles seit Mitte der fünfziger Jahre begriffen. Hingegen haben einige Kritiker Anfang der siebziger Jahre, nach Abschluß von Simonows Trilogie, den Streit um die dem durch44

lebten Krieg angemessene Romanform wieder aufgegriffen. Die Trilogie wird danach bewertet, ob das Werk einem Vergleich mit Krieg und Frieden oder genauer mit der Epopöe standhält. Der von Brecht 1940 kritisierte Sachverhalt, der in der sowjetischen Theorie überwunden galt, feiert bei Iwan Kusmitschow und Oleg Michailow wiedör fröhliche Urständ: „aus dem ERBE werden oft genug lediglich Verpflichtungen abgeleitet . . . die ästhetischen kriterien werden zu fixen großen ernannt." Die Polemik berührt ein grundsätzliches Problem der sowjetischen Romanentwicklung und beschränkt sich nicht auf Simonow allein. Auch Juri Bondarew verwahrte sich gegen den „Unsinn", daß die Bücher seiner Generation und die noch entstehenden Bücher an Krieg und Frieden gemessen werden: „ . . . damit würden wir die Gesetzmäßigkeiten der Z e i t verletzen. Im Leben wie in der Literatur gibt es keinen genialen Standard." 53 Kusmitschows Hauptvorwurf lautet: Simonow schaffe lediglich den „Hintergrund" zu einer Epopöe, aber „noch nicht" die Epopöe selbst. Die epische Anlage gerate zur „alten" publizistischen Darstellungsweise des Verfassers in Widerspruch. 54 Alle gegen die Simonowsche Leistung vorgebrachten Einwände sind in einer These gebündelt: Simonow weiche von der klassischen Form der Epopöe ab. Die Argumentation stützt sich auf das keinesfalls erst von Kusmitschow entdeckte Axiom: Die in der literarischen Praxis zu beobachtenden „relativen und fließenden Grenzen" zwischen Epopöe und Roman in der Sowjetliteratur vor und nach dem Krieg - der sogenannte Doppelgenrecharakter der epischen Prosa - würden die „Übergangsphase von der Unbestimmtheit, .Unausgereiftheit' der Gattungen zur klassischen Klarheit der literarischen Formen" charakterisieren. 55 Zwar räumt Kusmitschow ein, indem er sich auf einen der Anonymität überlassenen Forscher bezieht, es sei nicht ausgeschlossen, daß es heute vielleicht anderer Formen zur umfassenden künstlerischen Darstellung des Krieges bedürfe als der Tolstoischen Epopöe. Auf Beweisführung und Schlußfolgerungen der ausführlichen kritischen Analyse hat diese Rückversicherung jedoch keinen Einfluß. Boris Sutschkow hat in der Studie Aspekte der Theorie des sozialistischen Realismus allgemein auf das Unproduk45

tive solcher Verfahrensweisen hingewiesen, „die gegenwärtige Literatur als ein Stadium des .Übergangs' in der Evolution des sozialistischen Realismus zu betrachten, als eine Interimsphase zwischen seiner .klassischen' Periode und dem möglichen Auftreten einer neuen Klassik in ferner Zukunft" 56 . Dahinter verberge sich nicht nur eine Unterschätzung der neuen ästhetischen Potenzen und Leistungen, sondern auch ein grundlegendes Unverständnis für die Eigenart des Künstlerischen. Reproduktion, Wiederholung von bereits ästhetisch Angeeignetem, früher Entdecktem widerspreche dem Wesen der Kunst, „denn jedes echte Kunstwerk ist eine einmalige, prinzipiell neue und absolut originelle Erscheinung"57. Sutschkow leitet davon die große Rolle des subjektiven Faktors in der Kunst ab. Kurz nach der Veröffentlichung der Waffengefäbrten war der Autor noch überzeugt gewesen, daß die Familienchronik in der klassischen Form des 19. Jahrhunderts eine durchaus produktive Romanform ist, um das Heldentum des Sowjetvolkes am Schicksal einer „heldenhaften Familie" vor Augen zu führen. 58 Er hatte offensichtlich sein neues Buch als ein episches Werk nach dem Modell von Krieg und Frieden konzipiert. Daß dieser Versuch scheitern mußte, lag nicht zuletzt an einer ungenügenden eigenständigen Erforschung der dem Romanstoff zugrundeliegenden Realität. So wie Tage und Nächte entstanden war, auf den unmittelbaren Spuren der Kriegsereignisse ohne Analyse des Zeitgeschehens, konnte nun über das Vergangene nicht mehr geschrieben werden. Der Nachkrieg, d. h. das Wissen um den Ausgang des Krieges und um die geschichtliche Tragweite des Geschehens, erforderte von den Schriftstellern einen neuen, erweiterten Autorenstandpunkt. Aber das war Simonow beim Schreiben der Waffengefährten wohl noch nicht bewußt gewesen. Befragt vom Verfasser dieser Arbeit, warum er in der Trilogie von der klassischen Romanform abgekommen sei, antwortete er, der Wirklichkeitsstoff habe ihm eine solche Lösung aufgezwungen. Die Schwierigkeiten beim Konzipieren des Buches Die Lebenden und die Toten hat der Autor später gründlich durchdacht. Mit dem weiteren Schicksal der drei Familien aus Waffengefäbrten - von Sinzow, Artemjew und Klimowitsch - konnten die Handlungsstränge nicht mehr verbunden werden. Der Krieg 46

hatte diese Familien in alle Winde zerstreut. Ähnlich verhielt es sich mit Serpilins Familie. So versuchte Simonow anfangs, zwar keinen autobiographischen Roman zu verfassen, aber das Selbsterlebte auf verschiedene Figuren zu verteilen. „Und so schickte ich einen Helden nach Odessa, den zweiten auf die Krim, den dritten nach Murmansk und den vierten an die Westfront", erzählte er auf einem Leserforum 1964 in Berlin. „Als einige Genossen meine Arbeit lasen, sagten sie: ,Du hast drei Anfänge und zwei Mitten.' So habe ich die Anfänge abgeschnitten und eine Mitte herausgenommen. Der Roman wurde halb so lang und beschränkt sich auf die Geschichte Sinzows."59 Genau betrachtet ist jedoch nicht seine Geschichte bestimmendes Strukturprinzip. Die sich überstürzenden Kriegsereignisse, in die Sinzow hineingerät, treiben die Handlung voran. Allerdings läßt der Romananfang, die nicht zu übersehende Parallelkonstruktion zu den ersten Sätzen von Anna Karenina, vermuten, daß Simonow, wenn auch unbewußt, noch stark der Tradition des klassischen russischen Familienromans verhaftet war. Pawel Topers Beobachtung gewisser Übereinstimmungen der ersten Kriegserlebnisse Sinzows mit denen Pierre Besuchows bestätigt diesen Eindruck. 60 Unter der Hand des Autors verselbständigte sich dann der Haupthandlungsstrang und nahm eine andere Richtung als vorgegeben. Diese Erfahrungen veranlaßten Simonow 1961, als er mit der Arbeit an Man wird nicht als Soldat geboren begann, zu der Schlußfolgerung, in der sowjetischen Gegenwartsliteratur sterbe der alte Familienroman eines kaum merklichen Todes, und an seine Stelle trete der Ereignisroman. Diese kategorische Behauptung stieß seinerzeit auf heftigen Widerspruch. Indessen begriffen nur wenige, daß die Gegenüberstellung von „Schicksalsroman" und „Ereignisroman" ein zentrales Werkstattproblem berührte - die Notwendigkeit, mit eigenen wie allgemein verbreiteten normativen Vorstellungen vom Roman über ein großes geschichtliches Ereignis im Leben des Volkes zu brechen. Simonows Überzeugung, der moderne Roman, speziell der Roman über den vergangenen Krieg, müsse auf Prolog und Epilog, auf scharf gezogene Sujetlinien, Schürzung und Lösung der Konflikte nach altbewährten Muster verzichten, war die konsequente Absage an die Epopöe in der Art von Krieg und AI

Frieden, die ihm bei den Waffengefährten noch Vorbild gewesen war. In Man wird nicht als Soldat geboren und vor allem in Der letzte Sommer tritt das historisierende Moment stärker in den Vordergrund. Wesentlich daran beteiligt sind die größere historische Distanz des Schreibenden zum Romanstoff und das umfangreichere Wissen von den Vorgängen dank der Forschungsergebnisse der Geschichtswissenschaft, zahlreicher neuerschlossener Dokumente und schließlich auch der Memoirenliteratur. Der letzte Sommer enthält, obzwar in geringem Umfang, historische Abschweifungen. Sie als Anleihen an die Tolstoische Schreibweise zu erklären, wäre sicher nicht richtig. Aber die angestrebte größere historische Dimension bei der Vermittlung des weltgeschichtlichen Ereignisses - das sich bereits klar abzeichnende Kriegsende, die Befreiungstat des ganzen Sowjetvolkes - rückt das gewählte Verfahren wieder mehr in die Nähe der historischen Anlage von Krieg und Frieden, ungeachtet der ausgeprägten Eigenständigkeit der künstlerischen Lösungen. Nicht zufällig bezeichnet der Autor die Trilogie heute als einen historischen Roman. Diese Feststellung hebt allerdings einen gewichtigen Unterschied nicht auf: das Abweichen vom traditionellen (Tolstoischen) Figurenaufbau, von der folgerichtigen Darstellung der Heldenbiografien über längere Zeitläufe und innerhalb der eigenen Familiengeschichte. Simonow begründete das mit den im Krieg unabgeschlossenen, Menschenschicksalen ebenso wie mit der Überlagerung und Verknüpfung alter und neuer Konflikte, bevor die alten Konflikte ausgereift und gelöst sind. Das Leben auch eines einzelnen Menschen könne nur innerhalb der ständigen geschichtlichen Bewegung begriffen werden. In diesem Sinne setze ein historisches Ereignis oder der Tod eines Menschen keine Schlußpunkte. Folglich könne das die Literatur auch nicht länger tun. Diese Äußerungen betreffen vor allem eigene Gestaltungsprobleme der Kriegswirklichkeit, obwohl das Simonov leider nicht nachdrücklich betont hat; dadurch hatte er unnötige Diskussionen über den Verallgemeinerungsgrad seiner künstlerischen Erfahrungen heraufbeschworen. Der sowjetische Roman über den zweiten Weltkrieg ist auch in der Gegenwart sehr verschieden gebaut, je nach der Indi48

vidualität und dem spezifischen Anliegen des Schriftstellers. In Grigori Konowalows Roman Die Krupnows zementiert das Schicksal einer in verschiedene Richtungen verschlagenen Familie mehrere Handlungsstränge. Die innere Dynamik der sich in den Menschen vollziehenden Vorgänge und Veränderungen wird ersetzt durch äußere Spannungsmomente, die durch die Perepetien im Leben der Familienmitglieder ausgelöst werden und den geschichtlichen Prozeß in seinem Gesamtverlauf ins Bild rücken. Auch eine solche Komposition hat bei allen Schwächen, die dem Roman anhaften, Berechtigung. Alexander Tschakowski hat den Roman Blockade zweisträngig angelegt. Fiktion und Dokumentarisches sind ineinander verschlungen. Die Erzählebene, die mit den erfundenen Figuren verknüpft ist, wird ebenfalls durch Familienbindungen zusammengehalten. Allerdings fehlt diesem Strang die straffe innere Logik, die Aufbau und Aussage der dokumentarischen Teile auszeichnet. Anatoli Botscharow kritisierte zu Recht die Verlorenheit der fiktiven Romanhelden im Wirbel der Ereignisse großen Maßstabs, um deretwillen der Roman doch eigentlich erdacht wurde. 61 Lew Jakimenko stellte fest: „Der Streit sollte nicht darüber geführt werden, was bei uns dominiert - der Ereignisroman oder der Schicksalsroman. Hingegen darüber, wie die innere Einheit in der poetischen Struktur der Ereignisse und Charaktere erreicht wird." 62 Die erstaunliche Beharrlichkeit, mit der bis heute einige wenige Kritiker an der zu Recht begrifflich anfechtbaren Polarisierung von „Schicksalsroman" und „Ereignisroman" festhalten, hat «ich als unproduktiv erwiesen. Sie steht im Widerspruch zur Entwicklung der zeitgenössischen sowjetischen Prosa. Die Diskussion um die künstlerische Bewältigung des Kriegsstoffes in Simonows Trilogie wird bedenklich, sobald - auch anonym - gegen die Schreibweise eingewendet wird: „Übereile und journalistischer Zuschnitt, die als episches Erfassen der Kriegsjahre ausgegeben werden, reichen für das Schaffen monumentaler Kunstwerke nicht aus"63. Bedenklich stimmt nicht der Streit um Simonows Stil, auch nicht der Streit um den Stellenwert der Trilogie in der sowjetischen Gegenwartsliteratur. Hier sind Meinungsverschiedenheiten un4 Thun, Krieg

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ausbleiblich und eine durchaus notmale, gesunde Erscheinung im Literaturprozeß, der nur in der scharfen inneren Polemik verschiedener Tendenzen begriffen werden kann. Bedenklich stimmt die falsche Erbekonzeption, die diesen - zweifellos an Simonows Adresse gerichteten - Vorwürfen zugrunde liegt: gerade die epischen Traditionen bleiben die entscheidenden, wenn vom Tolstoischen Erbe bei der Darstellung des v a t e r l ä n d i s c h e n Krieges die Rede ist."64 Erstens hat die marxistisch-leninistische Literaturtheorie, gestützt auf die Erfahrungen der .sozialistischen Literaturentwicklung, längst den Nachweis erbracht, daß vom überkommenen klassischen Erbe zu verschiedenen Zeiten verschiedene Seiten schöpferisch angeeignet und weiterentwickelt wurden. Selbst in einer literarischen Periode wirkt gleiches Erbe auf Grund der spezifischen Interessen, Neigungen und schöpferischen Fähigkeiten des jeweiligen Autors unterschiedlich. Das trifft selbstverständlich auch auf Tolstoi zu. Wie sonst wäre zu erklären, daß Autoren wie Bykau, Bogomolow, Baklanow, Bergholz, Kalinin, Bek, Ananjew oder Sergej Smirnow, die jeder auf eigenständige Weise über den Krieg geschrieben haben, sich auf die starke Wirkung des Tolstoischen Erbes in ihrem literarischen Werk berufen? Beweist das nicht die Notwendigkeit einer tieferen, vielschichtigeren Analyse der Erbebeziehungen, um andere, mitunter weitaus gewichtigere Faktoren zu erschließen? Zweitens gibt es keinen wissenschaftlichen Beweis a priori, daß die Epopöe der Tolstoischen Prägung oder die sowjetische Epopöe über den Bürgerkrieg die einzig adäquate Romanform ist, die eine umfassende literarische Wiedergabe der komplizierten Dialektik von individuellen Schicksalen und dem Schicksal des Sowjetvolkes im Großen Vaterländischen Krieg ermöglicht. Und schließlich muß exakter differenziert werden zwischen der Epopöe und dem sogenannten epischen Roman. Beide Begriffe werden häufig als Synonyme verwendet, obwohl sie typologisch nicht identisch sind. Iwan Melesh äußerte im Dialog mit dem Kritiker Iwan Koslow über die „Komponenten der Epopöe" einen wesentlichen Gedanken. Die Ähnlichkeit, die häufig zwischen Krieg und Frieden und sowjetischen Romanen über 50

den Großen Vaterländischen Krieg gesehen werde, könne nur im übertragenen Sinn verstanden werden. Solche Vergleiche seien nur dann sinnvoll, wenn sie jene künstlerische Höhe bezeichnen, die Tolstoi auf Grund einer umfassenden und tieflotenden Gestaltung der Wirklichkeit erreicht hat. Die sowjetischen Autoren könnten höchstens der künstlerischen Meisterschaft Tolstois nacheifern. Ansonsten müßten sie völlig selbständig eine philosophische und historische Konzeption entwickeln, die dem Weltbild der sozialistischen Gesellschaft entspricht. Melesh schließt die Möglichkeit nicht aus, daß sich die Epopöe in der sowjetischen Gegenwartsliteratur weiterhin als produktiv erweist, ist aber weit entfernt von jenen engen Vorstellungen, die häufig mit diesem Begriff in bezug auf die Romanstruktur verbunden sind.65 Wird von diesem Aspekt die sich wandelnde Beziehung Simonows zu Tolstoi betrachtet, so erschließen sich wichtige neue Momente seines Traditionsverständnisses. Je intensiver er sich im Verlaufe der Arbeit an der Trilogie mit Krieg und Frieden beschäftigte, desto stärker faszinierte ihn bei Tolstoi das „maximale Empfinden für maximale Glaubwürdigkeit" 66 - warum sich die Figuren in einer bestimmten Situation gerade so und nicht anders verhalten haben. Wird Simonows Beziehung zu Tolstoi so verstanden, d.h. vom Aspekt der beabsichtigten ästhetischen Wirkungen (Glaubwürdigkeit, Wahrhaftigkeit, emotionale Erschütterung und ähnliches), die er beim h e u t i g e n Leser mit s e i n e n Mitteln erreichen will, so ergeben sich völlig andereBlickpunkte auf die von Kusmitschow und Michailow einseitig verbogene Erbedebatte: Roman oder Epopöe. Allerdings blieb Tolstoi für ihn in einem Punkt unerreichbares Vorbild, so sehr er sich auch bemühte, seinem „Meister" und „Lehrer" konsequent zu folgen: „unbedingt bis in die Tiefen des Wesentlichen vorzustoßen . . . bis zu den Grundlagen der sittlichen Normen des Menschen"67, wo die vom Schriftsteller vermittelte Wahrheit von ihm subjektiv als absolute Wahrheit empfunden werde. Die unzureichende Individualisierung und Differenzierung der Helden Simonows sind häufig kritisiert worden, auch ihre ungenügende Wandlungsfähigkeit inmitten der gestalteten Ereignisse sowie die unscharfen Konturen zwischen Autoren- und Figurenrede. 4»

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Lasarew untersuchte die Affinitäten bzw. Unterschiede zwischen den Figuren Simonows und Tolstois, u. a. zwischen Nikulin und Tuschin, und leitete davon wesentliche Momente des eigenständigen Figurenaufbaus in der Trilogie ab. Das Gefühl persönlicher Würde und Gerechtigkeit ebenso wie das Verantwortungsbewußtsein für das eigene Verhalten seien ein integrierender Bestandteil ihres in der Nachrevolutionszeit geformten Wesens und würden folglich nicht nur - wie bei Tuschin in kritischen Situationen in Erscheinung treten. 68 Simoriow hat diesen Zügen größere Bedeutung beigemessen, dagegen die im Krieg in den Menschen vorgehenden individuellen Wandlungsprozesse nicht mit der gleichen Schärfe vermittelt. Die Sprache seiner Figuren ist nicht elastisch genug, um die feinen Verästelungen und oft kaum merkbaren Veränderungen in ihrem Fühlen und Denken zu vermitteln. Auf die Trilogie trifft das gleiche zu, was wir schon im Roman Tage und Nächte feststellten. Der Prosastil ist von den kommunikativen Mitteln der Massenmedien beeinflußt. Sobald sie der Autor souverän, gekonnt einsetzt, bereichern sie die erzählerischen Potenzen. Wo diese künstlerische Geschlossenheit und Überzeugungskraft nicht erreicht wird, liegen die eindeutigen Schwächen der Arbeitsmethode. Zu untersuchen sind stets Gewinn und Verlust solcher Verfahren, die nicht grundsätzlich im Roman in Frage zu stellen sind. Das entscheidende Kriterium kann nur die Integrität der jeweiligen literarischen Figur oder Situation sein. Man wird, nicht als Soldat geboren enthält unter diesem Aspekt die reifsten Lösungen. Lew Plotnikow bezeichnete als einen bedauerlichen Mangel der Trilogie, daß mit Ausnahme weniger episodenhafter Figuren der Feind kaum gestaltet sei. Tolstoi habe Krieg und Frieden auf der Antithese Kutusow - Napoleon aufgebaut und von ihr seine Geschichtsphilosophie hergeleitet. Plotnikow schränkt zwar ein, jeder Schriftsteller habe das Recht, auf seine Weise zu schreiben, aber dennoch fehle der geschichtsphilosophischen Anlage der entscheidende Gegenpol.69 (Dieses Argument überzeugt natürlich nicht. Gerade auf Grund der Geschichtsphilosophie Tolstois kann nicht ausschließlich von der Person Napoleons auf die französische Invasionsarmee geschlossen werden. Die französischen Soldaten sind zwar als Eindringlinge, 52

Brandschatzer, Marodeure gezeigt, aber nur summarisch. Und so wenig wie Napoleon das ganze französische Volk verkörperte, so wenig tat das auch Hitler für das deutsche Volk.) Simonows Haltung, ob und wie historische Persönlichkeiten im Roman über die jüngste Geschichte zu gestalten sind, erfuhr einige Korrekturen. In den Waffengefäbrten hielt er sich an das Prinzip, ausschließlich fiktive Helden einzuführen, „obwohl mitunter in ihnen reale historische Persönlichkeiten zu erkennen sind" 70 . Als Beispiel nannte der Autor die Figur des Kommandierenden, hinter der sich Shukow verbirgt, und als Begründung, er habe einen Roman geschrieben und keinen Dokumentarbericht. Diesem Prinzip ist er in der Trilogie im wesentlichen treu geblieben, bis auf eine gewichtige Ausnahme in Man wird nicht als Soldat geboren: die Person Stalins. Ein bereits geschriebenes Kapitel für Der letzte Sommer, in dem Stalin nochmals in Erscheinung tritt, hat der Autor auf Empfehlung Twardowskis gestrichen, da es nichts Neues mehr über seine Person enthielt und eigentlich nur das bereits Gesagte wiederholte. Simonow hat Stalin im Krieg erst nach dessen Tod beschrieben. E r hatte grundsätzlich vermieden, noch lebende bedeutende Persönlichkeiten im Roman zu gestalten. Unbefriedigend hingegen ist die gegebene Begründung, zumal die dokumentarische Genauigkeit einer der entscheidenden Impulse seiner Schreibweise ist. Offensichtlich kreuzten sich in seiner konsequenten Ablehnung, historische Persönlichkeiten zu gestalten, zwei Momente. Auf dem II. Sowjetischen Schriftstellerkongreß 1954 kritisierte Simonow die in der historischen Prosa des letzten Jahrzehnts verbreitete Tendenz, um jeden Preis Monumentalität mit dem Kult der Persönlichkeit zu verbinden. Er wandte sich nicht prinzipiell gegen die kompositioneile Mittelpunktstellung einer historischen Persönlichkeit wie in den Romanen Alexej Tolstois, Wjatscheslaw Schischkows oder Muchtar Auesows, aber gegen die Verabsolutierung dieses Prinzips. Historismus und Wissenschaftlichkeit erforderten in erster Linie, meinte Simonow, die historisch konkrete Darstellung des Volkes. Und als Beweis führte er an, so genial Tolstoi Kutusow und Napoleon geschildert habe, so sei Krieg und Frieden dennoch kein Roman über Kutusow und über Napoleon, sondern vor allem 53

ein Roman über die russische Gesellschaft jener Zeit. Daraus zog er den Schluß: „ . . . der Künstler kann die Zeit und das Volk hervorragend gestalten, ohne eine große historische Persönlichkeit in den Vordergrund zu rücken, indem er als Haupthelden fiktive Personen, einfache Menschen nimmt." 71 Diese schroffe Gegenreaktion auf den Kult der Persönlichkeit, der in der sowjetischen historischen Prosa jahrelang vorherrschte, ist bisher im ästhetischen Konzept der von Simonow nach dem Krieg geschriebenen Romane unbeachtet geblieben. Ferner ist zu berücksichtigen: Die Polemik um Pjotr Pawlenkos Das Glück (1947) und den zweiten Teil von Michail Bubennows Die weiße Birke (1952) in Verbindung mit der Gestalt Stalins erreichte erst Ende der fünfziger Jahre ihren Höhepunkt. Und genau in diese Zeit fiel Simonows Arbeit an der Trilogie. Es bedurfte erst erneuter Vorläufe und Ansätze, um von einer reiferen historischen Position die Dialektik von historischer Persönlichkeit und Volk im Großen Vaterländischen Krieg neu zu durchdenken. Da genügte nicht einfach eine Antiposition. Vergleicht man die oben zitierte Äußerung von 1954 mit dem Artikel Bei der Lektüre Tolstois von 1969, so erkennt man ein besseres Verständnis für Tolstois Geschichtsphilosophie, dafür, warum Tolstoi überzeugt war, der Schriftsteller müsse bei der Erforschung der historischen Gesetzmäßigkeiten den Betrachtungsgegenstand radikal verändern und abkommen von Kaisern, Ministern und Generälen. Simonow suchte nach den historischen und gesellschaftlichen Zusammenhängen, die Tolstoi in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts zu dergleichen rigorosen Auffassungen veranlaßten, d. h., er war dem „Polemiker" Tolstoi auf der Spur, um nach hundert Jahren das bereits weitgehend „entwirklichte" ästhetische Konzept wieder in die Wirklichkeit hineinzustellen, die es geformt hatte. Von der leidenschaftlichen Parteinahme in den gesellschaftlichen Kämpfen jener Zeit leitet Simonow einige beachtliche künstlerische Lösungen ab, darunter auch den Abschluß der Epopöe mit dem Ende des Befreiungskrieges in Rußland. Simonow traf dabei eine ähnliche Feststellung wie Anna Seghers: „Tolstoi wollte unbedingt in seinem Buch die seinerzeit vorherrschende Idee von der Rolle der Persönlichkeit in der Geschichte umstürzen, 54

von der Rolle der Macht im Allgemeinen und der unbeschränkten Macht im Besonderen."72 Zu der Zeit, in der Krieg und Frieden spielt, waren alle diese Begriffe mit der Persönlichkeit Napoleons verbunden. Und Tolstoi schreckte sogar nicht vor dem Schwersten zurück, schreibt Simonow, das militärische Genie Napoleons anzuzweifeln. Unverkennbar ist seine Bewunderung, mit welcher Konsequenz die Idee von der uneingeschränkten Macht und der Erhabenheit eines Menschen über die anderen in Krieg und Frieden widerlegt wird. Aus dieser Äußerung könnte man sogar eine gewisse Rechtfertigung Simonows herauslesen, warum er den in der sowjetischen Kritik so heißumstrittenen Versuch gewagt hat, in Man wird nicht als Soldat geboren seine widersprüchliche Beziehung zu Stalin und dessen historischer Rolle in einigen Szenen zu gestalten. Im zwanzigsten Kapitel werden Iwan Alexejewitschs Gedanken über Stalin, wie ein Mensch zu handeln habe, in dessen Händen im Krieg eine so unumstrittene Macht vereint ist, direkt in Beziehung gesetzt zu der zuvor von ihm gelesenen Textstelle aus Krieg und Frieden, es gäbe keine Größe da, wo nicht Schlichtheit, Güte und Wahrheit sind. Auf Grund anderer historischer Erfahrungen ihres Volkes interessierte Anna Seghers vorwiegend die gesellschafts- und geschichtsphilosophische Seite in Tolstois Roman: der Zusammenbruch der napoleonischen Machtidee und die historische Überlebtheit der zähen Überreste einer solchen Idee. Simonow hingegen beschäftigte das Problem einer großen historischen Persönlichkeit in der sowjetischen Kriegswirklichkeit und - enger gefaßt - ihrer Stellung in einem historischen Roman. In beiden Fällen standen eigene Werkstattfragen im Vordergrund, die jedem von ihnen aus anderer historischer Perspektive eine völlig unterschiedliche Lösung abforderten. Die Antithese Kutusow - Napoleon war für Simonow weniger relevant. Sie wäre dann höchstens auf den Nenner Stalin Hitler zu bringen gewesen. Alexander Tschakowski hat in Blockade eine solche Gegenüberstellung versucht, ohne sich allerdings auf eine Antithese der führenden Staatsmänner zu beschränken. Über die Produktivität dieses großen Vorhabens, beide kriegführenden Seiten in die Romanhandlung einzuführen, läßt sich nicht voreilig urteilen. An dieser Stelle 55

sei nur auf eine Konsequenz hingewiesen, die ein solches Unterfangen nach sich zieht. Der sowjetische Autor ist emotional unmittelbar nur am Schicksal des eigenen Volkes beteiligt und kann sich daher kaum in die Psyche und Mentalität des Feindes einfühlen. Daher ist die Gefahr einer schablonenhaften Abbildung des „Gegenpols" besonders groß. Simonow hat eben aus diesem Grunde von seinem ursprünglichen Plan Abstand genommen, die Handlung der Trilogie mit dem Kampf um Berlin abzuschließen. Er hätte diese Absicht mit Figuren aus der deutschen Bevölkerung realisieren müssen und befürchtete, daß er sie nicht als lebendige Menschen gestalten könne. Den geschichtsphilosophischen Gegenpol hat Simonow indirekt auf andere Weise zum Ausdruck gebracht. Aufschluß gibt eine vergleichende Analyse, wie unterschiedlich Tolstoi und Simonow die Rolle des Volkes im Befreiungskrieg bewerten und wiedergeben. In Krieg und Frieden handelt das Volk, das sich gegen den Aggressor erhebt, spontan. In der Trilogie ist der Kampf von Millionen Sowjetmenschen eine große historische Bewegung des ganzen Volkes, das seine moralische Überlegenheit über den Feind und die historische Gerechtigkeit des Widerstandes und des Sieges als entscheidende Faktoren in diesem Krieg b e g r e i f t . Der antithetische Charakter der sich feindlich gegenüberstehenden Armeen und Gesellschaftssysteme liegt somit bereits im Wesen des geschilderten Befreiungskrieges. (Dieser methodische Drehpunkt ist der entscheidende. Die Szenen einer direkten Konfrontation verstärken die gegebene Grundeinstimmung, ohne je die Funktion eines gleichwertigen „Gegenpols" zu übernehmen.) Von Band zu Band wird die historische Bewegung in einer immer engeren Verflechtung der Anstrengungen auf beiden Ebenen, von „unten" und „oben", sichtbar. Daß Simonow dabei auf die Gestaltung von bekannten Generälen verzichtet und sie „erfindet", ist keine Einschränkung der Leistung. Hierfür gibt es darüber hinaus noch eine ganz simple Erklärung. Und diese erhellt das zweite Moment, warum er in der Trilogie mit Ausnahme Stalins die Gestaltung bekannter Persönlichkeiten vermieden hat. Simonow versuchte noch einer weiteren Schwierigkeit zu entgehen. Es sei kaum vorstellbar, erläuterte er in einem Gespräch, daß Tolstoi Krieg und Frieden fünfundzwanzig Jahre nach den 56

Ereignissen, etwa im Jahre 1837, in der gleichen Weise hätte verfassen können: „Es hätte schon allein der noch lebende Bennigsen genügt, um den Autor des Buches in eine höchst knifflige Lage zu bringen. Ich habe damit nicht einmal nur solche negativen Personen wie ihn im Sinn. Es gibt auch positive, so Jermolow, die zweifellos sich selbst anders gesehen haben, als sie Tolstoi sah." 73 Es sei äußerst schwierig, ein Buch über einen noch nicht weit zurückliegenden Krieg zu schreiben, wenn außer dem Autor viele Augenzeugen und Teilnehmer leben. Diese Befürchtungen stützen sich auf Erfahrungen. Einige sowjetische Generäle, darunter A. Jeremenko"4, kritisierten, daß Simonow realen Personen und militärischen Einheiten andere Namen gegeben und einzelne Truppenteile und deren Anteil an einigen militärischen Operationen verändert hat. Simonow wollte jedoch dem Vorwurf vorbeugen, er habe sich nicht exakt an die Tatsachen gehalten, und machte daher von seinem Recht als Künstler Gebrauch, historische Begebenheiten frei nachzubilden und Namen und Bezeichnungen zu verändern, ohne dadurch die historische Wahrheit zu verletzen. Das Spektrum der kunstpraktischen Probleme, die Simonow im Spannungsfeld von Kontinuität und Diskontinuität des Tolstoischen Erbes eigenständig gelöst hat, ist weitaus breiter aufgefächert, als von gattungsästhetischen Gesichtspunkten deutlich wird. So untersuchte er sehr genau den dialektischen Zusammenhang und Widerspruch von historischen Tatsachen und den neuen geschichtlichen Erkenntnissen über den aus historischer Distanz geschilderten Krieg bei Tolstoi. Das ästhetische Problem der historischen Wahrheit im Roman konnte er nicht einfach unkritisch in der Nachfolge Tolstois betrachten. Zu groß ist die Divergenz in der Geschichtskonzeption, dem eigenen Kriegserleben, dem literarischen Gegenstand, der angestrebten ästhetischen Wirkung, die, wie dargelegt wurde, ein entscheidendes Kriterium seiner Realismuskonzeption ist. Aber die Erfahrungen bedeutender Kunstleistungen bewahren trotz solcher Divergenzen ihre Ausstrahlungskraft und ästhetische Produktivität. Aufschlußreich ist ein Vergleich mit Scholochows Romanversuch Sie kämpften für die Heimat, zu dem sich Simonow nicht 57

äußert, obwohl er doch jahrelang auch in seinem Blickfeld gestanden hat. Ursache des Schweigens ist offenbar nicht nur die Kontroverse von 1954, sondern auch die komplizierte Entstehungsgeschichte des Romans. Sie kämpften für die Heimat hat von allen Werken Scholochows das ungewöhnlichste Schicksal: Er ist noch immer unvollendet, ein Torso. Trotz mehrfacher Nachauflagen ist das Interesse der Leser an ihm zurückgegangen. Kritik und Forschung haben sich mit ihm verhältnismäßig wenig beschäftigt. Zwar wurde er vor einem Jahrzehnt auf verschiedenen sowjetischen Bühnen inszeniert (Taschkent, Moskau) und 1975 von Sergej Bondartschuk erstmalig verfilmt. Aber mit der Zeit ist die Wirkung doch hinter der Erzählung Ein Menschenscbicksal verblaßt. Es dominiert die Auffassung, der Roman bleibe ein Versprechen. Verschiedenste Vermutungen wurden geäußert, warum Scholochow dieses Versprechen bisher nicht eingelöst habe. Die Hypothese, der Autor sei in einer allgemeinen tiefen schöpferischen Krise, haben die Veröffentlichungen von Ein Menschenscbicksal (1956-1957) und dem zweiten Teil von Neuland unterm Pflug (1955-1960) widerlegt. Die Frage, warum er gleich nach dem Krieg an seinem Roman nicht weitergearbeitet habe, ist folglich damit nicht beantwortet. Auch mit den spekulativen Behauptungen ausländischer Kritiker vom vermeintlich unheldischen Charakter des modernen Krieges (mit Ausnahme höchstens des Partisanenkrieges) und von den dadurch entstandenen Diskrepanzen zwischen Romanstrukur und Held75 oder von den Zwängen, die dem Autor zur Zeit des Dogmatismus auferlegt worden seien, ist den eigentlichen Ursachen nicht beizukommen. Die gattungsästhetischen Ursachen, warum Scholochow nach dem Stillen Don den Roman Sie kämpften für die Heimat nicht in der gleichen Weise - als Epopöe - schreiben k o n n t c , sind noch nicht gründlich untersucht worden, desgleichen die Ursachen, warum der bis heute fragmentarisch gebliebene Roman in seiner Struktur widersprüchlich ist. Diese Ursachen liegen jedoch nicht nur im Autor selber. Die Entstehungsgeschichte und das literarische Umfeld hellen einige Zusammenhänge auf. Obwohl die Beobachtungen noch keinen schlüssigen 58

Beweis liefern, solange der Roman nicht als in sich geschlossenes fertiges Buch vorliegt, läßt sich folgender Tatbestand feststellen: Die oben beschriebene „Umbruchs"phase in bezug auf die Tolstoische Tradition hinterließ auch im Werk Scholochows tiefe Spuren. Die durch theoretische Auffassungen der Vorkriegszeit erhärtete Annahme, in der Erzählstruktur von Krieg und Frieden - der Epopöe - den Schlüssel für die Darstellung eines Befreiungskrieges gefunden zu haben, war naheliegend. Aber die Konzentration auf diese Errungenschaft Tolstois engte das schöpferische Suchen nach eigenständigen Wegen ein, führte zu Trugschlüssen und mitunter zu schöpferischen Krisen, eine Erscheinung, die vor allem in den Nachkriegsjahren bei einigen sowjetischen Autoren zu beobachten ist. Auch Scholochow wurde sich wahrscheinlich dieses Problems bewußt. Aber das war schon im Nachkrieg, d. h. nach Abschluß des ersten Teils. Die im Sommer 1942 handelnden Kapitel waren in den Jahren 1943, 1944 und 1949 veröffentlicht worden. Entgegen den ursprünglich geäußerten Absichten schrieb er nicht gleich den zweiten Teil über die Stalingrader Schlacht76, sondern wandte sich - Zumindestens ergibt sich ein solches Bild durch die folgenden Teilpublikationen - zunächst dem Romananfang zu, der vor Kriegsbeginn spielt. Die Einzelstücke erschienen in einem Abstand von fünfzehn Jahren - 1954 und 1969. Zwischen den ersten und den letzten Veröffentlichungen liegen also sechsundzwanzig Jahre. Dabei ergibt sich der Eindruck, daß der Autor gleichsam im Krebsgang zunächst zum Vorkrieg zurückkehrt, um von dorther die das Gesamtwerk zusammenhaltende künstlerische Idee zu entwickeln. Aber erweisen sich die von Jakimenko genannten drei dramatischen Leitmotive des Anfangs - der Zerfall der Familie Nikolai Strelzows, das schwere Schicksal seines Bruders, eines Generals, und die drohende Kriegsgefahr - für den gesamten Roman als tragfähig? 77 Scholochow äußerte 1965: „Den Roman habe ich von der Mitte her begonnen. Jetzt hat er bereits einen Rumpf. Und nun erschaffe ich für den Rumpf Kopf und Beine."78 Der „Kopf" aber, zwar immer noch nicht fertig modelliert, ist bislang, d. h. in den veröffentlichten Teilen, noch nicht fest an 59

den „Rumpf" angewachsen. Wodurch erklärt sich diese Diskrepanz? Sicherlich gibt es hierfür mehrere Gründe. Uns interessiert vor allem der gattungsästhetische Aspekt. Das zuerst - größtenteils im Krieg - verfaßte Stück handelt in Zentralrußland im Sommer 1942. Die harten Kämpfe am Don und die Rückzüge liegen im Vorfeld der kurz danach einsetzenden Schlacht um Stalingrad. Diesem äußeren Handlungsablauf entspricht die innere Logik im Figurenaufbau sowohl der Soldaten Strelzow, Lopachin, Swjaginzew, Popristschenko, Kopytowski als auch der Personen aus der Zivilbevölkerung, mit denen die kämpfende Armee in Berührung kommt. Das auf dem Rückzug stark zusammengeschrumpfte Regiment ist nicht schlechthin eine militärische Einheit mit gleichen Kampfaufgaben und -erfahrungen. Es wächst zu einem auf Leben und Tod verbundenen Kollektiv zusammen, in dem sich neue menschliche Beziehungen herausbilden. Die Familienbindungen verlieren nicht ihre Bedeutung für den einzelnen. Sie verschmelzen mit dem Heimatgefühl, dem Empfinden für die Tragik im eigenen Leben wie im Leben des Volkes. Aber sie sind kein strukturbildendes Moment. Dadurch stellt sich keine direkte Verbindung her zwischen den Anfangskapiteln und dem vorliegenden in sich geschlossenen Teil, zumal Strelzows Familie bereits im Vorkrieg auseinanderbrach. Ein eventuell beabsichtigter Kontrast zwischen Vorkrieg, Krieg und Nachkrieg läßt sich auf diese Weise, d. h. über die Familienverhältnisse und deren Veränderungen, wohl kaum noch erreichen. Scholochow hatte im Stillen Don die Verklammerung von geschichtlichem Vorgang mit einigen Familiengeschichten überzeugend gestaltet. Dieses Prinzip hat er dann in der Erzählung Ein Menschenschicksal an einem Beispiel abgehandelt. Hingegen hat es sich in Sie kämpften für die Heimat nicht bewährt. Der spürbare Bruch ergibt sich aus der unterschiedlichen konzeptionellen Anlage von „Urmanuskript" und „Kopfstück", aus dem im Nachhinein bisher nicht geglückten Versuch, die einzelnen Teile durch ein oder gar mehrere Familienschicksalc zusammenzufügen. Einige Äußerungen Scholochows erhärten diese Beobachtungen. 1949: „Mich interessiert das Los der einfachen Menschen 60

im vergangenen Krieg. Unser Soldat war in den Tagen des Vaterländischen Krieges ein Held. Der Welt sind der russische Soldat, seine Tapferkeit, seine suworowschen Eigenschaften bekannt. Dieser Krieg hat jedoch unseren Soldaten in einem völlig neuen Licht gezeigt. Ich will daher im Roman die neuen Eigenschaften des Sowjetsoldaten zeigen, die ihn in diesem Krieg derart über sich hinauswachsen haben lassen . . Z'79 1957: „Für den Schriftsteller - für ihn selber - ist das Wichtigste, die Bewegung des Inneren des Menschen wiederzugeben. Ich wollte diesen Zauber des Menschen in Grigori Melechow darstellen, aber das ist mir nicht restlos gelungen. Vielleicht gelingt mir das im Roman über diejenigen, die für die HEIMAT gekämpft haben."®! Und 1974: Der Schriftsteller „muß vor allem den Menschen als Kämpfer zeigen - einen denkenden, bewußten, überzeugten, festen Menschen. Da genügt nicht einfach eine wahrheitsgetreue Wiedergabe des Krieges, da bedarf es noch einer Idee, um deretwillen dieser Krieg dargestellt wird. Es kämpften doch nicht schlechthin Völker, Armeen, Soldaten und Generäle. Die Überlegenheit und geistige Reife des Sowjetsoldaten standen selbst in den schwersten Kriegstagen außer Zweifel. Weder das Volk noch die Armee hatten den Glauben an den Sieg verloren. Davon habe ich sowohl in den Skizzen als auch in den Büchern über den Krieg geschrieben." Und im gleichen Zusammenhang über den von Sergej Bondartschuk gedrehten Film Sie kämpften für die Heimat: „Der Regisseur hat eine richtige Lösung gefunden, die Psyche des Soldaten zu zeigen, seine Innenwelt, wie er in den harten Prüfungen des Krieges gefestigt und gestählt wird. Bei uns spricht man häufig so gern vom Soldaten an sich, von dem Soldaten, der den Vaterländischen Krieg gewonnen hat, aber gekämpft hat doch das ganze Volk . . . Der Soldat im Schützengraben in Großaufnahme, mit allen Details des Frontalltags - das ist wichtig. Wichtig ist, daß man das Antlitz des Soldaten sowohl in der Schlacht als auch in den Ruhepausen zwischen den Schlachten zeigt.. ." 8 1 Diese Äußerungen treffen das Herzstück des Romans, die „Idee", um deretwillen Scholochow das Buch zu schreiben begonnen hatte und die ihn nach wie vor bewegt. Im Krieg war das wahrscheinlich ein mehr intuitiver Vorgang unter dem 61

Druck der Wirklichkeit, vermutlich sogar ohne exakten Werkplan. Die im Nachhinein gezogenen Handlungslinien bringen Dissonanzen in das begonnene Vorhaben. Vielleicht liegen hier die tieferen Ursachen, warum der Roman noch immer Fragment geblieben ist? Simonow machte mit den Waffengefährten eine ähnliche Erfahrung. Nur war der Arbeitsvorgang ein anderer. Ihm stand von Anfang an die Epopöe in der Art von Krieg und Frieden als Richtpunkt vor Augen. In der Trilogie gab er dann die ursprünglich geplante Struktur auf. Scholochow dagegen hatte zunächst im Krieg eine für ihn völlig neue Art des Schreibens entwickelt, im Bruch mit der bisher erprobten eigenen Romanform. Das Bemühen, den fertigen ersten Teil vom „Kopfstück" her mit dem gesamten Roman - er war als Trilogie konzipiert - in altbewährter Weise zu verbinden, kostete ihn große Anstrengungen. Und das bisher vorliegende Ergebnis überzeugt nicht von der Richtigkeit des eingeschlagenen Weges. Der Verzicht auf den überlastigen „Kopf" und auf ein Weiterschreiben in der begonnenen Weise wäre vielleicht, nach dem publizierten Text zu urteilen, produktiver gewesen. Vor Beendigung des ersten Teils, 1947, äußerte der Autor die Absicht: „Ich habe mir durchaus nicht zum Ziel gesetzt, ein allumfassendes künstlerisches Werk zu schaffen, und bin weit davon entfernt, einen neuen Krieg und Frieden zu schreiben . . ," 82 Vorhanden war das Streben, den Roman „besser, kompakter" zu machen. Das bereitete Scholochow offenkundig große Schwierigkeiten. Noch 1947 sah er einen grundlegenden Unterschied zwischen der Arbeit am Stillen Don und der Arbeit an Sie kämpften für die Heimat darin, daß ersterer von der Vergangenheit und letzterer von „ganz frischen Wunden und frischen Ereignissen" handele. Dort war alles Geschichte, hier jedoch lebendiges Leben. Von Jahr zu Jahr wuchs jedoch die zeitliche Distanz. Früher oder später schlug das Gegenwärtige in Geschichtliches um, ohne daß sich der Zeitpunkt genau fixieren ließ. Die größeren historischen Dimensionen des siegreich beendeten Krieges vom Blickpunkt der Nachkriegsentwicklung und das sich mit jedem weiteren Jahrzehnt vertiefende historische Verständnis für das durchlebte welthistorische Ereignis machten wohl Anfang der fünfziger 62

Jahre eine Korrektur erforderlich, ohne daß sich Scholochow dessen gleich bewußt wurde. So wie im Krieg und unmittelbar danach k o n n t e er seinen Roman einfach nicht mehr fortsetzen. Diesen Gedanken hat auch Pawel Toper geäußert, allerdings ohne die gattungsästhetischen Aspekte zu untersuchen. Von der Zumindestens teilweisen Rückkehr zur Struktur des Stillen Don, der nachträglichen Verknüpfung der individuellen Kriegserlebnisse Strelzows mit dem Schicksal seines Bruders, erhoffte sich Scholochow die Möglichkeit, den Blick auf die große geschichtliche Bewegung in ihrer komplizierten Widersprüchlichkeit zu offnen. Das Beschreiben eines Zeitvorgangs wuchs hinüber in die Analyse dieses Vorgangs und der Ursachen, warum der Kriegsverlauf anfangs mit so viel Rückschlägen verbunden war. Dadurch wurde die Gefahr heraufbeschworen, daß die Einheitlichkeit des Ganzen gesprengt wird. Scholochow und Simonow sind verschiedene künstlerische Naturen nach Biographie, Haltung und Literaturverständnis. Das Empfinden, daß der vergangene Krieg mit den erprobten erzählerischen Mitteln nicht zu beschreiben sei, stellte sich jedoch bei beiden ein, auch das Abstoßen vom Magnetfeld der Epopöe Tolstois. Die Lösungen hingegen sind unterschiedlich, trotz der Berührungspunkte im Aufriß des Problems. Die oben erwähnte Kontroverse zwischen beiden Autoren auf dem II. Schriftstellerkongreß 1954 ist auch von diesem Aspekt zu beurteilen. Sie spielte sich zu einem Zeitpunkt ab, als die sowjetischen Schriftsteller fast ohne Ausnahme an einem wichtigen Punkt der sozialhistorischen Entwicklung ihres Landes die eigenen Positionen kritisch überprüften. Simonow warf Scholochow vor, daß er vor der Drucklegung die Waffengefährten gelobt und ihre Veröffentlichung nach nochmaliger gründlicher Überarbeitung befürwortet habe, während er nun auf dem Kongreß in der vorliegenden Buchfassung auch keine einzige gute Seite mehr erwähnenswert fand. Simonow fragte damals sicher zu Recht: warum? Heute läßt sich diese Frage dahingehend beantworten, daß Scholochow in der Zeit zwischen Simonows Rohmanuskript und dessen Publikation ein neues Zeit- und Literaturverständnis gewonnen hatte. Zwei Monate vor dem Kongreß hatte er das erste Einführungskapitel zu Sie kämpften für die Heimat der Öffentlichkeit übergeben. Aber dann folgte 63

die erwähnte fünfzehnjährige Pause, über die der Autor selber nie Erklärungen abgab. Er legte das Manuskript beiseite und nahm die große Arbeit am zweiten Teil von Neuland unterm. Pflug wieder auf, veröffentlicht 1955 bis 1960. Und dazwischen entstand Ein Menscbenschicksal, das er Ende 1956 in Druck gab. Mußte nicht der geschärfte kritische Blick für eigene Darstellungsprobleme und -weisen historischer Prozesse auch die Haltung zur Leistung seiner Schriftstellerkollegen verändern? Die Tatsache, daß er dann die veränderten Vorstellungen mit dem bereits Geschriebenen nicht organisch zusammenfügen konnte und das Neue, das ihm vorschwebende Ganze künstlerisch nicht in den Griff bekam, hängt sicherlich mit seiner Unterschätzung der beschriebenen Schwierigkeiten zusammen. Oder anders ausgedrückt: die Grenzen liegen in der gewählten Romanf o r m. Betrachten wir jedoch den in sich abgeschlossenen ersten Teil (1943-1949) als ein selbständiges Kunstwerk und stellen wir es als ein solches in den Literaturprozeß der Zeit, in der es entstanden ist, so ergibt sich ein völlig anderer Blickwinkel auf die künstlerische Leistung Scholochows. Sie kämpften für die Heimat wird dann als ein Stück Prosa begriffen, das an Wahrhaftigkeit, Leidenschaftlichkeit, Tragik und Härte Maßstäbe in der sowjetischen Literatur gesetzt und zugleich spätere Entwicklungstendenzen vorweggenommen hat. Das betrifft in gleichem Maße seine n e u e Erbebeziehung zu Tolstoi. Konstantin Fedin sieht in Scholochows Verhältnis zur nationalen Tradition der russischen Epik den überzeugenden Beweis, daß der Fortschritt in der Kunst nur durch die Verwurzelung des Schriftstellers in der Gegenwart erreicht wird: „Und wenn wir ein Buch Scholochows nehmen, so halten wir unsere Zeit in den Händen, die durch die Überzeugungen, Ideen und menschlichen Ziele der Epoche belebt ist." 83 Diese Beobachtung bekräftigt nochmals den bereits geäußerten Gedanken, daß der Roman, zunächst auf den Spuren der Ereignisse begonnen, aus der Sicht der späteren Jahre schließlich zu einem historischen Zeitbild tendierte. Anklänge an Kriegsschilderungen Tolstois ließen sich auch in Sie kämpften für die Heimat nachweisen. Aber solche Vergleiche unterstreichen eher das Scholochow Eigene. Dieses Eigene erschließt sich über innere Schichten seiner Erzählweise, 64

die einen wichtigen Neuansatz seiner Prosa während des Krieges erkennen lassen. - Die erzählerische Leistung von Ein Menschenschicksal entstand auf der Grundlage dieser wichtigen Erfahrungen. Und welche Bedeutung der Autor selber dem Roman beimißt, kommt darin zum Ausdruck, daß er die Erzählung nach ihrer Veröffentlichung lediglich als „Vorstoß zum großen Gespräch über den großen Krieg" 84 bezeichnete. Auch diese Äußerung beweist, daß sich mit zunehmender historischer Distanz die ursprüngliche künstlerische Idee erweiterte. Fedin sprach noch von einer weiteren Besonderheit der Schreibweise Scholochows, anknüpfend an das Gelöbnis des jungen Tolstoi, nicht nur nicht direkt zu lügen, sondern auch nicht indirekt durch Verschweigen: „Scholochow schweigt nicht, er schreibt die ganze Wahrheit. Die Tragödie verwandelt er nicht in ein Drama, das Drama macht er nicht zu einer spannenden Lektüre . . . Aber die Kraft der Wahrheit ist so stark, daß die Bitterkeit des Lebens, so schrecklich sie auch immer ist, umschlägt, überwunden wird durch den Willen zum Glück, den Wunsch, es zu erringen, und die Freude am Errungenen." 85 Tolstois Wahrheitssuche, sein Streben seit den Sewastopoler Erzählungen, wesentliche Erscheinungen des Krieges und dessen Folgen für die sich im Menschen vollziehenden Wandlungen wahrheitsgetreu nacherlebbar zu machen, beschränkt sich durchaus nicht auf die Fixierung bestimmter Tatsachen, Details, Momente vom Kriegsverlauf und -alltag. Aber auf diese wird häufig die Wahrheitsproblematik in der Literatur über den Krieg reduziert. Die innere Bewegung des Menschen - die Formung einer literarischen Figur und die Spiegelung ihres Verhaltens inmitten einer sich plötzlich verändernden Kampfsituation - zu erfassen, erfordert nicht weniger, wenn nicht sogar mehr Tastsinn für die historische Wahrheit als die Wiedergabe authentischer Tatsachen von den historischen Ereignissen, die exakte Geschichtskenntnisse beim Autor voraussetzt. Der sowjetische Historiker Jewgeni Tarle hat im Vorwort zu einer Ausgabe der Sewastopoler Erzählungen im sowjetischen Kinderbuchverlag 1943 nachgewiesen, daß die von Tolstoi beschriebenen Vorgänge und Details durch historische Dokumente belegt werden könnten. Aber nicht die historische Genauigkeit 5

Thun. Krieg

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bestimme die ästhetische Wirkung dieser Erzählungen im Großen Vaterländischen Krieg, sondern das Verhalten der kämpfenden Soldaten in einer analogen Situation. (Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieser Ausgabe war Sewastopol, das sich im ersten Kriegsjahr monatelang heldenhaft verteidigt hatte, noch von der faschistischen Armee besetzt.) Sie kämpften für die Heimat ist der Versuch, die „Bewegung des Inneren des Menschen" in ihren n e u e n Erscheinungsformen künstlerisch zu entdecken. Hier sind die viel ergiebigeren Quellen einer schöpferischen Weiterführung der Tradition Tolstois zu finden. Und zugleich wird deutlich, wie Scholochow auf seine Weise, kraft des künstlerischen Wortes, eingegriffen hat in das große Streitgespräch, wie über diesen Krieg, über die sowjetischen Menschen im Krieg zu schreiben sei. Schule des Hasses und vor allem die ersten Kapitel von Sie kämpften für die Heimat haben in den schweren Kriegsjahren 1942 und 1943 die Entwicklung der sowjetischen Prosa wesentlich mitbestimmt. Erinnert sei an zwei Szenen. Inmitten eines Sonnenblumenfelds erblickt Strelzow einen gefallenen MG-Schützen, von gelben Blütenblättern bedeckt. Dieses Bild steigt auf dem bedrückenden Rückzug in seiner Erinnerung wieder auf: „Vielleicht war das schön. Aber im Krieg wirkte äußere Schönheit wie Blasphemie . . Z'86 Und einige Seiten weiter die bitteren Gedanken: „So sieht also die Kriegsromantik aus. Das Regiment besteht aus kläglichen Resten, wir haben bloß noch die Fahne, ein paar MGs und Panzerbüchsen, dazu die Feldküche, und da sollen wir eine Verteidigungsstellung beziehen."87 Zwischen beiden Episoden kommt es zum Zusammenstoß Lopachins mit der alten Bäuerin. Diese Szene übertrifft an Härte, Wahrhaftigkeit und Realität ebenso wie an psychologischer Tiefe alles, was beispielsweise Simonow seinerzeit zu diesem Problem geschrieben hat. Walentin Owetschkin notierte am 2. Juni 1943: das hat Scholochow gut geschrieben - die Alte, Lopachin, der General. Über die uns alle tief bewegenden Fragen einfach und klug." Und kritisch fügte er hinzu: „Aber im Streit zwischen Lopachin und Strelzow ist noch nicht alles ausgesprochen.. ," 8 8 Die äußeren Attribute des Krieges vermittelt Scholochow

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vorwiegend über die Innenwelt der jeweiligen Figur. Dadurch wird ein doppelter ästhetischer Effekt erzielt. Einerseits ist jede literarische Gestalt eine einmalige Persönlichkeit nach Lebenserfahrung und -haltung; sie nimmt den Krieg individuell, auf nur ihr eigene Weise wahr und durchläuft einige Entwicklungsstadien, d. h., sie ist stets in innerer Bewegung. Und andererseits wird das gleiche Kriegsereignis von verschiedenen Blickpunkten gespiegelt, zum Beispiel mit den Augen Lopachins und mit denen der alten Frau, so daß ein äußerer Vorgang vom Standpunkt der kämpfenden Armee und von dem der Zivilbevölkerung als ein bedeutender - tragischer wie heroischer - historischer Vorgang im Leben des Sowjetvolkes erscheint. Das „Prinzip der Spiegelreflexion" hat Anatoli Botscharow auch im Figurenaufbau Serpilins nachgewiesen. Bei Simonow liegt jedoch der Akzent stärker auf der gedanklichen Verarbeitung der von verschiedenen Seiten betrachteten Vorgänge, während Scholochow vorwiegend die psychologischen Reaktionen auf die Vorgänge interessieren. Die Naturschilderungen sind bei Scholochow Bestandteil der Beziehung der jeweiligen Figur zur Welt, so beispielsweise die schmerzhaften Empfindungen Swjaginzews, eines Kolchosbauern, beim Anblick der verbrannten Erde, des verbrannten reifen Getreides. Scholochow arbeitet mit diesen Stilmitteln, nicht um die Zerstörungskraft des Krieges an sich durch scharfe Kontraste zu verdeutlichen, sondern um den inneren Reichtum einer Persönlichkeit und ihre Wandlungsprozesse trotz der Zerstörungskraft des Krieges glaubhaft zu machen: die inneren Triebfedern ihres sich festigenden Widerstandswillens, ihren wachsenden Haß gegen den faschistischen Feind, ihre reifere Beziehung zur sozialistischen Heimat. Diese Besonderheit der Schreibweise - die Erforschung der komplizierten Innenwelt des sogenannten einfachen Menschen aus dem Volk - hat, wie wir bereits oben erwähnten, Simonow so tief beeindruckt. Der komplizierte, langwierige Schreibprozeß und die erwähnten Schwächen im Romanaufbau bekräftigen die These: Die Transformation der Erbebeziehung zu Tolstoi ist ein komplizierter, vielschichtiger Vorgang, der sich im Werk Scholochows über verschiedene Phasen erstreckt. Bruch mit einer Traditionslinie heißt nicht Bruch mit deip Erbe Tolstois schlechthin. 5*

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Simonows Weg über die Waffengefährten zur Trilogie führte uns zu ähnlichen Schlußfolgerungen. Seine Studie Bei der Lektüre Tolstois erschließt die Vielfalt der Berührungspunkte wie Divergenzen. Konstantin Fedin, der wiederum auf andere Weise mit diesem Problem konfrontiert wurde, als er den Roman Die Flamme begann, erklärte dieses Phänomen: „Da der Wirklichkeitsstoff ständig in Bewegung ist, muß natürlich auch seine künstlerische Umsetzung im Roman einer Veränderung unterzogen werden . . . Die Realisten hüten die Tradition. Sie erkennen jedoch die Notwendigkeit an, die künstlerische Form in Abhängigkeit von den Fakten des historischen Prozesses zu modifizieren, und sie pressen den neuen Wirklichkeitsstoff nicht in ein altes Gewand." 89 Dieses Neue ist in Sie kämpften für die Heimat, dem ersten Teil, noch schlecht gesehen worden. Der kritische Blick richtet sich meist auf das noch unvollendete Ganze. Der spezifische Blickwinkel der vorliegenden Studie erforderte, weitgehend auf die später konzipierte Gesamtstruktur einzugehen und hier nach den Gründen zu forschen, warum sich die Einzelstücke nur schlecht zum Ganzen formten. Aber dessen ungeachtet soll abschließend nochmals hervorgehoben werden: Die Eigenständigkeit und Originalität des ersten Teils ist im Vergleich zum Stillen Don und zur zeitgenössischen Prosa offenkundig, auch die leidenschaftliche Stellungnahme des Autors - oft durch den Mund seiner Figuren - in der großen geschichtsphilosophischen Auseinandersetzung der Kriegszeit. Scholochow beschönigt in keiner Weise die Schwere der Kriegsereignisse auf sowjetischem Boden im Sommer 1942 - die fast nicht mehr zu ertragenden physischen Anstrengungen und die den Menschen nicht minder bedrückenden harten psychischen Belastungen auf dem blutigen Rückzug bis zur Wolga. Nicht überzeugend ist die Kritik am Stil, an einer vermeintlichen Rhetorik in einigen Passagen der Figurenrede. Die sprachlichen Mittel entsprechen organisch der inneren Verfassung und der bis zur letzten Saite angespannten Haltung der Menschen, sich um den Preis ihres Untergangs nicht von Stimmungen und Gefühlen hinreißen zu lassen. Scholochows Helden bestehen die Bewährungsprobe der Geschichte und erweisen sich in allem - in den Tiefen und Höhen ihres Gefühlslebens und ihres 68

Handelns - als Menschen ihrer Zeit, ihrer Gesellschaft und zugleich als Menschen mit individuellen Eigenarten und Charakteren. Das neue ästhetische Konzept realistischer Kriegsdarstellungen der sogenannten zweiten Welle der endfünfziger und Anfang der sechziger Jahre ist auch in Zusammenhang mit der Leistung von Sie kämpften für die Heimat zu sehen. Die künstlerische Kraft des ersten Teils hält einem Vergleich mit jüngeren Darstellungen stand, die sich durch eine offene Darlegung der tiefen menschlichen Konflikte im vergangenen Krieg auszeichnen. „Wie alle großen Schriftsteller schuf Scholochow seine eigene Welt", schrieb Juri Bondarew zum 70. Geburtstag. „In der objektiven Realität entdeckte er seine Helden, Kollisionen, Konflikte und Lebenserscheinungen, indem er sie durch das eigene Ich hindurchpreßte und sie durch eine individuelle Sehweise bereicherte."90

3 Die genaue Kenntnis dessen, was Hemingway über den zweiten Weltkrieg geschrieben hat, schließt scheinbar völlig aus, daß die eingangs dargelegte Bewunderung für die Schreibweise Tolstois noch in irgendeiner Weise eine nachhaltende Wirkung auf den amerikanischen Schriftsteller ausgeübt hat. Entgegen allen Vermutungen und selber geäußerten Absichten hat er keinen Roman über den zweiten Weltkrieg verfaßt. Das „Große Buch" über den durchlebten Krieg „zu Wasser, zu Lande und zur Luft" ist offenbar nicht entstanden. Die Niederschrift über die Tätigkeit in geheimem Kommandoauftrag vor der Atlantik-Küste ging als dritter Teil, Auf See, in den 1970 postum veröffentlichten Roman Inseln im Strom ein. 1950 gab Hemingway den Roman Über den Fluß und in die Wälder heraus, in dem der zweite Weltkrieg lediglich im Bewußtsein des ehemaligen amerikanischen Brigadegenerals Cantwell reflektiert wird. Die Hemingway-Forscher sind sich in der Wertung dieses Spätwerks ziemlich einig: Der Roman bedeute einen „Schritt zurück" in der künstlerischen Entwicklung des Autors. Hemingway wiederhole sich selbst, das in In einem anderen Land 69

Geschriebene. Solche Pauschalurteile- sind nicht überzeugend, obwohl der Autor in gewisser Weise diesen Leseeindruck provoziert hat. Cantwells Beziehung zu den miterlebten Vorgängen im ersten wie im zweiten Weltkrieg ist nahezu identisch. Der junge Cantwell ähnelt dem jungen Leutnant Henry. Und dennoch ist die sozialkritische Grundstimmung des Buches bitterer, konkreter als in Hemingways erstem Antikriegsroman. Lassen sich nun auf Grund dieser literarischen Tatsachen Anhaltspunkte finden, um überhaupt noch von einer weiterwirkenden inneren Beziehung zur Leistung Tolstois sprechen zu können? Erinnern wir uns: Hemingway erörterte stets in Zusammenhang mit Tolstoi, wie schwierig es sei, wahrhaft über den Krieg zu schreiben. Aufschlußreich ist ein Argument seiner Begeisterung für Krieg und Frieden aus dem Jahre 1934: „ . . . sehen Sie sich die Figuren an, auch die Ereignisse, und wie wahr und wichtig sie geblieben sind." 91 Es liegt jedoch die Vermutung nahe, daß es ihm nach dem in der US-Armee Erlebten unmöglich schien, w a h r h a f t über den zweiten Weltkrieg zu schreiben. Hemingway hatte den Krieg zu Wasser, zu Lande und zur Luft miterlebt. Im Sommer 1942 operierte er in geheimem Kommandoauftrag auf seiner Privatjacht vor der Küste zwischen den Bahamas und Kuba auf der Suche nach versprengten deutschen U-Booten. 1944 fuhr er als Korrespondent nach England und flog auch mit amerikanischen Aufklärungsflugzeugen Feindeinsätze. Und schließlich schloß er sich den Landungstruppen in der Normandie an, nahm am Vormarsch auf Paris und an den Kämpfen an der „Siegfriedlinie" teil. Hemingways Reportagen jener Zeit legten den Gedanken nahe, daß gerade er wie kein anderer von den bekannten amerikanischen Schriftstellern prädestiniert gewesen wäre, einen Roman über den Krieg in Europa, die unmittelbare Konfrontation mit den Truppen Hitlerdeutschlands zu verfassen. Die Absicht bestand. Das kam auch in einem Brief an Konstantin Simonow vom 20. Juni 1946 zum Ausdruck. Aber dennoch wurde das Vorhaben nicht verwirklicht. Warum? Wichtige Aufschlüsse geben Hemingways Frontberichte aus Frankreich 1944: der Vergleich der „Männer, die in die 70

Schlacht gehen", mit „mittelalterlichen Landsknechten" 92 ; die ungeschminkte Einschätzung der Beziehungen der Soldaten untereinander: „Sind gute Kerle . . . Der beste Haufen, den ich je erlebt habe. Keine Disziplin, das gebe ich zu, und die ganze Zeit die Trinkerei. Auch zugegeben. Aber schlagen tun sie .sich. Und keiner schert sich darum, ob einer umkommt oder nicht" 93 ; die schroffe Gegenüberstellung von Mannschaft und Offizieren in Der Soldat und der General aus mangelnder Einsicht der Soldaten in den Sinn des Tötenmüssens und Selbstgetötet-Werdens; schließlich die grausigen Kämpfe am Westwall - „eine regelrechte Rattenjagd", bei der die SS aus ihren Bunkern ausgeräuchert wurde. Diese Geschichte habe „sogar etwas Episches an sich" 94 , fügt Hemingway hinzu, vielleicht werde sie mal im Kino zu sehen sein. Die amerikanische Literatur hat sich indes dieses epischen Stoffes nie angenommen. In Hemingways Werk fand sie eine eigenwillige komplizierte Transformation. In den Reportagen finden wir bereits zwei wichtige Grundmotive: „Der wirkliche Krieg ist anders als auf dem Papier davon zu schweigen, daß er sich anders liest, als er aussieht", 95 und die bereits zitierte Charakterisierung der Soldaten - der bestürzende Verlust an humanistischen Werten, der den Autor zutiefst erschütterte, die bedrückende Einsamkeit des einzelnen selbst inmitten der anderen. Das Verhältnis des amerikanischen Soldaten zur Umwelt, in vielen Fällen zum Soldaten neben ihm, war gestört. Dadurch hatte er keinerlei Spielraum zur Entfaltung seiner Persönlichkeit im militärischen Kampf gegen den Faschismus. In der Zeit des kalten Krieges verfestigte sich dieses Empfinden bei Hemingway, zumal sich unter dem Druck der McCarthy-Ära der Charakter des von den USA geführten Krieges - eines imperialistischen, aber wohlgemerkt antifaschistischen - immer mehr verflüchtigte. Im Bewußtsein des amerikanischen Volkes hatte er bereits zu Kriegszeiten eine untergeordnete Rolle gespielt, war doch das Land selbst vom Krieg verschont geblieben. Und schließlich wurde er auch in der Erinnerung als ein wichtiges historisches Ereignis immer schwächer reflektiert. So schreibt Gore Vidal im Jahre 1960: „Der Krieg war für die meisten von uns von höchster Belanglosigkeit; ein Trauma für einige vielleicht, aber für die meisten 71

nicht mehr als eine Störung."96 Äußerungen dieser Art veranlaßten Daniii Granin zu der ihn zutiefst erregenden Frage: „Vielleicht war das ein anderer Krieg?" 97 Trotz der in Hemingways Schriften dominierenden Abneigung gegen die deutschen Faschisten, des Hasses auf die „Krauts", deren Untergang er mit beschleunigen wollte, hatte er nichts mit dem spanischen Bürgerkrieg Vergleichbares erlebt. Das erklärt auch, warum er von der eigenen Leistung in Wem die Stunde schlägt abrückte. Erinnern wir uns der Worte Scholochows: „ . . . da bedarf es noch einer Idee, um deretwillen dieser Krieg dargestellt wird." Eine solche tragfähige Idee fand Hemingway jetzt nur noch in der Negation. In Über den Fluß und in die Wälder ist der Krieg ein Trauma. Weder Autor noch Held stoßen zu neuen geschichtsphilosophischen Einsichten vor. Im Rahmen dieser Studie kann der Gesamtkomplex der wirkenden sozialhistorischen Faktoren zur Entstehungszeit des Romans einschließlich des literarischen Umfelds und der wirkungsästhetischen Absicht- sie stand immer in Hemingways Blickfeld! - nicht erläutert werden. Ferner muß berücksichtigt werden, was Hemingway 1939 an den sowjetischen Literaturwissenschaftler Iwan Kaschkin geschrieben hat: Eine Erzählung bringe niemals ganz seinen Autorenstandpunkt zum Ausdruck - das sei alles viel komplizierter. Über den Fluß und in die Wälder ist kein autobiographischer Roman und dennoch ein Stück verschlüsselte Lebensbeichte, das trotz der reinen Fiktion mehr Wahrheit über den Autor enthält als die verbreitete Hemingway-Legende. Erzählt wird die Geschichte von der Liebe eines amerikanischen Obersten, eines degradierten Generals, zu einer jungen Italienerin. Er weiß, daß er nicht mehr lange leben wird. Und auch das Mädchen weiß das. Und sie will, daß er aus dem Teufelskreis seiner Kriegserinnerungen ausbricht, indem er über sie spricht. So wird Schicht für Schicht von der bedrückenden Vergangenheit abgebaut. Mal spricht der Oberst wie ein Leutnant, d. h. wie der in Italien kämpfende Leutnant vom ersten Weltkrieg, und mal wie ein General, das heißt wie der in Frankreich kämpfende General vom zweiten Weltkrieg und mal wie der degradierte General der Jetztzeit, nach dem Krieg. 72

Alle drei Zeitebenen brechen sich in seinem Bewußtsein. Obwohl über der Jugend eine gewisse Verklärung liegt, so rührte bereits von damals das ehrliche, anständige „Haßgefühl auf all die, die durch den Krieg profitierten" 98 . Ein symbolischer Akt des vernichtenden Urteils, das über die Vergangenheit gefällt wird, ist die Vergrabung eines Zehntausendlirescheins (zwanzig Jahre Ehrensold für die italienische Tapferkeitsmedaille) an der Stelle, wo er 1918 verwundet worden war. Doch noch weitaus schlimmer ist das, was ihn seit den Kämpfen in Frankreich belastet. Und die Last dieser Erinnerung ist sein Tod. Auch das Sprechen löst nicht die Bitterkeit. Vergebens fragt ihn das Mädchen nach etwas wirklich Heldenhaftem oder Schönem, beispielsweise bei der Einnahme von Paris. Geblieben ist nur sein verbranntes, ausgeglühtes Herz. Aber in diesem Kriegshandwerk habe man kein Herz zu haben. Der Oberst findet für das Waffenhandwerk nur Ausdrücke wie „sale métier", „triste métier". Mit der US-Armee - „jetzt das größte Geschäftsunternehmen der Welt" 99 - verbindet ihn nichts. Er verabscheut die Motive wie die Methoden, mit denen seitens der USA Krieg geführt wurde. Die einzige gute Erinnerung ist die an „all die großartigen Leute in der Widerstandsbewegung"100. Aber von ihnen spricht er nicht. Die Ansichten des Obersten sind mit denen des Autors keineswegs identisch. Aber der widersprüchlichen Haltung der literarischen Zentralfigur liegt offenbar ein von Hemingway selber nicht gelöster Konflikt zugrunde. Der sowjetische Amerikanist Moris Mendelson bemerkt, Hemingway habe sich in diesem Roman die Fähigkeit bewahrt, das, was er sieht, sehr deutlich zu beschreiben. „Aber sein Blick", so heißt es weiter, „dringt nicht tief genug in die dicken Schichten des Lebens ein. Man spürt: Irgend etwas hindert ihn daran, von dem unlängst abgeschlossenen Krieg mit ganzer Kraft zu sprechen."101 Der Romantext hellt einige Zusammenhänge auf, gibt jedoch keine eindeutige Lösung. Die Wahrheit über den Krieg sagen oder schreiben ist ein mehrfach variiertes Motiv. Das summarische Urteil lautet: „Jungens, die sensitiv waren und 'n Knax abkriegten, die all die zwingenden ersten Eindrücke ihres einen Kriegstages oder ihrer drei oder selbst vier Tage behalten haben, die schreiben 73

Bücher. Es sind gute Bücher, können aber langweilen, wenn man dabei gewesen ist. Dann schreiben andere, die vom Krieg, den sie nicht mitgemacht haben, schnell profitieren wollen,. ." 102 Diese „Geschichten der Lügner", wie er sie an anderer Stelle nennt, langweilen diejenigen nie, die den Krieg nicht mitgemacht haben. Zu den ersteren gehören wohl Autoren wie Norman Mailer, Gore Vidal, John Hörne Burns und Irwin Shaw, die gleich nach dem Krieg ihre ersten Bücher veröffentlichten, und zu den letzteren Leute des Schlages eines Herman Wouk, der nunmehr schon zwei Jahrzehnte solche Produkte einer auf Abenteuer getrimmten Unterhaltungsliteratur auf den Markt wirft, von Die Meuterei auf der „Caine" (1951) bis zu dem vom Verlag als „Weltbestseller" angepriesenen Roman Die Winde des Krieges (1971). Gewiß, einen Wouk konnte Hemingway damals noch nicht gekannt haben, aber in der Tendenz vertritt er die von Hemingway angeprangerte Richtung. Hemingway empfand weder für die einen noch für die anderen sonderliche Sympathie, um so mehr, da gerade einige Jüngere zum Teil dem Irrtum verfallen waren, ä la Hemingway ließe sich am besten und auch am leichtesten über den vergangenen Krieg schreiben. Sie übernahmen meist nur epigonenhaft die oberflächlich verstandene Schreibtechnik, ohne das tiefe Anliegen seiner Erzählweise zu begreifen. Die scharfe innere Polemik mit der literarischen Öffentlichkeit in den USA ist unverkennbar. Der Oberst fragt sich: Wahrhaft über den Krieg sprechen? Wem nützt und wem schadet es? „Fast jeder Lügner kann überzeugender darüber schreiben als ein Mann, der dabeigewesen ist." 103 Er habe kein Talent dazu, und außerdem wisse er zu viel. Dieses Zuviel an Wissen bricht an einigen Stellen der Beichte des vom Tode Gezeichneten mit unverhüllter Offenheit und Härte durch: „Richtige Soldaten sagen keinem Menschen jemals, wie die eigenen Toten ausgesehen haben . . ," 104 „Falls ein Mann ein Gewissen besitzt, könnte er mal über Luftkrieg etwas nachdenken." 105 Und da ist die schreckliche Geschichte von der riesigen Menge weißen Phosphors, die auf eine deutsche Stadt (vermutlich Aachen) vor ihrer Besetzung geworfen wurde. Tausende solcher Geschichten könnte er erzählen. Aber einen neuen Krieg würden auch sie nicht verhindern. Und wer schert sich denn 74

noch um den Krieg? Und war Wahrheit überhaupt noch gefragt? Und hinzu kam die bittere Erfahrung: „Wenn ein Mann erst einmal einen Stern oder mehrere hat, wird es ihm so schwer gemacht zur Wahrheit durchzudringen wie zum Heiligen Gral zu Zeiten unserer Vorfahren." 106 Der Oberst, gewesener General, resigniert. Und mit seinem Helden resigniert der Autor. Das ist eine völlig veränderte Erzählhaltung im Vergleich zum ersten Antikriegsbuch In einem anderen Land, aus den endzwanziger Jahren, als die sich zuspitzende Weltlage Schriftsteller verschiedener Nationen dazu drängte, an die historischen Lehren des ersten Weltkrieges zu erinnern - als Mahnung für die Lebenden. Und im Spanienbuch Wem die Stunde schlägt war sie wiederum eine ganz andere. Da war jede Seite durchdrungen von dem leidenschaftlichen Appell, mit der Waffe in der Hand gegen den Faschismus zu kämpfen. Konstantin Simonow sieht in Hemingways Einstellung zum zweiten Weltkrieg die „logische Folge seiner Teilnahme am spanischen Bürgerkrieg" und zieht daraus die Schlußfolgerung: Als fünf Jahre nach Beendigung des zweiten Weltkrieges Hemingway, erfüllt von bitteren Kriegserinnerungen, Uber den Fluß und in die Wälder schrieb, habe er trotz aller Bitterkeit dieser Erinnerungen nicht das Entscheidende angezweifelt. Der Faschismus konnte nur auf eine einzige Weise bezwungen werden - wenn man ihn mit der Waffe niederzwingt.107 Simonows Lesart stößt jedoch nicht bis zum kritischen Punkt des Romans vor. Die bittere Wahrheit des Romans - für den Autor nicht bis auf den Grund aussprechbar, geschweige denn aufschreibbar ist die einer einzigen literarischen Figur. Mehr wird über den von den USA geführten Krieg in Westeuropa nicht gesagt. Da wird auch an keiner Stelle die Befreiung des französischen Volkes vom Faschismus erwähnt, obwohl doch der Oberst mit den französischen Widerstandskämpfern mitfühlte, sie mochte. Da ist nirgends auch nur andeutungsweise die Rede von dem Ergebnis des zweiten Weltkrieges, das bei einem solchen Romanstoff mit zu reflektieren gewesen wäre. Auch dieser Weltkrieg erscheint wie der vorangegangene sinnlos. Der Kampf gegen den deutschen Faschismus tritt in den Hintergrund. Über die eigene Tragik, das eigene Erleben geht der Blickwinkel des 75

Obersten nicht hinaus. Und das ist in gewisser Hinsicht auch die Tragödie des Schriftstellers Hemingway, um hier den Titel der Studie von Moris Mendelson abzuwandeln. Im Vergleich zu bereits früher künstlerisch Entdecktem fand er keine neuen ästhetischen Lösungen, um zu gestalten, wie die Widersprüchlichkeit beider durchlebter Weltkriege die Psyche und Lebenshaltung eines amerikanischen Offiziers überschattet. Uber den Fluß und in die Wälder ist eine Elegie, vorwiegend in Dialogform verfaßt. Alle Begebenheiten werden aus der Figurenperspektive des Obersten erzählt. Das rein Emotionale dominiert. Hemingway wollte seinem - von Tolstoi beeinflußten - Grundsatz treu bleiben, „so wahrhaft, so aufrichtig, so objektiv und so anspruchslos wie nur irgend möglich zu schreiben". Aber in dem soeben durchlebten Krieg entdeckte er nichts Wichtiges, nichts Bleibendes, keinen epischen Stoff. Haben wir es folglich nicht mit einem literarischen Beispiel zu tun, da, das Vorbild Tolstoi vor Augen, eine Geschichte in antitolstoischer Weise aufgeschrieben wurde? Die Bewunderung für Tolstoi war bei Hemingway bis zuletzt nicht verblaßt. Nicht zufällig erinnert er in Paris - ein Fest fürs Leben (1957-1960 verfaßt, 1964 postum veröffentlicht) daran, wie er bei Tolstoi das erste Mal über den wirklichen Krieg gelesen hatte. Was aber war der eigentliche Grund, der ihn daran hinderte, so zu schreiben, wie er es im Vorwort zur eingangs erwähnten Anthologie Menschen im Krieg formuliert hatte? „Es ist die Aufgabe des Schriftstellers, die Wahrheit zu erzählen. Sein Maß an Wahrheitstreue müßte so groß sein, daß seine Erfindungskraft jenseits der Erfahrung einen wahreren Bericht hervorbringt, als es je Fakten vermögen. Denn Fakten können schlecht beobachtet sein; aber wenn ein guter Schriftsteller etwas schafft, dann hat er Zeit und Spielraum, daß es aus absoluter Wahrheit beschaffen ist." 108 Dieses hohe Maß an Wahrheitstreue hat Hemingway in Über den Fluß und in die Wälder nicht erreicht. Die meisten Forscher erklären das mit einem „Verlöschen" seiner Schaffenskraft. Ausgenommen davon wird nur die wunderbare Erzählung Der alte Mann und das Meer (1952). Aber überzeugt das? Ist nicht an einer solchen Verengung des Blickwinkels das eigene Kriegserlebnis des Autors maßgeblich beteiligt, das sich 76

grundlegend von seinen Eindrücken im spanischen Bürgerkrieg unterschied? Zeitgenossen berichten, daß Hemingway in Frankreich eine eigene, oft gegen die Armeeführung gerichtete Position bezogen und sogar auf eigene Faust gehandelt habe, zusammen mit französischen Widerstandskämpfern, um ein unnötiges Blutvergießen und unnötige Zerstörungen zu verhindern. Das Gefühl, mit einem kämpfenden Volk, mit einer kämpfenden Truppe auf Leben und Tod verbunden zu sein, hat ihm jedoch gefehlt. Und nach dem Krieg, in der bereits beschriebenen komplizierten politischen Situation in den USA kam es auch bei ihm zu einer Desillusionierung, einer tiefen Enttäuschung. Hemingway hat in einigen Briefen ganz genau zwischen dem Charakter des Krieges unterschieden, den er als junger Mensch und den er in Spanien mitgemacht hatte. Das Spanienerlebnis, obwohl es mit einer bitteren Niederlage endete, verband sich in seiner Erinnerung mit einem gerechten Kampf, in dem die besten sittlichen Eigenschaften des Menschen mobilisiert wurden. Der zweite Weltkrieg hingegen weckte in ihm widerstreitende Gefühle. In dem bereits erwähnten Brief an Simonow vom 20. Juni 1946 wird der Widerspruch zwischen einigen Höhepunkten des Krieges auf französischem Boden 1944 und der Verschärfung der internationalen Nachkriegssituation durch Churchills Rede in Fulton vom 5. März 1946 deutlich ausgesprochen. Im Nachhinein mußte Hemingway an der Aufrichtigkeit der Motive zweifeln, die die USA und Großbritannien bewogen hatten, an der Seite der Sowjetunion gegen Hitlerdeutschland Krieg zu führen. Hemingway k o n n t e einfach nicht, als er den Roman Über den Fluß und in die Wälder schrieb, diesen Widerspruch übersehen. Er teilte Simonow mit, daß die Befreiung Frankreichs und vor allem der Hauptstadt Paris die glücklichste Zeit gewesen sei, die er erlebt hat, trotz der Schrecken des Krieges. Erstmalig habe er erfahren, wie man sich fühlt, wenn die eigenen Truppen siegen. Hemingway hatte dieses Empfinden an der Seite der französischen Widerstandskämpfer. Cantwell, seine zentrale Figur, geriet als General in Konflikt zur amerikanischen Armeeführung, und zwar weitaus früher, noch im Verlaufe der sehr harten Kämpfe. Die persönliche Verbitterung überschattete daher sehr bald die innere Befriedigung und Freude, die er hatte, als er nach Paris 77

kam, als er spürte, was es heißt, an der Befreiung eines Volkes von faschistischer Okkupation teilzuhaben. Die Logik des Figurenaufbaus überzeugt. Hemingway nutzte jedoch nicht die Möglichkeit, genauer: die Notwendigkeit, die Autorenperspektive von der Figurenperspektive abzuheben. Sie sind schließlich beide identisch. Dadurch ist der Blick auf die komplizierten, widersprüchlichen Erscheinungen des beschriebenen Krieges und auf seine große geschichtliche Bedeutung und Ausstrahlung versperrt. Gegen Ende des Vorworts zur Anthologie äußerte Hemingway einen wichtigen Gedanken (bezeichnenderweise wurden diese Passagen in der 1966 in Großbritannien nachgedruckten gekürzten Fassung109 ausgelassen): Zu Beginn eines Krieges könne eine Regierung das Volk sehr leicht irreführen und sein Vertrauen erringen. Aber nach dem Sieg kommen dann Millionen von den Kampfschauplätzen zurück, und sie wissen genau, wie alles war. Wenn eine Regierung das Vertrauen ihres Volkes nicht verlieren wolle, so müsse sie es in ihr Vertrauen ziehen, ihm alles sagen, Gutes und Schlechtes, vorausgesetzt, dieses Wissen helfe nicht dem Feind. Fehler verschleiern, um Menschen zu schonen, die sie begangen haben, habe nur den Verlust des Vertrauens zur Folge. Und das sei eine der größten Gefahren für eine Nation. „Ich bin überzeugt", heißt es weiter, „daß unsere Regierung, wenn der Krieg Fortschritte macht, die Notwendigkeit erkennen wird, dem Volk die Wahrheit zu erzählen, die ganze Wahrheit, nichts als die Wahrheit Und in dieser Hoffnung sah sich Hemingway betrogen. Die Summe aller dieser Faktoren beeinflußte Stoff- und Figurenwahl, Erzählweise und -pathos des Romans. Etwas anders verhält es sich mit dem Roman Inseln im Strom, zu dessen Veröffentlichung sich Hemingway nicht entschließen konnte. Für den Gegenstand der vorliegenden Studie ist nur der letzte Teil von Interesse, die vergebliche Suche des Thomas Hudson, eines Malers, nach der Mannschaft eines deutschen U-Bootes. Auch er will in diesem Krieg eine nützliche Sache tun. Aber der Widerspruch zwischen humanistischer Lebenseinstellung (er haßt das Töten) und der Jagd nach versprengten Deutschen ist hier noch gravierender als bei Oberst Cantwell, der immerhin Berufsoffizier war. Die Motive seines. 78

Handelns bewegen sich zwischen dem Ausbruchsversuch aus seiner Vereinsamung und der Überwindung des tiefen Leids, das ihn mit dem Verlust seines ältesten und letzten Sohnes betroffen hat. Die Realia des Krieges sind in einem Unternehmen aufgelöst, das harte Arbeit ist, aber dabei alle Züge eines Abenteuers trägt. Als Auftakt zum geplanten „Großen Buch" über den vergangenen Krieg konnte Hemingway dieses Stück Prosa wohl kaum weiterführen. (Allerdings ist unbekannt, ob sich im Nachlaß noch weitere Stücke dazu befinden.) 1 1 1 Außerdem kreuzten sich bei der Herstellung des Manuskripts zwei mehrbändige Vorhaben: das erwähnte „Große Buch" und ein Romanzyklus über das Meer, Weder das eine noch das andere wurden realisiert. Es könnte sogar vermutet werden, daß sich das zweite über das erste schob und damit dem dritten Teil Auf See einen völlig anderen Charakter als den ursprünglich beabsichtigten verlieh. Hemingway betrachtete den Krieg als ein Übel, war jedoch überzeugt, daß Kämpfen mitunter notwendig ist. Von allen Kriegen, die er mitgemacht hatte, konnte er nur über den spanischen Bürgerkrieg in der Tolstoischen Tradition schreiben, so wie er sie verstanden hatte, obwohl gerade dieser Krieg nicht mit einem Sieg endete. Damals hatte er sich als Teil einer großen progressiven gesellschaftlichen Bewegung empfunden. Und dieses Empfinden war die Voraussetzung, um den inneren Reichtum eines Robert Jordan zu erschließen. Hingegen hat der zweite Weltkrieg, aus dem die U S A als eine der Siegermächte hervorgingen, ihn nicht mehr diese Einheit von gesellschaftlicher Bewegung und persönlichem Schicksal erleben lassen. Die von ihm gezeichneten Figuren sind wieder in ihr eigenes Ich zurückgeworfen, im Widerstreit mit den Zeitereignissen und vor allem mit den politischen Kräften, die Kriege machen und Kriege führen. Sie sind vereinsamt inmitten der Menschen, die Gleiches tun wie sie - kämpfen. Schließlich fehlte dem Autor auf Grund der komplizierten politischen Nachkriegssituation in den USA das wichtige Gefühl, d a ß sein Wort, das wahre Wort des Schriftstellers über den letzten Krieg, gebraucht wurde. Und so stellte sich nicht die enge Verbindung von Stoff, Idee und epischer Leistung ein, die ihm seit der Lektüre Tolstois erstrebenswert erschienen war.

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Im Werk der Anna Seghers kam es zu einer direkt entgegengesetzten Beziehung zwischen Impuls und eigener Kunstleistung. Die Seghers-Forscher der D D R sehen einen Zusammenhang zwischen der Hinwendung der Autorin zum großen Gesellschaftsroman mit dem Beginn der Arbeit an Die Töten bleiben jung (1949) und ihren bereits im Exil betriebenen Studien der Arbeitsweise Tolstois. Ihre eingangs zitierten Gedanken belegen den dialektischen Vorgang des Sich-Abstoßens von der Methodik Tolstois und des Auffindens eines eigenen Bezugspunkts zur Bilanzierung der deutschen Geschichte nach der Zerschlagung des deutschen Faschismus. Anna Seghers fand bei Tolstoi vieles heraus, was auch sie trotz anderer historischer Erfahrungen bewegte, wozu sie sich aber auf Grund des anderen historischen Stoffes und ihres eigenen Standpunktes selbständig Lösungen zurechtlegen mußte: Befreiung der Jugend von der (napoleonischen/faschistischen) Machtidee, das Bewußtwerden von Schuld und Sühne, die Gewinnung eines Volksbegriffes, „nicht mehr statisch . . . in prädestinierter Macht, sondern dynamisch, zusammenwachsend in leidenschaftlichen Kämpfen, in einer Entwicklung durch Widersprüche"112, das Verhalten der Menschen in einer entscheidenden geschichtlichen Prüfung, das Glaubhaft-Machen eines jeden Menschen „aus seinem Alltag heraus bis er im Krieg auf dem ihm entsprechenden Platz steht" 113 und immer wieder das Grundproblem literarischen Schaffens von „Eingebung" und „Auftrag". Die Toten bleiben jung ist ein Beispiel dafür, wie der „geschichtliche Ort" und die „geschichtliche Funktion" 114 des Romans über ein reiferes Erbeverständnis der Autorin die Erkundung neuartiger erzählerischer Möglichkeiten abforderten. Die bereits oben erwähnte „Rücktransportierung des Werks auf die Realität" als Aufgabe und Auftrag im Blickfeld, konnte sie von Tolstoi weder die Methode, noch den Stil, noch irgendwelche künstlerische Mittel übernehmen. Aber das Studium von Methode, Stil, künstlerischen Mitteln in Tolstois Roman Krieg und Frieden half ihr an einem bestimmten Punkt der Entwicklung, die eigene Schreibweise auf ein neues Ziel hin weiter auszubilden. (Auf die von Kurt Batt dargelegten „höchst unterschiedlichen Anregungen" von verschiedenen Kunstrichtungen und Autoren „als Bestätigung erahnter Möglichkeiten, 80

des großen Stoffes der Toten bleiben jung gestalterisch Herr zu werden"115, kann an dieser Stelle nur verwiesen werden.) Bei der Intensität, Dauer und Vielschichtigkeit ihrer Tolstoi-Studien dürfte es schwerfallen, eine Dominante bei der Beschäftigung mit dem Werk des großen russischen Realisten zu benennen, zumal das Interesse zu verschiedenen Zeiten verschiedenen Seiten galt. In der Studie Tolstoi aus verschiedenen Aspekten (1963) hat Anna Seghers das sehr genau beschrieben und in dem Satz zusammengefaßt: „Warum ein einzelner Mensch je nach seiner Lage - die mit seinem Alter oder mit den gesellschaftlich-politischen Umständen wechselt, in denen er steht - Tolstoi anders liest, bestimmte Seiten seines Werks bevorzugt, andere Teile geradezu ignoriert, fast als wären sie nicht gedruckt, kann man bis zu einem gewissen Grad seinen eigenen Erfahrungen entnehmen."116 Es soll lediglich die Beziehung untersucht werden, die zwischen ihrer Neuentdeckung Tolstois im Krieg und dem Roman Die Toten bleiben jung besteht. Und noch enger gefaßt: Gefragt wird nach dem Besonderen, wie nach Ansicht der Anna Seghers Tolstoi einen nationalen Befreiungskrieg darstellte, und den Anstößen für sie als antifaschistische Schriftstellerin, Menschen im Krieg - wohlgemerkt deutsche Menschen in der Verstrickung in einen faschistischen Eroberungskrieg - darzustellen. Analysiert werden daher nur die Kapitel, die sich auf diesen Krieg beziehen. Anna Seghers war der Auffassung, daß große geschichtliche Bewegungen künstlerisch über das „Innere des Menschen" zu erschließen sind. Gerade das vermißte sie in Fühmanns Dichtung Fahrt nach Stalingrad, das Konkrete, das in den Menschen am Anfang ihrer Wandlung vor sich ging. Und das faszinierte sie bei Tolstoi: „Er hat sein ganzes Volk dargestellt, so dargestellt, daß wir begreifen, warum es die Kraft hatte, sein Land zu befreien. Er hat den einzelnen russischen Menschen so dargestellt, daß wir den jeweils besonderen Anteil des einzelnen an der Befreiung begreifen. Die Schnittpunkte zwischen dem Ablauf der historischen Handlung und dem Ablauf eines privaten Schicksals wirken wie die Schnittpunkte von Notwendigkeitslinien, die wir von Anfang an verfolgt haben."117 Solche Schnittpunkte sind Bewährungsproben. Für 6

Thun, Krieg

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Andrej Bolkonski kam sie „erst mit der tödlichen Wunde"11®. Diese Gedanken schrieb die Autorin schon nach der Veröffentlichung von Die Toten bleiben jung und während der Arbeit an Die Entscheidung auf. Aber das Problem beschäftigte sie bereits bei der Niederschrift des Romans Die Toten bleiben jung, allerdings mehr intuitiv und noch nicht mit der späteren Klarheit. Anna Seghers stand vor einer besonders komplizierten Aufgabe: Wie konnte der Faschismus in das Bewußtsein der überwiegenden Mehrheit des Volkes eindringen? Und wo lagen noch im Faschismus die Wurzeln der Befreiung von dieser Ideologie? In Abwandlung dessen, was sie in der FühmannRezension zum Imperialismus schrieb, war für sie auch der Faschismus nicht „wie der Satan im Mittelalter: der Mensch wird plötzlich vom Satan verführt" 119 . Sie ging den Ursachen nach, in Menschen verschiedener sozialer Schichten. In den Vordergrund schiebt sich das historische Gewordensein des einzelnen in einer fest umrissenen Konstellation gesellschaftlicher Kräfte. Der von Sigrid Bock analysierte Aufbau der epischen Welt, „die Zerlegung der Romanhandlung in einzelne simultan geführte Handlungsstränge"120, ermöglichte, ein Bild von der gesamten Gesellschaft zu entwerfen, die in ihren Widersprüchen vom Leser über Einzelschicksale erfaßbar wird. Die große geschichtsphilosophische Polemik, in die sich die Autorin mit ihrem Werk einschaltete, berührt die Frage von Schuld und Sühne, vom Beteiligtsein an der „ganzen Gemeinheit" des Hitlerfaschismus und von der Möglichkeit, nach all dem „noch mal ganz von vorn anfangen" 121 zu können; ein Problem, das sie wiederum ganz tief im Handeln und Denken - Sein und Bewußtsein - jeder Figur ansetzte. Sie strebte eine Synthese beider Darstellungsarten - der „direkten" und der „indirekten" - an, analog zu Krieg und Frieden und Schuld und Sühne. Der dialektische Figurenaufbau von Hans, dem Sohn der Marie und des meuchlings ermordeten Spartakuskämpfers Erwin, erfolgte im Spannungsfeld dieser beiden Pole. Häufig wird nur eine Komponente untersucht. So verfolgt Peter Keßler in der Arbeit Anna Seghers und die klassische russische Literatur am Beispiel des Gewissenskonflikts des 82

Hans Geschke nur die Metamorphosen von „Schuld und SühneSzenen". Er fügt zwar hinzu, Anna Seghers habe es nicht unterlassen zu zeigen, „wie die Kraft des Gewissens des einzelnen nicht ausreicht, in den welthistorischen Klassenauseinandersetzungen des 20. Jahrhunderts Entscheidungen herbeizuführen" 122 . Aber mit dem Beleg von literarischen Bezügen zu Dostojewski ist die komplizierte Dialektik dieser Figur nicht zu erklären. Ebensogut könnte ein Vergleich zu dem Gespräch zwischen Andrej und Pierre am Vorabend der Schlacht von Borodino angestellt werden. Da müssen die gesamten Traditionsbeziehungen zur russischen klassischen Literatur, zu Dostojewski und Tolstoi, u n d vor allem die eigene schöpferische Lösung in die Analyse einbezogen werden. Hans war keiner von den Nazis, er stand auf der anderen Seite. Die Nazi-Ideologie war nicht in sein Inneres eingedrungen, und doch war auch er schuldig geworden, hatte er im sowjetischen Land „wirklich auf sie geschossen"123. In ihm bohrte die schreckliche Frage, wie es dazu kommen konnte, daß er schon viele tausend Kugeln abgeschossen hatte, auf denen allen eingeritzt war: Hans. Und viel schlimmer noch als das war die Gewißheit, daß er immer wieder neu seine Überzeugung verraten wird. Die innere Vereinsamung bedrückte ihn immer mehr: „Im Krieg war man allein unter Millionen . . ." 124 Davon wußte höchstens einer - Zimmering. Und der Preis, mit dem er zahlte, war der Verlust des eigenen Ich, der Haß auf das „doppelt gelebte Leben, er wollte er selbst sein"125. Der tiefe Gewissenskonflikt wird verschärft durch den Widerspruch, nicht gegen die Macht aufkommen zu können und gleichzeitig vergessen zu haben, „daß er das selbst war, der Schrecken des Krieges"126. Und schließlich die Erkenntnis: „Daß soviel Mord und Brand aus den Menschen herauskam, wenn man nur auf den Hebel drückte, das hatte er nicht g e w u ß t . . . Er hätte es aber wissen müssen."127 Wo aber war der Ausweg? Hatte Zimmering mit seiner Warnung recht, er, Hans, müsse gehorchen, sonst werde er erschossen? Dann scheide er aus und könne keinen mehr auf die andere Seite bringen. Oder war da nicht die viel größere Gefahr, daß die zweifach gelebten Leben - das eine nach außen und das andere nach innen - plötzlich doch 6*

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an einem Punkt ineinander gehen? Anna Seghers gibt keine pauschale Lösung des Zwiespalts, sie „läßt nur die Forderung stehen, daß er überwunden werden muß" 128 . Von Hans erfährt der Leser zum Schluß nicht viel mehr, als daß er auf Verdacht wegen Absonderung - er drängte zur Entscheidung - erschossen wird. Sein Tod wird von Wenzlow, bevor er sich selbst eine Kugel in den Kopf schießt, in einem symbolhaften Bild reflektiert: „Sie hatten ihn umgelegt und verscharrt. Wie aber war er jung geblieben. Wahrscheinlich waren längst alle tot, die damals mitgemacht hatten . . . Wie aber war er jung geblieben! Die Nazis hatten gerade ihm den Himmel auf Erden versprochen, er hatte sich aber nichts vormachen lassen. In allen Mühlen hatten sie ihn zermalen, seine Knochen hatten geknirscht; sie hatten ihn in den Krieg geführt, von Schlacht zu Schlacht; er hatte sich aber nicht totschießen lassen; er war jung geblieben. Auch jetzt, wo alles verloren war, war er bereit, noch einmal alles auf eine Karte zu setzen."129 Die Figur des Hans zeigt einerseits die fatalen Grenzen von Halbheiten, Verrat am Gewissen läßt sich mit Selbstentschuldigung unter Berufung auf die Macht nicht zudecken. Und andererseits hebt der Mord an Hans die zeitweilig zweifach gelebten Leben in einem einzigen Leben zwischen Geburt und Tod wieder auf. Mit ihm verknüpft die Autorin das „Titelund Rahmenmotiv des Romans" - „zum Leitsymbol erhöht", vertieft es die Epochendarstellung und vermittelt Zukunftsgewissenheit.130 Zwar spricht sie ihn nicht frei von Schuld, aber sie entläßt ihn am Ende des Romans wieder aus der Schuld. Die Funktion des Werks ist vorwiegend an seine Gestalt gebunden, im deutschen Leser den Prozeß des Umdenkens und der Umwertung der eigenen Geschichte nach 1945 zu befördern. All das, was Hemingway an Tolstoi so bewunderte und was in seinem Werk Spuren hinterließ, „die Truppenbewegungen, das Terrain und die Offiziere uild die gewöhnlichen Soldaten und die Schlachten", der „Krieg, wie er wirklich war" 131 , spielte bei der Tolstoi-Rezeption der Anna Seghers eine untergeordnete Rolle. Der Krieg selbst wird von ihr nicht dargestellt, aber was der Krieg im Menschen anrichtet. Erinnern wir uns ihres 1944 formulierten Anliegens, die verblendete deutsche Jugend „zum Bewußtsein von Schuld und Sühne zu bringen". 84

Der Leser des Romans bekommt keine fertige Lösung der Epochenproblematik dargeboten. Die Autorin zwingt ihn, „zunächst einmal die richtige Frage zu suchen"132, damit er selbst den Punkt herausfindet, „an dem es weitergehen kann" 133 . Die kleine Episode während einer Bahnfahrt - Anneliese Wenzlow lauscht begierig den Worten des Einarmigen - deckt auf, worum es der Anna Seghers eigentlich geht: „Die Schuld fängt da an, wo die Sachen, für die du nichts kannst, mit dir zusammenstoßen, und du kannst was dafür." 134 Das Gesellschaftliche stößt mit dem Privaten zusammen, es steht nicht neben dem Menschen, es macht sein Leben selbst aus. Er ist mit der Gesellschaft verbunden, ihr voll verantwortlich für das, was er tut. Wie man das in einem Roman zuwege bringt, das hat Anna Seghers bei Tolstoi studiert. Da ist sie ihm verpflichtet, obwohl sie die künstlerische Realisierung auf ihre Weise meistert. Sie zeigt nicht nur die „Hohlräume" im Menschen und die Gefahren, wenn in sie der Klassenfeind mit seiner Ideologie eindringt. Sie vermittelt zugleich die Gewißheit, daß es einen Weg wieder heraus gibt aus Verblendung und Verirrung und auch aus Schuld. Nur bedarf es der Zeit und des Suchens und auch des Mutes. Damit gibt sie zugleich eine indirekte Antwort auf Wolfgang Borcherts Hörspiel Draußen vor der Tür, das seinerzeit soviel Bestürzung und Erschütterung ausgelöst hatte. Nach dem Willen und der Überzeugung der Autorin öffnet sich vor der jungen Wenzlow die Tür, die so sehnsüchtig gesuchte, denn „sie wußte noch nicht, daß man im Leben oft klopft, ohne daß einem aufgetan wird" 135 . Auch diese kleine Einzelheit, die so ganz am Rande des Romangeschehens liegt, gibt die „Richtung auf die Lösung zu" an, die „durchschimmernde Perspektive", die „noch längst nicht die endgültige Lösung" ist, wie Anna Seghers 1966 schrieb. Und sie erläuterte: „Es gehört zu meinem Beruf, daß ich sowohl die Leute, die ich darstelle, wie die Leute, die mich lesen, nicht ratlos sitzen lasse." 136 Ein solches winziges „Lichtpünktchen" ist das Suchen und Finden des einsamen Mädchens in den letzten Kriegstagen, in dessen kurzem, kaum gelebtem Leben sich ebenfalls - ihr unbewußt - die historischen und die privaten Linien an einem Punkt schnitten. - Direkte literarische Bezüge zu Dostojewski, zu des Mädchens Lektüre von 85

Schuld und Sühne, verführen zur Überbewertung einzelner Motive und versperren die Sicht auf den tiefen Gehalt einzelner Figuren und Episoden? vor allem auf das Eigene, Unwiederholbare der Leistung der Anna Seghers. 137 In der Arbeit Tolstoi aus verschiedenen Aspekten notierte die Autorin noch einen wichtigen Gedanken: „In einer Zeit, die manchmal ausweglos schien, lasen wir die strengen klassischen Darstellungen - die Meldung an Kutusow vom Abzug Napoleons aus Moskau. Die unglaublich einfache, aber stufenweise gesteigerte Mitteilung von der Ankunft des Reiters bis zur Reaktion auf den alten Kutusow besaß große Anziehungskraft. Doch diese bestand nicht in historischer Bezüglichkeit, nicht in der Hoffnung auf eine ähnliche Nachricht. Viel unmittelbarer, man kann sagen, viel selbstsüchtiger, wie ein wirksames Heilmittel, das ein genialer Arzt verschrieb, wirkte die klare Reinheit, die unumstößliche Darstellungskraft auf unsere erschöpften, angstvollen Gemüter. Auch ein H a ß auf Phrasen steckte darin, ein H a ß vor unwürdiger Gier, vor sinnlosen Tumulten." Die Bewunderung für die „strengen klassischen Darstellungen" eines Tolstoi und auch den „Haß auf Phrasen" teilte Anna Seghers mit Hemingway, mit Simonow und Scholochow. Keiner von ihnen hat das je so eindeutig ausgesprochen wie sie. Bereits zehn Jahre zuvor, in der Zeit zwischen Die Toten bleiben jung und Die Entscheidung, hatte sie darauf verwiesen: „.... das Einfachste und Schwerste für einen Künstler . . . hat er phrasenlos dargestellt, zugleich aber so, daß es plötzlich ins Auge springt. Obwohl es sonst im Alltag von Phrasen übertönt werden kann, von geräuschvollem Pathos." 138 In der „Gelassenheit" der Schreibweise der Anna Seghers 139 trafen sich ihr Sprachgefühl und ihr sprachlicher Formwillen mit der oft vermerkten epischen Ruhe eines Tolstoi. Scholochows Stil ist emotionaler, der von Simonow rationaler. Bei Hemingway, dessen Arbeit am Stil sich auf das „mot juste" konzentrierte, bricht unter der scheinbar leidenschaftslosen sprachlichen Hülle ein gereizt nervöses Empfinden für die in Unordnung geratene Welt hervor. Dennoch gab es eine überraschende Übereinstimmung aller vier Autoren in bezug auf die Tolstoische Ausdruckskraft, sprachliche Klarheit und Einfachheit. Sie führt uns zu einem Punkt, wo die Erfor-

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schung der Neuentdeckung Tolstois dm zweiten Weltkrieg Beziehungen in der weltliterarischen Entwicklung aufdeckt, die infolge des unterschiedlichen Kriegserlebnisses und unterschiedlich gestalteten Kriegsstoffes sowie auf Grund der künstlerischen Individualität des jeweiligen Autors weniger einhellig in Erscheinung treten. Tolstois Kriegsschilderungen halfen allen vier Autoren besser begreifen, wie man über den modernen Krieg schreiben muß und wie man über ihn nicht schreiben kann. Die strenge realistische Darstellungsart verband sich mit ihrer Abneigung gegen Phrasen, gegen hohle Rhetorik. Der klassische russische Realismus faszinierte zu einer Zeit, als die Welt von Brand und Mord erfüllt war und der Mensch in Situationen geriet, die mit Menschenworten nicht mehr ausdrückbar schienen. Das Einfachste war das Schwerste. Aber es war das Tiefste, Umfassendste, das Wahre. Wenn vor allem Simonow oder Hemingway - jeder von seinem Standort aus - danach fragten, wie die Wahrheit über den Krieg in der Literatur dargestellt werden könne, so besagte „Wahrheit" nicht nur historische oder menschliche Wahrheit schlechthin. Die Suche nach Wahrheit war zugleich ein Werkstattproblem im engeren Sinn, war Ringen nach einem sprachlichen Ausdruck, der all das faßte, was die Menschheit an Schrecklichem wie an wirklich Heldenhaftem durchlebte. Und wie leicht konnte das Schreckliche zur Grimasse werden und das Heldenhafte zur Phrase, d. h. wie leicht konnte eine beabsichtigte ästhetische Wirkung in ihr Gegenteil verkehrt werden. Dieses Problem kam auf alle Schriftsteller zu, die ehrlich bemüht waren, den Krieg und den Menschen im Krieg wahrheitsgetreu zu gestalten. Das Verhältnis der vier Autoren zur Leistung von Krieg und Frieden und ihr jeweils besonderer Weg - individuell wie innerhalb besonderer nationaler Traditionen - ist ein methodischer Schlüssel, um analoge Prozesse in verschiedenen Nationalliteraturen in und nach dem zweiten Weltkrieg erkennen zu können. Auf diese Weise wird mehr Einsicht in die Entwicklungstendenzen gewonnen als beispielsweise über den Versuch, eine Strukturdominante in der Romanentwicklung140 entdecken zu wollen oder gar das Kriterium einer zum Vorbild erklärten 87

Gattung als Maß an die literarischen Erscheinungen anzulegen, wie es in der Debatte um Simonows Trilogie geschah. Und noch eine interessante Beobachtung: Berührungspunkte wie Divergenzen beispielsweise zwischen Simonow und Hemingway lassen sich u. a. genauer sehen, wenn man die Gemeinsamkeiten wie die Unterschiede im Verhältnis jedes einzelnen zum Erbe Tolstois analysiert. Die Gedankengänge Simonows vor allem in der Studie Bei der Lektüre Tolstois erschließen nicht nur viele Seiten seiner schöpferischen Methode, sondern geben zugleich einen Einblick in die komplizierten inneren Wechselbeziehungen zwischen Simonow und Hemingway und deren ästhetischen Konzeptionen. Simonows Vorliebe für Hemingway war mal stärker und mal schwächer. Es gab Zeiten einer engen Bindung an Hemingways Werk und Zeiten einer merklichen Abkühlung. Das lag am Arbeitsvorgang Simonows, an dem jeweiligen Werk Hemingways, das Simonow gerade aufnahm, und natürlich auch am Zeitpunkt, zu dem sich solche inneren Kontakte einstellten. Zu Wem die Stunde schlägt hatte er begreiflicherweise einen wesentlich besseren Zugang als zu Über den Fluß und in die Wälder. Auch das ließe sich - neben anderen Aspekten wohlgemerkt! - mit der unterschiedlichen Verarbeitung der Tradition Tolstois seitens Hemingways erklären. Selbstverständlich vollzog sich seine Entwicklung in einem völlig anderen nationalliterarischen Umfeld als die von Simonow. Aber bei der Bestimmung von Analogiebeziehungen im weltliterarischen Prozeß des 20. Jahrhunderts müssen solche Traditionslinien und deren schöpferische Transformation unbedingt berücksichtigt werden. Oder die Beziehung Scholochow - Hemingway: Hemingway hatte Ein Menschenschicksal mit innerer Anteilnahme gelesen, Scholochow kannte Der alte Mann und das Meer, bevor er seine Erzählung schrieb. Man hat aus ihr eine innere - philosophische - Polemik mit der Lebensauffassung des alten Mannes bei Hemingway herausgelesen und sich dabei auf eine Äußerung Scholochows gestützt. Und darin liegt ein rationeller Kern. Hätte wohl ein Andrej Sokolow mit dieser Lebensauffassung bis zuletzt - im Krieg und auch danach - bestehen können? Nikolai Gej hat am Beispiel beider Erzählungen die grundverschiedenen künstlerischen Lösungen einer ähnlichen 88

komplizierten Bewährungssituation - sterben oder gegen den Tod ankämpfen - herausgearbeitet und nachgewiesen, wie mit Hilfe einer tiefgründigen Stiluntersuchung die jeweils andere geistige Position der Autoren erschlossen werden kann. 141 Anders verhält es sich mit der künstlerischen Ausdruckskraft. Trotz des unterschiedlichen Stils und der stark divergierenden ideellen Strukturen innerhalb der kunstvoll gebauten Erzählungen gelang sowohl Scholochow als auch Hemingway die maximale Glaubwürdigkeit ihres Anliegens, die schließlich die Ursache der starken Wirkung war. Indessen läßt sich zwischen der Gestaltung des zweiten Weltkriegs in Sie kämpfen für die Heimat und Über den Fluß und in die Wälder keine innere Beziehung herstellen. Und ferner: Zwischen Anna Seghers einerseits und Simonow und Scholochow andererseits gibt es wesentlich mehr Analogiebeziehungen als zwischen ihr und Hemingway. Anna Seghers und Hemingway waren zwar beide während des Krieges in Frankreich - sie erlebte den Einmarsch der faschistischen Truppen in Paris und er die Befreiung der Stadt; beide hatten die meiste Kriegszeit auf dem amerikanischen Kontinent verbracht und die Hauptkampfplätze des zweiten Weltkriegs kaum bzw. nicht gesehen. Aber ihr Schaffen entwickelte sich in jeweils anderer Richtung. Das liegt nicht nur am Romanstoff. Obwohl die sowjetischen Autoren einen nationalen Befreiungskrieg, die deutsche Autorin jedoch einen faschistischen Eroberungskrieg darstellen, liegt ihren Büchern die gleiche Auffassung vom Menschen und seiner persönlichen Verantwortung im Geschichtsprozeß zugrunde. Angeregt durch Tolstoi, haben sie über die „Bewegung des Inneren des Menschen", über den Versuch, „unmittelbar bis in die Tiefen des Wesentlichen vorzustoßen", menschliche Verhaltensweisen und Wandlungsprozesse als arbeitende Geschichte sichtbar gemacht. Anna Seghers war jedoch die einzige, die auf Grund der spezifischen historischen Erfahrung ihres Volkes das gestalterische Problem - Verstrickung des Menschen in einen Krieg - in einer neuartigen Synthese von Krieg und Frieden mit Schuld und Sühne anpackte. Das ist das Besondere, Einzigartige ihrer Leistung zum damaligen Zeitpunkt, das sie zugleich mit den 89

vielfältigen Versuchen und Neuansätzen sozialistischer deutscher Schriftsteller bei der künstlerischen Bewältigung der jüngsten Geschichtserfahrungen verband. In den Romanen Die Toten bleiben jung sowie Die Lebenden und die Toten und Sie kämpften für die Heimat wird die Haltung des einzelnen Menschen in der Konfrontation mit der Übermacht des Feindes zum Drehpunkt des Figurenaufbaus. Der Klassenfeind im eigenen Land und der ausländische Aggressor, der bis zur Wolga vorstieß, sind die gleichen Kräfte. Das heißt, einen und denselben Vorgang haben die Autoren aus verschiedener Perspektive gesehen. Der jeweilig andere sozial-historische Kontext - Mitbeteiligtsein der Figuren am Eroberungskrieg bzw. am Befreiungskrieg - bestimmt die Darstellung des Krieges und die spezifische Funktion des jeweiligen Werkes. Bei Anna Seghers dominiert das aufklärerische und bei Simonow und Scholochow das operative Moment bei gleicher sozial-politischer Zielstellung aller drei Autoren. Die ästhetische Wirkung, die „Rücktransportierung des Werks auf die Realität", ist gerichtet auf die soziale Aktivierung des Menschen, auf die Mobilisierung aller seiner geistigen und physischen Kräfte in der weltpolitischen Auseinandersetzung unserer Epoche. Die komplizierten, mitunter verschlungenen und mitunter voneinander isolierten Wege im weltliterarischen Prozeß lassen sich folglich vermittels eines ganz bestimmten Bezugspunktes, in unserem Fall über die Tolstoi-Rezeption im zweiten Weltkrieg, klarer erkennen. Die unterschiedlichen Beispiele von Simonow, Scholochow, Hemingway und Anna Seghers erbringen den Beweis: Der Tatbestand literarischer Wirkung an sich ebenso wie ein minutiöser Nachweis von Bezügen im Text sind wenig aussagekräftig. Weitaus produktiver ist u. a. die Analyse, wie unter dem Druck eines Zeitgeschehens in einigen Nationalliteraturen gleiches Erbe in verschiedener Richtung arbeitet. Anna Seghers faßte das in die Worte: „Man darf einen bekannten Satz variieren: Das Haus dieses Dichters hat viele Wohnungen. - Darum finden die Menschen mit verschiedenen geistigen Bedürfnissen Unterkunft und Herberge." (Tolstoi aus verschiedenen Aspekten).

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Dokumentation und Erzählkunst

1 Andrej Platonow notierte in seinem Kriegstagebuch: „Kunst ist, mit einfachsten Mitteln Kompliziertestes auszudrücken. Sie ist der Sparsamkeit höchste Form." 142 Der Krieg, der am 22. Juni 1941 in die Sowjetunion einbrach, machte allen sowjetischen Schriftstellern die Schwierigkeit bewußt, „mit einfachsten Mitteln" zu beschreiben, was das war: Krieg und zumal d i e s e r Krieg. Epochenverständnis und Zeitempfinden waren zunächst noch nicht gebrochen durch das Erfassen der jüngsten Vorgänge in ihrer ganzen Tragweite. Das Ausmaß des Kriegsgeschehens und der bevorstehenden Kämpfe, Entbehrungen, Opfer und folglich auch die Zeitdauer des Krieges waren unübersehbar. Der Widerspruch zwischen Vorstellung-und Realität wurde schon in den ersten Wochen deutlich. Zunächst wurde er noch nicht artikuliert. Die Literatur war nicht vorbereitet auf das, was mit dem Krieg auf sie zukam, nicht anders die Menschen, die kämpfen mußten. Krieg ist für den, der ihn nicht erlebt hat, unvorstellbar. Die intensive publizistische Arbeit, die die Mehrzahl der Autoren mit Kriegsbeginn aufnahm, war ein Teil ihres Gesamtwerks und mit diesem durch viele Fäden verbunden, obwohl vieles für den Augenblick geschrieben wurde, das sie später in ihre Werkausgaben nicht aufnahmen. Die historische Distanz ermöglicht uns heute, strenger und gerechter über diesen wichtigen Vorgang in der künstlerischen Entwicklung des jeweiligen Autors zu urteilen. Die politische Grundhaltung, der geschichtsphilosophische Gehalt und die Ausdrucksweisen standen in direktem Zusammenhang mit Erzählung oder Roman, Gedicht, Drama. Diese wechselseitigen Verknüpfungen lassen sich jedoch nicht als chronologische Reihenfolgen be-

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stimmen, denn dadurch würde das in der Publizistik Geleistete ausschließlich ins Vorfeld künftiger größerer Arbeiten verwiesen und dessen künstlerischer Eigenwert nicht anerkannt werden. Die Dominanten im Schaffen des einen oder anderen Schriftstellers weichen voneinander ab. Hingegen trifft allgemein zu: Die Publizistik zeigte als erste die am Beispiel Simonows beschriebenen Veränderungen an, die sich in der Sowjetliteratur seit Ende des Jahres 1941 zu vollziehen begannen. Die Autoren stellten sich einer dreifachen Aufgabe: Eingriff in das Zeitgeschehen, Chronik des Zeitgeschehens, Erkundung von neuen, dem Zeitgeschehen angemessenen Kunstmitteln. Die sich überstürzenden Kriegsereignisse von 1941 ließen ihnen allerdings wenig Zeit und Spielraum zum gründlichen Uberdenken und Verändern der eigenen Schreibweise. Anfangs wandten sie sich daher bereits erprobten operativen Formen zu und bedienten sich darstellerischer Mittel, die sich schon in der publizistischen Tätigkeit vor dem Krieg bewährt hatten. Der innere Auftrag, sich als Schreibender sofort in die Tagesereignisse einzuschalten, wurde als gesellschaftlicher Auftrag verstanden: „Jetzt steht vor den Schriftstellern die Aufgabe, Armee und Hinterland in ihrem Kampf u n m i t t e l b a r zu unterstützen. Das erfordert von den Schriftstellern ein hohes Maß an Beweglichkeit, die Fähigkeit, viel und schnell zu arbeiten sowie sich in jedem Genre auszudrücken . . . : Artikel, Broschüre, Flugblatt, Plakatgedicht, Rundfunkansprache, Sketch usw."*« Die publizistischen Arbeiten, die in den zentralen sowjetischen Zeitungen von Juli bis Dezember 1941 erschienen sind, belegen die wachsende Aktivität der Schriftsteller und gleichzeitig die noch feste Verklammerung der Schreibweise aus der Vorkriegszeit mit der Schreibweise in den ersten Kriegsmonaten. Eine neu entwickelte Handschrift ist nur in seltenen Fällen erkennbar. Die historischen Vergleiche, die Bilder und Metaphern, der Satzbau und die Lexik sind vielfach mit dem literarischen Werk verknüpft, an dem der Autor zu Kriegsbeginn arbeitete. Der unmittelbare Zeitbezug erfolgte vorwiegend über allgemeine politische Erörterungen und über die Vermittlung von Tatsachen, wie Hitlerdeutschland den Krieg auf sowjetischem Boden und in den von ihm okkupierten europäi-

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sehen Ländern führte. Letzteres hatte eine wichtige Funktion in der agitatorischen Arbeit. Seit Abschluß des Nichtangriffspakts mit Deutschland waren in der sowjetischen Presse die Informationen über den Hitlerfaschismus und die direkte politische Polemik stark eingeschränkt worden. Der betont informatorische Charakter und der aufklärerische Gestus der publizistischen Äußerungen von Schriftstellern zu Kriegsbeginn wurden von der Notwendigkeit diktiert, umfassende Kenntnisse vom Ausmaß der Zerstörungen in Europa durch die Armeen Hitlerdeutschlands und von dem bereits zwei Jahre praktizierten faschistischen System der Völkerversklavung und -ausrot tung zu vermitteln. Und gleichzeitig mußte trotz der drohenden Gefahr und des plötzlichen Überfalls auf das eigene Land die Zuversicht der Leser in die eigene Kraft, sich des Gegners zu erwehren, gestärkt werden. Autoren wie Ilja Ehrenburg und Alexej Tolstoi knüpften an die Erfahrungen des antifaschistischen Kampfes der dreißiger Jahre an und erprobten in der Publizistik neue Möglichkeiten eines engeren Kontakts zwischen Autor und Leser unter den harten Kriegsumständen. Am 27. Juni 1941 druckte die Prawda den ersten Artikel Alexej Tolstois nach Kriegsbeginn, Was wir verteidigen. Einige wesentliche Merkmale der gesamten Kriegspublizistik Tolstois sind schon ausgeprägt: Beschreibung und Verurteilung des völkervernichtenden Systems des Hitlerfaschismus, Schärfung des Traditions- und Geschichtsbewußtseins, Patriotismus, Glaube an den Sieg. Dabei kommt es an einigen Stellen zu direkten Übereinstimmungen mit der soeben - am 22. Juni beendeten Trilogie Der Leidensweg, mit den Grundgedanken des Romanausklangs: „Im vaterländischen Krieg der Jahre 1918-1920 bedrängten die weißen Armeen von allen Seiten unser Land. Verwüstet, hungernd, an Flecktyphus aussterbend, sprengte es in zwei Jahren eines blutigen und scheinbar ungleichen Kampfes die Umzingelung, vertrieb und vernichtete die Feinde und begann den Aufbau eines neuen Lebens."144 Solche Werkbezüge enthält auch der Artikel Juri Tynjanows Leningrad. Als die Blockade ihren Anfang nahm, schrieb er an seinem großen Puschkin-Roman. In den Stunden tödlicher Bedrängnis der Stadt zeichnete er mit der ihm eigenen sprachlichen Prägnanz ihr geistiges Bild, wie es im Spannungsfeld 93

von Geschichte und Gegenwart durch Jahrhunderte geformt worden war: „Die großartige Sadt lebte von ihrer Geburt an bis in unsere Tage das Leben eines Genius. Der allererste Anfang der Stadt, ihre Geburt entsprang dem genialen Gedanken und dem Leben Peters; hundert Jahre danach erfaßte, erfühlte und erschuf es in Gedichten, dergleichen die Menschheit nicht hatte, Puschkin. Puschkin lebt in unserer Stadt. E s galoppiert dort der von ihm besungene Eherne Reiter, und sein eherner Galopp lehrt Geschichte. Hier, in der Nähe des Ehernen Reiters, zogen auf dem Platz die Dekabristen auf, Puschkins Freunde. Hier, in unserer großartigen Stadt, siegten Lenin und Stalin. Gäbe es nicht unsere wunderbare Stadt, dann wären Menschheit und Geschichte ärmer." 1 4 5 Beide Zeugnisse vermitteln das Zeitereignis über die Individualität des Schreibenden unter dem allerersten emotionalen Eindruck des Geschehenen. Das betrifft sowohl die sprachliche Formung des Gedankens als auch das individuell Unverwechselbare im Verhältnis zur Wirklichkeit. Das ausgedrückte Geschichts- und Kulturbewußtsein war nichts Abstraktes, schlechthin Verallgemeinertes; es war das über Jahrzehnte im eigenen schöpferischen Prozeß Erfahrene und Erkannte. Die gesellschaftliche Wirkung des geschriebenen Wortes war jedoch um so größer, je deutlicher hinter der öffentlichen Aussage die Persönlichkeit des Autors stand und je mehr das HymnischPathetische von einer schlichten, sachlichen Darstellung des Tagesgeschehens verdrängt wurde. Schwierigkeiten anderer Art begegneten den Schriftstellern, die wie Konstantin Simonow, Alexej Surkow, Alexander Twardowski und viele andere als Frontberichterstatter eingesetzt wurden; Ihre Arbeit für die Presse war noch unmittelbarer auf die Aufgaben der Agitation und Propaganda unter den erschwerten Kriegsbedingungen eingestellt. Sie konnten nicht über alles berichten, was sie in diesen ersten Monaten sahen. Sie mußten - aus eigener innerer Überzeugung - die Zuversicht in den Sieg stärken und in den Menschen das Zutrauen zu sich selber festigen, indem sie Beispiele wiedergaben,

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wie der Feind trotz militärischer Übermacht geschlagen werden konnte. Und sie mußten sich gleichzeitig immer wieder fragen: Vermochten sie dennoch auszusprechen, wessen die Menschen bedurften und was sie vom geschriebenen Wort erwarteten? Die tiefen Einbrüche der feindlichen Truppen ins Land, vor allem die Blockade Leningrads und der Großangriff auf Moskau, schärften das Empfinden für die Notwendigkeit, die Vorgänge genauer zu beschreiben, um einen direkteren Kontakt zum Leser herzustellen. Der Ernst der Lage erforderte den Übergang von allgemein weltpolitischen Betrachtungen und nur ungefähren Andeutungen, wie schwer die Lage tatsächlich war, zu authentischem Bericht über die Tagesereignisse und die harten Lebens- und Kampfbedingungen, ohne daß der politische Gehalt gemindert und ohne daß auch nur ein Deut von der vermittelten Siegeszuversicht trotz militärischer Rückschläge und hoher Opfer zurückgenommen wurde. Er forderte nach einem Ausspruch von IIja Ehrenburg „einfache Gefühle und einfache Worte" 146 . Das eine war mit dem anderen eng verknüpft. Ehrenburg fand in den kritischen Oktobertagen eine solche innere Einstimmung auf die geistige und emotionale Verfassung der Menschen: „Wir haben aufgehört, nach dem Minutenzeiger zu leben, vom Morgenbericht bis zum Abendbericht. Wir haben unseren Atem auf einen anderen Zähler eingestellt. Wir schauen tapfer nach vorn: da ist Leid und da ist Sieg. Wir stehen es durch . . ," 147 * In dem handgeschriebenen Befehl einer sowjetischen Partisaneneinheit hieß es u. a.: „Die Zeitungen können nach dem Lesen zum Rauchen verwendet werden, mit Ausnahme der Artikel Ehrenburgs." 148 Solche Zeugnisse beweisen, welche Macht das Wort in der härtesten Kriegszeit hatte und welche aktivierenden Impulse es vermitteln konnte, sobald es die Kriegswirklichkeit direkt abbildete und sich auf den Zustand des Lesers einstimmte. Die Rundfunkarbeit der Olga Bergholz zur Zeit der Leningrader Blockade belegt, welch gründlicher Veränderungen des eigenen ästhetischen Konzepts es mitunter bedurfte, um die Spanne zwischen neu begriffener Funktion des literarischen Wortes und dem Leser bzw. Hörer zu überwinden. In den Tagessternen hat sie ihre Biographie beschrieben, auch die schweren psychischen Bedrängnisse der Vorkriegszeit, die das 95

betont Persönliche, Subjektive ihrer Dichtungen jener Jahre bedingten. Der Kriegsbeginn, vor allem die ihrer Stadt drohende tödliche Gefahr, bewirkte stärker denn je zuvor die Identifikation des eigenen Empfindens mit dem Empfinden der Menschen, in deren Mitte sie lebte und für die sie schrieb. Das Neuartige war nicht allein das Material, d. h. der Kriegsstoff, und das Ringen um adäquate Darbietungsweisen, sondern die Verquickung von Material, Darbietung und Bestimmung der Aussage. Dabei unterschied sie genau, ob sie sich in einer Sendung über Drahtfunk ausschließlich an die Leningrader wandte, oder ob sie den Hörern außerhalb des Blockaderings vom Leben und Kampf der Leningrader erzählte. Nur ein geringfügiger Teil ihrer Rundfunktexte aus der Blockadezeit ist veröffentlicht. Aber selbst dieses Wenige bestätigt, wie sich in Leningrad im September 1941, unter dem wachsenden Druck der schier unerträglichen Belastungen des Frontstadtalltags, die Rundfunkpublizistik „auf einen anderen •Zähler" umstellte, also einige Wochen früher als die zentrale Presse. Und Olga Bergholz war eine der ersten. Alexander Rubaschkin kam nach gründlichen Archivstudien zu der Schlußfolgerung: „Und wenn ihre Ansprachen vom August noch erregt pathetisch gehalten sind, so überwiegt bald darauf der Ton des vertrauten Gesprächs."149 Zurücknahme von Rhetorik und Pathos, das Sprechen in der ersten Person, die konkrete Aussage über das mit der Bevölkerung gemeinsam Durchlebte und Empfundene - all das verschmolz bei Olga Bergholz zu jener intimen Beziehung zwischen Autor und Hörer, die gewöhnlich nur als ein Merkmal der Lyrik gilt. Die Hereinnahme des eigenen Ich in den publizistischen Stil wird bei ihr oft mit dem Einfluß der Poesie erklärt* Die Grenze zwischen Publizistik und Lyrik läßt sich in ihren Rundfunkansprachen tatsächlich schwer bestimmen. In der Sendung Wir leben, wir halten aus, wir siegen! vom 29. Dezember 1941 gehen Prosatext und Verse, die Briefe an die Karna, ineinander über. Die zum Jahrestag der Roten Armee verfaßte Sendung Das Februartagebuch, ein Poem aus sechs Kapiteln, nannte sie ein „lyrisches Gespräch mit den Leningradern". Die der Umgangssprache eigene Sprechintonation ihrer Reportagen geht mitunter kaum merklich in rhythmische Prosa über, und 96

umgekehrt drangen die Bildersprache und die Gesprächsform der Radiotexte in ihr Gedicht. Olga Bergholz war nach Begabung und Berufung Lyrikerin. Die betont individuelle Bezogenheit und die enge Verschränkung von publizistischem Wort und lyrischem Prinzip hatten jedoch noch eine andere Ursache. Die unter der Last der Verhältnisse überaus starke Anspannung von emotionalem Empfinden und geistiger Kraft - sie ist beim Künstler auf Grund seiner erhöhten Sensibilität stets besonders intensiv - provozierte die Anstrengung von Kunstmitteln, die die Schwierigkeiten eines direkten Umgangs mit dem Leser bzw. Rundfunkhörer aufhoben. Angesichts der komplizierten seelischen und körperlichen Verfassung der Leningrader mußte jeglicher distanzschaffende offizielle Ton vermieden werden. Nach Beendigung der Blockade verallgemeinerte Olga Bergholz die damalige Erfahrung: „Erneut wurde mir bewußt, daß wir nicht das Recht haben, .einfach so zu schreiben', daß es dem Leser durchaus nicht gleichgültig ist, ob der Dichter das s e l b s t erlebt hat, worüber er schreibt, oder ob er einfach beschrieben hat oder ob er nur so tut, als habe er das erlebt." 150 Die Briefe an die Kama trafen genau die Empfindungen der Verteidiger der Stadt. „Die beiden Gedichte haben mich zutiefst erregt", hieß es in einem Brief an die Autorin aus der vordersten Kampflinie. „Schreiben Sie nur keine sentimentalen Verse, keine Verse mit Pathos, mehr reale, aus dem Inneren heraus." 151 Es schwand die Grenze zwischen Kunst und Leben - Leben ward Kunst, und Kunst war Leben. Die Sendungen, die über Drahtfunk, ausschließlich für die Leningrader, ausgestrahlt wurden, trieben den Bruch mit bisher üblichen Formen sehr weit. Olga Bergholz beschrieb einen extremen Fall. Eine Mutter, die durch einen Bombenangriff ihre beiden Kinder verloren hatte, sprach auf eigenen Wunsch vor dem Mikrofon davon, was vor einer Stunde mit ihren Kindern geschehen war. „Uns prägten sich nicht so sehr ihre Worte ein als vielmehr ihr Atem, der schwere Atem eines Menschen, der die ganze Zeit über Weinen und Schluchzen unterdrückt." 152 Dieser Atem, das „personifizierte Leid", war über die Lautsprecher auf den Straßen und Plätzen zu hören - auch er habe geholfen durchzustehen. 7 Thun. Krieg

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Die in dem Dokumenten- und Erinnerungsbuch Es spricht Leningrad, veröffentlichten Rundfunkansprachen waren nicht für den Leningrader Drahtfunk geschrieben, sondern für sowjetische Hörer jenseits des Blockaderings. (Es wurde 1946 erstmalig veröffentlicht und enthält auch Texte von Dmitri Schostakowitsch, Anna Achmatowa und Wsewolod Wischnewski. Lediglich das erste und das letzte Kapitel sind nach dem Krieg verfaßt; in der von letzter Hand besorgten Werkausgabe sind sie mit 1946/1947 bzw. 1947/1959 datiert.) Das für Olga Bergholz seinerseit so charakteristische „Ich" ist zugunsten des „Wir" zurückgenommen - die Autorin sprach im Namen aller Leningrader als eine von ihnen und unter ihnen. Die in die Dezembersendung eingesprochenen Gedichte, die Briefe an die Kama vom September und Dezember, waren in der dem Briefstil entsprechenden Ich-Form verfaßt: „Ich verteidige unsere Stadt", „Ich bewahre mich vor Gefangenschaft", „Ich fürchte mich nicht, ich weiche nicht zurück, ich fliehe nicht . . . " , „Ich bin mit Freunden . . . " . „Ich lebte in Leningrad im Dezember einundvierzig . . . " und der darauffolgende Vers heben ganz unvermittelt Intonation und Pathos in die Nähe der Poetik Majakowskis. Es trat das ein, wovon Olga Bergholz später in den Tagessternen berichtete: Ihre Generation und sie selber sprachen in entscheidenden Lebenssituationen in Majakowskis Versen. Der Artikel Gespräch über die Lyrik153 (1953) bestätigt, daß sich eine neue enge Beziehung zu Majakowski offenkundig auch über das durch das Kriegserleben veränderte Autor-Hörer-Verhältnis einstellte. An Majakowski bewunderte die Dichterin die Fähigkeit, so zu schreiben, daß sich der Leser völlig mit dem lyrischen Subjekt identifiziert. Die Gesprächsform im Gedicht, von Majakowski auf individuelle, neue Weise ausgebildet, dominiert seit Herbst 1941 bei Olga Bergholz. Sie war schließlich das „grenzüberschreitende Moment zwischen ihrer Lyrik und Rundfunkpublizistik. Das persönliche Gespräch mit ihren Hörern bewirkte eine weitere Besonderheit. Die konkrete Einzelheit aus dem Alltag verdrängte das Allgemeine, das auf das Schwere der Lage nur Hindeutende: die in Schnee und Eis erstarrte Stadt, ausgestorben, ohne Straßenbahn, nur Schlittenkufen knirschen Kinderschlitten mit Wasserkesseln, Holz, Hausrat, Toten und

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Kranken, gezogen von ausgemergelten Körpern, Dunkelheit. So bot sich das Bild der Stadt zwischen Bombenangriffen und Artilleriebeschuß. Diese werden nie beschrieben, obwohl sie tagtäglich, stündlich das Leben der Bevölkerung bedrohten. Wie schwer sie zu ertragen waren, faßt das eine Wort „Stille" sie ersehnten sich die Leningrader zum 7. November am allermeisten. Da ist nichts von der Härte der Lage ausgespart, nichts verschwiegen. Das künstlerische Bild wird zum Symbol. Das bereits in der Ansprache zum Jahrestag der Oktoberrevolution enthaltene Detail vom Poststempel Leningrads, Datum 6. November, greift Olga Bergholz im Dezemberbrief An die Kama wieder auf. Die Poststempel Leningrads „brennen" „heiß" und „trotzig" auf dem Briefumschlag als ein Zeichen dafür, daß Leningrad lebt, Leningrad kämpft, Leningrad siegen wird. Olga Bergholz verfaßte auch ihre Gedichte für den Rundfunk. - Für die Druckfassung hat sie später nochmals eine gründliche redaktionelle Überarbeitung vorgenommen: Bilder geschärft, Verse gestrichen, mittels geringfügiger Korrekturen den Gedanken gestrafft, um auf diese Weise die Wirkung des Vermittelten zu steigern. - Alle ihre Texte waren seinerzeit aus einer bestimmten Absicht heraus entstanden: Niemand darf sich selber aufgeben; vernehmt: Der Widerstand ist nicht umsonst; zwar ist der Dezember schwerer als der September und der Februar noch schwerer als der Dezember, aber seht: Wir leben ein doppelt gelebtes Leben, im Blockadering in Hunger und Leid und im glücklichen morgigen Tag, „den wir schon heute errungen haben" (Das Februartagebuch). Und Olga Bergholz schrieb auch - in Abwandlung eines Ausspruchs von Anna Seghers - in dem Bewußtsein: Ich bin dabei, und ich gebe es weiter. Diese Motivation - wir Zeitgenossen erzählen den nach uns Kommenden, wie alles wirklich ist war in der Tagesarbeit den aktuellen Aufgaben untergeordnet. Im Schaffensprozeß war sie jedoch ständig gegenwärtig. Das Aufbewahren und Weitergeben setzte Authentizität voraus. Das Konkrete, das genau Verbürgte verleiht dem Buch Es spricht Leningrad, den Charakter eines Dokuments. In der Sendung vom 3. Juni 1942 heißt es unter anderem: „Unsere Mauern flüstern, stammeln, schreien: ja, direkt an den Mauern steht geschrieben, was die Bürger wissen müssen . . ." 154 - amtliche 7*

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Bekanntmachungen, wie sich die Bevölkerung zu verhalten hat, wie Feuer verhütet und wie Feuer bekämpft wird, auch Mitteilungen von Privatpersonen: „An alle Bürger! Ich bringe deren Verstorbene auf Schlitten zum Friedhof und andere private Fuhren . . . " , „Da kein Eigenbedarf Verkauf eines leichten Sarges . . . " . Eine tragische, ungewöhnliche Geschichte verberge sich hinter solch einem Text, kommentiert Olga Bergholz. „Die Häusermauern sind gleichsam ein offenes Tagebuch aus Stein, ein Tagebuch der ganzen Stadt, ein Tagebuch jedes einzelnen von uns Leningradern. Wir sind natürlich noch nicht in der Lage, das einzuschätzen, geschweige denn zu lesen."155 In ihren Augen sind diese Inschriften ein Stück lebendiger Geschichte, nicht anderes auch der Fabrikzaun, von Granatsplittern durchbohrt, mit Aufrufen und Flugblättern beklebt, den sie eines Tages entdeckte. Ihn müßte man eigentlich der Nachwelt überliefern und ganz behutsam in ein Museum schaffen. In den Tagessternen hat sie das Bild der mit Losungen beklebten Mauern wieder aufgegriffen - Inbegriff der geschichtlichen Ye*bindung zwischen Revolution, Großem Vaterländischen Krieg und Gegenwart. Oder da ist die Geschichte von den Streichhölzern, eine von vielen. In der Stadt gab es nicht die Chemikalien, die zu ihrer Herstellung notwendig waren. In der öffentlichen Bibliothek forschte man in alten Büchern, wie die ersten Streichhölzer fabriziert wurden. Danach wurde die Produktion aufgenommen. Zwar entzündeten sich die Hölzer nur schwer, aber es gab sie, und auf den Streichholzheftchen war sogar die Admiralität abgebildet und wurden Verse gedruckt. Olga Bergholz gibt in Es spricht Leningrad keine Schlachtbeschreibungen, zeichnet keine Soldaten. Sie erzählt davon, was sie selber gesehen, gefühlt und erlebt hat, was sie aus eigener Erfahrung kennt - und sie lebte und fühlte wie die Bevölkerung in den neunhundert Tagen einer in der Geschichte beispiellosen Blockade. Die konkrete Einzelheit spiegelt wichtige Abschnitte des Widerstands. Insofern war ihre Rundfunkarbeit Eingriff in die Wirklichkeit u n d Chronik der Wirklichkeit. Olga Bergholz beeinflußte wesentlich den persönlichen Ton der Leningrader Sendungen, das direkte Gespräch und das Abkommen von der offiziellen Diktion selbst in der Rundfunk100

chronik - durch eigene Texte und auch durch ihre Arbeit als Redakteurin, u. a. der Ansprachen von Dmitri Schostakowitsch und Anna Achmatowa im September 1941. Nahezu alle Leningrader Schriftsteller, die in der Stadt verblieben waren, machten eine ähnliche Entwicklung durch: Wera Inber, Wera Ketlinskaja und Nikolai Tichonow vor allem, mit Ausnahme vielleicht nur von Wsewolod Wischnewski, der die Rhetorik des Agitators weiter ausformte und sich in erster Linie an die Verteidiger der Stadt wandte. In Tichonows Publizistik vollzog sich der Übergang vom balladesken Ton zu schlichterem, unmittelbarem, dabei stärkerem Ausdruck des eigenen Gefühls nachweisbar mit der Rundfunkansprache vom 7. November - sie hatte der Redakteur mit der Bemerkung versehen: „Aufheben, dasselbe ist für die Geschichte äußerst interessant."156 Die Krasnaja swesda begann 1942 mit dem Abdruck einer Artikelserie von Tichonow über das kämpfende Leningrad: Leningrad im Mai, Leningrad im Juni, Leningrad im Juli und so weiter bis zum Blockadeende mit Leningrad im Januar (30.1.1944). Auch auf sie trifft zu: Der Bericht trägt dokumentarischen Charakter und gibt zugleich einen chronikartigen Überblick über die Vorgänge und Veränderungen in der sich heldenhaft verteidigenden Stadt. Michail Kalinin bezeichnete im September 1942 die Artikel von Tichonow und Simonow als beispielhaft, wie über den Krieg geschrieben werden müsse - „anhand von Tatsachen ohne Rhetorik und lauttönende Phrasen". Es sei nicht die Zeit, da man mit „geräuschvollen Reden" und „belehrender Didaktik" vor die Menschen treten könne. Damit erreiche man sie nicht. Was not tut sei, „über die von den Menschen durchlebten Schwierigkeiten wahrheitsgetreu zu sprechen"157. Kalinin zitierte aus Simonows Reportage Tage und Nächte, die vier Tage zuvor in der Krasnaja swesda abgedruckt war. Simonow habe zum Glück die Sanitäterin nicht als ein Mädchen ohne Furcht und Zweifel gezeigt, wie es leider gang und gäbe sei, sondern „menschliche Gefühle und menschliches Erleben". Die von der jeweiligen Schriftstellerpersönlichkeit geprägte Aussage gibt auch Aufschluß über den Zustand der Literatur, die trotz der einheitlichen Zielstellung von Spannungen und Widersprüchen nicht frei war. Das Eigene wurde in ständiger 101

Reibung mit literarischen Standards gefunden. Der Kunstraum wurde neu ausgeschritten. Neue Verbindungen des Persönlichen mit dem Allgemeingültigen wurden aufgespürt. Die Mischung von Publizistik mit künstlerischer Darstellung war ein besonderes Merkmal der operativen literarischen Tätigkeit im Krieg. Konflikte mit den Redaktionen waren dabei unausbleiblich. Für den notwendigen Bruch mit der konventionellen Zeitungssprache, ihren „Kodes", wie sich Ehrenburg ausdrückte, hatten manche Redakteure wenig Verständnis. Aber gerade weil die Schriftsteller diesen Bruch am konsequentesten und auch am geschicktesten vorantrieben, war die Wirkung ihres Wortes besonders stark. Das Leningrader Beispiel bestätigt die im ersten Kapitel beschriebene „Korrektur" und ihre Haupttendenz, die dokumentarische Genauigkeit in den Details des Kriegsalltags und in der Grundhaltung der sowjetischen Menschen. Surkow bezeichnete, wie wir feststellten, das Thema des Hasses als Ausgangspunkt einer notwendigen Veränderung des Autorenstandpunktes. Olga Bergholz faßte das ästhetische Problem der Wahrheit über Leningrad in die Worte: „ . . . wir halten stand und wir werden standhalten."158 Das war ihr künstlerisches Bekenntnis, das den Grundgestus von Gedicht, Reportage und Rundfunkansprache bestimmte. Eine Notiz aus den Tagessternen trifft genau den Leseeindruck ihres eigenen Kriegstagebuchs": „Durchweg ist das .Eigene', .höchst Persönliche' zugleich das Allgemeingültige, und das Allgemeingültige wird zum Persönlichen und zutiefst Menschlichen. D i e G e schichte spricht p l ö t z l i c h mit e i n f a c h e r leb e n d i g e r S t i m m e (Hervorhebung - N. T.)." 159 Die Geschichte der Dokumentation des zweiten Weltkrieges aus der Feder antifaschistischer Schriftsteller der Welt ist wissenschaftlich noch nicht aufgearbeitet. Das von einigen Autoren im Krieg Geschriebene wurde in jüngster Zeit auf seinen dokumentarischen Wert hin - Faktentreue vor allem - sehr genau geprüft. Es wurden jedoch im Vergleich zu der seit Ende der fünfziger Jahre kräftig entwickelten „Dokumentarliteratur" meist nur die Grenzen registriert. Gewiß, aus militärischen und politischen Gründen konnte damals vieles nicht veröffentlicht werden, und vieles wußte man einfach nicht: exakte Zah102

len der Opfer und Zerstörungen, genaue Analysen der militärischen Operationen, die komplizierten Schicksale von Millionen Menschen und deren tiefen inneren Konflikte. Und erst recht konnte man nicht wissen, wie der Krieg weiter verläuft und wie lange er noch dauert. Das war ein allgemeines Problem, das Olga Bergholz genauso wie Thomas Mann, Ernest Hemingway genauso wie Konstantin Simonow betraf. Und dennoch erfassen Pauschalurteile über einen zu geringen Informationswert nicht, was die Literatur im Krieg tatsächlich geleistet hat. In der Sowjetunion war das Interesse für die publizistischen Äußerungen fortschrittlicher ausländischer Schriftsteller zum Kriegsverlauf nach dem Überfall auf die UdSSR außerordentlich groß. Sie wurden verstanden und gewürdigt als Zeugnisse des antifaschistischen Bündnisses, das sich im Krieg zwischen den Literatur- und Kulturschaffenden verschiedener Nationen und verschiedener weltanschaulicher Positionen festigte. Die Erfahrungen vergangener Epochen, da die Literatur in den politischen Kämpfen der Zeit ein mobilisierender Faktor des Kampfes war, wurden erneuert und erweitert. Unter dem Einfluß der fortschreitenden Internationalisierung des revolutionären Prozesses im zweiten Weltkrieg vertiefte sich trotz der gegebenen ideologischen und politischen Unterschiede ihr gegenseitiges Verstehen und ihr gemeinsames Engagement in der militärischen Auseinandersetzung mit dem Hitlerfaschismus. Die mit äußerster Härte geführten Kämpfe auf sowjetischem Boden in den Jahren 1941 bis 1943 wurden als die entscheidende Etappe des Krieges zur Befreiung nicht nur der Sowjetunion, sondern aller unterdrückten Völker begriffen. Thomas Mann drückte diesen Gedanken in seiner Neujahrsbotschaft 1943 an die Sowjetunion aus. E r verlieh seiner Bewunderung über den echt epischen Kampf des russischen Volkes und seine hohen Opfer für die eigene Freiheit ebenso wie für die Freiheit der Menschheit Ausdruck. Auf den Zusammenbruch der Nazis in Rußland folge unweigerlich die endgültige Vernichtung des Feindes der Menschheit. 160 Die sowjetische Presse veröffentlichte seinerzeit regelmäßig Äußerungen und Texte ausländischer Schriftsteller. Erstens wurde dadurch der internationalistische Charakter des auf sowjetischem Boden geführten Krieges unterstrichen. Stalin hatte 103

bereits in seiner Rundfunkrede vom 3. Juli 1941 betont, daß der gegen die Sowjetunion begonnene Krieg „nicht nur ein Krieg zwischen zwei Armeen" ist. „Es ist zugleich der große Krieg des ganzen Sowjetvolkes gegen die deutschen faschistischen Truppen. Das Ziel dieses vaterländischen Volkskrieges gegen die faschistischen Unterdrücker ist nicht nur die Beseitigung der Gefahr, die über unserem Land schwebt, sondern auch die Hilfeleistung für alle Völker Europas, die unter dem Joch des deutschen Faschismus stöhnen." 161 Zweitens wurde deutlich, daß das Sowjetland überall in der Welt Bundesgenossen hatte, die mit Wort und Tat den Kampf des Sowjetvolkes aktiv unterstützten. Und schließlich wurden auch diese Zeugnisse beurteilt vom Standpunkt der optimalen operativen Möglichkeiten von Literatur unter den außergewöhnlichen Bedingungen eines Krieges, der die ganze Menschheit gefährdete. In Zusammenhang mit dem behandelten theoretischen Problem ist dieser Aspekt besonders wichtig. Nach innen wie nach außen nutzte die sowjetische Propaganda alle publizistischen Formen und stimulierte dadurch das innere Bedürfnis der Schreibenden, auf ihre individuelle Weise in den Verlauf der Kriegsereignisse einzugreifen. Knapp ein Jahr nach dem Überfall auf die Sowjetunion sprach Jean-Richard Bloch über den Moskauer Rundfunk in französischer Sprache zu den Zwei Auffassungen vom Menseben. Er verurteilte die Haltung eines Petain, der sich nicht scheute zu erklären, „daß Deutschland gegen Sowjetrußland einen gigantischen Kampf zur Verteidigung der Zivilisation" führe. Pierre Laval habe sogar Worte in den Mund genommen wie „Verteidigung von Zivilisation, Kultur, Ideal", wie „moralische und geistige Werte" 162 . Und das zu einer Zeit, da die deutschen Okkupanten in den von ihnen zeitweilig besetzten Gebieten der UdSSR grausame Verbrechen verübten. - Bloch bezog sich auf die Note des Volkskommissars für Auswärtige Angelegenheiten der UdSSR, W. M. Molotows, vom 27. April 1942, die die Weltöffentlichkeit über System und Ausmaß der Vernichtung von Menschen und kulturellen Werten informierte. Selbst Deutsche hätten eine andere Vorstellung von der Verteidigung der Zivilisation: „Einstein, Freud, Thomas Mann, Heinrich Mann, Emil Ludwig, Stefan Zweig, Bertolt Brecht,

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Johannes Becher und Zehntausende anderer Wissenschaftler, Dichter und Dramatiker, die aus Deutschland verbannt sind, ganz zu schweigen von denen, die in den Konzentrationslagern zu Tode gequält wurden . . ," 163 Ilja Ehrenburg präzisierte diesen Sachverhalt, als er 1943 den völlig neuen Charakter des Krieges gegenüber allen vorangegangenen darlegte. Bisher hätten Gegner miteinander gekämpft, die von denselben Irrtümern befallen und von ähnlichen Leidenschaften ergriffen waren. Die Moralisten hätten sich daher einer Stellungnahme entzogen. In dem jetzigen Krieg stehe jedoch der Moralist nicht mehr abseits und habe in der militärischen Auseinandersetzung Partei ergriffen: „Unsere Wahrheit überschreitet die Linien der Staatsgrenzen, und die Siege der Roten Armee begrüßt Thomas Mann." 164 Thomas Manns Sympathieerklärungen für den Kampf des Sowjetvolkes und seine Rundfunkansprachen über den Londoner Sender fanden in der Sowjetunion starke Beachtung. Zwei dieser Sendungen wurden nach dem Stenogramm in gekürzter Fassung abgedruckt.165 Die politische Aktivität des deutschen antifaschistischen Schriftstellers, der im amerikanischen Exil die Vorgänge in Europa genau verfolgte, wurde als ein wichtiger Beitrag zur Mobilisierung aller geistigen Kräfte der Welt im Kampf gegen den Hitlerfaschismus gewertet. Die Äußerungen Thomas Manns vermitteln darüber hinaus wichtige Aufschlüsse über die Ausbildung neuer Tendenzen in seinem Gesamtwerk unter dem Druck des Zeitgeschehens. Thomas Manns Fünfundzwanzig Radiosendungen nach Deutschland, unter dem Titel Deutsche Hörer! veröffentlicht, sind auf ihre Art ein Gegenstück zu den Texten der Olga Bergholz. Im antifaschistischen Kampf standen beide Schriftsteller auf der gleichen Seite. Das Erlebnis Krieg war jedoch grundverschieden - Thomas Mann lebte in den USA, Olga Bergholz im Blockadering. Anders beschaffen war die Öffentlichkeit, an die sie sich wandten, und in gewissem Rahmen auch das Medium Rundfunk, dessen sie sich bedienten, obwohl zwischen dem Londoner und dem Leningrader Rundfunk im Krieg direkte Kontakte bestanden. Grußbotschaften und Kampfesgrüße wurden ausgetauscht.166 Sendungen in englischer Sprache, darunter Texte der Olga Bergholz, informierten die englischen 105

Hörer über Leben und Kampf der Stadt. Die Sendungen der deutschen Redaktion, für die Olga Bergholz von Zeit zu Zeit auch schrieb, wandten sich jedoch ausschließlich mit Aufrufen an die gegen die Sowjetunion kämpfenden deutschen Soldaten und vermittelten ihnen die Wahrheit über den von Hitler begonnenen verbrecherischen Krieg. Thomas Mann richtete vom Oktober 1940 bis 10. Mai 1945 seine Rundfunkansprachen, die der Sender BBC ausstrahlte, an die deutsche Bevölkerung. Er appellierte an ihr Gewissen und rief sie zu politischer Tat gegen das völkervernichtende Hitlerregime auf. Dabei gestand er sich ein: „Auch heißt, ein Volk zur Erhebung aufrufen, noch nicht, an seine Fähigkeit dazu im tiefsten Herzen glauben." 167 Er sprach also zu Menschen, denen er sich nach Herkunft, Tradition, Geschichte verbunden fühlte, die er aber nicht restlos verstand. „Das Über-Bord-Werfen aller Menschlichkeit; der Amoklauf gegen alles, was Menschen bindet und sittigt; die desperate Vergewaltigung aller Werte und seelischer Güter, die sonst doch auch den Deutschen und nicht zuletzt ihnen am Herzen lagen; die Errichtung des totalen Kriegsstaates im Dienste des Rassen-Mythos und der Wcltunterjochung . . ." 168 - weiter könne ein System schon nicht mehr gehen. Wie hatten sie, die Deutschen selber, all das nicht nur zulassen, sondern direkt oder indirekt daran mitwirken können? Dabei unterschied er stets ganz exakt zwischen den Wirklich-Schuldigen und den Mitschuldig-Gewordenen. Zu den letzteren sprach Thomas Mann als Aufklärer. Die Kluft zwischen ihm und seinen mutmaßlichen Hörern war beträchtlich. Zwar bestärkten ihn in seinem Tun „aufs sonderbarste chiffrierte Rückäußerungen", die das Bedürfnis nach dem freien Wort bekundeten. Aber die Distanz blieb, bis zuletzt, trotz des schmerzhaften Leidens an Deutschland. Und es war da auch die tiefe Enttäuschung zu Anfang, daß sich Deutschland nicht selbst befreit hatte. Nach der Kapitulation Hitlerdeutschlands, als die ersten Nachrichten aus der Heimat eintrafen, notierte er: „Man erfuhr, wie viele Leute denn doch dort, aller Gefahr zum Trotz, dem englischen Sender und auch meinen Ansprachen begierig gelauscht hatten." 169 Im Krieg aber war die Ungewißheit der Wirkung; im Gegensatz zu Olga Bergholz sprach er zu einem anonymen Hörer. Dieser Sachverhalt

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festigte in der publizistischen Tagesarbeit seine Position der Geistigkeit. Die Öffentlichkeit, der sich Thomas Mann stellte, verkörperte für ihn das „Deutschland Dürers und Bachs und Goethes1 und Beethovens", dem er in der Zukunft „den längeren historischen Atem" zutraute.1"0 Sein individuelles Gewissen, das er als Quelle seiner künstlerischen Produktivität betrachtete, gebot ihm, nicht zu ruhn im Mahnen und Aufrütteln und Erklären, wie die Welt eingerichtet ist und wo der Platz Deutschlands in einer friedlichen Welt sein wird. Der moralisierende Grundton war Ausdruck dieser spezifischen Beziehung zwischen Autor und Hörer. Es sprach ein Mann, der bereits 1930 in der Rede Appell an die Vernunft seine Landsleute vor dem gewarnt hatte, was mit dem erstarkenden Nationalsozialismus auf sie zukam - vor dem K r i e g . Das „kräftige Lutherdeutsch", das Alexander Abusch in Thomas Manns offenem Brief an Paul Olberg (1949) rühmte, verleiht bereits diesen Texten das deftig derbe sprachliche Kolorit. Die Polemik mit dem Todfeind des deutschen Volkes und aller Völker vertrug keine fein geschliffene, ausgewogene Handschrift. Einzelne Metaphern waren wie aus grobem Stein gehauen. Hitler war für Thomas Mann der „Verhunzer des Wortes, des Denkens und aller menschlicher Dinge" 171 . Gegen diesen Mißbrauch setzte er die Begriffe Kultur und Humanität in ihrer wahren Bedeutung. Für den Versuch der Hitlerfaschisten, die europäische Kultur für sich in Anspruch zu nehmen, fand er Worte bitteren Spotts und eiskalter Verachtung. In der Ansprache vom 24. Oktober 1942 nahm Thomas Mann den von den Nazis in Wien inszenierten „Europäischen Jugend-Kongreß" und die Rede Baidur von Schirachs zum Anlaß, um mit bissiger Ironie die Idee der „Schinder und Henker der Völker Europas" von einer „europäischen" Kultur ad absurdum zu führen: „Zwar haben wir Nazis gerade eben im Gogol-Museum und in Jasnaja Poljana alles kurz und klein geschlagen und im Tschaikowski-Museum auch; aber es wäre verfehlt, darum unser inniges Verhältnis zur Kultur zu bezweifeln. Zwar hat sich der Großteil lebendiger europäischer Kultur, Kunst und Wissenschaft vor uns aus Europa davongemacht und sich an die Gestade Englands und Amerikas geflüchtet. Aber Praxiteles 107

und Rembrandt sind die unseren, sie sind die RenommierPatrone des von Hitler geeinigten Europa und der Nazi-Kultur." Und Thomas Mann schlußfolgerte: „Daß der absurdeste deutsche Nationalismus und Rassen-Größenwahn den Namen .Europa' annimmt und ein monopolistisches Ausbeutungssystem errichtet, wie es so schamlos die ganze Geschichte des Imperialismus nie gesehen hat." 172 Thomas Mann hat in Die Entstehung des Doktor Faustus. Roman eines Romans bekundet, wie eng im Krieg seine Arbeit für die Öffentlichkeit mit der „eigentlichen" Arbeit, der schriftstellerischen, verschränkt war. Sie war „eingebettet" „in den Drang und Tumult der äußeren Ereignisse"173. Das „Sich-eingraben in den neuen Arbeitsgrund" 174 mit der ganzen Fülle „begleitender Lektüre" hielt seinen Sinn „empfänglich-offen . . . für Eindrücke von außerhalb des Zauberkreises, aus der Welt des Nicht-Zugehörigen"175. Die Entstehungsgeschichte des Faustus-Kovaaas wird immer wieder durch knappe Mitteilungen von den tragischen Vorgängen in Europa unterbrochen, derart wie „Kämpfe um das glühende und qualmende Stalingrad" 176 , von Zeit zu Zeit auch durch eine Notiz über eine fällige Radiosendung. Die intensiven Wechselbeziehungen zwischen Werk und publizistischer Äußerung sind unübersehbar. „Das Schreiben parallel mit den Ereignissen, die das .eigentümlich Wirkliche' in diesem Roman hervorbringen", bemerkte Alexander Abusch, „beruhte nicht nur auf einem Kunstgriff, einer artistischen Raffinesse des Dichters, sondern auf dem Charakter des Faustus als Lebensbeichte, so daß gerade in ihm viele Gedanken aus seinen Essays und Reden gestaltet sind, die Form des Romans durch sie ausgeweitet wird." 177 Das „Weltgetöse" wurde ständig mitbefördert - mitgedacht, mitverarbeitet. Thomas Mann sah sich durch die Erfindung des Erzählers Serenus Zeitblom in die Möglichkeit versetzt, „die Erzählung auf doppelter Zeitebene spielen zu lassen, die Erlebnisse, welche den Schreibenden erschüttern, während er schreibt, polyphon mit denen zu verschränken, von denen er berichtet, also daß sich das Zittern seiner Hand aus den Vibrationen ferner Bombeneinschläge und aus inneren Schrecknissen zweideutig und auch wieder eindeutig erklärt" 178 . In den Radiosendungen haben die ständigen „Vibrationen" ferner Ereig108

nisse und die dadurch ausgelösten tiefen Erschütterungen ihren unmittelbaren Ausdruck gefunden. Sie sind offene Bekenntnisse zu einem „sozialen Humanismus". Der Gegenstand der Rundfunkansprachen, Zeugnisse der kämpferischen Haltung und humanistischen Gesittung Thomas Manns, gab ihm auch direkte Impulse für künstlerische Darstellungen. Das Gesetz, ein Tag nach der Radiosendung zum zehnten Jahrestag der Machtübernahme Hitlers begonnen, schließt mit dem „Fluch dem Menschen, der da aufsteht und spricht: ,Sie (die zehn Gebote - N. T.) gelten nicht mehr.' Fluch ihm, der euch lehrt: ,Auf, und seid ihrer ledig! Lügt, mordet und raubt, hurt, schändet und liefert Vater und Mutter ans Messer, denn so steht's dem Menschen an, und sollt meinen Namen preisen, weil ich euch Freiheit verkündete.' Der ein Kalb aufrichtet und spricht: ,Das ist euer Gott. Zu seinen Ehren tuet dies alles und dreht euch ums Machwerk im Luderreigen!' . . ."179 Das Sittengesetz, so erläutert der Autor, ist die menschliche Zivilisation selbst, und „der Fluch am Ende gegen die Elenden, denen in unseren Tagen Macht gegeben war, sein (Moses N. T.) Werk, die Tafeln und Gesittung, zu schänden, läßt wenigstens zum Schluß keinen Zweifel an dem kämpferischen Sinn der übrigens leicht wiegenden Improvisation"180. In der Rundfunkansprache vom 25. April 1943 zitiert er aus dieser Geschichte, die für eine Novellensammlung bestimmt war. Zehn Autoren verschiedener Nationalität schrieben über die zehn Gebote, die von Hitlerdeutschland geschändet wurden, ein Buch über den Krieg und darüber, was in diesem Krieg verteidigt wurde: die Humanität. Thomas Mann, der sich selber als einen unpolitischen Menschen bezeichnet hatte, äußerte sich unter dem Einfluß der Zeitereignisse immer nachdrücklicher als ein durch und durch politischer Mensch. Die Ansprache vom August 1942, die in der Sowjetunion veröffentlicht wurde, nannte viele Tatbestände einer systematischen Zerstörung nationaler Sprachen und Kulturen in den von Hitlerdeutschland okkupierten Gebieten. Diesen gefährlichen Tendenzen stellte Thomas Mann die Aufgabe entgegen: „Wiederherzustellen ist vor allem und in einem damit die Idee .Europa', die eine Idee der Freiheit, der Völ109

kerehre, der Sympathie und der menschlichen Zusammenarbeit war in den Herzen der Besten und es wieder werden muß." 1 8 1 Seine Vorstellung von der Idee „Europa" und der künftigen Welt-Zivilisation, die er, beeindruckt von Roosevelts programmatischer Rede, für die Nachkriegszeit erhoffte, enthielt allerdings die Illusion einer von Klassenkämpfen freien Kultur der ganzen „Welt". 1 8 2 * Dennoch war für ihn „Europa" kein abstrakter Begriff. Im amerikanischen Exil litt er nicht nur an Deutschland. Er litt an dem blutenden, ausgebeuteten Europa - „gefoltert, geschändet, entmannt, ausgemordet" 183 . Er erhob Anklage: „Es (Nazi-Deutschland - N. T.) hat die natürlichen Rechte der Völker Europas mit Füßen getreten, sie ausgeplündert, sie zu Sklaven erniedrigt, sie der Bildungsmittel beraubt, ihnen das Gedächtnis ihrer Geschichte, ihre nationalen Kulturen zu nehmen gesucht. Dann ist es zurückgetrieben, geschlagen, überwältigt worden." 184 Er suchte seinen deutschen Hörern aus der Ferne ein Jahr vor Kriegsende begreiflich zu machen: „Nicht um Deutschland dreht sich die Welt." „Um Europa . . . , um seine mißhandelten Völker, um die Rekonstruktion des Erdteils und seine Sicherung gegen erneuten Angriff wird es sich nach dem Krieg vor allem handeln . . ." 1 8 5 Deutschlands Zukunft sah Thomas Mann in der Rückkehr zur Menschlichkeit, und er sprach noch mitten im Krieg die Hoffnung aus: „Möge dieser Krieg die Macht denen zuwenden, hinter deren Stirnen Vernunft, in deren Herzen Sympathie wohnt und denen Macht ein Mittel zum Guten ist!" 1 8 6 Nach dem Sieg der sowjetischen Truppen in Stalingrad stellte er der verlogenen Nazi-Propaganda von einer angeblichen „Roten Gefahr" das von der Sowjetunion verbürgte Recht auf Selbstbestimmung der Völker gegenüber und zitierte aus der sowjetischen Regierungserklärung, die der Botschafter I. M. Maiski am 24. September 1941 auf einer Konferenz der Alliierten in London verlesen hatte: „Die Sowjetunion verteidigt das Recht jeder Nation auf Unabhängigkeit und Unverletzlichkeit ihres Gebietes . . . und auch ihr Recht, die soziale Ordnung zu errichten und die Regierungsform zu wählen, die sie für ratsam und notwendig hält." 1 8 7 * Thomas Mann war daher fest überzeugt: „Der Tag ist vielleicht nicht mehr fern, an dem das deutsche Volk in Rußland einen besonnenen Freund erkennen 110

wird." 188 Erklärungen dieser Art veranlaßten Ilja Ehrenburg zu der bereits zitierten Feststellung, der Moralist Thomas Mann stehe in der militärischen Auseinandersetzung auf der Seite der um ihre Befreiung kämpfenden Völker. Der faktologische Wert der Rundfunkansprachen Thomas Manns ist weitaus geringer als beispielsweise derjenige der Sendungen der Olga Bergholz. Das war schon allein dadurch bedingt, wie und wo jeder von ihnen den Krieg erlebte, für wen und mit welcher Wirkungsabsicht sie schrieben. Thomas Mann fehlte die innige Bindung einer Olga Bergholz an das Volk, an das er sich wandte. Seine Vorstellung von den Menschen, an die er seine Worte richtete, war viel zu ungenau, auch die Kenntnis vom Krieg selbst. Seine Rundfunkreden waren durchweg Appelle an die Vernunft von der geistigen Position eines bürgerlichen Demokraten. Dennoch sind sie Dokumente in einem weiteren Sinne.189 Sie geben Aufschluß, wie von einer fortschrittlichen politischen Position das Kriegsgeschehen beurteilt und in keiner Phase, so ungünstig sich auch die Lage für viele Völker gestaltete, an der endgültigen Vernichtung des Hitlerfaschismus gezweifelt wurde. Und sie belegen die im Krieg erkannte Nowendigkeit, mit dem geschriebenen und gesprochenen Wort die Zerschlagung des Hitlerfaschismus in Deutschland zu beschleunigen. Daher werden sie heute aus geschichtlicher Sicht als eine beachtliche Leistung in Thomas Manns Gesamtwerk betrachtet und zugleich als eine wichtige historische Erfahrung der Literatur aus der Zeit des antifaschistischen Kampfes. Unter dem Einfluß einer andersgearteten Dialektik von Literaturpraxis und Gesellschaftspraxis kam es bei Olga Bergholz und bei Thomas Mann zu jeweils völlig anderen Verbindungen von angestrengter Authentizität und entsprechendem publizistischen Instrumentarium. Trotz dieser erheblichen Divergenz sind beider Rundfunkansprachen Beweisstücke eines allgemeinen Vorgangs im Werk antifaschistischer Schriftsteller während des zweiten Weltkrieges. Die Bedrohung der Menschheit - ihrer Existenz ebenso wie ihrer Kultur - schuf eine historische Modellsituation, in der die Macht des Wortes den Wirkungsraum von Literatur erweiterte. Die Schreibenden erkundeten neue Mittel und Möglichkeiten, mit dem Ziel, sich einen 111

direkten Zugang zu ihren Lesern zu verschaffen. Angesichts der akuten Gefahr für das menschliche Sein wurde die Politisierung der Kunst verstärkt vorangetrieben. In der Sowjetunion wurden einige Kunstformen aus der Zeit des Bürgerkrieges erneuert: Plakatgedicht, TASS-Fenster, Flugblatt. Das jüngste Massenmedium, der Rundfunk, hatte jedoch noch wenig Erfahrungen, wie das gesprochene Wort am stärksten wirkte. Seine spezifischen publizistischen Mittel waren in Praxis und Theorie noch wenig ausgebildet und schlecht erkannt. Aber gerade er erreichte die Menschen in den besetzten Gebieten, zu denen das gedruckte Wort nur selten oder gar nicht gelangte. In den kritischsten Tagen der Leningrader Blockade war er die beständigste Verbindung zwischen der Stadt und dem Sowjetland. Leningrad und Sewastopol tauschten während der harten Verteidigungskämpfe ihre Erfahrungen über den Äther aus. Olga Bergholz kündete im tödlichen Blockadering von dem ungebrochenen Willen sowjetischer Menschen, ihre Freiheit und ihr sozialistisches Lebensprinzip und damit das menschliche Prinzip schlechthin zu verteidigen. Sie mobilisierte alle ihre schöpferischen Kräfte zur Stärkung des Widerstandswillens ihrer Landsleute - in ihrem persönlichen Gespräch mit den Leningradern über den Drahtfunk ebenso wie mit Hilfe des authentischen Berichts über die sich tapfer verteidigende Stadt in den Sendungen Es spricht Leningrad. Ihr Beispiel beweist: Die Mitarbeit von Schriftstellern im Rundfunk war nicht minder wichtig als in der Tagespresse. Sie war eine besondere Form der literarischen Äußerung und ist als solche in die literaturhistorische Betrachtung einzubeziehen.190 Thomas Mann schärfte im Krieg über das gleiche Medium seinen publizistischen Stil und verstärkte seine Öffentlichkeitsarbeit, um mit seinen Möglichkeiten als Schriftsteller einen wirksamen Beitrag zur Befreiung des eigenen Volkes ebenso wie der ganzen Menschheit vom Hitlerfaschismus zu leisten. Er rechnete sich an, daß er dem „Lästerer der Menschheit Hohn und Fluch" 19i geboten und die „Verrottung und Auflösung des .Dritten Reiches'"192 diagnostiziert hatte, als sich Hitler und seinesgleichen noch als die Sieger in Europa wähnten. Und er ließ nicht ab, trotz der Ungewißheit der Resonanz, die Deut112

sehen in Deutschland zum aktiven Widerstand aufzurufen, aus dem Wissen heraus, daß in das vom Faschismus beherrschte Land das freie Wort vorwiegend nur über ausländische Rundfunkstationen dringen konnte. - Antifaschistische Flugblätter und Druckschriften hatten eine weitaus geringere Verbreitung. Der Historiker, der die Geschichte des zweiten Weltkrieges erforscht, kommt nicht ohne das Studium der Literatur aus. Die bedeutenden Leistungen einschließlich der für Presse und Rundfunk verfaßten Texte sind nicht nur Zeitdokumente im weiteren Sinne. In ihrer Gesamtheit sind sie eine Chronik des Krieges. Sie legen Zeugnis davon ab, wie vieles sich wirklich zugetragen hat, was in keinem offiziellen Dokument festgehalten wurde. Neben Tatsachen schildern sie vor allem die Umstände, unter denen die Menschen damals gelebt und gehandelt haben, und den Geist der Zeit. Außer ihrem jeweils spezifischen dokumentarischen Gehalt geben die analysierten Texte von Olga Bergholz und Thomas Mann auch Aufschluß über eine bedeutende Errungenschaft der antifaschistischen Literaturen im zweiten Weltkrieg. Unter den Bedingungen des sich zuspitzenden internationalen Klassenkampfes hatte die Publizistik wesentlichen Anteil daran, daß sich das Bündnis der antifaschistischen Kulturschaffenden der Welt festigte. Entscheidend für die theoretische Verallgemeinerung dieses Prozesses ist nicht, daß sich in jedem Fall direkte Beziehungen herstellen lassen, sondern der objektive Tatbestand, wie literarische Zeugnisse trotz divergierender inhaltlicher und funktionaler Aspekte auf ein aktuelles Epochenproblem reagierten, zu welchem Zweck sie entstanden waren und welche Wirkung sie in der weltpolitischen Auseinandersetzung tatsächlich hatten. Die historische Distanz von heute und das umfassendere Wissen vom Krieg als einer historischen Epoche, die in das Schicksal vieler Völker verändernd eingegriffen hat, trennen Zeitgebundenes von den bleibenden Zeugnissen. D a ß viele solcher Zeugnisse von bleibendem historischen Wert aus der Feder von Schriftstellern stammen, ist kein Zufall. Das hängt offenbar mit der von Sergej Salygin analysierten Verbindung von Tatsache, Gegenstand und Hinzugedachtem im Kunstwerk zusammen, mit der Fähigkeit des Schriftstellers, nicht nur einfach Tatsachen in einer mehr oder weniger guten literarischen Ver8

Thun. Krieg

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packung zu bieten, sondern die Tatsachen durch sein Wissen und durch seinen Intellekt zu „erhärten".193 Die Publizistik der sowjetischen Schriftsteller im Krieg zeichnete sich gerade dadurch aus, daß häufig Tatsachen aus erster Hand in künstlerischen Bildern verarbeitet sind, die mehr als nur einen momentanen Zeiteindruck vermitteln. Sie entstanden in einer neuartigen Verbindung von Kunstmittel und Kunstkonzept, so daß das Bild ebenso real ist wie geschichtsphilosophisch „aufgeladen". Der Schriftsteller schrieb auch für die Zeitung oder den Rundfunk in seiner eigenen Sprache. Ehrenburg leitete aus der Beobachtung, daß sich die Redaktionen im Verlaufe des Krieges immer häufiger an die Schriftsteller wandten, die Tatsache ab: „Der Schriftsteller kann also sagen, was andere nicht zu sagen vermögen. Das heißt, der Schriftsteller kann so sprechen, wie andere nicht zu sprechen vermögen."194 Im Spannungsverhältnis von Leserbezug und Funktionsverständnis fanden die Schreibenden neue kunstpraktische Lösungen, wie ihr Wort in den gesellschaftlichen- Kampf aktiv eingreifen kann. Auf diese Weise haben einige von ihnen bereits damals Wirklichkeitsbereiche erschlossen, über die die Literatur in späteren Jahren - Zumindestens bis heute - nichts Bedeutenderes zu sagen vermocht hat. Das betrifft insbesondere die Beschreibung des Lebens während der Blockade Leningrads. Die Schriftsteller der Stadt - Olga Bergholz, Wera Inber, Wera Ketlinskaja, Nikolai Tichonow, Wsewolod Wischnewski und viele andere - haben die bedeutende Einzelheit und die wahren Motive des Kampfes authentisch aufgezeichnet. Der literarische Wert dieser Zeugnisse muß von der Literaturgeschichte künftig stärker berücksichtigt werden,.wobei das Verhältnis von Zeitdokument, Stil und Funktion an markanten Beispielen genau zu untersuchen ist.

2 Peter Weiss' Stück Die Ermittlung trieb 1965 die Diskussion um das Dokumentarische in der Kunst auf einen Höhepunkt. Der eigentliche Beweggrund, warum sich derzeit neue Kunstbestrebungen in einigen Ländern dokumentarischer Verfahrens114

weisen bedienten, war ein aktueller. Die Künstler erprobten neue Verfahren, sich der geschichtlichen Wirklichkeit wieder stärker zu bemächtigen. Diese Anstrengungen waren darauf gerichtet, sich entsprechend dem eigenen, jeweils spezifischen gesellschaftlichen Anliegen verändernd in die Wirklichkeit einzuschalten. Der historische Drehpunkt zweiter Weltkrieg vieler solcher Versuche ist bemerkenswert. Zwanzig Jahre nach Kriegsende erforderte die weltpolitische Situation eine klare Haltung angesichts der neuen Gefahren, die aufzogen. Peter Weiss suchte die Provokation. „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch!" - das Brecht-Wort traf den Kern. 1 9 5 Die Bedenken, die gegen das dokumentarische Verfahren von Peter Weiss in der B R D lauthals geltend gemacht wurden, waren von einem politischen Unbehagen diktiert. Weiss' Widersacher bemühten sich, die ideologische Konfrontation in einer Methodendebatte zu entschärfen und der Montage-Technik von Dokumenten des Auschwitz-Prozesses das ihr zugrunde liegende literarische Prinzip abzusprechen. Diese Bemühungen einer Diskreditierung scheiterten an der Leistung und Wirkung. Peter Weiss ging es um die Ermittlung der „Welt von raffiniert gelenkten Wirklichkeitsfälschungen"196, der er sich in der Bundesrepublik gegenübergestellt sah, in der der AuschwitzProzeß stattgefunden hatte. Die erzielte Wirkung der Aufführungen auf dortigen Bühnen war Bestätigung des Weges - vor dem Zwang der künstlerischen Argumentation anhand dokumentarischer Beweise gab es kein Ausweichen. Die Ringaufführung des Stückes am 19. und 20. Oktober 1965 in achtzehn Städten der D D R bekräftigte den Reichtum an Wirkungsmöglichkeiten, die durch dokumentarische Szenenfolgen erschlossen werden können, sowie die unterschiedliche Rezeption in anderen sozialen Verhältnissen. Allgemein betrachtet unterscheidet sich der Vorgang, wie gespielte bzw. gelesene Prozeßprotokolle rezipiert werden, nicht grundsätzlich davon, wie ausschließlich aus künstlerischer Phantasie geschaffene Dialoge aufgenommen werden. Denn auch sie wecken in vielen Fällen die Illusion von wirklichen Begebenheiten oder schildern, zwar mittels der Fiktion, wirkliche Begebenheiten. Das künstlerische Prinzip liegt in der Auswahl, Montage und Darbietung der Dokumente. Ein Vergleich der 8*

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Ermittlung mit Stücken wie Heinar Kipphardts In der Sache ]. Robert Oppenheimer und Rolf Hochhuts Der Stellvertreter oder auch Rolf Schneiders Prozeß in Nürnberg verweist auf die vielfältigen Realisierungen von objektiven Tatbeständen und Vorgängen im Protokollarstück. Die Diskussion um Die Ermittlung zeigte über das aktuelle politische Moment hinausweisend ein Entwicklungsstadium der zeitgenössischen Kunst an, da nahezu in allen Kunstarten das Dokumentarische erneut einer eingehenden Prüfung seiner Möglichkeiten unterzogen wurde. An historischen Wendepunkten, zu Zeiten sozialer Umbrüche haben die Künstler stets ein besonderes Interesse für das Dokument bekundet, wobei der Rückgriff auf dokumentarische Darstellungsweisen jeweils in anderen Formen erfolgte. Voraussetzung war immer ein gewichtiges politisches, soziales oder philosophisches Anliegen. Zur Erklärung der in den sechziger und beginnenden siebziger Jahren kräftig entwickelten Tendenz wird meist das gestörte harmonische Gleichgewicht zwischen Wahrheit und Fiktion, ihrer traditionellen Beziehungen angeführt. Die Kunst müsse ihre Glaubwürdigkeit wieder erhöhen; sie müsse ihr Eingriffsvermögen in das rezipierende Bewußtsein, damit in die Wirklichkeitsprozesse der Gegenwart, maximal steigern. Diesem Standpunkt näherten sich Künstler von unterschiedlichen weltanschaulichen und kunstprogrammatischen Positionen. Es ist daher danach zu fragen, ob der Trend zum Dokumentarischen als ein allgemeiner betrachtet werden kann oder ob nicht doch eine „Grenz"linie im methodischen Vorgehen besteht. Die verbreitete Auffassung, daß die dokumentarische Wirklichkeitsdarstellung zunehmend an „Einfluß auf das gesamte System des künstlerischen Denkens"197 gewonnen hat, war auch die Kehrseite einer Unterschätzung der Möglichkeiten der Fiktion. An dieser Diskreditierung war schließlich die Fiktion selbst maßgeblich beteiligt gewesen, denn noch weiter als hinter den „nouveau roman" - Allain Robbe-Grillets Das Labyrinth oder Claude Simons Die Straße in Flandern - konnte die Prosa bei der Behandlung beispielsweise des Kriegsstoffes schon nicht mehr zurückgehen. Die Figuren verlieren sich in einer verdinglichten, dabei atmosphärisch verdichteten, ins Absurde verwandelten Kriegswelt. Ganz zu schweigen von der Flut sich 116

neofaschistisch oder antisowjetisch gebärdender „Massenliteratur" über den zweiten Weltkrieg in den USA und der BRD, den plumpen Belletrisierungen grober Wirklichkeitsfälschungen eines Wouk oder Konsalik. Die vielfältigen neuen Anläufe, Versuche und Experimente einzelner Autoren verschiedener Nationalliteraturen lassen sich nicht generalisieren, auch nicht der Weg e i n e s Autors als d a s gültige dokumentarische Verfahren, um so mehr, da sich in jüngster Zeit wiederum ein neuartiges Verhältnis von Erfindung und Zeugnis in den erzählenden Genres herausgebildet hat. So verdeutlichen beispielsweise die zweite, wesentlich erweiterte Fassung von Sergej Smirnows Die Brester Festung und Alexander Kluges Schlachtbeschreibung, beide im gleichen Jahr, 1964, erschienen, daß die Dokumentartechnik an sich noch nichts über die ästhetische Struktur eines Werkes und dessen Wirkungsmöglichkeit aussagt. Die unterschiedlichen Intentionen und die andere Arbeits- und Schreibweise der Autoren beeinflußten jeweils den Umgang mit dem Dokument. Smirnow formulierte im Vorwort, in dem Offenen Brief an die Helden der Brester Festung, sein Anliegen: Rekonstruktion der Verteidigung der Festung in allen Phasen und mit allen Einzelheiten, Beschreibung des heldenhaften Widerstands vieler Soldaten und Offiziere, deren Namen und Taten unbekannt geblieben waren, und zugleich Rehabilitierung der nach der Rückkehr aus der Gefangenschaft zu Unrecht Beschuldigten und Verurteilten. Smirnow arbeitete also zunächst mit der Gewissenhaftigkeit und Gründlichkeit eines Forschers, um einen in der Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges wichtigen Vorgang aufzuhellen. Vieles wußte man bis dahin nur vom Hörensagen, und manches war schon Legende. Mit seinem Buch verfolgte er eine aufklärerische und eine erzieherische Absicht. E r wandte sich an die Zeitgenossen der beschriebenen Ereignisse und auch an die nach ihnen kommenden Generationen. Smirnow verzichtete auf eine Fabel. Er ging dabei von einer einfachen Überlegung aus: „Die Ereignisse der Brester Verteidigung, der Mut und das Heldentum der Festungsgarnison übertrafen jede Phantasie; die besondere Wirkungskraft des Tatsachenmaterials beruhte auf seiner Realität, seiner Wahrhaftigkeit." 198 Die Buchstruktur ist zweisträngig. Der Gang 117

der Nachforschungen und die historischen Ereignisse sind miteinander verschränkt. Die innere Spannung des Berichts ergibt sich aus der allmählichen - exakten - Aufklärung des gesamten Vorgangs. Dabei hielt sich der Autor streng an das Prinzip authentischer Namen und Begebenheiten. Dieses Verfahren preßte ihn, wie er bekannte, in einen engen Rahmen. Jede Tatsache, jedes Detail ist historisch verbürgt: nichts ist hinzu erfunden. Erst im Arbeitsprozeß wurde ihm das komplizierte Verhältnis bewußt, in welchem die einzelnen Augenzeugenberichte zum Gesamtvorgang standen. Die subjektiven, in der Sicht auf den Gesamtvorgang zumeist eingeschränkten Erinnerungen der Beteiligten ergaben in der Summe noch nicht den objektiven Verlauf der Kämpfe. Er habe folglich so schreiben müssen, daß keine Einzelheit von einem Augenzeugen widerlegt werden konnte. Und umgekehrt habe keiner der Augenzeugen die Verteidigung der Festung so darlegen können, wie sie der Autor darlegen mußte. Smirnow wählte eine Schreibweise, die den Leser in die Wahrheitsfindung unmittelbar einbezieht. Er schildert Erfolge und Mißerfolge bei der Sucharbeit, persönliche Begegnungen, Treffen von Kampfgefährten, die seit jenen tragischen Ereignissen nichts mehr voneinander gehört hatten. Der Autor ist dadurch in seiner dokumentarischen Geschichte als ein am Vorgang selber beteiligter Berichterstatter stets gegenwärtig. Jeder Erfolg erfreut ihn, und jeder Mißerfolg betrübt ihn. Einschübe in der Ich-Form sind nicht nur ein stilistisches Mittel, etwa eine Art Kunstgriff zur Auflockerung des „trockenen" Berichts. Sie kennzeichnen das Verfahren selbst, denn Smirnow konnte sich nicht einfach auf „fertige" Dokumente stützen, die dann höchstens noch zu montieren gewesen wären. Er mußte zunächst Tatsachen, Dokumente herbeischaffen, ja mehr noch, er mußte häufig durch Sichtung von Archivmaterialien, Befragungen und exakte Protokolle erst Dokumente „herstellen". Und dieses Verfahren ermöglichte ihm wiederum einen besonderen Effekt: Die Brester Festung ist ein dokumentarischer Bericht über Menschen und zugleich ein Bericht der Menschen selber, die überlebt haben. Die Ausdrucksweise ist knapp, präzise, ohne schmückende Beiwörter. Der Autor war auf höchstmögliche Wirkung der 118

realen Tatsachen bedacht: „Vielleicht werfen mir die einen oder anderen der Schreibenden oder Lesenden eine gewissermaßen trockene Darbietungsweise vor, das Fehlen von ausdrucksvollen Metaphern oder Vergleichen, von Landschaft und Dialog. Ich glaube jedoch, die Erzähltemperatur muß der Stofftemperatur proportional entgegengesetzt sein. Das, worüber ich schreibe, ist der bis zur Weißglut erhitzte Stoff erstaunlicher, heroischer Taten unserer Menschen. Darüber muß man meiner Meinung nach maximal zurückhaltend und streng schreiben, vielleicht sogar eine Spur in der lakonischen Kürze von Heeresberichten."199 Die Spannung zwischen „Erzähltemperatur" und „Stofftemperatur" bestimmt die besondere Erzählhaltung Smirnows. Et wollte ein vergangenes Geschehen, das in das geschichtliche Gedächtnis des Sowjetvolkes als etwas Bedeutendes und zutiefst Tragisches eingegangen ist, authentisch darstellen. Seine Erkundungen deckten sich mit geschichtswissenschaftlichen Untersuchungen, und dennoch ist das Buch mehr als ein geschichtlicher Report. Nicht die Tatsachen an und für sich stehen im Mittelpunkt, sondern die Schicksale und Verhaltensweisen sowjetischer Menschen in einem heroischen Kampf gegen feindliche Übermacht. Das persönliche Engagement des Autors bei der Wiederherstellung der „ganzen" Wahrheit lag somit im Interesse der gesamten Gesellschaft und war Ausdruck des gesellschaftlichen Bedürfnisses, die eigene Geschichte als eine von Menschen - von ihnen selber - gemachte Geschichte zu begreifen. Das Allgemeingültige ist dadurch zugleich das Persönliche und zutiefst Menschliche, und das Persönliche wird zum Allgemeingültigen. Im Vergleich zu den im Kriege verfaßten authentischen Berichten, beispielsweise zur Leistung der Olga Bergholz, hat diese Dialektik eine größere historische Dimension angenommen. Smirnows jahrelang betriebenen Nachforschungen führten ihn über verschiedene Anläufe - das Stück Die Festung am Bug (1955), die Vorstufen Die Festung an der Grenze (1956), Auf der Suche nach den Helden der Brester Festung (1957) und einen kurzen historischen Abriß - zum Buch Die Brester Festung. Die gesellschaftliche wie die literarische Resonanz war wider Erwarten groß. Smirnows Dokumentar119

bericht hatte wesentlichen Anteil daran, daß sich in der Sowjetliteratur der fünfziger Jahre die historische Sicht auf den vergangenen Krieg vertiefte und vereinfachte Darstellungen von Heldentaten abgebaut wurden. Heldentum wird nicht nachdrücklich benannt, es tritt ohne Pose in Erscheinung. Das Heldische liegt im Wesen des Vermittelten. Das Neue war nicht schlechthin das gewählte dokumentarische Verfahren. Das Neue war eine veränderte Beziehung von Kunstleistung und Kunstwirkung. Smirnow schrieb Die Brester Festung zu der Zeit, da das Schreiben über den Krieg wie Schreiben überhaupt einer strengen Selbstkritik ausgesetzt war und verschiedene Tendenzen aufeinander stießen. Gefordert war ein exakteres, historisch gesichertes Bild der realen Vorgänge. Smirnow gehört zu den Schriftstellern, die sich mitunter noch vor den Historikern solchen Wahrheitsfindungen mit ihren spezifischen Mitteln annahmen. Ihre Leistungen können daher nicht nur nach dem Kunstwert im engeren Sinne beurteilt werden, so beachtlich er auch im konkreten Fall war - zu Recht werden die jüngsten Werke von Wassiljew und Bogomolow sowie die Gemeinschaftsarbeit von Adamowitsch, Bryl und Kolesnik in der Nachfolge Smirnows betrachtet. Sie erfüllen eine wichtige gesellschaftliche Funktion. Im direkten wie übertragenen Sinn setzte Die Brester Festung vielen Kämpfern des Großen Vaterländischen Krieges ein Denkmal. Dabei handelte es sich ausschließlich um konkrete Namen, Überlebende und Tote, von deren Taten nur ganz wenige wußten, aber auch und vor allem um die Erforschung des Menschenmöglichen und Menschenwürdigen unter Umständen, die dem einzelnen ein Höchstmaß an moralischer Kraft abverlangten. Smirnow hat den pragmatischen Aspekt in einem anderen Zusammenhang klar formuliert: „Heroische Beispiele von Mut, Selbstlosigkeit, Heimattreue, Kampf für eine gerechte Sache erzeugen im Menschen die besten Eigenschaften, derer er bedarf, womit er sich auch immer beschäftigt." 200 Die beschleunigte Entwicklung von Wissenschaft und Technik zwinge den Menschen, sich für sein Land und gleichzeitig für den ganzen Planeten verantwortlich zu fühlen. Die Darstellung des Großen Vaterländischen Krieges werde unter diesem Blickwinkel ihre menschenbildende Funktion noch lange Zeit bewahren. 120

Das große Interesse für Smirnows Brest-Buch - für Stoff und Darstellungsart - war ein doppeltes. Der Gegenstand war ein geschichtlicher, und er war noch gelebtes Leben der Überlebenden und der Angehörigen der Toten, im weiteren Sinne Hunderttausender sowjetischer Menschen, die Ähnliches durchlebt und durchlitten hatten. Geschriebenes handelte von ihnen selbst. Das gesellschaftliche Bedürfnis nach solchen Wahrheitsfindungen machte bewußt, wie viel Literatur zu leisten vermag, wenn sie wirkliche Vorgänge aufspürt und eine Darstellungsart gewählt wird, „die den Vergleich mit dem zugrunde gelegten besonderen Wirklichkeitsbereich aushalten" 201 kann. Und mehr noch: Die Brester Festung veranlaßte die sowjetischen Schriftsteller darüber nachzudenken, wie wichtig es ist, daß gerade sie sich auf Grund ihrer Fähigkeit zu schreiben und ihrer eigenen Kriegserfahrung solchen Stoffen zuwenden. Die Dokumentartechnik bewährte sich dabei als ein Verfahren unter anderen. Ihr Vorzug war die verbürgte Wahrheit. Selbst der „phantastische" Einzelfall war glaubwürdig. Auch das schier Unmögliche, Unglaubhafte wurde so dargestellt, wie es sich in Wirklichkeit zugetragen hatte, ohne Übertreibung, sachlich, fast „trocken". Die Tatsachen sprechen für sich. Sie bedurften keiner literarischen Umschreibung oder Ausschmückung. Das dokumentarische Verfahren deckt sich mitunter auf erstaunliche Weise mit der Erfahrung von Autoren, sobald sie entgegen ihrer Gewohnheit, erdachte Geschichten aufzuschreiben, einen realen Vorfall wiedergeben: „Literarische Wahrheit fällt manchmal auf nüchterne (oder ernüchternde) Weise mit den Fakten zusammen."^ D a ß der dokumentarische Bericht auf diese Weise weitaus mehr auszusagen vermag als dessen belletrisierte Fassung, beweist ein Vergleich mit Boris Wassiljews Roman 'Wurde in den Listen nicht geführt (1974) über den letzten Verteidiger der Brester Festung, der, wie auch Smirnow schreibt, sich erst im Frühjahr 1942 ergeben haben soll. Der Name und das weitere Schicksal dieses Mannes konnten nicht festgestellt werden. Diese legendäre Figur hat Wassiljew in der Gestalt des jungen Leutnants Nikolai Plushnikow verkörpert. Die ersten Teile des Romans sind offenbar unter dem Einfluß der Vorlage Smirnows betont einfach geschrieben. Man kämpft ohne große 121

Worte - die kommen nur ganz selten und sind dann psychologisch gut motiviert. Kämpfen und Töten ist das Einfachste, Richtigste im Moment. Das „Automatische" dieses Verhaltens ist das organisierende Moment in den Reihen der noch Kämpfenden (eine ähnliche Funktion hat die strikte Einhaltung des Reglements in Wassiljews Stille Dämmerstunden). Gegen Ende, da das Reale Züge der Legende annimmt, hält der Autor diese Erzählweise nicht durch, vielleicht war dieser Bruch auch gewollt. Aber durch das Banale und Sentimentale, das vor allem mit der Liebesgeschichte in den Roman hineinkommt, verflacht das so gut Begonnene. Das aufmontierte, als solches nicht gekennzeichnete Hemingway-Zitat 203 und die Überlegungen über Siegen und Getötetwerden variieren nochmals das Leitmotiv „ . . . sie starben ohne Schande". Die Figur ist schließlich nur noch Symbol. Insgesamt vermochte Wassiljew nicht, als er das von Smirnow aufgezeichnete Tatsachenmaterial weiterdachte und literarisch verarbeitete, diesem etwas Neues, Bedeutendes hinzuzufügen. Auch Konstantin Fedin benützte Smirnows Dokumentarberichte, noch die ersten Veröffentlichungen, als Quelle für den Anfang seines Romans Die Flamme. Sie sind jedoch in den Text und in die Fabel völlig einfunktioniert, so daß eine innere Verbindung zur Brester Festung oder gar ein literarischer Vergleich nicht in Betracht kommt. 304 * Eine direkte Fortführung der Arbeits- und Schreibweise Smirnows ist die Kollektivarbeit Ich komme aus einem Dorf in Flammen (1974) der belorussichen Autoren Alexander Adamowitsch, Janka Bryl und Wladimir Kolesnik. Adamowitsch wie Bryl schreiben bereits seit Jahren über die Kriegsereignisse in Belorußland und vorwiegend den Partisanenkampf. Offenkundig begriffen sie nicht nur den unschätzbaren geschichtlichen Wert der Aussagen von Zivilpersonen, die am eigenen Leibe die systematische Ausrottung belorussischer Dörfer durch faschistische deutsche Sonderkommandos erlebt hatten, sondern auch die Notwendigkeit, solche Aussagen zusammenzutragen, solange diese Menschen noch leben. Und offenkundig ist auch die Erkenntnis, den gewohnten Kunstraum überschreiten zu müssen, um überhaupt über solche schrecklichen, unvorstellbaren Geschehnisse schreiben zu können. Ähnlich Smir122

now hatten auch die belorussischen Schriftsteller zuvor Prosaarbeiten zum gleichen Thema verfaßt. In die Erzählung Stätten des Schweigens (1972) hatte Adamowitsch einige Dokumente eingefügt. Das Erzählen vom persönlichen Schicksal einer Figur und über sie von einer kleinen Partisaneneinheit ermöglichte ihm jedoch nicht, das tragische Schicksal des belorussischen Volkes in vollem Umfang zu erfassen, die Tatsache, wie ganze Dörfer, ja Gruppen von Dörfern systematisch vernichtet wurden und wie dennoch, trotz der unbeschreiblichen Opfer, in den Menschen die Überzeugung lebte: Man muß dem Feind Widerstand leisten, mochte er sich rächen, sie quälen und peinigen. Adamowitsch äußerte unter Berufung auf die Leistung Smirnows die Überzeugung, daß das Dokument, selbst das objektivste, nicht nur Kenntnisse vermittele. Es forme das staatsbürgerliche Bewußtsein der Leser. Diese Wirkungsabsicht bestimmt auch Anlage und Aussage der Dokumentation. Ich komme aus einem Dorf in Flammen besticht durch einen klaren inneren Aufbau. Das zusammengestellte Tatsachenmaterial ist so beeindruckend und beweiskräftig, daß sich die Autoren auf ein Minimum von Einschüben, Erklärungen und Wertungen beschränken konnten. Die Aussagen sind in der Weise montiert, daß sich ein umfassendes Bild von der planmäßigen Zerstörung und Entvölkerung des Gomeler Gebietes ergibt, wobei das Material nach den verschiedenen Methoden der Massenvcrnichtung geordnet ist. Die erschütternden Tatsachen werden durch statistische Angaben - Zahlen der betroffenen Dörfer und der Opfer - und einige wenige historische Dokumente, darunter belegte Äußerungen eines Hitler, Himmler und Speer, erhärtet. Sie lassen keinerlei Zweifel daran aufkommen, daß es sich nicht nur um Vergeltungsmaßnahmen gegen die Partisanentätigkeit oder gar Zufälle, Kompetenzüberschreitungen einiger SS-Leute gehandelt hat. Die „Aktionen", „Selektionen" und „Exekutionen" waren System, erfolgten nach einem bis ins Detail ausgearbeiteten Plan zur Dezimierung der belorussischen Bevölkerung: „Sie töten. Familie um Familie. Bauernhaus um Bauernhaus. Die Maschine arbeitet, eine Maschine, von der jedes Schräubchen doch irgendwie auch Menschen sind. Da gehen Zweibeinige durch die Straßen, halten Ausschau, daß sie kein Haus, keine 'Seele' übersehen 123

sie arbeiten gewissenhaft. Und dabei erörtern sie doch auch irgend etwas in einer menschlichen Sprache, und jeder hat in seinem Schädelkasten zehn Milliarden Zellen Gehirnmasse. Alle 'gesetzmäßigen' zehn Milliarden." 205 Kommentare dieser Art sind selten. Sie sind knapp gehalten und verfolgen an mehreren Stellen die Absicht, das Gesamtausmaß der Verbrechen an der Menschlichkeit sichtbar 2u machen: „Morden, hängen, ertränken, brennen müssen die Faschisten, das ist ihre Existenzweise. Schließlich wollten sie Deutschland selbst in eine 'Wüstenzone' verwandeln. Andere Länder standen ihnen für diese 'Arbeit' schon nicht mehr zur Verfügung." So habe Hitler den Befehl zur Überschwemmung der U-Bahnschächte in Berlin gegeben. „Mit Deutschland haben sie begonnen. MitDeutschland haben sie geendet, indem sie 'Deserteure' und 'Panikmacher' an Pfählen und Bäumen aufhängten und deutsche Frauen und Kinder einfach ertränkten."206 Einige Kommentare haben lediglich die Funktion, von den Augenzeugen geäußerte Gedanken zu unterstreichen. So werden die Sätze „Ich dachte, daß sie alle nacheinander umbringen" und „ich hatte schon keine Angst mehr vor dem Tod . . . " im Autorkommentar wiederholt und wie folgt interpretiert: „Achten Sie auf diese Worte. Derartige Worte tauchen in verschiedenen Berichten auf. Der Mensch, der so etwas mitangesehen hat, fängt an zu glauben, daß es schon überall, 'in der ganzen Welt' so zugeht."207 Simonow war von der Publikation seiner Kollegen stark beeindruckt: „Das ist ein talentvolles Buch. Die Montage ist genau und wahrhaftig, und, das ist das Wichtigste, die individuelle Intonation der befragten Personen wurde beibehalten . . .'