Literatur und Geschichte: Ein Kompendium zu ihrem Verhältnis von der Aufklärung bis zur Gegenwart 9783110900613, 9783110170238

History, as both literary critics and historians agree, is not a given, but forms itself in specific patterns of thought

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German Pages 612 [616] Year 2002

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Table of contents :
Einleitung
I. Systematische Perspektiven
a. Theorien und Methoden
Vom Nutzen und Nachteil der Literaturtheorie für die Geschichtstheorie
Strukturanalytische Hermeneutik: Eine Methode zur Korrelation von Geschichte und Textverfahren
Historiographisch-Iiterarische Interferenzen. Möglichkeiten und Grenzen des Diskursbegriffes
Zwischen den Texten der Geschichte. Vorschläge zur methodischen Beerbung des New Historicism
b. Narrativität: Formen, Funktionen, Wandel
Der literarische Eigensinn narrativer Geschichtskonstruktionen: Das Beispiel der Literaturgeschichtsschreibung
Moderne Geschichtskonzepte im Spannungsfeld von Kontinuität und Diskontinuität
Narration – Erinnerung – Geschichte: Zum Verhältnis von historischer Urteilskraft und literarischer Darstellung
c. Leitaspekte
Shoah-Geschichte(n): Die Vernichtung der europäischen Juden im Spannungsfeld von Historiographie und Literatur
Germanias Speicher. Populärkultur und kollektives Gedächtnis
,Das Undurchsichtige begreifen‘. Geschichte und gender
II. Epochen und Gattungen
a. ,Sattelzeit‘
Evidenz und Wahrscheinlichkeit: Wahlverwandtschaften zwischen Romanpoetik und Historik in der Spätaufklärung
Ästhetische Geschichtsphilosophie und die Historisierung der Poetik am Ende des 18. Jahrhunderts
Goethezeitliche Ästhetik und die Ermöglichung einer textuellen Repräsentation der ,Geschichte‘. Zur Genese einer symbolischen Form
b. ,Historismus‘
Historische Romane und ästhetischer Historismus: Text-Bild-Relationen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts
Geschichte und Nation. Das ,nationale Princip‘ als Determinante der deutschen Historiographie 1840-1880
Inszenierte Geschichte. Der Zusammenhang zwischen Dramenform und Geschichtsauffassung als theoretisches und praktisches Problem im 19. Jahrhundert
Intertextualität und Historismus in der Lyrik des 19. Jahrhunderts
„Jamais l'histoire ne sera fixée.“ Zur Topik historischen Erzählens im Historismus (Flaubert)
c. ,Emphatische Moderne‘
Formen historischer Lyrik in der literarischen Moderne
,Krisis des Historismus‘ und geschichtliche Gestalt. Zu einem ästhetischen Geschichtskonzept der Zwischenkriegszeit
Der Teufel zwischen Heilsgeschichte und Groteske. Oder: Wann gehört ein historischer Roman zur literarischen Moderne?
d. Gegenwart
Geschichtsfähigkeit als Menschheitstraum. Geschichtsphilosophische Perspektiven in Heiner Müllers dramatischer Historiographie
Von der fiktionalisierten Historie zur metahistoriographischen Fiktion: Bausteine für eine narratologische und funktionsgeschichtliche Theorie, Typologie und Geschichte des postmodernen historischen Romans
Die Herausforderung der außereuropäischen Literaturen der Gegenwart (Schwarzafrika, Lateinamerika) für die Beziehungen zwischen Literatur und Geschichte im Kontext der Postmoderne
Personen- und Werkregister
Sachregister
Beiträgerinnen und Beiträger
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Literatur und Geschichte: Ein Kompendium zu ihrem Verhältnis von der Aufklärung bis zur Gegenwart
 9783110900613, 9783110170238

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Literatur und Geschichte

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Literatur und Geschichte Ein Kompendium zu ihrem Verhältnis von der Aufklärung bis zur Gegenwart

Herausgegeben von Daniel Fulda und Silvia Serena Tschopp

Walter de Gruyter · Berlin · New York 2002

© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

Die Deutsche Bibliothek — CIP-Einheitsaufnahme

Literatur und Geschichte : ein Kompendium zu ihrem Verhältnis von der Aufklärung bis zur Gegenwart / hrsg. von Daniel Fulda und Silvia Serena Tschopp. — Berlin ; New York : de Gruyter, 2002 ISBN 3-11-017023-X

© Copyright 2002 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Umschlaggestaltung: Christopher Schneider, Berlin

Inhalt Einleitung

l I. Systematische Perspektiven a. Theorien und Methoden

FRANK R. ANKERSMIT Vom Nutzen und Nachteil der Literaturtheorie für die Geschichtstheorie....l3

DANIEL FULDA Strukturanalyusche Hermeneutik: Eine Methode zur Korrelation von Geschichte und Textverfahren

39

STEPHAN JAEGER Historiographisch-literarische Interferenzen. Möglichkeiten und Grenzen des Diskursbegriffes

61

MORITZ BAßLER

Zwischen den Texten der Geschichte. Vorschläge zur methodischen Beerbung des New Historicism

87

b. Narrativität: Formen, Funktionen, Wandel

CORNELIA BLASBERG Der literarische Eigensinn narrativer Geschichtskonstruktionen: Das Beispiel der Literaturgeschichtsschreibung

103

LINDA SIMONIS Moderne Geschichtskonzepte im Spannungsfeld von Kontinuität und Diskontinuität

123

GÜNTER BUTZER

Narration — Erinnerung — Geschichte: Zum Verhältnis von historischer Urteilskraft und literarischer Darstellung 147

VI

Inhalt

c. Leitaspekte

MANUELA GÜNTER Shoah-Geschichte(n): Die Vernichtung der europäischen Juden im Spannungsfeld von Historiographie und Literatur

173

WOLFGANG STRUCK Germanias Speicher. Populärkultur und kollektives Gedächtnis

195

ANNETTE SIMONIS ,Das Undurchsichtige begreifen'. Geschichte \magender

221

II. Epochen und Gattungen a. jSattelzeit' JOACHIM SCHARLOTH Evidenz und Wahrscheinlichkeit: Wahlverwandtschaften zwischen Romanpoetik und Historik in der Spätaufklärung

247

THOMAS PRÜFER Ästhetische Geschichtsphilosophie und die Historisierung der Poetik am Ende des 18. Jahrhunderts

277

DANIEL FULDA Goethezeitliche Ästhetik und die Ermöglichung einer textuellen Repräsentation der .Geschichte'. Zur Genese einer symbolischen Form

299

b. .Historismus'

BARBARA POTTHAST Historische Romane und ästhetischer Historismus: Text-Bild-Relationen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts 323

WOLFGANG E. J. WEBER Geschichte und Nation. Das ,nationale Princip' als Determinante der deutschen Historiographie 1840-1880

343

SILVIA SERENA TSCHOPP Inszenierte Geschichte. Der Zusammenhang zwischen Dramenform und Geschichtsauffassung als theoretisches und praktisches Problem im 19. Jahrhundert 367

Inhalt

VII

MARKUS FAUSER Intertextualität und Historismus in der Lyrik des 19. Jahrhunderts

391

CHRISTOPH BRECHT „Jamais l'histoire ne sera fixee." Zur Topik historischen Erzählens im Historismus (Flaubert)

411

c. jEmphatische Moderne' DIRK NlEFANGER

Formen historischer Lyrik in der literarischen Moderne

441

GREGOR STREIM jKrisis des Historismus' und geschichtliche Gestalt. Zu einem ästhetischen Geschichtskonzept der Zwischenkriegszeit

463

BETTINA HEY'L Der Teufel zwischen Heilsgeschichte und Groteske. Oder: Wann gehört ein historischer Roman zur literarischen Moderne? 489 d. Gegenwart

STEFANIE STOCKHORST Geschichtsfähigkeit als Menschheitstraum. Geschichtsphilosophische Perspektiven in Heiner Müllers dramatischer Historiographie

515

ANSGAR NÜNNING Von der fikrionalisierten Historic zur metahistoriographischen Fiktion: Bausteine für eine narratologische und funktionsgeschichtliche Theorie, Typologie und Geschichte des postmodernen historischen Romans 541 HANS-JÜRGEN LÜSEBRINK

Die Herausforderung der außereuropäischen Literaturen der Gegenwart (Schwarzafrika, Lateinamerika) für die Beziehungen zwischen Literatur und Geschichte im Kontext der Postmoderne 571

Personen-und Werkregister

585

Sachregister

593

Beiträgerinnen und Beiträger

603

Literatur und Geschichte: Zur Kon2eption des Kompendiums L Geschichte liegt nicht in den facta brutta, die das Material einer historischen Analyse ausmachen, und sie wird nicht durch die bloße Registrierung die vollständige und simultane Erfassung in einer „Idealen Chronik" (Danto) gebildet; von Geschichte im spezifischen Sinn sprechen wir dort, wo zu gleich Geschichtsbewusstsein vorhanden ist, wo Gewesenes aufgearbeitet, als Geschichte rekonstruiert und angeeignet wird. [...] Sie ist Gegenstand des Schreibens und Lesens: Sie kommt in einem Schreiben zustande, das den Gegenstand konstituiert, indem es über ihn spricht; und sie wird in einer Lektüre angeeignet, welche Berichte, Dokumente und Spuren entziffert und auslegt.1

Geschichte, verstanden als Integrationsbegriff für vergangenes Geschehen ebenso wie als dessen Darstellung, ist unhintergehbar textgebunden. Aus dieser Einsicht haben sich in den vergangenen Jahren grundlegend neue Fragestellungen entwickelt: Welche Textverfahren konstituieren das Denkmuster ,Geschichte', welche - womöglich literarischen - Muster prägen je unterschiedliche Begriffe von Geschichte? Welchen Anteil haben literarische Repräsentationen von Historic — narrativ, dramatisch oder lyrisch — an den Geschichtsbildern einer Gesellschaft? Und auf welche Weise korrelieren die Funktionen literarischer oder wissenschaftlicher Geschichtsbilder mit den jeweils gewählten Darstellungsmodi? Wie wirkt sich die Referenzillusion etwa im historischen Roman auf den Umgang der Literatur mit ihrer spezifischen Repräsentationssituation aus, was leistet die Autoreflexion, zu der die literarische Geschichtsdarstellung mehr und mehr neigt, einerseits für die moderne ästhetische Diskussion, andererseits für die Epistemologie des Historischen? Gewohnte Begriffe werden dabei problematisch: Was heißt jFiktionalität' im Bereich der Geschichtsrepräsentation, was .Darstellung? Suchte man nach einer zusammenfassenden Kurzformel all dieser Fragen, so böte sich an: Welche produktiven, welche prekären Konsequenzen hat die 1

Emil Angehrn: Vom Lesen und Schreiben der Geschichte. Dekonstruktion und historischer Sinn. In: Selbstorganisation. Jb. für Komplexität in den Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften 10 (1999), S. 217-236, hier S. 217f

2

Einleitung

Überkreuzung von Faktizität und Fiktion in den literarischen und wissenschaftlich-historiographischen Texten der ,Geschichte? Solche Aufmerksamkeit für die Textualität der Geschichte problematisiert nicht allein den Gegenstand der Geistes- und Kulturwissenschaften, sondern darüber hinaus deren eigene Verfahren.2 Wenn eine eindeutige Unterscheidung zwischen einerseits Texten und andererseits der Geschichte nicht mehr möglich ist, da beide aus dem jeweils anderen hervorgehen, wird die herkömmliche ,historische' Interpretation von Texten, d. h. das Interpretieren aus dem geschichtlichen .Kontext', in dem die jeweiligen Texte entstanden sind, unterkomplex. Sie bedarf der Ergänzung durch eine Analyse jener Textverfahren, vermöge welcher ein Kontext als .Geschichte* erkennbar wird. Nach der spezifischen Textualität der .Geschichte' zu fragen verlangt den Geistes- und Kulturwissenschaften zugleich eine Reflexion auf die eigene Prämisse ab, nämlich auf das historische Denken, das seit dem späten 18. Jahrhundert die Episteme der .kulturellen Moderne' bildet. II.

Entscheidende Impulse für die hier skizzierten Forschungstendenzen sind den seit 1973 vorgelegten Studien des amerikanischen Ideenhistorikers Hayden White zu verdanken.3 Vorbereitet, begleitet und ergänzt wurden sie durch semiotische und strukturalistische Problematisierungen des herkömmlichen, historistischen Geschichtsdenkens ebenso wie einen Narrativismus, der von der Analytischen Philosophie seinen Ausgang nahm, von der Hermeneutik aufgenommen wurde und mittlerweile die Psychologie erreicht hat.4 Hinzugetreten sind Impulse der Diskursanalyse, deren Adaption durch den New Historicism sowie neuerdings gender- und medienwissenschaftliche Mittlerweise liegen sogar Versuche vor, die Diskussion aus den historischen Wissenschaften in die Naturwissenschaft zu übertragen und für eine allgemeine Wissenschaftstheorie fruchtbar zu machen. - Vgl. Rainer-M. E. Jacobi (Hrsg.): Geschichte zwischen Erlebnis und Erkenntnis. Berlin 2000 (Selbstorganisation. 10; 1999). Zusammenfassend: Hayden White: „Figuring the nature of the times deceased": Literary Theory and Historical Writing. In: Ralph Cohen (Hrsg.): The Future of Literary Theory. New York, London 1989, S. 19-43, 411^14; dt. in: Herta Nagl-Docekal (Hrsg.): Der Sinn des Historischen. Geschichtsphilosophische Debatten. Mit Beiträgen von Emil Angehrn u.a. Frankfurt a.M. 1996 (Philosophie der Gegenwart; Fischer TB. 12776), S. 67-106. Vgl. Roland Barthes: Le discours de l'histoire. In: Information sur les Sciences Sociales 6 (1967), H. 4, S. 65-75; dt.: Historic und ihr Diskurs. In: alternative 11 (1968), S. 171180; Paul Ricceur: Temps et redt. Bd. 1-3. Paris 1983-85; dt: Zeit und Erzählung. Bd. 1-3. Übers, von Rainer Rochlitz und Andreas Knop (Bd. 3). München 1988-91 (Übergänge. 18,1-3); Jürgen Sträub (Hrsg.): Erinnerung, Geschichte, Identität. Bd. 1: Erzählung, Identität und historisches Bewußtsein. Die psychologische Konstruktion von Zeit und Geschichte. Frankfurt a. M. 1998 (stw. 1402).

Einleitung

3

Studien.5 Virulent geworden ist die von all diesen Ansätzen vorgetragene Frage nach der Textualität sowohl der literarisch als auch der wissenschaftlich repräsentierten .Geschichte' schließlich auch für Untersuchungen zu den Geschichtsbildern einer Gesellschaft und deren soziokultureller Funktion, zu den Techniken des kollektiven .Gedächtnisses' oder zur ,Undarstellbarkeit' singulärer historischer Ereignisse wie des Holocaust.6 Die zunächst meist theoretisch oder gattungshistorisch diskutierten Problerne der ,Literatur und Geschichte'-Forschung gewinnen hier sozial- und ideologiegeschichtliche Relevanz. Der Weite des Forschungsfeldes korrespondiert eine außerordentliche Vielfalt der angewandten Methoden und theoretischen Prämissen. Bemerkenswerterweise folgt daraus aber nicht, dass die zentralen Befunde der verschiedenen Forschungsrichtungen nicht mehr miteinander vermittelbar wären. Allem Anschein nach zeichnet es die Beschäftigung mit der Textualität der Geschichte sogar vor vielen anderen Bereichen der Literaturwissenschaft aus, dass scheinbar so feindliche Perspektiven wie die von Hermeneutik und Dekonstruktion konvergieren: Wie der Philosoph Emil Angehrn kürzlich herausgestellt hat, konstituiert auch und gerade die dekonstruktive Tätigkeit ,Geschichte', denn sie vollzieht sich in einem Prozess, der nie ^fcr/s teilen kann, sondern einen steten Wandel der Bedeutungen sichtbar macht. Dieser Wandel aber kennzeichnet auch die postidealistisch-hermeneutisch verstandene .Geschichte': Wie Geschichte kein planmäßig-teleologisches Hervorbringen, sondern ein objektiv-kontingentes Geschehen ist, das in der retrospektiven Strukturierung zu dieser konkreten Geschichte verfestigt wird, so ist Dekonstruktion nicht das Zurückfuhren auf intentionale Akte und Äußerungen, sondern das Sich-Abarbeiten an Gebilden und Sich-Einfügen in einen vielschichtigen Prozeß, der durch die dekonstruktive Neubeschreibung selber weitergetrieben und über sich verständigt wird. So findet in der Dekonstruktion in dem Sinn ein flachen' von Geschichte statt, dass die Auflösung und Transformation unseres Bildes von der Geschichte auf diese zurückschlägt, zum Teil der Geschichte wird.7

Vgl. die Sammlung exemplarischer Aufsätze bei Frank R. Ankersmit und Hans Kellner (Hrsg.): A New Philosophy of History. London 1995 (Critical Views), sowie Elizabeth Deeds Ermarth: Sequel to History. Postmodernism and the Crisis of Historical Time. Princeton 1992. Vgl. Gesa von Essen u. Horst Turk (Hrsg.): Unerledigte Geschichten. Der literarische Umgang mit Nationalität und Internationalität. Göttingen 2000 (Veröffentlichungen aus dem Göttinger SFB 529 „Internationalität nationaler Literaturen". Serie B: Europäische Literaturen u. internationale Prozesse. 3). Angehrn: Vom Lesen und Schreiben der Geschichte (wie Anm. 1), S. 223.

4

Einleitung

In der Tat: „Die Verwiesenheit auf Geschichte wird durch das Fehlen metaphysisch-teleologischer Fundamente nicht abgeschwächt, sondern im Gegenteil radikalisiert"8 — nicht zuletzt diesen (selbstverständlich auch seinerseits vorläufigen) Schluss legt die vielstimmige Diskussion um ^Literatur und Geschichte' nahe. Die Forschungen, die der vorliegende Band ausschnittsweise dokumentiert, bieten daher zugleich Ansatzpunkte, jene theoretischmethodische ^Hauptkampflinie' zwischen Hermeneutik und Dekonstruktion zu überwinden, die das literaturwissenschaftliche Fachgespräch seit geraumer Zeit restringiert. Das außerordentliche Interesse, das die Textualität der Geschichte seit einigen Jahren in der Literaturwissenschaft findet, könnte auch auf diese Weise dem Fach insgesamt zugute kommen.

III. Die Thesen Hayden Whites haben zunächst die internationale (weniger die deutsche) Geschichtstheorie belebt. Auf historiographiegeschichtlichem Feld sowie in der literaturwissenschaftlichen Erforschung von historischem Roman und Drama hat die Frage nach der Textualität der Geschichte erst in den letzten Jahren Früchte getragen. Doch sind gerade in diesen Bereichen rasch gewichtige Ergebnisse erzielt worden, da man mittlerweile auf ein elaboriertes Theorieangebot zurückgreifen konnte. Nach wie vor unbefriedigend ist dagegen die Vernetzung der meist isolierten, auf mehrere Disziplinen verteilten Forschung. Was in zahlreichen Einzelstudien geleistet wurde, fügt sich noch nicht zu einem grundlegend neuen Bild.9 Eine breite Diskussion, wie sie im Bereich der Geschichtstheorie die 1977—90 publizierte Reihe Theorie der Geschichte. Beiträge %ur Historik sowie die seit 1993 erschienenen Bände Geschichtsdiskurs geleistet haben, ist in der Literaturwissenschaft, zumal der deutschen, bislang nicht recht in Gang gekommen. Darunter leidet sowohl der Austausch unter den beteiligten Forschern als auch die Vermittlung der Ergebnisse an die weitere Fachdiskussion. An diesem Punkt setzt der vorliegende Band an. Angestrebt wurde eine möglichst breite Dokumentation der methodischen und thematischen Vielfalt aktueller Forschung und zugleich eine Vernetzung, die sowohl Schlüsse zieht als auch Dissenspunkte deutlicher werden lässt und weiterer Diskussion anempfiehlt. Zweck dieser interdisziplinären Revision des erreichten Forschungsstands ist es darüber hinaus, die Entwicklung weiterführender Perspektiven zu erleichtern. Als den genannten Zielsetzungen dienlichste Publikationsform erachten wir ein Kompendium, das den Versuch, die Breite und Vielfalt des Forschungsfeldes zu dokumentieren, mit akzentsetzender Aus8 9

Ebenda, S. 226. Vgl. Daniel Fulda: Geschichte als Literatur. Tendenzen und Probleme der Forschung. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift N. F. 51 (2001), S. 95-113.

Einleitung

5

wähl verbindet. Wir rekurrieren damit auf jenes im 18. Jahrhundert, am Beginn der Historisierung auch des wissenschaftlichen Denkens, herausgebildete Verständnis von ,Kompendium', das nicht eine illusionäre Vollständigkeit, sondern zweckhafte Selektivität anzielt.10 Auswahl ist in jeder wissenschaftlichen Darstellung unumgänglich, ja konstitutiv für deren Relevanzanspruch, der seinerseits auf Relevanzzuschreibungen basiert. Unser Konzept erforderte es, auch aus dem unzweifelhaft Relevanten noch auszuwählen, um annähernd einen Überblick über das gesamte Forschungsfeld in einem Band geben zu können. Die Beiträge haben daher überwiegend den Charakter von Fallstudien. Repräsentativ möchte das vorliegende Kompendium nicht hinsichtlich der berücksichtigten Autoren und Texte sein, sondern in bezug auf die bevorzugten Methoden, Fragestellungen und Arbeitsfelder der aktuellen Forschung. Diesem Leitgedanken folgt der Aufbau des Bandes. Seine primäre Gliederung ergibt sich aus der Unterscheidung • zwischen systematischen Perspektiven — bevorzugten Methoden, den Hauptsträngen der Theoriebildung, der Diskussion um die Narrativität wissenschaftlicher wie literarischer Geschichtsrepräsentationen sowie Aspekten von aktuellem Interesse — und • exemplarischen Fallstudien, welche die wichtigsten Varianten des ,modernen' Geschichtsdiskurses in ihrer Epochenstellung analysieren. Umriss und Parzellierung des Forschungsfeldes ergeben sich weiterhin durch Unterscheidungen nach Epochen' sowie nach Disziplinen bzw. Gattungen: • Die Unterscheidung nach ,Epochen' trägt der Historizität des Geschichtsbegriffs und der mit ihm jeweils verbundenen Textverfahren Rechnung. Als Post-quem-Grenze wurde die Mitte des 18. Jahrhunderts angesetzt, als sich der moderne, totalisierende Geschichtsbegriff herauszubilden begann.11 Zu verfolgen, wie ältere und (in einer näher zu bestimmenden Weise) andere Begriffe und Repräsentationen von Geschichte sich konstituieren, hätte den Rahmen des vorliegenden Bandes gesprengt. Zerfall oder Zerstreuung der einen ,Geschichtec, wie sie im 20. Jahrhundert hervortreten, wurden hingegen einbezogen, da jene Auflösungstendenzen die Frage nach der Konstruktion von .Geschichte' erst hervorgebracht haben und die Grundlage gegenwärtiger Reflexion bilden. Die interne Untergliederung in ,Sattelzeit', ,Historismus', ,Emphatische Moderne' und ,Gegenwart' ist als heuristische Ordnung in 10

11

Vgl. Kerstin Stüssel: Zwischen Kompendium und .Einführung'. Zur Rolle der Lehrbücher in den Geisteswissenschaften. In: Peter J. Brenner (Hrsg.): Geist, Geld und Wissenschaft. Arbeits- und Darstellungsformen von Literaturwissenschaft. Frankfurt a. M. 1993 (st. 2118), S. 203-230, hier S. 207-209. Vgl. die Beiträge in Sektion Ha, im systematischen Teil zudem die Beiträge von GÜNTER BUTZER und DANIEL FULDA (Abschnitt I).

6

Einleitung

Anlehnung an gebräuchliche, relativ weitgefasste Epochenbegriffe zu verstehen. Die mit ihnen verbundenen Differenzbeobachtungen werden in mehreren Beiträgen reflektiert und begründet.12 • In den herkömmlichen Gattungsbegriffen formuliert, betrifft die Frage nach Textualität und Literarizität der Geschichte sowohl die wissenschaftliche Historiographie als auch literarische Geschichtsdarstellungen. Gattungszugehörigkeiten sind auf dem Feld literarisch-historiographischer Interferenzen aber ebenso wichtig wie prekär und erfordern daher besondere Aufmerksamkeit. Dies gilt insbesondere für den historischen Roman, der in erheblichem Maße durch den Bezug auf die ,Nachbargattung' der anderen Disziplin geprägt ist. Trotz bzw. gerade wegen des bisherigen Forschungsschwerpunktes auf narrativen Texten wurden aber auch das historische Drama und die historische Lyrik berücksichtigt. Angesichts der Vielfalt der Textsorten erwies sich eine Konzentration auf deutschsprachige Texte als unumgänglich. Auf die Notwendigkeit komparatistischer Studien machen gleichwohl mehrere Beiträge aufmerksam; sie widmen sich vor allem den besonders stark von globalen Tendenzen geprägten Geschichtstexten der jüngsten Zeit. IV.

Die methodisch weit gefächerten Beiträge und ihre vielfältigen Ergebnisse auf einen Nenner zu bringen widerspräche Anlage und Absicht des Bandes. Doch kssen sich einige übergreifende Tendenzen benennen, die uns verstärkte Beachtung zu verdienen scheinen. So konvergieren in der Sektion la Theorien und Methoden die teilweise divergierenden Ansichten von der Relevanz literaturwissenschaftlicher Perspektiven für Geschichtstheorie und Historiographieanalyse in dem Befund, dass .Textualität' bzw. ,Diskursivität' ein Schlüsselkonzept für die Ermittlung von Strukturen des historischen Denkens darstellt. Den Schluss auf einen .Text-Absolutismus' zieht gleichwohl keiner der Beiträger, ungeachtet der ganz unterschiedlichen Theorieansätze (Analytische Philosophie, Hermeneutik, Diskursanalyse, New Historicism). Übereinstimmend betont wird vielmehr die Kontextabhängigkeit von (Geschichts-)Texten, sei es in referentieller, pragmatischer, politischer oder kultureller Hinsicht. Ein weiteres übergreifendes Motiv bildet die Frage nach der Adaption der geschichtstheoretischen Debatte durch die Literaturtheorie und ihre Nutzung für die Analyse literarischer Formen der Geschichtsrepräsentation. Eine Reihe von Beiträgen des vorliegenden Bandes belegt, dass diese Adaption in der Praxis weit fort12

Vgl. die Beiträge von THOMAS PRÜFER (Abschnitt T), WOLFGANG E.J. WEBER (Abschnitt II) und CHRISTOPH BRECHT (Abschnitt IV), GREGOR STREIM (Abschnitt I) und BETTINA HEY'L (Abschnitt I) sowie von HANS-JÜRGEN LÜSEBRINK (Abschnitt I).

Einleitung

7

geschritten ist. Auf theoretisch-systematischer Ebene scheint die Diskussion indes noch erweiterungsbedürftig, nicht zuletzt in die weitere Öffentlichkeit der literaturwissenschaftlichen Fächer hinein. Den Nutzen der Narrativitätsdebatte für die textanalytische Ermittlung von Geschichtskonzepten und -bildern belegen die drei Beiträge der Sektion Ib Narrativität: Formen, Funktionen, Wandel. Sie spannen einen weiten historischen Bogen von der Narrativierung der (Literatur-)Geschichtsschreibung im frühen 19. Jahrhundert über die Krise des mit der historiographischen Erzählung verbundenen Kontinuitätskonzepts in der ,klassischen Moderne' bis zur Kritik bzw. verstärkten Reflexivierung der Erzählung im späten 20. Jahrhundert. Dabei wird deutlich, dass die Erzählung einerseits nie eindeutige, strikt kontinuierliche Geschichte(n) schafft, dass sie sich vielmehr schon früh selbst Rekonstruiert*. Andererseits ist die narratio unverzichtbar, denn ihr .anderes' — zum einen die res gestae, zum anderen historische Brüche und Diskontinuitäten und drittens die Textverfahren Argumentation und Reflexion — vermag sich nur in bzw. an ihr darzustellen. Zweierlei trägt, so die Beiträge der Sektion, zu diesem wie immer eingeschränkten Fortleben narrativer Muster bei: zum einen der Eigensinn von Texten, der sich gegen antinarrative Autorintentionen geltend macht, zum anderen die strukturelle Korrelation von .Geschichte' und narrativer Kontinuität. Die Beiträge der Sektion Ic Aktuelle Leitaspekte stellen Arbeits- und Diskussionsfelder vor, für die jene Formen der Geschichtsrepräsentation besondere Bedeutung gewonnen haben, die über eine narrative Kontinuitätskonstruktion hinausgehen bzw. mit ihr brechen. Im Fall der Shoah wird häufig schon die prinzipielle Möglichkeit einer Darstellung bestritten oder jedenfalls die Möglichkeit einer synthetisierenden Darstellung, die nicht entweder Täteroder Opfergeschichte wäre. Ästhetischen Verfahren kommt hier nicht selten die Rolle eines Auswegs zu, ebenso wie ästhetische Ausdrucksformen in der kultur- und mentalitätsgeschichtlichen ^«^fr-Forschung als besonders prägnante Quellen gelten, anhand derer die gesellschaftliche Stellung von Frauen rekonstruiert werden kann. Eine solche Geschichtsschreibung zielt auf das gesellschaftliche Imaginäre, das auch dort in den Blick rückt, wo die Darstellung und Gestaltung von Geschichte im Medium Fernsehen analysiert wird. Vordergründig ist der mediale Wandel hier sehr deutlich: Ton und bewegte Bilder treten an die Stelle der Schrift, die üblicherweise das Paradigma der ,Literatur und Geschichte'-Debatte bildet. Ikonische Darstellungsweisen bzw. ikonographische Darstellungsabsichten spielen, wie mehrere Beiträge im zweiten Teil des Bandes darlegen, freilich seit jeher eine bedeutende Rolle im Geschichtsdiskurs. Ihr Verhältnis zu narrativen, ,genuin historischen' Mustern zu klären dürfte nicht nur im Hinblick auf die gegenwärtige ,Medienrevolution' weiterhin von Interesse sein.

8

Einleitung

Den zweiten, nach ,Epochen' gegliederten Teil des Bandes eröffnet die Sektion Ha ,Sattel%eif. Sie zeichnet den Übergang vorn rhetorischen Paradigma, wie es Historik und Poetik noch der Aufklärung beherrschte, zum ästhetischen, das sich um 1800 durchsetzte, nach. ,Geschichte' und »Literatur' beeinflussten sich dabei wechselseitig, sei es in Historik und Poetik der Spätaufklärung, sei es in der geschichtsphilosophischen Poetik des frühen Historismus, die sich zugleich als ästhetische Geschichtsphilosophie herausbildete. Diesen Prozessen sowie der Ästhetisierung der - gleichzeitig verwissenschaftlichten — Geschichtsschreibung unter dem Einfluss goethezeitlicher Poetik und Literatur ist grundlegende Bedeutung für den Historismus zuzumessen — und womöglich darüber hinaus, wie sich in einzelnen Beiträgen der folgenden Sektionen andeutet. Wünschenswert ist zudem eine Rückwendung der Forschung auf die goethezeitliche Literatur, und zwar auch auf jene, die nicht bereits stofflich mit Geschichte beschäftigt ist. Erst dann wird sich recht beurteilen kssen, in welchem Maße man — komplementär zur herausgearbeiteten ^sthetisierung der Geschichte' — von einer ,Historisierung der Literatur' sprechen darf. Um den Epochenbegriff der nächsten Sektion lib Historismus hat sich in jüngster Zeit eine lebhafte und kontroverse Debatte entsponnen. Das vorliegende Kompendium bestätigt die dabei hervorgetretene Vielfalt historistischer Geschichtsauffassungen und -darstellungen von der ästhetischen Konstruktion eines fiktionalen Erinnerungsraums über die ideologische Weltoder zumindest Nationalgeschichte bis zu in Balladen vorgetragenen ,Gegengeschichten' oder zum artistischen Spiel mit den Aporien der Geschichtsdarstellung. Dabei zeichnen sich sowohl mehrere Phasen (mit Schwellen um 1830, nach der 48er-Revolution sowie nach erfolgter Reichsgründung) als auch typische Affinitäten einzelner Textsorten zu bestimmten Geschichtskonzepten ab. Doch wandelte sich die Gestaltung von Geschichte in den verschiedenen literarischen Gattungen und historiographischen Formen nicht in gleichen Schritten. Angesichts dieser Befunde lässt sich das herkömmliche Deutungsschema »Aufstieg und Niedergang des Historismus' nicht aufrechterhalten. Vielmehr scheint die vielberedete ,Krise des Historismus' diesem immer schon eingeschrieben — mitsamt den Verfahren, ihr zu begegnen. Die Beiträge der Sektion berücksichtigen alle Gattungen der klassischen Trias Drama, Epik, Lyrik; dass auch die Historiographie eine wachsende Textsortendifferenzierung erfuhr, deutet sich an, verdiente indes noch stärkere Aufmerksamkeit. Die ,Emphatische Moderne' des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts (Sektion IIc) hat mit dem ,Historismus' nicht völlig gebrochen, sondern seine Verfahren vielfältig genutzt. So setzte die poetische Kritik an der späthistoristischen Geschichtsschreibung auf Verfahren, deren programmatische Verbindung von .Wissenschaft' und ,Kunst' ein Jahrhundert zuvor eine

Einleitung

9

Prämisse des .Historismus' gebildet hatte. Poesie diente dieser Kritik zugleich als Instrument wie als Maßstab einer Erneuerung der (angeblich) positivistisch erstarrten Geschichtsschreibung. Zwischen autonomer Maßgeblichkeit des Ästhetischen einerseits und Instrumentalisierung im weltanschaulichen Kampf um Geschichtsbilder andererseits schwankte die Stellung des Literarischen auch im historischen Roman. Als alternatives Gedächtnis der Kultur wurde Poesie dagegen im autonomen lyrischen Kunstwerk modelliert; hier bestreitet die literarische Moderne prinzipiell die Gültigkeit des historischen Denkens. Angesichts so divergierender Intentionen lässt sich als Charakteristikum der Epoche kaum mehr als die gegenüber dem 19. Jahrhundert noch gesteigerte Heterogenität ihrer Umgangsweisen mit Geschichte benennen. Und keineswegs alles ist als prägnant .modern' zu rubrizieren. Was in dieser Ambivalenz hervortritt, sind indessen die Ambivalenzen der literarischen Moderne selbst — ein Umstand, den nicht zuletzt die Moderne-Forschung noch stärker nutzen könnte. Die literarischen Tendenzen des späteren 20. Jahrhunderts, welche die letzte Sektion Ild Gegenwart thematisiert, erweitern noch einmal den Rahmen möglicher Umgangsweisen mit Geschichte, ohne ihn aber zu sprengen. Eine ,postmoderne' Erneuerung des historischen Romans, die gerade in den angelsächsischen Literaturen in Blüte steht, steigert die Reflexivität, die dem historischen Erzählen seit je inhärent ist, zur expliziten Thematisierung von geschichtstheoretischen Grundfragen. Im auch räumlichen Sinne erweiternd wirkt außerdem die Globalisierung des historischen Erzählens, das postkoloniale Literaturen sich aneignen, um sein Subversionspotential gegen die Europäer, die bisherigen ,Herren der Geschichte', zu kehren. In Dramen wie denjenigen Heiner Müllers erscheint die hiesige Geschichtsliteratur dagegen eher rückwärtsgewandt, denn sie stellen die Auseinandersetzung mit der katastrophischen nationalen Vergangenheit und die Kritik sinngebender Geschichtsmuster in den Vordergrund. Avancierte und zugleich publikumsträchtige Formen scheinen sich unter diesen Voraussetzungen schwerer durchsetzen zu können. Verallgemeinerungen lässt der unbefriedigende Forschungsstand zur deutschsprachigen Geschichtsliteratur der letzten Dezennien allerdings kaum zu. Um so wichtiger scheint es auch künftig, die fortgeschrittenere Forschung der Nachbarphilologien komparatistisch heranzuziehen. V.

Zur Vorbereitung des Bandes trafen sich im März 2000 Germanisten, Anglisten, Romanisten, Philosophen und Historiker, teils renommierte Forscher, teils Nachwuchswissenschaftler, die in den letzten Jahren weiterführende Beiträge vorgelegt haben, in Schloss Rauischholzhausen bei Marburg. Um

10

Einleitung

den systematischen Anspruch des Kompendiums zu sichern, wurden die Teilnehmer gebeten, ihre Beiträge in einem vorgegebenen Themenbereich zu situieren. Um einige Themen abzudecken, welche die ursprüngliche Planung nicht berücksichtigte, deren Unverzichtbarkeit aber die Diskussion erwies, konnten darüber hinaus weitere Autoren gewonnen werden. Im Dienste optimaler Benutzbarkeit sind die einzelnen Beiträge einheitlich aufgebaut: Neben dem Gesamtregister erleichtert eine jedem Beitrag vorangestellte Gliederung den raschen Zugriff auf einzelne Themen. Jeder Beitrag schließt mit einer Auswahlbibliographie, die sowohl die in den Anmerkungen abgekürzt zitierte Literatur als auch weitere einschlägige Titel anführt. Finanziell getragen wurde die Tagung von der Fritz-Thyssen-Stiftung, die für Ihre Großzügigkeit Dank verdient. Herzlich danken wir auch allen Beiträgern für die ungewöhnlich engagierte, offene und konzise Diskussion sowie für die Kooperationsbereitschaft, mit der sie sich auf das Konzept des Kompendiums einließen. Unser Dank gilt schließlich Jürgen Donien und Stefanie Stockhorst, welche die redaktionelle Einrichtung der Beiträge und die Vorbereitungen für die Drucklegung des vorliegenden Bandes mit großem Engagement und der gebotenen Sorgfalt bewerkstelligt haben. Die Herausgeber

L Systematische Perspektiven a. Theorien und Methoden

FRANK R. ANKERSMIT Vom Nutzen und Nachteil der Literaturtheorie für die Geschichtstheorie I. II. III. IV. V.

Linguistic turn und Geschichtsschreibung Beschreibung und Repräsentation Literaturtheorie und Geschichtstheorie Schluss Auswahlbibliographie

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Im Jahre 1973 veröffentlichte Hayden White sein inzwischen berühmtes Buch Metahistory. Dieses Buch wird im allgemeinen — wie es einer Theorie der Tropologie nur angemessen ist — als Wendepunkt in der Geschichte der Geschichtstheorie angesehen. Man muss nur oberflächlich mit der Entwicklung der Geschichtstheorie seit dem Zweiten Weltkrieg vertraut sein, um zu erkennen, dass die Geschichtstheorie seit der Publikation von Whites opus magnum eine grundsätzlich andere Disziplin geworden ist. Heute werden andere Fragen gestellt und andere Aspekte der Geschichtsschreibung untersucht. Ich möchte mich hier der Frage zuwenden, was durch Whites Revolution erreicht worden ist und was nicht. Dazu werde ich mich konzentrieren auf die Beziehung zwischen dem sogenannten linguistic turn einerseits und der Etablierung der Literaturtheorie als Instrument zum Verständnis der Geschichtsschreibung andererseits. Meine Schlussfolgerungen sind, 1. dass es eine Asymmetrie zwischen den Forderungen des linguistic turn und denen der Literaturtheorie gibt, dass 2. die Verwechslung dieser beiden Forderungskataloge aus der Sicht der Geschichtstheorie sehr unglücklich war, und dass 3. die Literaturtheorie dem Historiker zwar viel über Geschichtsschreibung sagen kann, aber keine Bedeutung für die Art von Problemen hat, die traditionellerweise von einem Geschichtstheoretiker untersucht werden.

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I.

Frank Ankersmit

Linguistic turn und Geschichtsschreibung

In der zeitgenössischen Geschichtstheorie wird die Revolution, die von White ausgelöst wurde, oft mit dem linguistic turn in Verbindung gebracht. Das ist nur zu verständlich, da Whites zentrale These besagt, dass unser Verständnis von der Vergangenheit nicht nur dadurch bestimmt wird, wie die Vergangenheit war, sondern auch durch die vom Historiker verwendete Sprache, mit der er darüber spricht - oder, wie White es formuliert hat, historisches Wissen wird sowohl .gemacht' (durch die Sprache des Historikers) als auch .gefunden' (in den Archiven).1 Nichtsdestotrotz hat White, wenn er diese Behauptung aufstellt, manchmal andere Dinge im Sinn als die Philosophen, die den linguistic turn vertreten. Um angemessen beurteilen zu können, was Whites Revolution in der Geschichtstheorie ausgelöst hat, lohnt es sich, entsprechende Unterschiede zu bestimmen und ihre Auswirkungen aufzuzeigen. Der linguistic turn wird oft mit Quines klassischem Aufsatz Two Dogmas of Empiricism aus dem Jahre 1951 in Verbindung gebracht. Quine kritisierte hier den empiristischen ,,Glaube[n] an eine grundlegende Kluft zwischen einerseits analytischen Wahrheiten, die auf Bedeutungen beruhen und unabhängig von Tatsachen sind, und synthetischen, auf Tatsachen beruhenden Wahrheiten andererseits."2 Quine beanstandete, dass es wahre Aussagen gibt, die in beide Kategorien passen, und daher die Unterscheidung zwischen synthetischer und analytischer Wahrheit nicht so wasserdicht ist, wie Empiristen glauben woll(t)en. Um Quines Absichten zu verdeutlichen, ließe sich beispielsweise an Newtons Gesetz denken, wonach Kraft das Produkt von Masse und Beschleunigung ist. Wir können sagen, dass diese Aussage empirisch wahr ist, da sie mit dem beobachteten Verhalten von physikalischen Objekten übereinstimmt. Daher handelt es sich um eine empirische oder synthetische Wahrheit (anzusiedeln auf der Ebene des jSprechens*). Wir können aber genauso sagen, dass dieses Gesetz eine konzeptuelle Wahrheit darüber enthält, wie sich die Konzepte von Kraft, Masse und Beschleunigung zueinander verhalten. Dann handelt es sich um eine analytische Wahrheit, weil es aufgrund der Bedeutung dieser Konzepte wahr ist (womit es auf der Ebene des .Sprechens über das Sprechen' angesiedelt werden muss). Die Implikationen von Quines Argument gegen die Unterscheidung von synthetisch/analytisch zusammenfassend, schrieb Rorty: (Diese Unterscheidung wurde] durch W. V. O. Quines Artikel Two Dogmas of Empiricism angezweifelt und mit ihr die (Kant, Husserl und Russell gemeinsame) herkömmliche Überzeugung, die Philosophie verhalte sich zu den empirischen Wissenschaften wie die Erforschung von Strukturen zur Erforschung von Gehalten. Angesichts der Zweifel Quines (und unterstützt durch 1

Vgl. White 1991 [1973], S. 49f. 2 Quine 1979, S. 27.

Vom Nutzen und Nachteil der Literaturtheorie für die Geschichtstheorie

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ähnliche Zweifel in Wittgensteins Philosophischen Untersuchungen) daran, daß sich überhaupt angeben läßt, wann wir im Unterschied zum Druck der .Erfahrung' auf den Druck ,der Sprache* reagieren, ließ sich immer schwerer klarmachen, in welchem Sinne der Philosophie ein gesondertes .formales' Forschungsgebiet zukam, inwiefern ihre Ergebnisse also den gewünschten apodiktischen Charakter haben konnten.3

Daher ist die wichtigste Konsequenz, dass wir nicht immer sicher sein können, ob unsere Überzeugungen auf den ,Erfahrungszwang' zurückzuführen sind — wie es bei der empirischen Realität der Fall zu sein scheint — oder auf den .Sprachzwang', also auf die Grundlage eines Apriori, eines analytischen oder philosophischen Arguments. Daher spricht man vom linguistic turn: Sprache kann uns zuweilen Wahrheiten offenbaren, die auf irgendeine Weise die empiristische Dichotomic von Analytisch' und .synthetisch' transzendieren. Ein ähnliches Argument kann auch für die Geschichtsschreibung angeführt werden. Dies um so mehr, als die Bedeutung des linguistic turn für die Geistes- und Sozialwissenschaften weitaus größer ist als für die Naturwissenschaften. Man denke an eine Studie über die Renaissance oder die Aufklärung. Wie im Falle von Newtons Gesetz kann man über eine solche Untersuchung zwei Aussagen machen. Zum einen lässt sich wohl begründet argumentieren, dass die historische Erforschung eines entsprechenden Ausschnitts der Vergangenheit die empirische Basis für diese spezifische Sicht auf die Renaissance oder die Aufklärung ist. Auf der anderen Seite lässt sich genauso gut ins Feld führen, dass diese Studie uns eine Definition — oder den Vorschlag für eine Definition — über die Renaissance oder die Aufklärung präsentiert. Andere Historiker assoziieren mit der Renaissance oder der Aufklärung andere Aspekte der jeweiligen Ausschnitte der Vergangenheit — oder besser gesagt, andere Annahmen über die Vergangenheit — und kommen deshalb zu einer anderen Definition der Renaissance oder der Aufklärung. Wir sollten uns darüber hinaus im Klaren sein, dass Wahrheit hierbei nicht zur Diskussion steht. Wenn ein Historiker vorschlägt, die Renaissance oder die Aufklärung auf eine bestimmte Weise zu definieren, dann kann alles, was er in seinem Buch darüber schreibt, analytisch von der Bedeutung abgeleitet werden, die er dem Ausdruck ,Renaissance£ zu geben wünscht. Was er darüber schreibt, kann daher als eine konzeptuelle Wahrheit angesehen werden, genauso wie sich Newtons Gesetz als eine konzeptuelle Wahrheit interpretieren lässt. Und konzeptuelle Wahrheiten sind Wahrheiten, auch wenn sie zu einer recht spezifischen Kategorie von Wahrheiten gehören. Recht ähnlich lässt sich im Hinblick auf Begriffe wie .Revolution' oder .soziale Klasse' argumentieren und wahrscheinlich auch bezüglich so scheinbar unzweideutiger und klar definierter Begriffe wie .Krieg' und .Frieden'. Beispielsweise .Revolution': Crane Brinton untersuchte in seinem bekannten Rorty 1981, S. 169f.

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Buch The Anatomy of Revolution vier Revolutionen, die Englische Revolution der 1640er Jahre, die Amerikanische Revolution, die Französische Revolution und die Revolution in Russknd im Jahre 1917.4 Wie der Titel des Buches bereits andeutet, wollte Brinton einige Züge oder Muster aufdecken, die allen Revolutionen gemeinsam sind. Er fand diese gemeinsamen Züge vornehmlich in dem Umstand, dass alle vier Revolutionen anscheinend von einer Phase des Anden Regime über eine Herrschaft der Gemäßigten und einer anschließenden Herrschaft der Extremisten schließlich in eine letzte Phase des ,Thermidor' übergingen. Auf diese Weise konnte Brinton durch eine komparatistische Untersuchung von Revolutionen einige empirische Wahrheiten über Revolutionen entdecken. Die Systematisierung von Phänomenen wie Revolutionen erweist sich jedoch insofern als schwierig, als sie ebenso von dem abhängig zu sein scheint, was man in der Vergangenheit tatsächlich findet, wie von der Definition des Wortes Revolution', für die man sich entscheidet. Diese Beobachtung wird bereits durch Brintons Auswahl von Revolutionen veranschaulicht, die er untersucht. So berücksichtigt er auch die Amerikanische Revolution in der Auswahl, die er seiner Analyse zugrunde legt, wohingegen marxistische Historiker beispielsweise behaupten würden, dass es sich dabei um gar keine Revolution gehandelt habe. Denn ihr fehlt der Aspekt des Klassenkampfes, der für Marxisten eine conditio sine qua non darstellt, um etwas als Revolution anzuerkennen. Hätte Brinton eine andere Definition des Wortes Revolution* übernommen, wäre er am Ende wahrscheinlich zu anderen empirischen Ergebnissen über Revolutionen gelangt. Und was würde Brinton weiterhin mit einem sozialen Konflikt anfangen, der seinen Revolutionen in allen relevanten Aspekten gleicht, bei dem es aber unmöglich ist, zwischen der Herrschaft der Gemäßigten und der Extremisten zu unterscheiden? Würde er sich deshalb weigern, diesen sozialen Konflikt als Revolution anzuerkennen; oder würde er stattdessen die Gelegenheit wahrnehmen, um seine Typologie der Revolutionen zu überdenken? Beide Möglichkeiten stehen ihm offen, und dies deutet sehr stark auf die Gleichwertigkeit des Zwangs der Sprache sowie der Erfahrung in dieser Art von sozial- und geschichtswissenschaftlicher Analyse hin. Daher sind wir in beiden Fällen, sowohl beim marxistischen Widerstand gegen Revolutionen ohne Klassenkampf als auch bei Revolutionen, die nicht mit Brintons Revolutionstypologie übereinstimmen, auf die Frage zurückgeworfen: „Was ist eine Revolution?" Wenn Historiker sich mit einer solchen Frage beschäftigen müssen, dann neigen Konzeptionen von Bedeutungen und von empirischen Tatsachen dazu, ununterscheidbar zu werden. Dies ist jedoch keine Schwäche der Geschichtsschreibung, denn wir benötigen sie genau in den Fällen, in denen sich die Wahrheit de dicto und die Wahrheit de re Crane Brinton: The Anatomy of Revolution. New York 1938; dt.: Die Revolution und ihre Gesetze. Frankfurt a. M. 1959.

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miteinander vermischen. Der Versuch, sich in diesen Dilemmata zu entscheiden, indem wir einen Typ von Wahrheit für den anderen opfern, würde das Ende der Geschichtsschreibung bedeuten und uns eines unverzichtbaren Instruments berauben, das es uns ermöglicht, die soziale Welt, in der wir leben, besser zu verstehen. Deshalb werden wir uns in der Geschichtsschreibung zuweilen auf einer Ebene befinden, auf der wir zwischen Wahrheiten de dicto und Wahrheiten de re nicht mehr unterscheiden können. Auf dieser Ebene werden Entscheidungen getroffen, die weitgehend bestimmen, wie wir die Vergangenheit betrachten. Um dies zu verstehen, ist ein weiterer Kommentar darüber nötig, was auf der Ebene passiert, auf der Wahrheit de n und Wahrheit de dicto ineinander fließen. Wenn wir uns auf dieser Ebene befinden, dann sind wir von der elementaren Ebene des Sprechens über die Realität aufgestiegen zur übergeordneten Ebene des Sprechens über unser Sprechen über die Realität. Denn das ist es, was wir tatsächlich tun, wenn wir darüber diskutieren, wie man Konzeptionen wie ,Kraft' und ,Beschleunigung' oder historische Konzeptionen wie ,Renaissance' oder .Revolution' am besten definiert. In solchen Diskussionen machen wir gewissermaßen einen Schritt zurück und fangen von dieser neu gewonnenen Perspektive aus an, die uns zur Verfügung stehenden sprachlichen Instrumente zu inspizieren — also Konzepte wie ,Kraft', ,Revolution' oder ,Renaissance' —, und fragen uns, wie wir diese Instrumente am besten anpassen, um sie optimal nutzen zu können. Entscheidend ist, dass wir dies von einem Standpunkt aus tun, der sowohl die Sprache als auch die Realität umfasst: Wir haben die traditionelle epistemologische Beziehung zwischen Sprache und Wirklichkeit gewissermaßen vergegenständlicht und uns an einen Ort außerhalb oder oberhalb dieser Beziehung begeben. Jetzt betrachten wir sie aus der Perspektive des Außenstehenden, dass heißt aus der Perspektive des Sprechens über das Sprechen über die Realität. Aus der Perspektive des Sprechens über das Sprechen — wofür Quine den Begriff „semantischer Aufstieg"5 eingeführt hat — können wir zu dem Schluss kommen, dass die Verknüpfung von bestimmten Bedeutungen mit Konzepten wie .Kraft' oder .Beschleunigung', »Revolution' oder .Renaissance' produktiver ist im Hinblick auf neue Einsichten und neue Wahrheiten über die untersuchte Realität als andere Bedeutungen. Auf diese Weise entscheidet die Wahrheit de dicto, also Entscheidungen über bzw. Vorschläge für eine Bedeutung, welche Wahrheiten de re für uns verfügbar sind. Und genau das ist es, was mit dem linguistic turn gemeint ist.

Quine 1980, S. 467.

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II. Beschreibung und Repräsentation Wir können das bisher Gesagte auch dahingehend formulieren, dass es sich um eine Unterscheidung zwischen Beschreibung und Repräsentation handelt. Auf den ersten Blick scheint es, als ob diese Unterscheidung keine wirkliche theoretische Bedeutung hat, denn beide Begriffe lassen an eine wahre Darstellung eines Teils der Realität denken. Das könnte dazu verleiten, die Begriffe ,Beschreibung£ und Repräsentation' für mehr oder weniger synonym zu halten. Aber wenn wir die Sache genauer betrachten, zeigen sich einige interessante Unterschiede. Wie ich bereits an anderer Stelle dargelegt habe,6 ist der signifikanteste logische Unterschied zwischen den beiden Begriffen folgender: In einer Beschreibung wie ,Diese Katze ist schwarz' können wir immer unterscheiden zwischen einem Referenten — ,diese Katze' — und dem Teil, der dem Referenten eine bestimmte Eigenschaft zuordnet — in meinem Beispiel ,ist schwarz'. Eine solche Unterscheidung ist bei der Repräsentation einer schwarzen Katze auf einem Bild oder Foto nicht möglich. Wir können auf dem Bild nicht mit absoluter Genauigkeit Bereiche markieren, die sich ausschließlich auf die schwarze Katze beziehen (wie es beim Subjekt der Beschreibung der Fall ist), und andere Bereiche, die ihr bestimmte Eigenschaften — wie schwarz sein — zuordnen, wie es beim prädikativen Teil der Beschreibung getan wird. Beide Teile, sowohl Referenz als auch Prädikation, finden auf einem Bild gleichzeitig statt. Und ebenso verhält es sich mit der Geschichtsschreibung. Angenommen, wir hätten einen historischen Text über die Renaissance. Es wird unmöglich zu bestimmen sein, welche Teile des Textes ausschließlich eine Referenz herstellen, ohne Eigenschaften zuzuordnen, und welche Teile ausschließlich Eigenschaften zuordnen, ohne eine Referenz herzustellen. Diese beiden logischen Funktionen können im Falle eines historischen Textes nicht voneinander getrennt werden. Die offensichtliche Erwiderung, dass immer dann eine Referenz hergestellt wird, wenn das Wort ,Renaissance' benutzt wird, ist augenscheinlich falsch, da jeder Leser weiß, dass auch die Teile des Textes, in denen das Wort nicht vorkommt, oft , * der Renaissance ,handeln' (zu dem Konzept des , -etwas-handeln' [,aboutness*] siehe folgende Seite). Doch das ist noch nicht alles. Es könnte eingewandt werden, dass die bloße Tatsache, dass Referenz und Prädikation in der (bildlichen und historischen) Darstellung zusammenfallen, keinesfalls die Möglichkeit ausschließt, dass sowohl die Referenz als auch die Prädikation durch die Repräsentation bewirkt werden. Selbstverständlich, ein Bild oder Foto dieser Katze besteht sich auf diese Katze genauso wie es ihr die Eigenschaß, schwarz zu sein, ^ordnet; und bezieht sich denn nicht Vgl. Ankersmit/Kellner 1995 und Ankersmit 2000, S. 148-169.

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in ähnlicher Weise ein Buch über die Renaissance auf bestimmte Aspekte der Vergangenheit, während es — zugegebenermaßen — ihr gleichzeitig bestimmte Eigenschaften ^uordnef? Die Tatsache, dass beide Operationen gleichzeitig mittels Repräsentation vollzogen werden, ist sicherlich eine interessante Beobachtung über die Natur der Repräsentation — so ließe sich der Einwand fortsetzen —, allerdings läuft das nur auf die recht gewöhnliche Beobachtung hinaus, dass der Repräsentation im Gegensatz zu ihrem raffinierteren Gegenstück, nämlich der Beschreibung, eine bedauerliche Ungenauigkeit eigen ist. Das hieße jedoch, die Repräsentation und ihre Komplexitäten zu unterschätzen: Repräsentation ist weit mehr als eine nur versuchsweise und unvollkommene Station auf halbem Weg zwischen der Realität und den Gewissheiten wahrer Beschreibung. Nehmen wir um des Arguments willen für einen Augenblick an, dass sich ein Text über die Renaissance auf die Vergangenheit besteht. Wir sollten uns dann fragen, worauf genau sich der Text bezieht. An diese Stelle wird es zu Meinungsverschiedenheiten kommen. Denn verschiedene Texte, geschrieben von verschiedenen Historikern, werden sich auf verschiedene Dinge bestehen. Burckhardts Renaissance ist sicherlich nicht die Renaissance, die Michelet, Baron, Huizinga, Burdach, Goetz, Brandi oder Wölfflin im Sinn hatten.7 Diese Unterschiede sind nicht einfach Ungewissheiten, die auf einem Mangel an Genauigkeit beruhen und der Geschichtsschreibung eigentümlich sind. Vielmehr artikuliert sich in diesen Unterschieden und Ungewissheiten das gesamte historische Denken und historische Verstehen. Es gäbe keine historische Diskussion und keinen Fortschritt im historischem Verständnis, wenn jeder wüsste, was die Renaissance war und worauf sich der Begriff genau bezieht bzw. nicht bezieht. Selbstverständlich gibt es eine bestimmte historische Epoche, eine bestimmte Zivilisation in einem bestimmten Land, mit der wir den Ausdruck .Renaissance' in Verbindung bringen, wenn wir ihn hören. Doch obwohl das eine notwendige Bedingung ist, reicht sie nicht aus, um eine Referenz festzulegen. Um dies zum Ausdruck zu bringen und um keine Verwirrung zu stiften, sollten wir nach einem alternativen Begriff suchen, und vermeiden, den Begriff .Referenz* für die Beziehung zwischen dem Wort .Renaissance' und dem Teil der Vergangenheit, den wir damit assoziieren, zu verwenden. Mein Vorschlag dafür ist das Konzept des , -etwas-handeln' (.being about1). Dies würde in folgender terminologischer Unterscheidung resultieren. Wenngleich sowohl Beschreibungen als auch Repräsentationen in Beziehung zur Realität stehen, wird gesagt, die Beschreibung beziehe sich auf die Realität (mittels des 7

Für eine ausgezeichnete Ausführung dieser Unterschiede vgl. Henk Schulte Nordholt: Het beeld der Renaissance. Een historiografische Studie. Amsterdam 1948 (Porta reeks; bibliotheek voor theoretische en cultuurgeschiedenis van het Historisch Seminarium der Universiteit van Amsterdam. 1).

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Subjekts), während von der Repräsentation (als Ganzem) gesagt wird, sie bandele von der Realität. Während .Referenz' in einem objektiven Sinn festgelegt wird, d. h. durch ein Objekt der Realität, das durch das Subjekt der Beschreibung bezeichnet wird, ist das , -etwas-handeln' grundsätzlich instabil und nicht fixiert, da es im Fall einer jeden Repräsentation durch die Beschreibungen, die der Text enthält, anders definiert ist. Das impliziert jedoch nicht, dass wir angesichts der Repräsentation verzweifeln müssten und die Abwesenheit von Gewissheiten bei der Beschreibung und der Referenz zu beklagen hätten. Denn das , -etwas-handeln' gewährt uns den ,logischen Raum', in dem historisches Denken und historische Diskussion möglich sind; wo die ,Referenz' den Platz des , -etwas-handeln' einnimmt, welkt das historische Denken dahin und die Naturwissenschaft übernimmt die Stellung. Die Diskussion darüber, welcher Katalog an Beschreibungen (die in die Repräsentation eingebettet sind) ein bestimmtes Stück Realität am besten darstellen würde, wird dann mit der Diskussion darüber eingetauscht, welche Prädikate für die Realität wahr sind. Dies kann verdeutlichen, warum der linguistic turn, wie im vorhergehenden Abschnitt behandelt, so essentiell für ein korrektes Verständnis der Geschichtsschreibung ist. Ich habe auf Quines Konzept des „semantischen Aufstiegs" hingewiesen, das als eine Erörterung bestimmt wurde, in der die Ebene des ,Sprechens' und die Ebene des ,Über etwas sprechen' sich zu vermischen beginnen. Wie wir festgestellt haben, ist es die Verschmelzung dieser beiden Ebenen, durch die sich die Unbestimmtheit von ,Sprachzwang' und ,Erfahrungszwang' ankündigt, die die Befürworter des linguistic turn so sehr interessiert. Genau im Bereich dieser Verschmelzung von ,Sprechen' und ,Über etwas sprechen' sollte das historisches Verständnis und die historische Debatte verortet sein. Einerseits beinhaltet der historische Text die Ebene des ,Sprechens' (d. h. die Ebene, auf der der Historiker die Vergangenheit durch individuelle Feststellungen über historische Ereignisse, Zustände, kausale Verknüpfungen etc. beschreibt). Andererseits beinhaltet der historische Text aber auch die Ebene, auf der die Diskussion darüber stattfindet, welcher Sprachkörper (das heißt welcher historische Text) einen bestimmten Ausschnitt vergangener Realität am besten repräsentiert oder ihm am ehesten entspricht. Dies ist die Ebene des .Sprechens über das Sprechen', auf der wir uns zum Beispiel fragen sollten, welche Definition wir am besten Konzepten wie ,Renaissance' oder .Revolution' zuweisen, um zu einem optimalen Verständnis eines bestimmten Ausschnitts der Vergangenheit zu gelangen. Bevor ich fortfahre, ist es an dieser Stelle hilfreich, einen offensichtlichen Einwand zu entkräften. Es könnte eingewendet werden, dass ich hier ein rein praktisches Problem zu einem theoretischen Problem stilisieren würde. Das praktische Problem ist, dass ,Dinge' wie die Renaissance oder die Französische Revolution nicht so einfach zu identifizieren sind wie beispielsweise die Freiheitsstatue oder der Eiffelturm. Aber das ist nur ein gradueller Unter-

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schied, nicht ein prinzipieller. Daraus würde folgen, dass keine Notwendigkeit besteht, genaue logische Unterscheidungen zu treffen, wenn wir von Beschreibungen der Freiheitsstatue zu Repräsentationen der Renaissance überwechseln. Von einem logischen Standpunkt aus sind Beschreibung und Repräsentation ähnlich — und nur weil die Renaissance ein soviel komplexerer Gegenstand im Inventar der Welt ist als die Freiheitsstatue, bevorzugen wir im ersten Fall das Wort Darstellung und im zweiten Fall das Wort Repräsentation. Außerdem, so ließe sich der Einwand fortführen, könnte man an eine bildliche Repräsentation denken; z.B. an das bereits erwähnte Bild oder Foto der schwarzen Katze. Ist für uns das Repräsentierte — die schwarze Katze — denn nicht objektiv gegeben, so dass wir die Angemessenheit der bildlichen Repräsentation in der gleichen Weise überprüfen können, wie wir über die Wahrheit oder Falschheit von Beschreibungen wie ,diese Katze ist schwarz' entscheiden? Handelt es sich denn nicht in beiden Fällen lediglich um eine Frage der korrekten Identifikation des Objekts der Beschreibung oder der Repräsentation und — in einem nächsten Schritt — um die Feststellung ob das, was über einen bestimmten Gegenstand ausgesagt wird, dem entspricht, was wir sehen oder nicht sehen? Man denke an die Portraitmalerei. Wenn ein Maler ein Portrait malt, dann neigen wir dazu zu gkuben, dass er etwas Reales darstellt, das objektiv oder intersubjektiv gegeben ist (ebenso wie der Fotograph sein Foto von der schwarzen Katze macht). Das Modell zeigt dem Maler seine physische Präsenz, und es könnte scheinen, als ob keine Meinungsverschiedenheiten über deren genaue Beschaffenheit existieren. Das Modell müsste für jeden Maler gleich aussehen oder für buchstäblich jeden, der es genau ansieht. Aber man kann in einem nächsten Schritt beobachten, dass wenn eine Person von verschiedenen Malern gemalt wird, man ebenso viele verschiedene Gemälde oder Repräsentationen des Modells erhält, wie Maler, die es gemalt haben. Die erste, intuitive Reaktion auf diesen Umstand wird sein, dass einige Gemälde genauer sind und einer exakten Beschreibung näher kommen als andere. Eine Reaktion übrigens, die gegen alle Intuition der Fotografie die Ehre zukommen lassen würde, der ultimative Prüfstein künstlerischer Exzellenz zu sein. Genau das sollte uns aber warnen. Wir alle wissen, dass wir Portraits nicht (ausschließlich) aufgrund ihrer fotografischen Genauigkeit beurteilen. Ein gutes Portrait sollte uns vor allem etwas von der Persönlichkeit des dargestellten Menschen vermitteln. Diese Persönlichkeit ist jedoch ebenso wenig ein gegebener Gegenstand wie das Wesen der Renaissance oder der Französischen Revolution (das heißt die Beispiele historischer Repräsentation, mit denen wir uns bereits beschäftigt haben). In beiden Fällen also, beim Portrait wie bei der Geschichtsschreibung, werden wir mit einer Abwärtsbewegung von einer (intersubjektiven)

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Oberfläche zu immer tiefer liegenden Schichten konfrontiert.8 Unsere Beurteilung eines Portraits kann sehr wohl mit dem Kriterium der fotografischen Genauigkeit beginnen, von dort wird sie sich jedoch auf weitere Ebenen begeben, die uns einen Zugang zu der Persönlichkeit des Modells gewähren. Dasselbe trifft auch für die Geschichtsschreibung zu. Als (eine Summe von) Beschreibungen) sollte ein historischer Text keinen Anstoß erregen. Das ist gewissermaßen die »Oberfläche'. Aber ein historischer Text, der uns nur genaue Beschreibungen der Vergangenheit liefert, reicht nicht aus: Der Text sollte uns auch die .Persönlichkeit' der Epoche vermitteln (oder eines Aspektes davon), mit der er sich befasst. Sobald wir - wie bei einem Foto - die Oberfläche dessen, was intersubjektiv gegeben ist, durchstoßen haben, und sobald wir auf diese Weise tiefere Schichten der Wirklichkeit erreicht haben, gibt es keine offensichtliche (und intersubjektiv gegebene) Grenze mehr, die anzeigt, wo wir anhalten sollen, oder die uns davon abhält, noch tiefer vorzudringen. Dennoch werden wir irgendwo anhalten müssen: Sowohl in der Malerei als auch in der Historiographie wird ein weiteres Vordringen uns von einem bestimmten Moment an weniger statt mehr Ertrag bringen. Und einmal mehr ist das eine Einschränkung, die ihren einzigen Ursprung und ihre Reichweite auf der Ebene der Repräsentation hat: Die Realität selbst gibt uns weder Kriterien für diese Art von repräsentativer Konsistenz vor, noch sagt sie uns, wie wir sie anwenden sollen. Die entscheidende Folgerung aus all dem ist folgende: Wir sollten vorsichtig sein gegenüber der allgemeinen Annahme, dass die Repräsentation eine Variante der Beschreibung darstellt, und dass das Repräsentierte uns allen auf eine intersubjektive Weise zugänglich ist, solange wir nur darauf achten, in die richtige Richtung zu schauen. Diese Annahme ist nur für die ,Oberfläche' dessen, was wir sehen, zutreffend. Aber sobald wir der Realität tiefer in die Augen sehen wollen, verwandelt sie sich in eine undurchsichtige und vielschichtige Realität. Ihre unterschiedlichen Ebenen verlieren sich im Dunkeln und Unbekannten, sobald wir tiefer, unterhalb der ,öffendichenc Oberfläche, eintauchen. Dies ist keine ontologische Aussage über die Natur der Realität, sondern darüber wie die Repräsentation sie uns wahrnehmen lässt. Repräsentation ist dafür verantwortlich, dass sich die Realität in diese Unendlichkeit von verschiedenen Schichten entfaltet; und die Realität selbst passt sich gehorsam den Entscheidungen an, die wir hier treffen. Diese Einsicht in die Beschaffenheit der Repräsentation kann erklärt werden, wenn wir anerkennen, dass jede Repräsentation bestimmten Regeln, Kriterien und Standards im Hinblick auf Ausmaß, Kohärenz und Konsistenz genügen muss; und diese Dies kann als Antwort auf den Einwand von Zammito gelten, es existiere eine Asymmetrie zwischen bildlicher und historischer Darstellung, die bei meinem Vorschlag, bildliche Darstellung als Mittel zu verwenden, um die Natur der historischen Darstellung zu illustrieren, nicht genügend berücksichtigt würde. Vgl. Zammito 1998, S. 341.

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Regeln, Kriterien und Standards leben alle ihr Leben ausschließlich in der Welt der Repräsentation und nicht in der des Repräsentierten. Allein Repräsentationen können ,kohärent' oder ,konsistent' sein; es macht genauso wenig Sinn von einer ,kohärenten Realität' zu sprechen wie von einer .wahren Realität'. Aber auf der Ebene der Repräsentation sind diese Regeln, Kriterien und Standards unverzichtbar. So kann zum Beispiel ein Maler, der eine Landschaft malt, nicht die Rinde einzelner Bäume bis ins kleinste Detail ausführen, während er gleichzeitig die Ausstattung des Vordergrunds auf ein nur angedeutetes Geschmiere reduziert. Dies trifft weitestgehend auch auf die Geschichtsschreibung zu, wie Haskell Fain schon vor etwa 30 Jahren sehr treffend festgestellt hat.9 Daher ist die Repräsentation sozusagen selbst an bestimmte Schichten gebunden. Hier ist nicht alles möglich. Das Ergebnis dieser Überlegungen ist, dass in der Repräsentation eine Korrespondenz zwischen dem Repräsentierten und der Repräsentation besteht, für die es kein Gegenstück oder Äquivalent in der Beschreibung gibt (sie scheinen in einer Art und Weise .voneinander zu wissen', wie dies von der Beschreibung und der Wahrheit nie gesagt werden könnte). Die Beschreibung kennt diese Einschränkungen der Kohärenz und Konsistenz nicht, die unweigerlich auftreten, sobald wir uns von einer einfachen Beschreibung zum Problem der Repräsentation bewegen, nämlich der Frage, mit welchem Teil der Sprache wir am besten einen bestimmten Teil der Welt verbinden. In der Repräsentation gibt es etwas eigenartig .Idealistisches', in dem Sinne, dass die Entscheidung, wie wir die Realität auf der Ebene der Repräsentation (der Realität) konzeptualisieren, bestimmt, was wir auf der Ebene des Repräsentierten finden werden (das heißt auf der Ebene der Realität selbst). Dies sollte aber nicht dahingehend missverstanden werden, dass ein Gedanke oder eine Repräsentation die Realität tatsächlich ,machtc oder .erschafft' - wie zugegebenermaßen einige extremistische Dekonstruktivisten oder Narrativisten gewöhnlich behaupten -, sondern heißt lediglich, dass eine Entscheidung auf der ersten Ebene bestimmt, was wir auf der zweiten Ebene finden werden. Nichtsdestotrotz wird der Vorschlag, dies als .Idealismus' zu bezeichnen, durch die Tatsache bestärkt, dass die Realität (oder das Repräsentierte) solange ein Chaos bleiben wird, solange keine entsprechende Entscheidung gefällt worden ist und keine Ebene der Darstellung ausgewählt wurde, um dieses Chaos zu ordnen. In diesem Sinne, und nur in diesem Sinne, kann der pseudoidealistische Anspruch verteidigt werden, dass die Repräsentation das Repräsentierte determiniert. Mit anderen Worten, die Konturen der Realität — nicht jedoch die Realität selbst — können nur definiert werden, wenn sie durch eine Repräsentation dargestellt werden.10 Eine Entscheidung darüber zu erzwin9 10

Vgl. Fain 1973. Zur Anwendung dieses Gedankens auf den Begriff »Geschichte* vgl. den nachfolgenden Beitrag von DANIEL FULDA (Abschnitt I).

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gen, ob diese Konturen ihren Ursprung in der Realität oder im Geist haben, wäre genauso nutzlos und irreführend wie die Frage, ob es Amerika schon gab, bevor die Leute anfingen, es »Amerika' zu nennen. In einem gewissen Sinne ist diese Frage zu bejahen, in einem anderen zu verneinen — und wir sollten uns mit dieser Doppeldeutigkeit zufrieden geben.

III. Literaturtheorie und Geschichtstheorie Ich habe in der Einleitung dieses Aufsatzes die bestens bekannte Tatsache erwähnt, dass Hayden Whites Metahistory aus dem Jahre 1973 die bestehende Geschichtstheorie vollständig verändert hat. Ich habe versucht, die Beschaffenheit dieser Veränderung in Bezug auf den linguistic turn zu erklären. Ich tat dies, weil der linguistic turn der beste Schlüssel ist, um Zugang zum Wesen dieser Veränderungen in der neueren Geschichtstheorie zu erkngen. Allerdings sollte ich hinzufügen, dass meine Darstellung nicht damit übereinstimmt, wie diese Veränderungen tatsächlich zustande kamen. In Metahistory wird auf den linguistic turn niemals Bezug genommen — und falls ich mich nicht irre, hat ihm White auch in seinen späteren Arbeiten keine Beachtung geschenkt. Die Erklärung dafür ist, dass White die Hauptquelle seiner Inspiration nicht in der Sprachphilosophie, sondern in der Literaturtheorie gefunden hat. Sowohl in Metahistory als auch in seinen späteren Arbeiten zitiert White am häufigsten Theoretiker wie Northrop Frye, Auerbach, Barthes, Jakobson usw., während er weniger an Philosophen interessiert ist, ob sie den linguistic turn nun übernommen haben oder nicht. Selbst ein Autor wie Richard Rorty, dessen Ansichten seinen eigenen so ähnlich sind, scheint niemals sein Interesse geweckt zu haben. Und dies trifft nicht nur auf White zu, sondern auch auf die meisten späteren Geschichtstheoretiker wie Kellner, LaCapra, Gossman, Rigney, Shiner, Carrard, oder Linda Orr, gleich ob sie Whites Thesen aufgegriffen haben oder unabhängig davon zu ähnlichen Schlussfolgerungen gekommen sind.11 Es stellt sich also die Frage nach der Beziehung zwischen dem linguistic turn und der Literaturtheorie. Genauer ist zu fragen, ob am Ende nicht beide auf dasselbe hinauslaufen — wie die meisten Geschichtstheoretiker zu gkuben scheinen —, oder ob es einige Unterschiede zwischen ihnen gibt, die wir berücksichtigen sollten.

11

Vgl. Kellner 1989; LaCapra 1987 [amerik. 1985]; Gossmann 1990; Rigney 1990; Larry E. Shiner: The Secret Mirror. Literary Form and History in Tocqueville's Recollections. Ithaca 1988; Philippe Carrard: Poetics of the New History. French Historical Discourse from Braudel to Chartier. Baltimore, London 1992; Linda Orr: Headless History. Nineteenth-Century French Historiography of the Revolution. Ithaca 1990.

Vom Nutzen und Nachteil der Literaturtheorie für die Geschichtstheorie

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Offensichtlich existieren einige wichtige Übereinstimmungen. Sowohl der linguistic turn als auch die Literaturtheorie betonen, dass Sprache nicht nur ein ,Spiegel der Natur' ist, und dass all unser Wissen und all unsere sprachlichen Repräsentationen der Realität Spuren des sprachlichen Mediums tragen, in dem sie übermittelt werden. Man könnte das „linguistischen Kantianismus"12 nennen, den sowohl der linguistic turn als auch die Literaturtheorie gemeinsam haben — Sprache funktioniert in beiden Fällen ähnlich wie Kants Erkenntniskategorien. Es gibt aber auch nicht weniger wichtige Unterschiede zwischen beiden Ansätzen. Natürlich ist es schwierig, eine so komplexe Disziplin wie die Literaturtheorie zu generalisieren, aber ob man nun an Formalismus, Strukturalismus, Dekonstruktivismus, Reader-Response-Theorien, psychoanalytische Theorie oder Marxistische Kritik13 denkt, es ist immer der literarische Text, der Gegenstand der Untersuchung ist, also immer erforschte Realität. Dies ist tatsächlich weniger trivial und harmlos als es zunächst den Anschein haben mag. Daraus ergibt sich nämlich, dass die Literaturtheorie nicht wirklich die Kluft zwischen Sprache und Realität problematisiert, wie dies von der Epistemologie und der Sprachphilosophie im Allgemeinen getan wird. Daraus folgt wiederum, dass die Aussage, ein Text sei eine ,Sache' oder ein .Gegenstand', der Teil der (empirischen) Realität sei, für einen Literaturtheoretiker absolut nichts Revolutionäres oder auch nur Interessantes an sich hat. Für ihn oder sie ist diese Behauptung nicht aufregender als für einen Biologen, dem wir sagen würden, dass Blumen und Bakterien Teil der Realität sind. So spricht er freimütig über Sprache, als ob sie nicht weniger Teil der Realität sei als Blumen und Bakterien; und er wird nicht mehr theoretische oder philosophische Probleme darin sehen als der Biologe, der seine Bakterien und seine Blumen untersucht (obwohl er natürlich alle möglichen faszinierenden Probleme in der sprachlichen oder textlichen Realität, die er untersucht, entdecken wird). Für den Philosophen stellt es sich jedoch anders dar. Für ihn entspringen alle Geheimnisse der Referenz, der Bedeutung und der Wahrheit der Kluft zwischen Realität und Sprache. Der Literaturtheoretiker naturalisiert' Sprache, wohingegen der Sprachphilosoph die Sprache und ihre Beziehung zur Welt immer .Semantisieren' wird.14 Für ihn gibt es auf der einen Seite die Rea12

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Für eine Erläuterung zu Whites linguistischem Kantianismus vgl. die Einleitung in Ankersmit 1994. Dies sind die Kategorien, in die Richter die zeitgenössische Literaturtheorie unterteilt hat, vgl. Richter 1998. Seltsamerweise haben narrativistische Geschichtstheoretiker der Narratologie kaum Aufmerksamkeit geschenkt. Eine Ausnahme ist Pihlainen 1999. Für eine ausgezeichnete Erörterung des Problems, inwieweit Sprache lediglich als ein weiterer Teil der Welt angesehen werden kann, vgl. Danto 1985, S. 305-310. Danto erinnert uns daran, dass Pragmatismus und Ordinary-Language-Plulosophie ebenso dazu neigen, Sprache zu naturalisieren', daher also der Forderung der Literaturtheorie am nächsten kommen, wie wir mit Sprache umgehen sollen. Es sollte schließlich noch dar-

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lität und auf der anderen Seite die Sprache, und wenn er die Kluft zwischen beiden überquert, so verdeckt er die Linie, auf der alle seine Forschungsthemen angeordnet werden können. Er wird die Vermutung sofort verwerfen, dass Sprache eine Sache oder ein Gegenstand ist, denn dann würde es keinen Unterschied geben zwischen dem Anfang und dem Ende der Forschungsrichtung, die er verfolgt hat. Es ist richtig, dass einige Philosophen15 sagen, dass Sprache eine Sache ist; dabei sind sie sich aber sehr wohl bewusst, dass sie eine höchst revolutionäre und provokante These aufstellen. Sie könnten zum Beispiel argumentieren, dass Sprache lediglich ein weiteres Instrument ist, das es uns ermöglicht, der Welt einen Sinn zu verleihen, und das — ähnlich wie die kausalen Interaktionen von Mikroskopen, Landkarten oder Uhren mit der Welt — keinen Zweifel an ihrem gänzlich unspektakulären ontologischen Status zulässt. Oder sie könnten behaupten — wie ich es hier getan habe —, dass Aussagen zwar zum Bereich der Sprache gehören, dass Texte aber wieder der Realität zuzuordnen sind. Doch obwohl das erste Argument darin Erfolg haben mag, die Semantik zu naturalisieren und die philosophischen Fragen über die Beziehung zwischen der Sprache und der Welt auf die Kognitionswissenschaft zu reduzieren, werden wir diese Wahl nicht haben, wenn wir den zweiten Standpunkt vertreten. Denn dann werden all diese schwierigen semantischen Probleme der Referenz, der Wahrheit und der Bedeutung (die mit der Kluft zwischen Realität und Sprache einhergehen) wieder auftauchen, sobald wir uns von der Ebene der Aussage zu der Ebene des komplexen (historischen) Textes bewegen.16 Dies sind Themen, die wir bereits in vorhergehenden Abschnitten dieses Aufsatzes untersucht haben. Zusammenfassend ist die Behauptung, dass Sprache eine Sache sei, für den Philosophen eine weitaus problematischere Aussage - und eine, die unbedingt der Klärung und näheren Bestimmung bedarf- als für den Literaturtheoretiker. Natürlich tauchen all die Probleme, die das professionelle Interesse des Philosophen wecken, wieder auf, wenn wir nach der Beziehung fragen würden zwischen dem Text (als dem Untersuchungsgegenstand des Literaturtheoretikers) und der Sprache, die er verwendet hat, um seine Forschungs-

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auf hingewiesen werden, dass die Naturalisierung der Sprache des Historikers, die ich in diesem Aufsatz vertrete, im Rahmen der Semantik der historischen Sprache stattfindet. Ich habe versucht, klar zu machen, wie und warum Repräsentation die Matrix der Semantik einer Beschreibung oder einer wahren Aussage übersteigt. Dies ist nur möglich, indem ein gemeinsamer semantischer Ausgangspunkt zugrunde gelegt wird. — Als prototypisches Beispiel für den Umgang von Literaturtheoretikern mit historiographischen Texten vgl. STEPHAN JAEGER über Roland Barthes' Aufsatz Le discours de I'histoire (Abschnitt II). Die im vorliegenden Beitrag beschriebene Naturalisierung tritt dort dergestalt auf, dass Barthes in der Realitätsreferenz der Historiographie lediglich einen „Effekt des Realen" erkennt. Siehe hierfür die vorausgehende Fußnote und für weitere Ausführungen Danto 1999, Kapitel 7. Wie ich auch versucht habe in Ankersmit 1994, Kapitel 3, darzulegen.

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ergebnisse zu formulieren. Aber diese Linie wird vom Literaturtheoretiker nicht verfolgt. Er untersucht Texte und nicht das epistemologische Problem, wie seine Sprache mit der (textlichen) Realität zusammenhängt, die er untersucht.17 Obwohl man also einer Meinung ist, dass Sprache in Bezug auf die Realität kein transparentes Medium ist, hat der Philosoph, der den linguistic turn vertritt, dabei etwas anderes im Sinn als der Literaturtheoretiker. Für den Literaturtheoretiker bedeutet die Anerkennung dieser Tatsache die Identifizierung eines neuen, bisher nicht beachteten Teils der empirischen Realität — das heißt des (literarischen) Textes —, und dieser kann in einem nächsten Schritt wie jeder andere Aspekt der Realität empirisch untersucht werden. Für den Philosophen jedoch hat die Undurchsichtigkeit der Sprache Auswirkungen darauf, wie die Sprache die wahren Überzeugungen, die wir von der Realität haben, (mitbestimmt (genauer, die Tatsache, dass wir nicht immer zwischen dem ,Sprachzwang' und dem ,Erfahrungszwang' unterscheiden können). Für den Literaturtheoretiker hat diese Einsicht keine Bedeutung — sie könnte nur dann relevant werden, wenn er anfinge, philosophisch darüber nachzudenken, wie die Sprache, die fr verwendet, mit der Sprache und den Texten in Verbindung steht, die er untersucht. Aber warum sollte er sich dafür interessieren? Oder warum sollte sich der Physiker für epistemologische Probleme interessieren? Diese Frage ist für seine Forschung krelevant. Daraus folgt, dass man in der Tat ein Literaturtheoretiker sein kann, ohne sich jemals mit dem linguistic turn befassen zu müssen — und umgekehrt. Aus den vorangegangenen Überlegungen folgt, dass es auf jeden Fall eine gemeinsame Grundlage gibt, was die Auswirkungen des linguistic turn und der Literaturtheorie auf die Geschichtstheorie betrifft. Aus dieser Perspektive ist es verständlich, dass sich Geschichtstheoretiker keine allzu großen Gedanken über mögliche Unterschiede bezüglich solcher Auswirkungen machten. Aber wie wir jetzt erkennen müssen, sollte man damit rechnen, dass es solche Differenzen gibt und dass die konzeptuelle Klarheit es erfordert, dass wir diese Unterschiede sehr genau prüfen. Das könnte uns befähigen, Aussagen darüber zu treffen, was an der zeitgenössischen Geschichtstheorie, soweit sie von der Literaturtheorie beeinflusst ist, vorteilhaft und weniger vorteilhaft ist. Der entscheidende Unterschied ist, dass der linguistic turn die Transformation von Realität in Sprache auf die Tagesordnung setzt. Das ist bei der Literaturtheorie nicht der Fall, da sie sich l. ausschließlich mit der Sprache oder mit Texten beschäftigt und weil die Literaturtheorie 2. keine spezifische Anschauung über die epistemologische Beziehung zwischen ihren eigenen Theorien und ihren Untersuchungsobjekten formuliert. Die zweite Aussage gerät leicht in Vergessenheit, da die Literaturtheorie immer darüber diskutiert, wie wir Texte lesen und interpretieren sollten — und das scheint eine episte17

Wie Foucaults Analyse von Diskursen von seiner Sprache abhängt, zeigt der Beitrag von STEPHAN JAEGER (Abschnitt III).

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mologische Beziehung zwischen dem Leser und dem Text zu beinhalten. Wir müssen jedoch unterscheiden, was einerseits zwischen dem Leser eines literarischen Textes und dem literarischen Text vor sich geht, und was sich andererseits zwischen dem theoretischen Text des Literaturtheoretikers und den Aspekten der Literatur, die in diesem theoretischen Text diskutiert werden, ereignet. Nur auf der zweiten Ebene werden die epistemologischen Probleme diskutiert, denen wir möglicherweise begegnen, wenn wir die erkenntnistheoretischen oder interpretativen Fragen untersuchen, die wir auf der ersten Ebene erkannt haben. Mit einem Wort, Literaturtheorie ist eine Theorie über Texte, nicht aber eine über ihre eigenen Texte. Betrachten wir zum Beispiel den Dekonstruktivismus: Er empfiehlt dem Leser, den literarischen Text, den er liest, zu dekonstruieren, er empfiehlt ihm aber nicht den Dekonstruktivismus zu dekonstruieren. Auch wenn man versuchen würde, den Dekonstruktivismus auf seine eigenen Texte anzuwenden — wie es zweifellos auch einige Autoren wie Derrida und Rorty tun, die in der (Kon)Fusion der Ebenen ihren Hauptbeitrag zur Theorie sehen —, sähen wir uns mit einer endlosen Regression konfrontiert. Denn in der Konsequenz würde das bedeuten, dass wir das Gleiche mit den Ergebnissen der Dekonstruktion des dekonstruktivistischen Texts machen müssten, und so weiter ad infiniturn. Folgerichtig müsste man alle Versuche (wie zum Beispiel Rortys18) beargwöhnen, die eine Verschmelzung von Philosophie und Literaturtheorie bewirken. Solche Versuche werden unweigerlich in einer endlosen Regression untergehen — wie wk erwarten können, wenn wir versuchen, philosophische Probleme mit nicht-philosophischen Mitteln zu lösen. Es wird nun klar sein, was der Geschichtstheoretiker von der Literaturtheorie erwarten kann und was nicht. Sie kann uns dabei helfen, einen historischen Text zu lesen und ihn richtig zu verstehen; sie macht uns auf die Tatsache aufmerksam, dass der historische Text eine hoch komplexe ,Maschine' zur Erzeugung von textlicher Bedeutung ist, und dass wk bisher gegenüber vielen seiner verzwickten Arbeitsweisen blind gewesen sind. Sie kann uns über die versteckten Bedeutungen eines Textes informieren, Bedeutungen, die der Autor nicht intendiert hatte und die in vielen Fällen von den Lesern nicht wahrgenommen werden. Die Wichtigkeit dieser versteckten Bedeutungen kann vernünftigerweise nicht angezweifelt werden. Man denke zum Beispiel an die geistige Verwandtschaft zwischen dem realistischen oder naturalistischen Roman des 19. Jahrhunderts einerseits und dem bis zum heutigen Tag realistischen Stil der meisten historischen Werke andererseits, wie sie von Autoren wie Roland Barthes, Hayden White, Hans Kellner, Lionel Gossman oder Ann Rigney und anderen aufgezeigt wurde.19 Hier führte die Entde18

Exemplarisch ist Rorty 1999. » Vgl. Barthes 1984, White 1986 [1978], Kellner 1989, Gossman 1990, Rigney 1990.

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ckung von versteckten Bedeutungen zur Identifizierung von nichts weniger als einem historischen Stil. In der Literaturtheorie ist die Kennzeichnung eines Stils einer der wichtigsten Schlüssel zu den Geheimnissen des Textes. In der (Geschichte der) Geschichtsschreibung ist es nicht anders. Eine Analyse der Geschichte solcher historischer Stile kann uns die allgemeinen Grundzüge zeigen, wie verschiedene Epochen ihre Vergangenheit begriffen haben. Man denke daran, wie White zwischen dem ironischen Stil der aufklärerischen Geschichtsschreibung, dem metaphorischen und organizistischen Stil der romantischen Geschichtsschreibung und dem metonymischen Stil ihrer sozialwissenschaftlich beeinflussten zeitgenössischen Gegenspieler unterschied. Und es ist sogar möglich, wie Whites tropologisch.es Modell nahelegt, dass eine versteckte stilistische Logik existiert, die von dem einen Stil zu einem späteren Stil führt. Daher kann niemand, der eine Geschichte der Geschichtsschreibung verfassen möchte, die Lektionen ignorieren, die uns die Literaturtheorie gelehrt hat. In der Tat hat die Historiographiegeschichte, das heißt die Geschichte der Geschichtsschreibung, seit der Veröffentlichung von Whites Metahistory einen vollständigen Wandel durchlaufen. Eine völlig neue und faszinierende Art der Historiographiegeschichte entstand und es kann kein Zweifel darüber bestehen, dass es sich dabei um einen dauerhaften Beitrag zur historischen Disziplin handelt und dass keine künftige Generation ihn jemals wieder aufgeben wird. Die Bücher der Autoren, die ich in Fußnote 19 erwähnt habe, ähneln in wirklich keinem Aspekt den Büchern eines Fueter, eines Meinecke, eines Srbik oder Iggers20 — obwohl ich keineswegs andeuten möchte, dass die Arbeit dieser Historiker der Geschichtsschreibung von ,der neuen Historiographiegeschichte' ersetzt worden wäre. In Zukunft werden wir beide Varianten der Historiographiegeschichte benötigen. Aber die Literaturtheorie ist weitaus weniger hilfreich, wenn wir uns mit dem zentralen Problem der Geschichtstheorie befassen, das heißt mit der Frage, wie der Historiker die vergangene Realität erklärt oder repräsentiert. Es ist eine Theorie darüber, wo wir nach den Bedeutungen von Texten suchen sollten, aber nicht darüber, wie ein Text eine andere Realität als seine eigene darstellen kann und wie die Beziehung zwischen Text und Realität aussieht. Das Problem der Bedeutung eines Textes ist sicherlich Teil des Problems dieser Beziehung. Wie könnten wir irgend etwas Sinnvolles über diese Beziehung sagen, wenn wir nicht wüssten, was wir lesen, wenn wir einen Text lesen? Wir können also vermuten, dass es zur Beantwortung der Frage nach der Rele20

Eduard Fueter: Geschichte der neueren Historiographie. München 1911 (Handbuch der mittelalterlichen und neueren Geschichte, l ,1); Friedrich Meinecke: Die Entstehung des Historismus. Bd. 1-2. München 1936; Heinrich von Srbik: Geist und Geschichte vom deutschen Humanismus bis zur Gegenwart. Bd. 1—2. München [1950, 1951]; Georg G. Iggers: Deutsche Geschichtswissenschaft. Eine Kritik der traditionellen Geschichtsauffassung von Herder bis zur Gegenwart. Vom Autor durchges. u. erw. Ausg. Übers, von Christian M. Barth. München 1971 [amerik. 1968] (dtv. 4059).

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vanz der Literaturtheorie für die Geschichtstheorie zunächst nötig sein wird, die Frage zu klären, wie sich Probleme der Bedeutung und der historischen Repräsentation in der Praxis der Geschichtsschreibung gegenseitig beeinflussen. Um uns dieser vorläufigen Frage zu nähern, wenden wir uns dem Beispiel der historischen Diskussion über die Renaissance zu. Es ist unnötig zu erwähnen, dass es für Renaissance-Historiker, die eine ertragreiche Diskussion führen möchten, eine Grundvoraussetzung ist, dass ein gewisser Konsens über die Bedeutung verschiedener Werke besteht, die über dieses Thema geschrieben worden sind. Ebenso offensichtlich ist, dass die Literaturtheorie beansprucht, mit diesem Problem umgehen zu können. Weniger offensichtlich ist jedoch, wie dies in der Praxis funktioniert. Stellen wir uns vor, ein dekonstruktivistischer Literaturtheoretiker schaltet sich in die Debatte über die Renaissance ein und behauptet, dass die Bedeutung des Buchs von X über die Renaissance eine andere ist als die, die ein oder mehrere Beteiligte an der Debatte bisher immer für seine Bedeutung hielten. Zum Beispiel könnte der Dekonstruktivist mit seiner abweichenden Meinung an Burckhardts berühmter Metapher ansetzen, nach der in der Renaissance der Schleier weggezogen wurde, hinter dem im Mittelalters die beiden Seiten des menschlichen Bewusstseins noch verborgen waren. Er könnte pkusibel argumentieren, dass dies für das menschliche Individuum keineswegs den befreienden Gewinn bedeutete, den Burckhardt darin sehen wollte, sondern vielmehr einen unglaublichen Verlust und eine enorme Verkümmerung des Selbst. Einen Verlust, der mit der traumatischen Einbuße vergleichbar ist, die jedes menschliche Wesen erfährt, wenn es sich von einer solipsistischen Identifikation mit der Welt (das heißt mit der Mutter) zu einem schwächlichen und elenden Individuum entwickelt, das von der Außenwelt getrennt und ihr entgegengesetzt ist. Aus der Perspektive der Außenwelt betrachtet, verliert man im Prozess der Selbstfindung die ganze Welt — und aus der Perspektive des Subjekts war die Entdeckung des Selbst in der Renaissance der erste Schritt in Richtung der Nacktheit des späteren cartesianischen oder kantianischen transzendentalen Selbst. Erst der Organizismus der Romantik gab dem menschlichen Individuum einen kleinen Teil der Reichtümer wieder, die in der Renaissance verloren gegangen waren. Kein Wunder also, dass die Romantik so gerne das Mittelalter idealisierte.21 Der Dekonstruktivist könnte noch weitergehen und in den augenscheinlichen Triumphen der Renaissance einen schwachen Ausgleich sehen, der von einer Kultur verzweifelt gesucht wurde, die alle ihre vertrauten und traditionellen Stützen verloren hatte. War denn das freie und emanzipierte Individuum der Renaissance nicht auch ein bedauernswertes Einzelwesen in einer 21

Reflektieren die Doppeldeutigkeiten in Burckhardts Position somit nicht seine eigene, höchst ambivalente Beziehung zur Romantik?

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feindseligen Welt, das permanent all seine verfügbaren Energien aufbringen musste, um die unbenennbaren und unaussprechlichen Gefahren in Schach zu halten, die es bedrohten? War nicht genau das die Botschaft von Machiavellis Behauptung vom endlosen Kampf zwischen der Göttin Fortuna und der menschlichen virtü? Der Dekonstruktivist würde zum Schluss kommen, dass wir immer nur eine Hälfte von Burckhardts Text wahrgenommen haben, aber dass es auch einen dunkleren Unterton in seinem Text gibt, und dass wir, wenn wir Burckhardts erstaunliches Genie umfassend verstehen möchten, die Anwesenheit beider Bedeutungen in seinem Text erkennen müssen, nicht nur die oberflächliche Bedeutung.22 Dies ist nur ein Beispiel für die entnervenden Dinge, die Literaturtheoretiker mit historischen Texten tun können.23 Es kann keinen Zweifel darüber geben, dass derartige Einsichten in die versteckten Bedeutungen eines historischen Textes die historische Debatte enorm verkomplizieren würden. Es könnte gefolgert werden, dass wir zunächst den Literaturtheoretiker konsultieren müssen, bevor wir in eine ernsthafte historische Debatte einsteigen können. Diese offensichtlich wenig einladenden Auswirkungen dieser Komplikation der historischen Diskussion haben sicher zur Abscheu des Historikers gegenüber der Literaturtheorie beigetragen sowie zur Überzeugung, dass ihre Einführung in die Praxis der Geschichte einer „Ermordung der Geschichte" (Windschuttle) gleichkomme. Dies könnte auch erklären, warum Historiker dazu tendieren, in Bezug auf die Autorintention so verbissen dogmatisch zu sein:24 Es scheint die einzig verlässliche Bremse zu sein, um eine Auflösung der historischen Diskussion im Nebel der radikalen textlichen Zweideutigkeit zu stoppen. Während die Abschaffung der Autorintention dem Literaturtheoretiker in der akademischen Welt das tägliche Brot liefert, scheint sie es gleichzeitig dem Historiker zu entziehen. Aber stehen die Dinge wirklich so ernst, wie der Historiker es befürchtet? Nicht zufällig habe ich den Dekonstruktivismus als Beispiel dafür gewählt, was die Literaturtheorie der Geschichte und der Geschichtstheorie antun kann. Denn selbst der Dekonstruktivismus mit seiner angeblichen Faszination für Subversion, Irrationalität und Inkonsistenz — daher wird er von den Windschuttles und Evans' so sehr gehasst und gefürchtet — ist keine wirkliche Bedrohung. Wie mein Beispiel verdeutlicht haben dürfte, gibt es zwei Seiten der Einmischung des Dekonstruktivisten. Zunächst entdeckt er bisher unvermutete Bedeutungen im Text des Historikers und macht uns dadurch viel22

23 24

Als Aufdeckung von autorintentional unkontrollierten semantischen Ambivalenzen in der Historiographie vgl. auch den Beitrag von CORNELIA BLASBERG (Abschnitte II-IV). Ihresgleichen suchen Gossmans Analysen von Thierry und Michelet in Gossman 1990. Diese Historiker haben nun einen mächtigen Verbündeten in den Arbeiten von Mark Bevir gefunden; vgl. Bevir 1999. Zur ausführlichen Diskussion von Bevirs unzeitgemäßen Ansichten vgl. Frank R. Ankersmit: Comments on Bevirs ,The Logic of the History of Ideas'. In: Rethinking History 4 (2000), H. 3, S. 321-331.

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leicht gegenüber dem, was im Text von Interesse ist, aufmerksamer, als wir es bisher waren. Was könnte daran falsch sein? Zum zweiten schlägt er neue Arten vor, die Vergangenheit zu betrachten — ohne sich jedoch über die Plausibilität dieser neuen Sichten auf die Vergangenheit aus der Perspektive des professionellen Historikers zu äußern. Das bleibt dem Historiker überlassen — und so scheint die Bilanz eher einen Gewinn als einen Verlust auszuweisen. Dennoch sind die Ängste des Historikers nicht völlig grundlos. In dem soeben erwähnten Beispiel wurde die Unterscheidung zwischen sprachlicher und historischer Bedeutung sorgfältig beachtet, also zwischen dem, was wir der Sprache, und dem, was wir der Welt zuordnen müssen — so dass die Sprache keine Konkurrenz für die Erfahrung in deren eigenem Bereich25 wird —, dies könnte zuweilen jedoch auch anders sein. Whites Tropologie gibt uns hierfür ein gutes Beispiel. Auf der einen Seite ist es ein rein formales System, das White aus wichtigen Hinweisen abgeleitet hat, die er in den Arbeiten von Vico, Frye, Pepper und Mannheim fand.26 An sich könnte sie auf den ersten Blick so aussehen, als hätte sie keine materiellen Implikationen. Aber wenn wir sie genauer betrachten, können wir feststellen, dass dieser erste Eindruck falsch war. Die Erzählung eines Historikers wird nach dem tropologischen Muster immer und unweigerlich entweder eine Komödie, eine Tragödie, eine Romanze oder eine Satire sein. Sicherlich handelt es sich dabei jeweils um narrative Formen, aber um Formen mit einem mehr oder weniger spezifischen Inhalt, wie White selbst gern betonte, wenn er über „den Gehalt der Form" spricht (nicht zufällig der Titel eines seiner Bücher).27 Hier entsteht zweifellos der meiste Widerstand, den Historiker gegen Whites System verspüren. Historiker kommen sich nun vor wie Maler, denen gesagt wird, dass sie alle, bewusst oder unbewusst, entweder Impressionisten, Expressionisten, Fauvisten oder Kubisten sind — und dass jede Bemühung ihrerseits, diesen vier Darstellungsformen zu entkommen, zum Scheitern verurteilt ist. Verständlicherweise neigten Historiker dazu, Tropologie als ein System zu sehen, das ihnen vier spekulative Philosophien der Geschichte lieferte, die einen großen Teil dessen vorgaben, was sie über die Vergangenheit zu sagen wünschten. Die Tatsache, dass ihnen erkubt wurde, zwischen vier verschiedenen spekulativen Philosophien zu wählen, sahen sie als eine nur dürftige Verbesserung gegenüber den exklusiven Ansprüchen der traditionellen spekulativen Geschichtsphilosophie an. Im Gegensatz zur dekonstruktivistischen Offenheit stellte White den Historiker in eine geschlossene Welt fixierter Formen. Wäre Whites System flexibler, um sich jedem historischen Inhalt anzupassen, 25

Ich kursiviere diese Formulierung, um den hier diskutierten linguistischen Imperialismus von der Beziehung abzugrenzen, die zwischen den Ansprüchen der Sprache und der Erfahrung besteht, und die vom linguistic turn erklärt wird. 2« Vgl. White 1991 [1973], S. 21-57. 27 Die deutsche Übersetzung von Content of the Form lautet Die Bedeutung der Form - allerdings erscheint uns ,Gehalt' treffender, A. d. Ü.

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hätte es den Zorn der Historiker weit weniger provoziert, als dies gegenwärtig der Fall ist.28 Und das Problem wurde weiter verschärft, da White keine Art von .transzendentaler Ableitung' für seine Liste tropologischer Formen anbot. Der linguistic turn, wie er oben dargelegt wurde, zeigt uns den Weg aus dieser misslichen Lage. Wenn wir nämlich zwischen dem Zwang der Sprache und demjenigen der Erfahrung nicht unterscheiden können, könnten wir niemals die Aussage rechtfertigen, dass formale Zwänge die historische Beweisführung durchziehen. Die Lektion, die wir aus den Schwierigkeiten, die Whites Tropologie verursacht hat, lernen können, ist, dass der Formalismus es unbedingt vermeiden sollte, dem möglichen Reichtum historischen Schreibens Formen mit einem mehr oder weniger festgelegten Inhalt aufzudrängen. Geschieht dies, wären die Ansprüche des linguistic turn unrechtmäßig überschritten worden. Sprache ist nicht mehr länger nur eine mögliche Quelle der Wahrheit, in nicht reduzierbarer Weise zeigend, was in der Realität der Fall ist, sondern die Sprache beginnt sich mit dem Erfahrungszwang zu vermengen. Sie beginnt zu diktieren, was die Erfahrung in der Realität entdecken kann bzw. nicht entdecken kann, indem sie sich gegenüber bestimmten Inhalten, die die Erfahrung liefert, einladend verhält und anderen Inhalten feindlich gesonnen ist — genau wie sich der kubistische Formalismus gegenüber der geraden Linie und dem rechten Winkel einladend verhält und dem Kreis oder der Ellipse feindlich gesonnen ist. Es könnte an dieser Stelle eingewandt werden, dass es sich hierbei um eine unmögliche Forderung handelt, da sie mit der Beschaffenheit jeglicher Formalismen nicht übereinstimmt. Denn Formalismus zwingt der Realität (oder der Art, wie wir sie wahrnehmen) immer bestimmte Formen auf; daher scheint ein Formalismus, der die Freiheit der Darstellung des Historikers umfassend respektiert, eine contradictio in ferminis zu sein. Das wäre so, als ob man jedem Historiker die völlige Freiheit ließe, zu tun, was ihm beliebe, um dann jeder Erzählung feierlich die Ehre zuteil werden zu lassen, eine bestimmte Form zu exemplifizieren, die ausschließlich zu dieser Erzählung und zu keiner anderen passt. Das wäre sicherlich der LJebeslod29 des Formalismus. Aber in der Praxis der Geschichtsschreibung ist an dieser anarchistischen Art des Formalismus nichts merkwürdig und gibt es nichts dagegen einzuwenden. Um dies zu verdeutlichen, möchte ich auf mein Beispiel zurückgreifen, wie man den linguistic turn in der Geschichtsschreibung anwendet. Wir haben dabei beobachtet, wie eine sprachliche Form, d. h. die Bedeutung eines Konzeptes wie ,die Renaissance', von einem Historiker erdacht wurde, um einem bestimmten Ausschnitt der Vergangenheit Form und Bedeutung zu geben. Hier finden wir eine perfekte Übereinstimmung zwischen Form und 28

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Als Kritik an Whites Tetrade von Erzählmustern von poetologischer Seite vgl. den Beitrag von GÜNTER BUTZER (Abschnitt I). Im Original deutsch, A. d. Ü.

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Inhalt — und diese Perfektion lässt sich a priori zeigen. Die Form ist nämlich ausschließlich durch den Inhalt definiert, und jeder andere Inhalt würde zwangsläufig eine neue Form hervorrufen. Aber warum sollten wir immer noch den Ausdruck ,Form' verwenden, um diesen spezifischen Inhalt zu beschreiben; was fügt das dem Besitz des bloßen Inhalts hinzu? Warum benötigen wir dieses Konzept? Ist es denn nichts anderes als Wittgensteins „Rad, das man drehen kann, ohne dass Anderes sich mitbewegt", und das deshalb nicht Teil der Maschine ist? Die Antwort darauf ist, dass Form dem Kohärenz verleiht, was zuvor bloßer Inhalt war; nur ihr ist es zu verdanken, dass eine chaotische Masse von Daten über die Vergangenheit zu einem erkennbaren Ganzen organisiert wird. Nur ausgestattet mit einer Form in dem eben erwähnten Sinn kann der historische Inhalt in der Praxis historischer Forschung und historischer Diskussion verarbeitet werden. Die formale ,Haut der Form' ist unendlich dünn, und sollte es auch sein, da sie dem Inhalt nichts hinzufügen sollte,30 und gleichzeitig stark genug sein muss, um die von ihr erwartete Aufgabe zu erfüllen. Wir sollten White also dafür dankbar sein, uns auf diese formale ,Haut* aufmerksam gemacht zu haben, wenn auch seine tropologische Haut sozusagen noch viel zu ,dick' und Jederartig' ist, um sich jedem einzelnen Inhalt mit Leichtigkeit anzupassen. Um die Art ihrer Aufgabe richtig zu erfassen, möchte ich an die Auffassung erinnern, dass es nichts Repräsentiertes ohne seine Repräsentation gibt. Wenn wir diese Einsicht auf den vorliegenden Zusammenhang anwenden, sollten wir erkennen, dass die Symmetrie zwischen einer Repräsentation und dem, was es repräsentiert, am besten im Hinblick auf die Vorm (re) formuliert wird. Um es genauer auszudrücken: Formen bezeichnen diejenigen Aspekte eines Repräsentierten (oder einer repräsentierten Realität), die mit der Beschaffenheit einer bestimmten Repräsentation korrespondieren, die wiederum durch ein bestimmtes historisches Konzept bezeichnet wird. Formelhaft ausgedrückt sind Konzepte die sprachlichen Gegenstücke zu Formen in der Realität. Aber diese Formen gehen weder logisch noch zeitlich der Repräsentation voraus. Wenn wir die Realität im Sinne einer (ästhetischen) Repräsentation erklären, dann projiziert die Repräsentation ihre eigenen Formen auf die Realität - und stattet sie dadurch mit der Eigenschaft aus, eine repräsentierte Realität zu sein. Das Paradoxe ist, dass die Repräsentation einerseits der Realität nichts hinzufügt (oder nichts hinzufügen sollte), nicht einmal unserem Wissen von ihr, während sie andererseits all das hinzufügt, was wir benötigen, um uns in der Welt zurechtzufinden. Es ist daher die Interaktion zwischen Konzept und Form, in der sich Sprache und Realität am nächsten kommen — und aus diesem Grund bringt uns die Repräsentation die Welt näher als die Beschreibung. Wir neigen dazu, das zu vergessen, weil Repräsentationen oft30

Darin unterscheidet sich diese ,Haut' von der .dickeren Haut' des Formalismus von Whites Tropologie, wo die ,Haut' selbst einen materiellen Gehalt besitzt.

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mals zusammengesetzte Beschreibungen sind — was dem letzteren eine logische Priorität zu verleihen scheint. Aber wir müssen nur an die Malerei denken, um uns darüber klar zu werden, dass eine Repräsentation auch ohne Beschreibung möglich ist. In diesem Kontext ist es nicht weniger lehrreich zu beobachten, dass Repräsentation sehr eng mit der Form verwandt ist, die uns befähigt, ,uns in der Welt zurecht finden'. Repräsentation ist praktisch, Beschreibung ist theoretisch und abstrakt. Tiere und Säuglinge, die sich (noch) nicht der Sprache bedienen, haben die Fähigkeit, Formen in der Realität zu erkennen und darzustellen, obwohl sie sie noch nicht beschreiben können. Anders ausgedrückt, wenn wir mit der Geschichtsschreibung von der Ebene der Beschreibung zur Ebene der Repräsentation aufsteigen, dann bewegen wir uns tatsächlich zurück auf eine äußerst elementare Ebene in unserer Begegnung mit der Welt.

IV. Schluss Ausgehend vom linguistic turn habe ich versucht, eine Bestandsaufnahme dessen vorzunehmen, was wir von der Literaturtheorie für ein besseres Verständnis der Geschichtsschreibung erwarten können. Der linguistic turn ist dafür ein äußerst nützliches Instrument, da er — wie die Literaturtheorie — traditionsgebundene Konzeptionen der Beziehung zwischen Sprache und Realität problematisiert. Der linguistic turn tut dies, indem er uns auf die Tatsache aufmerksam macht, dass der Gebrauch von Sprache nicht auf unser Sprechen über die Realität beschränkt ist, sondern dass er sich manchmal auch heimlich und unbemerkt auf ein Sprechen über dieses Sprechen über die Realität verlegt. Sprache wird so zu einer Art ,Epistemologie des Augenblicks', das heißt zu einem epistemologischen Anspruch darüber, wie in einem spezifischen Fall Sprache und Realität am besten miteinander verknüpft werden. Wenn wir bereit sind, diese Dimension einer ,Epistemologie des Augenblicks' in der Geschichtsschreibung anzuerkennen, dann ist die Frage, was wir von der Literaturtheorie erwarten können, nicht schwer zu beantworten. Ganz gleich an welche Richtung der Literaturtheorie wir auch denken, sie behandelt nicht das Problem der epistemologischen Kluft zwischen Sprache und Welt. Bei der Literaturtheorie handelt es sich um eine Untersuchung der literarischen Sprache, und obwohl sie dies tut, indem sie Sprache zu einem Teil der Welt transformiert, sollte uns das nicht dazu verleiten, uns vorzustellen, dass es uns irgendetwas Wissenswertes darüber lehren kann, wie sich die Sprache zur Welt verhält. Sofern dieses Problem in der Literaturtheorie überhaupt wieder auftaucht (oder auftauchen könnte), würde dies höchstens unter dem Deckmantel des Problems geschehen, wie sich ihre eigenen Ergebnisse zum Untersuchungsobjekt (das heißt zum literarischen Text) verhalten. Das

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(epistemologische) Problem wird in der Literaturtheorie nicht untersucht noch ist es in irgendeiner Weise für ihre Absichten relevant. Daraus folgt, dass die Literaturtheorie als ein Instrument, um historische Texte zu analysieren, äußerst hilfreich sein kann — und in diesem Sinn wird sie gegenwärtig zu Recht wahrgenommen als die wichtigste Hilfswissenschaft des Historiographiehistorikers. Wer auch immer eine Geschichte der Geschichtsschreibung verfassen will, kann die Literaturtheorie nicht mehr ignorieren. Aber als eine Theorie der Geschichte ist die Literaturtheorie nutzlos: Sie wird nichts — und könnte auch nichts — von Interesse darüber sagen, wie es dem Historiker gelingt, die Vergangenheit zu repräsentieren. Es trifft zu, dass einige Geschichtstheoretiker implizit oder explizit Aussagen über das Verhältnis zwischen der Vergangenheit und deren textlicher Darstellung aus der Literaturtheorie abgeleitet haben. Aber wie wir bei der Beschäftigung mit White gesehen haben, wird dies nur in spekulativen Geschichtsphilosophien enden, die unserer Sicht von der Vergangenheit ungerechtfertigte Elemente hinzufügen - die ihren Ursprung in der Beschaffenheit und den Ansprüchen der Literaturtheorie haben, aber nicht in der Vergangenheit selbst. Zusammenfassend können wir den Nutzen der Literaturtheorie auf das Schreiben der Historiographiegeschichte beschränken — wo sie von unschätzbarem Wert ist —, auf dem gänzlich anderen Gebiet der Geschichtstheorie hat sie nichts zu suchen.

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Übersetzung: Brigitte Böhm/Achim Landwehr

DANIEL FULDA Strukturanalytische Hermeneutik: Eine Methode zur Korrelation von Geschichte und Textverfahren I. II. III. IV.

I.

Ist »Geschichte' ein Text? - These Theoretische Prämissen Leistungspotential und Anwendungsmöglichkeiten Auswahlbibliographie

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Ist .Geschichte' ein Text? — These

„Wenn ich also paradox sein darf, möchte ich behaupten, daß die Weltgeschichte früher geschrieben wird, als sie geschieht", bekennt der General von Stumm, immerhin Leiter einer gesellschaftlich zentralen Institution der Geschichtsvermittlung, nämlich des k. u. k. Militär-Erziehungs- und Bildungswesens, seinem Freund Ulrich in Robert Musils Mann ohne Eigenschaften.1 Geschichte ist nicht im Vollzug erkennbar, möchte er damit sagen, denn das Geschehen, das die Handelnden miterleben, bildet noch keine .Geschichte'. Als Geschichte stellt es sich erst retrospektiv dar, nämlich dem, der sie schreibt und dabei eine Auswahl, Strukturierung und Gewichtung des vergangenen Geschehens vornimmt — ohne diese Operationen kann es zumal keine .Weltgeschichte' geben. Den General irritiert dies als Praktiker, der gerne in actu wissen würde, was später einmal .(weltgeschichtliche' Bedeutung zugeschrieben erhält, um danach seine Entscheidungen treffen zu können. Seine Einsicht betrifft aber auch die Theoretiker der Geschichte, also jene, die nicht nur danach fragen, wie man sich im historischen Geschehen orientieren könne, sondern wissen möchten, was ,Geschichte' überhaupt sei.

Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Roman. [1930—43] Hrsg. von Adolf Frise. Bd. 1-2. Reinbek 1978, Bd. l, S. 977.

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,Geschichte ist ein Text* dürfte die allgemeinste und zugleich grundlegendste Antwort sein, die neuere Geschichtstheorie wie Literaturwissenschaft auf diese Frage gegeben haben. Gemeint ist hier nicht nur die Geschichtsdarstellung, die ,Historie', sondern ,Geschichtec als Objektbegriff. Das wiederum heißt nicht, daß die vergangenen Ereignisse, deren Zusammenhang wir als jGeschichte' begreifen, in ihrer Faktizität in Frage gestellt wären. Ebensowenig ist gemeint, daß Texten und Diskursen ein Primat im Bereich menschlicher Praxis zukomme.2 Was in der Geschichte geschieht, ist nicht Gegenstand der hier vorgestellten textualistischen Geschichtstheorie; sie ist keine materiale Theorie der ,objektiven Geschichte'. Zur Debatte steht vielmehr, was das Konzept ,Geschichtec konstituiert. Die Ereignisse der Vergangenheit bilden zunächst einmal nur ein Geschehen; Geschichte hingegen ereignet sich oder geschieht nicht eigendich, sondern stellt eine spezifische Kohärenzstruktur dar, die einem Geschehen und dessen Ereignissen erst retrospektiv zugeschrieben wird.3 Sie ist daher — anders als das historische Geschehen — ein Produkt der mit ihr beschäftigten Texte: „Sie kommt in einem Schreiben zustande, das den Gegenstand konstituiert, indem es über ihn spricht."4 Solche Geschichtsdieorie nähert sich der Ironie, die Musils Erzählen auszeichnet, denn die Pointe jener These liegt darin, daß sie die übliche Folge von Referent und Zeichen verkehrt: ,Geschichtec wird — fast mit dem GeneVor solchen Übertreibungen des linguistic turn warnen Historiker häufig zu Recht (vgl. Chartier 1998, S. 98). Vgl. Angehrn 1999, S. 217. Vor allem unter den Kritikern des geschichtstheoretischen Textualismus wird die Differenz zwischen Vergangenheit, Geschehen und Geschichte häufig vernachlässigt. Mißverständnisse und Ablehnung sind die Folge. Richard J. Evans beispielsweise versucht mit der (korrekten) Feststellung „The past is much more than a mere text", gegen die These, Geschichte sei ein textuelles Konstrukt, zu argumentieren (vgl. Richard J. Evans: In Defence of History. London 1997, S. 110; dt: Fakten und Fiktionen. Über die Grundlagen historischer Erkenntnis. Übers, von Ulrich Speck. Frankfurt a. M., New York 1998). Am fundamentalen Unterschied zwischen dem Zeitbegriff .Vergangenheit' und dem Strukturbegriff ,Geschichte' geht das jedoch vorbei: Während die Vergangenheit sich durch den Umgang mit ihr nicht verändert und auch nicht davon abhängig ist, was durch Texte an eine spätere Gegenwart überliefert wird, stellt ,Geschichte' stets nur eine auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bezogene, textgestützte Konstruktion dar. Einen ebenfalls unnötigen und aussichtslosen Kampf führt der amerikanische Historiker Perez Zagorin, wenn er gegen den geschichtstheoretischen Textualismus einwendet, daß sich „the existence of the past as something actual" nicht leugnen lasse (Zagorin 1999, S. 16, Hervorh. von D. F.). Angehrn 1999, S. 218; vgl. Fulda 1999, S. 31^3. - Eine Stellung zwischen den angeführten Autoren und der von mir vertretenen Position nimmt FRANK R. ANKERSMIT in seinem Beitrag zum vorliegenden Band ein, indem er sich einerseits auf den Boden des linguistic turn stellt, andererseits keine Hinzufügung der Repräsentation zum Repräsentierten anerkennt.

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ral von Stumm gesprochen — weniger aufgeschrieben als erschrieben. In diesem Wortspiel findet die Textualität von Geschichte, welche die Forschung seit fast drei Jahrzehnten immer stärker beschäftigt hat und zudem Prämisse neuer literaturwissenschaftlicher .Methoden' wie des New Historicism geworden ist,5 ihre biskng radikalste Zuspitzung. Sie besagt, daß das Konzept Beschichte' ein Produkt jener Texte sei — literarischer wie historiographischer —, die Geschichte zu repräsentieren behaupten. Damit aber ist auch die Struktur der jeweilig angenommenen Geschichte von den angewandten Textverfahren abhängig; Plot- und andere literarische Muster korrelieren mit den je besonderen Geschichtskonzeptionen. Die Vielfalt der Formen, die diese Korrektion in Texten vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart annehmen kann, rekonstruieren die Beiträge des zweiten Teils des vorliegenden Bandes. Statt die These ,Geschichte ist ein Text' zu exemplifizieren oder in eine Systematik von Folgerungen aufzugliedern, hat dieser Beitrag sich der Methode zuzuwenden, mit deren Hilfe sie gewonnen ist. Von einer einzigen, einheitlichen Methode kann freilich nicht die Rede sein; hermeneutische, strukturalistische, diskursanalytische und dekonstruktive Ansätze haben, teils konkurrierend, teils kooperierend, allesamt Anteil an den Forschungsergebnissen der letzten Jahre. Von ihren theoretischen Prämissen her dürfte die Hermeneutik diejenige Methode sein, die dem Konzept ,Geschichte' am unbefangensten gegenübertritt, denn sie denkt .Verstehen* als irreduzibel geschichtlich.6 Symptom dafür bzw. Folge davon ist der starke Anteil hermeneutisch fundierter Studien zu unserem Thema. Bevor ein Hermeneutiker wie Paul Ricoeur die geschichtskonstituierende Funktion literarischer Textstrukturen herausarbeiten konnte, bedurfte es indessen methodischer Ergänzungen, die die strukturanalytische Kompetenz der Hermeneutik stärkten.7 In der Kombination von hermeneutischer Interpretation und strukturalistischer Analyse8 aber ist eine typische Konstelktion der Forschungsdiskussion aufgegriffen: Ricoeur sucht jene Ansätze zu ver5 6 7 8

Vgl. den Beitrag von MORITZ BAßLER im vorliegenden Band. Vgl. Gadamerl986[1960],S. 270ff. Vgl. Ricoeur 1973 [1969]; 1988-91 [1983-85]. Ähnliche Konvergenzen können sich auch dort ergeben, wo von Hermeneutik oder Strukturalismus explizit nicht die Rede ist, vgl. Ansgar Nünnings Vorschlag, den „Zusammenhang zwischen narrativer Form und historischer Wirklichkeitserfahrung" mit Hilfe einer „Allianz von New Historicism und Narrativik" zu untersuchen, die auf eine „kulturwissenschaftlich orientierte Erzählforschung" hinauslaufe (Nünning 1992, S. 198). Im engeren Aufmerksamkeitsbereich deutscher Literaturwissenschaft, wenngleich ohne besonderen Bezug auf ,Geschichte' hat vor allem Manfred Frank den Nachweis geführt, daß die hermeneutische Interpretation immer auch Elemente einer strukturalen Analyse einschließt (vgl. Frank 1985).

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binden, deren Wechselspiel wohl am meisten dazu beigetragen hat, die konstitutive und formende Textualität von Geschichte aufzudecken. Wenn der vorliegende Beitrag sich daher um eine ,strukturanalytische Hermeneutik' genannte Methode bemüht, geht das zeitlich in zwei Richtungen: Zum einen rekonstruiert er leitende Annahmen der ,Geschichte als Literatur'-Forschung von Hayden White über Eberhard Lämmert und Karlheinz Stierle bis zu Paul Ricoeur oder, um jüngere Namen zu nennen, Ansgar Nünning und Wolfgang Struck;9 zum anderen geht es um eine mögliche Methode weiterer Forschung. Daß eine methodische Richtung bislang vorherrschend und ertragreich war, entscheidet selbstredend nicht über ihre zukünftige Geltung. Da es dafür auch keine Letztbegründungen gibt, kann im Wettstreit der Medioden letzdich nur eines entscheiden: ihre Fruchtbarkeit in bezug auf das jeweilige Erkenntnisinteresse. Die übergeordnete Frage dieses Beitrags kutet daher: Was leistet die strukturanalytische Hermeneutik? Bei ihrer Beantwortung ist es unumgänglich, eine idealtypische Zuspitzung vorzunehmen, keineswegs einheitliche Positionen also auf eine imaginäre Argumentationslinie zu projizieren. Der zumeist produktive Streit, der aus der Heterogenität der theoretischen Prämissen innerhalb der zu profilierenden Methode folgt, ist damit jedoch nicht stillgestellt. Die mediodischen Antinomien, auf die der Doppelbegriff ,strukturanalytische Hermeneutik' hinweist, setzen vielmehr eine innermethodische Dialektik in Gang, die jede theoretische Setzung den Ansprüchen des jeweils konkurrierenden Mediodenflügels auszusetzen zwingt. Diese Dialektik wird ebenfalls idealtypisch rekonstruiert, da die meisten Forscher, die auf der Basis einer strukturanalytischen Hermeneutik arbeiten, jeweils ein Moment dieser ,Methode' herausheben.10 Ideal9

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Vgl. die Anm. 7 u. 8; White 1990 [1987]; Lämmert 1985; Karlheinz Stierle: Erfahrung und narrative Form. Bemerkungen zu ihrem Zusammenhang in Fiktion und Historiographie. In: Kocka/Nipperdey 1979, S. 85-119; Struck 1997, S. llf. Methodisch am weitesten gespannt ist Paul Ricoeurs Argumentation in seinem dreibändigen Hauptwerk Zeit und Erzählung (1988-91 [1983-85]); Ricceur ist zudem einer der wenigen Forscher, die die historiographische und die literarische Geschichtserzählung gleichermaßen berücksichtigen. Neben den in Anm. 9 Genannten vgl. Fulda 1996, bes. S. 19f£, Harth 1998, bes. S. 245ff.; LaCapra/Kaplan 1988; Nünning 1995; Jörn Rüsen: Die vier Typen des historischen Erzählens. In: Koselleck/Lutz/Rüsen 1982, S. 514-607; Sträub 1998; programmatisch: Seeba 1980, S. 203. In der besonders lebhaften amerikanischen Forschung wird die vermittelnde Position einer strukturanalytischen Hermeneutik relativ selten vertreten; das Basistheorem, daß die Sprache unsere Welt erzeuge, ist dort weniger aus der hermeneutischen Tradition bekannt und wurde daher als geschichtsdestruktive Provokation des Poststrukturalismus wahrgenommen, mit der Folge einer unnötigen Verschärfung der Fronten, vgl. das Referat und die - ohne den Begriff - .hermeneutischen' Lösungsvorschläge bei Gabrielle M. Spiegel: The Past as Text. The Theory and Practice of Medieval Historiography. Baltimore, London 1997, S.

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typisch wird schließlich auch der mit der Formel ,Geschichte ist ein Text' umschriebene Befund expliziert, denn in dem Sinne, daß nicht erst die Historic als unser Geschichte»//^«, sondern bereits der intendierte Referent ein narratives Konstrukt darstellt; daß wir Geschichte nicht allein nur in Texten haben und Textverfahren nicht nur diese oder jene Ausprägung des historischen Denkens mitprägen, sondern daß Textverfahren das Konzept .Geschichte' erst evoluiert haben und immer wieder neu hervorbringen — in diesem Sinne stellt die These eine erst neuerdings gezogene Konsequenz des strukturanalytisch-hermeneutischen Ansatzes dar, der vermutlich nicht alle seine Vertreter zustimmen würden.11 Eine Methode zeichnet sich durch ihre theoretischen Prämissen, ihre Anwendungsmöglichkeiten sowie ihre Ergebnisse aus. Ich habe mit dem zu einer Formel zugespitzten Ergebnis begonnen, da es die aktuelle Diskussion weit mehr beschäftigt als die Art, zu ihm zu gekngen (mit anderen Worten: die Methodendiskussion im Forschungsbereich ,Geschichte als Text' wäre lebhafter zu wünschen). Was zunächst folgt, sind die theoretischen Prämissen, die von den ,Ergebnissen' freilich nicht konsequent zu trennen sind, da die Zirkelstruktur der Forschung beide voneinander abhängig macht. Die Gefahr des Zirkelschlusses ist damit immer gegeben. Daß Erkenntnis in diesem Zirkel fortschreitet, nicht gefangen bleibt, darf jedoch angenommen werden, wenn in einem kontinuierlichen Forschungsprozeß die am jeweiligen Text gewonnenen Ergebnisse die Prämissen immer wieder korrigieren; der Wandel

3-28 [zuerst 1990]; dt.: Geschichte, Historizität und die soziale Logik von mittelalterlichen Texten. In: Conrad/Kessel 1994, S. 161-202. Unter dem Druck der von formalistischen Ansätzen ausgehenden Referenzkritik, also der Verneinung jeder Möglichkeit historiographischer Objektivität, übernehmen neuerdings auch die Geschichtstheoretiker, die mit differenztheoretischen Prämissen starten, hermeneutische Argumente (vgl.Chartierl998,S. 17f.). Vgl. Fulda 1999. Hans-Michael Baumgartner schrieb bereits 1972 (S. 249), daß „Geschichtsbewußtsein, Geschichtsforschung, Geschichtsdarstellung und Geschichte im ganzen sich im Medium des Erzählens allererst konstituieren." Indem er Erzählen nicht als poetisches, sondern als logisches Verfahren definierte, nahm er seiner These jedoch die textualistische Spitze (vgl. Hans Michael Baumgartner: Die Erzählstruktur des historischen Wissens und ihr Verhältnis zu den Formen seiner Vermittlung. In: Quandt/ Süssmuth 1982, S. 73—76). Mehr Aufsehen erregte etwas später Hayden White mit der Feststellung, „that the content of the historiographical discourse is indistinguishable from its discursive form" (White 1989, S. 23). Mit der Unterscheidung von ,Form' und ,Inhaltc zu arbeiten läßt allerdings offen, was genau diskursiv konstruiert wird: die impliziten Interpretamente des jeweiligen geschichts-,darstellenden' Textes (so wohl ebenda, S. 24—26) oder, darüber hinaus, die Geschichte als stets angenommener Referent des Geschichtsdiskurses (mit Frege gesprochen, geht es darum, ob .content' den ,Sinn' oder die [referentielle] .Bedeutung' der Aussage meint).

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der Prämissen wie der Ergebnisse kann dann als Verfeinerung und Steigerung der Komplexität eines erfolgreich interpretativen Modells gewertet werden.12 Ein dritter Abschnitt wird sich dem Ijeistungspotential der strukturanalytischen Hermeneutik im Vergleich mit konkurrierenden, wenngleich teilweise gleichgerichteten Methoden zuwenden und einige Überlegungen zu möglichen weiterführenden Anwendungen anstellen.

II. Theoretische Prämissen 1. Sprachlichkeit. Erste hermeneutische Prämisse ist die unhintergehbare Sprachlichkeit der human- oder kulturwissenschaftlichen Erkenntnis. Dabei ist Sprache nicht allein als unabdingbares Werkzeug im Umgang mit Geschichte zu verstehen, wie das in der zünftigen Geschichtstheorie zumeist geschieht13 und selbst in der literaturwissenschaftlichen Forschung zum historischen Roman (und anderen Gattungen) geschah.14 An Sprachlichkeit erweist sich das Konzept jGeschichte' darüber hinaus gebunden, insofern es ein Konstrukt des historischen Diskurses, ein Produkt bestimmter Verfahren der Historiographie bzw. der Literatur darstellt. Die Ordnung von vergangenem Geschehen und dessen Verbindung zur Gegenwart, die wir .Geschichte' nennen, geht den mit ihr befaßten Texten nicht voraus und ist daher nicht jenseits sprachlicher (Kon-)Figurationen zu suchen. Es ist die relative Autonomie und semantische Produktivität der Zeichen, die die Hermeneutik, hier im Einklang mit der nach-saussureschen Linguistik sowie der nietzscheanischen Sprachphilosophie, damit herausstellt.15 Gemeint ist demnach eine Hermeneutik, die den romantischen Wunsch, durch den Text zur Stimme und Intention des Autors zu dringen, hinter sich gekssen hat.16 Ansätze zu einer solchen Hermeneutik finden sich bereits bei Herder.17 Für Gadamer ist der Sprung in eine Bedeutungs- oder Gegen12

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.Kontinuität' ist hier, wie häufig in der Geschichtstheorie, ein verfänglicher Begriff, der nicht zu eng verstanden werden darf, jedenfalls nicht im Sinne von Thomas S. Kuhns .Paradigmen', die nach ihrer Installation in einer .revolutionären' Wissenschaftsphase relativ statisch funktionieren. Vgl. Franz Georg Maier: Der Historiker und die Texte. In: Historische Zeitschrift 238 (1984), S. 83-94; Koselleck/Gadamer 1987, S. 10. Dazu neigt noch Michael Limlei: Geschichte als Ort der Bewährung. Menschenbild und Gesellschaftsverständnis in den deutschen historischen Romanen (1820—1890). Frankfurt a. M. 1988 (Studien zur Deutschen Literatur d. 19. u. 20. Jh. 5). Ankersmit 1989b, S. 79f. Vgl. Ricceur 1999 [1971], S. 290; Brenner 1998, S. 117. Vgl. Leventhal 1994, S. 140-204.

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standsebene ,hinter' der Sprache prinzipiell ausgeschlossen.18 Allerdings erscheint sein Ansatz darin nicht hinreichend operationabel, daß über der beschworenen „Sprachlichkeit" die Analyse konkreter sprachlicher Strukturen vergessen zu werden droht.19 Der manifeste Text rückte dagegen ins Zentrum der Hermeneutik, als Ricceur das Verstehen von der Norm des ,unmittelbaren', mündlichen Gesprächs löste.20 So gefaßt, lenkt Hermeneutik den Blick auf die Sprache nicht nur als einen Überlieferungsfaktor oder als disponibles, wenn auch unverzichtbares Instrument der Geschichtsrepräsentation, sondern als deren intransparente Prägeform. 2. Strukturalität. Ricceur betont in diesem Zusammenhang, daß hermeneutisches Verstehen nicht in der einfühlenden Rekonstruktion ursprünglicher Intentionen bestehe, sondern konstruktiv einen Entwurf von Welt entfalte, den der jeweilige Text enthält. Während die Produktionssituation daher in den Hintergrund rückt, gilt die analytische Aufmerksamkeit den Strukturen oder Verfahren des Textes, die den Aufbau der so entworfenen Welt prägen.21 In diesem Punkt tritt der strukturalistische Einfluß, der die Zeichen und deren Analyse privilegiert, am stärksten hervor. Hinsichtlich des Erschreibens von .Geschichte' hat man in der Erzählung die maßgebliche Struktur ermittelt, denn sie stellt jenen immanent explanatorischen Nexus von Anfang, Mitte und Abschluß eines Geschehens her, der den Begriff der Geschichte kennzeichnet.22 Im Sinne der eben postulierten Autonomie der Zeichenebene verleiht sie unserer Vorstellung von ,Geschichtec eine Struktur, welche die Gegenstände des Geschichtsdiskurses nicht an sich schon kennzeichnet. Geschichte wird folglich nicht in dem Sinne erzählt, daß diese oder jene narrative ^Darstellung' der Geschichte als vorgegebenem Objekt gegenüberstünde,23 sondern sie wird im Medium narrativer Textstrukturen allererst gewonnen. Denkt man dies strukturalistisch zuende, so scheint ,Geschichte' nur noch im historiographischen oder literarischen Text zu existieren; die Faktizität, die sie im Unterschied zu fik-

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Vgl. Gadamer 1985 [1960], S. 442ff. Ineichen 1991, S. 55. Vgl. Ricceur 1999 [1971], S. 268. Vgl. ebenda, S. 265-268. Ausgangspunkt dieses Befundes ist die Analytische Philosophie Arthur C. Dantos (1974 [1965]); als transzendentalphilosophische Weiterführung vgl. Baumgartner 1972; teils strukturalistisch, teils hermeneutisch argumentiert: Stierle (wie Anm. 10); sprachanalytisch: Ankersmit 1981; als Theoriesynthesen vgl. Rusen 1989 und v. a. Ricceur 1988-91 [1983-85]; historiographiegeschichtlich: Fulda 1996. Eine Typentetrade möglicher narrativer Muster entwirft White 1991 [1973].

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tionalen Geschichten behauptet, wäre dann nur noch ein Texteffekt (Roland Barthes spricht daher von „Referenzillusion").24 3. Pragmatik. An dieser Stelle tritt der hermeneurische Ansatz wieder auf den Pkn. Unbeschadet der beschriebenen Wendung vom Sprecher zum Text hebt er die Aussagefunktion jedes Diskurses hervor. Auf lebensweltliche Situationen verweist zumal das Grundmodell der Erzählung als eines adressierten Berichts über Erlebtes.25 Diese pragmatische Verankerung sowohl der historischen Quellen in vergangenen Zusammenhängen sozialen Handelns als auch jeder Geschichtskonstruktion in ihrer jeweiligen Gegenwart sichert der Repräsentation von Geschichte ihre eigentümliche Refervntia/ität. Dabei ist zwischen Historiographie und Literatur zu unterscheiden, wenngleich nicht absolut: Für die Geschichtsschreibung spricht Ricoeur von „Spurenreferenz",26 da die ,Re'-Konstruktion von .Geschichte' sich zwar auf Faktisches stützen, in Empirie aber nicht aufgehen kann, sondern sich auch literarischer Verfahren bedient. Dichterische Repräsentationen von Vergangenheit entwerfen ebenfalls eine .Geschichte' und referieren damit auf dieselbe Welt und Zeit wie die Historiographie — wenngleich nicht auf dieselbe Weise, da sie keinen Empirieanspruch erheben.27 Die Referenzfrage ist bislang vor allem in der Geschichts- und Historiographietheorie erörtert worden, verdiente eine stärkere Beachtung aber auch in der Forschungsdiskussion um historische Dichtung. Zu häufig wird dort nämlich mit einem ontologisierten Fiktionsbegriff argumentiert,28 der literarische Texte auf eine Weise von ihren außer-

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Vgl. Barthes 1968, S. 175. wichtige Differenzierungen dazu bei Ankersmit 1989a, im vorüegenden Band bei STEPHAN JAEGER (bes. Abschnitt ). Vgl. Ricoeur 1988-91 [1983-85], Bd. l, S. 88f. u. 128. In der allgemeinen Narratologie ist das Erfahrungsfundament der Erzählung kürzlich von Fludernik (1996) ins Zentrum gerückt worden (da Geschichte nie unmittelbar erfahren wird, neigt Fludernik allerdings dazu, .Geschichte' und Erzählung zu separieren). Zum Zusammenhang von Erzählung, Handlung und Kultur vgl. Sträub 1999. Ricceur 1988-91 [1983-85], Bd. l, S. 129. Vgl. ebenda Bd. 3, S. 306—311. Sowohl in der Historiographie als auch in der Literatur stellt das Konzept .Geschichte' also einen Entwurf dar, der hier und dort aber auf unterschiedliche Weise abgesichert wird: Während die Historiographie sich auf Faktenspuren (die .Quellen*) stützt, lehnen sich literarische Geschichtsrepräsentationen an das vom faktualen Geschichtsdiskurs vermittelte Geschichtsbild an (z. T. negatorisch). Vgl. dagegen Hey'l 1994, S. 24-26; aus dekonstruktiver Perspektive fragt auch Anne Kuhlmann: Revolution als .Geschichte': Alfred Döblins November 1918. Eine programmatische Lektüre des historischen Romans. Tübingen 1997 (Communicatio. 14), nach der .historiographischen Lektüre' des historischen Romans, was trotz anderer sprachund literaturtheoretischer Prämissen auf eine ähnliche Relativierung literarischer Fiktionalität hinausläuft.

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literarischen Diskursnachbarn trennt, die die konstitutive Rolle von Fiktionen bei jeder Geschichtskonstruktion mißachtet.29 4. Sinnhaftigkeit. Die pragmatische Verankerung des Geschichtsdiskurses hat Folgen auch für den Sinngehalt, den die strukturanalytische Hermeneutik ihm zuerkennt: Handlungen in sozialen Systemen sind, wie von Max Weber bis Luhmann herausgestellt, auf ,Sinn* bezogen: „Sie produzieren Sinn — etwa in Form von Texten — und fordern Sinnverstehen."30 Der Geschichtsdiskurs schließt daran notwendig an: Indem er sich auf sinnorientiertes menschliches Handeln bezieht und seinerseits eine Konfigurationsleistung vermittels zeichenhafter Rektionen erbringt, produziert auch er laufend Sinn.31 Dies gilt selbst dann, wenn ein bestimmter Sinn der repräsentierten Geschichte bzw. ihrer Deutung kritisiert oder negiert wird. Anders als mitunter vermutet,32 ist ,Sinnc also nicht auf den höchst seltenen Fall beschränkt, daß Fakten und Norm koin2idieren. Wenn die Hermeneutik - im Unterschied zu antihermeneutischen Methoden offen33 — sinnverstehend arbeitet, projiziert sie folglich nicht ihre Prämissen auf ihre Gegenstände (das wäre ein vitiöser Zirkel), sondern kann sich aus deren Eigenart legitimieren. (Partielle) Sinnzerstörung ist in diesem Rahmen durchaus möglich, wie dekonstruktive Lektüren vorführen: sie tritt ein, wenn die semiotischen Strategien sich widersprechen und ihre Sinnzuschreibungen gegenseitig aufheben.34 Aus hermeneutischer Sicht stellt das jedoch nur den sekundären Effekt eines hochartifiziellen Einsatzes von prinzipiell sinnorientierten Verfahren dar.35 Gegen die sprachtheoretische Ausweitung des dekonstruktiven Lektü-

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Daß Fiktionsgebrauch nicht automatisch Fiktionalität nach sich zieht, betont Manning 1999. Brenner 1998, S. 127. Vgl. Jörn Rüsen: Was heißt Sinn der Geschichte? (Mit einem Ausblick auf Vernunft und Widersinn). In: Müller/Rüsen 1997, S. 17-47, hier S. 34f. So Andrea Jäger in ihrem Buch über die „poetische Auflösung des historischen Sinns" bei Conrad Ferdinand Meyer, vgl. Jäger 1998, S. 92,179, 281 u. 309. Auf die Unabdingbarkeit von Sinnverstehen auch in der strukturalen Analyse macht Ricceur aufmerksam (1999 [1971], S. 288f.). Zumal die Erzählung stellt eine Struktur dar, die ohne Sinnverstehen nicht adäquat zu beschreiben ist. Vgl. Walter Erharts subtile Heine-Lektüre: Heinrich Heine: Das Ende der Geschichte und „verschiedenartige" Theorien zur Literatur. In: Joseph A. Kruse, Bernd Witte u. Karin Füllner (Hrsg.): Aufklärung und Skepsis. Internat. Heine-Kongreß 1997 zum 200. Geb. Stuttgart, Weimar 1998, S. 489—506. — Widersprüche zwischen verschiedenen Erzählmustern in einer Literaturgeschichte deckt der Beitrag von CORNELIA BLASBERG auf. Vgl. Liebsch 1996, S. 274, sowie Ricceurs (1988-91 [1983-85], Bd. l, S. 142-166) Analyse der programmatisch anti'-narrativen Historiographie der .^4/«wa5v-Historiker, die ihren Darstellungen die Charakteristika des Narrativen entzogen, nachdem sie ihre

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rebefundes zum Postulat, daß sprachliche Semiose stets einer sinnzerstörenden .Verschiebung' unterliege, verweist die Hermeneutik wiederum auf die lebensweltliche Funktionalität von Sprachhandlungen. 5. Konsintkfivität. Von der lebensweltlichen Funktion des Erzählens haben manche Hermeneutiker auf eine „Kontinuität" zwischen jenen Erzählungen, mit deren Hilfe das Subjekt sich in der Welt orientiert, ja konstituiert, und den ,Great Stories' der Geschichtswissenschaft geschlossen.36 ,Geschichte' wäre demzufolge ebenso eine anthropologische Universalie wie das Erzählen. Die Begriffsforschung hat dem Denkmuster der einen Geschichte dagegen einen recht eng umrissenen bewußtseinsgeschichtlichen Ort zugewiesen, nämlich die europäische Kultur seit der Mitte des 18. Jahrhunderts (was nicht heißt, daß es vorher und andernorts kein historisches Bewußtsein gegeben hätte und gäbe).37 Wenn man die sprachlichen und semantischen Strukturen des Geschichtsdiskurses untersucht, läßt sich dies noch präziser fassen: dann stellt sich die ,Geschichte' als das Produkt einer keineswegs selbstverständlichen, sondern eigens zu leistenden Übertragung literarischer Erzählmuster auf eine als kontinuierlich gedeutete Vergangenheit dar.38 Auch in diesem Sinne muß Geschichte erst erschrieben werden. Das narrativ bewältigte Wechselspiel der Erwartungen mit den Erfahrungen angesichts ,histonscher' Ereignisse, wie es sich bei den Mitlebenden vollzieht, konstituiert demzufolge nicht automatisch einen „objektiven Zusammenhang der Geschichte im ganzen".39 Sich Geschichte« zu erzählen bildet die lebensweltliche Basis der ,großen Erzählung', als welche die eine Geschichte strukturiert ist, nicht aber deren hinreichende Bedingung. Die strukturanalytische Hermeneutik versteht ,Geschichte' vielmehr als ein textuelles Konstrukt von besonderer Qualität, denn in ihr verbindet sich die Entwurfs- und Syntheseleistung literarischer Muster mit dem Erfahrungs-

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Geschichte narrativ strukturiert hatten, damit jene Darstellungen überhaupt als spezifisch historische gelten konnten. David Carr: Die Realität der Geschichte. In: Müller/Rüsen 1997, S. 309-327, hier S. 310. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt Sträub 1998. Vgl. Reinhart Koselleck: Geschichte, Historic V-VII. In: Geschichtliche Grundbegriffe 1972-97, Bd. 2, 647-718, sowie die Beiträge in der Gruppe „Zeitkonzepte" in Müller/Rüsen 1997, S. 221-309. Vgl. dazu meinen Beitrag „Goethezeitliche Ästhetik und die Ermöglichung einer textuellen Repräsentation der ,Geschichte'" in diesem Band. Vor einer Bindung der .Geschichte' an das mündliche Erzählen warnt der Beitrag von GÜNTER BUTZER (Abschnitt I), da sie der Komplexität weder der literarischen noch der historiographischen Geschichtsschreibung gerecht wird. Lucian Kölscher: Neue Annalistik. Entwurf zu einer Theorie der Geschichte. In: Jordan 2000, S. 158-174, hier S. 167.

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bezug lebensweltlicher Narrativität, wobei die literarisch induzierte Konstruktion auf jener Narrativität einerseits fußt und sie andererseits übertrifft.

III. Leistungspotential und Anwendungsmöglichkeiten Was läßt sich auf einer solchen Grundlage leisten? Die strukturanalytische Hermeneutik akzentuiert, wie gesagt, die textuelle Verfaßtheit und Verfahrensabhängigkeit der jGeschichte'. Doch ist diese zentrale These nicht das Eigentum nur dieser Methode. Auf semiotischem, diskursanalytischem oder dekonstruktivem — mithin antihermeneutischem — Wege kann man teilweise zu denselben Ergebnissen gelangen und sie in manchen Aspekten sogar differenzierter darlegen. Der strukturanalytischen Hermeneutik ist daher zu empfehlen, so weit als möglich von diesen Methoden zu lernen.40 Partiell divergent sind allerdings die Begründungen und die jeweils gezogenen Folgerungen. 1. Funktionsanalyse. Kennzeichen der strukturanalytischen Hermeneutik ist, daß sie ihre Analyse nicht auf den literarischen oder historiographischen Text beschränkt, sondern seine pragmatische Verankerung mit berücksichtigt. Abgesehen von den erwähnten theoretischen Konsequenzen hat das erhebliche Folgen für die methodische Reichweite: Indem sie die Texte der ,Geschichte' als auf Handlungen bezogen und aus Handlungen hervorgehend betrachtet, ist die strukturanalytische Hermeneutik offen für die Frage nach den Funktionen - sozialen, politischen oder individualpsychischen - des Geschichtsdiskurses. Das scheint gerade im Blick auf die weitere Forschung ein wesentlicher Vorteil, zählt die funktionsgeschichtliche Analyse von Geschichtsrepräsentationen doch zu den vernachlässigten Aspekten des Themas.41 Das gilt für die historiographische Seite kaum weniger als für die 40

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Vgl. Berkhofer 1995, S. 36f. u. 64. Berkhofers Buch kann als Paradebeispiel dienen für die in der amerikanischen Forschung verbreitete Bereitschaft, theoretische Anregungen (hier des linguistic tuni) emphatisch aufzunehmen und recht umstandlos in weitreichende Thesen umzumünzen. Die zumeist poststrukturalistisch inspirierte amerikanische Diskussion dokumentieren Ankersmit/Kellner 1995, vgl. Hans Kellner: Introduction: Describing Redescriptions, S. 1—18, hier S. 2: „[t]here is a shared vision here. It is that history can be redescribed as a discours that is fundamentally rhetorical, and that representing the past takes place through the creation of powerful, persuasive images which can be best understood as created objects, models, metaphors or proposals about reality." Funktionale Aspekte des Geschichtsdiskurses werden seit einigen Jahren häufig unter dem Oberbegriff .Geschichtskultur' erörtert. Als historischen Überblick vgl. Thomas E. Fischer: Geschichte der Geschichtskultur. Über den öffentlichen Gebrauch von Vergangenheit von den antiken Hochkulturen bis zur Gegenwart. Köln 2000 (Bibliothek

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literarische und betrifft soziale und politische Kontexte ebenso wie die diversen Wissens- und Welterklärungsdiskurse. Nun ist es denkbar, daß man statt in ,Funktions Vergessenheit' in das gegenteilige Extrem verfällt, also ,Funktion' als einseitige, determinierende Abhängigkeit von anderen Diskursen oder der — ebenfalls diskursiv vermittelten — sog. Realgeschichte behandelt. Vor dieser Gefahr sollte jedoch das hermeneutische Bewußtsein von der partiellen Autonomie der sprachlichen Zeichen bewahren. Dem Interesse für den funktionalen Aspekt kommt auch die Sinnvermutung der strukturanalytischen Hermeneutik zugute, oder genauer: es setzt sie voraus. Denn wäre die textuelle Repräsentation von Geschichte prinzipiell als scheiternd zu beschreiben, so ließe sich ihre außerordentliche kulturelle Karriere nur als fortlaufendes Mißverständnis verstehen; im hermeneutischen Rahmen können festgestellte Widersprüche dagegen auf die besondere Situation der Epoche hin interpretiert werden.42 Übrigens ist aus logischen Inkonsistenzen der oder einer Geschichtsdarstellung nicht ohne weiteres auf deren funktionales Scheitern zu schließen, zeichnen sich doch auch und gerade lebensweltliche Erzählungen nicht durch Bruchlosigkeit aus. 2. Interne Differenzierung des Geschichtsdiskurses. Soweit zur gesellschaftlichen oder kulturellen Funktion des Geschichtsdiskurses im ganzen. Eine spezifische Funktion kommt darüber hinaus dessen einzelnen Zweigen und Gattungen zu. Als Konsequenz einer solchen Überlegung stellte Heinz-Joachim Müllenbrock bereits 1980 fest, daß sich der historische Roman „unter Berücksichtigung seiner jeweiligen Position zur Geschichtsschreibung am besten kennzeichnen" lasse.43 In der Tat erklären sich die Charakteristika literarischer Geschichtsrepräsentationen gutenteils aus deren vorwiegend subsidiärer Funktion in einer von anderen Institutionen präformierten Geschichtskultur.44 Mit dieser Nachrangigkeit muß gerechnet werden, obwohl literarische Techniken den Geschichtsdiskurs insgesamt fundieren. Paralleluntersuchungen zu einerseits literarischen, andererseits historiographischen Texten in ihren diversen Gattungen legt gerade die strukturana-

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Wiss. u. Politik. 57); einen Einblick in die Fülle der möglichen Perspektiven gibt: Klaus Füßmann, Heinrich Theodor Grütter u. Jörn Rüsen (Hrsg.): Historische Faszination. Geschichtskultur heute. Köln, Weimar, Wien 1994. Im vorliegenden Band vgl. den Beitrag von ANSGAR NÜNNING (Abschnitt VII). Als Beispiel vgl. Werner Wolf: Die Domestizierung der Geschichte. Eine These zur Funktion des englischen historischen Romans im 19. Jahrhundert am Beispiel von Scott, Thackeray und Dickens. In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 146 (1994), S. 271-296, hier S. 296. Heinz-Joachim Müllenbrock: Der historische Roman des 19. Jahrhunderts. Heidelberg 1980 (Forum Anglistik), S. 45. Vgl. dazu den Beitrag von CHRISTOPH BRECHT (Abschnitte III u. IV).

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lyrische Hermeneutik nahe, sieht sie doch sowohl die Historiographie als auch die literarische Erzählung in ihren Mitteln aufeinander angewiesen (während die Wissenschaft, wo sie ,Geschichte' schreiben will, sich narrativer .Fiktionen' bedienen muß, baut der historisierende Gestus literarischer Texte auf ein historiographisches Vorwissen).45 Zumindest eine Reflexion auf das Ensemble der in einer bestimmten Epoche synfungierenden Geschichtsrepräsentationen scheint schon deshalb unabdingbar, damit an einer Textsorte gemachte Beobachtungen nicht unzulässig auf den Geschichtsdiskurs insgesamt hochgerechnet werden. Um ein Beispiel zu nennen: Die Aporien, in die avancierte Dramen und Romane schon des 19. Jahrhunderts ihre Geschichtskonstruktionen rühren, prägten nicht unbedingt auch die gleichzeitige Historiographie oder das öffentliche Geschichtsbewußtsein.46 Besser erforscht ist das Neben-, Mitund Gegeneinander der verschiedenen Diskurszweige in epistemologischer Hinsicht.47 Am zweckmäßigsten dürfte dabei eine Methode sein, die den Wahrheitsansprüchen der Historiographie48 ebenso gerecht zu werden vermag wie der (relativen) Autonomie der literarischen Fiktion. Die Strukturanalytische Hermeneutik bemüht sich darum, während rein formalistische Methoden zur Privilegierung des Literarischen neigen.49

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Als exemplarische Studien vgl. Theo Elm: Georg Büchner und Leopold Ranke. Poetische und historische Erkenntnis der Geschichte. In: Holger Heibig, Bettina Knauer u. Gunnar Och (Hrsg.): Hermeneutik - Hermenautik. Literarische und geisteswissenschaftliche Beiträge zu Ehren von Horst Peter Neumann. Würzburg 1996, S. 163—178, oder Daniel Fulda: .Nationalliberaler Historismus'. Politische Motivation und ästhetische Konsequenzen einer Konvergenzphase von Geschichtsschreibung und historischem Roman. In: Ders. u. Thomas Prüfer (Hrsg.): Faktenglaube und fiktionales Wissen. Zum Verhältnis von Wissenschaft und Kunst in der Moderne. Frankfurt a. M. 1996 (Kölner Studien zur Literaturwiss. 9), S. 169-210. Im vorliegenden Band vgl. JOACHIM SCHARLOTH über die Interferenzen zwischen Historik und Poetik der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Vgl. Harro Müller: Thesen zur Geschichte des Historischen Dramas und des Historischen Romans (1773-1888). In: Wolfgang Küttler, Jörn Rüsen u. Ernst Schulin in Verb. (Bd. 4 u. 5) mit Gangolf Hübinger, Jürgen Osterhammel u. Lutz Raphael (Hrsg.): Geschichtsdiskurs in 5 Bänden. Frankfurt a. M. 1993-99 (Fischer TB. 11475-79; Wissenschaft), Bd. 3, S. 121-131; im vorliegenden Band vgl. den Beitrag von SILVIA SERENA TSCHOPP. Vgl. Ricoeur 1988-91 [1983-85]; als Resümee: Bd. 3, S. 295. Zur aktuellen Diskussion vgl. Rainer Maria Kiesow u. Dieter Simon (Hrsg.): Auf der Suche nach der verlorenen Wahrheit. Zum Grundlagenstreit in der Geschichtswissenschaft. Frankfurt a. M., New York 2000. Eine sprachphilosophische Kritik an der Mißachtung der historiographischen Realitätsreferenz durch formalistische Literaturtheorien nimmt im vorliegenden Band FRANK R. ANKERSM1T (Abschnitt IV) vor.

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3. Geschichtlichkeit. Wenn es der strukturanalytischen Hermeneutik um historische Differenzierung geht, so gilt das auch und gerade für die Kernthese, daß Geschichte stets erschrieben werde. Seit wann und auf wie und warum wechselnde Weise geschieht das?, lautet die Frage, die auf die Geschichtlichkeit zielt, die der Textualität des modernen Geschichtskonzepts ihrerseits eignet. Untersuchungen zu den Verfahren der Geschichtsrepräsentation, die von einem überhistorischen Textmodell wie dem der Dekonstruktion ausgehen, haben dagegen Schwierigkeiten, ihre Lektüreergebnisse historisch zu kontextualisieren.50 Daß und wie Geschichte erschrieben wird, stellt für die strukturanalytische Hermeneutik mehr als das Exempel eines generellen Problems textueller Signifikation dar. Historisch beschreiben zu können, wie Geschichte zum Text geworden ist, insofern sich das historische Denken das narrative Textmodell aneignete,51 stellt zudem ein zusätzliches Argument für die Textualitätsthese bereit, das auch dort Überzeugungschancen hat, wo sprachtheoretische Prämissen nicht als maßgeblich anerkannt werden (so bei vielen Historikern) oder wo der Narrativismus theoretisch angefochten wurde.52 In dieser Weise die Geschichtlichkeit der ,Geschichte' zu betonen berührt sich, das sei nicht übergangen, mit der Foucaultschen Diskursanalyse, die das Konzept ,Geschichte' allerdings erst als epistemische Voraussetzung von Diskursen, nicht jedoch als diskursiv konstruiert thematisiert.53 4. Performativifät. Die Textualität der .Geschichte' zu historisieren führt auf die Frage, welche Geschichte jeweils erschrieben wird und wie die angewandten Textverfahren mit dem jeweiligen Geschichtskonzept korrelieren. Hier öffnet sich ein breites Forschungsfeld, das erst wenige, wenngleich gewichtige Studien betreten haben.54 Derartige Untersuchungen scheinen 50

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Vgl. Gerhard Kebbel: Geschichtengeneratoren. Lektüren zur Poetik des historischen Romans. Tübingen 1992 (Communicatio. 2). Vgl. Fulda 1999, S. 40. Indem die strukcuranalytische Hermeneutik in dieser Weise historisch denkt, stellt sie sich in den Rahmen des Diskurses, den sie analysiert. Als Historisierung der Hermeneutik und besonders des geschichtstheoretischen Narrativismus vgl. jetzt auch Lau 1999. Vgl. z. B. Herta Nagl-Docekals Kritik an Baumgartners Kant-Rezeption (Die Objektivität der Geschichtswissenschaft. Systematische Untersuchungen zum wissenschaftlichen Status der Historic. Wien, München 1982 [Überlieferung und Aufgabe. 22], S. 211-227). Vgl. Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Übers, von Ulrich Koppen. Frankfurt a. M. 1974 (stw. 96) [frz. 1966], S. 269274, 439—447; ergänzend Daniel Fulda: Historiographie-Geschichte! oder die Chancen der Komplexität. Foucault, Nietzsche und der aktuelle Geschichtsdiskurs. In: Jordan 2000, S. 105-122. Im vorliegenden Band vgl. die Beiträge von LINDA SIMONIS und STEPHAN JAEGER (jeweils Abschnitt III). Als Beispiele seien drei germanistische Studien genannt: Hey'l 1994, Müller 1988 sowie Struck 1997. Vgl. auch meine Sammelbesprechung: Geschichte als Literatur. Tendenzen

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dann besonders lohnend, wenn in den analysierten Textverfahren ein tiefenstrukturelles Geschichtskonzept zum Ausdruck kommt, das der expliziten Geschichtstheorie des Textes oder den gerne herangezogenen Autorzeugnissen zuwiderläuft. In solchen Fällen vermag die strukturanalytische Hermeneutik unser Bild vom Umgang eines Autors, einer Epoche oder einer Gattung mit ,Geschichte' nicht allein zu verfeinern, sondern womöglich grundlegend zu revidieren. Ein historiographieanalytisches Beispiel dafür stellt Philippe Carrards Buch über die Poetik der jüngeren Anna/es-Histooker dar, denn er weist das von der Erzählung getragene Modell der einen Geschichte selbst dort nach, wo es am stärksten angegriffen wurde.55 Die Analyse und Interpretation literarischer Geschichtsrepräsentationen erhalten durch die Einsicht in die prinzipielle und ursprüngliche Textualität des Integrationskonzepts ,Geschichte' ebenfalls eine neue Grundlage. Denn wenn die herkömmliche Grenzziehung zwischen der vermeintlichen Faktizität der ,Geschichte' und den fiktionalen Entwürfen der Literatur theoretisch hinfällig ist, dann taugt sie nur noch als Beschreibung eines bei den Produzenten wie Rezipienten von geschichtsthematisierender Literatur verbreiteten Vorverständnisses. Die Aufgabe der Literaturwissenschaft ist damit erheblich komplexer geworden, denn die literarische Gestaltung, »Ausschmückung', Umcodierung oder Subversion von Geschichte läßt nun sich nicht mehr einer angeblich ,starren', einsinnigen Geschichte oder faktizistischen Geschichtsschreibung gegenüberstellen, womöglich mit impliziter Höherwertung. Das erfordert, statt von einem ontologischen Dualismus auszugehen, eine kontextualisierende Beschreibung lediglich graduell abweichender, interferierender Textstrategien. Untersuchungen zu geschichtsthematisierender Literatur stehen dann unter der Leitfrage, wie literarische Fiktionen und Figurationen auf jene .Fiktionen' und Figurationen reagieren, die den Geschichtsbegriff und die Struktur des wissenschaftlichen Geschichtsdiskurses prägen.56 5. Innovationschancen. Was die Textverfahren geschichtsthematisierender Texte angeht, so stand bislang zumeist die Erzählstruktur im Zentrum der Analyse, d.h. die Konfiguration der Aktanten, deren Bezug zu überindividuellen Instanzen, die vorherrschenden Interaktionsmuster, das Emplotment sowie die narrative Perspektivierung. Solche Untersuchungsanordnungen profitieren von der narrativistischen Kompetenz der strukturanalytischen Hermeneutik, bleiben ihr aber auch verhaftet. Eine Ausweitung des Inter-

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und Probleme der Forschung. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift N. F. 51 (2001), S. 95-113. Vgl. Philippe Carrard: Poetics of the New History. French Historical Discourse from Braudel to Chartier. Baltimore, London 1992. Im vorliegenden Band vgl. den Beitrag von CHRISTOPH BRECHT.

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esses ist in mehrfacher Hinsicht wünschenswert, zeichnet sich hier und dort auch schon ab: Zum ersten hinsichtlich der untersuchten Gattungen, denn das Drama und mehr noch die Lyrik haben sehr viel weniger Beachtung gefunden als epische Texte, deren formale Nähe zur Historiographie es nahelegt, sie als Paradigmen der ,erschriebenen Geschichte* zu begreifen.57 Die andere Repräsentationsform der nicht-epischen Gattungen fordert zum zweiten aber auch (partiell) andere leitende Hinsichten auf den Text. Im Fall des Dramas ist besonders seine spezifische Medialität in den Vordergrund gerückt. In der deutschen Literaturwissenschaft ist das Interesse für die nicht oder nicht nur textuellen Medien der Geschichtskultur relativ neuen Datums,58 obwohl der Skopus der Hermeneutik theoretisch längst über Texte hinausreicht.59 Das historische Drama etwa kann auf das Zusammenspiel oder auch den Widerstreit von ikonischer Anschaulichkeit, die ahistorische Präsenz suggeriert, und textueller Vermittlung, die Geschichte als Prozeß konstruiert, hin analysiert werden. Museen oder Denkmäler als primär optisch funktionierende Repräsentationen von Historischem60 einzubeziehen impliziert darüber hinaus ein Stück kulturgeschichtlicher Kontextualisierung; sie führt auf die Frage, in welcher Weise die mediale Differenzierung der verschiedenen geschichtskulturellen Repräsentationen mit deren jeweiliger gesellschaftlicher Funktion korreliert. Eine noch prägendere Wirkung auf die Geschichtsbilder des breiten Publikums hat in neuerer Zeit der Film gewonnen; durch seine technischästhetischen Eigenarten und Möglichkeiten — etwa die Konfrontation von Bild und Wort — stellt er zudem eine grundsätzliche Herausforderung für herkömmliche, homogenisierende Geschichtsstrukturvorstellungen dar.61 57

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Im vorliegenden Band nehmen die Beiträge von SILVIA SERENA TSCHOPP, MARKUS FAUSER, DIRK NIEFANGER und STEFANIE STOCKHORST eine solche Erweiterung des Untersuchungsspektrums vor. Vgl. dagegen die Studien des englischen Kulturhistorikers Stephen Bann (v. a.: The Clothing of Clio. A Study of the Representation of History in Nineteenth-Century Britain and France. Cambridge u. a. 1984). Aus der deutschen Geschichtswissenschaft ist die Denkmalforschung hervorzuheben; vgl. die Verbindung von Formanalyse, Historiographie- und Sozialgeschichte bei Hardtwig 1990, S. 224-309. Vgl. Ricceur 1999 [1971] sowie die daran anknüpfende ^ulturhermeneutik' des Ethnologen Clifford Geertz: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt a. M. 1983 (stw. 696), S. 253-260. Umstritten ist, ob nicht-textuelle Medien, die Schwierigkeiten haben, Folge und diachrone Kohärenz zu repräsentieren, als Repräsentationen von .Geschichte' im engeren Sinn angesehen werden können; vgl. Blasberg 1998, S. 114—125. Vgl. Robert A. Rosenstone: Visions of the Past. The Challenge of Film to Our Ideal of History. Cambride/Maß. 1995, sowie den Beitrag von WOLFGANG STRUCK im vorliegenden Band.

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Nun betrifft der Innovationsbedarf der strukturanalytischen Hermeneutik nicht nur das Gattungsspektrum oder den Medialitätsaspekt; ebenfalls zu nennen sind das aktuell vieldiskutierte Gedächtnis als ein geschichtskultureller Mechanismus, der einerseits gerne in einem Textmodell gedacht wird,62 andererseits der geschriebenen Geschichte vorauszuliegen scheint, oder die Frage nach Geschlechterdifferen^en in der Konstruktion von Geschichte. Denn gerade die Textualitätsthese verlangt, die geläufige Frage nach Rollenzuschreibungen im Geschichtsdiskurs zu der nach genderbedingten Formungen des Geschichtsdiskurses zu erweitern.63 Zum Zweck einer möglichst knappen Rekapitulierung bietet sich ein Wort Walter Benjamins an: „,Was nie geschrieben wurde, lesen"', zitiert er Hugo von Hofrnannsthal und schließt an: „Der Leser, an den hier zu denken ist, ist der wahre Historiker."64 Das läßt sich sowohl als eine Vorwegnahme der These von der konstruktiven Textualität der Beschichte' verstehen65 wie 62

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Vgl. Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München 1999, S. 151—158; zu einer Bestimmung des Verhältnisses von .Geschichte' bzw. Geschichtswissenschaft und ,Gedächtnis' vgl. ebenda, S. 130—145: Assmann modifiziert die herkömmliche Entgegensetzung beider Modi des Umgangs mit Vergangenheit durch Verweis auf den rhetorisch-poetischen Charakter sowie die pragmatische Gebundenheit auch der Historiographie. Kritischer urteilt GÜNTER BUTZER im vorliegenden Band (Abschnitt II). Aus poststrukturalistischer Sicht im Anschluß an Julia Kristeva vgl. Elizabeth Deeds Ermarth: Sequel to History. Postmodernism and the Crisis of Historical Time. Princeton 1992, S. 40f., mit der These, daß Frauen Zeit ,ahistorisch' konfigurierten (nicht linear und repräsentational); aus der Perspektive einer strukturanalytischen Hermeneutik (und weniger spekulativ) vgl. Nünning 1995, Bd. 2, S. 131-142. Zu einigen methodischen Spezifika der Frauen- und Geschlechtergeschichte — nämlich der Adaption von literaturwissenschaftlichen und semiotischen Perspektiven und Verfahren vgl. den Beitrag von ANNETTE SIMONIS. Walter Benjamin: Gesammelte Schriften. Bd. 1-7 (in 14). Hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a. M. 1974-89, Bd. l, 3, S. 1238. Das Hofmannsthal-Zitat entstammt dem Einakter Der Thor und der Tod (l 894) und gehört zu den Schlußworten des Todes; im Zusammenhang lautet die Stelle, auf die Menschen allgemein gemünzt, aber auch auf Geschichtsschreiber im besonderen passend: „Wie wundervoll sind diese Wesen, / Die, was nicht deutbar, dennoch deuten, / Was nie geschrieben wurde, lesen, / Verworrenes beherrschend binden / Und Wege noch im Ewig-Dunklen finden." (V. 538-542). Geschichte als zu lesender Text stellt bereits in der hermeneutischen Geschichtsauffassung von Herder über Ranke und Droysen bis Dilthey ein zentrales Denkmodell dar, doch gilt das vom Historiker zu Lesende dort als bereits Geschriebenes (von Gott oder, bei Dilthey, vom J^eben'; vgl. Wilhelm Dilthey: Gesammelte Schriften. Bd. 7: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. [Hrsg. von Bernhard Groethuysen.] Leipzig, Berlin 1927, S. 291 u. 200).

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auch als Aufforderung, die zu lesenden Geschichtstexte nicht auf Schriftliches zu beschränken, Methode und Einsatzfeld der herkömmlichen Hermeneutik also zu erweitern. Der Kontext freilich — dem Zitierten geht der Satz voraus: „Die historische Methode ist eine philologische, der das Buch des Lebens zugrunde liegt" —, der Kontext also macht eine dritte Lesart wahrscheinlicher: die Texte, die der Historiker liest, wurden nie geschrieben, weil sie aus Handlungen bestehen.66 Aber auch das trifft ein Anliegen der strukturanalytischen Hermeneutik, macht sie doch nicht nur auf die unhintergehbare, ja ursprüngliche Textualität der ,Geschichte', sondern auch auf deren pragmatische Fundierung aufmerksam.

IV. Auswahlbibliographie Angehrn, Emil: Vom Lesen und Schreiben der Geschichte. Dekonstruktion und historischer Sinn. In: Selbstorganisation. Jb. für Komplexität in den Natur-, Sozialund Geisteswissenschaften 10 (1999), S. 217-236. Ankersmit, Franklin Rudolf: Narrative Logic. A Semantic Analysis of the Historian's Language. Diss. Groningen 1981. Ankersmit, F[ranklin] R.: The Reality Effect in the Writing of History; the Dynamics of Historiographical Topology. In: Medelingen van de Koninklijke Nederlandse Akademie von Wetenschapen, Afdeling Letterkunde N. F. 52 (1989a), S. 1-37. Ankersmit, Franklin: The Use of Language in the Writing of History. In: Hywel Coleman (Hrsg.): Working with Language. A Multidisciplinary Consideration of Language Use in Work Contexts. Berlin, New York 1989b (Contributions to the Sociology of Language. 52), S. 57-81. Ankersmit, Frank, u. Hans Kellner (Hrsg.): A New Philosophy of History. London 1995 (Critical Views) [S. 278-283: Bibliographical Essay von F. A.]. Barthes, Roland: Historic und ihr Diskurs. In: alternative 11 (1968), S. 171-180. Baumgartner, Hans Michael: Kontinuität und Geschichte. Zur Kritik und Metakritik der historischen Vernunft. Frankfurt a. M. 1972. Berkhofer, Robert F.: Beyond the great story. History as Text and Discourse. Cambridge (Mass.) [u.a.] 1995. Blasberg, Cornelia: Erschriebene Tradition. Adalbert Stifter oder das Erzählen im Zeichen verlorener Geschichten. Freiburg i. Br. 1998 (Litterae. 48).

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Geht man noch zwei weitere Sätze zurück - dahin, wo Benjamin von der erst zukünftigen Lesbarkeit der Geschichte spricht -, so verändert sich der Sinn der Stelle erneut. Lesen' heißt dann, einen Sinn zu erkennen, der den Zeitgenossen noch nicht bewußt war. Aber auch diese Beobachtung weist auf ein hermeneutisches Theorem: daß Verstehen sich in einem Zirkel von Teil und Ganzem vollzieht.

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STEPHAN JAEGER Historiographisch-literarische Interferenzen. Möglichkeiten und Grenzen des Diskursbegriffes I. II. III. IV. V. VI. VII.

I.

Der Diskursbegriff als Beschreibungsinstrument historiographisch-literarischer Interferenzen Roland Barthes: Hisloin und Discours Michel Foucault: Historische Diskursanalyse Michel de Certeau: Die Wechselbeziehung zwischen Realem und Fiktivem Inszenierte historiographisch-literarische Interferenzen als epistemologische Mittel Gleitende Diskurse, Universalien und epistemische Brüche. Zur Historizität historiographisch-literarischer Interferenzen Auswahlbibliographie

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Der Diskursbegriff als Beschreibungsinstrument historiographischliterarischer Interferenzen

Welche Möglichkeiten bietet der Diskursbegriff zur Erfassung historiographisch-literarischer Interferenzen? Welche Grenzen sind ihm gesetzt? Die Inflation verschiedenster Diskursbegriffe in der aktuellen wissenschaftlichen Diskussion erschwert die Beantwortung dieser Fragen erheblich. Die allgemeine Definition von Diskurs bedeutet einfach ,die Rede über etwas' bzw. das Gespräch,1 was einen fast unbegrenzten Raum zur Anwendung des Begriffs eröffnet. Ähnliches gilt für die literaturwissenschaftliche Konkretisierung als die „Darstellungsweise eines Textes".2 Der Gegenstand, über den gesprochen wird, ist durch gemeinsame Merkmale gekennzeichnet, die ihn in der Rede als einen Diskurs markieren.3 In der neueren Theoriediskussion stehen sich dann der durch positive Merkmale definierte linguistische DiskursVgl. Böhler/Gronke 1994, Sp. 764; vgl. ebenda zur rhetorischen und philosophischen Geschichte des Diskursbegriffes. Jürgen Link: Literaturwissenschaftliche Grundbegriffe. 5. erw. Aufl. München 1993 [EA 1974], S. 282. Zu dieser klassifikatorischen Funktion im jüngeren geisteswissenschaftlichen Sprachgebrauch vgl. Böhler/Gronke 1994, Sp. 764f.

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begriff, zum Beispiel in der Gesprächs- und Konversationsanalyse, und der poststrukturaHstisch geprägte Diskursbegriff, der sich auf künstliche, instabile Ordnungen bezieht, die nicht von einem Subjekt beherrscht werden können, gegenüber.4 Gerade in dieser Spannung zwischen einer Regelhaftigkeit und deren Unterlaufen erweist sich der Diskursbegriff für die Analyse historiographisch-literarischer Interferenzen als grundlegend. In der Forschung wird bisher entweder vornehmlich über den Diskurs der Geschichte gesprochen oder über die Interferenzen der Diskurse Geschichtsschreibung und Literatur, ohne den dabei verwandten Diskursbegriff explizit zu thematisieren. Für ersteres stehen insbesondere die Ansätze von Roknd Barthes, Michel Foucault und Michel de Certeau.5 Alle drei versuchen, die Besonderheiten des historiographischen Diskurses zu bestimmen. Dabei stoßen sie jeweils auf ein Moment der Fiktion oder auf das Literarische, von denen der Diskurs der Geschichtsschreibung nicht vollends zu lösen ist.6 Der Diskursbegriff erweist in drei Aspekten seine Relevanz für die Erfassung historiographisch-literarischer Interferenzen. Er beschreibt positiv die Regeln, die seine jeweiligen Redeformen von anderen Redeformen trennen (Barthes im Anschluß an die linguistische Definition von Diskurs, Abschnitt II). Zweitens fungiert er als relationaler Begriff, um ein Feld von Aussagen und dessen Ausgrenzungsfunktionen zu beschreiben (Foucault, Abschnitt III). Daran anschließend läßt sich drittens — insbesondere mit de Certeau — eine grundlegende wechselseitige Bedingtheit von Historiographie und Fiktion zeigen. Die ,Wahrheit£ der Geschichte vollzieht sich in einem Zwischenraum (Abschnitt IV). Jede Ausgrenzung des Literarischen bringt gerade dieses in den Wissenschaftsdiskurs zurück. Auf Basis dieser drei Aspekte wird im zweiten Teil des Beitrages (Abschnitt V) ein vierter Aspekt erkannt: Historiographisch-literarische Interferenzen werden in der Inszenierung von Geschichtsschreibung zu einem heuristischen Mittel, durch das Geschichte in ihrer Komplexität dargestellt werden kann. Die Diskurse Historiographie und 4

5 6

Vgl. Fohrmann/Müller: Einleitung. Diskurstheorien und Literaturwissenschaft. In: Dies. 1988, S. 9-22, hier S. 13. Siehe zu den unterschiedlichen Facetten dieser Diskurstheorien ebenda, S. 18, sowie Ute Gerhard, Jürgen Link u. Rolf Parr: Diskurstheorien und Diskurs. In: Nünning 1998, S. 95-98. Für letzteres siehe u. a. Gearhart 1984, Gossmann 1990, Rigney 1990 und Carrard 1992. Entsprechend beschränkt sich dieser Aufsatz auf AtsioriograpbiscJhlitetansche Interferenzen. Das Literarische bricht in den historiographischen Diskurs ein. Für die zweifellos ebenso ergiebige Variante ÄmOTÄV^-historiographischer Interferenzen siehe die zahlreichen Analysen im zweiten Teil dieses Bandes. Allgemein stößt Literatur trotz aller Selbstreflexivität in der Beschäftigung mit Geschichte immer wieder auf historiographische Ansprüche. Dieses zeigt sich zum Beispiel, wenn Ecos Der Name der Rase (1980) mit Ansprüchen an eine .realistische' Darstellung des Spätmittelalters abgeglichen wird oder überprüft wird, ob das Lebensalter der Helden in Flauberts Bouvard und Pecuchei (1881) mit den dort geschilderten Entwicklungen in der Geschichte des Wissens übereinstimmen kann (zu Flauberts Roman vgl. auch den Beitrag von CHRISTOPH BRECHT).

Historiographisch-literarische Interferenzen

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Literatur beginnen sich im performativen Akt des Geschichte(n)-Schreibens zu überkgern. Um dieses nachweisen zu können, muß der Interpret historiographisch-literarischer Interferenzen vom Kontext bzw. vom Funktionsbündel eines Diskurses zurück zur konkreten Analyse des einzelnen Schreibaktes gelangen. Dieses wird an zwei scheinbar gegensätzlichen Beispielen demonstriert: an Simon Schamas an postmoderner Perspektivenvielfalt orientiertem Dead Certainties (1991) und an Friedrich Schillers auf idealistische Ganzheit ausgerichtetem Abfall der vereinigten Niederlande (1788). Abschließend wird die Frage nach der Historizität des Diskurses Geschichtsschreibung gestellt (Abschnitt VI). Hierbei ist einerseits der von Foucault geprägte Begriff des epistemischen Bruchs zu nutzen, andererseits ist zugleich die Konkurrenz zwischen den Polen Fiktion und Realem nicht aufzulösen. Der Diskurs der Geschichtsschreibung bewegt sich immer zwischen diesen Polen, seine Konkurrenz mit der Dichtung bleibt bestehen. Nur innerhalb dieser Koordinaten kommt es zu Verschiebungen. So entsteht eine doppelte Spannung, der nur mit gleichzeitiger Berücksichtigung der diskursiven Ereignisse und des konkreten Schreibaktes zu begegnen ist. Gerade in Umbruchzeiten häufen sich historiographisch-literarische Interferenzen als Regelverstöße und als Versuch einer die Diskursgrenzen überschreitenden, veränderten Darstellung von Geschichte.

II. Roland Barthes: Histoire und Discours In den sechziger Jahren wird der Diskursbegriff von der Linguistik und in ihrem Gefolge von der strukturalistischen Erzählanalyse im Rahmen der Begriffsopposition histoire und discours verwandt.7 Diese Unterscheidung zwischen einem Wie (Diskurs) und einem Was (der in der Geschichte verknüpften Welt) prägt auch die beiden Diskurstheoretiker der Zeit, die einen möglichen Diskurs der Historiographie reflektieren: Roland Barthes und Michel Foucault. In ihrer Methodik, diesen Diskurs zu bestimmen, gehen sie allerdings unterschiedliche Wege. Barthes versucht die Regeln des Diskurses mit linguistischen Termini zu beschreiben, Foucault negiert die Opposition von ,Ding' und jDiskurs* zugunsten eines relationalen Feldes diskursiver Ereignisse. Geschichtsschreibung heißt Bemächtigung von Regeln. Barthes definiert .Diskurs' als die nächstgrößere Einheit, die über den Satz, als größtem Untersuchungsgegenstand der Linguistik, hinausgeht. Der Diskurs — als Gesamtheit der Sätze — umfaßt damit die Zeiten, Aspekte und

Das Begriffspaar wurde insbesondere von Emile Benveniste und Gerard Genette geprägt, vgl. als Überblick Rolf Kloepfer: Histoire vs. Discours. In: Nünning 1998, S. 212f.

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Modi einer Erzählung.8 In seinem Essay Lt discours de l'histoire (1967) beschreibt Barthes dementsprechend den Diskurs der Geschichte als ein Untersuchungsfeld, auf dem die Universalien oder zumindest die Einheiten und allgemeinen Kombinationsregeln des Diskurses bezüglich des Aktes des Aussagens (enunciation), der Aussage (enonce) und der Bedeutung (signification) erkannt werden können. Dabei erkennt Barthes zwar eine Reihe korrekter, deskriptiv an der Sprache von kanonisierten Historikern gewonnene Merkmale — wie zum Beispiel die Kippstellen als Formeln der Augenzeugenschaft (Umschaltstellen des Hörensagens)9 oder die vorherrschende Absenz von Sprecher und Leser,10 doch eine hinreichende Identifikation des historischen Diskurses erreicht er höchstens kumulativ. Der Erzählgestus des Historikers ist schon größtenteils affirmativ, aber wie bei Barthes' anderen Beispielen auch finden sich sowohl in der Alltags spräche als auch insbesondere in der Literatur genügend vergleichbare Beispiele. Barthes' entscheidendes Kriterium begründet sich im Akt der Signifikation. Geschichtsschreibung basiert auf einem „Effekt des Realen".11 Das heißt, der Referent (im Sinne der res gestae) tritt in direkten Kontakt mit dem Signifikanten, es existiert also kein Signifikat im Bezeichnungsprozeß mehr. Der Diskurs beansprucht ,reaT zu sein, wie es in performativen Äußerungen der Fall ist. Damit ersetzt die Vorstellung des Realen das Signifikat und erzeugt die Illusion bzw. Fiktion des Realen. Der Geschichtsschreibung ist also der Modus inhärent, die Vorstellung, daß das Reale ,nur' ein Signifikat ist, zu verweigern.12 Mit dieser Beobachtung verläßt Barthes sein linguistischstrukturalistisches Beschreibungsmodell. Diskurs und Geschichte treten in ein dynamisches Verhältnis zueinander. Geschichtsschreibung erhält ein Illusionsmoment, wodurch sich Literatur und Historiographie, fiktionale und historiographische Erzählung überlagern. Implizit führt Barthes also selbst vor, warum er durch die deskriptive Merkmalsbeschreibung den Diskurs der Geschichte nicht hinreichend beschreiben kann. Doch im Schlußsatz — beiläufig erwähnt — erkennt Barthes, der bis dahin strukturalistisch-ahistorisch argumentierte, eine historische Entwicklung des 8

Vgl. Barthes: Einführung in die strukturale Analyse von Erzählungen [frz. 1966]. In: Ders. 1988, S. 102-143, hier S. 105ff. 9 Vgl. Barthes 1968 [1967], S. 172. 10 Vgl. ebenda, S. 175, zu einer Art objektivem Subjekt des historischen Diskurses; vgl. auch Nünning 1999, S. 373-375. Nünning weist in kritischer Auseinandersetzung mit Hayden White zwar zurecht nach, daß zwischen Geschichtsschreibung und Literatur kategoriale Unterschiede in der Themenselektion und den Erzähltechniken durch einen jeweils „grundsätzlich anderen Wirküchkeitsbezug" (ebenda, S. 369) gegeben sind, doch er umgeht die Grenzfalle, in denen diese kategorialen Differenzen unterlaufen werden. » Barthes 1968 [l 967], S. 180. 12 Vgl. ebenda.

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historiographischen Diskurses. Narrative Strukturen sind ursprünglich im frühen Epos sowie in der Erzählung von Mythen, also fiktional, entwickelt worden. Mit der Ausdifferenzierung der Gattung Geschichtsschreibung im 19. Jahrhundert - Barthes' Referenzhistoriker ist Augustin Thierry (1795— 1856) — wird paradoxerweise gerade das Narrative zum Zeichen und Beweis des Realen. In der neueren Geschichtsschreibung — damit auf die Annales anspielend — stirbt dann die Erzählung, das Narrative aus, und das Leitparadigma ist nicht mehr das Reale, sondern das Intelligible.13 Hier stellt sich eine merkwürdige Schieflage des Barthes'sehen Argumentes ein. Würde das Reale aus der Historiographie verschwinden, was bliebe dann vom historiographischen Diskurs übrig? Ist er nur ein zeitlich begrenzter Diskurs, ein sekundäres Zeichensystem, das für eine gewisse Zeit Funktionen des Mythos ersetzen kann? Warum erscheint der Diskurs der Geschichte auch weiterhin als etwas Bestimmbares? Geschieht dieses nur als disziplinäre Beschränkung? Und wieso gibt es Debatten über die Wiederbelebung des Narrativen?

III. Michel Foucault: Historische Diskursanalyse Der zweite, Ende der 1960er Jahre zirkulierende Diskursbegriffist der Michel Foucaults. Auch dieser stößt beim Versuch, den Diskurs der Geschichte zu entfalten, immer wieder auf das Literarische. Wie bei Barthes führt die Nähe zwischen Geschichtsschreibung und Dichtung zu Abgrenzungs- und damit zu Definitionsproblemen von Gegenstand und Diskurs. Foucault entfaltet den Diskursbegriff ebenfalls von der Dichotomic zwischen histoire und discours aus, löst das starre linguistische Schema aber auf.14 Er sieht zwei Arten der Geschichte, seine Geschichte des Denkens, die die Historic genealogisch herausstellt, indem sie Diskontinuitäten sichtbar macht, und die eigentliche Geschichte, die Ursprünge zu bestimmen sucht, Kontinuitäten bestimmen will und interpretiert.15 Die „Wahrheit des Diskurses" verdunkelt die „Wahrheit der Dinge".16 Paul Veyne hebt entsprechend 13

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Vgl. ebenda. Auch Bann sieht hierin das Neue von Barthes' linguistisch-rhetorischer Analyse, mit der die Wirklichkeitsvorstellung des 19. Jahrhunderts als .mythisch' entlarvt werden kann (Stephen Bann: Analysing the Discourse of History [1983]. In: Ders. 1990, S. 33-63, hier S. 40f.). Im Sinne von de Certeau hält Bann aber fest, daß das Reale auch in der strukturalsten Geschichtsschreibung erhalten bleibt (vgl. ebenda, S. 62). Zur produktiven Rezeption dieser Auflösung in der mentalitätsgeschichtlichen GenderForschung vgl. den Beitrag von ANNETTE SIMONIS (Abschnitt V). Zu den beiden Begriffen ,Geschichte des Denkens' und .eigentliche Geschichte' siehe Foucault 1981 [1969], S. 13. Michel Foucault: Nietzsche, die Genealogie, die Historic [1971]. In: Ders. 1987 [1974], S. 69-90, hier S. 72.

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Foucaults „Philosophie der Relation" hervor. Bildlich gefaßt, entstehen die Figuren des Diskurses wie die eines Schachspiels erst im Spiel.17 Ein Diskurs umfaßt damit eine Menge von Aussagen, die in einem Feld zu einer bestimmten Zeit aufgezeichnet werden.18 Während die Sprache ein System für mögliche Aussagen ist, damit unendlich viele Möglichkeiten zuläßt, faßt Foucault das Feld der diskursiven Ereignisse strikt positivistisch. Es besteht ausschließlich aus der endlichen und zur jeweiligen Zeit begrenzten Menge von den linguistischen Sequenzen, die bereits formuliert worden sind.19 Die Linguistik — und vorwiegend auch Barthes' deskriptiver Ansatz oben — sucht Regeln, wohingegen die Diskursanalyse danach fragt, wie, nach welchen Formationsregeln,20 es zur Erscheinung von bestimmten Aussagen kommt. Im Diskurs der Geschichte betont Foucault mit Nietzsche die Praktik der Macht. Derjenige, der sich ihrer Regeln bemächtigt, diese nutzt, maskiert und verkehrt, besitzt die Geschichte. Geschichte existiert nicht an für sich oder in Ursprüngen und Teleologien, sondern entsteht erst im Machen.21 Die Interpretation verlagert Foucault damit auf die Ebene der histoire. Interpretation heißt Bemächtigung, Macht im Spiel zu ergreifen. Hier liegt die Pointe und zugleich das Problem von Foucaults Geschichtstheorie. Die Genealogie wird zur Historiographie der Reihe von Interpretationen, die das Werden der Menschheit darstellen. Die hermeneutischen Kategorien vom Bewußtsein eines Autors und des Kommentars werden ausgeschaltet.22 Als Abgrenzung zur traditionellen Geschichtsschreibung entscheidend negiert Foucault jede Begründungs- und Synthetisierungsfunktion des Subjekts.23 Das Zerschneiden wird dem Verstehen, die Nähe der Ferne und Metaphysik vorgezogen. Der historische Sinn wird im Anschluß an Nietzsche durch Wirklichkeits-, Identitäts- und Wahrheitszersetzung bestimmt.24 Die Genealogie nimmt also eine Metaposition zur Interpretation ein. Damit blendet Foucault die traditionellen Kategorien von histoire und discours ineinander, um eine zweite Beobachtungsebene, die die Positivitäten aufnimmt, aufzumachen. Die Genealogie „[senkt] an ihrem Standort das Lot in 17

Vgl. Veyne 1992 [1978], S. 67. i« Vgl. Foucault 1981 [1969], S. 36. 19 Vgl. ebenda, S. 42. Veyne 1992 [1978], S. 8, kommt zu der emphatischen Aussage, daß Foucault „der erste vollständig positivistische Historiker" sei und damit die Geschichtsschreibung revolutioniert hätte. Zur Frage der Stellung von Foucault als Historiker siehe auch Brieler 1998. 20 Vgl. Foucault 1981 [1969], S. 58ff. 21 Vgl. Foucault 1987 [1974], S. 78. Zur Figur, daß die zu beschreibenden Diskurse erst im Akt der Beschreibung entstehen, siehe auch Andrea D. Bührmann: Der Diskurs als Diskursgegenstand im Horizont der kritischen Ontologie der Gegenwart. In: Bublitz/Bührmann/Hanke/Seier 1999, S. 49-62. 22 Vgl. Foucault 1991 [1972], S. 18ff. » Siehe zum Beispiel Foucault 1981 [1969], S. 23ff. » Vgl. Foucault 1987 [1974], S. 85.

Historiographisch-literaiische Interferen2en

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die Tiefe",25 der Historiker hat die eigene Individualität auszulöschen, „damit sich die anderen in Szene setzen und das Wort ergreifen können".26 Der Übergang vom Genealogen zum Diskurs wird in Foucaults theoretischen Äußerungen immer wieder in Angriff genommen, muß aber höchst unscharf bleiben. Der Diskursanalytiker muß sich für das „ereignishafte Hereinbrechen" des Diskurses bereithalten.27 Ausdrücke wie „Drängen" markieren den unfaßlichen Übergang auf die Ebene des Genealogen.28 Foucaults eigener Stil wird drängend. Gerade in der scheinbar methodologischen Archäologie des Wissens2·9 betont er häufig ein performatives Moment des Sagens, das weniger dem Archäologen oder Genealogen, sondern dem Diskurs selbst zuzurechnen ist. So verhindert Foucault, daß aufgrund seiner auf den ersten Blick oft analytischen Vorgehensweise in der Argumentation Aussagen des außenstehenden Diskursanalytikers zu fixieren sind. Dieses sei an einer kurzen Passage zum Verhältnis von Wörtern und Dingen demonstriert:30 Foucault verschachtelt die Beobachtungs- und Wahrnehmungsebenen: ,ich werde sagen, daß ich zeigen möchte, daß [..-]'. Die Formulierung 4ch möchte zeigen, daß' wird dreimal verwandt. Somit wird deutlich, daß dem Ausdrucksakt dieselbe Wichtigkeit wie dem ausgedrückten ,daß' zukommt. Dieses Ausgedrückte ist wiederum nicht stillzustellen. Es gibt wieder ein neues ,daß' oder eine neue, wiederholte performative Formel. Foucault nimmt immer wieder neue Anläufe, ein „mehr"31 auszudrücken, das über die gewöhnlichen Repräsentationsverhältnisse von Wörtern und Dingen hinausgeht. Auch im Aufsatz über Nietzsche bekommt Foucaults Genealogie eine stark performative Di25

Ebenda, S. 82; zum Begriff der Archäologie im Zusammenhang der Erfassung von Positivitäten siehe vor allem Foucault 1981 [1969], S. 249-252. 26 Foucault 1987 [l 974] ,5.83. 27 Foucault 1981 [1969], S. 39. 28 Ebenda. 29 Zur Unmöglichkeit einer klaren Operationalisierbarkeit einer diskursanalytischen Methode Foucaults siehe Dominik Schräge: Was ist ein Diskurs? Zu Michel Foucaults Versprechen, ,mehr' ans Licht zu bringen. In: Bublitz/Bührmann/Hanke/Seier 1999, S. 63-74. 30 „Da man mitunter Punkte auf die Iota der immerhin manifesten Abwesenheiten setzen muß, werde ich sagen, daß ich in all den Untersuchungen, mit denen ich erst so wenig weit vorangekommen bin, zeigen möchte, daß die ,Diskurse', so wie man sie hören kann und so wie man sie in ihrer Textform lesen kann, nicht, wie man vielleicht erwarten könnte, eine reine und einfache Verschränkung der Dinge und der Wörter sind: dunkler Rahmen der Dinge, greifbare, sichtbare und farbige Kette der Wörter; ich möchte zeigen, daß der Diskurs keine dünne Kontakt- oder Reibefläche einer Wirklichkeit und einer Sprache, die Verstrickung eines Lexikons und einer Erfahrung ist; ich möchte an präzisen Beispielen zeigen, daß man bei der Analyse der Diskurse selbst die offensichtlich sehr starke Umklammerung der Wörter und der Dinge sich lockern und eine Gesamtheit von der diskursiven Praxis eigenen Regeln sich ablösen sieht." (Foucault 1981 [1969], S. 73f). 31 Ebenda, S. 74.

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mension, indem sich Foucaults eigene Position in der Nietzscheanischen auflöst.32 Hier setzt nun das Literarische ein, so daß von historiographisch-literarischen Interferenzen gesprochen werden kann. Die Historiographie verschmilzt auf der Ebene des Diskurses mit ihrem Gegenstand, da sie diesen durch Bemächtigung der Spielregeln erst schafft. Die Genealogie — als Metahistoriographie — benötigt diese stark performative Dimension, die durch rhetorische und poetische Mittel erzeugt wird.33 Damit schafft es Foucault zum einen, die Positivität der Aussagen auszugraben, zum anderen entsteht ein Moment von Fiktion, das das Reale unterläuft, dem positivistischen Wissenschaftler also die notwendige Unschärferelation zur Verfügung stellt. Damit kann der Genealoge seine Position — irgendjemand muß das Lot in die Tiefe halten — wiederum verschleiern oder gar auflösen, eine Art Außen im Innen inszenieren.34

IV. Michel de Certeau: Die Wechselbeziehung zwischen Realem und Fiktivem Foucaults Beobachtung, daß Geschichte erst im Machen entsteht, wird von Michel de Certeau als „Schreiben der Geschichte" aufgenommen. Indem Geschichtsschreibung etwas als real bezeichnet, schafft sie dieses. Darin ist ihr ein Moment von Fiktionalität zu eigen. Dieses läßt sich mit Blick auf das Paradox im Begriff ,Geschichtsschreibung' bestätigen. Er beinhaltet zugleich die Namen der ,Geschichte' und des ,Schreibens'. Die eigentlichen antinomischen Begriffe Diskurs und Geschichte bzw. Diskurs und Wirklichkeit kommen zusammen.35 Das Reale existiert nicht außerhalb der Geschichtsschrei-

32

Vgl. Foucault 1987 [1974]. Es ist aber nicht mehr erkennbar, ob das „Drängen" durch den Diskurs Nietzsches oder durch Foucaults Methodologie begründet wird. Gerade hierin liegt ein Grund für die notwendige Unscharfe aller Foucaultschen Begriffe, einschließlich der Begriffe Diskurs und Praktik. 33 White führt an Foucaults Rhetorik und Stil vor, wie sich die Unterscheidung zwischen Oberfläche und Tiefe in der Sprache auflöst (Hayden White: Foucaults Diskurs. Die Historiographie des Antihumanismus. In: Ders. 1990 [1987], S. 132-174, insbesondere S. 133£). 34 Der rein äußere Blick ist unmöglich, wird - wie in der neueren Ethnographie - dennoch selektiv praktiziert, so daß diese zu einer Art Geschichten erzählender Literatur wird. Foucault selbst sieht Psychoanalyse und Ethnologie in diesem Sinne das gesamte Feld der Humanwissenschaften durchlaufen (Foucault 1974 [1966], S. 453). — Eine Analyse von Foucaults historiographischer Praxis, die deren normative Elemente herausarbeitet, enthält der Beitrag von LlNDA SIMONIS (Abschnitt III): 3 5 De Certeau 1991 [1975], S. 9. De Certeau faßt Diskurse - an Foucault anschließend als Ergebnis von Praktiken (oder Praxen), wobei beide letztlich nie klar voneinander zu trennen sind. Eine Praktik bedeutet dabei eine symbolische Handlung der Gesellschaft

Historiographisch-literarische Interferenzen

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bung, sondern entsteht in derem Schreiben, es wird vom Diskurs mitgeschaffen. Das Vergangene wird in der historiographischen Erzählung inszeniert. Dieses Inszenierungsmoment demonstriert de Certeau in Das Schreiben der Geschichte an Machiavellis Discorsi (l 522) auf zweierlei Weise. Zum einen übernimmt die Geschichtsschreibung die Position des Handlungssubjekts. Der Fürst, der Geschichte machen wUl, begibt sich als Auftraggeber des Historiographen seiner Macht. An Foucault anschließend betont de Certeau das doppelt strategische Moment dieser Geschichtsschreibung: Sie behandelt den Gegenstand der politischen Geschichte und beginnt selbst, Archive und Dokumente strategisch zu verwalten.36 Der Historiograph untersucht, was der Fürst tun sollte. Er stellt eine Möglichkeit dar, eine Fiktion: „Der Historiograph ist vom tatsächlichen Fürsten' abhängig und schafft den .möglichen Fürsten'."37 Das Mögliche ist ein Konstrukt des Diskurses, die Kluft zum Wirklichen kann niemals überbrückt werden. Die Fiktion vorzuspiegeln, das Subjekt der Operation zu sein, führt das Irreale in die Handlungswissenschaft Geschichtsschreibung ein.38 Zum anderen machen Machiavellis Discorsi die römische Geschichte des livius zum Schauplatz, zur Bühne für die Politik des Fürsten. Die Vergangenheit wird als Fiktion der Gegenwart genommen. Der Schauplatz ,Rom' wird zum Ort von Interesse und Vergnügen. Die Fiktion der Vergangenheit ist also notwendige Voraussetzung für das wissenschaftliche Spiel der Geschichte.39 Die Wirklichkeit ist nur als Fiktion darstellbar. Der Historiker muß folglich, um schreiben zu können, in seiner historiographischen Praxis das ^Andere', das ihm als etwas Negatives immer wieder entflieht, und die Wirklichkeit als Fiktion miteinander verbinden.40 So erweist sich das Paradox im Wort ,Geschichtsschreibung' als zutreffend, Diskurs und Gegenstand kommen zusammen.41 Wie die anfänglichen Beispiele gezeigt haben, wird die Fiktion in der Historiographie als Irrtum gewertet, um von ihr den eigenen wissenschaftlichen Bereich abzusetzen. Jede Disziplin konstituiert sich nach Foucault als „ein anonymes System", das jeder nutzen kann, der sich im Spiel von Regeln und

und ihre Möglichkeit, Raum zu verwalten (de Certeau 1991 [1975], S. 16f.), vgl. zu Foucaults Begriff der Praktik auch Veyne 1992 [1978], S. 32f. 36 Vgl. ebenda, S. 18f. Mit Hilfe von Praktiken expliziert, verschleiert und formalisiert jede Gesellschaft ihre grundlegenden Strategien (ebenda, S. 21). 37 Ebenda, S. 20, wobei de Certeau sich auf eine Arbeit von Claude Lefort bezieht (Le Travail de l'ceuvre Machial. Paris 1972, S. 447-449). 38 Vgl. de Certeau 1991 [1975], S. 20. » Vgl. ebenda, S. 21 f. « Vgl. ebenda, S. 27. 41 Vgl. auch Weidner 1999, S. 16f.: Für de Certeau ist Geschichtsschreibung Fiktion, nicht Literatur oder Wissenschaft, und bildet in dieser Funktion die „Zone für die Auseinandersetzung mit dem Anderen".

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Definitionen, von den als wahr angesehenen Sätzen, bewegen kann.42 In einer Disziplin lassen sich endlos neue Sätze formulieren. Am Beispiel von Mendels Entdeckung der Erbmerkmale zeigt Foucault, wie eine Aussage im „wilden Außen" letztlich wahr sein kann, aber zugleich als disziplinierter Irrtum, gemäß der Regeln einer diskursiven Polizei von Biologie und Botanik sanktioniert wird:43 „Die Disziplin ist ein Kontrollprinzip der Produktion des Diskurses. Sie setzt ihre Grenzen durch das Spiel einer Identität, welche die Form einer permanenten Reaktualisierung der Rege/n hat."44 De Certeau fuhrt Foucault nun für die Geschichtsschreibung konkreter fort. Die Geschichtsschreibung „beansprucht sowohl auf der Ebene des analytischen Verfahrens (Prüfen und Vergleichen von Quellen), als auch auf der Interpretationsebene (den Produkten dieser Vorgangsweisen) im Namen des Realen zu sprechen."45 Mit dieser Geste grenzt sie den wissenschaftlichen Diskurs von der Fiktion ab, die als falsch desavouiert wird. Durch das Beweisen von Irrtümern wird der historiographische Diskurs als wirklich ausgegeben. Die Fiktion wird also in dieser Absetzungsgeste zugleich zum notwendigen Bestandteil der Wissenschaft. Mit dieser Doppelfigur der Ausgrenzung der Fiktion zugunsten ihrer unterschwelligen Wiedereinholung wird die immerwährende Konkurrenz zwischen Literatur und Geschichte sowie das Schwanken der Geschichtsschreibung zwischen Kunst und Naturwissenschaft verständlich.46 Um die doppelte Operation der Geschichtsschreibung zu kennzeichnen, führt de Certeau die Metaphern von Grenze und Zwischenraum ein. Die Ausgrenzung des Vergangenen wird in der historiographischen Operation negiert. Das Vergangene kehrt zurück: „Die Toten tauchen in der Arbeit, die ihr Verschwinden und die Möglichkeit, sie als Forschungsgegenstand zu analysieren, postulierte, wieder auf."47 Schreibpraxis, die „produktive Tätigkeif', und

42

Foucault 1991 [l972], S. 22. « Ebenda, S. 24f. « Ebenda, S. 25. « Michel de Certeau: Die Geschichte. Wissenschaft und Fiktion [1983]. In: Ders. 1995 [1987], S. 59-90, hier S. 60. De Certeau erkennt neben der gerade hervorgehobenen Funktion von Fiktion und Realität drei weitere Funktionen von Fiktion im historischen Diskurs, die er unter den Begriffspaaren .Fiktion und Geschichte' (Abgrenzung vom Irrtum), ,Fiktion und Wissenschaft' (Ermöglichung statt Nachahmung) und ,die Fiktion und das Eindeutige' (Austreibung des ^Anderen1) faßt (ebenda, S. 59ff.). Allerdings überschneiden sich die in den vier Funktionen enthaltenen Abgrenzungsmechanismen, so daß anders als bei Rigney 1996 keine unterschiedlichen Fiktionsebenen ausgemacht werden können (zu Rigney siehe unten). tziehungen liegt nicht zuletzt darin, daß vorgefaßte Interpretationen und Zuordnungen der Geschlechterrollen soweit wie möglich vermieden werden und die Ergebnisse nicht von vornherein feststehen bzw. allein durch das gewählte Theoriedesign determiniert sind (wie es mitunter bei der Dekonstruktion oder in orthodox marxistischen Analysen der Fall ist). Die zu beobachtende Beziehung zwischen den kulturellen Geschlechterrollen liegt zunächst im Dunkeln, sie kann nicht ohne weiteres als ein Herrschaftsverhältnis erfaßt werden. Ebensowenig läßt sie sich von anderen Faktoren und von anderen

31

Duby/Perrot 1993-1995, Bd. l, 1993 [ital. 1990], S. 10. - Zu den Bemühungen von Autoren der .klassischen Moderne' um eine Monographische' Geschichtsschreibung vgl. den Beitrag von GREGOR STREIM (Abschnitte II u. V). 32 Duby/Perrot 1993-1995, Bd. l, 1993 [ital. 1990], S. 10.

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gesellschaftlich relevanten Differen2en im kulturellen Symbolsystem isolieren und absolut setzen.33 Perrot entfaltet in diesem Kontext die Vorstellung einer verborgenen Geschichte, einer ktenten Struktur unter der Oberfläche der bekannten geschichtlichen Ereignisse, die dem Blick des naiven Beobachters notwendig entzogen bleibt: „Es ist unmöglich, hinter den Spiegel zu gelangen. Hier schafft das Sagbare das Unsagbare, Licht erzeugt Dunkelheit. Das Ungesagte, das Unbekannte, das, was wir niemals kennen werden, bewegt sich im selben Maß voran wie unser Wissen, das vor unseren Füßen Geheimnisse aufreißt."34 Auf den ersten Blick mögen Perrots Ausführungen den Verdacht erwecken, in reine Metaphysik zurückzufallen, und die Assoziation von Alchimie und eigentümlicher Esoterik wird wachgerufen, die durch den poetischen Ton der gewählten Formulierungen noch untermalt wird. Nichtsdestoweniger verfolgt die Autorin eine systematische Zielsetzung, die desto deutlicher wird, je mehr man die zitierten Zeilen in den Zusammenhang mit der älteren Historiographie stellt und in ihnen den polemischen Gestus der Abgrenzung erkennt. Während die Vertreter der historiographischen Tradition, insbesondere des Historismus im 19. Jahrhundert, im allgemeinen die Transparenz der Darstellung als schriftstellerisches Ideal anstrebten und sich eine solche gerne zugute hielten, wenn sie (in Anlehnung an Goethe) das Auge und dessen Leuchtkraft als ihre Leitmetapher wählten, kapriziert sich die neuere Frauengeschichtsschreibung hier, so will es scheinen, auf die diametral entgegengesetzten Verfahren und Leitbilder. Gilt es doch, einen verlorenen Faden, eine verschüttete Erinnerungsspur, aus der Latenz zu befreien, ins historische Bewußtsein zurückzuholen und dem kulturellen Vergessen zu entwinden: Es bleibt die ungreifbare Undurchsichtigkeit des Gegenstands, sobald man über eine Sozialgeschichte des privaten Lebens hinausgehen und jenseits von Gruppen oder Familien die Geschichte der Individuen mit ihren Vorstellungen und Emotionen erfassen möchte: die Geschichte der Handlungs- und Lebensformen, [...] der Flugbahnen der Träume und Phantasien.35

33

34 35

Eine produktive Erweiterung des Horäonts der gender studies brachte beispielsweise die Berücksichtigung der besonderen Verbindung von gender und class mit sich, wie der Band von Frader/Rose 1996 verdeutlicht. Allerdings scheint selbst die inzwischen häufig verwendete Dreiheit von gender, class und race für sich genommen noch nicht hinreichend um der tatsächlichen Komplexität und Vielfalt der kulturellen Wahrnehmungen gerecht zu werden. Im jeweiligen Einzelfall sind daher weitere Aspekte in ihrem Zusammenwirken in die Analyse miteinzubeziehen, um vorschnelle Reduktionen zu vermeiden. Michelle Perrot: Einleitung. In: Aries/Duby 1992, Bd. 4 [frz. 198 , S. 7-11, hier S. lOf. Ebenda, S. 11.

Geschichte und gender

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Die Vertreterinnen und Vertreter der französischen Mentalitätsgeschichte versuchen dem aufge2eigten Dilemma dadurch zu entgehen, daß sie sich nicht auf eine einzige Methode festlegen, sondern zugunsten eines eklektischen Ansatzes und flexiblen Instrumentariums entscheiden. Michelle Perrot notiert in diesem Sinne: Eine Geschichte des privaten Lebens zu schreiben, bedarf einer speziellen Optik. Die klassischen Methoden der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte reichen hier nicht aus. [...] Die Anregungen des Interaktionismus (E. Goffrnan) und die detaillierten Analysen der Mikro-Historie waren uns nützlich, ebenso die Kultursoziologie. All diesen Verfahren verdanken wir viel. [...] Dennoch bleibt die Schwierigkeit, etwas anderes zu entdecken als das äußere und öffentliche Gesicht des privaten Lebens.36

Wenn es darum geht, die andere Seite der Geschichte, die im Schatten der offiziellen Historiographie liegt, zu beleuchten, scheint weder die Psychoanalyse noch die Foucaultsche Diskursanalyse noch die ältere Kulturanthropologie allein hinreichend. Noch weniger sind die mentalen und psychologischen Dispositionen, welche die Geschichte bedingen, durch das Zusammentragen von (vermeintlichen) historischen ,Fakten' bzw. das Sammeln von empirischen Daten zu erschließen. Da es sich dabei um .unsichtbare', einer positivistischen Methode nicht zugängliche Strukturen, handelt, bedarf die Geschichtswissenschaft aus der Sicht der neueren Mentalitätsgeschichte und der gender studies einer Umstellung, eines Wechsels des Blicks. Es bedarf notwendigerweise einer anderen Art der Annäherung und subtilerer Beobachtungsformen als jener, die in der herkömmlichen Geschichtsschreibung erprobt wurden. Das gesellschafdiche Imaginäre,37 dem die Geschlechterdifferenz eingeschrieben ist, sedimentiert sich, so die Annahme, in den verschiedensten ästhetischen Ausdrucksformen und kulturellen Artefakten. Daher benötigt die historische Forschung eine Ergänzung durch kultursemiotische Perspektiven und Verfahren. Wie sich eine solche Verschiebung des Erkenntnisinteresses im einzelnen gestaltet, soll im folgenden anhand einiger Beispiele aus der neueren mentalitätsgeschichtlichen Forschung illustriert werden.

IV. Metaphern, Bilder, Inszenierungen — Kennzeichen act gender history In der von Philippe Aries und Duby herausgegebenen Geschichte des privaten Lebens (Paris 1985—87, Frankfurt 1992) kssen sich der oben angedeutete Bückwechsel innerhalb der historischen Disziplin und seine methodologischen Konsequenzen exemplarisch nachvollziehen, besonders im vierten 36 Ebenda, S. 10. 37 Vgl. diesbezüglich allgemein: Evelyn Patlagean: Die Geschichte des Imaginären. In: Le Goff/Chartier/Revel 1990, S. 244-274.

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Band, den Michelle Perrot editorisch betreut hat. Das reichhaltige Bildmaterial der Bände hat nicht nur die ausschmückende Funktion von Illustrationen. Vielmehr gelten die Abbildungen als prototypische Repräsentationen der in der jeweiligen historischen Epoche vorherrschenden Vorstellungsbilder und mentalen Dispositionen, so daß sie selbst zu einem integralen Bestandteil der projektierten Historiographie werden. Sie übernehmen also insofern eine wichtige Aufgabe, als sie es dem Historiker erkuben, die ästhetische Dimension als aufschlußreichen Beleg und als zentrales Mittel der Geschichtskonstruktion zu erkennen und zu nutzen. Das wechselseitige Verhältnis von öffentlicher und privater Sphäre, politischen und ästhetischen Aspekten zeigt beispielsweise der Beitrag von Lynn Hunt mit dem Titel Fran^ösische Revolution und privates Leben. So lassen sich, wie der Essay überzeugend dokumentiert, die Spuren der französischen Revolution in der bildenden Kunst und Malerei der Epoche ebenso wie im Dekor des Alltags, im bürgerlichen Interieur, auf den Mustern einer mit Kokarden und Trophäen verzierten Tapete entdecken.38 Die Französische Revolution macht sich nicht allein in ihren unmittelbaren politischen Konsequenzen und Ereignissen bemerkbar, sie wird vielmehr auch als ein quasi omnipräsentes ästhetisches und soziokulturelles Phänomen erfahrbar, denn sie verdichtet sich aus der Perspektive des zeitgenössischen Beobachters zu einem allseitig wirksamen und beobachtbaren ,Wandel der Erscheinungsbilder'. In diesem Zusammenhang ist etwa die symbolische Verweisungsfunktion der Mode39 zu nennen, die von den Zeitgenossen plötzlich als Ausdrucksmedium vorhandener oder fehlender patriotischer Gesinnungen40 betrachtet wird. Hunt resümiert prägnant: Gemäßigte und Aristokraten erkannte man an ihrer verächtlichen Weigerung, die Kokarde zu tragen. Nach 1792 waren rote Freiheitsmütze, die kurze Jakke, die man Carmagnole nannte, und weite Hosen die Tracht des Sansculotten, des wahren Republikaners also. — Was man trug, war so besetzt mit politischer Bedeutung, daß der Konvent im Oktober 1793 die .Freiheit der Kleidung' neu bestätigen mußte.41

Ähnliche Manifestationen der revolutionären Veränderungen lassen sich im Sprachgebrauch erkennen. Die sprachlichen „Zeichen der individuellen Lebenspraxis" drangen in die politische und gesellschaftliche Öffentlichkeit vor: „Das vertrauliche Du wurde üblich."42 Im Oktober 1793 stellte ein Sanscu38

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40 41 42

Vgl. Lynn Hunt: Französische Revolution und privates Leben. In: Aries/Duby 1992, Bd. 4 [frz. 198 , S. 19-49, hier S. 26. Vgl. diesbezüglich auch Roland Barthes: Die Sprache der Mode. Übers, von Horst Briihmann. Frankfurt a. M. 1985 (es. 1318) [frz. 196 . Vgl. Hunt 1992 (wie Anm. 38), S. 22. Ebenda. Ebenda, S. 26.

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lotte im Konvent den Antrag „im Namen meiner ganzen Wählerschaft, daß jeder ohne Unterscheidung alle Männer und Frauen duzen soll, mit denen er allein spricht, bei Strafe, sonst als verdächtig zu gelten."43 Es wäre zu überlegen, welche impliziten Annahmen und konzeptuellen Voraussetzungen die angeführte (Re-)Konstruktion von Geschichte zu erkennen gibt. Die Sprache ist, wie das Beispiel der französischen Revolutionäre veranschaulicht, offenbar als eine symbolische Form unter anderen kulturellen Zeichensystemen wirksam, deren jeweilige Verwendung und Deutung für den ,Geschichtsverlauf höchst aufschlußreich sind, und zwar nicht nur als dessen nachträglicher Ausdruck. Vielmehr können sie für das historische Geschehen selbst eine prägende, verändernde oder stabilisierende Funktion annehmen. Indem Perrot und ihre Mitarbeiterinnen eine kultursemiotische Perspektive wählen, gelingt es ihnen, zum einen neue symbolische Repräsentationen und Metaphern aufzudecken bzw. zu erfinden. Zum anderen nehmen sie eine Übertragung und Adaption jener Leitmetaphern, Denkfiguren, Diskurselemente und rituellen Praktiken vor, die aus anderen Bereichen bereits vertraut und der traditionellen Geschichtssicht keineswegs fremd sind, um sie den eigenen Erkenntnisinteressen anzupassen. So scheuen sie keineswegs davor zurück, die seit der Renaissance in literarischen Geschichtsbildern topische Theatermetaphorik wiederzubeleben.44 Die Theatermetapher hat beispielsweise den Aufbau des gesamten vierten Bandes der erwähnten Geschichte des privaten Lebens durchgängig geprägt, wie die Kapitelüberschriften „Vorspiel", „Die Akteure", „Konflikte und Tragödien" usw. verraten. Wurde bislang das Schauspiel als die übergreifende Leitmetapher für politisch-heroisches Handeln, etwa für die Haupt- und Staatsaktionen der Renaissance und des Barocks verwendet,45 machen nun auch die Historiographen des Alltags davon großzügigen Gebrauch, was immer wieder zu konischen Brechungen und Pointen führt. Eine so konzipierte Mentalitätsgeschichte stimmt mit dem New Historidsm in der Basisannahme überein, daß die empirische Wirklichkeit selbst, und zwar insbesondere, was die jeweiligen sozialen Handlungsformen angeht, theatralisch strukturiert ist. Somit umfaßt das geschichtliche »Material', noch ehe es durch den Dichter oder Künstler poetisch überformt wird, genuin ästhetische und fiktionale Komponenten, die gewissermaßen nur auf ihre literarische oder dramatische Umsetzung warten.46 Nicht nur die höfischen Zeremonien und das repräsentative Auftreten des Adels folgten einem streng « Ebenda. Vgl. den Beitrag von SILVIA SERENA TSCHOPP (Abschnitte II u. III). 45 Vgl. Ulrich Suerbaum: Das elisabethanische Zeitalter. Stuttgart 1989 (RUB. 8622), S. 120f. 46 Vgl. Annette Simonis: New Historicism und Poetics of Culture. In: Manning 1998, S. 153-172, hier S. 160. 44

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geregelten, rituellen Abkuf, auch das Alltagsleben der Bürger setzte sich aus einer Vielzahl von Ritualen zusammen, die nur aufgrund ihrer Alltäglichkeit oft nicht als solche erkannt wurden. In diesen Bereich, zu den ,Riten der Bürgerlichkeit', gehört auch die Gliederung der Zeit durch einen geordneten Tagesablauf und die Ausbildung eines besonderen Kults der Erinnerung im 19. Jahrhundert, der durch das Aufkommen der Photographic47 noch gefördert wurde. Die Feste des Kirchenjahrs wurden unabhängig von der Frömmigkeit der Familien in fast jedem Haushalt zelebriert. Sie betonten den zyklischen Zeitverlauf gegenüber der irreversiblen linearen zeitlichen Ordnung. Eine vergleichbare bewahrende Funktion wie die ,ewige Wiederkehr der Festtage' kommt der Kultur der Erinnerung zu, die hauptsächlich von den weiblichen Familienangehörigen gepflegt wurde.48 In dem Maße, in dem die Frau auf die Ideale der Häuslichkeit und eine zurückgezogene Lebensweise beschränkt wurde, war sie anfällig für die von den zeitgenössischen Romanciers auch literarisch gestaltete Langeweile, den ,enttui' (Flaubert, Madame Bovary). Als zeitdiagnostische Schriften dienen den Mentalitätshistorikerinnen in diesem Zusammenhang ferner die Gedichte des Romantikers Lamartine und die Romane Marcel Prousts.49 Auch in der von Duby zusammen mit Michelle Perrot zusammengestellten fünfbändigen Geschichte der Frauen setzt sich die zu beobachtende kultursemiotische Tendenz der Historiographie fort. Die „Produktion imaginärer und wirklicher Frauen"50 steht im Mittelpunkt des Interesses und wird anhand kunstgeschichtlicher und literarischer Dokumente erforscht. Ferner rückt die Rolle der Frauen als Schriftstellerinnen und Künstlerinnen plötzlich ins Blickfeld der Geschichtswissenschaften, wobei jene künsderischen und kreativen Aktivitäten zugleich zu den jeweiligen Erziehungsprogrammen und weiblichen Bildungsmodellen in Beziehung gesetzt werden. Autorinnen wie z. B. Germaine de Stael und Lou Andreas-Salome51 werden als repräsentative Fallbeispiele für die schriftstellerischen Aktivitäten von Frauen auf der Schwelle zur Moderne ausführlicher diskutiert. Es zeigt sich, daß die kreativen Formen weiblicher Verhaltensmuster sich dabei in einem Netz kultureller Signifikanten und Wertvorstellungen vollzie47

Das Zusammenspiel von Photographic, Gedächtnis und Geschichte hat Burkhaidt Lindner anhand der Schriften Siegfried Kracauers überzeugend dargelegt. Vgl. Lindner: Augenblick des Profanen. Kracauer und die Photographic. In: Annette Simonis u. Linda Simonis (Hrsg.): Zeitwahrnehmung und Zeitbewußtsein der Moderne. Bielefeld 2000, S. 287-307. 48 Vgl. Anne Martin-Fugier: Riten der Bürgerlichkeit. In: Aries/Duby 1992, Bd. 4 [frz. 198 , S. 201-265, hier besonders S. 201-216. 49 Ebenda, S. 201-265, hier besonders die Unterkapitel „Das Glück des Erinnerns" und „Die Register der verstreichenden Zeit", S. 201-206. so Duby/Perrot 1993-1995, Bd. 4,1994 [ital. 1991], S. 135. 5i Vgl. ebenda, S. 596-605.

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hen, das historisch gewachsen und soziokulturell geprägt ist. Besonders prägnant gelingt es den Autorinnen, die Wirkungsmächtigkeit mentaler Repräsentationen und Symbolsysteme in den sozialen Verhaltensformen des 19. Jahrhunderts aufzuzeigen. Die oben bereits erwähnte Übertragung ursprünglich aristokratischer oder vormoderner Wertvorstellungen wie des ritterlichen Ehrencodex auf die Privatsphäre des Bürgers führte im 19. Jahrhundert nicht selten zu Paradoxien und Absurditäten. Der Verlust der Ehre, des „symbolischen Kapitals",52 konnte, um nur ein anschauliches Beispiel zu nennen, von einem solchen Standpunkt aus betrachtet schwerer wiegen als der Entzug materiellen Wohlstands und sozialer Sicherheit. „Ein Bankrott wurde nicht nur als individuelles Scheitern ausgelegt, sondern als moralische Verfehlung. [...] Es kam im 19. Jahrhundert nicht selten vor, daß Bankrotteure Selbstmord begingen."53 Ein andermal ermuntert ein Bankrott den Betroffenen dazu, „eine Autobiographie zu verfassen", um sich vor seinen Nachfahren literarisch zu rechtfertigen.54 Wiederum greifen historisches Geschehen und literarische Verarbeitung aufs engste ineinander. Die Mentalitätsgeschichte gewinnt dadurch eine vergleichsweise hohe Flexibilität der Beobachtung, daß sie (im Gegensatz etwa zur orthodox marxistischen Geschichtsschreibung oder zur ,klassischen' Sozialgeschichte) die Grenzen zwischen den in verschiedenen sozialen Gruppen vorherrschenden Mentalitäten und Systemen von symbolischen Repräsentationen offenbar als fließend betrachtet. Nicht nur die Übernahme ehemals aristokratischer Werte im Bürgertum, auch der umgekehrte Weg des Transfers von Wertmaßstäben vom Bürgerlichen zum Höfischen läßt sich in der .Geschichte des privaten Lebens' gelegentlich beobachten. Als der englische Monarch George IV. sich bei seinem Regierungsantritt 1820 weigerte, seine Frau Caroline als seine Königin anzuerkennen, stieß dieser Schritt auf allgemeine Kritik. Der König verzeichnete unversehens einen drastischen Sympathieverlust, weil er gegen den Verhaltenscode eines Gentleman verstoßen und in der Optik des Bürgertums zudem in seiner Rolle als Ehemann und Vater versagt hatte. Caroline konnte sich hingegen der Unterstützung durch die Mehrheit der Bevölkerung sicher sein, jedenfalls solange sie selbst keine politische Macht für sich beanspruchte, was wiederum einen Bruch mit der damaligen Frauenrolle bedeutet hätte. Die bürgerlichen Erwartungen schrieben ein harmonisches Eheleben vor, von dem der Monarch nicht ausgenommen war: „Die königliche Seifenoper erforderte ein königliches Familienleben, in dem man sich selbst wiederer-

52 53 54

Michelle Perrot: Konflikte und Tragödien. In: Aries/Duby 1992, Bd. 4 [frz. 198 , S. 267-291, hier S. 270. Ebenda, S. 276. Ebenda.

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kennen konnte, wenn auch in einer höheren Sphäre."55 Der Hinweis auf das populäre Genre der .Seifenoper' ist kein Zufall und, wenngleich anachronistisch, aufschlußreich, denn die politischen Akteure bewegen sich offenbar nicht allein in der empirischen Realität, sondern darüber hinaus in einer nicht weniger wirkungsmächtigen Sphäre der Fiktion. Um ihren gesellschaftlichen und politischen Einfluß aufrecht erhalten zu können, müssen sie ihren imaginären Idealbildern, die im kulturellen Vorstellungshomont der Epoche eine maßgebliche Bedeutung haben, wenigstens dem Anschein nach gerecht werden.

V. Foucaults Diskursanalyse als Fluchtpunkt der mentalitätsgeschichtlichen Rekonstruktion Was die neuere Mentalitätsgeschichte auszeichnet und ihr innovatives Potential ausmacht, ist ein spielerischer Umgang mit den lange Zeit als stabil geltenden Dichotomien öffentlich/privat, männlich/weiblich, wirklich/fiktiv etc. Jene binäre Einteilung und starren Schemata werden als geschichtlich bedingte Konstrukte enthüllt, und zwar in dem Maße, in dem die kulturell hervorgebrachte Differenz der Geschlechterrollen selbst als ein Mythos entlarvt wird: Diese Teilung der Wirklichkeit in eine männliche und eine weibliche Sphäre hatte eine religiöse Konnotation; das Getümmel der öffentlichen Geschäfte stand im Ruf des Amoralischen. Und die Männer, die in dieser Sphäre wirkten, konnten sich ihre seelische Unversehrtheit nur bewahren, indem sie den Bund mit der Integrität des trauten Heims wahrten, wo die Frau als Trägerin der reinen Werte fungierte.56

Erst die Genealogie der ^«^r-Rollen, wie sie sich bei der vorsichtigen archäologischen Rekonstruktion im Anschluß an Michel Foucault zu erkennen gibt, verleiht der mentalitätsgeschichtlichen Analyse die entscheidende Argumentationsbasis. Eine derart veränderte Optik der Geschichtsbeobachtung erlaubt es, das wechselseitige Verhältnis der Geschlechter in den jeweils untersuchten historischen Epochen anders zu konzipieren als ausschließlich entlang der Achse von Herrschaft und Unterdrückung und somit einen gängigen Automatismus der frühen Frauenforschung zu vermeiden. Zwischen den Geschlechterrollen tut sich ein untergründiges Netz von Beziehungen auf, das die gegenseitige Abhängigkeit der Vorstellungsbilder verrät. So stellt die Figur der (weiblichen) Hysterikerin nach Alain Corbin das Re55

Catherine Hall: Trautes Heim. In: Aries/Duby 1992, Bd. 4 [frz. 198 , S. 51-93, hier S. 54. s« Aries/Duby 1992, Bd. 4 [frz. 198 , S. 73f.

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versbild des männlich spezifizierten Typs des Melancholikers dar.57 Um die jeweilige Semantik der historischen Signifikanten in ihrem komplexen Zusammenspiel zu erfassen, sieht sich die Mentalitätsgeschichte, wie ersichtlich, auf die historische Diskursanalyse Foucaults verwiesen, die ein subtiles Modell für die Beschreibung von epochentypischen Denksystemen und Entwicklungstendenzen bereitstellt. Der von Michel Foucault entwickelte Diskursbegriff58 liefert bei der Analyse der historischen Geschlechterrollen zudem das methodologische Fundament, um die Ebene der sprachlichen Repräsentationen und die der historischen Erfahrungen prinzipiell gleichwertig behandeln und ihre wechselseitige Bedingtheit erkennen zu können. Der Anschluß an Foucault ermöglicht es ferner, insbesondere solche Gebiete zu diskutieren, die zuvor im blinden Fleck der geschichtswissenschaftlichen Beobachtung lagen, wie zum Beispiel das Thema der Sexualität. Das geeignete Anschauungsmaterial, um die Entwicklung der sexuellen Beziehungen zu untersuchen, liefert (neben Liebesromanen und verwandten literarischen Gattungen) wiederum die bildende Kunst. Zwar war die Darstellung erotischer Themen durch Frauen lange Zeit verboten oder tabuisiert, und in der Geschichte der bildenden Kunst sind weibliche Künstlerinnen, die solche sttjets wählten, entsprechend selten. Trotzdem sind die Mentalitätshistorikerinnen auf einige kunstgeschichtliche Beispiele gestoßen, die Aufschluß über die Formen des weiblichen Begehrens geben können. So kann die vergleichende und kontrastierende Gegenüberstellung einer Plastik von Auguste Rodin und eines ähnlichen Werks von Camille Ckudel möglicherweise wertvolle Hinweise liefern, wie die sexuelle Leidenschaft um 1900 aus der Sicht der Frau wahrgenommen wurde: Hätte Claudel, wie gewöhnlich unterstellt wird, Rodin lediglich imitiert, wäre allein diese Geste ein bemerkenswerter Beleg dafür, daß Frauen erotische Themen ebenso gut darstellen können wie Männer. Die Hingabe unterscheidet sich aber hinreichend von Der Kuß und verweist auf ein anderes in der Kunstgeschichte des 19. Jahrhunderts äußerst ungewöhnliches Bild von der sexuellen Begierde der Frauen. Claudel stellt die Begierde nicht als ein Machtverhältnis dar, in dem eine Frau sich von unten an einen beherrschenden Mann klammert, sondern als das gegenseitige Begehren zweier reziproker Körper.59

Gerade der Bruch mit ikonographischen Mustern und vorgegebenen Gestaltungskonventionen, der der zeitgenössischen Kunstkritik oft Anlaß gab, einige Werke mit dem Stigma ästhetischer Minderwertigkeit zu versehen, läßt häufig vorsichtige Ansätze zur Konturierung einer weiblichen Wahrnehmung erkennen. Mit dem Versuch, nicht nur die intellektuellen Dispositionen, son" Vgl. Corbin 1989. 58 Vgl. dazu den Beitrag von STEPHAN JAEGER (Abschnitt III). s» Vgl. Duby/Perrot 1993-1995, Bd. 4,1994 [ital. 1991], S. 358f.

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dem auch die körperliche Selbstwahrnehmung, die Gefühle und Leidenschaften der Geschlechter zu rekonstruieren, bewegen sich die Historikerinnen nun allerdings zugleich auf ein Terrain, das aus den vorhandenen Spuren und Zeugnissen nur mittelbar zu erschließen ist, ja nicht einmal aus den tradierten literarischen und fiktiven Dokumenten klar zu eruieren ist. Die historische Analyse sieht sich mit der unhintergehbaren Mehrdeutigkeit kultureller Zeichensysteme und ,Lektüren' konfrontiert, die ohne ein kultursemiotisches Instrumentarium und eine entsprechende Selbstreflexion kaum angemessen zu entziffern ist. Spätestens hier wird deutlich, daß der mentalitätsgeschichtliche Ansatz sich als ebenso schwierig wie faszinierend erweist. Gilt es doch, die Imaginationen einer vergangenen Epoche zu rekonstruieren, die nirgends eindeutig fixiert und überliefert sind. Doch selbst die offenkundigen Lücken und Leerstellen in der geschichtlichen Überlieferung geben Anlaß, über mögliche Ursachen der Verdrängung nachzudenken und deren komplementäre Wunschphantasien zu erschließen. Die Sexualität gewinnt, so die Argumentation von Anne Martin-Fugier und Perrot, im Verkuf des 19. Jahrhunderts gerade deshalb eine zentrale Bedeutung, weil sie aus der Oberflächenstruktur der Diskurse verdrängt wird, denn das Tabuisierte und Ungesagte avanciert zu einem Kristallisationspunkt erotischer Phantasien; es stimuliert gerade das, was es scheinbar unterdrückt. Damit ist die ,Geschichtsschreibung des privaten Lebens' auf dem (methodisch durchaus konsequenten) Extrempunkt der kulturhistorischen Beobachtung angelangt und sieht sich zu einer äußerst subtilen Rekonstruktionsarbeit herausgefordert, welche die eigenen epistemologischen Möglichkeiten und die Grenzen des .Sichtbaren' und historisch Belegbaren immer wieder überschreitet. In dem Maße, in dem die neuere Geschichtsschreibung, und darin kommen die französische Mentalitätsgeschichte und der amerikanische New Historiäsm überein, den symbolischen Repräsentationen einer Epoche gegenüber den positivistischen Daten und Ereignissen den Vorrang gibt, gewinnt die literarische und ästhetische Dimension ein unverkennbar zentrales Gewicht. Der Historiograph muß sich vor dieser Folie notwendigerweise auf einen recht komplexen Lektüreprozeß einlassen und Zeichensysteme entziffern, deren jeweilige Funktionsweise und Bedeutungen ohne eine genaue Kenntnis kultursemiotischer Verfahren kaum angemessen zu entschlüsseln sind.60 60

Noch immer sind über ein solches kulturgeschichtliches Methodenbewußtsein verfügende Untersuchungen innerhalb der deutschen Geschichtswissenschaften selten. Als Beispiele für eine gelungene Verbindung kultursemiotischer Ansätze und historischen Wissens seien hier die vorzüglichen Arbeiten von Ute Daniel (Hoftheater: Zur Geschichte des Theaters und der Höfe im 18. und 19. Jahrhundert. Stuttgart 1995) sowie von Vera Nünning (, Revolution in Sentiments, Manners, and Moral Opinions'. Catharine Macaulay und die politische Kultur des englischen Radikalismus, 1760-1790. Heidelberg 1998 [Anglistische Forschungen. 255]) genannt.

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Kein Wunder, daß die Autorinnen der Geschichte des privaten Lehens auf die Affinität der eigenen Arbeit zu der des Romanciers selbst aufmerksam werden, wenn sie prägnant bilanzieren: Die Familie war ein unerschöpflicher Quell von Intrigen. Romanschriftsteller entdeckten in ihr reichlich Stoff, und sogar die Rubrik Verschiedenes' in den Zeitungen wartete mit Bruchstücken aus der unendlichen Geschichte des privaten Lebens auf. ,Zwar ist nicht jede Familie eine tragische Affäre, aber jede Tragödie ist eine Familienaffare'.61

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JOACHIM SCHARLOTH Evidenz und Wahrscheinlichkeit: Wahlverwandtschaften zwischen Romanpoetik und Historik in der Sp ätaufklärung I. II. III.

Erzählte Geschichte(n) in der Spätaufklärung 247 Poetik und Historik vor dem Hintergrund der Rhetorik 248 Verwandtschaften und Gegnerschaften von Historik und Poetik im 18. Jahrhundert 250 IV. Gatterers Vorrede von derEviden^ in der Geschichtkunde 252 V. Das Konzept der ^Wahrscheinlichkeit' in Historik und Romanpoetik 260 VI. Fazit 269 VII. Auswahlbibliographie 271

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Erzählte Geschichte(n) in der Spätaufklärung

Im siebten Buch von Johann Carl Wezels Roman Belphegor (1776) will der Protagonist seinen Unterhalt in Persien damit verdienen, die Geschichte Alexanders des Großen in der Manier eines Bänkelsängers vorzutragen. Nach der brutalen Zerstörung der von ihm als locus amoenus empfundenen Kolonie eines Derwischs, die einer Vertreibung aus dem ersehnten Paradies auf Erden gleichkomn^ ist es Belphegor ein Bedürfnis geworden, gewaltsame und kriegerische Expansionspolitik zu ächten. Diese Ächtung will Belphegor durch die Erzählung der Alexandergeschichte als Exempel bei seinem Publikum erreichen. Belphegor erzählte in dem nächsten Dorfe den erstaunenden Zuhörern mit lauter Stimme von dem Wütrich, dem bekannten Alexander, der ganz Persien bezwungen, und versprach, ihnen zu zeigen, wie dieser Erzfeind des persischen Namens nach seinem Tode zur verdienten Strafe gezogen, wie sein Körper zerstückt und in die niedrigsten Gestalten verwandelt worden und wie er zuletzt mit seinem übermüthigen Stolze sey gebraucht worden, um ein Mäuseloch zuzustopfen u. s. f.1

Wezell965[1776],S. 229.

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Die Moraldidaxe jedoch schlägt fehl. Den Einwohnern ist der so beschriebene Alexander nicht bekannt und die Erzählung hat für sie keine lebensweltliche Relevanz: ,,[B]esonders wollten sie nichts mit dem Alexander zu thun haben, der nie einem unter ihnen den Kopf entzwey geschlagen hatte und ihnen also auch nicht bekannt war."2 Dem Erzähler der Alexander-Geschichte ergeht es schlecht: Er und sein Gemälde werden von den Zuhörern mit Steinen beworfen, so „daß beide nicht ohne Löcher davon kamen".3 Die Beachtung elementarer rhetorischer Regeln hätte Belphegor vor diesem Schicksal bewahren können. Schon in der aristotelischen Bestimmung nämlich ist die Rhetorik die allgemeine Lehre von der überzeugenden Rede.4 Das auf den Zuhörer bezogene, auf Wirkung bedachte Sprechen mit persuasiver Intention ist auch Gegenstand der Darstellungstheorien in Historik und Poetik. Bis weit ins 18. Jahrhundert hinein stellte die Rhetorik den Bezugsrahmen für beide Disziplinen dar.

II. Poetik und Historik vor dem Hintergrund der Rhetorik In der ersten systematischen Darstellung der Rhetorik findet sich jedoch noch keine eigenständige rhetorische Theorie der Geschichtsschreibung. Die Rede von Vergangenem hat ihren Platz in der aristotelischen Rhetorik in der Gattung der Gerichtsrede, die zusammen mit der auf die Gegenwart bezogenen Lobrede und der auf die Zukunft ausgerichteten beratenden Rede die Gesamtheit der (zeitlich bestimmten) Gegenstandsbereiche des Sprechens abdeckt.5 Es war Cicero, der die Geschichtsschreibung als selbstständiges Genus aus der forensischen Rede ausgliederte. Allerdings ist diese Ausgliederung keine Neubegründung, sondern vielmehr eine Weiterentwicklung: Cicero behält alle Bestimmungen der historischen narratio bei, einziges neues Unterscheidungsmerkmal ist die Wahrheitsforderung für den Historiker.6 Dessen Rede darf demnach nicht der Durchsetzung besonderer Interessen dienen, sondern ist dem allgemeinen Interesse einer Gemeinschaft an der Konstitution einer gemeinsamen Geschichte verpflichtet.7 Die Poetik hingegen nimmt im System der Rhetorik keinen eigenständigen Platz ein, sie ist vielmehr ein System, das weitgehend parallel zur Rhetorik verläuft. Deren kommunikative Funktion wird in der Dichtkunst 2

Ebenda, S. 230. Ebenda, S. 229. 4 Vgl. Aristoteles: Rhetorik, 1,2; 1355b 25. 5 Vgl. ebenda, I, 3; 1358b 7ff. 6 Vgl. Cicero: De oratore, II, 62. 7 Vgl. Eckhard Keßler: Das rhetorische Modell der Historiographie. In: Koselleck/Lutz/ Rüsen 1982, S. 37-85, hier S. 57. 3

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gewissermaßen auf einen Aspekt hin verengt: auf die Kunst des schönen Sprechens. Allerdings gibt es auch Bereiche der Dichtkunst, die nicht Gegenstand der Rhetorik sind, etwa die Verslehre.8 Schon in der aristotelischen Poetik ist die Kenntnis der Rhetorik Voraussetzung für den Dichter.9 In ihr kann er die Ursachen der Affekterzeugung sowie die Wirkung jener Mittel erlernen, die bei der Produktion eines Epos oder Dramas treffend Verwendung finden können.10 Poetik und Historik dürfen also in ihrem Verhältnis zur Rhetorik nicht voreilig gleichgesetzt werden. Ohnehin bestanden nur wenige Berührungspunkte, enthielt doch die klassische Dichtungstheorie keine Theorie der Prosagattungen, zu denen die Historic aber als eine der genera orationis gehörte.11 Dennoch spricht die Forschung von der rhetorischen Tradition, in der sich Historik und Poetik bis ins 18. Jahrhundert hinein befunden hätten, ehe die Geschichte zur Wissenschaft und die Poesie autonom geworden seien. Vereinfachend lässt sich der gemeinsame rhetorische Bestand als ein verschieden ausgeprägtes Repertoire von Vorschriften zu Auswahl (inventio) und Anordnung (dispositio) des Stoffes sowie der Gestaltung des sprachlichen Ausdrucks (elocutiö) beschreiben, vor allem aber als eine Verpflichtung auf das Lehren durch Beispiel. Durch historiographische und poetische Darstellung sollte ein lebenspraktisches Orientierungswissen geschaffen werden, ein Konzept, das in heutiger Perspektive oft verkürzt als moralische Erbauung beschrieben wird. Für die Geschichte ist dieses Modell im Topos von der historia magistra vitae, für die Poesie in ihrem von Horaz zugeschriebenen Doppelcharakter von delectare va\aprodesse formuliert. In der Geschichtstheorie der vergangenen 30 Jahre wurde jedoch das Rhetorische insofern wiederentdeckt, als mit ihm wesentliche Operationen der Arbeit des Historikers konzeptualisiert werden können. Wurde das Rhetorische seit dem späten 18. Jahrhundert „als wahrheksgefährdende und methodisch unzulässige Einfügung fiktionaler Elemente in historische Darstellungen des tatsächlich Geschehenen"12 aus der Geschichte verbannt, sorgte die Einsicht in die narrative Struktur historischen Wissens für seine Rehabilitierung.13 Axiom des Narrativismus ist, dass die historiographische

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Vgl. Peter Hesse: Dichtkunst. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 2, 1994, Sp. 643-668, hier Sp. 644. Vgl. Aristoteles: Poetik, Kapitel 19,1456a. Vgl. Ueding/Steinbrink 1994, S. 23. Das Verhältnis von Poetik und Historik vor dem Hintergrund älterer rhetorischer Modelle beleuchtet differenziert Heitmann 1970. Rüsen 1994, S. 36. Diese Wende wird markiert durch Hayden White: Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa. Übers, von Peter Kohlhaas. Frankfurt a. M. 1991 [amerik. 1973].

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Erzählung Beschreibung und Erklärung zugleich ist.14 Der geschichtstheoretische Erzählbegriffist dabei mitunter explizit am poetologischen orientiert.15 Eine Geschichte erzählen bedeutet dann, die disparaten Fakten der Vergangenheit zu einem sinnhaften Ganzen zu verbinden und so Geschichte zu konstruieren. Dabei bedient sich die Geschichtswissenschaft bestimmter sprachlicher Prozeduren, die sich zu bestimmten Typen historischer Sinnbildung verdichten.16 Diesen narrativen Sinnbildungsstrategien historiographischer Darstellung eignet zudem eine pragmatische Komponente. Der historiographische Prozess der Sinnbildung ist stets auf eine konkrete Gesellschaft bezogen, also adressatenorientiert, und will zur Handlungsorientierung und Identitätsbildung beitragen. Die rhetorische Analyse ermöglicht es, die lebensweltliche Funktion historiographischer Texte aufzudecken.17

III. Verwandtschaften und Gegnerschaften von Historik und Poetik im 18. Jahrhundert18 Im 18. Jahrhundert stand das Verhältnis von Dichtung und Geschichtsschreibung noch immer unter dem Einfluss jenes Diktums der Aristotelischen Poetik, das die Dichtung über die Historic stellte, weil die Dichtung der Weisheitslehre (Philosophie) näher stehe, indem sie auf das Allgemeine ziele, die Geschichtsschreibung hingegen nur auf das Besondere.19 Johann Christoph Gottsched stellte in der vierten Auflage seines Versuchs einer Cntischen Dichtkunst (1751) fest, die philosophischen Sittenlehren seien für „den Pöbel" zu trocken und die nackte Wahrheit der Geschichte könne nicht ohne erhebliche intellektuelle Anstrengung der Erbauung dienen. Folgt man Gottsched, 14 15

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Vgl. Lorenz 1997, S. 127ff., Fulda 1996, S. 28ff. Fulda weist darauf hin, dass die etwa von Rüsen gemachte strikte Trennung von logischem und poetischem Erzählbegriff nicht aufrecht erhalten werden kann (vgl. Fulda 1996, S. 31ff.). Vgl. White 1973 (wie Anm. 13) und Jörn Rüsen: Die vier Typen des historischen Erzählens. In: Koselleck/Lutz/Rüsen 1982, S. 514-605. Vgl. Rüsen 1989, S. 30ff. Zur rhetorischen Tradition der Geschichtsschreibung im 18. Jahrhundert vgl. Keßler 1982 (wie Anm. 7), Blanke/Fleischer 1990, S. 52-65, Harth 1996, Sp. 849-866; zur rhetorischen Tradition der Ästhetik im 18. Jahrhundert vgl. Wolfgang Bender: Rhetorische Tradition und Ästhetik im 18. Jahrhundert. Baumgarten, Meier und Breitinger. In: Zeitschrift für Deutsche Philologie 99 (1980), S. 481-506, Marie Luise Linn: A. G. Baumgartens Aesthetica und die antike Rhetorik. In: Schanze 1974, S. 105-125; zur Geschichte der Rhetorik im 18. Jahrhundert vgl. Stötzer 1962, Ueding/Steinbrink 1994, S. 100-133, Göttert 1994, S. 170-193, Michael Gähn: Kunst der Überlistung. Studien zur Wissenschaftsgeschichte der Rhetorik. München 1986 (Theorie und Geschichte der Literatur und der Schönen Künste. 78), S. 148-178. Vgl. Aristoteles: Poetik, 1451b.

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so hat die Dichtung der Philosophie das deletion, der Geschichte das prodesse voraus, wodurch sie ihre moraldidaktische Aufgabe besser erfüllen kann.20 Der Kritik, die Geschichte könne für die Moraldidaxe nur schlecht passende Beispiele bereitstellen, die einer weitläufigen Auslegung bedürften, konnten die Historiker jedoch mit einem Hinweis auf die Rhetonk des Aristoteles begegnen, der den Exempeln der Geschichte wegen ihrer größeren Glaubwürdigkeit im Rahmen der argumentatio (Beweisführung) einen höheren Stellenwert einräumte.21 Als den Hauptunterschied zwischen Geschichtsschreibung und Dichtung bestimmten die Historiker die Gegenstände der Erzählungen: Während die Dichtung das Mögliche behandle, stelle die Geschichte das tatsächlich Geschehene dar. Der Göttinger Historiker Johann Christoph Gatterer etwa grenzte sich von den Dichtern polemisch mit dem Hinweis ab, ein Geschichtsschreiber müsse „schlechterdings ein aufrichtiger Mann seyn" und dürfe sich durch nichts hindern lassen, „seinen Lesern die lautere und wirkliche Wahrheit zu sagen".22 Nicht zuletzt wegen dieser Verpflichtung auf die Wahrheit setzte in der deutschen Aufklärungshistorie eine umfangreiche Methodenreflexion ein. Dieser als Verwissenschaftlichung23 beschriebene Prozess wird häufig mit einer Entrhetorisierung der historiographischen Darstellung gleichgesetzt.24 Auf den ersten Blick mag dies überzeugen, zumal viele Aufklärungshistoriker explizit ihren Bruch mit der rhetorischen Tradition der Geschichtsschreibung erklärten. Vor allem die Analysen Dietrich Harths haben jedoch die in Spätaufklärung und Historismus weiter lebendigen rhetorischen Prinzipien in Geschichtsschreibung und Historik aufgedeckt.25 Es ist daher präziser, statt von Entrhetorisierung mit Daniel Fulda von einer Sedimentation der rhetorischen Historiktradition zu sprechen.26 20 Vgl. Gottsched 1977 [1751], S. 167. 21 Vgl. Aristoteles: Rhetorik, 1393a. 22 Gatterer 1767, S. 19. 23 Während Jörn Rüsen den Prozess der Verwissenschaftlichung erst im Frühhistorismus als abgeschlossen ansieht (vgL Jöm Rüsen: Von der Aufklärung zum Histroismus. Idealtypische Perspektiven eines Strukturwandels. In: Blanke/Rüsen 1984, S. 15-57), siedeln ihn Horst Walter Blanke und Dirk Fleischer vollständig in der Aufklärung an. Vgl. hierzu Blanke/Fleischer 1990,1991. Zur Verwissenschaftlichung der Historic allgemein siehe Horst DreitzeL· Die Entwicklung der Historic zur Wissenschaft In: Zeitschrift für historische Forschung 8 (1981), S. 257-284. Vgl. auch die Beiträge in Hammer/Voss 1976. 24 Vgl. etwa Blanke/Fleischer 1990, S. 91. Problematisiert wird der Begriff in Wolfgang Ernst: Zum Begriff der Entrhetorisierung. In: Blanke/Rüsen 1984, S. 59—61, und Jörn Rüsen: wissenschaftlichkeit und Rhetorik in der Historic. Identität, Widerspruch oder Transformation? In: Ebenda, S. 61-64. 25 VgL Dietrich Harth: Historik und Poetik. Plädoyer für ein gespanntes Verhältnis. In: Eggert/Profidich/Scherpe 1990, S. 12-23; ders.: Die Geschichte ist ein Text Versuch über die Metamorphosen des historischen Diskurses. In: Koselleck/Lutz/Rüsen 1982, S. 452-479. 26 Vgl. Fulda 1996, S. 145-155.

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Trotz der Verwissenschaftlichung der Geschichte verband Geschichtsschreibung und Dichtung im 18. Jahrhundert dennoch wie oben dargelegt ihre Verpflichtung auf die moralische Besserung des Lesers und eine damit verbundene auf Wirkung zielende Darstellungstechnik. Gatterer etwa war der Ansicht, daß Dichtkunst und Historic Anfangs nur ein Ding gewesen, endlich aber beyde zwar von einander unterschieden worden, doch so, daß man immer, wenn man eine Geschichte schrieb, dieselbe nach den Regeln der Gedichte bearbeitete, und den Unterschied zwischen beyden meist nur in der Art der Gegenstände setzte.27

Es mag dieses Bewusstsein einer gemeinsamen Wurzel gewesen sein, das die im Folgenden dargestellte wechselseitige Beeinflussung von Poetik und Historik im 18. Jahrhundert ermöglichte. Es soll gezeigt werden, dass einerseits die Historik mit ihrem Konzept der Eviden^ Darstellungstheorien der Poetik rezipierte, dass aber andererseits die Romanpoetik den zentralen Begriff der Wahrscheinlichkeit unter dem Einfluss der Historik entwickelte. Die Bedingung der Möglichkeit dieser Wahlverwandtschaften' ist jedoch das gemeinsame Bezugssystem der Rhetorik.

IV. Gatterers Vorrede von der Eviden^ in der Geschichtkunde

1. Eviden^ und Gemssheit. Vorher allerdings ist ein kurzer Exkurs zu den epistemologischen Grundlagen vonnöten, die für beide Argumentationsstränge von Bedeutung sind. Sowohl der Begriff der Wahrscheinlichkeit als auch der der Evidenz sind nämlich nur in Abgrenzung zu den Begriffen der Wahrheit und der Gewissheit zu verstehen. Am Ende des 17. und in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts beherrschte die Debatte um den historischen Pyrrhonismus die geschichtstheoretische Diskussion.28 Der Pyrrhonismus ist eine von Pyrrhon von Elis (ca. 365—275 v. Chr.) ausgehende Richtung der philosophischen Skepsis, die sich in der Geschichtswissenschaft als eine grundlegende epistemologische Skepsis niederschlug, durch die die Möglichkeit historischer Erkenntnis überhaupt in Zweifel gezogen wurde.29 In Siegmund Jacob Baumgartens Vorrede

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Johann Christoph Gatterer: Vom historischen Plan, und der darauf sich gründenden Zusammenfügung der Erzählungen (1767). In: Blanke/Fleischer 1990, Bd. 2, S. 621662, hier S. 624f. » Vgl. Blanke/Fleischer 1990, S. 59. 29 Vgl. Malte Hossenfelder u. Winfried Schröder: Pyrrhonismus. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 7, 1989, Sp. 1719-1724, und Markus Völkel: „Pyrrhonismus historicus" und „fides historica". Die Entwicklung der deutschen historischen Metho-

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zur Übersetzung der Allgemeinen Welthisiorie aus dem Jahr 1744 muss sich der Verfasser gegen den Vorwurf verwahren, „die Historie sey keine eigendiche Gelersamkeit, ja die historische Erkentnis die allerniedrigste und schlechteste Art menschlicher Erkentnis".30 Einerseits schien die Mittelbarkeit der historischen Erkenntnis, die meist aus Quellen und nur in den seltensten Fällen aus eigener Erfahrung gewonnen werden konnte, deren Gewissheit in Zweifel zu ziehen. Andererseits waren es aber auch grundlegende philosophische Überlegungen, die die Erkenntnisse der Geschichtswissenschaft gegenüber denen der sogenannten reinen Wissenschaften abwertete: Während sich die Historie mit zufälligen Wahrheiten beschäftige, seien notwendige Vernunftwahrheiten der Gegenstand der reinen Wissenschaften. Dies bedarf einer näheren Erläuterung anhand der Leibniz- Wolff sehen Metaphysik. Leibniz erörtert das Thema im Discours de metaphysique im Rahmen der Determinationsproblematik. In individuellen Substanzen sind bei ihrer Erschaffung alle zukünftigen Ereignisse, die ihnen begegnen werden, als Prädikate niedergelegt. Wenn es dem Menschen möglich wäre, den Begriff einer individuellen Substanz vollständig zu analysieren, würde er alle Handlungen und Ereignisse, die ihr zustoßen, vorhersagen können. Allein aufgrund seiner beschränkten Erkenntniskräfte ist ihm das aber unmöglich. Wenn aber alle Handlungen und Ereignisse bereits feststehen, die individuelle Substanz also determiniert ist, scheint es ausschließlich notwendige, aber keine zufälligen Wahrheiten mehr zu geben. Leibniz jedoch argumentiert auf die folgende Weise: Jede menschliche Handlung, obwohl sie aus der Sicht Gottes gewiss ist, ist dennoch zufällig. Unter der Prämisse nämlich, dass Gott in der besten aller Welten nur das Vollkommenste zulässt, wird eine Handlung nur dann wirklich, wenn sie selbst vollkommen ist oder zur Vollkommenheit der Welt beiträgt. Ein Handlung, die ob ihrer mangelnden Vollkommeneit nicht wirklich werden kann, ist aber dennoch möglich, möglich in einer anderen Welt, die freilich weniger vollkommen wäre. Nichts aber kann notwendig genannt werden, dessen Gegensatz möglich ist. Also, folgert Leibniz, sind Handlungen, deren Gegenteile möglich sind, kontingent.31 In der Theodi^ee dient Leibniz dieses Argument zur Unterscheidung von notwendigen und hypothetischen Wahrheiten. Notwendige Wahrheiten sind solche, deren Gegenteil einen Widerspruch enthält und daher unmöglich ist. Diese Wahrheiten sind uneingeschränkt notwendig, d. h. ohne die Hypothese eines

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dologie unter dem Gesichtspunkt der historischen Skepsis. Frankfurt a. M., New York 1987 (Europäische Hochschulschriften. III, 313). Siegmund Jacob Baumgarten: Über die eigentliche Beschaffenheit und Nutzbarkeit der Historie (Vorrede. In: Übersetzung der Allgemeinen Welthistorie. Bd. 1. Halle 1744]. In: Blanke/Fleischer 1990, S. 174-205, hier S. 199f. Vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz: Metaphysische Abhandlung [1686]. In: Ders. 1996, Bd. l, S. 49-172, hier S. 85ff.

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Gottes, der nur das Vollkommenste wirklich werden lässt. Es gibt für den Menschen einen apriorischen Beweis ihrer Wahrheit, sie erhalten ihre Wirklichkeit aus ihrem Begriff.32 Die hypothetisch notwendigen Wahrheiten sind hingegen solche, deren Gegenteil möglich ist. Leibniz nennt sie deshalb hypothetisch notwendig, weil sie nur unter der Prämisse eines Gottes, der ausschließlich Handlungen zulässt, die an sich vollkommen sind oder 2ur Vollkommenheit der Welt beitragen, notwendig sind.33 Ein historisches Ereignis ist eine bloß hypothetisch notwendige Wahrheit, weil sein Gegenteil keinen Widerspruch enthält.34 Aus dieser epistemologischen Verortung der Historic im System der Wissenschaften des 18. Jahrhunderts leiteten die Überwinder des Pyrrhonismus mit neu gewonnenem Selbstbewusstsein die Eigenart der historischen Erkenntnis ab: Die Historic könne zwar im Gegensatz zu den Naturwissenschaften keine demonstrierbaren Wahrheiten hervorbringen, dagegen aber Anspruch auf empirische Gewissheit und begründete Wahrscheinlichkeit erheben.35 Diese wissenschaftstheoretische Scheidung zweier Erkenntnisarten liegt auch Gatterers Vorrede von der Eviden^ in der Geschichtkunde zugrunde. Gatterer verdeutscht den Terminus ,Evidenz' mit „[d]as Augenscheinliche, die Augenscheinlichkeit, oder augenscheinliche Wahrheit".36 Gemäß der Unterscheidung der beiden Erkenntnisarten unterscheidet Gatterer zwei Arten der Evidenz: die Evidenz abstrakter Dinge, die er auch wissenschaftliche Evidenz nennt, und die Evidenz individueller Dinge. Soll den abstrakten Wissenschaften Evidenz zukommen, so müssen die in ihnen erworbenen Erkenntnisse nicht nur gewiss, d. h. beweisbar sein, sondern man müsse „auch den Zusammenhang aller Begriffe mit dem Hauptbegriff leicht, geschwind und überzeugend durchschauen, oder welches einerley ist, jeden Schlußsatz mit Fertigkeit und Zuversicht bis zu dem ersten Grundsatze zurück führen" können.37 Zur Evidenz gehören also „Gewißheit" und „Faßlichkeit"38 gleichermaßen. Weil aber die Forderung nach Gewissheit für die Wissenschaften des 18. Jahrhunderts eine selbstverständliche war, liegt der Akzent von Gatterers Begriffsbestimmung zweifellos auf dem zweiten Kriterium der Evidenz: Die Evidenz ist nicht die Wahrheit selbst, sondern eines ihrer möglichen Attribute, die Augenscheinlichkeit.

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So folgt etwa aus dem Begriff des Quadrats, dass es vier Ecken und nicht fünf hat. Gottfried Wilhelm Leibnk: Die Theodizee von der Güte Gottes, der Freiheit des Menschen und dem Ursprung des Übels [1710]. In: Ders. 1996, Bd. 2, S. 263ff. 34 So ist beispielsweise widerspruchsfrei denkbar, dass Cäsar den Rubikon nicht überschreitet. 35 Vgl. Blanke/Fleischer 1990, S. 58f. 36 Gatterer 1767, S. 3. 37 Ebenda, S. 4. 3 e Ebenda, S. 4f. 33

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Neben der Evidenz abstrakter Dinge, die Gatterer auch „wissenschaftliche Evidenz"39 nennt, gibt es in seiner Theorie auch eine Evidenz individueller Dinge, die der ersteren sogar in Hinblick auf ihre (Un-)Mittelbarkeit überlegen ist. Die wissenschaftliche Evidenz sei nämlich nur durch eine „umständliche Entwickelung der Begriffe aus der Grundidee"40 zu erlangen, während die Evidenz individueller Dinge durch deren sinnliche Präsenz oder ihre Darstellung in der Einbildungskraft unmittelbar gegeben sei und dadurch ein viel höheres Maß an Überzeugung bewirke. Die Gegenstände der Geschichtswissenschaft bedürfen als den Sinnen nicht unmittelbar zugängliche der Einbildungs- oder Dichtungskraft zu ihrer evidenten Vergegenwärtigung, während die Erkenntnisse der reinen Wissenschaften durch einen schnellen Nachvollzug ihres Beweises mittels der Vernunft evident sein können.41 Will der Historiker bei seinem Leser also Evidenz hervorbringen, ist ein Appell an die unteren Seelenkräfte vonnöten. Diese aber sind spätestens seit der Ästhetik von Baumgarten ureigenstes Territorium der Dichtung. Evidenz ist im Rahmen der Historie deshalb keine wissenschaftliche, sondern eine wirkungsästhetische Qualität. Erkenntniskritische Fragen werden außerhalb der Erzähltheorie erörtert.42 2. Mittel spr Hervorbringung von Eviden^. Doch wie ist Evidenz für den Historiker erzählstrategisch zu erreichen? Gatterer fordert zunächst: ,^ » entwickele das System, wo^u eine Regebenheit geboret, oder welches einerky ist, man erzähle pragmatisch."43 Die Erzähltheorie des 18. Jahrhunderts kennt zwei prosaische Darstellungsformen: das exemplifizierende und das pragmatische Erzählen. Während das exemplifizierende Erzählen einen moralischen Satz durch eine individuelle Begebenheit repräsentieren will und von diesem ausgehend die Erzählung einrichtet, liegt im pragmatischen Erzählen das die Erzählung strukturierende Prinzip innerhalb der narrativen Fiktion.44 39 40 41

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43 44

Ebenda, S. 5. Ebenda, S. 6. Vgl. ebenda, S. 7. Einbildungskraft und Dichtungskraft unterscheidet Gatterer auf die folgende Weise: „Die Einbildungskraft kan nur das, was man einmal wirklich empfunden hat, so wie man es empfunden hat, wieder in die Seele zurück bringen: die Dichtungskraft hingegen kan aus einzelnen Gegenständen der Einbildungskraft, die man zuvor auch nur einzeln empfunden hat, ein Ganzes zusammensetzen, das man unter solchen vereinigten Umständen niemals empfunden hat." (Ebenda, S. 8f.). Vgl. Dietrich Harth: Fiktion, Erfahrung, Gewißheit. Second thoughts. In: Koselleck/ Lutz/Rüsen 1982, S. 621-630, hier S. 623. Gatterer 1767, S. lOf. (Hervorhebung im Original). Zum Begriff des Pragmatischen vgl. Kühne-Bertram 1983, M. Hah: Geschichte, pragmatische. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3, 1974, Sp. 401-402, und zur Entwicklung des Pragmatismus-Konzeptes im 18. Jahrhundert vgl. Voßkamp 1973, S. 188ff., und Fulda 1996, S. 59-144. Hahl sieht im Pragmatismus die „repräsentative Erzähltheorie der Spätaufklärung" (Hahl 1971, S. 61) und vertritt wie vor ihm Jäger

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Gatterers Theorie des Pragmatischen liegt die Vorstellung zugrunde, alle Dinge und Begebenheiten der Welt stünden miteinander mittelbar oder unmittelbar in kausaler Beziehung und formten so ein System. Gegenstand der historischen Forschung und damit auch der historiographischen Darstellung ist für Gatterer dieses pragmatische System. Das „System der Begebenheiten",45 von dem Gatterer ausfuhrlicher in seinem Aufsatz Vom historischen Plan, und der darauf sich gründenden Zusammenfögung der Erzählungen, einem Beitrag zur Allgemeinen historischen Bibliothek ebenfalls aus dem Jahr 1767, spricht, ist kein Konstrukt des Verstandes, sondern in der historischen Realität objektiv vorhanden. Die historische Darstellung muss dieses System mimetisch nachbilden: Die Erzählung der Begebenheiten muss mit einer Darstellung ihrer Ursachen verknüpft werden. Pragmatisches Erzählen ist für Gatterer also kausalanalytische Systemabbildung.46 Der Göttinger Historiker vergleicht das System der Begebenheiten in der Historic mit dem System der Begriffe in den reinen Wissenschaften. Nur wenn man von den „Ursachen bis zur Begebenheit, die daraus entstanden ist, mit Fertigkeit und Überzeugung hinschauen"47 könne, könne beim Leser Evidenz erzeugt werden.48 Eine historiographische Erzählung, die also nicht nur die Begebenheiten, sondern auch deren Ursachen darstellt, und dies in der Weise, das s die Ursachen leicht fasslich und überschaubar sind, ist in Gatterers Theorie also der Evidenz fähig. Das zweite Mittel zur Erzeugung von Evidenz entlehnt Gatterer Henry Homes Grundsätzen der Kritik. Außer pragmatisch soll der Historiker nämlich auch „lebhaft und anschauend" erzählen, auf dass der Leser „gleichsam zum Zuschauer" der dargestellten Begebenheiten werde. Die erzählerisch hergestellte „ideale Gegenwart" bringe Evidenz hervor.49 In der Home'schen Ästhetik nimmt die Theorie der idealen Gegenwart eine Schlüsselstellung ein, (vgl. Jäger 1969, S. 115) die Ansicht, die Poetik habe die pragmatische Erzähltheorie aus der Historik entlehnt. Obwohl Voßkamp dem widersprochen und die gleichzeitige Entwicklung pragmatischer Erzähltheorien in Historik und Poetik aus dem System der Leibniz-Wolffschen Philosophie nachgewiesen hat (vgl. Voßkamp 1973, S. 189f£), wurde die These vom Einfluss der Historik auf die Poetik immer wieder neu behauptet, etwa in Lothar Kolmer: G. Ch. Lichtenberg als Geschichtsschreiber. Pragmatische Geschichtsschreibung und ihre Kritik im 18. Jahrhundert. In: Archiv für Kulturgeschichte 65 (1983), S. 371^15, hier S. 387, und Sven Aage Jorgensen: Christoph Martin Wieland: Epoche - Werk - Wirkung. München 1994 (Arbeitsbücher zur Literaturgeschichte), S. 122f. 45 Gatterer 1767, S. 12. " Vgl. Fulda 1996, S. 61. « Gatterer 1767, S. 11. 48 Es sei an dieser Stelle ausdrücklich darauf hingewiesen, dass der aus den Quellen geführte Nachweis der Gewissheit, die .historische Demonstration', nicht notweniger Bestandteil der pragmatischen Erzählung ist. Die Evidenz historischer Demonstrationen behandelt Gatterer gesondert. 49 Ebenda.

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weil erst durch sie theoretisch begründbar wird, dass sprachlich vermittelte Gegenstände im Rezipienten Leidenschaften hervorrufen können, indem sie vollständige Erinnerungsbilder wachrufen.50 Ideale Gegenwart liegt dann vor, wenn der Rezipient das Bewusstsein des tatsächlichen gegenwärtigen Zustandes verloren hat und stattdessen die sich zum Bild verdichtende vollständige Erinnerung eines Gegenstandes oder Vorganges für wirklich hält.51 Home selbst weist darauf hin, dass die Erzeugung idealer Gegenwart auch für den Historiker das einzige Mittel sei, Leidenschaften in seinem Leser zu wecken.52 Auch Gatterer verknüpft das Wecken von Emotionen mit der Erzeugung von Evidenz: Man berathschlägt sich über Krieg und Frieden: es gehen Unterhandlungen vor: man belagert Städte, man liefert Schlachten, man erobert Länder: man verbessert den Ackerbau: [...] man bringt Künste und Wissenschaften empor: man vertauscht die Werke des Fleisses in der alten und neuen Welt. Dis sind lauter wichtige Begebenheiten. Der Geschichtschreiber soll sie erzählen. Sagt er mir sie so trocken weg: so weiß ich wol ungefähr, was vorgegangen ist; allein ich will noch mehr haben: ich will gerührt, ich will bis zur Evidenz überzeugt seyn.53

Um diese Wirkung zu erzielen, muss der Historiker genügend Einbildungsund Dichtungskraft besitzen, in Gatterers Worten „historisches Genie haben", und „durch ideale Gegenwart der Begebenheiten zuvor selbst Zuschauer worden seyn".54 Grundlegende Strategie bei ihrer Erzeugung im Rezipienten ist die erzählerische Übersetzung des Vergangenen ins Gegenwärtige. Etwa solle der Historiker das Präsens benutzen und Personen redend einfuhren. Überhaupt müsse die Erzählfunktion unauffällig gestaltet sein, der Erzähler also, wo er nur könne, zurücktreten. Schließlich fordert Gatterer auch eine lebhafte, d. h. ein alle notwendigen Details enthaltende Schilderung der in der Erzählung vorkommenden Orte, Länder und Personen.55 Die ideale Gegenwart ist jedoch nicht Selbstzweck der historiographischen Darstellung. Die durch sie im Rezipienten erzeugte Evidenz hat nämlich die Funktion, „einen Eingang in das Herz des Lesers zu finden, und die zarten Empfindungen rege zu machen, die in Bewegung gesetzt werden müssen, wenn Sympathie entstehen, und Abscheu gegen die Laster und liebe zur Tugend erzeugt werden soll".56

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Vgl. Home 1790, S. 150ff. 51 Ebenda, S. 137f. 52 Ebenda, S. 146. 53 Gatterer 1767, S. 13f. 54 Ebenda, S. 13. 55 Vgl. ebenda, S. 16ff. 5« Ebenda, S. 18.

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3. Rhetorische Grundlagen. Schon diese Verpflichtung der Historic im allgemeinen und ihrer Evidenz im besonderen auf die Moraldidaxe hätte einige Interpreten des Gattererschen Textes stutzig machen sollen, die ihn voreilig zum Monument der fortschreitenden Entrhetorisierung und beginnenden Ästhetisierung der Geschichtsschreibung erhoben. Der Begriff der jvidentia ist ein von Cicero geprägter Begriff aus der Rhetorik. Die evidentia gehört zu den allgemeinen Mitteln der Rede zur Steigerung des Ausdrucks, also zum Redeschmuck, zum ornatus. Er ist daher primär Gegenstand der elocutio, also der sprachlichen Gestaltung der Rede. Jedoch auch auf Auswahl und Gliederung des Stoffs, also auf inventio und dispositio, kann die Forderung nach Evidenz Einfluss nehmen, indem nur überschaubare Stoffmengen in nachvollziehbarer Anordnung augenscheinlich einleuchten können.57 Gatterers Überlegungen zur Evidenz betreffen ebenso beide Bereiche: Die Forderung nach pragmatischem Erzählen betrifft inventio und dispositio des historiographischen Textes, die Forderung nach kunstvoller sprachlicher Gestaltung, mittels derer durch anschauliche Darstellung ideale Gegenwart erzeugt werden soll, betrifft die elocutio. Die Wahrheitsfrage ist von der Frage der Evidenz letztlich nicht berührt. Der Doppelcodierung des historiographischen Textes als Erzählung (narratid) und Beweisführung (argumentatio} trägt Gatterer in seinen Überlegungen ebenfalls Rechnung, indem er zwischen der Evidenz individueller Dinge und der Evidenz der historischen Demonstration unterscheidet. Ebenso sind die Stilmittel, die Gatterer als hilfreich für die Erzeugung idealer Gegenwart nennt, der Rhetorik entnommen. Die Forderung nach präsentischem Erzählen und der charakterisierenden und redenden Einführung von Personen entsprechen den Figuren der translatio temporum und detßrtiopersonae, die Forderung nach konkretisierender Detaillierung in der Darstellung von Örtern und Ländern dem Mittel der topographia.** Die Ausführungen zeigen, dass die Rezeption zeitgenössischer Ästhetiken sich noch ganz auf der Basis des rhetorischen Systems bewegte. Gatterer selbst grenzt sich dann auch mit gehörigem Selbstbewusstsein vehement von den Dichtern ab: Um denen, die das bisher gesagte etwas zu flüchtig durchlaufen möchten, alle Gelegenheit zum Mißverständniß oder Aergerniß zu benehmen, merke ich noch an, daß meine Vorschläge in Absicht auf die Hervorbringung anschauender Erkentniß in Geschichtbüchern nicht dahin gehen, um den Geschichtschreiber zum Dichter zu machen [...]. So etwas ist mir nie in die Sinne gekommen.59

5? Vgl. Ueding/Steinbrink 1994, S. 283f. 58 Vgl. ebenda, S. 285 und 319f. s« Gatterer 1767, S. 19.

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Vielmehr gibt er vor, sich an den antiken Geschichtsschreibern zu orientieren. Er räumt zwar ein, dass in Ansehung der Wirkung auf den Leser die anschauend gemachten Erzählungen des Dichters und des Historikers gleich wären: Beide würden Rührung hervorbringen und dadurch unterhalten und zur Tugend erziehen. Jedoch sei die Aufgabe der Geschichtsschreibung die nachahmende Abbildung einer historischen Wirklichkeit, die Dichtung hingegen bilde eine mögliche Welt ab.60 Gatterers Abgrenzung von der Dichtung ist aber auch stilistisch begründet. Es sei nicht seine Absicht gewesen, „eine poetische Prosa für historische Schreibart anzupreisen".61 Eine Ausnahme macht Gatterer freilich: Bei der redenden Einführung der Personen dürfe der Historiker Überlieferungslücken durch Erdichtung schließen. Gatterer spricht in diesem Kontext aber von einer Art idealer Wahrheit, die durch diese Erdichtung nicht berührt sei.62 Eine sprachliche Konstitution von Wirklichkeit findet in Gatterers Theorie also nicht statt. Die sprachliche Gestaltung ist lediglich Schmuck (ornaius), die Sache selbst bleibt von ihr unberührt. Sie verstärkt zwar im Leser den Eindruck der Wahrheit, macht sie ihm augenscheinlich, allein auch ohne diesen Eindruck ist die Wahrheit da, freilich mit geringerer Überzeugungskraft. Durch eine anschauliche Erzählung kann der Leser „nicht weiter als bis zur Wahrheit der Raraane"63 gebracht werden. Für empfindsame Leser bewirke schon die evidente Erzählung Überzeugung. Kritische Leser hingegen müssten durch Beweise von der Wahrheit überzeugt werden, auf die ein historiographischer Text nie verzichten dürfe. Poetische und historische Darstellungen sind also in Gatterers Theorie nur soweit miteinander verwandt, als sie auf dieselbe Wirkung beim Leser zielen. Ihre Gemeinsamkeiten in der Ausführung kommen freilich nicht dadurch zustande, dass die Historik sich der Theoreme der Poetik bediente, sondern vielmehr dadurch, dass sich beide aus dem Fundus der antiken Rhetorik speisen, in dem wirkungsästhetische Fragen von zentraler Bedeutung sind. V. Das Konzept der ,Wahrscheinlichkeitc in Historik und Romanpoetik 1. Rhetorische Grundlagen. Das Wahrscheinliche ist der Schein der Wahrheit in einem Doppelsinn. Einerseits vertritt der Schein die Wahrheit selbst, verweist dort auf sie, wo die Wahrheit unzugänglich ist. Andererseits ist der Schein der Wahrheit nur ihre Vortäuschung, ein Trugbild.64 Schon in dieser doppelten 60 61 62 63 M

Vgl. ebenda, S. 20f. Ebenda, S. 19. Vgl. ebenda, S. 21. Ebenda. Vgl. Blumenberg 1960, S. 88.

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Bestimmung deutet sich eine grundsätzliche Differenzierung im Bedeutungsspektrum des Wahrscheinlichkeitsbegriffs an: Wahrscheinlichkeit kann mehr wirkungsästhetisch als Täuschung, dies die Perspektive der Poetik, oder mehr erkenntnistheoretisch als Stellvertreterin der Wahrheit, dies die Perspektive der Historik, betrachtet werden. Diese Unterscheidung lässt sich durch die lateinische Terminologie in der Aufklärungshistorik verdeutlichen, die zwischen den Begriffen probabile und vensimik differenziert. So schreibt Friedrich Wilhelm Bierling in dem Paragraphen „De fide historica, & diversis probabilitatis historicae ckssibus" seiner Abhandlung über den historischen Pyrrhonismus, die historische Glaubwürdigkeit sei eine ,,praesumtio[nem] veritatis, orta[m] ex conjecturis circumstantiarum, qvae non saepe fallere solent", also eine „Vorwegnahme der Wahrheit, die aus Mutmaßungen von Umständen herrührt, die gewöhnlich nicht täuschen".65 Aus der Glaubwürdigkeit folgt für Bierling das Wahrscheinliche im Sinne des vensimik: „Patet ex fide historica oriri verosimilitudinem."66 Das vensimik beruht also auf Mutmaßungen von Umständen, die gewöhnlich nicht täuschen. Das, was als möglich erachtet wird, ist wahrscheinlich. Das mit der Wahrheit verwandte vensimik besteht demnach in der Übereinstimmung der Vorstellung mit der Möglichkeit eines Sachverhalts. Wie die Wendung „die gewöhnlich nicht täuschen" zeigt, ist das Urteil über die Möglichkeit einer Begebenheit abhängig von Erfahrungen über die Glaubwürdigkeit ähnlicher Begebenheiten. Anders das probabik: Es wird zwar mit Hilfe des vensimik bestimmt, schöpft jedoch seinen Anspruch auf Glaubwürdigkeit nicht aus der empirischen Möglichkeit, sondern aus der richtigen Anwendung einer kritischen Methode. Bierling schreibt: Datur tarnen in illis, ubi multae circumstantiae concurrunt, interdum certitude moralis, qvae scientiae in rebus probabilitatibus aeqvipollet, Tales circumstantiae sunt: Si res est ejus generis, qvi referunt, non facile falli potuerint; Si homines non vani aut superstitiosi se aliquid vidisse, tetigisse, diligenter expendisse restentur.67

65 66

67

Bierling 1990 [1707], S. 156f. „Es ist klar, daß aus der historischen Glaubwürdigkeit die Wahrscheinlichkeit folgt." (Ebenda). „Dennoch ist in ihr [der Geschichtswissenschaft, J. S.], wo viele wahrscheinliche [i. S. von venstmi/e, J. S.] Umstände zusammentreffen, manchmal eine moralische Gewißheit gegeben, die bei wahrscheinlichen [i. S. von probabile, J.S.] Ereignissen gleichviel wie das Wissen gilt. Solche Umstände sind z.B.; Wenn sich eine Begebenheit von der Art ereignet, bei der die, die sie berichten, sich nicht leicht täuschen können. Wenn Menschen, die nicht lügenhaft oder abergläubisch sind, bezeugen, daß sie etwas gesehen, berührt oder sorgfältig erwogen haben." (Ebenda).

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Die Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses beruht auf der Prüfung der Umstände, die zu ihm geführt haben. Das probabile wird also mit Hilfe einer wissenschaftlichen Methode bestimmt, durch die ein Ereignis als Folge von Umständen begriffen wird. Sind diese Umstände allesamt glaubwürdig im Sinne des verisimile, dann ist das Ereignis probabile. Zugespitzt kann man den Gegensatz der Wahrscheinlichkeitskonzepte so formulieren: Maßstab des verisimile ist das menschliche Urteil über die Möglichkeit eines Ereignisses durch Vergleich mit ähnlichen, bereits geschehenen Ereignissen; Maßstab des probabile dagegen die Methode des Zustandekommens dieses Urteils. Das verisimile bezieht sich auf die Sache selbst, das probabile letztlich auf das Urteil. Die Legitimität des verisimile beruht auf der erfahrenen Möglichkeit, die des probabile auf dem es begründenden Verfahren. Das verisimile ist den doxa vergleichbar. Im philosophischen Bereich meint doxa eine meist auf sinnlicher Wahrnehmung beruhende subjektive Meinung, Vorstellung oder Ansicht und drückt alle Zwischenstufen von der trügerischen Scheinmeinung bis zur allgemeingültigen Anschauung aus.68 In der Rhetorik wird letztere Bedeutung von doxa betont: Sie meint vor allem eine Meinung oder Ansicht, die gegkubt wird, aber nicht auf Beweisen oder Wissen beruht, sowie die den meisten Menschen gemeinsamen Einschätzungen und Annahmen.69 In der rhetorischen Argumentation stellen die doxa diejenigen Überzeugungen und Ansichten dar, auf die ein Redner ohne weitere Verständigung zurückgreifen kann. Sie können daher als Ausgangsmaterial der Argumentation dienen.70 Probabile ist in der Rhetorik dagegen der Begriff für die endoxa. Diese sind im Gegensatz zu den doxa allgemein geltende Meinungen, deren Anerkennung auch darauf beruht, dass sie von prominenten, angesehenen und glaubwürdigen Personen vertreten werden.71 Auch in der Rhetorik ist das probabile demnach nicht der Schein der Wahrheit, sondern ihre begründete Annahme. In der forensischen Rede ist das verisimile Ziel der narratio, das probabile hingegen wird in der argumentatio angestrebt. Die Rhetorik liefert also auch in dem im Folgenden skizzierten Diskurs das begriffliche Inventar, auf das sich Poetik und Historik beziehen.

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Vgl. A. Stückelberger: Doxa. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 2, 1972, Sp. 287-289, hier Sp. 288.

Stanley K. Stowers: Doxa. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 3, 1996, Sp. 903-906, hier Sp. 903. 70 peter Ptassek: Endoxa. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 2, 1994, Sp. 1134-1138, hier Sp. 1134. 71 Ebenda, Sp. 1134.

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2. Wahrscheinlichkeitskonyepte in Poetik und Historik. Die Fundierung einer Wissenschaft von der Wahrscheinlichkeit ist im 17. und 18. Jahrhundert kein auf die Historik beschränktes Problem. Die Wurzeln dieser Wissenschaft liegen vielmehr in der Mathematik und Logik.72 In Deutschland war offenbar Leibniz der erste, der in seiner Theodinye die Forderung nach einer logica probabilium erhoben hatte.73 Diese Forderung wurde durch eine zunehmende Logisierung und mathematische Kalkülisierung der Wahrscheinlichkeit erfüllt, was Blumenberg diesen Prozess als Terminologisierung einer Metapher kennzeichnen lässt.74 An diesem Prozess partizipierte auch die Historik. In der Auseinandersetzung mit dem historischen Pyrrhonismus entwickelten Historiker unterschiedliche Wahrscheinlichkeitskonzepte, von denen das differenzierteste aus der Allgemeinen Geschicbtswissenschaß (1752) von Johann Martin Chladenius stammt. Für Chladenius ist die Wahrscheinlichkeit nur eine Form des Zweifels, denn zwischen Gewissheit und Ungewissheit gebe es kein Tertium.75 Können quellenkritische Methoden keine ausreichende Klarheit bringen, muss der Historiograph den Leser mit Hilfe von Argumenten zu überzeugen suchen und ihm seine Perspektive pkusibel machen. Plausibilität liegt dann vor, wenn der Rezipient die Folgerung des konstruierten Ereignisses aus den Umständen nachvollziehen kann.76 Die Ableitung der wahrscheinlichen Begebenheiten aus den Umständen erfolgt im Rahmen der erklärenden Darstellung. ,Erklärung' ist dabei für Chladenius ein Terminus, der die kausalgenetische Herleitung eines Ereignisses beschreibt. Was in der Ereignisgeschichte der ursächliche Zusammenhang, das ist für Gatterer in der Erkenntnis der Geschichte das logische Schlussverfahren. Ein Schluss ist der Ausdruck einer angenommenen Kausalbeziehung.77 Will der Historiker also die anzweifelbaren Ereignisse wahrscheinlich machen, muss er sie aus den bekannten Umständen möglichst lückenlos schließen, d. h. ursächlich herleiten.78 Eine ähnliche Theorie der historischen Wahrscheinlichkeit legte acht Jahre vorher Siegmund Jacob Baumgarten in seiner Vorrede zur Übersetzung der Allgemeinen Welihistorie vor. Er unterscheidet eine innere und eine äußere Wahrscheinlichkeit. Während die äußere Wahrscheinlichkeit auf der Basis quellenkritischer Methoden beurteilt wird, ist das Kriterium der inneren Wahrscheinlichkeit das der glaubwürdigen Ableitung und plausiblen Ein-

72

Vgl. Blumenberg I960, S. 96. Vgl. Leibniz 1996 (wie Anm. 33), S. 117. 7t Vgl. Blumenberg 1960, S. 97. 75 Vgl. ebenda, S. 285. 76 Vgl. ebenda, S. 349. 77 Vgl. ebenda, S. 203. 78 Vgl. ebenda, S. 349f. 73

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bettung der zweifelhaften Begebenheiten in die historisch unbezweifelten Umstände.79 In der Wahrscheinlichkeitstheorie der Historik liegt demnach innere Wahrscheinlichkeit vor, wenn ein bezweifelbares Ereignis aus Umständen oder früheren Ereignissen durch Vernunftschlüsse hergeleitet werden kann; Umstände und frühere Ereignisse fungieren in diesem Modell als Ursachen, die die zweifelhafte Begebenheit als Wirkung hervorgebracht haben. Das aus Gründen erkannte Wahrscheinliche aber ist das probabile. Die aufklärerische Poetik des 18. Jahrhunderts hingegen kennt grob gesprochen zwei konkurrierende Wahrscheinlichkeitskonzepte, die hier im Anschluss an Gottsched und Breitinger referiert werden sollen. In seinem Versuch einer critischen Dichtkunst definiert Johann Christoph Gottsched die Wahrscheinlichkeit folgendermaßen: „Ich verstehe nämlich durch die poetische Wahrscheinlichkeit nichts anders, als die Ähnlichkeit des Erdichteten, mit dem, was wirklich zu geschehen pflegt; oder die Übereinstimmung der Fabel mit der Natur."80 Zwar lässt Gottsched auch ein bedingtes oder hypothetisches Wahrscheinliches, etwa den Gebrauch von heidnisch-antiken Mythen und Göttergestalten in der Dichtung, zu, jedoch ist er sich sicher, das s dieses mit der fortschreitenden Aufklärung an Bedeutung verliere. Gottsched forderte vom Schriftsteller also eine stärkere Orientierung an der empirischen Welt. Wenn er vorher mit Wolff den Roman als Geschichte aus einer anderen, möglichen Welt definierte, so war dies keineswegs als Aufforderung zur Erdichtung von Phantasiegeschöpfen gemeint. Vielmehr war es dem Dichter lediglich gestattet, die in der empirischen Welt vorkommenden Ereignisse in einer anderen Weise zu kombinieren oder zu verdichten. Während Gottsched also vor allem die Ähnlichkeit des Dargestellten mit den erfahrungsgemäß möglichen Begebenheiten der realen Welt zum Kriterium der Wahrscheinlichkeit erhebt, betont Johann Jacob Breitinger scheinbar den formal-logischen Aspekt stärker. In seiner Critischen Dichtkunst aus dem Jahr 1740 ist es die widerspruchsfreie Denkbarkeit der Begebenheiten und Umstände, die einer Nachahmung Wahrscheinlichkeit verleiht.81 Breitinger möchte der Dichtung weitere Felder eröffnen, indem er ihre Nachahmung nicht auf die empirische Welt verpflichtet, sondern auf alle denkmöglichen Welten, deren einziges Kriterium im Rahmen der Leibniz-WolfPschen Metaphysik ihre widerspruchsfreie Denkbarkeit war.82 Doch auch Breitinger

79

Vgl. Baumgarten 1990 (wie Anm. 30), S. 180. «o Gottsched 1977 [1751], S. 198. 81 Vgl. Breitinger 1966 [1740], S. 134f. Dieser weiter gefasste Wahrscheinlichkeitsbegriff ermöglicht Breitinger die Rechtfertigung des Wunderbaren als legitimen Gegenstands der Dichtung. 82 Vgl. ebenda, S. 136f.

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kennt einen engeren Wahrscheinlichkeitsbegriff, den er an den Urteilen des Publikums bemisst: Dieses Wahrscheinliche gründet sich demnach auf eine Vergleichung mit unsren Meinungen, Erfahrungen und angenommenen Sätzen, nach welchen wir unsren Beyfall einzurichten, und die Glaubwürdigkeit einer Vorstellung zu beurtheilen pflegen, und es besteht in seiner Übereinstimmung mit denselben.83

In seinem engeren Sinne meint Wahrscheinlichkeit also die widerspruchslose Vergleichbarkeit der Darstellung mit den empirisch zustande gekommenen Vorstellungen und Begriffen des Rezipienten.84 Das Wahrscheinliche ist also keine objektiv bestimmbare Größe, sondern abhängig vom Bildungs- und Erfahrungsschatz des Publikums und damit historisch relativ. Das vor dem Erfahrungshorizont am tatsächlichen Weltgeschehen gemessene Wahrscheinliche aber ist das verisimile. Bis in die 50er Jahre des 18. Jahrhunderts existierten in Poetik und Historik also unterschiedliche Wahrscheinlichkeitskonzepte·. Während die Poetik die Ähnlichkeit der Nachahmung mit der empirischen Welt oder deren Vorstellung in den Köpfen der Rezipienten zum Maßstab des Wahrscheinlichen im Sinne des verisimile machte, vertrat die Historik das probabilistische Konzept der kausalgenetischen Herleitung. Die Übersetzung von ,verisimile( und ,probabile' mit dem einen deutschen Wort .wahrscheinlich' führte in Poetik und Historik zu einer oszillierenden Doppeldeutigkeit des Wahrscheinlichkeitsbegriffs mit der Gefahr, aber auch der Möglichkeit einer produktiven Kontamination der beiden Bedeutungsdimensionen. Die folgenden Ausführungen sollen zeigen, dass das von der Historik entwickelte Konzept der inneren Wahrscheinlichkeit von der Romanpoetik übernommen wurde und dort an die Stelle des Wahrscheinlichen im Sinne des vensimile trat. 3. Der Einfluss der Historik auf die Poetik. Johann Adolf Schlegel beklagt in einigen Anmerkungen zur dritten Auflage seiner Übersetzung von Charles Batteux' Einschränkung der schönen Künste auf einen einigen Grundsat^ aus dem Jahr 1770 die Vermischung des poetischen und historischen Wahrscheinlichkeitsbegriffs. Seine Kritik geht davon aus, dass der Begriff des Wahrscheinlichen in der Poetik keine feststehende Bedeutung habe.85 Grund für die Bedeutungsverschiebungen des Begriffs ist die Kontamination des poetischen Wahrscheinlichkeitskonzeptes mit dem historischen: Die Ursache, warum der Begriff so schwankend ist, schreibt sich daher, daß in der Geschichte von der Wahrscheinlichkeit eben so viel geredet wird, als « Ebenda, S. 134. Ebenda, S. 137. »s Batteux/Schlegel 1976 [1770], S. 293. 84

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in der Poesie. Oft schon hat man beide Begriffe, die doch so weit von einander verschieden sind, durch einander gemischet; und gleichwohl könnte der poetischen Wahrscheinlichkeit nichts nachtheiliger seyn, als diese Vermischung.86

Schlegel argumentiert mit der Absicht, der Dichtung wieder weitere Gegenstandsbereiche zu erschließen, die ihr seit dem Gottschedischen Purismus in dieser Frage verloren gegangen schienen,87 allerdings ohne Erfolg. Seine Reflexionen machen aber die These von der im Folgenden beschriebenen Rezeption des geschichtswissenschaftlichen Wahrscheinlichkeitskonzeptes durch die Poetik am Beispiel Blanckenburgs und Wezels glaubhaft. Friedrich von Blanckenburgs 1774 erschienener Versuch über den Vornan stellt den umfassendsten Beitrag zur Theorie und Technik des Aufklärungsromans in Deutschland dar. Er postuliert darin, der Autor müsse die äußere Geschichte eines Menschen aus der inneren hervorgehen lassen.88 Blanckenburg fordert die strukturelle Nachahmung der wirklichen Welt, nicht nur ihrer Erscheinungen und Begebenheiten. Strukturelle Nachahmung bedeutet aber im Wesentlichen eine Nachahmung der kausalen Beziehungen in der Welt. Der Dichter hat in seinem Werk Charaktere und Begebenheiten unter einander zu ordnen und zu verknüpfen. Diese müssen nun nach den obigen Voraussetzungen, so untereinander verbunden seyn, daß sie gegenseitig Ursach und Wirkung sind, woraus ein ganzes entsteht, in dem alle einzelne Theile unter sich, und mit diesem Ganzen in Verbindung stehen, so daß das Ende, das Resultat des Werks eine nothwendige Wirkung alles des vorhergehenden ist.«9

Blanckenburg grenzt sich damit bewusst gegen den poetologischen Wahrscheinlichkeitsbegriff des vensimile ab, vielmehr gibt er dem Konzept der .Notwendigkeit* in allen Belangen den Vorzug. Das Notwendige nämlich konstituiert das Wahre der Poesie, das Wahrscheinliche aber nur deren Schein.90 Die Forderung aber, „daß keine Ursache ohne Wirkung bleiben müsse",91 entspricht dem Konzept der inneren Wahrscheinlichkeit der Historik. 86

Ebenda, S. 293f. In der zweiten Auflage, Leipzig 1759, in der Schlegel seine Anmerkungen noch in einem gesonderten Teil mit eigenen Abhandlungen und nicht in Fußnoten machte, findet sich zwar bereits die Unterscheidung der poetischen und der historischen Wahrscheinlichkeit, nicht aber die Klage über die Kontamination beider Begriffe (vgl. Batteux/Schlegel 1759, S. 454f.).

" Batteux/Schlegel 1976 [1770], S. 296. 88 Vgl. Blanckenburg 1965 [1774], S. 304. 89 Ebenda, S. 313f. 90 Vgl. ebenda, S. 491 und 309. 91 Blanckenburg 1965 [1774], S. 54.

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In Johann Carl Wezels kritischen Schriften wird der Bedeutungswandel des Wahrscheinlichkeitsbegriffs in der Poetik noch deutlicher. In der Vorrede zu seinem Roman Hermann und Ulrike (1780) stellt er fest, das poetisch Wahrscheinliche bestehe allein in der „Hinlänglichkeit der Ursachen zu den Wirkungen".92 Der Dichter schildere das Ungewöhnliche [...] und dies Ungewöhnliche wird poetisch wahrscheinlich, wenn die Leidenschaften durch hinlänglich starke Ursachen zu einem solchen Grade angespannt werden, wenn die vorgehende Begebenheit hinlänglich stark ist, die folgende hervorzubringen, oder die Summe aller hinlänglich stark ist, den Zweck zu bewirken, aufweichen sie gerichtet sind.93

In seiner ebenfalls 1780 erschienenen Rezension von Wielands Versepos Oberen unterscheidet Wezel grob in zwei Arten von Dichtern: die Realisten und die Idealisten. Während sich der Realist um eine Abbildung der empirischen Welt und um lückenlose kausale Motivation der Ereignisse des Romans bemühe, setze sich der Idealist „über alles hinweg, was wirklich ist oder gewesen ist, verschmäht den Lauf der Natur und der menschlichen Begebenheiten, [...] versetzt sie in Situationen, die nirgends auf der Erde statt finden, und läßt keine Begebenheit durch natürliche Ursachen bewirken".94 Der von Wezel despektierlich abgehandelte Idealist braucht Ursachen und Wirkungen nicht mühsam abzuwägen, keine Begebenheit vorzubereiten, keine Situation anzuspinnen, für keine innere noch äußere Wahrscheinlichkeit der Charaktere zu sorgen: er hat Kutsche und Pferde beständig angespannt, um seine Personen vom Südpol nach Novazembla aus einer Situation in die andre zu führen.95

Das Wahrscheinliche besteht also in einem möglichst lückenlosen Motivationszusammenhang, der die Begebenheiten entweder als Wirkung eines Charakters oder als Wirkungen früherer Handlungen erklärbar macht. Das Prinzip der Kausalität löst die subjektive Erfahrung als Maßstab des Wahrscheinlichen ab. Mit „Wahrscheinlichkeit" bezeichnet Wezel also nur noch das probabile. Die Bedeutungsdimension des vensimtle ist aus dem Begriffsspektrum von „Wahrscheinlichkeit" verbannt.96 92

Wezel 1971-1975, Bd. l, S. IV. Ebenda. 9" Ebenda, Bd. 2, S. 563. 95 Ebenda, Bd. 2, S. 564f. 96 Die bleibende Verdrängung des verisimle aus dem Bedeutungsspektrum des Wahrscheinlichkeitsbegriffs kann auch anhand des Gnmmschen Wörterbuchs belegt werden. In dem entsprechenden Artikel heißt es „unter Wahrscheinlichkeit ist ein fürwahrhalten aus unzureichenden gründen zu verstehen, die aber zu den zureichenden ein gröszeres verhältnisz haben, als die gründe des gegentheils. durch diese erklärung unterscheiden wir die Wahrscheinlichkeit (probabilitas) von der blosen scheinbarkeit (verisimilitudo)" (Bd. 13, Sp. 998). 93

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Wezels anfangs zitierter Roman Belphegor, der den Untertitel „die wahrscheinlichste Geschichte unter der Sonne" trägt, reflektiert nun diesen Wandel des Wahrscheinlichkeitsbegriffs. Der Roman ist stofflich an Voltaires Candide angelehnt. Anhand der Begebenheiten vierer Charaktere soll der im Vorwort genannte Lehrsatz von der Allgegenwart des Neides und der Vorzugssucht als Triebfeder menschlichen Handelns exemplifiziert werden.97 Der Schwärmer Belphegor, seine Geliebte Akante, der kalte Vernünftler Fromal und der naive Medardus werden vom Schicksal durch alle vier Weltteile getrieben und erfahren allenthalben am eigenen Leib die Grausamkeit und das moralische Ungenügen der Menschen. Der Roman hat das Ziel, Neid und Vorzugssucht als anthropologische Konstanten der menschlichen Seele und somit als amoralisch zu kennzeichnen.98 Zudem ist der Roman eine Schwärmersatire. Im Protagonisten Belphegor geißelt Wezel eine vermeintliche Charakterschwäche seiner Zeitgenossen: die Schwärmerei. Leonhard Meister charakterisiert dieses Zeitphänomen in einem Traktat als „Ausschweiffung" der Einbildungskraft.99 Ein Schwärmer ist also ein Mensch, der vorwiegend in Illusionen lebt. In der französischen und deutschen Ästhetik wurde der Begriff der Illusion im Sinne von Trugwahrnehmung (Halluzination) und Sinnestäuschung (Falschdeutung von Sinneseindrücken) verwendet.100 Im Deutschen wurde Illusion häufig mit Täuschung wiedergegeben. Etwa definierte Johann Jakob Sulzer in seiner Allgemeinen Theorie der schönen Künste: „Die Täuschung ist ein Irrthum, indem man den Schein einer Sache für Wahrheit oder Würklichkeit hält."101 Bedingung der Möglichkeit von Illusion ist die Einbildungskraft. Ist diese zu stark, trägt sie pathologische Züge, wie Walchs Philosophisches Lexikon feststellt: „Denn die Einbildungskraft ist an sich leichtsinnig, ausschweifend und abentheuerlich, wie die Träume, die ihr Werk sind, wenn sie allein in der Seele würkt."102 Es entsteht das Krankheitsbild des Schwärmers, der die Vorstellungen seiner Einbildungskraft für wahr hält.

97 Vgl. Wezel 1965 [1776], S. 9ff. 98 Die hier vorgelegte Deutung des Romans orientiert sich an der Interpretation von Knautz 1990, die den Belphegor in den Schwärmerdiskurs der Spätaufklärung einordnet. Frühere, oft eher werkimmanente Interpretationen des Romans, die in ihm eine skeptizistische Anthropologie zu erkennen glaubten wie die von Schönert 1970, Schings 1980, Joerger 1981 und Krämer 1985, werden dessen sozialkritischen Dimensionen nicht gerecht. Zur neueren Wezel-Forschung vgl. Kosenina 1997. 99 Leonhard Meister: Ueber die Schwermerei. Eine Vorlesung von Leonhard Meister, Professor in Zürich. Bern 1775, S. 1. 100 W. Strube: Illusion. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 4,1976, Sp. 204215, hier Sp. 204. 101 Sulzer 1970 [1792-94], Bd. 4, S. 514. »02 Walch 1968 [1775], Bd. l, S. 942.

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Die Ästhetik verwendet den Begriff der Täuschung allerdings in einem positiven Sinn: Sinnestäuschung und Trugwahrnehmung werden als legitime, notwendige Wirkungen eines gelungenen Kunstwerks betrachtet. Der Illusion als reiner Sinnestäuschung wird im 18. Jahrhundert damit die ästhetische Illusion entgegengestellt als ein Zustand, in dem der Illudierte sich ein Irrealitätsbewusstsein bewahrt, indem er die Täuschung als Täuschung durchschaut.103 Die ästhetische Illusion wird in SuLzers Theorie durch jeden Fehler gegen die Wahrheit plötzlich ausgelöscht. Jede würkliche Unrichtigkeit, alles Widersprechende, Unwahrscheinliche, Gekünstelte, läßt uns sogleich bemerken, daß wir nicht Natur, sondern Kunst vor uns sehen. So bald wir durch irgend einen Umstand die Hand des Künstlers erbliken, wird die Aufmerksamkeit von dem Gegenstand, den wir allein bemerken sollten, abgezogen.104

In der Vorrede zu seinem Roman "Lebensgeschichte Tobias Knaufs des Weisen, sonst der Stammkrgenannt äußert Wezel dieselbe Ansicht: Ja freilich, sobald man die Maschine entdeckt hat, wodurch menschliche Tugenden regiert werden, so geht es wie bei der Illusion des Theaters; sobald wir die Stricke und das Brett zu genau sehen, auf welchem der Gott herabgelassen wird, der so pompöse Götterbefehle um sich herumdonnert, so schwindet die Illusion, und unsre Bewunderung verwandelt sich in eine Verwundrung, daß wir den verkappten Weltrichter bewundern konnten.105

Bei der satirischen Entlarvung des Schwärmertums im Relphegor bedient sich Wezel absichtlich dieses „poetischen Missgeschicks". Er lässt den Leser überall die „Stricke und das Brett", also die Hand des Künstlers sehen, um dessen Illusion zu zerstören und die scheinbar tragischen Unglücks fälle Belphegors ins Lächerliche zu verkehren. Wezel erzählt nicht pragmatisch, sondern exemplifizierend. Er reiht Begebenheit an Begebenheit, ohne ihre Folge kausal zu motivieren. Die Chronologie in den Reiseberichten Akantes ist wider alle historische Kenntnis.106 Ein ganzes Arsenal wundersamer Ursachen vom Erdbeben über eine Luftreise per Wasserhose bis hin zu schwimmenden Inseln zitiert Wezel herbei, um die Reisegruppe zu trennen, zusammenzuführen oder an einen anderen Ort zu versetzen. Auch Türken, Räuber, Wilde, Meerkatzen und sogar Fabelwesen treten als Versatzstücke aus jenen Romanen auf, die Wezel in seiner Vorrede zu Hermann und Ulrike kritisiert: [D]enn freylich, eine Menge zusammengestoppelter übertriebner Situationen zusammenzureyhen; gezwungene unnatürliche Charaktere ohne Sitten, Leben und Menschheit zusammenzustellen, und sich plagen, hauen, erwürgen ™ Vgl. Strube 1976 (wie Anm. 100), S. 206. >o* Sulzer 1970 [1792-94], Bd. 4, S. 515. 105 Wezel 1990 [1776], S. 186. 106 vgl. Wezel 1965 [1776], S. 57ff.

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und niedermetzeln zu lassen; oder einen Helden, der kaum ein Mensch ist, durch die ganze Welt herumzujagen und ihn Türken und Haiden in die Hände zu spielen, daß sie ihm als Sklaven das Leben sauer machen [...]: ein solches Chaos von verschlungenen, gehäuften, unwahrscheinlichen Begebenheiten, Charaktere, die nirgends als in Romanen existieren konnten, solche Massen ohne Plan, poetische Haltung und Wahrscheinlichkeit zu erfinden, bedurfte es keines Dichtergenies und keiner dichterischen Kunst.107

Diese Passage liest sich wie eine vernichtende Kritik des Be/pbegor aus Wezels eigener Feder, die „wahrscheinlichste Geschichte unter der Sonne" ist also auch Wezels Meinung nach die unwahrscheinlichste. Schon der Untertitel entlarvt den Roman als Literatursatire auf das Genre der menippeischen Satire.108 Die mangelnde Wahrscheinlichkeit, die keine ästhetische Illusion zulässt, soll aber das Irrealitätsbewusstsein im Leser befördern und so die Reflexion in ihr Recht setzen. Auf diese Weise will Wezel die Schwärmer von ihrer pathologischen Illusionsverfallenheit kurieren und die Einbildungskraft neuerlich unter die Herrschaft der Vernunft bringen.

VI. Fazit Aus der Analyse des poetischen Verfahrens und der erzählerischen Mittel im üelphegor ergibt sich somit die Verortung des Romans im zeitgenössischen Schwärmer-Diskurs. Die poetologischen Konsequenzen, nämlich die im Roman geforderte kausalgenetische Herleitung der Begebenheiten, ist letztlich eine Forderung nach Herstellung erzählerischer Kohärenz. Diese Sinneinheit wird jedoch durch das exemplifizierende Erzählen vordergründig zerstört und konstituiert sich erst beim Durchschauen des poetischen Verfahrens als poetologische Aussage. Gerade die Verstöße gegen die Wahrscheinlichkeit bewirken die intendierte Beschränkung der Einbildungskraft. Auch Gatterers Forderung nach Hervorbringung idealer Gegenwart, die die Geschichtsschreibung der Evidenz fähig mache, impliziert einen Appell an die Einbildungskraft. Weil diese aber nur aus dem bereits Bekannten ein neues Ganzes zusammensetzen kann, muss der Historiograph Rücksicht auf den Erfahrungshorizont seiner Leser nehmen und auf die allen gemeinsamen Ansichten (doxd) referieren. Das anfangs zitierte Scheitern Belphegors als Erzähler der Alexandergeschichte ist das Ergebnis der Vernachlässigung dieser elementaren Erkenntnis. Eine Geschichtserzählung muss immer auf eine bestimmte Kommunikationsgemeinschaft bezogen sein, in der allein sie ihren 107 108

Wezel 1971 [1780], If. Zu Begriff und Geschichte der menippeischen Satire vgl. Stefan Trappen: Grimmelshausen und die menippeische Satire. Eine Studie zu den historischen Voraussetzungen der Prosasatire im Barock. Tübingen 1994 (Studien zur deutschen Literatur. 132).

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spezifischen Sinn voll entfalten kann.109 Eine rhetorische Analyse der so verstandenen Geschichtsschreibung und des Romans ist also ein Schlüssel zu deren lebensweltlicher Funktion. Der beschriebene Wandel des Wahrscheinlichkeitsbegriffs hatte einen Anteil am grundlegenden Wandel der Erzählstruktur des Romans im 18. Jahrhundert. Der Übergang von der exemplifizierenden Erzählweise zur pragmatischen der kausalgenetischen Herleitung bedingte nicht nur einen Wandel der narrativen MikroStruktur, sondern hatte auch Folgen für die Makrostruktur des Romans. Die angestrebte lückenlose kausale Herleitung eines Ereignisses ist wegen der Fülle an Ursachen, die es hervorgebracht haben, praktisch nicht zu bewerkstelligen.110 Zur Lösung dieses Selektionsproblems bedurfte es eines Korrektivs, das im Wandel des Planbegriffs deutlich wird. Unter .Plan' verstand man in der Spätaufklärung einen der Erzählung vorgängigen Entwurf, der die stoffliche Auswahl und Ordnung der Erzählung auf einen bestimmten Endzweck hin regelt.111 Diese ursprünglich rhetorische Kategorie wandelt sich in der Geschichtsphilosophie Herders zu einer ontologischen Qualität. Die synchrone Wohlgeordnetheit der Welt, in der jeder Teil seinen von Gott angewiesenen Platz hat, wird in einem Analogieschluss auf die Geschichte übertragen.112 Herder deutet die Weltgeschichte als „unendliches Drama von Szenen" und „Epopee Gottes", als „tausendgestaltige Fabel voll eines großen Sinns",113 den er dem „Plan Gottes" gleichgesetzt. In seinem Shakespeare-TLssyy wendet Herder diesen Gedanken seiner Historik auf die Dichtung an. Hier postuliert er eine dem göttlichen Plan analoge Gestaltung des Plans der Erzählung. Aufgrund dieser Analogie könne der Leser nämlich über die hinter der Geschichte sichtbar werdende göttliche Ordnung aufgeklärt werden. Ebenso wie die historiographische Erzählung verschaffe auch die literarische Einblick in den Weltzusammenhang.114 Die Erzählung als Ganze wird damit zum Symbol einer hinter den Tatsachen verborgenen Wahrheit, eine Gedankenfigur, die weit in den Historismus hineinreicht.

109

Vgl. da2u auch den Beitrag von GÜNTER BUTZER (Abschnitt III: Historische Narration und soziale Toptk). 110 Vgl. Daniel Fuldas Analyse von Blanckenburgs Roman Beyiräge %ur Geschichte deutschen Reichs und deutscher Sitten (1775). Fulda weist überzeugend nach, dass das pragmatische Erzählen hier wegen mangelnder Kriterien zur Auswahl ursächlicher Ereignisse einen narrativen Kollaps erleidet. Vgl. Fulda 1996, S. 103ff. 111 Vgl. Sulzer 1970 [1792-94], Bd. 3, S. 696. 112 Vgl. Herder 1994 [1774], S. 83. »' Ebenda. 114 Zur ästhetischen Geschichtsphilosophie um 1800 vgl. den nachfolgenden Beitrag von THOMAS PRÜFER.

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THOMAS PRÜFER Ästhetische Geschichtsphilosophie und die Historisierung der Poetik am Ende des 18. Jahrhunderts L Die Geschichte der Dichtung und ihre Philosophie um 1800 II. Geschichtsphilosophie und Kunsttheorie bei Friedrich Schiller III. Die historisch-ästhetische Bildung der Moderne IV. Auswahlbibliographie

I.

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Die Geschichte der Dichtung und ihre Philosophie um 1800

Nicht nur von der historischen Dimension der Dichtung im kulturellen Diskurs der Deutschen um 1800 soll im folgenden die Rede sein, sondern auch von der poetischen Form der Geschichte. Beides läßt sich nicht trennen. Das Verhältnis von Historic und Poesie ist in dieser Zeit nur als inverses zu begreifen. Zu zeigen ist dies anhand ihrer philosophischen Reflexion, der wechselseitigen Bestimmung von Geschichtsphilosophie und Poetik. Dementsprechend muß die Formel von der ,Geschichte der Dichtung und ihrer Philosophie' in zwei Richtungen gelesen werden, wobei der Genitiv das Drehmoment der Lektüre bildet, je nachdem, ob man ihn als subjektiven oder objektiven begreift. Nimmt man die Dichtung und ihre Philosophie als Objekt einer philosophisch verstandenen Geschichte, liest man also ganz selbstverständlich von ,links nach rechts', dann kommt die historische Dimension im Nachdenken über die Poesie in den Blick. Der Terminus technicus, der sich für dieses Phänomen eingebürgert hat, lautet geschichtsphilosophische Poetik. Sieht man aber in der Poetik das Subjekt der Genitivkonstruktion, liest man also gegen den Strich von ,rechts nach links', dann erscheint ein anderes Thema im Vexierbild, nämlich die poetische Dimension des historischen Denkens. Als Bezeichnung für dieses Phänomen ist der Begriff .ästhetischer Historismus' im Umlauf. Um die Untersuchung nicht von vornherein

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mit den Problemen der Historismus-Debatte(n) zu belasten,1 soll im folgenden von poetischer Geschichtsphilosophie gesprochen werden. Die wechselseitige Bestimmung von Geschichtsphilosophie und Poetik um 1800 ist der Forschung nicht verborgen geblieben, doch fehlt bis heute eine Analyse des Gesamtkomplexes. Das Feld ist in seinen beiden Teilen seit den Studien von Peter Szondi zur geschichtsphilosophischen Poetik der Goethezeit und Hannelore Schlaffer über den ästhetischen Historismus zwischen Herder und Hegel in groben Zügen abgesteckt.2 Der Zeitraum umfaßt ziemlich genau die Jahrzehnte von 1770 bis 1830. Der Ort der Handlung ist Deutschland, das Personal bekannt. In den Hauptrollen treten Johann Gottfried Herder, Friedrich Schiller, Friedrich Schlegel und Georg Wilhelm Friedrich Hegel auf. Den Prolog spricht Johann Joachim Winckelmann, und als Nebendarsteller sind in wechselnden Rollen Novalis, Hölderlin, Schelling, Jean Paul u. a. zu sehen. Über allen Akteuren schwebt als Spiritus rector Goethe, der aber nicht ins Geschehen eingreift. Statisten, die aus dem Ensemble ein Kollektiv gemacht hätten, treten nicht in Erscheinung. Der Plot wechselt, je nachdem, wer das Stück gerade bearbeitet. Bei den klassischen Inszenierungen handelt es sich 'mal um ein modernes Enthüllungsdrama, 'mal um die Neuauflage eines französischen Klassikers mit dem Titel .Querelle des Anciens et des Modernes' oder um ein bürgerliches Drama in aufklärerischer Absicht.3 Seine größten Erfolge feierte das Stück in den Jahren um 1970, verschwand dann aber von den Spielplänen der großen Häuser und wurde nur noch in der Provinz aufgeführt — und das auch immer seltener.4 Der Grund 1

2 3

4

Zu den Schwierigkeiten einer überzeugenden Begriffsbestimmung, die sowohl dem geschichtswissenschaftlichen als auch dem literaturwissenschaftlichen Gebrauch von .Historismus' gerecht wird, vgl. Michael Schlott: Mythen, Mutationen und Lexeme ,Historismus' als Kategorie der Geschichts- und Literaturwissenschaft. In: Scientia Poetica 3 (1999), S. 158-204. Vgl. Szondi I/II1974 und Hannelore Schlaffer 1975. Für Peter Szondi findet die Ästhetik der Goethezeit ihre vollendete und reflektierte Form in Hegels Philosophie der Kunst; sie ist ihm nicht nur die „Summa" des ästhetischen Diskurses um 1800 (Szondi 1978 [1972], S. 59), sondern auch der „Zielpunkt" setner deutenden Darstellung (Szondi I 1974, S. 249). Den entgegengesetzten Weg geht Jauß 1970, der zwei zentrale Schriften der geschichtsphilosophischen Poetik um 1800, Schillers Studie Ueber Naive und sentimentaüsche Dichtung (1795) und Friedrich Schlegels Abhandlung Über das Studium der griechischen Poesie (1797), als ,Replik' auf die ,Querelle des Anciens et des Modernes' um 1700 und damit das Phänomen von seiner Herkunft her begreift. Hannelore Schlaffer 1975 wiederum interessiert vor allem die Bedeutung des ästhetisch geprägten Geschichtsdenkens zwischen Herder und Hegel für die Ausbildung eines bürgerlichen (Selbstbewußtseins. Die Darstellung von Naumann 1979 ist bereits ein Rückblick, der deutlich macht, daß die große Zeit des Themas Ende der 70er Jahre vorbei war. Naumann bietet nicht nur einen Überblick über die wichtigsten Autoren und Themen, sondern auch ein ausführ-

Ästhetische Geschichtsphilosophie und die Historisierung der Poetik

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dafür war sicherlich nicht ein schwindendes Interesse an der Ästhetik, deren postmoderne Inszenierungen seit Ende der 70er Jahre geradezu inflationäre Ausmaße annahmen, sondern der Ansehensverlust der materialen Geschichtsphilosophie. Die bis dahin bestimmende Auseinandersetzung mit dem historischen Materialismus verlor im Verkufe der 70er Jahre an Bedeutung, und mit dem Siegeszug der analytischen Geschichtsphilosophie verlagerte sich die geschichtstheoretische Diskussion von den Fragen nach Sinn, Verkuf und Kräften der Geschichte hin zum Problem der Narrativität historiographischer Darstellung und Ästhetizität historischer Erkenntnis.5 Erst in den letzten Jahren entwickelt sich wieder ein verstärktes Interesse am Verhältnis von materialer Geschichtsphilosophie und Ästhetik. Geprägt durch die postmodernen Debatten werden neue Fragen an den geschichtsphilosophisch-ästhetischen Diskurs der Moderne um 1800 gestellt, ohne daß das Phänomen in seiner reziproken Struktur bisher eingehend untersucht wurde.6 Ein wesentlicher Grund dafür ist sicherlich die ,neue Unübersichtlichkeit' des Forschungsfeldes, dessen Ort in der Geschichte nach dem ,Ende der großen Erzählungen' nicht mehr eindeutig zu bestimmen ist. ,Um 1800' ist die Formel, die sich als Ausdruck für diese Verlegenheit eingebürgert hat. Schon in den 60er Jahren war das Ideologen! von der zwischen 1770 und 1830 anliches Literaturverzeichnis. Bezeichnenderweise ist der angekündigte zweite Band, der bis in die Gegenwart führen und die aktuelle Relevanz des Themas zeigen sollte, nie erschienen. Die prägnante Untersuchung von Steinwachs 1986 ist die nur leicht überarbeitete Fassung seiner Konstanzer Dissertation aus dem Jahre 1978. Daß sie trotz ihres hohen Niveaus acht Jahre brauchte, bis sie das Licht der Öffentlichkeit erblickte, kann als Hinweis auf das veränderte Interesse des Forschungsdiskurses verstanden werden. Anfang der 70er Jahre konnten in Deutschland beide Formen des geschichtstheoretischen Denkens noch im Zusammenhang diskutiert werden, wie der Sammelband von Koselleck/Stempel 1975 zeigt. Zum allmählichen Verschwinden der materialen Geschichtsphilosophie vgl. Herta Nagl-Docekal: Ist Geschichtsphilosophie heute noch möglich? In: Dies. (Hrsg.): Der Sinn des Historischen. Geschichtsphilosophische Debatten. Frankfurt a. M. 1996 (Fischer TB. 12776; Philosophie der Gegenwart), S. 7-453, hier S. 7-28. Die vielfältigen Brechungen im Geschichtsverständnis der letzten 25 Jahre dokumentiert die Textsammlung von Christoph Conrad und Martina Kessel (Hrsg.): Geschichte schreiben in der Postmoderne. Beiträge zur aktuellen Diskussion. Stuttgart 1994 (RUB. 9318). Zu den neueren Tendenzen einer Wiederbelebung der materialen Geschichtsphilosophie vgl. Heinz Dieter Kittsteiner: Listen der Vernunft. Motive geschichtsphilosophischen Denkens. Frankfurt a. M. 1998 (Fischer TB. 13951; Forum Wissenschaft: Philosophie) und Johannes Rohbeck: Technik — Kultur — Geschichte. Eine Rehabilitierung der Geschichtsphilosophie. Frankfurt a. M. 2000 (stw. 1462). wahrend etwa Zelle 1995 das Problem der geschichtsphilosophischen Ästhetik um 1800 im Rahmen einer breit angelegten Studie über die .doppelte Ästhetik der Moderne' von der französischen .Querelle des Anciens et des Modernes' bis zu Nietzsche untersucht, geht Herz 1996 den entgegengesetzten Weg und führt eine intensive Analyse des Verhältnisses von Geschichtsphilosophie und Ästhetik bei Johann Gottfried Herder durch.

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gesiedelten Epoche der .deutschen Bewegung' und ihres besonderen Weges in die Moderne obsolet geworden. Der vermeintlich unverdächtigere Terminus der Goethezeit hat sich hingegen bis heute gehalten, auch wenn jetzt häufiger von der ,Kunstperiode' die Rede ist. Weiterhin im Gebrauch sind die Bezeichnungen ,Weimarer Klassik', ,Romantik' oder ^Deutscher Idealismus'. Das Problem all dieser Epochenbegriffe ist ihre normative Schließung. Reinhart Koselleck hat mit seinem Konzept der ,Sattelzeit' einen Vorschlag zur gütlichen Einigung gemacht. Sein Begriff läßt die Bedeutung der Zeit um 1800 als Hochzeit der deutschen Kultur mit Auswirkungen bis in das Selbstverständnis der Gegenwart hinein anklingen, ist jedoch offen für das Vorhergehende wie das Nachfolgende und bezeichnet eine Formationsphase im Entstehungsprozeß der modernen Welt, den er in etwa zwischen 1750 und 1850 ansiedelt.7 Dem Verhältnis von Geschichtsphilosophie und Ästhetik kommt in diesem kulturellen Transformationsprozeß eine grundlegende Bedeutung zu,8 handelt es sich doch im Kern um eine Umstellung der naturalen Semantik der frühen Neuzeit auf die historisch-ästhetische der Moderne.9 Koselleck hat diesen Vorgang an einem seiner ,Grundbegriffe', der .Geschichte', als Ausbildung eines Kollektivsingukrs analysiert und dabei auf die konsumtive Bedeutung ästhetischer Muster für die im späten 18. Jahrhundert entstehende Vorstellung von der Einheit in der Vielfalt der Geschichten hingewiesen.10 Doch nicht nur das moderne Bewußtsein ist durch die Symbiose von historischem und ästhetischem Denken und Sprechen bestimmt, auch das Bewußtsein, das die Moderne um 1800 von sich selbst entwickelt, prägt sich ganz wesentlich im Spannungsfeld von Geschichtsphilosophie und Ästhetik aus.11 In diesem Sinne begreift Jürgen Habermas Schillers Abhandlung Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen (1793) als den Beginn eines sich selbst hervorbringenden ,Diskurses der Moderne'.12 7

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11

12

Vgl. Reinhart Koselleck: Einleitung. In: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. l, 1972, S. XIII-XXVII, hier S. XVII, und ders.: Das achtzehnte Jahrhundert als Beginn der Neuzeit. In: Reinhart Herzog u. Reinhart Koselleck (Hrsg.): Epochenschwelle und Epochenbewußtsein. München 1987 (Poetik und Hermeneutik. 12), S. 269-282. In bezug auf die geschichtsphilosophische Ästhetik vgl. hierzu Steinwachs 1986, S. 9-19. Vgl. hierzu Niklas Luhmann: Frühneuzeitliche Anthropologie. Theorietechnische Lösungen für ein Evolutionsproblem der Gesellschaft. In: Ders.: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Bd. 1. Frankfurt a. M. 1993 [EA 1980] (stw. 1091), S. 162-234, hier S. 211-217. Vgl. Reinhart Koselleck: Geschichte, Historic V-VII. In: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 2,1975, S. 647-717, hier S. 659-665, sowie den nachfolgenden Beitrag von DANIEL FULDA (Abschnitte I-V). Beides, Mentalität und Reflexivität, bildet im modernen (Selbst-)Bewußtsein einen notwendigen Zusammenhang. Vgl. Jürgen Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen. Frankfurt a. M. 1988 [EA 1985] (stw. 749), S. 59-64.

Ästhetische Geschichtsphilosophie und die Historisierung der Poetik

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II. Geschichtsphilosophie und Kunsttheorie bei Friedrich Schiller Habermas' Hinweis auf die paradigmatische Bedeutung der Ästhetik Schillers für die Reflexivität der Moderne läßt sich mit der Feststellung Kosellecks verbinden, daß in Schillers Geschichtsphilosophie das historische Bewußtsein am Ende des 18. Jahrhunderts und damit die moderne Mentalität einen sprechenden Ausdruck fand.13 Eine Analyse der Geschichtstheorie Schillers in ihrem Verhältnis zu seinem ästhetischen Denken verspricht also Einblicke in das interne Gefüge der Symbiose von Geschichtsphilosophie und Kunsttheorie als einer spezifisch modernen Erscheinung. Der Untersuchungszeitraum umfaßt in etwa das Dezennium zwischen den Jahren 1785/86, als Schiller mitten in den Arbeiten am Dom Karlos die Geschichte als Wissensund Bildungsmacht entdeckte, und den Jahren 1795/96, als seine beiden ästhetischen Hauptwerke, die geschichtsphilosophisch geprägten Abhandlungen U eher die ästhetische Erhebung des Menschen und U eher naive und sentimentalische Dichtung, erschienen. In dieser Zeit entstanden die bedeutendsten Arbeiten Schillers zur Theorie der Geschichte und Kunst — und das in einem Prozeß wechselseitiger Beeinflussung.14 Eine der frühesten und zugleich radikalsten Formen der Vermittlung von Geschichtsphilosophie und Ästhetik bei Schiller findet sich in dem Gedicht Die Künstler, das im Winter 1788/89 entstand. Unmittelbar vor der Niederschrift hatte Schiller mit der Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande von der Spanischen Regierung sein erfolgreiches Debüt als Historiker gegeben, und wenige Wochen nach der Veröffentlichung in Wieknds Teutschem Merkur sollte er mit der Antrittsrede Was heißt und up welchem Ende studiert man Universalgeschichte? seine vielbeachteten universalhistorischen Vorlesungen in Jena eröffnen. Daß Schiller in dieser Formationsphase seines geschichtsphilosophischen Denkens ein ästhetisches Manifest in Form einer poetischen Geschichtsphilosophie (denn nichts anderes waren Die Künstler) veröffentlichte, zeigt, daß das Verhältnis von Geschichtsphilosophie und Kunsttheorie bei ihm ein reziprokes ohne kausale Präzedenz ist. Die .Geschichtsphilosophie Friedrich Schillers' begründet nicht die ,Historisierung der Poetik', sondern gründet in der wechselseitigen Bestimmung von Geschichts- und Kunsttheorie.

» Vgl. Koselleck 1975 (wie Anm. 10), S. 690. 14 Eine zusammenhängende Interpretation der in dieser Phase entstandenen historischen und ästhetischen Schriften Schillers liegt noch nicht vor. Grundzüge der folgenden Interpretation finden sich in meiner Doktorarbeit: Die Identität der Geschichte. Friedrich Schüler, der Historiker, und die Anfange der modernen Geschichtswissenschaft Phil. Diss. Köln 2000 \Dt. i. Vorb.].

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Bei dem Gedicht Die Künstler handelt es sich um ein erstaunliches Produkt.15 Als Poetik in poetischer Form skizziert es die historische Entwicklung der Kunst von ihren ,naiven' Anfängen über die ,sentimentalische' Gegenwart bis hin zur utopischen Vollendung und ist so gesehen Theorie und Praxis der jSentimentalischen Dichtung' avant la lettre. Der Form nach handelt es sich bei den Künstlern um eine poetische Geschichtsphilosophie, die sich inhaltlich als geschichtsphilosophische Ästhetik erweist. Dabei sind Form und Gehalt des Gedichtes kongruent — ist das, was das Gedicht aussagt, in der Art und Weise des Sagens schon mitgegeben. Insofern kann von einer ,performativen Poetik' gesprochen werden. Diese autopoietische und damit spezifisch moderne Gestalt des Gedichts16 soll im folgenden in systematischer Absicht analysiert werden, um dem inneren Zusammenhang von Kunsttheorie und Geschichtsphilosophie bei Schiller auf die Spur zu kommen. Das Gedicht erzählt eine klassische Fortschrittsgescnichte der Menschheit, deren künstlerisches Schaffen hier Anfang, Mitte und Ende einer im ganzen progressiven Kulturgeschichte bildet. Die Kunst steht dabei von Beginn an in einem Spannungsverhältnis zum Wissen und später zur Wissenschaft, die - obwohl von der Kunst selbst inauguriert - mit dem Beginn der Neuzeit zur Konkurrenz im Anspruch auf die Krone der Kultur wird. Doch letztlich dient die Wissenschaft der Kunst, und aus den Konkurrenten werden Verbündete, deren Gemeinschaft in ferner Zukunft zur utopischen Vollendung der Kultur und damit der Menschheit führt. An die Künstler gewandt, heißt es im Gedicht: Mit euch, des Frühlings erster Pflanze, begann die Seelenbildende Natur, mit euch, dem freud'gen Aerntekranze, schließt die vollendende Natur. Die von dem Thon, dem Stein bescheiden aufgestiegen, die schöpferische Kunst, umschließt mit stillen Siegen des Geistes unermeßnes Reich; was in des Wissens Land Entdecker nur ersiegen, entdecken sie, ersiegen sie für euch. Der Schätze, die der Denker aufgehäufet, 15

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Immer noch grundlegend ist die Untersuchung von Franz Berger: Die Künstler von Friedrich Schiller. Entstehungsgeschichte und Interpretation. Zürich 1964. Für die hier angesprochene Frage nach dem Verhältnis von Geschichtsphilosophie und Ästhetik vgl. die allerdings unbefriedigenden Studien von Malles 1996 und Pelzer 1997. Peter-Andre Alt spricht im Hinblick auf allegorische Form und Gehalt des Gedichts von einer „modern anmutenden Bewußtseinspoesie [...], die ihren historischen Standort genau zu markieren weiß" (Peter-Andre Alt: Begriffsbilder. Studien zur literarischen Allegorie zwischen Opitz und Schiller. Tübingen 1995 [Studien zur deutschen Literatur. 131], S. 614).

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wird er in euren Armen erst sich freun, wenn seine Wissenschaft, der Schönheit zugereifet, zum Kunstwerk wird geadelt seyn [...]"

Die Geschichte, die Schiller hier in verifizierter Form erzählt, ist der klassische Dreischritt von der ursprünglichen Einheit der menschlichen Kultur in einer natürlichen Kunst über ihre notwendige Trennung durch das Wissen bis hin zur erstrebten Versöhnung beider Kultur formen.18 Schiller verdichtet diese geschichtsphilosophische Vorstellung in der Allegorie der Venus Urania und Venus Cypria, die als himmlische und irdische Liebe Wahrheit und Schönheit verkörpern. Das Bild ihrer changierenden Symbiose gibt der Hauptidee des Gedichts poetischen Ausdruck. Danach erscheint die blendende Wahrheit in Gestalt der Venus Urania den ersten Menschen nur im Gewand der Anmut, also als Venus Cypria. Über sie allein gelangt der Mensch zum Wissen. Was erst, nachdem Jahrtausende verflossen, die alternde Vernunft erfand, lag im Symbol des Schönen und des Großen voraus geoffenbart dem kindischen Verstand. (NA l, 202, V. 42-45)

Erst am Ende der Geschichte enthüllt sich dem Menschen die ganze Wahrheit: zuletzt, am reifen Ziel der Zeiten, noch eine glückliche Begeisterung, des jüngsten Menschenalters Dichterschwung, und — in der Wahrheit Arme wird er gleiten. Sie selbst, die sanfte Cypria, umleuchtet von der Feuerkrone steht dann vor ihrem mündgen Sohne enschleyert - als Urania; [...](NAl,213,V.430-436)

Die allegorische Technik, die Schiller hier anwendet, lebt von der Spannung zwischen Bild und Begriff, und genau darum geht es im Gedicht: um das spannungsreiche Verhältnis von Sinnlichkeit und Verstand, Schönheit und

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Die Werke Schiller werden im folgenden zitiert und im Text belegt nach Schillers Werke 1943ff., abgekürzt NA, mit Band und Seitenzahl und evtl. Versangabe (hier: NA l, 212, V. 393-405). Einen Überblick über die Verwendung dieses Musters am Ende des 18. Jahrhunderts gibt Herz 1996, S. 371-381.

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Wahrheit, Kunst und Wissenschaft. Form und Gehalt des Gedichtes stützen sich wechselseitig. Zwei zentrale Probleme prägen Die Künstler. Die geschichfsphilosophische Ästhetik handelt im Kern von der Differenz zwischen Natur und Kultur und ihrer Aufhebung in der vollendeten Kunst. Damit aufs engste verbunden ist die Auflösung der wissenschaftlichen Kultur in der ästhetischen als entscheidender letzter Schritt in einem triadischen Prozeß. Dieses Thema wiederum findet seine kongeniale Gestalt in der allegorischen Form des Gedichts selbst, das philosophische und poetische, bildliche und begriffliche Elemente in einer poetischen Geschichtsphilosophie zu verbinden sucht, ohne sie ineinander aufzulösen. Denn Schiller beschwört zwar die utopische Aufhebung der Wissenschaft in Kunst, befindet sich selbst aber noch in jenem ,sentimentalischen' Stand, der durch die Ausdifferenzierung beider Kulturformen geprägt ist. Schillers allegorischer Lösung im Gedicht, der es um eine wechselseitige Bestimmung von philosophischem Begriff und poetischem Bild geht, entspricht auf der konzeptionellen Ebene eine ,ambivalente Synthese' von Wissenschaft und Kunst in Gestalt einer wissensfundierten Kunst, wie sie das Gedicht Die Kunst/er repräsentiert, und einer kunstvollen Wissenschaft wie der ästhetisch geprägten Geschichtsschreibung und -philosophic Schillers.19 Verfolgt man die Spuren der triadischen Fortschrittskonzeption und der philosophisch-poetischen Sinnbildungstheorie in den geschichtsphilosophischen Werken Schillers, so stößt man schnell auf ein Fundamentalproblem des kulturellen Diskurses der Moderne: die anthropologische Differenz von Körper und Geist, von Sinnlichkeit und Verstand.20 Sie bildet die Grundlage von Schillers historisch-ästhetischen Reflexionen. Dabei kreist sein Denken um die Möglichkeit einer Versöhnung dieser Trennungen durch die Bildung des Menschen zur Humanität. Der psycho-physische Dualismus des Menschen hat sein geschichtsphilosophisches Pendant in der Unterscheidung von Natur- und Kulturgeschichte der Menschheit. Schillers Konzept einer Entwicklung der Menschheit vom Naturzustand über die Kultur bis hin zur Vollendung in einer zweiten Natur,21 das die anthropologische Grunddifferenz geschichtsphiloso19 20

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Vgl. hierzu auch Fulda 1996, S. 234-239. Zum Hintergrund, dem anthropologischen Denken des jungen Schiller und seiner Zeit, vgl. Wolfgang Riedel: Die Anthropologie des jungen Schiller. Zur Ideengeschichte der medizinischen Schriften und der Philosophischen Briefe. Würzburg 1985 (Epistemata. Reihe Literaturwissenschaft. 17). Vgl. Schillers Abhandlung aus dem Jahre 1790, Etwas über die erste Menschengese^chaß nach dem Leitfaden der mosaischen Urkunde. Dort heißt es, der Mensch „sollte den Stand der Unschuld", den er mit dem Ausgang aus dem Naturzustand, d. h. der Lösung vom Instinkt durch den Gebrauch seiner Vernunft, verloren habe, „wieder aufsuchen lernen durch seine Vernunft, und als ein freier vernünftiger Geist dahin zurück kommen, wovon er als Pflanze und als eine Kreatur des Instinkts ausgegangen war; aus einem Paradies der Un-

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phisch aufhebt, geht auf Kants Geschichtsphilosophie zurück.22 Hier wandelt sich die ältere, religiös geprägte Vorstellung des Humanismus von Perfektion zum modernen Fortschrittsbegriff, der transzendental (Perfeknbilität) und temporal (Perfektionierung;) begründet ist:23 Der Mensch ist bestimmt, sich zum Menschen auszubilden. Und diese Bestimmung gründet nicht in Gott, sondern in der geistigen Natur des Menschen, deren Wesensmerkmal Freiheit ist. Sie verwirklicht sich über Zeit und die Auseinandersetzung mit der Notwendigkeit der körperlichen Natur in Form einer Emanzipationsgeschichte der menschlichen Gattung. Doch die triadische Konstruktion des Fortschritts ist nur die eine Seite der Schillerschen Geschichtsphilosophie. Die andere löst die dichotomische Struktur der menschlichen Existenz nicht in einer absoluten Synthese auf, sondern beläßt sie in ihrer Ambivalenz. Kants Antagonismus-Begriff der geselligen Ungeselligkeit' ins Grundsätzliche erweiternd, war Schiller davon überzeugt, daß strukturelle Gegensätze wie Körper und Geist, Freiheit und Notwendigkeit, Individualität und Sozialität etc. die Triebkräfte der Geschichte sind.24 Die Elemente der Gegensätze finden sich in der Geschichte nur im Verbund. Sie existieren nebeneinander, treten in Konkurrenz zueinander, bilden sich zu dominierenden Mustern aus oder gehen vorübergehende Verbindungen ein. Entscheidend ist, daß das dialektische Verhältnis ihrer wechselseitigen Bestimmung stets offen bleibt und so die Veränderungen in der Geschichte hervortreibt. Als eigensinniger Motor des geschichtlichen Geschehens sind die dichotomen Differenzen zugleich funktionale Momente

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wissenheit und Knechtschaft sollte er sich, war es auch nach späten Jahrtausenden zu einem Paradies der Erkenntniß und der Freiheit hinaufarbeiten, einem solchen nehmlich, wo er dem moralischen Gesetze in seiner Brust eben so unwandelbar gehorchen würde, als er anfangs dem Instinkte gedient hatte" (NA 17, 399). In der Abhandlung Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen betont Schiller wenige Jahre später Es sei die Bestimmung des Menschen, die „Totalität in unserer Natur, welche die Kunst zerstört hat, durch eine höhere Kunst wieder herzustellen" (NA 20, 328). Kant hatte in seiner 1786 veröffentlichten Schrift Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte, auf die sich Schiller in seinem Aufsatz berief, bemerkt, daß die Naturanlagen „durch die fortgehende Kultur Abbruch leiden, und dieser dagegen Abbruch tun, bis vollkommene Kunst wieder Natur wird: als welches das letzte Ziel der sittlichen Bestimmung der Menschengattung ist" (Kant 1977d [1786], S. 95). Vgl. hierzu Reinhart Koselleck: Fortschritt. In: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 2, 1975,8.363^23. Vgl. Kant 1977a [1784], S. 37f., und Schülers Aufsatz Etwas über die erste Menschengesellschaß (1790), bes. NA 17, 399-401 u. 403^*06. In der Abhandlung Ueber die ästhetische Ergebung des Menschen heißt es dann prägnant: „Die mannichfaltigen Anlagen im Menschen zu entwickeln, war kein anderes Mittel, als sie einander entgegen zu setzen. Dieser Antagonismus der Kräfte ist das große Instrument der Kultur, aber auch nur das Instrument; denn solange derselbe dauert, ist man erst auf dem Wege zu dieser." (NA 20, 326).

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eines Fortschrittsprozesses, an dessen (utopischem) Ende eine neue Identitätsbildung steht. Das Konzept einer doppelten Dialektik prägt auch die geschichtsphilosophische Poetik von Schillers 1795 und 1796 in den Hören veröffentlichter Abhandlung Ueber naive und sentimentalische Dichtung. Der Gegensatz von ,naiv' und jSentimentalisch' steht dabei sowohl für typologische, zu allen Zeiten vorkommende Unterscheidungen wie die zwischen naiver und sentimentalischer Dichtung oder realistischer und idealistischer Weltanschauung, als auch für eine historische Epochenfolge, die von der natürlichen Kultur der Antike über die künstliche der Moderne zu ihrer zukünftigen Versöhnung fuhren soll.25 Die Geschichte der Literatur stellt Schiller dabei in den Kontext eines allgemeinen Fortschrittsdenkens. Wie der Mensch, sei es als Individuum oder als Gattung, so entwickelt sich die Poesie in Form eines dreistufigen Prozesses: „Die Natur macht ihn mit sich Eins, die Kunst trennt und entzweyet ihn, durch das Ideal kehrt er zur Einheit zurück" (NA 20, 438). Dementsprechend folgt bei Schiller auf die naive Dichtung der Antike, die natürlich und in sich vollendet ist, die sentimentalische der Moderne, die von einer künstlichen Trennung ausgeht und nach deren Versöhnung strebt. Letztere bleibt als „Ideal, in welchem die vollendete Kunst zur Natur zurückkehrt" (NA 20, 473, Anm. *), zwar unerreichbar, bildet aber als Synthese die dritte Stufe der geschichtsphilosophischen Dialektik von naiver antiker und sentimentalischer moderner Dichtung (vgl. NA 20, 473f. u. 438).26 Zugleich betont 25

26

In der Forschung wird die doppelte, historische und systematische, Verwendung der Begriffe des Naiven und Sentimentalischen durch Schiller in der Regel als widersprüchlich angesehen (vgl. Naumann 1979, S. 47-50, Zelle 1995, S. 191, und Werner Frick: Schiller und die Antike. In: Helmut Koopmann [Hrsg.]: Schiller-Handbuch. Stuttgart 1998, S. 91-116, hier S. 107£). Vgl. dagegen Szondi 1978 [1972], S. 96-105, der das Sentimentalische als die Synthese von Natur und Kunst begreift. Szondi behauptet mit dieser Deutung einer Fußnote Schillers (vgl. NA 20, 473, Anm. *) einen Widerspruch in dessen Abhandlung, den er auf eine „progredierende Erkenntnis" des Autors zurückfuhrt (ebenda, S. 104). Gegen diese Interpretation ist festzuhalten, daß Schillers Denken wesentlich kohärenter ist als gemeinhin angenommen. Wenn Schiller davon spricht, daß die naive und sentimentalische „Empfindungsweise, in ihrem höchsten Begriff gedacht, sich wie erste und dritte Kategorie [der transzendentalen Analytik Kants, T. P.] zu einander verhalten" (NA 20, 473, Anm. *), dann meint er damit nicht das Sentimentalische als Streben nach Versöhnung, sondern dessen Erfüllung im Idealischen. Szondi weist zwar zu Recht darauf hin, daß dieses Ideal das Sentimentalische als Naives ist. Um eine Aufhebung' des Gegensatzes von naiver und sentimentalischer Dichtung im „hegelschen Wortsinn" (Szondi 1978 [1972], S. 104) handelt es sich dabei jedoch nicht. Denn für Schiller ist das Ideal eine regulative Idee im Sinne Kants. Die damit bezeichnete Synthese hebt anders als in der Hegelschen Dialektik die Gegensätze nicht in einer fortgeschritteneren Position auf. Geschichtsphilosophisch gesehen handelt es sich beim Ideal der Versöhnung um eine Utopie, die sich zwar nicht verwirklichen läßt, die aber das Handeln so anleitet, als ob dies möglich wäre, und auf diese Weise praktisch wkkt. Auf Hegel weist allerdings die

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Schiller, daß die Unterscheidung zwischen antiker und moderner Dichtung nur eine zufällige wäre, wenn sie bloß auf einer zeitlichen Differenz beruhe. Es handele sich vielmehr um einen wesentlichen „Unterschied der Manier" (NA 20, 437f, Anm. *). Beide Dichtungsarten fänden sich deshalb sowohl in der Antike wie auch in der Moderne, wobei im Altertum die naive und in der Neuzeit die senrimentalische vorherrsche. Allerdings gilt, daß diejenigen Werke „den größten Effekt" erzielen (ebenda), die beide Gattungen in sich vereinen. Sie bilden individuelle, d. h. historisch-relative Synthesen von naiver und sentimentalischer Dichtung aus und sind insofern zeitgebundene Realisierungsformen des Ideals einer absoluten Versöhnung. Als konkrete Erscheinungsformen und relative Muster vollkommener Dichtung sind sie selbst Momente eines sukzessiven Vervollkommnungsprozesses, der wiederum durch die strukturelle Differenz des Naiven und Sentimentalischen vorangetrieben wird. Soweit die inhaltliche Dimension der Schillerschen Geschichtsphilosophie und ihre Bedeutung für die Poetik. Sieht man sich ihre ästhetische Form an, so bewegt auch diese sich im Rahmen der anthropologischen Differenz von Körper und Geist und ist geprägt von dem Versuch, Sinnlichkeit und Verstand mittels einer Synthese von poetischem Bild und philosophischem Begriff zu versöhnen. Das Stilideal der Aufklärung lehnte solche Ansätze als unstatthafte Mischungen von figurativer und diskursiver Sprache ab. In diesem Sinne hat Wieland das Gedicht Die Künstler kritisiert,27 während August Wilhelm Schlegel gerade seine philosophisch-poetische Form bereits 1790 als bahnbrechend gefeiert hat.28 Doch es ging bei dem Ganzen um mehr als reine Stilfragen. Das zeigt der sogenannte H0/?«-Streit zwischen Fichte und Schiller im Jahre 1795.29 Schiller hatte einen Beitrag Fichtes mit der Begründung abgelehnt, es fehle ihm die „Wechselwirkung zwischen Bild und Begriff (NA 27, 202), die allein eine harmonische Ausbildung von Sinnlichkeit und Verstand ermögliche. Diese Auffassung hat Schiller 1795 in der Abhandlung Von den notwendigen Grenzen des Schönen, besonders im Vortrag philosophischer Wahrheiten ausführlich begründet und dort von einem Darstellenden Denken' gesprochen, in dem sich Verstand mit Anschaulichkeit verbinde (vgl. NA 21, 14f.). Fichte sah in dieser Schreib- und Denkart, die auf die ästhetische Erziehung des Menschen zielte, den falschen Ansatz. Bei ihm, erklärte er Schiller, seien philosophische

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29

von Schiller vorgenommene Dynamisierung der trichotomischen Kategorien Kants voraus. Vgl. Schillers Brief an Körner vom 25. Februar 1789 (NA 25,211). Vgl. A.W. Schlegel 1957 [1790]. Friedrich Schlegel hat die Position seines Bruders zwei Jahre später in einer Bemerkung in der Jenaer Allgemeinen Literatur-Zeitung übernommen (vgl. Oskar Fambach: Ein Jahrhundert deutscher Literaturkritik [1750-1850]. Ein Lesebuch und Studienwerk. Bd. 2: Schiller und sein Kreis. Berlin 1957, S. 94). Vgl. hierzu Bräutigam 1997 und Wildenburg 1997.

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und poetische Rede klar getrennt. Das Bild stehe nicht an der Stelle des Begriffs, sondern vor oder nach ihm, als Gleichnis. Beide wechselten sich ab, stünden aber nicht in Wechselwirkung (vgl. NA 35, 231 f.). Dieser Streit aus dem Jahre 1795, der grundsätzliche Probleme des philosophischen Denkens und Schreibens aufwarf, liest sich wie die Wiederholung einer Kontroverse aus der Mitte der 80er Jahre, als Kant in Rezensionen der ersten beiden Bände der Ideen %ur Philosophie der Geschichte der Menschheit von Herder diesem vorwarf, er vermische Philosophisches und Poetisches und setze mehr auf die Bildkraft seiner Phantasie als auf die ,logische Pünktlichkeit' der Begriffe.30 Diese Kritik traf tatsächlich das Verfahren Herders, der allerdings anders als Kant im geistigen Bild den Ursprung der menschlichen Erkenntnis sah und im Begriff nur eine nachgeordnete Erscheinung.31 Schiller dachte ganz ähnlich, wenn er das Schöne als Bild des Wahren und Vermittlerin des Begriffs deutete. „Nur durch das Morgenthor des Schönen", heißt es im Gedicht Die Künstler, „drangst du in der Erkenntniß Land" (NA l, 202, V. 34—35). Und dies galt nach Schillers Überzeugung nicht nur für die Anfänge der Menschheit, sondern für die menschliche Erkenntnis überhaupt. Schiller hat dieses epistemologische Konzept in seiner Jenaer Antrittsrede geschichtstheoretisch umgesetzt. Am Anfang des historischen Bewußtseins und damit des historischen Wissens steht bei ihm eine ästhetische Erfahrung: Der Mensch des 18. Jahrhunderts begreift die Welt im Bild der jGleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen'. Die primitiven Kulturen der neuen Welt erscheinen ihm als „Kinder verschiednen Alters", die „um einen Erwachsenen herum stehen" (NA 17, 364). Das intuitive Erfassen einer historischen Differenz und damit der Geschichtlichkeit des Menschen reflektiert der Verstand und präsentiert es mit Hilfe der Einbildungskraft in ästhetischer Form als zwei „entgegengesetzte Gemälde" von Anfang und vorläufigem Ende der Geschichte, die nach einer vernünftigen Erklärung in Form einer Universalgeschichte der Menschheit verlangen (NA 17, 367). Die wissenschaftliche Erkenntnis setzt an diesem Punkt ein. Der Historiker sammelt die Fakten und bringt sie durch kausale Verknüpfung in einen systematischen Zusammenhang. Doch das reicht dem Sinnbedürfnis des Geistes nicht aus. Denn jetzt meldet sich ein .Trieb nach Übereinstimmung', ein ästhetisches Verlangen, dem es um eine harmonische Deutung der kausalen Kette als ideologische Einheit geht. Dieser Vorgang ist konstruktiv und wesentlich philosophisch-poetischer Natur. Der Historiker, so Schiller, „nimmt also diese Harmonie aus sich selbst heraus, und verpflanzt sie ausser sich in die Ordnung der Dinge d. i. er bringt einen vernünftigen Zweck in den Gang der Welt und ein ideologisches Prinzip in die Weltgeschichte" (NA 17, 374). Auf diese Wdse entsteht Geschichte als Sinn. 3° Vgl. Kant 1977b [1785], S. 781 u. 793f., und Kant 1977c [1785], S. 799f. 3» Vgl. Herder 1989 [1784-1791], S. 181-183, und Herder 1994c [178 , S. 635-631.

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III. Die historisch-ästhetische Bildung der Moderne Nach Schiller ist es der Sinn der Geschichte, daß der Mensch sich in der Gattung zum Menschen bildet. Indem der Historiker die Geschichte als Verwirklichung dieses geistigen Prinzips deutet, begründet er die bildende Wirkung seiner philosophisch-poetischen Geschichtsschreibung und gestaltet auf diesem Wege zugleich die geschichtliche Wirklichkeit im Sinne des von ihm selbst konstruierten Fortschrittsbegriffs. Die historische Bildung funktioniert dabei auf eine ähnliche Weise wie die ästhetische Erziehung: Sie verändert den Menschen durch die Erzeugung schönen Scheins. Die Geschichte, stellte Schiller in seiner Jenaer Antrittsrede fest, gewöhne den Menschen daran, „sich mit der ganzen Vergangenheit zusammen zu faßen, und mit seinen Schlüssen in die ferne Zukunft voraus zu eilen: so verbirgt sie die Grenzen von Geburt und Tod, die das Leben des Menschen so eng und so drückend umschließen, so breitet sie optisch täuschend sein kurzes Daseyn in einen unendlichen Raum aus, und führt das Individuum unvermerkt in die Gattung hinüber" (NA 17, 375), bildet also die Humanität im einzelnen Menschen aus. Den solcherart historisch Gebildeten aber ergreift ein „edles Verlangen", einen Beitrag zum Fortschritt der Menschheit zu leisten und durch eine die Welt im Sinne des Ganzen gestaltende Tat „wahre Unsterblichkeit" zu erlangen (NA 17,376). Ein verwandtes Konzept findet sich bereits bei Kant, der seine Geschichtsphilosophie als eine Idee ansah, die zu ihrer eigenen Verwirklichung beiträgt. Nicht zufällig nannte Kant dieses Phänomen einen „Chiliasmus der Philosophie"32 und setzte die Menschheit damit an die Stelle Gottes als eine sich reflektierend und agierend selbst erschaffende und erhaltende Einheit, so daß hier von einer subjektphilosophisch begründeten Urform des Konzepts eines autopoietischen Systems der (Welt-)Gesellschaft gesprochen werden kann. Das moderne Geschichtsbewußtsein erweist sich hier als das Bewußtsein einer sich selbst in der Geschichte hervorbringenden (bürgerlichen) Moderne. Die ,Bildung' in dem oben skizzierten dreifachen Sinne von Erzeugung, Erziehung und Entwicklung ist die zeitgenössische Chiffre für dieses Phänomen und integriert neben den historischen, ästhetischen und anthropologischen auch ethische, pädagogische und religiöse Motive zu einem neuen Denken.33 Paradigmatische Gestalt gewinnt dieses Bildungskonzept in Schillers Briefen Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen. Geschichtsphilosophie und Ästhetik verbinden sich hier auf anthropologischer Grundlage zu einer 32 Kant 1977a [l784], S. 45. Zur Entstehung des Bildungsbegriffs und seiner Bedeutung im Kontext des kulturellen Diskurses um 1800 vgl. Georg Bollenbeck: Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters. Frankfurt a. M. 1996 (st. 2570), S. 96-159.

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Einheit. Nicht nur begründet Schiller im Rahmen einer transzendentalen Anthropologie die Ästhetik einer Bildung des Menschen geschichtsphilosophisch als triadischen Fortschrittsprozeß, in dem dann auch die Formen der naiven und sentimentalischen Dichtung ihren Platz haben.34 Er tut dies zudem in einer ästhetischen Form, die er in seiner Abhandlung Ueber die nothwendigen Gren^n beim Gebrauch schöner Formen als Synthese von poetischen Bildern und philosophischen Begriffen begründet hat. In gewisser Weise sind die Briefe Ueber die Erziehung des Menschen das philosophische Pendant zur performativen Poetik der Künstler, deren programmatischen Ansatz sie in veränderter Form, aber mit derselben Tendenz fortsetzen. Die geschichtsphilosophischen Reflexionen des Historikers Schiller sind in diesem Zusammenhang weniger als eine Vorstufe der ästhetischen Theorie oder als deren Derivat anzusehen, sondern bilden vielmehr einen integralen Bestandteil der anthropologisch begründeten und historisch-ästhetisch durchgeführten Bildungskonzeption Schillers. Die von Schiller vorgenommene Vermittlung von Geschichtsdenken und Kunsttheorie stand in einer Tradition, die bis ins späte 17. Jahrhundert zurückreichte und zentrale Bedeutung für die Ausbildung eines modernen (Selbst-)Bewußtseins hatte. In der um 1700 vor allem in Frankreich, aber auch in England und Deutschland ausgetragenen ,Querelle des Anciens et des Modernes' führte der Streit darüber, ob den antiken oder den modernen Künsten (und Wissenschaften) der Vorrang gebühre, nicht nur zur Ausbildung eines historisch relativierten Schönheitsbegriffs, sondern auch zur Entwicklung einer ästhetisch geprägten Fortschrittsvorstellung.35 Die Ausläufer dieser Debatte wirkten über Johann Joachim Winckelmanns 1764 erschienene Geschichte der Kunst des Altertums bis in die deutsche Spätaufklärung hinein.36 Es war Herder, der Winckelmanns Impuls aufnahm und zu einer alle Bereiche der menschlichen Bildung durchdringenden Synthese von historischem und ästhetischem Denken ausbaute, die den Diskurs um 1800 grundlegend prägte.37 Bereits Mitte der 70er Jahre legte Herder mit seiner Schrift Auch eine Philosophie der Geschichte %ur Bildung der Menschheit nicht nur eine bildungsonentierte und ästhetisch geformte Geschichtsphilosophie vor, sondern entwickelte in deren Kontext auch erste Ansätze einer geschichtsphilosophischen

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Vgl. den sechsten Brief Ueber die ästhetische Ergebung (NA 20, 321-328) und die historisch-systematische Bestimmung der beiden Dichtungsarten in der Abhandlung Ueber naive und sentifaentaäsche Dichtung (NA 20, 436-442). Vgl. hierzu Krauss 1966, Jauß 1964 und Zelle 1995, S. 74-103. Zur deutschen .Querelle' vgl. Kapitza 1981. Zur Bedeutung Winckelmanns für Herders Verständnis von Geschichtsphilosophie und Ästhetik vgl. Herder 1993a [1767/68] sowie Szondi I 1974, S. 21-64, und Naumann 1979,8.11-21.

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Ästhetik.38 Das Verhältnis von Antike und Moderne rückte dabei in den Horizont einer Geschichte der Menschheit und erhielt so eine universale Bedeutung. Indem Herder die Bestimmung des Menschen als Bildung zur Humanität deutete, brachte er zudem ein geistiges Prinzip in den Geschichtsverlauf,39 dem eine konstruktivistische Auffassung der historischen Erkenntnis in Form einer ästhetisch geprägten Sinnbildung korrespondierte.40 Diese im Kern idealistische Geschichtsauffassung, die der seines vermeintlichen Antipoden Kant durchaus verwandt war, prägte auch die geschichtsphilosophische Poetik, die Herder in der 1796 veröffentlichten siebten und achten Sammlung seiner Briefe %ur Beförderung der Humanität entwarf. Ähnlich wie Schiller deutete er hier die Dichtung der Moderne im Unterschied zur antiken als eine reflexive Kunstform und stellte sie in den Kontext einer triadisch strukturierten und durch Gegensätze angetriebenen Bildungsgeschichte der Menschheit. Gegen alle Formen einer kategorialen Geschichts- und Kunstauffassung beharrte Herder jedoch auf der Mannigfaltigkeit und dem Eigensinn der geschichtlichen Erscheinungen.41 Die Betonung des historisch Besonderen und Mannigfaltigen verdeckte die philosophische Konzeptualisierung der Geschichte der Literatur bei Herder, so daß eine jüngere, durch Kant und Fichte geprägte Generation Herder vor allem das Fehlen eines leitenden Prinzips vorwerfen und damit seinen Einfluß auf ihre eigenen Synthesen von Geschichtsphilosophie und Kunsttheorie verdecken konnte. Besonders streng ging Friedrich Schlegel mit Herder ins Gericht. Der siebten und achten Sammlung der Humanitätsbriefe, lautete sein Vorwurf, fehlten ein Begriff von ihrem Gegenstand, wodurch das Ganze fragmentarisch bleibe. Der „interessante Kampf des Alten und des Neuen", erklärte Schlegel, „in welchem die beiden Hauptteile der Geschichte der Menschheit sich begegnen und scheiden - man könnte ihn einen bürgerlichen Krieg im Reiche der Bildung nennen - wird hier nur aus seinen äußern Veranlassungen erklärt: aus seinen innern Gründen könnte es auch erst dann geschehen, wenn die Begriffe des Antiken und Modernen schon fixiert und aus der menschlichen Natur selbst hergeleitet wären".42

M Vgl. Herder 1993b [1773], Herder 1994a [1774] und Herder 1994b [1775] sowie Seeba 1985, Fischer 1991 und Herz 1996, bes. S. 331-390. - Zu Herders Historisierung von ästhetischen Normen vgl. auch den Beitrag von SILVIA SERENA TSCHOPP (Abschnitt III). 39 Vgl. Herder 1989 [1784-1791], bes. S. 336-345. to Vgl. Fulda 1996, S. 194-224. 41 Vgl. Herder 1991 [1793-1797], S. 535, 538f. u. 577f., sowie Hans Dietrich Irmscher Herders Humanitätsbriefe. In: Herder 1991, S. 809-840, bes. S. 826-830, und Herz 1996, S. 371-381. « Vgl. Schlegel 1967 [1796], S. 48.

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Als Schlegel dies schrieb, hatte er selbst schon eine geschichtsphilosophische Poetik verfaßt, die praktisch parallel zu Schillers Abhandlung Lieber naive und sentimentalische Dichtung und Herders siebenter und achter Sammlung der Briefe %ur Beförderung der Humanität 1795 entstand, jedoch erst 1797 unter dem Titel Über das Studium der griechischen Poesie veröffentlicht wurde. Ähnlich pointiert wie Schiller, im Detail allerdings sehr viel genauer und insofern dem historisierenden Verfahren Herders folgend,43 stellte er der natürlichen Dichtung der Antike die künstliche der Moderne gegenüber. Während jene in sich vollendet gewesen sei, strebe diese nach Vervollkommnung. Schlegels Ideal war eine Dichtung, deren ideeller Gehalt einen natürlichen Ausdruck findet und damit antike und moderne Muster in sich vereint.44 Die Grundzüge der damit verbundenen triadischen Geschichtsauffassung hatte Schlegel im Umfeld seines Studium-Aufsatzes in einer kleinen Skizze mit dem Titel Vom Wert des Studiums der Griechen und Körner entwickelt. Dort deutete er Antike und Moderne als zwei aufeinanderfolgende Formen eines Bildungsprozesses der Menschheit, der von dem Gegensatz von Freiheit und Notwendigkeit angetrieben wird. Der geschichtsphilosophische Entwurf selbst besaß für Schlegel ästhetischen Charakter, verbanden sich in ihm doch nicht nur wie in der Dichtung Anfang, Mitte und Ende, sondern auch wie beim Kunstwerk Teil und Ganzes zu einer in sich harmonischen und sinnvollen Einheit.45 Um das Jahr 1795 verdichtete sich eine Entwicklung, die Herder in den 70er Jahren in Gang gesetzt hatte. Der Gegensatz von Antike und Moderne erhielt im Kontext einer Geschichte der Menschheit nicht nur eine universale, sondern als Moment eines ideologisch konstruierten Bildungsprozesses auch eine idealistische Bedeutung. Diese Neudeutung eines alten Konkurrenzverhältnisses führte in Verbindung mit der im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts in Deutschland einsetzenden Selbstaufklärung der Aufklärung zur Ausbildung eines ,modernenc Modernitätsbewußtseins.46 Dessen mentale Substruktur war geprägt von einer allgemeinen Rehabilitierung der Sinnlichkeit', mit der historisches und ästhetisches Denken ins Zentrum des kulturellen Diskurses rückten.47 Beide Wissensformen verbanden sich im Kontext der Debatte über die Bedeutung der Moderne in ihrem Verhältnis zur Antike zu einer ,ambivalenten Synthese' von geschichtsphilosophischer Ästhetik und ästhetischer Geschichtsphilosophie. Die einflußreichen Werke von Herder,

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Zur Bedeutung Herders für die Brüder Schlegel vgl. Behler 1993 [1990]. « Vgl. Behler 1982, S. 80-86 u. 89-103. 45 Vgl. Schlegel 1979a [1795/96] sowie Bräutigam 1994, S. 207-212, und Zelle 1995, S. 223-236. 46 So gesehen kann man nicht wie Jauß 1970 von einer ,Replik' der französischen ,Querelle' sprechen. 47 Vgl. Panajotis Kondylis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus. München 1986 [EA 1981] (dtv. 4450), bes. S. 537-649.

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Schiller und Schlegel zeigen, daß dies auf der Grundkge eines umfassenden Bildungsbegriffs geschah. Die Ausläufer dieses idealistisch geprägten Diskurses reichten bis Hegel. Auch bei ihm findet sich die typische doppelte Vermittlung von Geschichtsphilosophie und Ästhetik,48 das Bildungsprinzip sowie die triadische Dialektik.49 Doch anders als Herder, Schiller oder Schlegel deutete Hegel das Verhältnis von Geschichte und Kunst und damit die Bildung der Moderne nicht mehr im prinzipiell offenen Horizont des anthropologischen Denkens der Aufklärung, sondern vom Standpunkt einer in sich geschlossenen Philosophie des (absoluten) Geistes,50 die den Diskurs (der Vorgänger) von seinem logischen und genetischen Ende her zu denken und damit zu vollenden beanspruchte. Hegels Sichtweise hat knge Zeit die Deutung des Verhältnisses von Geschichtsphilosophie und Poetik um 1800 dominiert.51 De facto ist sie jedoch nur eine Perspektive unter anderen und kein Paradigma für alle. Allerdings ist es möglich, von ihr aus die paradigmatische Dimension des Diskurses zu erschließen.52 Das gleiche gilt für Schiller.

TV. Auswahlbibliographie 1. Quellen Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse. Bd. 3. Frankfurt a. M. 1986a [EA 1830] (Werke. 10). Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über Ästhetik. Bd. 1-3. Frankfurt a. M. 1986b (EA 1835] (Werke. 13-15). Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. Frankfurt a. M. 1986c [EA 1840] (Werke. 12). Herder, Johann Gottfried: Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. Beitrag zu vielen Beiträgen des Jahrhunderts [EA 1774]. In: Ders.: Werke. Bd. 4: Schriften zur Philosophie, Literatur, Kunst und Altertum 177448

Darauf hat bereits Hayden White hingewiesen (vgl. White 1991, S. 116-120). Vgl. zudem dessen breit angelegte Analyse der ästhetischen Strukturen der Hegeischen Geschichtsphilosophie (White 1991, S. 111-175, bes. 116-120). Zur geschichtsphilosophischen Dimension der Hegeischen Ästhetik und ihrer Entwicklung vgl. GethmannSiefert 1984. 49 Vgl. Hegel 1986c [1840], S. 74-78, sowie Hegel 1986b [1835], Bd. l, S. 389-392, u. Bd. 3, S. 534-538. 50 Geschichte und Kunst werden hier zu Erscheinungsformen der (Selbst-)Bildung des Geistes (vgl. Hegel 1986a [1830], S. 347-372). 51 Vgl. Szondi 1974 I, S. 249, Naumann 1979, S. 104, und Schlaffer 1975, S. 36. 52 Wie die Verschränkung von Geschichtsphilosophie und Ästhetik in der .Moderne' der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts fortgesetzt wird, wenngleich z.T. unter verkehrten Vorzeichen, erläutern die Beiträge von LINDA SIMONIS (Abschnitt II zu Walter Benjamin) sowie GREGOR STREIM (Abschnitte II u. V zu Oswald Spengler u. Rudolf Borchardt).

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DANIEL FULDA Goethezeitliche Ästhetik und die Ermöglichung einer textuellen Repräsentation der ,Geschichtec. Zur Genese einer symbolischen Form L II.

Die Geschichte als Begriff des 18. Jahrhunderts Zur Mühe der deutschen Aufklärungshistorie, Geschichte zu schreiben

299 301

III.

Das Angebot der Literatur

303

IV. V. VI. VII.

Geschichtsschreibung, -forschung, -Wissenschaft Geschichte in Symbolen: Die Wirkung der goethezeitlichen Ästhetik .Nach' dem Historismus: Verabschiedung oder Persistenz des Symbols? Auswahlbibliographie

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[...] um 1800 erscheinen einige zentrale Texte: solche, die unsere Textproduktion bis heute bestimmen; in denen Probleme formuliert werden, die unsere Probleme sind. Um 1800 heißt immer - immer vergeblich?-, versuchsweise zu historisieren, was sich nicht historisieren läßt, weil es ,uns selbst' auf den Monitor bringt. Um 1800 thematisieren, heißt daher immer auch: sich dem auszusetzen versuchen, was sich jenseits des eigenen Wissens und der ihm eigenen Verfahrensweisen findet, was diesem Wissen nicht verfügbar und nicht einfügbar ist [.. .J.1

I.

Die Geschichte als Begriff des 18. Jahrhunderts

Zu den wichtigsten Neuerungen der jSattelzeit', dem Übergang von der alteuropäischen zur ,modernen' Gesellschaft um 1800, gehört die Herausbildung und Etablierung einiger Begriffe, die sich durch ihre Fähigkeit auszeichnen, eine Vielzahl verstreuter Erscheinungen als kontinuierliches Ganzes zu präsentieren. „Kollektivsingulare" hat Reinhart Koselleck diese Begriffe genannt, zu denen beide Definienten des im vorliegenden Band umrissenen Forschungsbereichs zählen: ,die Geschichte' ebenso wie ,die Georg Stanitzek: Brutale Lektüre, „um 1800" (heute). In: Vogl 1999, S. 249-265, hier S. 249.

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Literatur'.2 Diese und andere Kollektivsingulare integrieren, was in einer von der Erfahrung beschleunigter Veränderung geprägten Welt, in der das Wißbare beständig wächst, dem verstehenden Zugriff zu entgleiten droht. In der modernen Welt kommt oder — hier muß mitderweile vielleicht eingeschränkt werden3 — kam ihnen daher eine kaum zu überschätzende kognitive wie lebenspraktische Funktion zu. Es gehört zu ihrer weltbildlichen Grundlegungsfunktion, daß die Wahrnehmungsstruktur, die solche Begriffe uns vermitteln, wenig hinterfragt, vielmehr als selbstverständlich angesehen wird. Daß ,Geschichte' keine objektiv gegebene Entität, sondern ein kontingenter, da .historisch' herausgebildeter und semantisch instabiler Begriff ist, gehört kaum zum kulturellen Wissen, bildet aber die Prämisse der aktuellen ,Geschichte als Literatur'-Forschung. Es geht dabei nicht um die Ereignisqualität oder die Faktizität vergangenen Geschehens als des Substrats des Integrationskonzepts Geschichte, denn die werden von der Frage nach dem epistemologischen Status und der Genese des Geschichtsbegriffs kaum berührt und erst recht nicht angegriffen. Es geht auch nicht allein um unterschiedliche Geschichtsbilder — linear oder zyklisch, fortschritts- oder verfallsorientiert, und wie die möglichen Typologien alle lauten —, ebensowenig nur um wechselnde Konfigurationen von historiographischen oder literarischen Texten (tragisch, komisch, satirisch usw.).4 All dem vorgeordnet ist die Frage nach der Konstituierung eines historischen Denkens, das alle Vergangenheit prozeßhaft mit der Gegenwart verbunden und in eine Zukunft führen sieht. Und das Interesse daran ist Reinhart Koselleck: Einleitung. In: Geschichtliche Grundbegriffe 1972-97, Bd. l, S. XIII-XXVII, hier S. XVII. Während die Unterscheidung der einen Geschichte von den vielen einzelnen Geschichten als Produkt des späten 18. Jahrhunderts weithin bekannt geworden ist, hat .Literatur' bislang wenig begriffsgeschichtliche Beachtung gefunden. Um 1770 zum „umfassenden Objektbegriff' transformiert, verbreitete sich der einerseits auf .schöne Literatur' verengte, andererseits zur „Voraussetzung aller individuellen literarischen Werke" transzendentalisierte Begriff seit Beginn des 19. Jahrhunderts (vgl. Weimar 1988, S. 17, das erste Zitat ebenda, S. 14, das zweite bei Cornelia Blasberg: Erschriebene Tradition. Adalbert Stifter oder das Erzählen im Zeichen verlorener Geschichten. Freiburg i. Br. 1998 [Litterae. 48], S. 258). Weimar betont das Auseinandertreten von literarischer Produktion und der gelehrten Beschäftigung damit (ebenda, S. 20), das der Begriff markiere. Demzufolge ließe sich der Begriff .Literatur' nur eingeschränkt mit dem der .Geschichte' vergleichen, die sowohl vergangenes Geschehen als auch dessen Erforschung meint. Freilich kann .Literatur' auch das .Schreiben über' Poesie bezeichnen (.Forschungsliteratur'), so daß sich diese Differenz abschwächt - zumal angesichts der gegenwärtigen Tendenz zur Aufhebung der TextKommentar-Dichotomie in der Literaturwissenschaft. Seit der ,Postmoderne'-Diskussion markiert die .Sattelzeit' um 1800 nicht mehr unbedingt den semantischen Wandel zu, wie Koselleck schreibt (wie Anm. 2, S. XV), „unserer" Auffassung; vgl. Berkhofer 1995, der seine geschichtstheoretischen Überlegungen „Beyond the Great Story" betitelt. Vgl. White 1991 [1973].

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keineswegs nur historisch — weder im disziplinären noch im methodischen Sinne —, sondern kulturwissenschaftlich, denn es richtet sich auf die Genese eines Grundbegriffs unserer Weltwahrnehmung vom individuellen Selbstbewußtsein über gesellschaftliche Entwürfe bis hin zur hochspezialisierten Wissenschaft sowie auf die Faktoren, die ihn geprägt haben. Wie Kosellecks begriffsgeschichtliche Studien gezeigt haben, verdankte sich der im 18. Jahrhundert herausgebildete, integrative Geschichtsbegriff einer „Verschränkung von Poetik und Historik":5 Während die Literatur sich zunehmend dem Anspruch historischer Wirklichkeit oder zumindest Wahrscheinlichkeit stellte, orientierte sich die Historic an der, aristotelisch gesprochen, allgemeineren Wahrheit der Dichtung, an deren Ganzheit und innerer Pkusibilität.6 Die handlungslogische Konsistenz und Suffizienz, die den poetischen mythos seit alters auszeichnete, wurde nun auch von der Geschichtsschreibung verlangt und von dort auf deren Gegenstand, den Geschehenszusammenhang der ,Geschichte' übertragen.7 Dies sei als erster Schritt zu einer ,Poetisierung der Geschichte' bezeichnet, wenngleich die Formulierung mit Genitivobjekt - Poetisierung der Geschichte - ein wenig in die Irre führt, da es sich nicht um die nachträgliche Gestaltung einer vorgegebenen Entität handelte. Geschichte nach literarischem Muster zu denken, hatte vielmehr konstitutive Bedeutung: Erst indem das Ganze der Vergangenheit in einem emphatischen Sinn, nämlich im Sinne dichterischer Verdichtung als Text gedacht wurde, gewann es die uns geläufige Form der einen Geschichte.

II. Zur Mühe der deutschen Aufklärungshistorie, Geschichte zu schreiben Eine zweite — noch keineswegs entschiedene — Frage war, wie sich diese neuartige Geschichte historiographisch repräsentieren ließ. Wie hatte der Historiker (oder wer sonst mit ihr umging) zu verfahren, um die Totalität, Kontinuität und Irreversibilität, die der Kollektivsingular .Geschichte' semantisch impliziert, darzustellen, sei es in einer Universalgeschichte, sei es in sogenannten Spezialgeschichten? Nachdem die hiesige Historiographieforschung die seit den 1970er Jahren wiederentdeckte Historic des 18. Jahrhunderts zunächst fast ausschließlich unter dem Gesichtspunkt ihrer Wissenschaftlichkeitsgewinne betrachtet hat,8 rückt neuerdings ebendiese Frage nach der

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Vgl. Reinhart Koselleck: Geschichte, Historic V—VII. In: Geschichtliche Grundbegriffe 1972-97, Bd. 2, S. 647-718, hier S. 661. Vgl. ebenda, S. 660. Vgl. ebenda, S. 663. Vgl. Hammer/Voss 1976 (eine Ausnahme bildet hier der Beitrag von Rudolf Vierhaus: Geschichtsschreibung als Literatur im 18. Jahrhundert, S. 416-431), Dreitzel 1981, Bö-

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Repräsentation von Geschichte und ihren textuellen Verfahren in den Vordergrund.9 Von dem Bestreben geleitet, Geschichtsschreibung zu einer Wissenschaft zu erheben, orientierten sich die führenden Historiker der deutschen Aufklärung am System-Ideal der rationalistischen Philosophie:10 Um der totalen Vernetzung, die der Geschichtsbegriff implizierte, gerecht zu werden, müsse der Geschichtsschreiber das ,System' von Ursachen und Wirkungen rekonstruieren, in dem der Zusammenhang der jeweils erforschten Teil-Geschichte gründe.11 Zu erzählen, d.h. weniger mit expliziten Kausalerklärungen als mit kulturell konventionalisierten Deutungsmustern zu arbeiten, galt dagegen als eine zu überwindende Schwäche der rhetorischen Historiographietradition.12 Im internationalen Vergleich führte das auf einen deutschen Sonderweg, der sich aus den unterschiedlichen kulturellen Voraussetzungen erklärt: Während eine literarisch und rhetorisch durchgestaltete Geschichtsschreibung in Westund Südeuropa stets gepflegt wurde, lag es im nationalliterarisch weitaus weniger entwickelten deutschen Rahmen - das betraf das stilistische Repertoire ebenso wie Büchermarkt und Publikum — und zumal an der Universität als wichtigster Trägerinstitution der hiesigen Aufklärungshistorie näher, (rhetorische) ,Kunst' durch .Wissenschaft' zu ersetzen.13 Das Verhältnis der deutschen Aufklärungshistorie zur neuartigen .Geschichte' läßt sich wie folgt zuspitzen: Die universale Qualität von ,Geschichte' diskursiv zu bewältigen war Zentrum ihrer Bemühungen14 — und das, woran sie scheiterte. Bereits die Zeitgenossen beklagten das Mißverhältnis

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deker u.a. 1986, Hardtwig 1990, S. 58-91, und vor allem Blanke 1991, S. lllff.; zur Diskussion: Küttler/Rüsen/Schulin 1993-1999, Bd. 2 (1994). Vgl. Gottlob 1989; Fulda 1996c; Gerrit Walther: Der „gedrungene" Stil. Zum Wandel der historiographischen Sprache zwischen Aufklärung und Historismus. In: Oexle/ Rüsen 1996, S. 119-137; Ulrich Muhlack: Geschichtsschreibung als Geschichtswissenschaft. In: Küttler/Rüsen/Schulin 1993-99, Bd. 3 (1997), S. 67-79. Vgl. Gatterer 1767c, S. 10-12; Pandel 1990, S. 52; Fulda 1996c, S. 59-76. Vgl. Gatterer 1767b, S. 80; Schlözer 1990 [1772/73], S. 18f. (mit Bezug auf die Universalgeschichte); Maier 1796, S. 168-172. Vgl. Hartmann 1774, S. 196; vgl. dagegen noch Chladenius 1985 [1752], S. 271. Auf einen überholten Forschungsstand fällt die ansonsten gründliche Studie von Viktor Lau zurück, wenn sie in der Historik der Göttinger einen theoretischen „Durchbruch" zu „narrativen Darstellungsformen" erblickt (vgl. Lau 1999, S. 105f., das Zitat S. 525). Vgl. Georg G. Iggers: The European Context of Eighteenth-Century German Enlightenment Historiography. In: Bödeker u.a. 1986, S. 225-245. Schlözer, der führende Göttinger Historiker, sang noch in den 1790er Jahren, als Johannes von Müller und Schiller schon recht erfolgreiche Narratisierungsversuche unternommen hatten, das Lob gelehrter Kompendien: „[kjeine einzige der übrigen Nationen hat dergleichen; wol haben sie merere und bessere historische LeseBücher für GeschichtLiJir, die sich blos amüsiren wollen" (Schlözer 1797, S. III). Vgl. Gatterer 1767b, S. 85; Schlözer 1990 [1772], S. l f.

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zwischen den zahkeichen, immer wieder umgestellten Weltgeschichtsf«/wütfen und dem Mangel an geschriebenen Geschichten.15 Ursache für diese historiographische Schwäche scheint eine grundsätzliche, epistemologische Fehlentscheidung gewesen zu sein: der Versuch, die poetischen' Konstituenten des neuen Kollektivsingulars .Geschichte' bei deren Darstellung auszuschließen, also weder der .Einbildungskraft' Raum zu geben, damit die historiographische Rekonstruktion sich von der Perspektive der Quellen lösen kann, noch das Erklärungs- und Geschehensintegrationsmuster des narrativen Plots zuzulassen.16 Das Systemmodell überforderte jedoch die Möglichkeiten historiographischer Forschung und Darstellung. Diesen Schluß legt jedenfalls sowohl der Vergleich mit gelungener Geschichtsschreibung — zeitgleich in Westeuropa oder später in Deutschland — nahe als auch eine Parallelanalyse .pragmatischer' Romane, die ähnlich mechanistisch verfuhren und deren narrative Brüche ebenfalls dafür sprechen, daß das „Postulat einer lückenlosen Verbindung von Ursachen und Wirkungen zu einer geradezu textilen Verflechtung eines Ganzen [...] von Anfang an ein nicht zu bewerkstelligendes Ideal" darstellte.17

III. Das Angebot der Literatur Das Scheitern der programmatisch antiliterarischen Aufklärungsgeschichtsschreibung verweist ex negative noch einmal auf die untrennbare genetische Zusammengehörigkeit von .Geschichte' und .Literatur'. Um .die Geschichte' nicht allein zu denken, sondern auch repräsentieren zu können, lag es in dieser Situation nahe, einen zweiten Schritt der Poetisierung oder — wie man diskurs- oder funktionssystemneutraler sagen könnte — Ästhetisierung zu tun.18 Der neue Geschichtsbegriff bildete keine hinreichende Bedingung für 15

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H.J.U.: Schreiben aus D... an einen Freund in London über den gegenwärtigen Zustand der historischen Litteratur in Teutschland. In: Der Teutsche Merkur 2 (1773), S. 247-266, hier S. 253f. Eine Ausnahme davon scheint Gatterers Forderung nach .anschaulicher' Darstellung zu machen (vgl. Gatterer 1767c; Saul 1984, S. 16-23). Allerdings handelt es sich hierbei nicht um eine poesieanaloge Konstruktion von Geschichte, sondern um die sekundäre .Einkleidung' bereits gewonnener Erkenntnisse in der Tradition der rhetorischen Evidenzforderung. Vgl. dazu den Beitrag von JOACHIM SCHARLOTH (Abschnitt IV). Vgl. Blanckenburg 1965 [1774]; Walter Erhart: Entzweiung und Selbstaufklärung. Christoph Martin Wielands ,.Agathon"-Projekt. Tübingen 1991 (Studien zur deutschen Literatur. 115), S. 160-187; Allkemper 1990, S. 19-37. Das Zitat bei Christian Berthold: Fiktion und Vieldeutigkeit. Zur Entstehung moderner Kulturtechniken des Lesens im 18. Jahrhundert. Tübingen 1993 (Communicatio. 3), S. 117. Der Begriff des Ästhetischen bezeichnet hier nicht allein Eigenheiten der Kunst, sondern Erscheinungen, Verfahren und Denkweisen auch anderer Diskurse bzw. Funktionssysteme, z. B. des kognitiven (vgl. Wolfgang Welsch: Vernunft. Die zeitgenössische

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Darstellungen - seien es literarische oder wissenschaftliche -, die seinen konzeptuellen Implikaten (Kontinuität, Totalität, Gerichtetheit) Ausdruck zu geben vermögen. Was er verlangte, nicht aber zugleich auch vermittelte, waren die prinzipielle Möglichkeit ebenso wie die konkreten Modi, .Geschichte' nicht nur zu denken, sondern auch zu schreiben. Die Formulierung ,zweiter Schritt' schematisiert den Sachverhalt fast unzulässig, handelt es sich doch um einen etwa von 1770 bis 1830 sich hinziehenden, keineswegs linearen oder einsträngigen Prozeß. Die folgenden Bemerkungen können deshalb nur Akzente setzen; zudem vereindeutigt meine leitende Perspektive zahlreiche ,an sich' ambivalente Einzeldaten, wenn sie, was auch oder sogar primär ein religiöser,19 anthropologischer,20 naturphilosophischer21 oder gesellschaftlich-politischer22 Impuls war, nur in seinen ästhetisierenden Folgen berücksichtigt. Als wichtigste Faktoren des genannten Ästhetisierungsprozesses sind die poetologischen und sprachtheoretischen Überlegungen Herders, die epistemologischen wie historiographischen Bemühungen Schillers um eine Verschränkung von ,Wissenschaft' und ,Kunst', die hermeneutisch reflektierte Literaturgeschichtsschreibung Friedrich Schlegels sowie die poietische Hermeneutik Wilhelm von Humboldts zu nennen.23 Bei der Aufnahme dieser Tendenzen durch den jungen Ranke, den späteren Begründer der historistischen Geschichtswissenschaft, spielte zudem Goethe als Dichter und ästhetische Autorität eine zentrale Rolle. Die genannten Autoren verbindet, daß sie überzeugende Begründungen dafür bereitstellten, Geschichte wie einen literarischen Text zu begreifen, und deren Wissenschaft ästhetische Denkweisen nahelegten. Das erschloß der Ge-

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Vernunftkritik und das Konzept der transversalen Vernunft. Frankfurt a. M. 1996 [stw. 1238], S. 461-512). Gleichwohl stehen eine Kunstgattung, die Literatur, und der sie begleitende Reflexionsdiskurs im folgenden im Zentrum, denn von ihnen gingen die Anstöße zur Ästhetisierung der Geschichtsschreibung zumeist aus. Vgl. Hinrichs 1954 sowie, allgemeiner: Wolfgang Braungart, Gotthard Fuchs u. Manfred Koch (Hrsg.): Ästhetische und religiöse Erfahrungen der Jahrhundertwenden. Bd. 1: um 1800. Paderborn u.a. 1997. Als Überblick über eine in den letzten Jahren sehr lebhafte Forschung vgl. Wolfgang Riedel: Anthropologie und Literatur in der deutschen Spätaufklärung. Skizze einer Forschungslandschaft. In: Internationales Achiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur. Sonderh. 6 (1994), S. 94-157. Vgl. Peter Hanns Reill: History and the Life Sciences in the Early Nineteenth Century. In: Iggers/Powell 1990, S. 21-35. Vgl. Hardtwig 1997. Vgl. Seeba 1985; Fulda 1996c, S. 183-331; Thomas Prüfer: Wilhelm von Humboldts .rhetorische Hermeneutik'. Historische Sinnbildung im Spannungsfeld von Empirie, Philosophie und Poesie. In: Fulda/Prüfer 1996, S. 127-166; Harth 1998, S. 204-213; Lau 1999, S. 112-146,196-244 u. 319-389. Im vorliegenden Band vgl. den Beitrag von THOMAS PRÜFER sowie die Analyse von Schillers Abfall der vereinigten Niederfande im Beitrag von STEPHAN JAEGER (Abschnitt V).

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Schichtsschreibung die Verfahren der soeben neuformierten und zu einzigartiger kultureller Geltung aufgestiegenen Literatur. Von der Autonomie', die die Literatur zur gleichen Zeit zugesprochen erhielt — der neue Objektbegriff markierte diese Ausdifferenzierung -,24 darf man sich jene Transferleistung nicht verdecken kssen. Charakteristisch für die autonomisierte Literatur der Goethezeit ist vielmehr, daß sie Geltungsansprüche erhob bzw. integrationistische Verheißungen formulierte, die über ihr eigenes Teilsystem hinausreichten — und von der auf Geschehensintegration angewiesenen Geschichtsschreibung aufgenommen wurden. Die historistische Geschichtsschreibung, als deren Modelltext Rankes Römische Päpste von 1834-36 fungierten, übernahm aus der goethezeitlichen Literatur eine ganze Reihe von — aufeinander abgestimmten — Darstellungstechniken: Der historische Prozeß wurde nun immanent narrativ erklärt, der Geschehensbericht verfabelt (mit deutlicher Tendenz zu bildungsanalogen Plots); herausragende Figuren erhielten eine ideelle Agenda zugewiesen, während der auktoriale Erzähler zurücktrat; in Entscheidungs Situationen oder auch scheinbar nebensächlichen, aber auffälligen Details konzentrierte sich das Ganze in symbolhafter Anschaulichkeit.25 Auf die Ästhetik gehen zudem einige Ergänzungen der philologischen Methode durch intuinonistische Momente zurück (Einfühlung, Anschauung, phantasieanaloge Divination);26 überdies beförderte sie den Idealismus der materialen Geschichtstheorie, die historistische Annahme eines ideellen Kerns im phänomenalen Geschehen.27 All dies zusammenfassend, hat man kürzlich von der Kunst gesprochen, „die vor zweihundert Jahren als Hebamme die akademische Historiographie ans

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Ästhetische Autonomie gilt gemeinhin als zentraler Programmpunkt der Weimarer Klassik; Gerhard Plumpe mißt das Kennzeichen der Autonomie darüber hinaus der von ihm ^Romantik' genannten Literaturepoche seit Goethes Werther zu, vgl. Gerhard Plumpe: Epochen moderner Literatur. Ein systemtheoretischer Entwurf. Opladen 1995, S. 65-80. Vgl. Harth 1980; Hans Robert Jauß: Der Gebrauch der Fiktion in Formen der Anschauung und Darstellung der Geschichte. In: Koselleck/Lutz/Rüsen 1982, S. 415-451; Vierhaus 1987; Fulda 1996c, S. 374-390; Hardtwig 1997; als weitgehend immanente Analyse von Rankes Geschichtsschreibung vgl. Hermann von der Dunk: Die historische Darstellung bei Ranke: Literatur und Wissenschaft. In: Mommsen 1988, S. 131— 165; die umfassendste neuere Analyse bietet Metz 1979, S. 14-236. Vgl. Fulda 1996c, S. 418-443, zu Droysens Histonk. Vgl. die auf Goethe bezogene Notiz des Studenten Ranke: „Wenn ich nun das Einzelne fasse und verstehe, und es kömmt mir aus dem Leben desselben das Leben des Ganzen zu Gedanken und Gemüte: o daß die Entwickelung dieses Lebens so klar würde, wie es selbst gewesen ist, — daß mich Dein Geist besuchte, Siebzigjähriger, — daß sich auf dem festen Boden des Historischen das Ideale wahrhaft erhübe: aus den Gestalten, die da gegeben sind, was nicht gegeben ist, herausspringe!" (Ranke 1964-75 [hier 1817], Bd. l, S. 174).

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Tageslicht befördert" habe.28 Programmatik und Theorie der Geschichtsschreibung waren dagegen auffällig schwach entwickelt. Um es in einem ersten Resümee zuzuspitzen: ,Die Geschichte' ist älter als der Historismus,29 doch erst mit seiner Adaption ästhetischer Verfahren fand der ,poetisch' konstituierte moderne Geschichtsbegriff seine historiographische Realisierung, man könnte fast sagen: Erfüllung.

IV. Geschichtsschreibung, -forschung, -Wissenschaft In manchem Teilaspekt ist das der Forschung seit längerem bekannt. Metonymisch sprach bereits Friedrich Meinecke davon, daß Goethe „vorangegangen sein mußte, um einen Ranke möglich zu machen".30 Die geistesgeschichtliche Forschung sah den Historismus freilich nur hinsichtlich seiner materiellen Geschichtstheorie durch die ,Kunstperi.ode' bedingt; gemeint war vor allem „der Sinn für das Individuelle, für die von innen her gestaltenden Kräfte, für ihre besondere individuelle Entwicklung und für den gemeinsamen, alles miteinander wieder verknüpfenden Lebensgrund".31 Dieses Moment ist zweifelsohne von Bedeutung - nicht zuletzt, wenn es um die Erklärung einiger kognitiver und gesellschaftstheoretischer Restriktionen des historistischen Geschichtsdenkens geht —,32 erfaßt aber ,nur' charakteristische Akzentsetzungen in einer vermeintlich gegebenen .Geschichte', nicht deren diskursive Gewinnung: ihr prinzipielles ,Erschreiben', das allen je besonderen Schreibweisen vorausgehen muß. Ebenfalls verkürzt wird die Funktion literarisch-ästhetischer Verfahren, wenn man ihnen Einfluß lediglich auf die ,Darstellungsformen' zumißt. Dagegen konstatiert Ulrich Muhlack: Es ist wesentlich, daß die [...] Nachfolge[-Beziehung der historistischen Geschichtsschreibung zur goethezeitlichen Literatur, D.F.] sich nicht in äußerlichen Beziehungen, etwa in der Übernahme bestimmter literarischer 28

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Rainer Maria Kiesow: Auf der Suche nach der verlorenen Wahrheit. Eine Vorbemerkung. In: Ders. u. Dieter Simon (Hrsg.): Auf der Suche nach der verlorenen Wahrheit. Zum Grundlagenstreit in der Geschichtwissenschaft. Frankfurt a. M., New York 2000, S. 7-12, hier S. 8. Zum Historismusbegriff vgl. Oexle 1996; Daniel Fulda: Historismus in allen Gestalten. Zu einigen kulturwissenschaftlichen Problemgeschichten der Moderne. In: Rechtshistorisches Journal 16 (1997), S. 188-220; Michael Schlott: Mythen, Mutationen und Lexeme — yHistorismus' als Kategorie der Geschichts- und Literaturwissenschaft. In: Scientia Poetica 3 (1999), S. 158-204. Meinecke 1965, S. 601 (Leopold v. Ranke. Gedächtnisrede [1936]). Ebenda; vgl. auch Hinrichs 1954; Theodor Schieder: Ranke und Goethe [1942]. In: Ders.: Begegnungen mit der Geschichte. Göttingen 1962, S. 80—104; kritisch dazu: Vierhaus 1993. Vgl. Iggers 1997 [1968].

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Techniken, erschöpft. Die Geschichtsschreiber gewinnen aus der Dichtung vielmehr den kategorialen Rahmen, in dem sie ihr neues Verständnis von historischer Forschung fixieren.33

Analog zur Poiesis der Literatur wurde ,Forschung' nun nicht mehr als Reinigung der Überlieferung, sondern als Produktion neuen Wissens verstanden und praktiziert.34 In der Tat betraf die Ästhetisierung der Geschichte den gesamten Forschungsprozeß: d. h. Auffassung Erkenntnis, Struktunerung Erklärung und Deutung des %u erkennenden Geschichtspro^esses wie der %u erstellenden Geschichtser^ählung Ästhetische Verfahren gewannen im Historismus transzendentale Funktion, denn sie hatten weltbildliche, material-geschichtstheoretische, kognitive, hermeneutische und diskursive Konsequenzen.35 Das heißt nicht, daß ausschließlich ästhetische Gesichtspunkte maßgeblich wurden; ihre Bedeutung übertraf jedoch weit das theoretische Bewußtsein, das die historistischen Historiker von ihrer Arbeit hatten. Im einzelnen ist das, insbesondere das Zusammenwirken ästhetischer und anderer, erkenntnistheoretischer, institutioneller oder politischer, Antriebe, noch wenig erforscht. Doch zeichnet sich ab, daß die goethezeitliche Ästhetisierung sämtliche ,Faktoren* der geschichtswissenschaftlichen Matrix (wie Jörn Rüsen sie modelliert hat)36 ergriff: vom wesentlich ästhetischen Konzept der »Bildung' als erhoffter Funktion historischen Wissens bis zur nur scheinbar positivistischen, tatsächlich aber wesentlich imaginativen Quelleninterpretation. Die skizzierte Ästhetisierung dürfte zudem das Zusammenwirken jener Faktoren erheblich befördert haben, zum einen weil das ästhetische Denken der Goethezeit generell auf Ganzheit zielte, zum anderen weil sie der geschichtswissenschaftlichen Arbeit in jedem Schritt das historiographische Ziel vor Augen stellt. Die interne Vernetzung und Systematisierung der historischen Forschung aber gilt als entscheidender Indikator für Verwissenschaftlichung.37 Geschichte in Analogie zum literarischen Text zu konzipieren hätte demnach nicht nur die Formen der Geschichtsji^m^»»^ modernisiert, hätte auch nicht nur die Vorstellung von der einen, ganzen Geschichte getragen, sondern hätte darüber hinaus die disziplinäre Geschlossenheit der 33 34 35

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Muhlack (wie Anm. 9), hier S. 69. Vgl. ebenda, S. 70f. Wo, wie bei Niebuhr (Römische Geschichte 1811-12), .Geschichte' ohne literarisch-ästhetische Hilfe transzendentalisiert wurde, kam es dagegen nicht zu einer die Kontinuität der ,Geschichte' repräsentierenden Historiographie (vgl. Walther 1993). Rüsen 1993, S. 32, benennt die fünf Faktoren dieser Matrix wie folgt: „Orientierungsbedürfnisse der Gegenwart, leitende Hinsichten auf die menschliche Vergangenheit, Regeln der empirischen Forschung, Formen der historiographischen Darstellung und Funktionen des historischen Wissens". Vgl. ebenda, S. 36 u. 44. Zur narrativen Synthese als „eigentlicher Aufgabe der verwissenschaftlichten Geschichtsschreibung" sowie den Kriterien von historiographischer Wissenschaftlichkeit vgl. auch Hardtwig 1998, S. 256-259 (das Zitat S. 258).

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vorangetrieben. Die Verwissenschaftlichung, die in der deutschen Aufklärungshistorie eine Ästhetisierung verhinderte, wäre im Historismus mit eben deren Hufe erreicht worden.

V. Geschichte in Symbolen: Die Wirkung der goethezeitlichen Ästhetik Wenn der Werth eines Dramas nur in dem Schluss- und Hauptgedanken liegen sollte, so würde das Drama selbst ein möglichst weiter, ungerader und mühsamer Weg zum Ziele sein; und so hoffe ich, dass die Geschichte ihre Bedeutung nicht in den allgemeinen Gedanken, als einer Art von Blüthe und Frucht, erkennen dürfe: sondern dass ihr Werth gerade der ist, ein bekanntes, vielleicht gewöhnliches Thema, eine AUtags-Melodie geistreich zu umschreiben, zu erleben, zum umfassenden Symbol zu steigern und so in dem Original-Thema eine ganze Welt von Tiefsinn, Macht und Schönheit ahnen zu las-

Von ästhetischer jErfüllung' des modernen Geschichtsbegriffs war vorhin die Rede; doch sagte man vielleicht besser ,Übererfüllung', denn ,Geschichte' zu schreiben wurde damit nicht nur ästhetisch ermöglicht, sondern ästhetisch geprägt im Sinne der Zeit vor und um 1800. Die den totalisierenden Begriff jGeschichte' realisierende Adaption von Literatur und Ästhetik hat ihrerseits einen historischen Ort, der sich als Goethezeit oder ,Kunstperiode' umreißen läßt.39 Beide Begriffe meinen die primäre Geltungsphase einer Kunst- und Literaturauffassung, die sich sowohl hinsichtlich ihrer Ordnung von ,Welte — Teil und Ganzes, Individuum und Gesellschaft — als auch repräsentationstheoretisch von der Aufklärungsliteratur abgrenzen läßt. In der erstgenannten Hinsicht wird das Einzelne nicht mehr als Exemplarisches eines Allgemeinen begriffen (denn das Allgemeine ist ins Ungreifbare entrückt), sondern als ,Be-

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Vgl. Friedrich Nietzsche: Vom Nutzen und Nachtheil der Fiistorie für das Leben [1874]. In: Ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Hrsg. von Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. 2., durchges. Aufl. München; Berlin, New York 1988, Bd. l, S. 292. Obwohl forschungsgeschichtlich nicht unbelastet, fungiert ,Goethezeit' seit einigen Jahren als probater Ersatz für die als zu partikular eingeschätzen Epochenbegriffe vom ,Sturm und Drang' bis zur ^Romantik' und meint dann in der Regel eine durch Rationalismuskritik, poietisches Bewußtsein und Autonomietendenz gekennzeichnete Literatur (vgl. Klaus Weimar: Goethezeit. In: Reallexikon 1997ff, Bd. l, S. 734-737). Insofern Goethe der Autor war, den die folgende Historikergeneration besonders wirkungsvoll rezipierte (wenngleich mit den für das 19. Jahrhundert typischen Problemverlusten), scheint der von ihm abgeleitete Epochenbegriff zusätzlich gerechtfertigt. Unter dem Blickwinkel der hier gestellten Frage nach der geschichtsprägenden Wirkung von Literatur und Ästhetik gibt aber auch ,Kunstperiode' einen prägnanten Epochenbegriff ab.

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sonderes', in dem die Zufälligkeit des bloß Partikularen gebannt ist.40 Kunstbzw, darstellungstheoretisch zeichnet sich die Epoche dadurch aus, daß sie seit Herder — die Unhintergehbarkeit poetischer und ästhetischer Verfahren auch außerhalb der Kunstsphäre herausarbeitet, daß sie — besonders Schiller — auf die Synthese kognitiver und ästhetischer Vermögen zielte und daß sie deshalb — vor allem mit dem Namen Goethe verbunden — um ein symbolisches Denken bemüht war, in dem die Gestalt als Bedeutung, die sinnliche Erscheinung als Sinn lesbar wird.41 Will man aufdecken, wie die historistische, vielleicht sogar noch unsere Geschichtsvorstellung funktioniert, so empfiehlt es sich, diesen Entstehungskontext auf seine Sinnbildungstechniken zu untersuchen. Alle genannten Charakteristika zielen auf Synthese, und zwar eine Synthese, die die Spannungen, die sie versöhnt, nicht aufhebt, sondern als Antrieb des Lebens, der Erkenntnis, der Kunst sowie der Bildung als Konvergenzpunkt der drei Vorgenannten bestehen läßt. Das ästhetische Denken zwischen Herder und den Frühromantikern präsentiert sich damit als Produkt der jkulturellen Moderne', das deren Entzweiungen und Entfremdungen zu bewältigen sucht, ohne jedoch anzugreifen, was das positiv Neue der Moderne ausmacht: ihre Dynamik, ihre beständige Selbstüberschreitung.42 Diese Dynamik eignet auch dem Sjmho/,43 das als typisches Vehikels des goethezeitlichen Synthesedenkens gelten kann. Denn es verweist auf eine Idee, die Goethe zufolge „immer unendlich wirksam und unerreichbar bleibt und, selbst in allen Sprachen ausgesprochen, doch unaussprechlich bliebe."44 Die Dynamik des symbolischen Verweisens, das nie an ein Ende kommt, ist allerdings nicht haltlos, sondern wird von dem Vertrauen unterfangen, daß der Welt eine Ordnung zugrunde liege, die für den menschlichen Verstand lediglich nicht faßbar sei. Auch dies drückt das Symbol aus; mit ihm verbindet sich die Hoffnung auf „eine ontologische Erkenntnis [...], die jenseits der Grenzen des diskursiven Denkens" liegt.45 Die Struktur des Symbols prägt auch die historistische Geschichtsschreibung: Seine synthetische Leistung realisiert sie, indem sie — in syntagmatischer Hinsicht - den Gang ,der Geschichte' in der Struktur ihrer Erzählung

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Vgl. Fohrmann 1998, S. 95-97. Vgl. Spies 1992, bes. S. 209f. Vgl. Fohrmann 1998, S. 8f. Das ist gegen die eigenwillige und - indem sie die Allegorie gegen einen reduzierten Symbolbegriff ausspielt - zudem wertende Tropologie der Dekonstruktion festzuhalten; vgl. de Man 1993 [1969], S. 103f. Johann Wolfgang von Goethe: Maximen und Reflexionen Nr. 749. In: Goethe 1988, Bd. 12, S. 470; vgl. Sorensen 1963 sowie, zusammenfassend, Scholz 1998, Sp. 723-728; aus semiotischer Perspektive: Kobbe 1984, S. 314-321. S0rensen 1982, S. 172; vgl. Naumann 1998, S. 175.

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konfiguriert46 sowie - in paradigmatischer Hinsicht - das manifeste, anschaulich erzählte Geschehen immer wieder auf orientierende Konzepte wie ,Ideen' oder ,leitende Tendenzen', ja Göttliches hin interpretiert.47 Im letztgenannten Punkt folgt sie der ontologischen Verheißung des Symbols, wobei — ganz dem Symbol entsprechend — das historisch Konkrete nicht zugunsten der Idee reduziert oder mißachtet wird.48 Dynamisch wiederum zeigt sie sich, indem sie sowohl ihren Gegenstand als beständig über sich hinausweisend (und zwar qualitativ: Geschichte zeitigt fortlaufend das nie Dagewesene) wie auch ihre Arbeit als unabschließbaren Forschungsprozeß begreift.49 (Die Dynamik der Forschung und der Geschichte verstärken sich dabei noch gegenseitig, denn geschichtliche Veränderung fordert weitere Forschung ständig heraus, und Geschichtserkenntnis soll zu jener Bildung beitragen, als welche Geschichte insgesamt begriffen wird.) Symbolische Relationen schreibt der Historismus seit Ranke also einerseits der Geschichte selbst zu und verleiht sie andererseits und zugleich seinen Texten. Nach dem von Hegel und dessen Schülern proklamierten ,Ende der Kunst' war es daher nur konsequent, daß er seit der Mitte des 19. Jahrhunderts jene kulturelle Funktion einer dynamischen Synthese beanspruchte, die um 1800 die Literatur innehatte.50

VI. ,Nach' dem Historismus: Verabschiedung oder Persistenz des Symbols? Was aber heißt ,der Historismus seit Ranke? Welche Dauer gewann die Geltung jenes symbolischen' Geschichtskonzeptes? Kurz gesagt: Eine Dauer weit über die Goethezeit hinaus, wenngleich häufig verdeckt oder abge46 47

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Vgl. Prüfer (wie Anm. 23), S. 138f. Vgl. Ranke 1824, S. XXVIII, XXXVI, 55, 57, 91, 139, 177, 209, 214, 237 u. 316; Dietrich Harth: Die Geschichte ist ein Text. Versuch über die Metamorphosen des historischen Diskurses. In: Koselleck/Lutz/Rüsen 1982, S. 452-479, hier S. 466f.; Fulda 1996b. Zur Antwortfunktion der historiographischen Synthese im Hinblick auf die .Entzweiungen' der Moderne vgl. Hardtwig 1990, S. 97-99; zur Unterscheidung von syntagmatischer und paradigmatischer Achse in der Historiographie vgl. Karlheinz Stierle: Geschichte als Exemplum - Exemplum als Geschichte. Zur Pragmatik und Poetik narrativer Texte. In: Reinhart Koselleck u. Wolf-Dieter Stempel (Hrsg.): Geschichte - Ereignis und Erzählung. München 1973 (Poetik und Hermeneutik. 5), S. 347-375, hier S. 360. Vgl. Fulda 1996c, S. 379-382. Die Symbolstruktur des Goetheschen Romans, die der pragmatischen Dimension einen ideellen Nexus hinzufügt, ohne sie dadurch zum bloß verweisenden Zeichen zu degradieren, erläutert Manfred Engel am Beispiel von Wilhelm Meisters Lehrjahren, vgl. Engel 1993, S. 316-319. Vgl. Hardtwig 1991. Vgl. Droysen 1977 [1857]; im vorliegenden Band den Beitrag von WOLFGANG E.J. WEBER (Abschnitt I).

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schwächt. Gut rekonstruierbar ist das zum Beispiel in der politisch engagierten Geschichtsschreibung der Reichsgründungszeit. Dort fungierte die Integrationsleistung des Symbols als historiographischer Vorschein der zu erschreibenden nationalen Einheit.51 Dem literaturgeschichtlichen Wandel im 19. Jahrhundert — hin zum Realismus' — lief ein solches Verfahren weniger entgegen, als man vermuten mag, hat sich doch auch in der deutschen Kunsttheorie das Symboldenken hartnäckig gehalten. Auf real-idealistische Versöhnung festgelegt, hatte das Symbol die integrierende „Antwort auf unkalkulierbare Moderne" zu versinnbildlichen, die das Bildungsbürgertum Kunst und Geschichte zumutete.52 Selbst dort, wo der historistische Geschichtsdiskurs prima vista allegorisch verfuhr, etwa wenn Bilder aus der deutschen Vergangenheit das „große Ganze" der nationalen Geschichte exemplarisch illustrieren, kg letztlich ein symbolisches Verständnis von Geschichte zugrunde. Denn indem deren Betrachter, „mehr ahnend und deutend als begreifend", „das Leben des ganzen Menschengeschlechts auf der Erde als eine geistige Einheit" erfassen, ja „das Göttliche in der Geschichte" suchen sollte,53 ging die Intention solcher Historiographie weder auf vollständige Auflösbarkeit ihrer (Kon-)Figurationen - das entspräche dem Goetheschen Allegoriebegriff — noch auf eine Demonstration der Unmöglichkeit, sämtliche Phänomene in eine Interpretation der Geschichte zu integrieren, wie die Allegorie im Verständnis Benjamins und Folgender sie impliziert.54 Die gründliche Erforschung dieses Komplexes steht sowohl in der Literatur- als auch in der Geschichtswissenschaft noch aus.55 Schon ein rascher Rundblick läßt indessen auf die Virulenz symbolischen Denkens noch im 20. Jahrhundert schließen: Offen zutage liegt die symbolische Struktur im Geschichtsdenken Friedrich Meineckes, dessen Spätidealismus das ontologisierte Symbolverständnis der Klassik-Rezeption zugrunde kg.56 Wie die Philosophie der symbolischen Formen (1923—29) seines Zeitgenossen Ernst Cassirer belegt, vermag der Symbolbegriff aber auch eine konstruktivistische Theorie 51

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Vgl. Daniel Fulda: .Nationalliberaler Historismus'. Politische Motivation und ästhetische Konsequenzen einer Konvergenzphase von Geschichtsschreibung und historischem Roman. In: Fulda/Prüfer 1996, S. 169-210. Vgl. Fohrmann 1998, S. 140f. u. 153-155, das Zitat S. 155; Scholz 1998, Sp. 731. Freytag 1925 [1859-76], Bd. l, S. 34 u. 37. Zur ,allegorisierenden' Tendenz im historischen Roman des 19. Jahrhunderts vgl. Brecht 1998. Zum Benjaminschen Allegorie-Verständnis im Hinblick auf das historiographische TeilGanzes-Problem vgl. Roland Kany: Mnemosyne als Programm. Geschichte, Erinnerung und die Andacht zum Unbedeutenden im Werk von Usener, Warburg und Benjamin. Tübingen 1987 (Studien zur deutschen Literatur. 93), S. 213-215; im vorliegenden Band vgl. den Beitrag von LINDA SIMONIS (Abschnitt ). Zur philosophischen Ästhetik des 19. Jahrhunderts vgl. Titzmann 1978. Was Titzmann strukturalistisch detailliert beschreibt, harrt noch der Ausdeutung in einer funktionsgeschichtlich orientierten Literaturgeschichte. Vgl. Friedrich Meinecke: Erlebtes 1862-1901. Leipzig 1941, S. 38.

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der menschlichen Weltwahrnehmung und -gestaltung zu fundieren.57 In der historiographischen Gegenwart ist auf die Bemühungen um eine ,Kulturgeschichte' zu verweisen, die Ute Daniel als „symbolorientierte Sozialgeschichte" charakterisiert, weil sie auf die Bedeutungssysteme zielt, in die Handeln stets eingebettet ist.58 Auch aus tropologischem Blickwinkel wird der Geschichtsdiskurs als „symbolisch" charakterisiert (so, wenngleich in kritischer Absicht, von de Man),59 Eine zeitphilosophische Begründung gibt Paul Ricoeur: Symbolisch verfährt der Geschichtsdiskurs, da seine Narrarionen auf jene zeitliche Existenz des Menschen verweisen, deren Aporien „durch reine Vernunft und wissenschaftliche Erklärung nicht gelöst werden können".00 Das sind zunächst einmal nicht mehr als Stichworte; zu diskutieren wäre, welcher Symbolbegriff jeweils verwandt, auf welcher Ebene er eingesetzt wird und in welchem Maße die verschiedenen Symbolbegriffe kompatibel sind. Hinsichtlich der Ansätze von Cassirer, der Kulturgeschichte und de Mans ist beispielsweise zwischen einem Symbolbegriff, der mit repräsentationstheoretischem Akzent auf die konstruktive Wahrnehmung und Darstellung von Welt in der Wissensform Geschichte abhebt, einem handlungstheoretischen Symbolbegriff, der Strukturen in der dargestellten Welt bezeichnet, sowie einer Bezeichnung für eine bestimmte, nämlich scheinhafte semiotische Rektion zu unterscheiden. Verallgemeinernde Feststellungen sind beim derzeitigen Stand der Forschung kaum möglich; immerhin meint Symbol' in allen angeführten Verwendungen mehr als eine rhetorische Figur, und es zeichnet sich ab, daß ihm nach wie vor eine spezifische Integrationsleistung oder ein besonderer Bedeutungsanspruch zuerkannt wird. Ein abschließender Versuch, eine gegenwärtig legitime sowie semiotisch reflektierte Anwendung des Symbolbegriffs auf das Konzept »Geschichte4 zu skizzieren, sei in Auseinandersetzung mit zwei gewichtigen Bedenken unternommen. Zunächst: In welchem Maße verlieh die goethezeitliche Ästhetisierung dem damals neuen Geschichtsbegriffs eine Prägung, die in einem anderen Kontext — entweder der Kunsttheorie oder verschärfter Wissenschaftlichkeitsmaßstäbe — obsolet erscheinen muß? Anders formuliert: Ist die 57 58

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Den Nachweis, daß Cassirers Symbolkonzept „starre Repräsentationsverhältnisse" durch funktionale Differenzen ersetzt, unternimmt Naumann 1998; das Zitat S. 132. Ute Daniel: Quo Vadis, Sozialgeschichte? Kleines Plädoyer für eine hermeneutische Wende. In: Winfried Schulze (Hrsg.): Sozialgeschichte, Alltagsgeschichte, Mikro-Historie. Eine Diskussion. Göttingen 1994 (Kleine Vandenhoeck-Reihe. 1569), S. 54-64, hier S. 60. Vgl. Paul de Man: Genese und Genealogie (Nietzsche). In: Ders. 1988, S. 118-145, hier S. 143. White 1990 [198 , S. 190 (über Ricceur). Weitere prominente Beispiele für die Anwendung des Symbolbegriffs auf den Geschichtsdiskurs gibt im vorliegenden Band der Beitrag von GREGOR STREIM (Abschnitte II-IV) über solche Historiographiekonzepte der Zwanziger Jahre, die der ,Krise des Historismus' begegnen sollten.

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Syntheseleistung einer ,symbolisch' verfahrenden Geschichtsschreibung notwendig an historisch überholte metaphysische Prämissen gebunden? Die Antwort scheint sich danach richten zu müssen, ob man den maßgeblichen Antrieb der symbolischen Ästhetisierung der Geschichtsschreibung um 1800 im zeittypischen Idealismus sieht oder ob man dem modernen Geschichtsbegriff eine autogene Tendenz zur ästhetischen Realisierung zuerkennt, weil seine Existenz sich poetologischem Einfluß verdankte und Geschichtsschreibung daher ästhetisch verfahren ,mußte', um ihn zu realisieren. Folgt man der zweiten Überlegung, so kristallisierte sich in der Symbolästhetik lediglich das Syntheseprinzip des modernen Geschichtsbegriffs, mit der Folge, daß symbolisierende Verfahren seine Realisierung .legitimerweise* auch jenseits der goethezeitlichen Ästhetik regierten, sofern ihr Symbolbegriff ohne metaphysische Unterstellungen auskäme. Das Konzept ,Geschichte' wäre dann vielleicht insgesamt als symbolische Form' im Sinne einer diskurszentrierten und historisierenden Cassirer-Nachfolge zu verstehen.61 So begriffen, gewänne seine Symbolstruktur Unabhängigkeit von ästhetischen Normen, die sich, im Zeichen der Allegorie und des Fragments, seit der Frühromantik und vollends im 20. Jahrhunderts gegen die symbolische Synthesetechnik gewandt haben. Wechselnden ästhetischen Normen käme Geltung dann allenfalls innerhalb der Kunstsphäre zu, während das Symbol als genuine Form des .modernen' historischen Denkens anzusehen wäre, die zwar historisch wechselnde Ausprägungen annehmen, auch mit gegenläufigen ,allegorischen' oder 61

Cassirer selbst thematisiert die Geschichte erst in seinem Spätwerk An Essay on Man. „Symbole" sind dort lediglich die historischen Quellen, die sinnverstehend gelesen werden (Cassirer 1996 [1944], S. 297 u. 308). Ob bereits die „historische Zeit", deren Unterschiedenheit von der „universalen kosmischen Zeit" Cassirer hervorhebt (ebenda, S. 308), als .symbolische Form' zu verstehen ist, kommt nicht zur Erörterung, obwohl er die syntagmatische Synthetisierungsleistung des Historikers als Konstruktion einer „neuen Form" bezeichnet, die die „verstreuten Glieder der Vergangenheit" noch nicht besitzen (ebenda, S. 272, vgl. S. 283). An dieser Stelle ließe sich mit Cassirer über Cassirer hinausdenken. - Cassirers Begriff der symbolischen Form' auf die Geschichte anzuwenden würde die duale Einheit von Bild und Begriff, sinnlicher Erscheinung und sinnhafter Bedeutung, die das goethezeitliche Symbol auszeichnet, bewahren (vgl. Cassirer 1956, S. 175 [1921/22]). Nicht mehr ästhetisch im Sinne einer Relationierung von ,sinnlichen' und kognitiven Bestandteilen ist dagegen der systemtheoretische Begriff des ,symbolisch generalisierten Kommunikationsmediums' konditioniert. Luhmann bestimmt das Symbol lediglich als Ausdruck dafür, „daß in der Differenz eine Einheit liegt und daß das Getrennte zusammengehört, so daß man das Bezeichnende als stellvertretend für das Bezeichnete (und nicht nur: als Hinweis auf das Bezeichnete) benutzen kann" (Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Teilbd. 1-2. Frankfurt a. M. 1997, S. 319). Es wäre zu diskutieren, welcher der beiden Symbolbegriffe den Umgang mit Geschichte besser trifft. Das berührt auch die ,Sinn'-Frage: wird Sinn im bloßen Akt der Kommunikation - das hieße bei jeder Beschäftigung mit Geschichte - aktualisiert, oder gewinnt ihn der Historiker dann, wenn er historische Phänomene als Symbole deutet (so Cassirer 1996 [1944], S. 270f.)?

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,metonymischenc Verfahren sich ausfüllen läßt, nur um den Preis der einen Geschichte aber aufgegeben werden kann. In der Forschung ist diese These allerdings umstritten. Zweifel an der Symbolqualität der Geschichte können sich gerade dann einstellen, wenn man von ihrer goethezeitlich-ästhetischen Konstruktion ausgeht. Die Kritik richtet sich dann nicht gegen die einer Wissenschaft vermeintlich ,fremden£ ästhetischen Verfahren oder gegen deren anachronistische Herkunft. Anstelle der Legitimations- wird die Erfolgsfrage gestellt: d. h. ob es den symbolisierenden Verfahren der Geschichtsschreibung und auch vieler literarischer Texte gelingt., Geschichte zu repräsentieren. Gewichtige literaturwissenschaftliche Studien der jüngsten Zeit haben das verneint, da sie im (Er-) Schreiben von Geschichte ein immer schon aporetisches Projekt sehen. Sei es Geschichtsschreibung, seien es literarische Texte mit historischem Stoff und/ oder Thema: stets und notwendig werde das Ziel verfehlt, das Vergangene präsent zu machen.62 Zumal die Totalität des mit ,Geschichte' Bezeichneten sei diskursiv nie erreichbar. Bereits die Kontinuität, die der Geschichtsbegriff impliziert, werde durch narrative Brüche u. ä. dementiert.63 Vom Textbefund her wie auch epistemologisch ist dem weitgehend beizustimmen: Geschichte ist paradox. Die Strukturparallele zwischen Symbol und Geschichtsdiskurs greift das zunächst nicht an; sie wird vielmehr noch gestärkt, allerdings auf eine, wie es scheint, ihrerseits angreifbare Weise: Suchen Geschichtsdarstellungen nicht etwas zu repräsentieren, was uneinholbar ist (weil es einerseits vergangen ist und andererseits beständig wächst), ebenso wie dem Symbol der „Ausdruck des Nicht-Ausdrückbaren" zugemutet wird?64 Die Kritik an der Uneinlösbarkeit der Versprechen, die der Geschichtsbegriff macht, trifft sich hier mit jener Kritik, die von semiotisch-strukturalistischer Seite an der logischen Unmöglichkeit des Symbols geäußert wurde. In dieser Koinzidenz treten freilich zugleich die zweifelhaften Prämissen der aktuellen Geschichtskritik hervor: Hier wie dort geht man von einer Dualität von Zeichen und Denotat aus. Diese Dualität liegt im historischen Diskurs jedoch nur bedingt vor, stellt jGeschichte' doch ein Konzept dar, das die spezifische Struktur seines Gegenstandes erst konstruiert. Wenn ,die Geschichte' aber nicht objektiv gegeben ist, sondern stets neu erschrieben werden muß, so kann sie weder unwiderruflich vergangen noch immer nur zu verfehlen sein. Von dieser Grundbedingung des Geschichtsbegriffs her betrachtet, greift nicht die prekäre Logik und Semiotik des Symbols den Geschichtsdiskurs an, sondern legitimiert dessen Eigenart die Paradoxie des Symbols. Die „Identität von

62 63 64

Vgl. Bernard 1996, S. 155-199. Vgl. Blasberg 1998 (wie Anm. 2), S. 62f. Titzmann 1979, S. 655.

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Bedeutungsträger und Bedeutung", die das Symbol behauptet,65 kennzeichnet gerade die ,Texte der Geschichte', denn sie sind ,die Geschichte', insofern dieses Denotat der Geschichtsschreibung und anderer Geschichtsrepräsentationen — nicht das historische Geschehen — nirgends außerhalb existiert. Unabhängig von spezifischen Prämissen der Goethezeit, so können wir schließen, exemplifiziert der Geschichtsdiskurs, was die semiotische Kritik des Symbols als dessen Kennzeichen herausgestellt hat: die substantielle Anwesenheit des von einem Zeichen Denotierten in diesem Zeichen.66 Gleich dem Symbol operiert die Repräsentation der .Geschichte' mit einem Paradox, und logische Einwände vermögen nur begrenzt darüber Auskunft zu geben, ob und wie dies funktioniert, weniger jedenfalls als poetologische Analysen.

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65 66

Ebenda. Vgl. Kobbe 1984, S. 308 u. 325.

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b. jHistorismus4

BARBARA POTTHAST Historische Romane und ästhetischer Historismus: Text-Bild-Relationen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts L Geschichtsbilder, historische Romane und die Literaturwissenschaft II. Die Kultur- und Freiheitsallegorie — Ludwig Tieck, Vittona Accorombona III. Das Schloß - Wilhelm Hauff, Lichtenstein IV. Denkmal und Gedenkstein -Joseph Viktor von Scheffel, Ekkehard. V. Ästhetische Perspektiven jenseits der Sozialgeschichte

324 329 333 336 339

VI. Auswahlbibliographie

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„Tieck hat die bürgerliche Verkitschung deutschen Altertums eingeleitet, deren Ausläufer die Butzenscheibenpoesie und die Renaissancemöbel sind",1 schreibt Friedrich Gundolf 1929 in seinem Essay über Ludwig Tieck. Sein Verdikt ist typisch für die klassische Moderne um und nach 1900, die sich entscheidend durch ihre Abwendung vom Historismus des 19. Jahrhunderts definierte. Spuren dieses Verdiktes sind noch lebendig, denn kaum ein ästhetisches Paradigma der vergangenen Jahrhunderte ist heute noch so undifferenzierten, verständnislosen Einschätzungen ausgesetzt wie der ästhetische Historismus, der universale Epochenstil des 19. Jahrhunderts.2 Dies ist um so bemerkenswerter, als seine Zeugnisse präsent sind — als Wohnungsbau, Monumentalarchitektur und Denkmal in Städten und an prominenten Plätzen, als Malerei, Möbel und Gebrauchsgegenstand in Museen und Antiquitätenläden. Bis heute mangeln der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem ästhetischen Historismus differenzierte Untersuchungen seiner komplexen ästhetischen Binnenstrategien zwischen Architektur, Bild und Text, seiner

Friedrich Gundolf: Ludwig Tieck. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts (l 929), S. 99-195, hier S. 100. Zum .ästhetischen Historismus' vgl. Schlaffer/Schlaffer 1975 und Dirk Niefanger. Historismus. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hrsg. von Gert Ueding. Bd. 3. Darmstadt 1996, Sp. 1410-1420, hier Sp. 1411-1413.

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Zeit- und Raumkonzepte wie seiner allegorischen Denkformen.3 Auch Gundolf sieht den Historismus, bei aller Verachtung, als ästhetischen Komplex, der von der Romantik bis zur Gründerzeit reicht und dessen genrespezifische Spielarten - Ludwig Tieck, „Butzenscheibenpoesie" und „Renaissancemöbel" — miteinander korrespondieren.4

I.

Geschichtsbilder, historische Romane und die Literaturwissenschaft

Werden historistische Kunst und Architektur zuweilen immer noch verständnislos an ,Originalen' gemessen und als epigonal abgeurteilt, so erschöpft sich auch in der Literaturwissenschaft der Umgang mit der historisierenden Dichtung des 19. Jahrhunderts bis heute nicht selten im bloßen Vergleich mit der Ereignisgeschichte. Die Geschichtsliteratur der Epoche ist unüberschaubar und ihre Gattungen sind vielfältig: Neben historischen Romanen erscheinen Geschichtsdramen und historische Festspiele, historische Lyrik, Oden, Gesänge, Balladen und Lieder, historische Epen und Sagen. Der historische Roman stellt eine der erfolgreichsten Gattungen des 19. Jahrhunderts dar, historische Romane bilden etwa die Hälfte der deutschen Romanliteratur jener Zeit. Obwohl die großen europäischen Erzähler des 19. Jahrhunderts — Hugo, Balzac, Flaubert, Tolstoj, Fontäne — historische Romane und Erzählungen geschrieben haben, wird das Genre geringgeschätzt. In der Germanistik rührt dies sicher daher, daß in Deutschland der weitaus größte Teil der historischen Erzählungen von UnterhaltungsSchriftstellern wie Theodor Mügge, Louise Mühlbach und Ludwig Rellstab verfaßt wurde oder von Autoren, die sich ganz auf das historisierende Erzählen spezialisiert haben wie Willibald Alexis,5 Carl Spindler und Heinrich König. Ebenso hat der Umstand, daß gegen Ende des Jahrhunderts Historiker wie Felix Dahn und Georg Ebers historische Romane — sogenannte jProfessorenromane' — schrieben, nicht zur dichterischen Reputation der Gattung beigetragen. Fontäne schreibt 1875 in seiner Besprechung von Gustav Freytags Ahnen: „[D]ie Mehrzahl der geschichtlichen Romane ist einfach ein Greuel."6 Doch selbst wenn diese Mehrzahl von eher geringer ästhetischer Komplexität sein mag, so stellt die Flut von zeitgenössischen GeschichtserzählunDie Verfasserin arbeitet an einer Habilitationsschrift über ästhetischen Historismus und historische Romane im 19. Jahrhundert, die sich diesen Zusammenhängen widmet. Vgl. zum Verhältnis von Historismus und (klassischer) Moderne Baßler/Brecht/ Niefanger/Wunberg 1996; Tausch 1996; sowie im vorliegenden Band den Beitrag von GREGOR STREIM. Vgl. Potthast 2000. Theodor Fontäne: Gustav Freytag. Die Ahnen. In: Ders.: Sämtliche Werke. Hrsg. von Edgar Groß u.a. Bd. 1-23. München 1959-1974, Band 21,1: Literarische Essays und Studien. Erster Teü. München 1963, S. 231-248, hier S. 244.

Historische Romane und ästhetischer Historismus

325

gen als Gesamtphänomen einen interessanten Untersuchungsgegenstand dar, da sie mit der Obsession des 19. Jahrhunderts, sich im Großen wie im Kleinen mit geschichtlichen Formen und Zeichen zu umgeben und einen historistischen Kosmos zu kreieren, auf eindrückliche Weise korrespondiert. Wie im Gegenständlichen werden auch in den Erzähltexten alle historischen Stoffe verarbeitet und, wie bei den Dingen, oft auch vermischt. Immer entstehen im ästhetischen Historismus Mischgebilde - wie das synkretistische Bahnhofsgebäude oder die Ritterburg mit dem innenliegenden Stahlskelett sind alle historischen Romane voller Stilbrüche und Anachronismen. Das 19. Jahrhundert kleidet seine Probleme in historische Gewänder, die nur auf den ersten, flüchtigen Blick an vergangene Epochen erinnern, während bei näherer Betrachtung überall Zeitgenössisches hervorscheint. In dem Zusammenspiel von Vergangenem und Gegenwärtigem entstehen ästhetische Geschichtskonzeptionen, die in vielfältigen Bezügen zur zeitgenössischen Gesellschaft und Kultur stehen und in denen Geschichte funktional und sinnhaft verarbeitet wird. Die Geschichtsvorstellungen des 19. Jahrhunderts erfüllen ein weites Spektrum von Sinnbedürfnissen und Identitätsstiftungen, die sich zur epochalen Leitvorstellung .Geschichte1 konstituieren.7 In der ersten Jahrhunderthälfte stellen sich die Geschichtsbilder und -konzepte vielfältiger und auch antithetischer dar als in der zweiten Hälfte der Epoche.8 Einerseits werden historische Stoffe im Zusammenhang mit der Suche nach neuen, transzendenten Ordnungen nach Aufklärung und Französischer Revolution zu einer mythisch-religiösen Welt von Wundern, Geheimnissen und Offenbarungen verarbeitet. Irrationale, ideale Geschichtsbilder von Einheit, Ganzheit und Gemeinschaft zeugen von der Sehnsucht nach neuer Stärke und neuem Sinn in Zeiten des Ordnungsverfalls. Auf der anderen Seite wird Geschichte im Gefolge der Erfahrungen mit der Französischen Revolution vor allem in politischen und gesellschaftlichen Kategorien gedeutet. Hier wird Geschichte mit Hegel als Bewegung, als Fortschritt verstanden, deren Ästhetisierung dem großen politischen Ziel der endgültigen Überwindung der alten ständischen Ordnungen dienen soll.9 Scharf verworfen wird daher die geschichtliche Erinnerung zum Zweck der Wirklichkeitsflucht, der Restauration und des Traditionalismus. Nach der Niederlage der Revolution von 1848 und der anschließenden Stabilisierung feudaler Verhältnisse sind die Geschichtsvorstellungen geprägt durch Resignation, Kontemplation und Rückzug in die Innerlichkeit einerseits, durch Aufbruch in reaktionären Patriotismus andererseits. Es entstehen weitgehend idealisie-

7 8 9

Vgl. hier einzelne Beiträge in Dotzler/Müller 1995 und K. Müller/Rüsen 1997. Vgl. Eke/Steinecke 1994. Zur nationalpolitischen Orientierung des Historismus vgl. den nachfolgenden Beitrag von WOLFGANG E.J. WEBER.

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rende, harmonisierende Darstellungen der Vergangenheit, die die Ambivalenz von verinnerlichtem Patriotismus widerspiegeln. Die germanistische Forschung nimmt die historischen Romane der ersten Jahrhunderthälfte vornehmlich aus der Perspektive der jeweils naheliegenden literaturgeschichtlichen Modelle — Romantik, Vormärz, Nachmärz/ (Früh-)Realismus - wahr.10 So stellt Ludwig Tieck als Repräsentant der Romantik, der in seinem frühen und mittleren Werk geschichtliche Versatzstücke mit mythischen, sagen- und märchenhaften Motiven verbindet, die Literaturhistoriker mit den Historienromanen des Spätwerks, die sich sehr eng an die geschichtlichen Realien halten, vor Schwierigkeiten. Die geschichtspessimistischen Texte der zwanziger und dreißiger Jahre - Der Aufruhr in den Cevennen (1826), Der Hexensabbat (1832) und Vittona Accorombona (1840) — handeln von Politik, Macht und Gewalt und besitzen durch ihren Figurenreichtum und die ausgesprochene Dominanz von Figurenrede (Tieck nannte sie „Gesprächsnovellen") strukturell eine gewisse Nähe zu Gesellschaftsromanen. Der Umstand, daß innerhalb eines Werkes so disparate Paradigmen der Geschichtsrezeption bestehen, macht die heuristischen Grenzen der etablierten Literaturmodelle für das historisierende Erzählen deutlich. Zu den zeitgenössischen historischen Romanen von besonderer ästhetischer Komplexität gehört neben Ludwig Tiecks unvollendetem Aufruhr in den Cevennen, dem Hexensabbat und Vittona Accorombona — von der Forschung einhellig als Tiecks „Meisterwerk" bezeichnet - auch Wilhelm Hauffs Roman Uchtenstein (1826), der so erfolgreich war, daß man einige Jahre nach seiner Veröffentlichung in Hanau das Schlößchen Lichtenstein entsprechend der Romanvorlage errichtete und dies zu einem überregionalen kulturellen Anziehungspunkt wurde. Achim von Arnims Fragment Die Kronenwächter (1817) kann wegen seiner überwiegend phantastischen Verarbeitung historischer Einzelmotive kaum als historischer Roman im engeren Sinn figurieren. Eine zweite Gruppe bilden diejenigen Romane, deren Geschichtskonzeptionen weniger spekulativ und umfassend sind, die sich dafür aber direkter und konkreter auf die soziale Gegenwart des 19. Jahrhunderts beziehen. Der historische Roman scheint sich im 19. Jahrhundert mit abnehmender ästhetischer Komplexität stärker denjenigen Problemen zuzuwenden, die die zeitgleiche Historiographie prägen. Trotzdem sollte die Forschung vorschnelle Analogien zwischen historischem Roman und Geschichtsschreibung vermeiden, auch wenn diese sich auf den flüchtigen Blick hin aufdrängen. Wenn sich auch einerseits die Geschichtsnarration im 19. Jahrhundert als genuine Methode der Historiographie entwickelt11 und sich andererseits zahlreiche historische Romane durch im Vorwort behauptete Faktentreue, durch Quellenzitate und Subtext wissenschaftlich gerieren, zeigen sich bei genaue10 11

Vgl. Eggert 1983; Kurth-Voigt 1982; Lützeler 1988. Vgl. den vorstehenden Beitrag von DANIEL FULDA (Abschnitte III u. IV).

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rer üteraturwissenschaftlicher Analyse doch allzuhäufig manifeste Unterschiede. So desavouieren historische Romane aus dem Umkreis des Vormärz häufig Geschichtskonzeptionen der ,klassischen' Historiographie (Ranke, Droysen), die sich durch Kohärenz, Sinnhafügkeit, Individualität und genetische Entwicklung auszeichnen. Die verbreitete, meist in den Vorworten vorgetragene Selbstdefinition der historischen Romane, Symbiose von Poesie und Wissenschaft zu sein, könnte in diesem Sinn auch eine raffinierte Attitüde, ein Spiel mit Konventionen oder ein Tribut an literarische Moden sein. Viele der Texte dieser mittleren Ebene gehören zu den meistgelesenen ihrer Zeit und wurden häufig übersetzt. Die historischen Stoffe dieser Romane sind — wie die der Geschichtskultur des ganzen 19. Jahrhunderts — vielfältig, und besondere stoffliche Schwerpunkte kssen sich nur andeutungsweise erkennen. Häufig werden Epochen mit sozialen Unruhen und Revolutionen gewählt, und häufig nähern sich die Romane strukturell Gesellschafts-, Zeitoder Entwicklungsromanen. Unter ihren Autoren stand ein großer Teil dem Vormärz nahe. Neben Willibald Alexis (Cabanis [1832], Der Roland von Berlin [1840], Rabe ist die erste Bürgerpflicht [1852]) gehören Karl Spindler (Der Jude [1827], Der Jesuit [1829]), Berthold Auerbach (Spinoza [1841]), Theodor Mundt (Thomas Muntrer [1841]), Julius Mosen (Der Congress von Verona [1842]), Ernst Willkomm (Wallenstein [1844]), Heinrich König (Die Clubisten in Main% [1847]) und Joseph Viktor von Scheffel (Ekkehard [1855]) zu ihren Verfassern. Als eine dritte Gruppe können die erklärten Unterhaltungsschriftsteller der ersten Jahrhunderthälfte figurieren, die fast alle auch historische Romane schrieben. Autoren wie Louise Mühlbach (Ehefrau von Theodor Mundt), Ludwig Rellstab und Theodor Mügge waren Hauptlieferanten der Leihbibliotheken und stellten literarische Massenware her. Ihre Erzählungen haben meistens einfache Formen (Chronik- oder Generationenroman) und besitzen eher geringe dichterische Komplexität. Trotzdem sind sie von großem kulturhistorischen Interesse, weil sie — wie Architektur, Möbel, Kleider, Hausrat und Feste — Zeugnis geben von der Obsession des 19. Jahrhunderts, sich durch geschichtliches Detail, Kolorit und Milieu in frühere Epochen und Räume zu versetzen. In seiner Skizze Die Bücher und die Leseive/t (1827)12 ironisiert Hauff den historischen Roman als Massenartikel: Ein Autor will in der Leihbibliothek lernen, wie er erfolgreiche Literatur schreibt. Er beobachtet dort, wie Jean Pauls und Herders Werke unberührt bleiben, stattdessen aber Geister- und Rittergeschichten wie historische Romane, vor allem die Walter Scotts, sehr rege nachgefragt werden. In dem festen Entschluß, einen historischen Roman zu verfassen, will er nun die geschäftliche Seite betrachten und lernt im Buchladen, daß die schlechten Bücher, die Nachahmungen und Übersetzun12 Hauff 1970, Bd. 3, S. 55-71.

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gen, wenig kosten und viel gekauft werden, die guten dagegen, die Poesie und die Originale, teuer und schlecht verkäuflich sind. Mit diesen Einsichten versehen gründet der Erzähler eine kurzfristig sehr erfolgreiche Fabrik für historische Romane gleich der Übersetzungsfabrik für Scotts Romane, von der er vom Bibliothekar gehört hatte — und nimmt dort selbst die Arbeit auf: Weil ich einige Teile Deutschlands genau kannte, erhielt ich zuerst eine Stelle unter den Gegendmalern. Leider schrieb ich aber in dem Roman „Das Konzilium in Konstanz": „Leicht und schwebend trug sie der Kahn an den rebenbepflanzten Hügeln hin, von Basel nach Konstan^"; diese Stelle wurde von den sechs Direktoren übersehen, gedruckt, und die Rezensenten und das ganze Publikum wunderten sich höchlich, daß man damals den Rheinfall hinauf gefahren sei, und zur Strafe wurde ich in die Klasse der Gesprächfiihrer versetzt. Gespräche in Wirtshäusern, auf Straßen und Märkten, Händel und Wortstreit wurden mir zugeteilt. In dieser Eigenschaft blieb ich, bis einer der sentimental und heroisch Sprechenden einen großen Fehler machte. Er sagte nähmlich: „Die Wolken zogen bald vor, bald hinter dem Mond"; vergebens berief er sich auf die Autorität eines Herrn Spindler, aus dessen Roman: „Der Bastard" er diese herrliche Stelle entlehnt habe; man erklärte die Worte für widersinnig, weil die Wolken nicht hinter dem Mond vorbeiziehen, und setzte ihn ab; seine Stelle fiel mir zu. In diesem Fache leistete ich mehr als in den beiden ändern. So ist z.B. der größte Teil des Romans: „Der Dom %u Aachen oder die Paladine KarL· des Großen" von meiner Hand. Auch in „Barbarossa oder die Hohenstaufen", habe ich etwa zehn Kapitel geschrieben. Meine letzte Arbeit vor Auflösung des Unternehmens war das achte, neunte und fünfzehnte Kapitel in der „Schlacht von Kunersdorf'." Allein diese kurze Passage aus Hauffs Skizze macht deutlich, daß sich die Probleme des historischen Erzählens in Deutschland weitaus komplizierter darbieten als im Sinne eines bloßen Scott-Epigonentums, wie es von einzelnen Literaturhistorikern immer noch behauptet wird.14 Hauff distanziert sich spöttisch vom ,Scott-Fieber' der zwanziger Jahre und verfaßt doch selbst einen überaus erfolgreichen historischen Roman, der sich freilich durch seine raffinierte ikonographische Konzeption vom Scottschen Erzählen erheblich unterscheidet.15

» Ebenda, S. 69f. 14 Vgl. z.B. Aust 1994; als Kritik dazu die Besprechung von Claus-Michael Ort in Arbitrium 16 (1998), S. 27-30. 15 Zur deutschen Scott-Rezeption vgl. im vorliegenden Band den Beitrag von CHRISTOPH BRECHT (Abschnitt IV). Als Kritik einer auf das Scottsche Modell zentrierten Gattungsgeschichte vgl. auch den Überblick über die neuere Gattungsdiskussion im Beitrag von ANSGAR NÜNNING (Abschnitte III-V).

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II. Die Kultur- und Freiheitsallegorie - Ludwig Tieck, Vittoria Accorombona Eine figürliche Allegorie steht im Zentrum von Ludwig Tiecks 1840 vollendetem historischen Roman Vittoria Accorombona.™ Die Titelheldin Vittoria ist von überirdischer Ausstrahlung und großer Wirkung auf alle Menschen, die sie anschauen. Bei ihrer Vorstellung zu Beginn des Buches wird ihre große Anziehungskraft wie das changierende Spiel von Farben und Licht in einem Renaissanceporträt beschrieben: Diese Vittoria glänzte wie ein Wunder, oder wie eines jener Bilder aus der alten Zeit, die der entzückte Beschauer, einmal gesehn, niemals wieder vergessen kann. Kaum in das siebenzehnte Jahr getreten, war sie fast schon so groß wie ihre Mutter, ihr Antlitz war blaß und nur mit leichter Röte gefärbt, die oft, bei selbst schwacher Bewegung des Gemütes völlig entfloh, oder sich, schnell wechselnd, so seltsam erhöhte, daß sie dann als ein anderes, dem vorigen fast unähnliches Wesen erschien. Ihr zart geformter Mund glühte in rubinroter Farbe; sein Lächeln unendlich erfreuend, sein Zürnen oder Schmollen erschreckend. Die längliche, sanft gekrümmte Nase hatte den edelsten Charakter im Oval des schönen Antlitzes, und die Augenbrauen fein gezogen, dunkelschwarz, belebten den Ausdruck des feurigen Auges. Ihr Haar war dunkel, und hatte im Lichte Purpurschimmer, es floß geregelt über Nacken und Schulter: saß sie nachdenkend, die langen schneeweißen Finger in die Fülle des Haares halb vergraben, so hätte Tizian kein holderes Modell zu seinem schönsten Bildnisse antreffen können.17 Von Anfang an wird Vittoria als „Wunder" und „Kunstwerk", wie der Erzähler und ihr Liebhaber Bracciano sie nennen, dargestellt. Tieck umgibt seine Figur mit äußerstem Pathos: Ihre übergroße Klugheit und Weisheit, höchste dichterische Begabung und ungeheure Schönheit überhöhen sie zusammen mit ihrer Prophetengabe zu einer Idealgestalt. Dabei verkörpert sie in einem wörtlichen Sinn die natürlichen und geistigen Sphären, für die sie auch in Wort und Tat eintritt: die Dichtung als umschwärmte Dichterin, die Kunst als bildhafte, statuarische Erscheinung, die Wissenschaft als bewun16

Tieck 1840 (Erstdruck). Die Forschung hat die allegorische Struktur der Hauptfigur und damit der gesamten Erzählung nicht erkannt. Vorherrschend sind völlig verfehlte Auffassungen wie die Tabaras, der von „Tiecks realistisch [er] Gestaltung Vittorias" spricht (Wolfgang F. Tabara: Tieck. Vittoria Accorombona. In: Benno von Wiese [Hrsg.]: Der deutsche Roman. Vom Barock bis zur Gegenwart. Struktur und Geschichte. Bd. 1-2. Düsseldorf 1965. Bd. l, S. 329-352, hier S. 336). Am nächsten kommt der Tiefenstruktur des Romans Christoph Brecht in seiner Tieck-Studie, wenn er von der „höchst artifiziellen Faktur" des Romans spricht, von Vittorias „unerschöpflicher Künstlichkeit", „Verwandlungsfähigkeit" und davon, daß sie „die programmatische Figur einer artistischen Verrätselung [ist]" (Christoph Brecht: Die gefährliche Rede. Sprachreflexion und Erzählstruktur in der Prosa Ludwig Tiecks. Tübingen 1993 [Studien zur deutschen Literatur. 126], S. 240-242). " Tieck 1986, S. 532f

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derte Gelehrte, den Mythos als antike Göttin, die Schönheit als schöne, von allen Männern begehrte Frau, die Natur als übersinnliches, nymphenhaftes Naturwesen, die Freiheit als Apologetin der Banditen und ihrer Sache. Obwohl noch ein halbes Kind, ist sie wegen ihrer zahlreichen großen Talente, beeindruckenden Klugheit und vor allem wegen ihres dichterischen Vermögens berühmt und versammelt die Großen ihrer Zeit zu Gesprächen über Dichtung, Kunst und Philosophie um sich.18 Doch bei aller Verehrung ihrer Klugheit und Tugend wollen viele Männer sie wegen ihrer glänzenden, strahlenden Schönheit besitzen. Ausdrücklich wird einmal im Roman auf die allegorische Bedeutung Vittorias hingewiesen. Sperone, Mitglied der poetischen Akademie, ist einer der wenigen Männer, der gegen Vittorias erotische Ausstrahlung unempfindlich ist und sie deshalb zu analysieren vermag. Vittorias anziehendes Wesen, so Sperone, beruhe darauf, daß sie aus Bildern und Texten zusammengesetzt sei und dadurch neue, textuelle Bedeutungen hervorbringe: Bei solchen Gesichtern fällt dem gereiften Manne, der von den Reizen nicht mehr bestochen wird, Vieles ein: sie kommen mir vor, wie jene Bildchen und großartigen Physiognomien, mit denen oft gute Künstler unsre Dichter in Andeutungen und Allegorien haben ausschmücken wollen: sind diese kleinen Werke in ihren Verbindungen und Gruppen auf dem Titel, oder den Blättern selbst anziehend, und gut geraten, so lieset man in ihnen selbst wieder ahnend ein Gedicht.19

Obwohl diese Bemerkung einer Nebenfigur beiläufig scheint und unkommentiert bleibt, stellt sie doch einen Schlüssel für die allegorische Bedeutung des Romans dar. In ihrem allgemeinsten, rhetorisch-literarischen Sinn (nach Quintilian) ist die Allegorie ein Tropus, bei dem in einer Geschichte etwas gesagt und durch dieses Gesagte etwas anderes gemeint wird. Der indirekt gesagte allegorische Hintersinn bedarf, um erfaßt zu werden, einer Anweisung des Autors, wie er zu verstehen sei. Diese Anweisung wird bewußt gegeben und soll als verborgene, aber intendierte Leseanweisung erkannt werden.20 Die allegorische Erzählung besitzt also eine Anspielung auf eine zweite Geschichte hinter der ersten. Beide deuten und erhellen sich wechsel18

19 20

„Alle Welt sprach von der Wissenschaft, Tugend und dem Talent der schönen Victoria, und diese Besuche von ausgezeichneten und vornehmen Frauen und Männern, die poetischen Akademien, die Improvisationen, Musik und Gesänge, zuweilen der Vortrag einer gelehrten oder philosophischen Untersuchung, scharfsinnige Streitfragen und zierliche Disputationen, alles dies hatte das anmutige Haus gleichsam zu einem Musenhaine umgeschaffen, in welchem sich der heitere Mann, wie der ernste Jüngling wohlgefiel." (Ebenda, S. 648). Ebenda, S. 651. Vgl. Gerhard Kurz: Zu einer Hermeneutik der literarischen Allegorie. In: Walter Haug (Hrsg.): Formen und Funktionen der Allegorie. Symposion Wolfenbüttel 1978. Stuttgart 1979 (Germanistische Symposien Berichtsbände. 3), S. 12-24, hier S. 17.

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seitig. Auch in Tiecks historischem Roman wird hinter der ersten, historischen Geschichte eine zweite allegorische erzählt und gemeinsam mit ihr um die allegorische Zentralfigur angeordnet. Auf diese Weise verwirklichen sich im Roman beide elementaren Formen der Allegorie, die bildhafte Personifikation und die narrative Allegorie. Neben der Interdependenz zweier Sinnebenen steht die Interdependenz von Bild und Text, wobei die zweite Interdependenz die erste erzeugt: Das gegenseitige Verweisen von Bild und Text erzeugt die allegorische, doppelte Dimension der Erzählung. Tiecks zwischen 1575 und 1585 in und um Rom spielender Roman erzählt die Geschichte der Familie Accoromboni, die in den undurchschaubar scheinenden politischen Intrigen und den Wirren der Gewalt untergeht. Tieck hält sich eng an die historischen Quellen und weicht doch entschieden von ihnen ab, indem er Vittoria, die Tochter der Familie, mit Männern umgibt, die sie begehren. Nur wenige männliche Romanfiguren sind Vittorias machtvoller Ausstrahlung entzogen und frei von leidenschaftlicher Liebe zu ihr. Es ist die Verstrickung in die gewaltsamen erotischen Forderungen der Männer, die Tieck — abweichend von der geschichtlichen Überlieferung — für Vittorks Untergang und den der Familie Accoromboni verantwortlich macht. Immer wird dabei die Schönheit der Accorombona als ein bild- und statuenhaftes Glänzen beschrieben, als eine Schönheit mit künstlerischen, historischen oder mythologischen Vorbildern. Tieck versieht seine Zentralfigur mit zahllosen Text- und Bildbezügen. So entsteht ein vielfältig schillerndes, oder — wie Tieck immer wieder schreibt— „glänzendes" Kunstgebilde aus Bildern und Texten der menschlichen Kulturgeschichte. Wie der gesamte Roman in beinah enzyklopädischer Weise zahllose Dichter, Künstler, Musiker, Gelehrte und Politiker der Antike und der Renaissance erwähnt oder kurz ihre Person und Geschichte berührt, so werden auch der Hauptfigur Namen und Bilder beigegeben, freilich in einer besonderen Auswahl. Vittoria gleicht einem bkssen Frauengemälde von Tizian, aber auch einer schimmernden antiken Marmorstatue. Es gibt beinahe keine prominente mythologische Frauengestalt, mit der sie nicht verglichen würde: „Venus, Juno, Minerva und Diana in Ein Wesen verschmolzen",21 sagt Bracciano. Als verführerische, geistreiche, von den Dichtern verherrlichte Renaissancefrau wird sie mit Tullia d'Aragon22 und Lucretia Borgia23 verbunden, als von den Männern gewaltsam begehrte antike Frauengestalt mit der römischen Virginia, die von ihrem Vater Virginius getötet wurde, weil ein Decemvir sie entjungfern wollte.24 Wie die schöne, reiche Semiramis aus dem Orient erscheint Vittoria immer wieder von ihren Tauben 21 Tieck 1986, S. 811. 22 Ebenda, S. 548. 23 Ebenda, S. 608. 24 Ebenda, S. 610.

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umringt lind wie Semiramis ein Weltwunder schuf, fühlt Vittork die Kraft in sich, „um die himmelhohen Türme, Paläste und schwebenden Gärten meiner Phantasie aufzubauen."25 Als sie ihre passionierte Rede für die Freiheit und die Banditen hält, evoziert sie Vorstellungen der vielfältigen weiblichen Freiheitsfiguren des frühen 19. Jahrhunderts, die sich als erotische Hure oder keusche Heilige, als antike Göttin, proletarisches Flintenweib oder elegante femmme fragile ausbilden. Und als sie stolz und reichgeschmückt vor Gericht auftritt, wirft ihr der Richter vor, „statt der büßenden Magdalena, eine heroische Judith"26 zu sein — beide biblischen Frauenfiguren waren häufige Themen der Renaissance- und Barockmalerei. Den zahlreichen zusammengefügten Frauenbildern und -gestalten der Kulturgeschichte, die die Kunstfigur Vittoria ausmachen, entspricht die historische und stilistische Vielfältigkeit der ihr zugeordneten Dichtungen. Seine Steigerung erhält das artifizielle Bezugssystem von Bildern und Texten, das die Allegorie Vittoria Accorombona konstituiert, indem die Figur in ihren Dichtungen Bilder evoziert, die ihr eigenes Schicksal spiegeln. Semiramis steht für Vittorias Kostbarkeit und für die Macht, das Äußerste zu vermögen, der schwarzbraune Bräutigam für das Lebensgesetz, daß das Schöne durch das Häßliche grausam zerstört werden muß, und die Rosenknospe dafür, daß im Moment größter Schönheit und größten Glücks der Tod erscheint. Auch in dem Gedicht Ernst und Trauer des Lehens wird das Thema durch eine Bilderfolge illustriert. Wie es seit den Nazarenern zu einem Stilmerkmal historistischer Malerei gehört, in ein Gemälde zahlreiche weitere kleine historische Bilder einzufügen, so sind in die eklektizistischen Texte der Dichterin Vittoria Bilder eingelassen, die mit dem übergeordneten allegorischen Bild - der Allegorie Vittoria - korrespondieren. In Tiecks historischem Roman wuchern die Allegorien ins Hyperbolische. Jeder neu hinzukommende Name und Begriff, jedes neue Bild eröffnet eine Vielzahl von Bezügen zu den bereits vorhandenen Texten und Bildern, so daß ein kunstvolles, gelehrtes, fast undurchschaubares Gespinst von kulturgeschichtlichen Relationen entsteht. Doch zwischen den einzelnen Elementen gibt es keine intensive semantische Spannung, da sie sich nur ineinander spiegeln und auf diese Weise vervielfachen. Allein ihre erdrückende Fülle verhindert einen sinngebenden Bezug des einzelnen auf das Ganze. Neue Elemente können hinzugefügt und alte entfernt werden, ohne daß sich das Romangefüge verändert. Die Geschichten von Torquato Tasso, Naturgeistern, assyrischer Prinzessin und antiken Göttern werden nicht wirklich erzählt, sondern ihre Figuren werden lediglich als Bilder mit einem vagen Gefühlswert einblendet. In allen Bildern und Texten spiegelt sich die Zentralfigur, die sich durch diese konstituiert und so den additiv strukturierten Gesamttext zusammenhält. Vittoria und alle anderen Kunstfiguren agieren nicht 25

Ebenda, S. 582. 6 Ebenda, S. 767.

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aus inneren Motivationen heraus, sondern äußeren, überindividuellen Gesetzen folgend. Daher erscheint auch ihre Rede immer unnatürlich-sentenzhaft, oft feierlich. Die Entwicklung des Geschehens wird als zwangsläufig dargestellt und von Anfang an prophezeit. Auch die Gesetze — das Schöne, das zur Zerstörung bestimmt ist, die Freiheit, die in Gewalt untergeht — haben die Form von Bildern und Sentenzen und werden nicht differenziert, gedeutet, vertieft. Das hohe Motto ,Natur, Schönheit und Freiheit' wird durch kulturgeschichtliche Bilder illustriert, nicht problematisiert. Obwohl der Roman von den höchsten, übergeschichtlichen Werten und Idealen handeln will, erscheint die erzählte Epoche als flächenhafte, kunstvolle Bild- und Textkollage, in der ,Natur, Schönheit und Freiheit' bloß bildhaft beschworen werden. Hinter der Herrschaft der Bilder verbirgt sich das Fehlen von individuellen, vitalen Figuren, von motivierter Interaktion, von Ideengehalt — Defizite, die der Roman durch seinen gesteigerten emotionalen Ton kompensiert. Erzähler- wie Figurenrede sind pathetisch und salbungsvoll, oft auch künstlich-affektiert. Im Mißverhältnis zwischen Anspruch und Erfüllung liegt die besondere Signatur von Vittona Accorombona: Um überzeugend zu wirken, muß das artifizielle Konstrukt mit höchstem Ernst auftreten. So spricht die Kunstfigur Vittork voll Verachtung von der unnatürlichen Künstlichkeit manieristischer Kunst und trägt damit — ohne es zu wollen — die Poetologie des eigenen Romans vor: Die wahre echte Kunst ist hier in eine Künstlichkeit, in eine Seltsamkeit hinein geschraubt, die wohl Erstaunen und Verwunderung, nicht aber wahre Freude erregen kann. Die Natur ist gewissermaßen vernichtet, denn sie muß hier in den sklavischen Dienst von gezierten Spielereien treten, die nicht einmal eine Täuschung hervorbringen können, und die ermüden, wenn man den ersten Genuß der Neugier und Verwunderung hinter sich hat.27

III. Das Schloß - Wilhelm Hauff, Uchtenstein Der Erfolg von Wilhelm Hauffs historischem Roman Lichtenstein (1826),28 einem Lieblingsbuch des 19. Jahrhunderts, war nicht zuletzt ein Erfolg seiner Bilder. Neben den zahlreichen Nachdrucken, Übersetzungen, erzählenden und lyrischen Nachdichtungen, die Uchtenstein erfuhr, regte der Roman wie kein anderer seiner Zeit die bildhaften, darstellenden Gattungen an. Davon zeugen der Bau des Schlosses Lichtenstein, die Volksfeste, Festzüge und lebenden Bilder, die Dramatisierungen und Opernbearbeitungen, die zahllosen

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Ebenda, S. 575f. ^ Hauff 1970, Bd. l.

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Illustrationen und figürlichen Darstellungen.29 Die immer wieder vorgetragene Deutung der über die Jahrhundertwende hinaus reichenden UchtensteinBegeisterung, der Roman übertrage gelungen das in den zwanziger Jahren so erfolgreiche Romanmodell Walter Scotts auf die deutsche Geschichte,30 wird daher dem Besonderen dieser Romanrezeption kaum gerecht. Diese Auffassung steht im Zusammenhang mit dem von Zeitgenossen wie Literaturhistorikern topisch vorgetragenen Vorwurf gegen Hauff, er habe sich mit seinen vielfältigen Stoffen, Gattungen und Schreibweisen vollkommen dem literarischen Geschmack und dem Marktdiktat unterworfen. Der Roman spielt im Jahr 1519. In Württemberg hatte Herzog Ulrich (1487-1550) durch die Ausbeutung seiner Untertanen einen machtvollen Aufstand geschürt, der erst durch gewaltsame Unterdrückung zusammenbrach. Wegen seines fürstlichen Eigensinns verfiel er zweimal der Reichsacht. Als er 1519 im Alleingang gegen den Schwäbischen Bund die freie Reichsstadt Reutlingen unterwarf, rüstete der Schwäbische Bund zum Krieg gegen ihn und vertrieb ihn aus seinem eigenen Land. Bei Hauff liebt das Volk den Fürsten als einen von ihnen und wartet voll Sehnsucht auf seine Rückkehr und die Befreiung aus der Fremdherrschaft. Anders als der historische Ulrich, der nach seiner Vertreibung außerhalb seines Herzogtums Schutz suchte und dort die Wiedereroberung seines Landes vorbereitete, wartet der Hauffsche Ulrich in seinem Herzogtum heimlich auf den richtigen Augenblick, die Feinde wieder zu vertreiben. Am Tage lebt er verborgen in der Nebelhöhle am Fuße des Lichtenstein, einem steilen Felsen auf der Schwäbischen Alb, bei Nacht wird er auf dem Felsenschloß Lichtenstein gewärmt und gespeist. Der märchenhafte Absolutismus in Uchtenstein zeugt von den Ordnungssehnsüchten des frühen 19. Jahrhunderts. Den revolutionären Ansätzen seiner Zeit, die jahrhundertealten Herrschafts Strukturen zu überwinden, setzt Hauff die alte Ordnung entgegen. Fürst, Adel und Volk haben ihren festen, angestammten Platz im Weltgefüge, das durch ein Verändern der Positionen aus dem harmonischen, glückvollen Gleichgewicht gerät. Um der strengen, einfachen Ordnung subsumierbar zu sein, werden weder die historischen Konflikte noch die Figuren differenziert, sie bleiben reduktiv und schemenhaft. Wie in der traditionellen Literatur sind die Figuren Rollenfiguren, Repräsentanten der einzelnen Stände. Im Roman bilden die Schlösser, Häuser, Erker und Zinnen, Türme, Tore, Hallen und Zugbrücken, die Hügel, Täler und Höhlen, die Paniere, Fahnen und Wappen, Schwerter, Harnische, Barette, Helme und Visiere durch ihre wechselnden Verbindungen und Verweise ein komplexes Bilder29

Vgl. Friedrich Pfäfflin: Wilhelm Hauff und der Lichtenstein. Marbach 1981 (Marbacher Magazin. 18), S. 79-110. s° Vgl. Aust 1994, S. 81 f.

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und Zeichensystem, in dessen Zentrum das Schloß steht. Es wird wie kein anderes Bild des Romans mit komplexer, spannungsreicher Bedeutung versehen, in ihm verbinden sich alle semantischen Ebenen und Bezüge des Romans. Es deutet zunächst auf Herrschaft, ist aber auch Familienwohnhaus, Rittersitz und Gefängnis. Es verweist auf die Familienehre, auf Reichtum oder Armut, auf Treue und Tapferkeit. Manchmal erscheint das Schloß lebendig — wenn es schaut, schläft oder wacht, spricht oder schweigt. In ihm verkörpert sich die erotische Frau, in deren Tor und Halle der Mann einzudringen begehrt, um sich als Mann und Herrscher zu erweisen, aber auch der erotische Mann, dessen potente Männlichkeit durch feste, aufrechte Türme weithin sichtbar ist. Von den Türmen blickt er auf das schöne, ausgebreitete Land, das darauf wartet, von ihm erobert zu werden. Das Schloß zieht alle Blicke auf sich. Immer wieder werden die Schönheit, der Glanz und die Pracht der Schlösser beschrieben, von denen das Land wie übersät scheint. Und doch ist es nicht nur schönes Kunstwerk der Architektur, sondern auch eindrucksvolle Naturschöpfung, die wie natürlich aus der Landschaft gewachsen und mit der Natur aufs engste verbunden scheint: Wie das Nest eines Vogels auf die höchsten Wipfel einer Eiche oder auf die kühnsten Zinnen eines Turms gebaut, hing das Schlößchen auf dem Felsen. Es konnte oben keinen sehr großen Raum haben, denn außer einem Turm sah man nur eine befestigte Wohnung, aber die vielen Schießscharten im unteren Teil des Gebäudes, und mehrere weite Öffnungen, aus denen die Mündungen von schwerem Geschütz hervorragten, zeigten, daß es wohlverwahrt und trotz seines kleinen Raumes eine nicht zu verachtende Feste sei; und wenn ihm die vielen hellen Fenster des oberen Stockes ein freies, luftiges Ansehen verliehen, so zeigten doch die ungeheuren Grundmauern und Strebepfeiler, die mit dem Felsen verwachsen schienen, und durch Zeit und Ungewitter beinahe dieselbe braungraue Farbe, wie die Steinmasse, worauf sie ruhten, angenommen hatten, daß es auf festem Grunde wurzle, und weder vor der Gewalt der Elemente noch dem Sturm der Menschen erzittern werde.31

Hauffs Geschichtsroman entwirft eine Ordnung der Zeichen. Alles in diesem kleinen, modellhaften Kosmos - Menschen, Natur, Dinge, Zeichen — steht in einer definierten Ordnung. Auf diese Weise entsteht ein Kunstgebilde, das mit Hilfe geschichtlicher Zeichen und Formen Ordnung und Einheitlichkeit schafft. Der Roman entwirft eine künstliche symbolische Welt, die die Konflikte des geschichtlichen Stoffes in sich aufhebt und Natur, Gesellschaft und Herrschaft integriert. Hauff sucht in der Geschichte Ordnung und Form, nicht Problemgehalt. Ordnung, Synthese und Universalität, Komplemente der Verlusterfahrungen der Zeit nach 1800, prägen seine Darstellung der historischen Ereignisse. Im Anschauen der Bilder vermitteln sich auf ange« Hauff 1970, Bd. l, S. 179f.

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nehme Weise Natur, Herrschaft und Gesellschaft. Die Bilder evozieren die integrierende, geschlossene Ordnung, die früher metaphysisch verbürgt war. Wie in der Zeit der symbolischen Weltschau wollen die Bilder und Zeichen synthetisieren, in der Anschauung des Einzelnen soll das große Ganze, der tiefere, sinnhafte Zusammenhang erfahrbar werden.32 Doch dieser Zusammenhang ist nur noch künstlich, er ist ästhetisch gesetzt mit den Mitteln der Literatur. Die geschlossene Kette von bedeutungsvollen Zeichen, die von großem Reiz für das Auge ist, zählt zu den eindringlichsten Bildern in Hauffs Roman: Man denke sich eine Kette von Gebirgen, die von der weitesten Entfernung, dem Auge kaum erreichbar, durch alle Farben einer herrlichen Beleuchtung von sanftem Grau, durch alle Nuancen von Blau, am Horizont sich herzieht, bis das dunkle Grün der näher liegenden Berge mit seinem sanften Schmelz die Kette schließt. Auf diesen Gipfeln eines langen Gebirgsrücken erkennt das Auge Schlösser und Burgen ohne Zahl, die wie Wächter auf diese Höhen sich lagern und über das Land hinschauen. Jetzt sind ihre Türme zerfallen, ihre stattlichen Tore sind gebrochen, den tiefen Burggraben füllen Trümmer und Moos, und die Hallen, in welchen sonst laute Freude erscholl, sind verstummt, aber damals, als Georg auf dem Felsen von Beuren stand, ragten sie noch fest und herrlich; sie breiteten sich wie eine undurchbrochene Schar gewaltiger Männer zwischen den Heldengestalten von Staufen und Hohenzollern aus.33

IV. Denkmal und Gedenkstein —Joseph Viktor von Scheffel, Ekkehard Es ist mit des Menschen Geist wie mit der Rinde der alten Erde; auf den Anschwemmungen der Kindheit türmen sich in stürmischer Hebung neue Schichten auf, Fels und Grat und hohe Bergwand, die bis in den Himmel zu reichen wähnt, und der Boden, drauf sie ruht, ist mit Trümmern überschüttet und vergessen, - aber wie die starren Gipfel der Alpen oft sehnsüchtig zu Tale schauen und sich heimwehbewältigt hinabstürzen in die Tiefe, der sie entstiegen, so fahrt die Erinnerung zurück in die Jugend und gräbt nach den Schätzen, die sie unbeachtet beim tauben Gestein zurückließ.34 Mit diesen Zeilen beginnt der erfolgreichste Roman des 19. Jahrhunderts, Joseph Viktor von Scheffels Ekkehard (1855).35 Sie tragen in nuce eine im

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Zu dieser Darstellungstechnik und -intention als Kennzeichnen des Historismus vgl. den vorstehenden Beitrag von DANIEL FULDA (Abschnitt V). Ebenda, S. 106. Scheffel 1907, Bd. 2, S. 154. Vgl. Barbara Potthast: Zu Signaturen ästhetischer Erinnerung in Joseph Viktor von Scheffels Ekkehard (\%tt). In: Euphorion 94 (2000), S. 205-224.

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Text vielfach metaphorisch entfaltete Leitvorstellung vor, die Erinnern als Zum-Leben-Bringen der Vergangenheit apostrophiert. Dieser bildhaften Vorstellung zufolge ruht die Vergangenheit in den steinernen Tiefenzonen der Erde und wird im Laufe der Zeit immer höher durch jüngere, neu hinzukommende Ereignis- und Erlebnisschichten überlagert. Um nicht gänzlich überschüttet und versteinert zu werden, bedarf sie der Erinnerung. Erinnern wird versinnbildlicht als Graben im Gestein und Beleben des Vergangenen, Vergessen bedeutet im Bild Versteinern und Erstarren.36 Der Roman spielt im 10. Jahrhundert im Herzogtum Schwaben in der Landschaft um den Bodensee. Die verwitwete Herzogin Hadwig von Schwaben wählt sich Ekkehard, einen jungen, gelehrten Mönch des Klosters St. Gallen, der ihr auf ihrer Burg Hohentwiel Lateinunterricht erteilen soll. Sie verliebt sich in ihn, doch er erkennt und erwidert ihre Gefühle zunächst nicht. Die stolze Frau ist tief verletzt und ihre Liebe erkaltet. Als die kriegerischen Hunnen ins Land einfallen, gelingt es den Lehnstruppen der Herzogin in Gemeinschaft mit den Mönchen der Klöster St. Gallen und Reichenau, diese in einer blutigen Schlacht zu besiegen und zu vertreiben. Nachdem in der Burg wieder Frieden eingekehrt ist, wird sich Ekkehard langsam seiner Liebe zu Hadwig bewußt. Er erklärt sich ihr in leidenschaftlicher Bewegung in der Burgkapelle, wird überrascht und muß fliehen. In einer Felsenhöhle auf dem Säntis findet er zu sich. Später wird Ekkehard Kanzler, Berater und Prinzenerzieher am kaiserlichen Hof. Der Roman ist durchzogen vom Leitmotiv des Versteinerns der Geschichte und ihrer Ausgrabung und Wiederbelebung durch Erinnerung. Steine, das Steinerne und das Versteinern sind als Symbole der archaischen Vorzeit und damit der Geschichtlichkeit der Welt im Roman immer und überall präsent. Das Geschehen spielt vorzugsweise auf hohen, steinigen Felsen (Hohentwiel, Hohenkrähen, Säntis), die Räume, in denen gelebt wird, sind steinerne Klausen, Klosterzellen, Verliese und Höhlen. Immer wieder wird auf Steine als heilbringende Symbole verwiesen. Ekkehards Flucht nach seiner Befreiung aus dem Verlies gelingt — auf einem Stein. Eine besondere Rolle spielen auch versteinerte oder in Stein eingeschlossene Tiere. Steine sind im Roman bedeutungstragend, sie verweisen auf Metaphysisches, oft auf Heilbringendes. Häufig tragen sie etwas Lebendiges oder zum-Leben-Erweckbares in sich. Darüber hinaus gibt es drei Romangestalten, die den bildlich-semantischen Zusammenhang Stein-Versteinern-Leben-Tod-Erkenntnis-Heil auf allegorische Weise verkörpern: den Alten in der Heidenhöhle, die Klausnerin Wiborad und die heidnische Waldfrau. Joseph Viktor von Scheffels Ekkehard Hegt die grundlegende historistische Vorstellung zugrunde, daß Geschichte Bedingung der Gegenwart ist 36

Zur geschichtstheoretischen Diskussion um das Erinnern vgl. den Beitrag von GÜNTER BuTZER (Abschnitt II).

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und nur durch den Prozeß des Erinnerns als solche virulent wird.37 Der Roman entwirft ein Geschichtsbild, das in seinem idealistischen Grundzug der ,klassischen', durch Ranke und Droysen geprägten Phase des theoretischen Historismus entspricht. Wie dort ist bei Scheffel Geschichte durchdrungen von in ihr waltenden Kräften, die ihren überindividuellen Sinn verbürgen. Geschichte ist sinnvoll und bedeutungstragend. Die ihr zugrundeliegenden ,Ideen' und ,sittlichen Kräfte* (Droysen) sind überall wirksam, doch in letzter Instanz unerforschlich und dem Menschen unsichtbar. Zugleich mit der Vorstellung von geschichdicher Rückerinnerung im Medium ästhetischer Phantasie ist der Ikonographie des Romans das Moment des dynamischen Fortschritts und der ständigen Acceleration der Lebenswelten eingeschrieben. Im Bild des in der Tiefe immer wieder überschichteten, versteinernden Lebendigen synthetisieren sich beide antithetischen Momente geschichtlicher Erfahrung auf eindringliche Weise. Die Bewegung des hohen Auftürmens immer neuer Ereignis- und Erfahrungsschichten bedingt die in die Tiefen der Geschichte dringende Bewegung. In der Gestaltung dieser Dialektik von Fortschrittserfahrung und Erinnerungsbedürfnis kam Scheffels Roman auf besondere Weise dem Lebensgefühl der Gründerjahre entgegen. Die verzögerte Rezeption des Ekkehard seit den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts38 belegt, wie die umfassende Dynamik der kaiserzeitlichen Gesellschaft auf technischem, ökonomischem, sozialem und kulturellem Sektor einen Bewußtseinswandel und Paradigmenwechsel historischer Wahrnehmung und Erfahrung mit sich führte. Historische Erinnerung wurde zum zentralen kulturellen Problem und Kompensationsmedium in einer sich rapide wie nie zuvor verändernden Lebenswelt. Dichterisches Erinnern als Erinnern an Geschichte vollzieht sich im Roman mit Hilfe eines Inventars von Vorstellungen, Motiven und Symbolen. Die zeichenhaften Requisiten, Raumkonstellationen und naturhaften Vorgänge, die Steine, Höhlen, Gräber, Schätze, Reliquien und Fossilien, das Verschütten, Versteinern, Überströmen, Unterirdisch-Eingeschlossen-Sein, das Sich-Auftürmen, In-die-Tiefe-Stürzen und Versinken, das Graben, Freilegen und Beleben bilden ein kunstvolles, poetisches Bezugssystem. Die Herkunft dieser Erinnerungsverweise ist vielfältig und damit beliebig, sie stammen aus Mythos, Religion, Märchen, Natur und Geschichte. Entscheidend für ihren suggestiven Erinnerungswert ist ihre funktionale Position im ästhetischen Kontext. Das Zeichensystem von Erinnerungselementen widerspricht tendenziell historischer Authentizität im Text. Das vielgescholtene Skizzenhafte von Scheffels Mittelalterbild ist das notwendige, funktionale Komplement seiner Erinnerungsikonologie. Ein weiterer Grund des großen Erfolges von 37

38

Zu Begriff und Geschichtsauffassung des .Historismus' vgl. den Beitrag von LlNDA SIMONIS (Abschnitt I). Vgl.Eggertl971,S. 165.

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Scheffels Ekkehard liegt daher in der kunstvollen Verschränkung verschiedener zeitgenössischer Vorstellungskonzepte und Erzählmuster, die keines vertieft und übertont und vieles in der Andeutung beläßt.

V. Ästhetische Perspektiven jenseits der Sozialgeschichte Bis heute ist das Bild der historischen Romane des 19. Jahrhunderts entscheidend durch Georg Lukacs geprägt, der ihren sozialgeschichtlichen Gehalt ins Zentrum stellt und in ihnen die ,Widerspiegelung£ zeitgenössischer sozialer Verhältnisse sucht.39 Wegen der Dominanz der sozialgeschichtlichen Perspektive und der damit verbundenen Fixierung auf die erzählten Ereignisse blieben die vielfältigen ästhetischen und ikonographischen Implikationen historischer Romane vor allem der ersten Jahrhunderthälfte weitgehend unbeachtet. Dabei erweisen sich bei näherer Untersuchung die Bildstrukturen dieser Texte als komplexer als die Handlungsstrukturen, insofern als die ikonographischen Konzeptionen die sozialen Konzeptionen in sich aufnehmen und transzendieren. Die sprachlichen Bilder der historischen Romane stellen vielschichtige Allegorien dar, die auf die materiellen Bilder und Gegenstände des ästhetischen Historismus - allegorische Frauenfiguren, Schlösser, Gedenksteine — verweisen und mit ihnen korrespondieren. Gemeinsam bilden sie ein universales, scheinbar sinnhaftes Bildsystem, eine fragile Ästhetik aus geschichtlichen Bildern, die eine Zeitlang versucht, die sozialen Probleme des 19. Jahrhunderts allegorisch zu überhöhen. Dabei gehen Konstruiertheh, Überladenheit und höchster Anspruch an Sinnhaftigkeit einher. In der zweiten Jahrhunderthälfte beginnt das artifizielle Bilder- und Zeichensystem des ästhetischen Historismus zu degenerieren, indem die interkulturellen Bezüge zurücktreten hinter der Überfülle der historischen Details, die immer weniger jenen raffinierten allegorischen Zusammenhang bilden.40 Es ist der wilhelminische Historismus, von Gundolf als „Verkitschung deutschen Altertums" bezeichnet und von Nietzsche in seiner Zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung Vom Nutzen und Nachtheil der Historic för das lieben (l 874) als unlebendig und falsch verurteilt, der rückwirkend die vielfältige, komplexe Geschichtskultur des 19. Jahrhunderts vereinheitlicht und als Untersuchungsgegenstand desavouiert hat.

39 40

Lukacs 1965. Vgl. dazu den Beitrag von CHRISTOPH BRECHT (bes. Abschnitt V); daran anschließend legt der Beitrag von GREGOR STREIM dar, wie Autoren der literarischen Moderne der ,Krise des Historismus' wieder mit .ikonographischen' Darstellungsverfahren zu begegnen suchten.

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VI. Auswahlbibliographie 1. Quellen Die umfassendste Bibliographie deutscher historischer Romane stellt die am Institut für Germanistik der Universität Innsbruck im Rahmen des .Projekts Historischer Roman' von Kurt Habitzel, Günter Mühlberger und Gregor Retti erarbeitete InternetDatenbank ,Der deutschsprachige historische Roman 1780-1945' dar (http://www. germanisök.uibk.ac.at/hr/start.html), die 6.700 deutschsprachige Originalromane zwischen 1780 und 1945 nachgewiesen hat. Zu ca. 2.000 Romanen wurden Textbeispiele (Titelseiten, Vorwörter, Leseproben, Illustrationen) aufgenommen. Hauff, Wilhelm: Sämtliche Werke in drei Bänden. Nach den Originaldrucken und Handschriften. Textredaktion und Anmerkungen von Sibylle von Steinsdorff. Mit einem Nachwort und einer Zeittafel von Helmut Koopmann. München 1970. Scheffel, Joseph Viktor von: Ekkehard. In: Ders.: Gesammelte Werke in sechs Bänden. Mit einer biographischen Einleitung von Johannes Proelß. Bd. 1—2. Stuttgart 1907. Tieck, Ludwig: Vittoria Accorombona. Ein Roman in fünf Büchern. Breslau 1840. Tieck, Ludwig: Schritten. Bd. 12: Schritten 1836-1852. Hrsg. von Uwe Schweikert. Frankfurt a. M. 1986 (Bibliothek deutscher Klassiker. 13). 2. Forschungsliteratur Aus t, Hugo: Der historische Roman. Stuttgart, Weimar 1994 (SM. 278). Baßler, Moritz, Christoph Brecht, Dirk Niefanger u. Gotthart Wunberg: Historismus und literarische Moderne. Mit einem Beitrag von Friedrich Dethlefs. Tübingen 1996. Dotzler, Bernhard J., u. Ernst Müller (Hrsg.): Wahrnehmung und Geschichte. Markierungen zur Aisthesis materialis. Berlin 1995 (LiteraturForschung). Eggert, Hartmut: Der historische Roman des 19. Jahrhunderts. In: Helmut Koopmann (Hrsg.): Handbuch des deutschen Romans. Düsseldorf 1983, S. 342-355, 632-634. Eggert, Hartmut: Studien zur Wirkungsgeschichte des deutschen historischen Romans 1850-1875. Frankfurt a.M. 1971 (Studien zur Philosophie und Literatur des neunzehnten Jahrhunderts .14). Eke, Norbert Otto, u. Hartmut Steinecke (Hrsg.): Geschichten aus (der) Geschichte. Zum Stand des historischen Erzählens im Deutschland der frühen Restaurationszeit. München 1994 (Corvey-Studien. 4). Geppert, Hans Vilmar: Die Anfänge des historischen Romans in der europäischen Literatur. In: Stefan Krimm, Dieter Zerlin u. Wieland Zirbs (Hrsg.): Geschehenes erzählen — Geschichte schreiben. Literatur und Historiographie in Vergangenheit und Gegenwart. München 1995 (Acta Ising 1994), S. 104-133. Geppert, Hans Vilmar: Der .andere' historische Roman. Theorie und Strukturen einer diskontinuierlichen Gattung. Tübingen 1976 (Studien zur deutschen Literatur. 42).

Historische Romane und ästhetischer Historismus

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Habitzel, Kurt, u. Günter Mühlberger: Gewinner und Verlierer. Der historische Roman und sein Beitrag zum Literatursystem der Restaurationszeit (1815-1848/49). In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Lit. 21.1 (1996), S. 91-123. Hess, Günter: Allegorie und Historismus. Zum ,Bildgedächtnis' des späten 19. Jahrhunderts. In: Hans Fromm, Wolfgang Harms u. Uwe Ruberg (Hrsg.): Verbum et Signum. Beiträge zur mediävistischen Bedeutungsforschung. Bd. 1. München 1975, S. 555-591. Kurth-Voigt, Lieselotte E.: Historische Romane. In: Horst Albert Glaser (Hrsg.): Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte. Bd. 1-10. Bd. 7: Vom Nachmärz bis zur Gründerzeit: Realismus. 1848-1880. Reinbek 1982, S. 125-143. Lützeler, Paul Michael: Bürgerkriegs-Literatur. Der historische Roman im Europa der Restaurationszeit (1815-1830). In: Jürgen Kocka (Hrsg.): Bürgertum im 19. Jahrhundert. Bd. 1-3. Frankfurt a. M. 1988. Bd. 3, S. 232-256. Lukacs, Georg: Der historische Roman. Werke Bd. 6: Probleme des Realismus III. Neuwied, Berlin 1965. Müller, Harro: Historische Romane. In: Edward Mclnnes u. Gerhard Plumpe (Hrsg.): Bürgerlicher Realismus und Gründerzeit 1848-1890. München, Wien 1996 (Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur. 6), S. 690-707. Müller, Harro: Schreibmöglichkeiten historischer Romane im 19. und 20. Jahrhundert. In: The Germanic Review 69.1 (1994), S. 14-19. Muller, Klaus E., u. Jörn Rüsen (Hrsg.): Historische Sinnbildung. Problemstellungen, Zeitkonzepte, Wahrnehmungshorizonte, Darstellungsstrategien. Reinbek 1997 (Rowohlts Enzyklopädie. 55584). Oexle, Otto Gerhard, u. Jörn Rüsen (Hrsg.): Historismus in den Kulturwissenschaften. Geschichtskonzepte, historische Einschätzungen, Grundlagenprobleme. Köln, Weimar, Wien 1996 (Beiträge zur Geschichtskultur. 12). Oexle, Otto Gerhard: „Historismus". Überlegungen zur Geschichte des Phänomens und des Begriffs. In: Jahrbuch der Braunschweigischen Wissenschaftlichen Gesellschaft 1986, S. 119-155. Ort, Klaus-Michael: Zeichen und Zeit. Probleme des literarischen Realismus. Tübingen 1998 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur. 64). Potthast, Barbara: Märkische Geschichte als unvollendete Heilsgeschichte. Eine neue Interpretation von Willibald Alexis' historischem Roman Der falsche Woldemar (1842). In: Wolfgang Beutin u. Peter Stein (Hrsg.): Willibald Alexis (1798-1871). Ein Autor des Vor- und Nachmärz. Bielefeld 2000 (Vormärz-Studien. 4), S. 195215. Schlaffer, Hannelore, u. Heinz Schlaffer: Studien zum ästhetischen Historismus. Frankfurt a. M. 1975 (es. 756). Scholtz, Gunter (Hrsg.): Historismus am Ende des 20. Jahrhunderts. Eine internationale Diskussion. Berlin 1997. Sottong, Hermann J.: Transformation und Reaktion. Historisches Erzählen von der Goethezeit zum Realismus. München 1992 (Münchner Univ.-Schriften, Phil. Fak.; Münchner Germanistische Beiträge. 39). Tausch, Harald (Hrsg.): Historismus und Moderne. Würzburg 1996 (Literatura. 1) Wittkau, Annette: Historismus. Zur Geschichte des Begriffs und des Problems. 2., durchgesehene Aufl. Göttingen 1994 (Sammlung Vandenhoeck).

WOLFGANG E. J. WEBER Geschichte und Nation. Das ,nationale Princip' als Determinante der deutschen Historiographie 1840-1880 I. Voraussetzungen und Dimensionen der nationalen Geschichtswissenschaft.. 344 II. Die nationale Geschichte in der zeitgenössischen Wissenschaftstheorie 348 III. Zur Theorie und Praxis der nationalen Geschichtsdarstellung 358 IV. Resümee 362 V. Auswahlbibliographie 362

Dass die Erfassung des historischen Denkens durch die nationale Bewegung seit Anfang des 19. Jahrhunderts eine grundlegende Transformation wissenschaftlichen Umgangs mit Geschichte und historischer Darstellung mit sich brachte, gehört seit langem zum gesicherten Kenntnisbestand der Historiographiegeschichte. Systematische Analyse hat dieser Vorgang dennoch (oder gerade deshalb) bisher kaum erfahren. Was vorliegt, sind vielmehr zahlreiche Untersuchungen zu Einzelaspekten, unter denen die ästhetisch-literarische Komponente jedoch wenig prominent vertreten ist.1 Der vorliegende Beitrag sieht seine Aufgabe deshalb darin, eine historisch-methodische Einführung mit einem Blick auf die zeitgenössische Theorie der Geschichtswissenschaft im Allgemeinen und der Geschichtsdarstellung im Besonderen sowie Bemer-

1

Im Vordergrund stehen Arbeiten zur allgemeinen Theorie und Methode sowie zu einzelnen Vertretern, Untersuchungsbereichen und Themen der Geschichtswissenschaft, ferner zu den Grundlagen, Formen, Veränderungen und politischen Funktionen des Geschichtsbildes, vgl. zur jüngeren Literatur die Zusammenstellungen in Berger 1997 und 1999, Küttler/Rüsen/Schulin 1997a und 1997b, Schleier 2000 und demnächst Voss 2001. Eine Ausnahme ist dagegen Fulda 1996b, der eine wesentliche Ergänzung der vorliegenden Ausführungen aus literaturgeschichtlicher Sicht darstellt. Zur Anlage und Zielsetzung der von Wolfgang Küttler, Jörn Rüsen und Ernst Schulin herausgegebenen Geschichtsdiskurs-Bände, die in der fachwissenschaftlichen Historiographiegeschichte als maßgebend angesehen werden, vgl. wenngleich kritisch ergänzungsfähig Blanke 2000. Angesichts nur beschränkt zur Verfügung stehenden Raumes wird im Folgenden auf Einzelnachweise weitgehend verzichtet.

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kungen zur Praxis der Historiographie im Beobachtungszeitraum zu verbinden.

L

Voraussetzungen und Dimensionen der nationalen Geschichtswissenschaft

Die Beeinflussung der Geschichtswissenschaft spezifisch durch den Nationalismus abzuschätzen ist deshalb schwierig, weil sich diese Einflussnahme im Rahmen der nahezu gleichzeitigen historistischen Erneuerung der Geschichtswissenschaft vollzog. Dass Historismus und Nationalgeschichte dennoch nicht gleichgesetzt werden können, macht ein Blick auf deren unterschiedliche Entstehung und Qualität deutlich. Der Historismus war ein Produkt der Verarbeitung der Erfahrung der Französischen Revolution und des tiefgreifenden historischen Wandels, den diese Revolution hervorrief. Er stellte eine „spezifische Grundauffassung historischer Erkenntnis formen und Sinnbildungsmethoden" dar, über deren Merkmale allerdings keine völlige Einigkeit besteht.2 Die Aufladung des geschichtlichen Denkens durch das „nationale Princip"3 hingegen setzte bereits die Existenz des deutschen Nationalismus voraus, der seinerseits auf die Revolutionsepoche, die Napoleonische Fremdherrschaft und die Restitution reagierte. Sie bestand nicht in der Hervorbringung einer neuen Theorie und Methode der Geschichtswissenschaft, sondern bildete einen materiellen Orientierungspol, der freilich auch in die Grundlagen der Geschichtsbefassung ausstrahlte.4 Die Aneignung des nationalen Denkens durch die universitäre und außeruniversitäre Geschichtswissenschaft erfolgte über eigenständige Beiträge etablierter Historiker zum nationalen Denken, die Betrauung bekannter nationaler Autoren mit historischen Professuren und über die Benutzung und Verarbeitung entsprechenden nationalen Schriftguts. Ihren entscheidenden Impuls bildete die unmittelbare Erfahrung der Kraft und Dynamik des nationalen Aufbruchs. Die Bedingungen und Tendenzen der nationalen Entwicklung prägten die wechselnden Ausformungen der nationalgeschichtlichen Konzeption entscheidend mit. 2

Schleier 2000, S. 31 (Zitat), mit Bezug auf den Historismus im engeren Sinne, also die entsprechende Fachkonzeption. Vgl. zur jüngsten Historismusdebatte neben den einschlägigen Beiträgen in Küttler/Rüsen/Schulin 1997a vor allem Blanke 1991b, Jaeger/ Rüsen 1992, Iggers 1995 und 1996, Hardtwig 1997, Jordan 2000 und im Hinblick auf die literarisch-ästhetische Komponente zurecht kritisch Fulda 2000. 3 Giesebrecht 1859, S. 11 u. ö. 4 Um es noch einmal zu verdeutlichen: Das geläufige Verfahren, dem Historismus uranfanglich nationale Imprägnierung zuzuschreiben, wie es trotz bereits gewisser Einschränkungen auch noch Jaeger/Rüsen 1992 unternehmen, scheint mir nicht überzeugend.

Das ,nationale Princip' als Determinante der deutschen Historiographie

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Als materieller Orientierungspol betraf die Nationalgeschichte zunächst und durchgehend den Objektbereich der Geschichtswissenschaft, also diejenigen Räume, Epochen und Gegenstände, die sich der Historiker zur Untersuchung vornimmt. Typologisch-systematisch stehen zumindest drei Raumbezüge (lokal/regional, national, universal) zur Verfugung. Der Historismus war grundsätzlich mit keinerlei Präferenzen verbunden, auch wenn sich aus seiner Methodik sekundär bestimmte Vorlieben ergaben. Raumbezüglich waren in seinem Rahmen deshalb im Prinzip alle Zugriffe zugelassen und erwünscht; Leopold von Ranke betrachtete bekanntermaßen die Universalgeschichte als letztlich erstrebenswerteste Ebene. Ebenso konzipierte er eine prinzipiell wechselseitige bzw. von unten nach oben führende Beziehung der Raumebenen. Die nationale Aufladung der historistischen Geschichtswissenschaft bedeutete demgegenüber naturgemäß eine tendenziell absolute Bevorzugung der nationalen Ebene, entsprechend eine deutliche Bedeutungsabschichtung der supra- und subnationalen Bezüge und die Erhebung der nationalen Ebene zur historisch wirksamsten, d. h. die Lokal- und Regional- ebenso wie die Universalgeschichte bestimmenden Größe. Beim Epochenbezug ergab sich eine weniger klare Wirkung. Wieder ist dem Historismus eine gleichgewichtige Erfassung aller Zeitalter zuzuschreiben. Dem nationalen Interesse musste ebenfalls grundsätzlich an allen Epochen der jeweiligen Nationalgeschichte gelegen sein. Rangabstufungen konnten sich jedoch aus zwei Gründen ergeben. Mit wachsendem Grad der politischen Funktionalisierung der Geschichtsbefassung rückte einerseits die Neuere oder sogar die Zeitgeschichte in den Vordergrund. Andererseits konnte sich der nationale Geschichtseifer bevorzugt auf diejenigen Etappen der nationalen Vergangenheit werfen, die entweder besonders plausibel als historisch .groß* dargestellt werden konnten, oder auf quellenarme Perioden, die gerade deshalb zu entsprechender Stilisierung geeignet erschienen. Gegenständlich setzte zunächst eher der Historismus eine Wahrnehmungs- und Relevanzhierarchie fest, nämlich nach dem Maßstab der Bedeutsamkeit für die Ideen, die man als Verkörperung der eigentlichen Triebkräfte des historischen Prozesses ansah (Ideenlehre). Der Nationalgeschichte mussten demgegenüber im Prinzip alle Gegenstände und Gegenstandsbereiche wertvoll erscheinen, sofern sie nur eben der eigenen Nationalgeschichte zugehörten. Dennoch mussten sich aus den wechselnden Vorstellungen darüber, welche Gegenstände als für die Nationalgeschichte besonders bedeutsam einzuschätzen waren, variable Selektionen und Abstufungen ergeben. Bedeutsamkeit konnte dabei wieder eher gegenwartsabschichtend-historisch oder gegenwartsbezogen-politisch aufgefasst werden, so dass auch hier der Funktionsaspekt über die jeweiligen Lösungen mitbestimmte. Der Erkenntnisaspekt der Geschichtswissenschaft bezieht sich auf die Art und die Verwertung des zu erarbeitenden historischen Wissens. Der Historis-

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mus verfolgte bekanntermaßen allgemeine Bildungs- und Orientierungsinteressen auf hohem und höchstem Niveau, die bevorzugt an die intellektuellen Eliten adressiert waren.5 Der nationalhistorische Impuls hingegen musste nicht nur an der Beibringung möglichst breiten und sicheren Wissens über die Geschichte der je eigenen Nation für im Prinzip alle interessiert sein, sondern auch nach mehr oder weniger direktem Einsatz dieses Wissens zur fortschreitenden Verbesserung der Lage dieser Nation streben. Diese Aufgabe konnte er allerdings wieder unterschiedlich akzentuieren. Nationalhistorische Bildung konnte als langfristige Massenbildung im Sinne der Stärkung nationaler Identität und nationalstaatlicher Loyalität oder als Elitenbildung zwecks Verbesserung national verantwortlicher und vorteilhafter Entscheidung und Verantwortung oder als Kombination dieser beiden Möglichkeiten konzipiert werden. Eng mit dem Erkenntnisaspekt verbunden ist der Funktionsaspekt der Geschichtswissenschaft. Die aufgeklärte Geschichtswissenschaft sollte vor allem der historischen Untermauerung philosophisch vorab gewussten menschheitsgeschichtlichen Verlaufs und der Erweiterung pragmatischer Wissenshorizonte dienen; der Historiker verstand sich als kritischer Aufklärer und pragmatischer Wissensvermittler, woraus sich entsprechende gelehrte und schriftstellerische Rollenanforderungen ergaben. Der Historismus verlangte nach dem breit gebildeten, mit hermeneutischer Intuition begabten, methodisch an den Quellen bestens geschulten, dem Lärm der Welt entrückten, um nichts als die objektive Wahrheit ringenden, hingebungsvollen „Priester der Kilo",6 um die verborgenen Formen und Kräfte der Geschichte aufdecken, verstehen und den Gebadeten darlegen zu können. Die Nationalgeschichte wiederum betrachtete wie gesagt in variabler Gewichtung und mit wechselndem politischen Bezug nationalhistorische Massen- und Elitenbildung als ihre Aufgabe. Geschichtswissenschaft sollte nach ihr also zur politischen Leitund Orientierungswissenschaft werden, aus dem universitären Elfenbeinturm 4ns Leben' treten. Daraus ergab sich die Erwartung und Beanspruchung öffentlicher bzw. staatlicher Förderung, aber auch ein neuerlicher Rollenwechsel des Historikers, der nunmehr zum im genuinen Sinn öffentlichen Funktionsträger, also nationalen Beamten, avancierte. Er wurde zum historisch-politischen Mahner, Deuter und Ratgeber und konnte über diese Funktionen im Bewährungsfall gesteigerte öffentliche Wertschätzung erwarten und fordern. Um sich in dieser Rolle bewähren zu können, musste er freiZur goethezeitlichen Genese dieses Bildungskonzeptes vgl. den Beitrag von THOMAS PRÜFER (Abschnitt III). Weber 1987; vgl. Georg G. Iggers: Historisches Denken im 19. Jahrhundert. Überlegungen zu einer Synthese. In: Küttler/Rüsen/Schulin 1997a, S. 459-470, hier S. 465. Zur Professionalisierung im weiteren Horizont aufschlussreich ist Torstendahl/Brause 1996.

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lieh gegebenenfalls den abgeschirmten Raum der Universität, des Archivs und der Bibliothek verlassen und sich entsprechende Äußerungs- und Auftrittsformen aneignen. Dazu gehörte auch, sich im Schriftlichen nicht nur verständlich, sondern auch für die nationale Sache motivierend und mobilisierend ausdrücken können. Am schwierigsten sind die historistischen und nationalgeschichtlichen Elemente des methodischen Aspekts der Geschichtswissenschaft des 19. Jahrhunderts zu unterscheiden. Zu den weitgehend übereinstimmend als genuin historistisch eingeschätzten Merkmalen zählen die bereits genannte Ideenlehre und die Neigung, den Staat als wichtigsten Ideenträger anzusehen, „die Individualisierung des Geschichtsprozesses und der Geschichtsbetrachtung" sowie die Erhebung der Hermeneutik bzw. der „idiographisch-individualisierenden Methode" zur Methode der Geschichtswissenschaft schlechthin, die in engster Verbindung mit der bereits in der Spätaufklärung grundlegend verbesserten, um .Objektivität' bemühten (philologischen) Quellenkritik auszuüben sei.7 Die Nationalgeschichte verstärkte und konkretisierte die Neigung zur Staatsverehrung nationalstaatlich und deklarierte zur obersten Aufgabe historischer Sinnstiftung eben die nationalgeschichtliche, mit der wesentlichen Folge der Perspektivierung historischer Kausalität auf den nationalgeschichtlichen Entwicklungstunnel bzw. die Festigung des nationalhistorischen Tunnelblicks. Da derartige Sinnstiftung grundsätzlich nicht außerhalb von national dominierenden Sinnstiftungsmustern oder gar gegen derartige Muster erfolgen kann, sondern sich diesen inhaltlich und methodisch zuordnen muss, dürfte die Nationalgeschichte auch die Entwicklung einer spezifischen .nationalen' Methode wissenschaftlicher Geschichtsbefassung begünstigen bzw. begünstigt haben.8 Mit dieser Veränderung einher ging die entsprechend enge Verknüpfung von Methode und ,Leben' sowie die Konzeptualisierung einer ,höheren', nämlich am Schicksal und an den Bedürfnissen der Nation orientierten ,Objektivität'. Im Hinblick auf die Glaubwürdigkeit der Aussagen und gegebenenfalls angesichts von inländischer und auswärtiger Deutungskonkurrenz war jedoch gleichzeitig auf möglichste Unangreifbarkeit sowohl der Formen der Wahrheitsermittlung als auch von deren Vermittlung zu setzen. Mit anderen Worten, die Nationalgeschichte unterstützte den Prozess der Verwissenschaftlichung, den der Historismus

Schleier 2000, S. 31, mit den erforderlichen weiteren Verweisen. Vgl. zur lutherischen Wurzel dieser .nationalen Methode' Reinhard 1993, mit Bezug u.a. auf die bekannte Formulierung des Freiburger Historikers Gerhard Ritter noch in den 1950er Jahren, dass die deutsche Geschichtswissenschaft des 19. und 20. Jahrhunderts „die geistige Erscheinungsform der Nation" geworden sei (S. 371). Der nationalliberale Historiker Ludwig Häusser gestand im Übrigen auch den nichtdeutschen Geschichtswissenschaften — exemplarisch der englischen — den nationalen Blick als „Form der Subjectivität in der Geschichtsschreibung" zu (Häusser 1859, S. 45).

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über seine Verkomplizierung und Autonomisierung der geschichtswissenschaftlichen Methode und der Aufgabe der Geschichtswissenschaft bereits eingeleitet und beschleunigt hatte. Nicht nur funktions-, erkenntnis- und objektbezogen, sondern auch unter dem Methodenaspekt war also von der nationalen Indienststellung der Geschichtswissenschaft deren intensivierte universitäre Institutionalisierung und Professionalisierung zu erwarten. Sind diese Wirkungsannahmen zutreffend, dann muss für den hier besonders interessierenden Gesichtspunkt der ästhetischen Konstitution der historistisch-nationalen Geschichtswissenschaft eine komplexe Bedingungslage unterstellt werden. An der Unaufhebbarkeit der sprachlich-poetischen Konstitution jeglichen historischen Denkens und jeglicher historischer Darstellung vermag keine wie auch immer geartete kulturell-politische Aufladung wissenschaftlicher Geschichtsbefassung etwas zu ändern. Zu unterstellen ist aber, dass die nationale Indienstnahme und Aufrüstung der historistischen Geschichtswissenschaft einerseits die ästhetisch-sprachliche Verankerung der Methode der Disziplin in der nationalen Kultur förderte sowie nach entsprechender Optimierung der Ausdrucks- und Darstellungsformen verlangte. Der nationale deutsche Historiker des 19. Jahrhunderts musste angesichts der protestantischen Prägung der Kultur seiner Epoche historisch ,in der Sprache Luthers', die freilich nach mehrfachen grundlegenden Transformationen zur deutschen Nationalsprache geworden war, denken.9 Er hatte sich in seinen Werken ebenfalls dieser Sprache zu befleißigen und umso mehr, je unmittelbarer er national wirken wollte, nicht nur besonders effizient sinnstiftende Textverfahren — grundsätzlich: die Prosanarration — zu wählen, sondern gegebenenfalls auch entsprechend emotionalisierende und mobilisierende Formen. Andererseits verlangten das Glaubwürdigkeitspostulat, die Konkurrenz und deren Folgen Disziplinierung und Professionalisierung des gesamten historischen Geschäfts genau das Gegenteil, also möglichste Nüchternheit und Schmucklosigkeit der Sprache sowie den Einsatz ausschließlich fachliterarischer Gattungen.

II. Die nationale Geschichte in der zeitgenössischen Wissenschaftstheorie Um die oben historisch-typisierend zusammengestellten Determinationsverhältnisse und Neubestimmungen der geschichtswissenschaftlichen Matrix im Zuge der nationalgeschichtlichen Aufladung des Flistorismus historisch genauer festzumachen, liegt nahe, sie im Spiegel der zeitgenössischen wissenschaftstheoretischen Selbstreflexion zu prüfen. Davor zu klären ist jedoch, ob derartige geschichtstheoretische Reflexion auch in der angeblich eher

Vgl. Reinhard 1993, S. 372.

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theoriefeindlichen historistischen Epoche überhaupt stattfand. Nach HorstWalter Blanke ist das zwar durchaus der Fall,10 während Daniel Fulda in seiner bahnbrechenden Untersuchung 1996 darauf aufmerksam gemacht hat, dass die sprachlich-poetische Basis des historischen Denkens und der Historiographie seit dem Ausgang der historistischen Gründungsperiode „nicht mehr in den Reflexionshorizont des geschichtswissenschaftlichen Historismus" gefallen sei.11 Wir hätten es also mit einer entsprechend verengten theoretischen Debatte zu tun. Tatsächlich ist diese Annahme jedoch nur bedingt richtig. Sie trifft unbezweifelbar zu für dasjenige von Daniel Fulda selbst analysierte geschichtstheoretische Werk, welches gemeinhin als wissenschaftstheoretisches Spitzenprodukt und praxisbestimmendes Lehrbuch der historistischen Geschichtswissenschaft zugleich angesehen wird, also Johann Gustav Droysens Historik.12 Demgegenüber ist festzuhalten, dass dieses bedeutende Werk erstens noch aus der Auftaktphase der nationalhistorischen Transformation der deutschen Historiographie stammt und zweitens seine Praxisrelevanz bisher nicht eigentlich nachgewiesen ist. Vielmehr spricht Einiges für eine insgesamt eher dekorative oder zeremonielle Verwendung durch die nachgewachsenen Historikergenerationen. Auf der anderen Seite ergibt die Durchsicht desjenigen Fachorgans, dem mit höherer Wahrscheinlichkeit theoretische und praktische Repräsentativität zugeschrieben werden kann, der Historischen Zeitschrift, durchaus noch entsprechende Problemwahrnehmung und -diskussion.13 Das erste Heft der Historischen Zeitschrift bot seinen Lesern 1859 unter der Überschrift Zur Charakteristik der heutigen Geschichtschreibung in Deutschland gleich sechs verschiedene theoretisch-methodische Beiträge.14 Bis an das Ende des hier zu betrachtenden Zeitraums folgten jedoch nur noch wenige derartige Erörterungen, darunter 1885 ein Aufsatz des Greifswalder Ordinarius Heinrich Ulmann (1841—1931) Über wissenschaftliche Geschichtsdarstellung.^ Diese Abhandlung verdient schon deshalb unsere Beachtung, weil sich in einer

10 Vgl. Blanke 1991a. 11 Fulda 1996a, S. 441. 12 Droysen 1977 [1857], vgl. die entsprechende Benutzung bei Fulda 1996a, S. 411^43, ferner Schuppe 1998. 13 Vgl. die Einleitung und verstreuten Bemerkungen in dem vorzüglichen Sammelband Matthias Middell (Hrsg.): Historische Zeitschriften im internationalen Vergleich. Leipzig 1999 (Geschichtswissenschaft und Geschichtskultur im 20. Jahrhundert. 2), der jedoch leider keinen spezifischen einschlägigen Beitrag enthält. 14 Nämlich Droysen 1859, Giesebrecht 1859, Pertz 1859, Waitz 1859, Ranke 1859 und Sybel 1859. Grundsätzlich auf der gleichen Ebene liegen Loebell 1859, Hagen 1861 und Maurenbrecher 1867. « Ulmann 1885.

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Fußnote die Redaktion, d.h. konkret der Rankeschüler Heinrich von Sybel (1817—1895), dazu bekannte, „vollständig" gegenteiliger Ansicht zu sein.16 Inhaltlich wird 1859 erstens deutlich, dass die Aneignung der Nationalgeschichte in der Selbstwahrnehmung der Historiker in der Tat eine epochale Wende darstellte. Die nationale Erhebung [...] war der Born, aus der unsere Geschichtswissenschaft neues Leben schöpfte; der nationale Gedanke wurde die treibende Kraft derselben, und der Glaube an die unerschöpfte Lebensfülle der Nation und das Vaterknd gibt ihr immer von Neuem Muth und Frische. Das größte und folgenreichste Unternehmen für unser modernes Geschichtsstudium ist in dem Wahlspruch begonnen und fortgeführt: .Sanctus amor patriae dat animum!' [...] Erst indem die Geschichtswissenschaft das nationale Princip mit aller Energie erfasste und von ihm erfasst wurde, gewann sie gegen die anderen Wissenschaften auch äußerlich [...] eine völlig freie Stellung als ein selbständiges Studium.17

Zweitens bestätigt sich die von Daniel Fulda herausgearbeitete Unterscheidung eines aufgeklärten und eines klassisch-ästhetischen Zeitalters der Geschichtsschreibung, von welchen sich die neue Nationalhistoriographie ausdrücklich absetzt, aber auch gelernt zu haben einräumt.18 Die Aufklärung habe sich im Grunde in der pragmatischen Geschichtsforschung erschöpft. Von Kunst der Darstellung [war bei ihr] kaum die Rede. Diese historischen Werke sind wenig mehr als Vorrathskammern der verschiedenartigsten Kenntnisse und Erfahrungen, die für Schule und Kanzel, für die Geschäftsstube und den geselligen Verkehr brauchbar und wünschenswerth scheinen; der Geschichtschreiber ist meist nur der ziemlich gleichgültige und frostige Wart dieser aufgespeicherten Schätze.19

Diese Konfiguration änderte sich noch im 18. Jahrhundert. Als in den letzten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts Ästhetik und Philosophie unsere Literatur und unser geistiges Leben zu beherrschen anfingen, konnte begreiflicher Weise jene gelehrte Geschichtschreibung den Forderungen nicht auf die Dauer genügen. Man verlangte nun mehr nach anziehender Darstellung als nach gelehrter Forschung.20

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Ebenda, S. 42. Blanke 1991a und Jordan 2000 übersehen die für die Repräsentativität der Ausführungen Ulmanns doch höchst bedeutsame Anmerkung. Giesebrecht 1859, S. 8 und 11. Vgl. Fulda 1996a. - Im vorliegenden Band vgl. FULDAS Beitrag „Goethezeitliche Ästhetik und die Ermöglichung einer textuellen Repräsentation der ,Geschichte'" (Abschnitt II-V). - Eine leicht abweichende Periodisierung schlägt Jordan 2000 vor. Giesebrecht 1859, S. 4. Ebenda.

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Diesen neuen „historischen Kunststyl suchte Schiller zu schaffen." Er und die übrigen Geschichtschreiber seiner Art haben [durch ihre Arbeit] vor Allem eine tiefere Auffassung der Universalgeschichte bei uns angebahnt und nach vielen Seiten des Studiums die fruchtbarsten Keime gelegt. Sie haben unserer Geschichtschreibung Frische, Wärme und Kraft gegeben, das dürre Material mit Ideen durchgeistigt. Man dankte es Ihnen, wenn die Geschichte nicht mehr allein im Kathederton lehrte, wenn sie aus den Studierstuben unter das Volk trat, wenn sie fortan einen höheren Anspruch machen konnte, als im Gefolge anderer Wissenschaften einherzuziehen. Die Historic wurde von dem Universitätszwang gelöst, sie entwickelte sich frei in der Literatur des Tages und nach den Bedürfhissen der Zeitgenossen. Aber es war allerdings Gefahr, dass diese Befreiung sie in eine andere Abhängigkeit versetzen konnte, in Abhängigkeit von jenen Philosophen und Poeten, welche die Literatur beherrschten, und dass sie auf diesem Wege die edelsten Vorzüge einbüßen würde, welche sie bis dahin vor den verwandten Bestrebungen anderer Völker ausgezeichnet hatten. Es ist bekannt, wie sich schon Schiller gkubte strengerer gelehrter Forschungen überheben zu dürfen, um seine Geschichtswerke zu schaffen. Wie gefahrlich musste das Beispiel eines solchen Mannes wirken!21

Die „moderne deutsche Geschichtswissenschaft" hat sich deshalb „in der That mehr im Gegensatze gegen jene philosophisch-ästhetische Richtung als im Anschlüsse an dieselbe durchgebildet; sie nahm recht eigentlich die gelehrte Historik der früheren Zeit wieder auf, aber doch mit ganz anderer Energie, mit einem ungleich größeren Reichthum von Ideen und Anschauungen und vor Allem in dem Gefühl voller Freiheit und Selbständigkeit." Indem sie „den Ernst und den Fleiß der Forschung" wieder zurückgewann, gelang ihr der entscheidende Gewinn, nämlich eine neue Kombination ihrer Komponenten, die verbürgt, „daß eine Losreißung und Trennung der Geschichtsschreibung von der Forschung nicht mehr" stattfindet.22 Die Neukonstitution der Geschichtswissenschaft unter dem „nationalen Princip" bedeutete also drittens tatsächlich keine Entästhetisierung, sondern eine neue Verbindung von Ästhetik und Forschung. Heinrich von Sybel formulierte diesen Tatbestand kurz zuvor noch deutlicher: „Daß unsere Geschichtsschreibung sich zu Vaterlandsliebe und politischer Überzeugung bekannt, hat ihr erst die Möglichkeit zu erziehender Kraft und zu fester Kunstform gegeben."23 Welcher Faktor diese neue Kombination der beiden Elemente ermöglichte, war also viertens kein anderer als das Prinzip der Nation selbst. Denn 21

22 23

Ebenda, S. 6f. „In der That" habe sich schnell „eine ziemlich leichtfertige Historiographie an vielen Orten" entwickelt, „in welcher lediglich die currenten Tagesideen auf ein schnell beschafftes Material angewendet wurden." Ebenda, S. 12. Sybel 1863, S. 350.

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dieses Prinzip integrierte in den Augen seiner Anhänger alle Dichotornien und Dualismen, die zuvor Poetizität und Empirie gleichermaßen nötig gemacht hatten, auf bis dahin unbekannte Weise neu und erstmals unauflöslich. ,Nation' bezog sich im Verständnis ihrer Historiker prinzipiell auf einen gegenüber der zuvor im Vordergrund stehenden Universalgeschichte überschaubarer gewordenen Erkenntnis- und Bezugsraum. Indem sie sich als in der Vergangenheit und Gegenwart gleichermaßen wirkungsmächtige und positive Potenz erwies, verband sie zugleich nicht nur Vergangenheit und Gegenwart, sondern auch Idee bzw. Ideal und Wirklichkeit. Sie stiftete auf diese Weise allgemeine historische Kohärenz und pragmatische Kontingenz. Ihr eignete zugleich übergreifender historischer Sinn und unmittelbare Kausalität. Ihre Relationalität und Erscheinungsform und damit die Mittel ihrer Erfassung waren zugleich symbolisch-zeichenhaft und empirisch ,hart'. Indem selbst dem blödesten Auge sichtbar wurde, wie die Macht des Einzelnen — ob sie auch einzig in ihrer Art und unerhört scheine - wie ein Halm zusammenknicke vor Nationen, die sich zu dem Gefühl ihrer Selbstständigkeit erheben und mit leidenschaftlicher Begeisterung die Sache des Vaterlandes und ihrer angestammten Fürsten ergreifen, musste der nationale Gedanke mit innerer Notwendigkeit in den Vordergrund jeder historischen Betrachtung treten. [...] Wer sich nun in das Studium der Geschichte vertieft, der hat es nicht mehr so sehr mit einer abgestorbenen Vergangenheit, mit den vorübergehenden Wirkungen vorübergehender Ereignisse, mit den Tugenden und Fehlern längst dahingeschiedener Personen zu thun, als das Leben großer Nationen, in denen die Gedanken Gottes sich gleichsam verkörpern, in feinem Ursprung und Wachsthum zu verfolgen und zu begreifen. Da schlägt sich von selbst die Brücke von der Vergangenheit zur Gegenwart; das Gestern gewinnt Bedeutung durch das Heute, der heutige Tag durch entschwundene Zeiten; da erst lebt der Historiker nicht mehr im Tode, sondern im Leben, aber in einem reicheren und bleibenderen als das schnell verrauchende Leben des Tages. [...] Wird die Geschichte vom nationalen Gesichtspunkte erfasst, so gewinnt Bedeutung, was früher kaum beachtet wurde, und in den Mittelpunkt der Betrachtung treten Momente, die man bisher als gleichgültig ansah. [...] Wer das Leben der Nationen ergründen will, muß den inneren Zusammenhang ihres Staats- und Kirchenlebens erfassen, muß ihre Sitte und ihr Recht, ihre Sprache und Literatur, wie sie innerlichst mit dem Wesen der Nationen verwachsen sind, begreifen, sich in die ganze Denk- und Anschauungsweise der Völker im Laufe der Zeiten hineinleben.24

24

Giesebrecht 1859, S. 12; vgl. auch Sybel 1863, S. 349, mit u.a. der Feststellung, dass mit der nationalen Erhebung „die Geschichte [...] dem lebenden Geschlechte nähergerückt, der Sinn für den Zusammenhang der Zeiten geöffnet, ein Band persönlicher Beziehung und menschlichen Gefühls zwischen Gegenwart und Vergangenheit geknüpft" war. Die unvermeidlichen kritischen Konsequenzen im Hinblick auf den weltgeschichtlichen Arbeitsschwerpunkt des noch nicht national durchwirkten Historismus zieht, wenngleich wegen der Autorität Rankes in der Formulierung verhalten, Pöhlmann 1883.

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Unter dieser Perspektive erscheint der geschichtlichen Betrachtung das Leben jedes „Volkes, unter der Herrschaft der sittlichen Gesetze, als natürliche und individuelle Entwicklung, welche mit innerer Nothwendigkeit die Formen des Staates und der Cultur erzeugt, welche nicht willkürlich gehemmt und beschleunigt, und nicht unter fremde Regel gezwungen werden darf."25 Methodologisch bedeutete diese Konzeption fünftens eine Bestätigung der Ideenlehre Rankes, wie die Bemerkungen des Gründervaters 1859 zur Verwirklichung der angestrebten umfassenden deutschen Nationalgeschichte zeigen. Unser Zweck [...] ist auf die allgemeine Geschichte des gesammten Vaterlandes gerichtet. Niemand von uns wird [dabei] einwenden, dass das Ganze doch nur in den Vereinigung der Theile liege; geographisch ist dies sehr wahr, aber nicht historisch; man dürfte auch in dieser Hinsicht das Wort des Philosophen wiederholen, dass das Ganze eher da sei als die Theile. Wie es ja z. B. in der Geschichte des deutschen Ostens am Tage liegt. Oder wie ließe sich die Entstehung des alten Ordenslandes, ohne die Idee der deutschen Gesammtheit, die es recht mit Bewußtsein zu ihrer Pflanzung gemacht hat, auch nur denken? Bei uns ist es nicht wie in Italien, wo der Begriff der Einheit ein geographisch-nationaler, diese selbst etwas niemals weder in alten noch in neueren Zeiten zur Erscheinung gekommen ist. Unsere Geschichte beruht vielmehr auf der Idee der Gesamtheit. [...] Bei uns war fortwährend eine Repräsentation der Einheit vorhanden; das Auseinanderstreben der verschiedenen, auch der mächtigsten Glieder konnte nie zur Trennung werden. Das Leben der Nation beruht auf unaufhörlicher Gegenwirkung des Besonderen und des Allgemeinen: das letztere ist aber immer das stärkere Element gewesen.26

Obwohl also der forschende „Weg zum Allgemeinen von dem Speciellen und Speciellsten" auszugehen hat, ist die angemessene Betrachtung bzw. das angemessene Verständnis dieses Speziellen oder Individuellen ohne Beachtung des Allgemeinen nicht möglich. Rankes Konzeption schließt den letztlich auf Martin Luther zurückgehenden klassischen hermeneutischen Zkkel der deutschen Geisteswissenschaft ein.27 Noch weiter gehen die am stärksten politisch geprägten und engagierten Historiker. Hier ist die wissenschaftskonstitutive Bedeutung der Nation bzw. des Nationalstaats fundamental. Nicht eigentlich die historisch-kritische Methode mache das Neue an der modernen Geschichtswissenschaft aus, diese sei vielmehr bereits zuvor entwickelt und gepflegt worden. Das bei Ranke noch variable und gegebenenfalls erst zu findende übergreifende historische

25 26 27

Sybell859,S. III. Ranke 1859, S. 30f. Vgl. Giesebrecht 1859, S. 16, und oben Anm. 8.

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Prinzip, das sich aus dem Besonderen ableitet und das Besondere deutet, steht bereits fest. Es ist eben der Nationalstaat. „Die veränderte Stellung des Autors zum Staat" macht demzufolge das Bahnbrechende aus. Sie ist es, die „größere Klarheit und intensive Kraft des nationalen Gefühls" verschafft, die „positive Wärme und freien Blick in die sittliche Auffassung" ermöglicht, wodurch sich wiederum die elementaren Interpretamente des historischen Schaffens nebst deren angemessenen Ausdrucksformen erschließen. Die „Gesinnung [...] gibt dem Inhalte sogleich auch der Form ihr Gepränge; zum ersten Male in der deutschen Geschichtsschreibung beginnt sich ein fester, den verschiedenen Persönlichkeiten gemeinsamer, den mannigfaltigsten Stoffen passender historischer Styl zu bilden."28 Am Ende der nationalhistorischen Hochphase ist im Kontrast dazu Ernüchterung und geradezu Allergie gegenüber philosophisch-poetischer Sinnstiftung bzw. -formulierung eingetreten. Von einer wissenschaftskonstitutiven Potenz des nationalen Prinzips ist allenfalls in historiographiegeschichtlicher Wendung noch die Rede. Kontingenz und Kausalität werden nurmehr empirisch-faktizistisch gefasst. Die ästhetisch-künstlerischen Momente sind tatsächlich nahezu — wenngleich noch keineswegs vollständig — zum bloßen Darstellungsproblem reduziert. Die neue Geschichtsschreibung ist zu einer Wissenschaft erwachsen, nicht nach der modernen, willkürlichen Definition, als ob sie (analog den exakten Naturwissenschaften) mit der Enträtselung der ,Gesetze' des Völkerdaseins zu thun hätte, sondern weil sie, darauf verzichtend, ausschließlich erzählen und ethisch wirken zu wollen, sich die Aufgabe gestellt hat: die eigenwerthig besondere Bedeutung der Personen und Ereignisse zu verstehen aus ihrer Stellung im Reiche der Thatsachen und Ideen überhaupt. Sie benutzt zu diesem Behuf eine ausgebildete kritische Methode der Forschung, welche, indem sie das Einzelne untersucht, das Ganze sich bewusst werden will und welche das Ganze nur begreift aus der vollen Kenntnis der kritisch festgestellten Einzelheiten heraus. Diese Erforschung der Kausalität der historischen Dinge, diese hier als bekannt vorauszusetzende unaufhörliche Wechselwirkung zwischen der Darstellung und dem Material stellt der Geschichtserzählung Aufgaben, welche sich mit der gleichzeitigen Anforderung rein künstlerischer Gestaltung nicht vertragen: wenigstens nicht ohne die unvergleichlich wichtigere Aufgabe, das Streben nach wissenschaftlicher Wahrheit empfindlich zu beeinträchtigen. [...] Es ist [mithin durchaus] zu leugnen, dass für die Aufgabe der neueren Geschichtsdarstellung regelmäßig ein Künstlerauge ausreicht, um das Dunkel durchdringend aus dem Widerspruch und der Abgerissenheit der Überlieferung ein wahres geschichtliches Bild zu erschauen und nachzuformen. Dazu gehört ein Anderes: ein methodisch geschulter und zugleich über die engen Grenzen eines einseitig beschränkten Forschungsgebiets hinausschauender Verstand

28 Sybell863,S. 357f.

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in Verbindung mit einer durch lange Übung im Dienst der Wissenschaft gezügelten Anschauungsgabe. Das holde Kind der Freiheit, die dichterische Phantasie, wird ohne jene erste Selbstsucht nimmer der anspruchsvollen Wissenschaft den Dienst einer wahrheitsgetreuen Wiederschau vergangener Dinge zu leisten vermögen.29 Auch für weite Erkenntnisperspektiven, also die Erfassung den nationalgeschichtlichen Horizont überschreitender historischer Bereiche, darf das ästhetische Instrumentarium kaum mehr in Anspruch genommen werden. Es ist „irrig" anzunehmen, dass der Geschichtsschreiber kraft der Phantasie allein Herr werden könnte über die Fälle des Stoffes. Denn dann wäre es in letzter Linie eine Frage des Geschmacks, ob das durch die produktive Phantasie erzeugte Spiegelbild einen mehr buntschillernden oder einen einheitlich schönen Charakter besäße. Mit solchen ästhetischen Gesichtspunkten wird die wissenschaftliche Aufgabe aufs Unleidlichste alterirt. Der Phantasie soll freilich ihr Recht nicht verkümmert werden. Aber wie eine wissenschaftliche Darstellung nicht möglich ist ohne nachfühlende Anschauung, so ist letztere der ärgsten Willkür ausgesetzt, falls sie nicht sich, wie wir sahen, in den Dienst der wissenschaftlichen Methode gestellt hat. Der Gesichtspunkt für das zu Erschauende liegt nicht, wie bei der Phantasieschöpfung, im Gemüt des Poeten, vielmehr ist er neben und über den Resten der Vergangenheit durch methodische Operationen des Verstandes zu suchen und festzustellen.30 Die Entästhetisierung der Forschung, die der Poetizität höchstens noch eine Residualfunktion zugesteht, setzt sich wie bereits angesprochen auf der Ebene der jetzt deutlich abgeschichteten Geschichtsdarstellung fort. „Und wie mit der Auffassung so verhält es sich im wesentlichen auch mit der Darstellung im engeren Sinn, der sog. Geschichtsschreibung. Nicht das Schönheitsgefühl hat die ausschlaggebende Stimme bei der Komposition und Disposition eines Geschichtswerkes."31 Zwar gibt es „Unterschiede [...] hinsichtlich der sozusagen künstlerischen Knetungsfähigkeit eines Stoffes",32 also je nach Umfang und Art des Themas, sowie der „Richtung des Autors", der „Zweckmäßigkeitsfrage hinsichtlich der Bereitstellung der Quellen" — Mitabdruck oder nicht — oder „hinsichtlich der Hoffnung, Aufhellung in dunkle Partien zu bringen." 29

Ulmann 1885, S. 43 und 46f. Ebenda, S. 49, vgl. zur Frage des Verhältnisses von Geschichtswissenschaft und Phantasie heute Fried 1996 (ergänzungsfähig). 31 Ulmann 1885, wie vorhergehende Anmerkung. Ulmanns Biographie Kaiser Maximilian I. traf 1885 das Verdikt, „außerordentlich anregend" zu sein, jedoch „ohne so künstlerisch zu befriedigen, wie eine Ranke'sche Darstellung" (Mkgf. [sie!]: [Besprechung von] Ulmann: Kaiser Maximilian I. Stuttgart 1884. In: Historische Zeitschrift 53 [1885], S. 321-324, Zitat S. 324). « Ulmann 1885, S. 46. 30

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Wolfgang E.J. Weber [Der] Forderung .künstlerischer Gruppierung' läßt sich [also durchaus] eine gewisse Berechtigung nicht abstreiten, aber sie muß dem wissenschaftlichen Zweck untergeordnet sein und hat jedenfalls für geschichtliche Darstellungen keine höheren Ansprüche als in einer anderen Disziplin. Nicht weil die Geschichte eine Kunst ist, sondern weil es billig ist, dem ästhetischen Empfinden der Leser nach Kräften gerecht zu werden, strebt man nach einer möglichst harmonischen Darstellung. Unverzeihlich sündigt, wer zu liebe der schönen Form sachliche Zwecke hintanstellt. Entscheidend ist die Frage der wissenschaftlichen Zweckmäßigkeit. Und bei der Auswahl der für die wahre Nachbildung der Vergangenheit erforderlichen Thatsachen gilt dasselbe sodann in noch höherem Grad. Der Historiker darf nicht ungestraft vergessen, daß er Schriftsteller ist, [...] es wäre [trotzdem] nicht nur geschmacklos, sondern unwissenschaftlich, alles erzählen zu wollen. Die technischen Mittel, die überquellende Fülle des Stoffes zum Besten der Durchsichtigkeit zu beschränken (ich meine die methodisch zu übende Zusammenziehung oder Verallgemeinerung des Überlieferten), sind bekannt und stets angewandt. Aber weiter zu gehen ist nicht rathsam. Der Wunsch, vom festen Boden der Wissenschaft sich zu erheben in den heitern Äther der Kunst im Streben nach einem schönen Eindruck, darf nimmermehr die Vollständigkeit der Erkenntnis beeinträchtigen.33

Vom sinn- und lebensweltlich wie historisch und wissenschaftlich einheitsstiftenden, von der Geschichte selbst zur Verfügung gestellten Prinzip der Nation, dessen Ästhetik zugleich dessen Wirklichkeit ist, zur autonomen Geschichtswissenschaft der strengen Methodik, die Kunst und Poetizität allenfalls funktional, im Hinblick auf Wirkungsabsichten und Leserbedürfnisse zulässt? Die beiden ausgewählten Haupttexte markieren zwar eine Entwicklung, diese darf aber nicht als exklusiv und homogen aufgefasst werden. Die historistische Geschichtswissenschaft der nationalen Periode wies vielmehr durchaus innere Vielfältigkeit, ja Spannungen und Widersprüche auf. Sie wurde mithin keineswegs vollständig nationalgeschichtlich aufgerollt. Ebenfalls bereits im ersten Band der Historischen Zeitschrift kam als Gegner oder gar Verächter von Ästhetik, Kunst und Transzendenz der im Gegensatz zu Sybel gerade nicht nationalgeschichtlich orientierte Rankeschüler (!) Georg Waitz (1813-1886) zu Wort. Er wandte sich entschiedener als Giesebrecht gegen jede „ästhetische Schönfärberei", plädierte generell dafür, in den historiographischen Werken die quellen- bzw. überlieferungsbedingten „Lücken stehen zu lassen", auch wenn man „damit wohl [...] die Wirkung der Darstellung [schwächt]", und wies das Ansinnen ausdrücklich zurück, um der nationalen Aufgabe der neuen Historic willen von diesem Prinzip abzurücken. „Auch Objektivität hat ihre Gegner, die sie farblos, kalt und gleichgültig gegen einige Güter der Menschheit oder der Nation schelten. Aber sicherlich mit Unrecht. Sie ist wohl vereinbar mit festen Überzeugungen in religiösen 33 Ebenda, S. 49f.

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oder staatlichen Fragen, mit sittlicher Klarheit und patriotischer Wärme", die aber explizit eben nicht in der geschichtswissenschafdichen Darstellung selbst, allenfalls in deren Paratexten zum Ausdruck kommen können.34 Auf die Existenz der alternativen Auffassung Sybels - soviel Ästhetik und Poetik, wie sie der nationalen Mission der Geschichtswissenschaft nützen — am Ende des hier beobachteten Zeitraums, in den 1880er Jahren, verwies die bereits angesprochene redaktionelle Notiz. Der dort angekündigte Gegenartikel erschien jedenfalls in der Historischen Zeitschnß jedoch nie. Selbst im Werk desjenigen nationalen Historikers, der die Ästhetisierung der Forschung und der Darstellung zu einer „Ästhetisierung des Staates" fortentwickelte, also Heinrich von Treitschkes, trat dieser Aspekt allmählich zurück, ohne allerdings jemals vollständig zu verschwinden.35 Wie ist die mithin als Teiltransformation aufzufassende Entwicklung zu erklären? M. E. zunächst und grundsätzlich über die historische Schwächung des nationalen Impulses nach der kleindeutschen Nationalstaatsgründung 1871, der Ernüchterung über die konkrete Gestalt und die begrenzten Möglichkeiten dieses Nationalstaats sowie über dessen gesellschaftlich-kulturelle Herausforderungen durch die Industrialisierung. Zweitens durfte bedeutsam gewesen sein, dass sich unübersehbar doch nicht alle Deutschen vom Nationalismus erfassen ließen, d.h. historisch-empirisch das Prinzip der Nation doch nicht alles und alle durchwirkte und zusammenschloss. Im Zusammenhang damit standen drittens die entsprechenden, vor allem durch den konfessionell-religiösen Gegensatz bedingten historisch-politischen und geschichtswissenschaftlichen Kontroversen, die den nationalen Historismus dazu veranlassten, seine Konzeption von Missverständlichem und Anfechtbarem zu reinigen und debattenfest aufzurüsten.36 Viertens entfesselten und beschleunigten alle Historiker dabei die beiden wesentlichen, bereits in der Gründungsphase des nationalen Historismus angelegten, sich zunehmend als zumindest ambivalent erweisenden Prozesse, denjenigen der Historisierung — 34

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36

Waitz 1859, S. 25 und 27; zu den literarischen Konzeptionen der Nationalgeschichte um 1870/71 vgl. weiterführend Fulda 1993. Eine Studie zu den Paratexten (vor allem Vorworten) der selbständigen fachhistorischen deutschen Nationalgeschichten zwischen 1800 bis 1880 ist in Vorbereitung. Vgl. klassisch Walter Bußmann: Treitschke. Sein Welt- und Geschichtsbild. Göttingen 1952 (Göttinger Bausteine zur Geschichtswissenschaft. 3/4), besonders S. 63-149, Zitat S. 136 u. ö. S. 137 wird unmissverständlich festgestellt: „Immer dann, wenn Treitschke [am äußersten, W. E.J.W.] Punkte seines Gedankenganges angelangt ist, greift er auf ästhetische Motive als letzte und unwiderlegliche Mittel der Beweisführung zurück." Vgl. für die Grundlagen und Konsequenzen der konfessionellen Problematik vor allem Lenz 1883 und aus der Literatur nach Hardtwig 1980 die Bemerkungen bei Frie 2001, der wie Voss 2001 gleichzeitig die zweite historische Herausforderung der historistischen Nationalgeschichte, die Verbindung Preußens mit der deutschen Nation, diskutiert.

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der sich auch gegen die Konzeption der Nation und der nationalen Historic wenden konnte und bereits zu wenden begann - und denjenigen der fachlichen Disziplinierung und Profes sionalisierung. Sich gegenüber Kunst und Ästhetik abzugrenzen, die eigene Methode zur besonderen und einzigartigen hoch zu stilisieren, bediente auch ein Autonomie-, Profilierungs- und Stabilisierungsbedürfnis im gerade gegen Jahrhundertende keineswegs festen, sondern zunehmend dynamischen universitären Fächergefüge. Sowohl wissenschaftlich als auch institutionell und im Hinblick auf die beanspruchte öffentliche Orientierungsfunktion als Konkurrenten einzurechnen sind fünftens die nicht zufällig im Quellentext erwähnten Naturwissenschaften. Mit dieser Ebene zu verknüpfen dürfte sechstens auch der Aspekt der innerwissenschaftlichen Autoritätsbildung und Reproduktion sein. Das Element des aufwendigen Lernens und Einübens zu betonen statt künstlerische Begabtheit oder gar Genialität sicherte den Rang der alten Meister ab und ermöglichte die Etablierung knger, kontinuitätssichernder Sozialisations- und Rekrutierungsphasen. Schließlich ist zu konstatieren, dass die angestrebten master narratives der deutschen Nationalgeschichte nur vereinzelt und keineswegs mit der erhofften gesellschaftlich-politisch Breitenwirkung zustande kamen, vielmehr die Erarbeitung von deren Bausteinen sehr viel mehr Anstrengungen und Zeit absorbierte als ursprünglich veranschlagt.37

III. Zur Theorie und Praxis der nationalhistorischen Geschichtsdarstellung Die nationalgeschichtliche Neukonzeptualisierung der historistischen Geschichtswissenschaft bestand wie skizziert u. a. in einer neuartigen Verknüpfung von Forschung und Darstellung sowie historischem Autor und Publikum, ohne jedoch die Ambivalenzen der Verwissenschaftlichung und der nationalpolitischen Funktionalisierung und damit das Auseinandertreten von zwei Adressatengruppen der historiographischen Textproduktion überdecken zu können. Bis in die Anfänge des 20. Jahrhunderts hinein bemühten sich die Historiker dennoch weitgehend erfolgreich, die sich aus dieser Auseinanderentwicklung ergebenden Schwierigkeiten zu überbrücken, indem auch die Fachliteratur noch publikumsverständlich und die Publikumsliteratur hinrei-

37

Vgl. für die Variabilität und Defizite der frühen Versuche exemplarisch Wirth 1859, Wachsmuth 1860-1862 und Kutzen 1880 und für die geringe Zahl der nationalgeschichtlichen Darstellungen noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts die einschlägigen fachhistorischen Bibliographien. Ranke konstatierte schon 1859: „Aber ohne Bezug selbst darauf, ob eine des Namens würdige allgemeine deutsche Geschichte jemals zu Stande kommen wird, hat die gesicherte Zusammenstellung des historischen Stoffes einen objectiven und nicht zu ermessenden Werth" (Ranke 1859, S. 31); gemeint sind einerseits die Quelleneditionen, andererseits die unübersehbare Zahl der Teilstudien.

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chend wissenschaftlich gehalten wurde bzw. zumindest gehalten werden sollte. In diesem Prozess musste naturgemäß auch die Gainings- bzw. Textsortenfrage zumindest eine gewisse Rolle spielen.38 In der fachwissenschaftlichen Selbstreflexion erhielt die Frage der besten bzw. richtigen Text- und Gattungsform am Ende der nationalgeschichtlichhistoristischen Phase neue Bedeutung, als in neuer Schärfe zwischen internem Forschungsdiskurs und öffentlicher Darstellung unterschieden werden musste. Heinrich Ulmann fasste sie ganz konkret. Alle Wissenschaften haben sich — im Kontrast zur Kunst — der Prosa zu bedienen. „Geschichtliche Stoffe zu künstlerischer Gestaltung zu verwerthen ist in prosaischer Darstellung ebenso möglich wie in der Poesie. Aber solche Hervorbringungen des menschlichen Geistes haben nichts zu thun mit der historischen Wissenschaft, sondern bilden eine besondere Kunstgattung."39 „Künsderischer Schmuck" ist zwar keineswegs prinzipiell untersagt, darf aber nur von sekundärer und funktionaler Bedeutung sein, d. h. zur Veranschaulichung und Verdeutlichung des mediodisch Erforschten eingesetzt werden.40 Die entscheidende Frage ist mithin, „ob die erforderliche Begründung der Forschungsresultate und Auffassungen sich ohne Beeinträchtigung wissenschaftlichen Fortschritts vereinigen läßt mit einem der Historic zukommenden Kunstcharakter."41 Unser Verfasser plädiert in dieser Situation zunächst für eine explizite Nachweispflicht mit der Folge der Entstehung bzw. Legitimierung des wissenschaftlichen Apparats — der Fußnoten — als unverzichtbares Element wissenschaftlicher Prosa. Wissenschaft [...] beginnt mit dem Zweifel, oft hat sie auch die unabweisliche Pflicht, mit demselben zu endigen. Auf alle Fälle hat sie beständig (und zwar nicht nur in pectore, sondern auch coram publico[!]) die Ursachen verständlich darzulegen, warum eine Thatsache oder Thatsachengruppe von ihr für gewiß, eine andere in diesem, eine dritte in jenem Grade für zweifelhaft angesehen wird. Es ist Pflicht der Ehrlichkeit, in denkenden Lesern ein Bewußtsein von der Abstufung der Sicherheit unseres Wissens wach zu erhalten. Daraus ergibt sich für die Geschichtsschreibung die Notwendigkeit, die Erzählung mit Beweisstellen und Erläuterungen zu begleiten: etwas, woran in

38

39 40 41

Es ist bezeichnend, dass dieser Problembereich nicht nur in der Selbstreflexion der methodologisch-didaktischen Richtung der deutschen Geschichtswissenschaft um 1900 kaum vertiefende Beachtung gefunden hat (vgl. Bernheim 1903), sondern auch die aktuelle Historiographiegeschichte so gut wie gar nicht interessiert. Das mag freilich auch an der Unkenntnis darüber liegen, was unter Textsorten usw. überhaupt zu verstehen ist; vgl. für eine aus fachhistorischer Sicht fruchtbare literaturwissenschaftiiche Einführung Walter Hinck (Hrsg.): Textsortenlehre - Gattungsgeschichte. Heidelberg 1977 (Medium Literatur. 4). Ulmann 1885, S. 54. Ebenda, S. 31. Ebenda, S. 50.

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Wolfgang E.J. Weber der klassischen Zeit griechischer Historik schon des mündlichen Vertrags halber nicht gedacht werden konnte. Aber abgesehen von dieser Äußerlichkeit zeigt sich gerade hierin die grundstürzende Umwälzung des wissenschaftlichen Betriebs.42

Ulmann geht sogar noch einen Schritt weiter. Ausgehend von der Tatsache, dass zunehmend „der Darsteller der Einzige gewesen ist, der die in den Archiven ruhenden Quellen studiren konnte", und diesem deshalb die Pflicht obliegt, über die „Glaubwürdigkeit" und darüber, ob und in welcher Weise die neuen Quellen das alte Wissen ergänzen oder korrigieren, Rechenschaft abzulegen, fordert er, dass „gewissermaßen eine Art fortgesetzten Zwiegesprächs zwischen dem Text und den Anmerkungen eintreten muß." „Nicht allzu sparsam bemessene Noten" seien aber mit künstlerischer Darstellung nicht in Einklang zu bringen. Es entspricht nicht dem Begriff eines Kunstwerks, ein Buch zu schreiben gleichsam mit doppeltem Antlitz, dessen vorderes die künstlerisch freien Geister in seliger Ungebundenheit mögen, während das zweite [die am Ende gruppierten Fußnoten] nur von den .nüchternen Forschern' [...] in seinen einzelnen Linien studirt zu werden braucht. Das Kunstwerk kann nur aus sich selbst, das Werk der Wissenschaft nur durch äußere Beweismittel Glauben gewinnen!43 Zusammenfassend wird deshalb festgehalten: Der Mann der Wissenschaft ist Schriftsteller erst in zweiter Linie. Nicht harmonischer Aufbau und Durchsichtigkeit eines Werks, nicht Proportion der Teile, nicht mit einem Wort Formvollendung ist das höchste Ziel, wie die Kunst, die sonst, trotz alles inneren Gehaltes, ihren Beruf verfehlt. [...] Streben nach vertiefter Erkenntnis des menschlichen Thuns in Staat und Gesellschaft ist [vielmehr] ihr [der Geschichtswissenschaft] wesentliches Ziel. Der berechtigte Wunsch der Leser nach Klarheit und Angemessenheit der Diktion, nach Uebersichtlichkeit des Verlaufs darf unter keinen Umständen den Vorwand abgeben, der Schärfe und Gründlichkeit des Beweises etwas abzubrechen. Es ist Zeit, den dem Wandel der Zeiten und der Entwicklung der Wissenschaft nicht mehr entsprechenden Begriff von Geschichtskunst von sich zu thun.44 Wie sah die entsprechende Praxis der nationalen Historie aus? Systematisch umfassende literaturempirische Studien fehlen. Trendaussagen lässt in aller Kürze immerhin ein Datensatz zu, der alle (fachwissenschaftlichen, s. u.)

42

Ebenda, S. 50f. Die bisher einzige umfassende Darstellung der Geschichte der wissenschaftlichen Fußnote - Anthony Grafton: The Footnote: A Curious History. Cambridge 1999 [EA 1993] — ist im Hinblick auf diese Zusammenhänge ergänzungsbedürf% « Ulmann 1885, S. 51 f. 44 Ebenda, S. 52.

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Publikationen aller deutschen Lehrstuhlinhaber für Geschichte umfasst.45 Diese Befunde lassen sich durch einen Blick auf die in der Historischen Zeitschrift eingesetzten Gattungs formen ergänzen. Die Ergebnisse sind eindeutig genug. Am Ende des ersten Drittels des Jahrhunderts nimmt der Seitenumfang des historiographischen Ausstoßes aller Lehrstuhlinhaber für Geschichte für rund zwei Jahrzehnte ab; die nähere Analyse zeigt, dass dafür der höhere Zeitaufwand für die jetzt intensiver erforderliche quellenmäßige Abstützung aller wissenschaftlichen Äußerungen verantwortlich ist. Der quantitative Rückgang betrifft also zunächst die im engeren Sinne fachhistorische, für die selbständige Darstellung mit den Kategorien ,Darstellung', ,Studiec, aber auch bereits .Monographie', für die unselbständige Literatur mit ,Studie', .Darlegung', jAufsatz', .Artikel', .Kritik' usw. operierende Literatur, neben der aber politisch-publizistische Zweckformen — vom Essay über .historische Bilder', Porträts und .Charaktere' bis zu Skizzen, Glossen, »Adressen*, .Beiträge' usw. — entweder auf gleichem oder bis um 1860/70 sogar höherem Niveau weiter produziert werden. Besonders deutlich sinkt der Anteil der selbständigen fachwissenschaftlichen Veröffentlichung. Neben der Quellenedition gewinnt dagegen schon früh der Aufsatz an Bedeutung. Nach 1870 treten die eher publizistisch-zweckliterarischen Beiträge nicht nur sukzessive zurück, sondern werden auch verpönt. Am Jahrhundertausgang sieht sich der „historische Essayist" bereits gezwungen, die Legitimität dieser Gattung zu verteidigen.46 Schließlich wird das publizistisch-allgemeinbildende Schrifttum überhaupt nicht mehr in die fachwissenschaftliche Personalbibliographie aufgenommen und damit definitiv in das Vorfeld der Fachwissenschaft verbannt. Ähnliches zeigt sich auf der Ebene des Fachorgans. Während in den ersten Bänden der Historischen Zeitschrift neben ,Reden' sogar noch literarische Formen wie das „Gespräch"47 abdruckbar sind, setzt sich danach die volle Bandbreite der in fortschreitendem Maße nur mehr nüchtern auf Informationsvermittlung und wissenschaftlichen Diskurs angelegten Gattungen durch: Artikel, Aufsatz, Abhandlung, (Literatur-)Bericht, Kritik, Replik, Erklärung, Verbesserung, Schreiben, Nachtrag usw.48

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Erarbeitet im Rahmen des DFG-Projekts „Vermessene Historiographie" 1995—1999. « Vgl. z. B. Heigel 1893, Vorwort, S. V. 47 Loebell 1859; interessant ist, dass es diesem Gespräch genau um die hier untersuchte Thematik geht. 48 Zur Reaktion auf diese Entwicklung bei akademisch gebildeten, in der Regel aber nicht eingebundenen Autoren des frühen 20. Jahrhunderts vgl. den Beitrag von GREGOR STREIM.

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IV. Resümee Ausweislich der in diesem Beitrag herangezogenen Quellen und verstreuter Befunde der einschlägigen Forschung sind der Aufladung der historistischen Geschichtswissenschaft durch das ,nationale Princip' seit dem Beginn des zweiten Drittels des 19. Jahrhunderts wesentliche Transformationswirkungen zuzuschreiben. Diese Wirkungen betrafen sowohl den Objekt- und Erkenntnis- als auch den Funktions- und Methodenaspekt der wissenschaftlichen Geschichtsbefassung. In ästhetisch-literarischer Hinsicht war einerseits wichtig, dass die ,nationale Methode' in neuer Weise Poetizität und Faktizität miteinander verband. Andererseits war bedeutsam, dass die — sowohl aus der historistischen wie der nationalgeschichdichen Logik entstandene — Dynamik der fachlichen Verwissenschaftlichung, die förmlich als Disziplinierung des historischen Denkens angesprochen werden kann, und der funktional-politische nationalgeschichtliche Rekurs eine Zweiteilung der Adressaten der geschichtswissenschaftlichen Textproduktion zur Folge hatten, die unterschiedliche Gattungsformen erforderte und begünstigte. Am Ende der nationalgeschichtlichen Hochphase der historistischen Geschichtswissenschaft waren jedoch die Weichen für fortschreitende Verwissenschaftlichung und Professionalisierung gestellt, die das Missverständnis begünstigten, Geschichtswissenschaft könne ohne ästhetisch-literarischen Bezug auskommen. Diese Weichenstellung entfremdete die Historikerprofession indessen je länger desto mehr vom allgemeinen Bildungspublikum; die jetzt in wachsendem Maße erforderliche Aufgabe, zwischen Fachwissenschaft und Publikum zu vermitteln, übernahm die historische Sachliteratur bzw. Sachpublizistik.

V. Bibliographie: 1. Quellen Bernheim, Ernst: Lehrbuch der historischen Methode und der Geschichtsphilosophie. 3. Aufl. Leipzig 1903 [EA 1889]. Droysen, Johann Gustav: Denkschrift. In: Historische Zeitschrift l (1859), S. 39-41. Droysen, Johann Gustav: Historik. Rekonstruktion der ersten vollständigen Fassung der Vorlesungen (1857). Grundriß der Historik in der ersten handschriftlichen (1857/1858) und in der letzten gedruckten Fassung (1882). Historisch-kritische Ausgabe. Hrsg. von Peter Leyh. Stuttgart-Bad Cannstatt 1977. Erhardt, Louis: Rez. Georg Kaufmann. Deutsche Geschichte bis auf Karl den Großen. Bd. l (1880). In: Historische Zeitschrift 47 (1882), S. 317-321. Giesebrecht, Wilhelm: Die Entwicklung der modernen deutschen Geschichtswissenschaft in Deutschland. In: Historische Zeitschrift l (1859), S. 1-17. Häusser, Ludwig: Macaulay's Friedrich der Große. Mit einem Nachtrag über Carlyle. In: Historische Zeitschrift l (1859), S. 43-107.

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Das .nationale Princip' als Determinante der deutschen Historiographie

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SILVIA SERENA TSCHOPP Inszenierte Geschichte. Der Zusammenhang zwischen Dramenform und Geschichtsauffassung als theoretisches und praktisches Problem im 19. Jahrhundert I. II.

Geltung und Krise des Dramas im 19. Jahrhundert 367 Geschichtliche Kollision und welthistorisches Individuum: Georg Friedrich Wilhelm Hegels klassizistisches Dramenmodell 370 III. Das .Wunderganze' der Geschichte: Johann Gottfried Herders Konzept eines episierenden Dramas 375 IV. Im Spannungsfeld von Exemplarität und Totalität: Christian Dietrich Grabbes Napoleon oder die hundert age 378 V. Verschiedene Geschichte(n): Klassizistisches Drama und historische Erzählprosa 384 VI. Auswahlbibliographie 386

I.

Geltung und Krise des Dramas im 19. Jahrhundert

„Historische Dramen! Das ist die Losung, die man überall hört, seitdem sich bei uns wieder die Keime einer neuen dramatischen Poesie zu regen beginnen" — mit diesen Worten beginnt Hermann Hettner seine 1852 erschienene Abhandlung über Das moderne Drama.1 Die Feststellung, dass dem Drama und insbesondere dem geschichtlichen Drama bei den Zeitgenossen besondere Signifikanz zukomme, bildet nicht Anfällig den Ausgangspunkt von Hettners Überlegungen zu einem Genre, das um die Mitte des 19. Jahrhunderts eine Reihe bedeutender Autoren beschäftigt hat.2 Der Siegeszug der Erzählprosa Hettner 1852, S. 3. Bereits 1843 war Friedrich Hebbels Schrift Mein Wort über das Drama! erschienen (vgl. Hebbel 1965 [1843], S. 545-576), 1845 publiziert Robert Eduard Prutz programmatische Erörterungen zum Drama als Einleitung zu seinem Bühnenstück Morit% von Sachsen unter dem Titel Ueber das deutsche Theater (Prutz 1845) und 1863 schließlich veröffentlicht Gustav Freytag seine Technik des Dramas (Freytag 1863). Die Forschungslage zum Geschichtsdrama erscheint zum jetzigen Zeitpunkt als wenig befriedigend. Den zahl-

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im 19. Jahrhundert sollte nicht vergessen lassen, in welchem Maße die szenische Gestaltung poetischer Imagination weiterhin sowohl den ästhetischen Diskurs als auch die literarische Produktion beflügelte. Georg Friedrich Wilhelm Hegels Auffassung, das Drama müsse als Synthese von ,epischer Objektivität' und »lyrischer Subjektivität' und damit als „höchste Stufe der Poesie und der Kunst überhaupt angesehen werden,"3 gewinnt in den programmatischen Schriften zur dramatischen Poesie bald geradezu topischen Charakter und verliert erst gegen Ende des Jahrhunderts an Verbindlichkeit. So weist auch Friedrich Theodor Vischer in seiner Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen der dramatischen Dichtung in enger Anlehnung an Hegels gattungspoetische Ausführungen eine exzeptionelle Position im Gattungssystem zu, definiert sie als „Poesie der Poesie"4, als „vollkommenste Erfüllung des Begriffes der Kunst",5 in der die „Subjektivität der Lyrik" und die „Objektivität des Epos" sich verbinde,6 und der Literaturhistoriker Robert Eduard Prutz betont in seinen dramentheoretischen Schriften wiederholt die Suprematie der dramatischen Form, die er als „höchste und vollendetste unter den [...] Entwicklungsstufen der Poesie", als „Complex und Inbegriff der gesammten Dichtkunst" bestimmt.7 Der selbe Prutz beklagt allerdings auch, dass die hohe Wertschätzung, die das Drama im ästhetischen und poetologischen Schrifttum genieße, sich kaum durch die dramatische Produktion, die er insgesamt als äußerst unbefriedigend beurteilt, rechtfertigen lasse. Er konstatiert einen „Bruch zwischen den Forderungen unsers Bewußtseins und der reichen Beiträgen zu einzelnen Werken steht eine vergleichsweise geringe Zahl von Studien gegenüber, die sich um einen Überblick über die im 19. Jahrhundert entstandenen Geschichtsdramen bemühen. Eine erhellende Analyse des Verhältnisses zwischen historischem Roman und historischem Drama leistet Lukäcs 1955, S. 88-179. Noch immer aufschlussreich ist — ungeachtet ihrer bisweilen irritierenden Wertungsfreudigkeit — die Monographie von Sengle 1969. Vgl. auch die jüngeren Publikationen von Hinck 1981; Kafitz 1989 sowie G. Müller 1997. Wesentliche Einsichten in den Zusammenhang von Geschichtsauffassung und dramaturgischen Verfahrensweisen vermitteln Lindenberger 1975; Zeller 1988, S. 196-239, und v. a. Struck 1997. Ältere Beiträge zur Gattung des Geschichtsdramas finden sich in Neubuhr 1980. Zur Definition von ,Geschichtsdrama' vgl. Düsing 1998 sowie im vorliegenden Band den Beitrag von STEFANIE STOCKHORST (Abschnitte I u. III). Hegel 1970b [1835], S. 474. Vischer 1923 [Reprint 1975; EA 185 , S. 262. Ebenda, S. 263. Ebenda, S. 261. Prut2 1845, S. XXVII. Vgl. auch Prutz' diesbezügliche Äußerungen in seinem Aufsatz Das Drama der Gegenwart, wo er festhält: „Daß das Drama überhaupt die höchste Kunstform ist, darüber ist die Aesthetik seit langem einig; selbst auch in das große Publikum ist ein gewisses instinktartiges Gefühl davon gedrungen, so daß wk uns bei dem Nachweis dieses Satzes nicht erst aufzuhalten brauchen." (In: Max Bucher u.a. [Hrsg.]: Realismus und Gründerzeit. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1848— 1880. Bd. 2: Manifeste und Dokumente. Stuttgart 1975, S. 424).

Dramenform und Geschichtsauffassung als Problem im 19. Jahrhundert

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Wkklichkeit unserer Leistungen"8 und bringt damit zum Ausdruck, was auch innerhalb der germanistischen Forschung als konstitutiv für die dramatische Literatur des 19. Jahrhunderts gilt: Die auffällige Diskrepanz zwischen der theoretisch postulierten Dignität des Dramas, das im 19. Jahrhundert zur Leitgattung avanciert, und der nur in Ausnahmefällen befriedigenden literarischen Qualität der in großer Anzahl verfassten dramatischen Dichtungen vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.9 Das Unbehagen angesichts einer nur quantitativ bedeutenden Produktion von Bühnenwerken, die den hohen theoretischen Anspruch an die durch sie repräsentierte Gattung nicht einzulösen vermögen, artikuliert sich in einer Vielzahl programmatischer Äußerungen zum Drama. Es sind nicht nur die beim Publikum überaus beliebten Lustspiele eines August Wilhelm Iffknd, eines August von Kotzebue, eines Eugene Scribe, eines Eduard von Bauernfeld, eines Julius Roderich Benedix oder einer Charlotte Birch-Pfeiffer, die als primär auf Unterhaltung bedachte Schöpfungen unter das Verdikt ästhetischer Minderwertigkeit fallen, sondern — wie Hettners kritische Bemerkungen zu Ernst von Raupach, Karl Leberecht Immermann und Christian Dietrich Grabbe belegen — auch jene Dichtungen, die sich der — wie Vischer formuliert — „wunderlose[n] Wkklichkeit der Geschichte" als der „wahrefn] Heimat des modernen Dramas" verschrieben haben.10 Bemerkenswert scheinen mir Hettners Ausführungen zum zeitgenössischen Theaterschaffen und sein Entwurf eines modernen Dramas nicht so sehr, weil sie ein klassizistisches Formideal fundieren, dem sich die meisten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts veröffentlichten Bühnenstücke verpflichtet fühlen sollten, sondern weil sie eine kritische Auseinandersetzung mit dem historischen Drama des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts leisten, die noch einmal in aller Deutlichkeit auf die bereits in der goethezeitlichen Ästhetik kontrovers diskutierten Möglichkeiten einer szenischen Gestaltung historischer Vergangenheit verweisen. Wenn Hettner in einem ,,schiefe[n] und kritiklose[n] Verhältnis zu Shakespeare"11 die hauptsächliche Ursache für die konstatierte Misere des zeitgenössischen historischen Dramas erkennt, und in der Folge vorschlägt, die geschichtlichen Bühnenwerke des englischen Autors in zwei „ganz entgegengesetzte, scharf gesonderte

8

Prutz 1845, S. XXXIII. Die Stelle lautet vollständig: ,,[W]ir wissen Alle, wie ein vortreffliches Drama zu machen wäre - und kein Mensch macht es [...], wir sind Alle in der Theorie unendlich viel weiter, als wir mit der Praxis nachkommen können. Es ist ein Bruch zwischen den Forderungen unsers Bewußtseins und der Wirklichkeit unsrer Leistungen, und wir können die Brücke, welche diese Kluft ausfüllen wird, nicht finden." 9 Vgl. dazu Schanze 1971. 10 Vischer 1923 [Reprint 1975; EA 185 , S. 308f. 11 Hettner 1852, S. 14.

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Gruppen" zu unterteilen,12 zielt er auf eine Differenzierung, die es uns erlaubt, wichtige konkurrierende Konzepte historischer Dramatik zu beschreiben. Die Unterscheidung zwischen Shakespeares ,englischen' und ,römischen' Stücken, die sich, wie Hettner betont; „von einander nicht blos durch ihren Inhalt, sondern ebensosehr und noch mehr durch ihre ganz verschiedene Form, durch ihre innere Bauart" abheben,13 gründet auf der Beobachtung kompositorischer Divergenzen: Seien Shakespeares ,englische' Dramen bzw. jHistorien' durch das Nebeneinander epischer und dramatischer Bestandteile gekennzeichnet, so entsprächen dessen auf die römische Geschichte zurückgreifenden dramatischen Schöpfungen „vollständig den schärffsten Forderungen streng durchgeführter Charaktertragödien."14 Gehörten demzufolge letztere zu Shakespeares bedeutendsten Dichtungen, so seien erstere, was ihren Aufbau anbelange, durchaus mangelhaft. Was Hettner an den jHistorien' moniert, ist deren ,epischer' oder ,episierender' Charakter. Als „dialogisirte Zusammenstellung gegebener Thatsachen", als „poetisch aufgeputzte Chroniken" verstießen sie sowohl gegen die „straffe Einheit der wirklich dramatischen Handlung" als auch gegen die „Einheit einer in sich einigen Grundidee."15 Anders als in den Römerdramen, deren ,peripetische' Struktur und Geschlossenheit Hettner lobend hervorhebt,16 sei es Shakespeare in seinen jHistorien' nicht gelungen, den geschichtlichen Stoff zu bändigen, ihn in eine den Gesetzen dramatischer Komposition gehorchende Form zu gießen.

II. Geschichtliche Kollision und welthistorisches Individuum: Georg Friedrich Wilhelm Hegels klassizistisches Dramenmodell Indem Hettner Shakespeares ,episierenden' Jugenddramen eine Absage erteilt, um im selben Kontext dessen strenger gefügte römische Tragödien als Modell zu inthronisieren, stellt er sich in eine ästhetische Tradition, die es im Folgenden zu beschreiben gilt: In seinen Vorlesungen über die Ästhetik entwickelt Hegel ein Modell des Dramas, das durch eine die Struktur der beschriebenen Gattung determinierende „Kollision" als Angelpunkt des szenischen Geschehens gekennzeichnet ist.17 Wenn „Kollision", wenn der

12 Ebenda, S. 15. 13 Ebenda. 14 Ebenda, S. 16. 'S Ebenda, S. 21. 16 „Wie springen hier alle Fäden aus Einem gemeinsamen Mittelpunkt und wie straff knüpfen sie sich zusammen zu einem in sich einigen, fest abgeschlossenenen Ganzen!" (Ebenda, S. 33). 17 Hegel 1970b [1835], S. 488.

Dramenform und Geschichtsauffassung als Problem im 19. Jahrhundert

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„Widerspruch entgegenstehender Gesinnungen, Zwecke und Tätigkeiten" das Kristallisationszentrum des dramatischen Werkes bildet, auf das alle Teile desselben bezogen bleiben, impliziert dies eine weitgehende kompositorische Geschlossenheit. Die idealtypische Form des Dramas wird denn auch mit bemerkenswerter Prägnanz beschrieben: Der Zahl nach hat jedes Drama am Sachgemäßesten drei solcher Akte, von denen der erste das Hervortreten der Kollision exponiert, welche sodann im ^weiten sich lebendig als Aneinanderstoßen der Interessen, als Differenz, Kampf und Verwicklung auftut, bis sie dann endlich im dntten auf die Spitze des Widerspruchs getrieben sich notwendig löst.18

Indem es den Fokus auf „einen Zweck und dessen Vollführung" richtet, grenzt sich das Drama in bezeichnender Weise vom Epos ab, dessen Gegenstand die Wirklichkeit „in ihrer vielgestaltigen Gesamtheit unterschiedener Stände, Alter, Geschlechter, Tätigkeiten usf." bildet.19 Die Folgen eines gattungspoetologischen Konzepts, das in der Konzentration auf einen als konfliktär bestimmten Geschehenskern den zentralen Wesenszug des Dramas erkennt, reflektiert Hegel in Auseinandersetzung mit den insbesondere von den französischen Klassizisten verteidigten Einheiten des Dramas, der Einheit des Orts, der Einheit der Zeit, der Einheit der Handlung. Zwar distanziert Hegel sich von den „steifen Regeln, welche sich [...] die Franzosen aus der alten Tragödie und den Aristotelischen Bemerkungen abstrahiert" hätten und weist darauf hin, dass Aristoteles sich zur Einheit der Zeit eher vage geäußert und zur Einheit des Orts gar keine Angaben gemacht habe.20 Dennoch rät er, im Drama den „mannigfaltigen Wechsels] des Schauplatzes" zu vermeiden, da dieses, im Gegensatz zum Epos, „das sich im Räume aufs vielseitigste in breiter Gemächlichkeit und Veränderung ergehen darf,"21 als dem Zuschauer szenisch vor Augen geführtes Kunstwerk nicht nur den bühnentechnischen Möglichkeiten, sondern auch der Perzeptionsweise der Zuschauer Rechnung zu tragen hat. Er plädiert für einen „glücklichen Mittelweg", der es erlaube, „weder das Recht der Wirklichkeit zu verletzen, noch ein allzu genaues Festhalten desselben zu fordern."22 Auch hinsichtlich der Einheit der Zeit postuliert Hegel eine pragmatischen Erwägungen folgende Vorgehensweise, welche die im Drama unabdingbare temporale Verdichtung bewerkstelligt, ohne die Wahrscheinlichkeit des Dargestellten zu gefährden.23 Als

i« Ebenda, S. 489. 19 Ebenda, S. 479.

20 Ebenda, S. 483. 21 Ebenda. 22 Ebenda, S. 484. 23 Vgl. ebenda, S. 484f.

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einziges „wahrhaft unverletzliche [s] Gesetz" gilt ihm die Einheit der Handlung, als deren organisierendes Prinzip er wiederum die .Kollision' definiert.24 Kennzeichnend für das Drama ist nicht nur eine Konzentration der inszenierten Schauplätze, Zeitpunkte und vor allem Handlungsmomente und damit verknüpft die Beschränkung des Umfangs,25 eine beschleunigte Dynamik - nicht „schilderndes Verweilen" wie im Epos, sondern „stete Fortbewegung zur Endkatastrophe" ist gefordert26 - sowie eine Gliederung in Akte und Szenen, die sich ganz in den Dienst des zur Anschauung gebrachten zentralen Konflikts stellt.27 Ebenso bedeutsam ist die zentrale Rolle, die Hegel den Bühnencharakteren als den Katalysatoren dramatischer Handlung zuweist. Indem er „das Aussprechen der Individuen in dem Kampf ihrer Interessen und dem Zwiespalt ihrer Charaktere und Leidenschaften" als das „eigentlich Dramatische" postuliert,28 und mit Blick auf die spezifische Rezeptionssituation szenischer Dichtung die Identifikation der Zuschauer mit den auf der Bühne vor Augen geführten Figuren und den durch sie verkörperten Konflikten als Ziel der theatralischen Handlung beschreibt, rückt er die auf der Szene Agierenden in den Mittelpunkt seines theoretischen Entwurfs. Das Drama als Kunstform, die, wenn sie auf der Bühne realisiert wird, höchste Gegenwärtigkeit erzeugt, kann die durch die Erfahrung von Präsenz begünstigte ,,lebendige[r] Teilnahme"29 nur bewirken, wenn es zur Darstellung bringt, was auch die Zuschauer umtreibt. Es muss deshalb relevante Inhalte, „allgemeinmenschliche Zwecke und Handlungen" gestalten und dies auf eine „poetisch individualisiert [e]" Weise.30 Nicht als „bloß personifizierte [n] Interessen" oder „Abstraktionen bestimmter Leidenschaften und Zwecke" sollen die Charaktere im Drama poetische Gestalt finden, sondern als Figuren, in denen dem Raum und der Zeit enthobenes Allgemeines und historisch in Erscheinung tretendes Individuelles sich modellhaft verbinden. Was Hegel in seinen dramentheoretischen Überlegungen entfaltet, ist ein in Auseinandersetzung mit der aristotelischen Poetik wie auch der antiken Tragödie gewonnener Idealtypus eines Dramas, der durch kompositorische Stringenz und die Fokussierung auf zentrale Charaktere gekennzeichnet ist. Die für das Drama konstitutive Kollisions Struktur zielt auf Konzentration, 24

25 26 27 28 29 30

Vgl. ebenda, S. 485: „Die dramatische Handlung beruht deshalb wesentlich auf einem kollidierenden Handeln, und die wahrhafte Einheit kann nur in der totalen Bewegung ihren Grund haben, daß nach der Bestimmung der besonderen Umstände, Charaktere und Zwecke die Kollision sich ebensosehr den Zwecken und Charakteren gemäß herausstelle, als ihren Widerspruch aufhebe." Vgl. ebenda, S. 487f. Vgl. ebenda, S. 488. Vgl. ebenda, S. 488ff. Ebenda, S. 491. Ebenda, S. 496. Ebenda, S. 499.

Drarnenform und Geschichtsauffassung als Problem im 19. Jahrhundert

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auf eine poetische Gestaltung, welche sich auf die für das Verständnis des dargestellten Konflikts unabdingbaren Geschehensmomente und Figuren beschränkt. Die szenisch gefügte Handlung erlaubt keine Redundanz, sie unterliegt dem Gesetz der Notwendigkeit und verschließt sich all dem, was dem Bereich des Zufälligen zugeordnet werden muss. Zugleich impliziert das Postulat, auf der Bühne hätten Charaktere zu agieren, in denen Allgemeines und Besonderes zur Verschmelzung gelangt seien, die exemplarische Funktion dramatischer Dichtung. Die dem Zuschauer vor Augen geführten Figuren und die durch sie verkörperten Konflikte weisen über sich selbst hinaus, öffnen den Blick für die Signifikanz geschichtlicher Erfahrung, wie Hegels Forderung, der „dramatische Dichter" habe „am tiefsten die Einsicht in das Wesen des menschlichen Handelns und der göttlichen Weltregierung sowie in die ebenso klare als lebensvolle Darstellung dieser ewigen Substanz aller menschlichen Charaktere, Leidenschaften und Schicksale zu gewinnen," deutlich werden lässt.31 Die Affinität des hier beschriebenen dramentheoretischen Konzepts zur Hegeischen Geschichtsphilosophie liegt auf der Hand und ist im Forschungsdiskurs denn auch thematisiert worden.32 Hegel selbst hat in der Einleitung zu seinen Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte durch die explizite Ineinssetzung von Weltgeschichte und Theater33 und die Verwendung des für sein Modell dramatischer Komposition zentralen Begriffs der .Kollision' im Kontext geschichtsphilosophischer Erörterung34 die Analogie von Geschichtsverlauf und dramatischer Struktur herausgestellt. Die Koinzidenz von Weltgeschichte und Drama ergibt sich einerseits aus dem ihnen zugrundeliegenden dialektischen Bewegungsprinzip und andererseits aus der Rolle, die dem Menschen in diesem Szenario zukommt. Historische Dynamik gründet in einer Mechanik, die Hegel als Herausbildung von Gegensätzen beschreibt, die in einem Konflikt kulminieren, um schließlich einer Lösung zuzustreben, die bereits den Keim zu neuen Kollisionen enthält. Der universal und final gedachte Prozess der Geschichte erfährt eine Gliederung durch konfliktäre Momente, in denen Vergangenes in eine Gegenwart mündet, die ihrerseits Zukunft antizipiert. Die Geschichte generierenden ,Kollisionen' wiederum finden ihre Verkörperung und damit Veranschaulichung in „welthistorischen Individuen", in Menschen, welche in ihrer greifbaren Erscheinung die der Universalgeschichte inhärente allgemeine Idee am adäquatesten 31

Ebenda, S. 502. 32 Vgl. beispielsweise Galle 1980 und White 1991 [1973], S. 111-175, hier S. 127-131. 33 Vgl. Hegel 1970a [1837], S. 29: „Der Geist ist aber auf dem Theater, auf dem wir ihn betrachten, in der Weltgeschichte, in seiner konkretesten Wirklichkeit." 34 Es sind die „großen geschichtlichen Verhältnisse[n]", in denen Hegel die „Kollisionen zwischen den bestehenden, anerkannten Pflichten, Gesetzen und Rechten" und den diesem „System" entgegengesetzten Kräften entstehen sieht (ebenda, S. 44f.).

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zum Ausdruck bringen.35 Der historische Verlauf wird konzipiert als der Notwendigkeit unterworfene Bewegung, deren Telos die geschichtliches Geschehen bestimmenden Kräfte determiniert. Die den historischen Prozess leitende Idee manifestiert sich in sinnlich wahrnehmbarer Form in jenen Persönlichkeiten, welche den Konflikt zwischen dem Allgemeinen des in der Geschichte inkarnierten Geistes und dem Individuellen des historischen Moments und des subjektiven Wollens modellhaft verkörpern. Dem .welthistorischen Individuum' eignet damit eine Exemplarität, die es ungeachtet seines Verhaftetseins in der Geschichte enträumlicht und entzeitlicht. Es tritt zwar in spezifischer, durch historisch zu begründende Gegebenheiten bestimmter Gestalt auf, verweist jedoch zugleich auf den Raum und Zeit transzendierenden Geist, der in der Weltgeschichte waltet. Hegels Modell einer ideologisch verlaufenden, von .welthistorischen Individuen' vorangetriebenen Universalgeschichte impliziert einen Konfigurationsmodus von Historie, der, ungeachtet der Bedeutung, die Hegels geschichtsphilosophischen und ästiietischen Postulaten im Kontext historistischer Diskurse zukommt, wesentliche Momente neuerer Wahrnehmungsmuster von Geschichte, wie sie sich seit der Spätaufklärung herausgebildet hatten, nicht zu integrieren vermag.36 Welchen Sinn macht ein Drama, das .welthistorische Individuen' auf die Bühne bringt, wenn die Geschichtsmächtigkeit des Subjekts — nicht zuletzt von Hegel selbst37 — einer zunehmend skeptischeren Befragung ausgesetzt wird? Welche Berechtigung hat die Vorstellung großer ,Kollisionenc als Angelpunkte historischer Dynamik, wenn geschichtliches Geschehen sich in eine schier unüberschaubare Fülle relevanter Begebenheiten aufsplittert? Welche Signifikanz schließlich kann einer universalhistorischen Auffassung noch zukommen, wenn der Blick sich immer mehr auf räumlich und zeitlich begrenzte Momente geschichtlichen Geschehens richtet, wenn die Autonomie, der Eigenwert historischer Epochen zum Postulat wird? Die hier angedeuteten Verschiebungen im Geschichtsdiskurs sind folgenreich für die Konzeption des historischen Dramas. Wenn, wie ich dargelegt habe, Dramenstruktur und Geschichtsverständnis in enger Wechselbeziehung stehen, ist davon auszugehen, dass eine veränderte Perzeption historischer Wirklichkeit, eine andere, neue Form des Dramas und insbesondere des Geschichtsdramas generieren musste. 35 Ebenda, S. 45. 36 Aus der umfangreichen Literatur, die die Formierung des historistischen Geschichtsdenkens behandelt, sollen hier nur einige wenige Titel genannt werden: Koselleck 1975; Jaeger/Rüsen 1992; Rüsen 1993, S. 29-94; Iggers 1997; im vorliegenden Band vgl. DANIEL FULDAS Beitrag „Goethezeitliche Ästhetik und die Ermöglichung einer textuellen Repräsentation von »Geschichte"' (Abschnitte I-V). Zum Fortschrittskonzept der sattelzeitlichen Geschichtsphilosophie vgl. den Beitrag von THOMAS PRÜFER (Abschnitte II u. III). 37 Vgl. Galle 1980, S. 267f.

Dramenform und Geschichtsauffassung als Problem im 19. Jahrhundert

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Hettners Kritik an einem ,epische verfahrenden Drama, das nicht mehr dem Vorbild der streng komponierten Charaktertragödie folgt, zielt genau auf die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zahlreichen und literarisch bedeutenden Versuche, ein historisches Drama zu inaugurieren, das die menschliche Ohnmacht angesichts geschichtlicher Verwicklungen, die vielfältigen und bisweilen zufallig erscheinenden Kausalitäten, die Geschichte konstituieren, und den partikularen Charakter historischer Ereignisse nicht ausblendet. Sie richtet sich gegen die Repräsentanten einer Auffassung, die sich ebenfalls auf Shakespeare beruft, die jedoch gerade jene englischen ,Historien' in den Mittelpunkt der Reflexion rückt, von denen Hettner sich so explizit distanziert.

III. Das ,Wunderganze' der Geschichte: Johann Gottfried Herders Konzept eines episierenden Dramas Eine für unsere Fragestellung besonders aufschlussreiche Auseinandersetzung mit Shakespeare verdanken wir Johann Gottfried Herder, der in seinem 1773 erschienenen Shakespear-Aufsatz für ein zeitgemäßeres Konzept von Geschichtsdrama plädiert.38 Fundamental neu ist Herders konsequente Betonung der Historizität von Gattungsregeln. Das aristotelische Tragödienmodell, das im poetologischen Diskurs des 18. Jahrhunderts fast unumschränkte Geltung beansprucht, interpretiert er, anders als beispielsweise die französischen Klassizisten, nicht als deduktiv-normatives Postulat, sondern als Ergebnis einer induktiv verfahrenden Erörterung antiker Schauspiele. Im griechischen Drama mit den ihm von Aristoteles zugeschriebenen Konfigurationsmodi erkennt Herder weniger einen universal und überzeitlich gültigen dichterischen Prototypen als vielmehr eine Werkstruktur, durch die eine spezifische Kultur in einem spezifischen Moment ihren adäquaten Ausdruck gefunden hatte. Was die antike Poesie auszeichnet, ,,[j]ene Simplizität der griechischen Fabel, jene Nüchternheit griechischer Sitten, jenes fort ausgehaltne Kothurnmäßige des Ausdrucks, Musik, Bühne, Einheit des Orts und der Zeit," findet seine Begründung in der Beschaffenheit der griechischen Polis.39 Wenn, wie Herder im zweiten Entwurf seines Shakespear-Aufsatzes hervorhebt, die Dignität von Dichtung nicht darin besteht, dass sie den Gesetzen einer normativen Poetik folgt, sondern dass sie „Geschichte der Welt, der Natur, der Menschheit" ist,40 bedeutet dies, dass das dramatische Werk seinen Maßstab weniger in der 38 Vgl. Herder 1993 [1773]. 39 Ebenda, S. 500. 40 Johann Gottfried Herder: Shakespear. 2. Entwurf. In: Ders.: Werke. Bd. 2: Schriften zur Ästhetik und Literatur 1767-1781. Hrsg. von Gunter E. Grimm in zehn Bänden. Frankfurt a. M. 1993 (Bibliothek deutscher Klassiker. 95), S. 530-549, hier S. 534.

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Silvia Serena Tschopp

literarischen Tradition findet als vielmehr in der Wirklichkeit, die es poetisch gestaltet. Nachdem sich — wie „Alles in der Welt" — auch die „Natur" geändert habe, aus der die griechische Tragödie hervorging, nachdem „Weltverfassung, Sitten, Stand der Republiken, Tradition der Helden^eit, Glaube, selbst Musik, Ausdruck, Maß der Illusion" eine grundlegende Wandlung durchgemacht hätten,41 gelte es, eine Form zu finden, die einer veränderten Welt und neuen Wahrnehmungsmustern geschichtlicher Erfahrung gerecht zu werden vermöge. Als Muster einer historisch reflektierten poetischen Mimesis erscheint dabei Shakespeare, dessen neuartiges Bühnenwerk eine Wirklichkeit spiegle, die nicht durch einen „so einfachen Volks- und Vaterlandscharakter", nicht durch einen „so einfachen Geist der Geschichte, der Fabel, der Handlung" gekennzeichnet sei, wie dies für die antike Welt der Fall war. Was der englische Dramatiker vorgefunden und für die Bühne gestaltet habe, sei „ein Vielfaches von Ständen, Lebensarten, Gesinnungen, Völkern und Spracharten" gewesen, eine Fülle verschiedenartiger Phänomene also, die er zu einem „Wunderganzen" zusammenfügte.42 Der Vielfalt der Erscheinungen entspricht eine neue Form, die, wie Herders Ausführungen deutlich machen, epische Züge trägt. Der Handlung als Kristallisationspunkt der griechischen Tragödie stellt der Verfasser des Shakespear-Aufsatzes „das Ganze eines Eräugnisses, einer Begebenheit" gegenüber, der Ein-Tönigkeit der antiken Charaktere den „Hauptklang" zahlreicher und divergierender „Charaktere, Stände und Lebensarten", der einen ,,singende[n] feine[n] Sprache," die „wie in einem höhern Äther tönet," die „Sprache aller Alter, Menschen und Menschenarten", der Darstellung griechischer die Gestaltung nordischer Menschen.43 In der Rolle des „Rhapsodisten"44 fordert Herder ein Drama, das die komplexe geschichtliche Welt in ihrer Totalität erfaßt, das den raumund zeitbedingten Eigenarten historischen Geschehens schöpferischen Ausdruck verleiht. Nicht bloß ,,[e]ine Geschichte [...] von Einem Anfange zu Einem Ende nach der strengen Regel [des] Aristoteles" soll der Dichter zur Anschauung bringen, sondern den ,JAenschengeist, der [...] jede Person und Alter und Charakter und Nebending in das Gemälde ordnet".45 Was entsteht, ist eine Form, die die „[djisparatesten Szenen", „hundert Auftritte einer Weltbegebenheit" zu einem Ganzen verbindet, das seinen Zusammenhalt dem „Auge und Gesichtspunkt" des Betrachters, der die Fülle des Angeschauten zu bündeln weiß, verdankt.46 Zwar insistiert auch Herder auf der Notwendigkeit, den widersprüchlichen Reichtum der Phänomene zu bänditi Herder 1993 [1773], S. 503. 42 Ebenda, S. 508. 43 Ebenda, S. 509. 44 Ebenda. 45 Ebenda, S. 510. 46 Ebenda, S. 511.

Dramenform und Geschichtsauffassung als Problem im 19. Jahrhundert

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gen, die Vielfalt in eine Einheit zu zwingen, zugleich jedoch betont er, Geschichte gewinne nur dann „Haltung, Dauer, Existen%", wenn die sie bedingenden räumlichen, zeitlichen und situativen Momente in größtmöglicher Konkretion zur Darstellung gelangten.47 Wie später Hegel verweist auch Herder auf Strukturanalogien zwischen dem Geschichtsverlauf und den Kompositionsgesetzen dramatischer Dichtung. In Auch eine Philosophie der Geschichte %ur Bildung der Menschheit erscheint auch ihm die Historic als irdisches Schauspiel, als „unendliches Drama von S^enenl"4* Im selben Kontext bezeichnet Herder die Geschichte allerdings auch als „Epopee Gottes durch alle Jahrtausende, Weltteile und Menschengeschlechte, tausendgestaltige FabelVoll eines großen Sinnsi"49 und bedient sich dabei desselben Terminus', den Hegel in seinen Vorlesungen über die Ästhetik für jene vollkommenste Form epischer Dichtung verwenden wird, welche ,,[d]ie gesamte Weltanschauung und Objektivität eines Volksgeistes, in ihrer sich objektivierenden Gestalt als wirkliches Begebnis" darbietet.50 Die Ambivalenz des Herderschen Dramenkonzepts ergibt sich aus dem Bemühen, die räum- und zeilgebundene Individualität des historischen Moments ebenso zu integrieren wie die Vorstellung einer den gesamten geschichtlichen Prozess umfassenden Totalität. Die Verschiebung hin zu einem epischeren Modell dramatischer Poesie ist dennoch offenkundig; die Komplexität der zunehmend unüberblickbaren historischen Wirklichkeit zwingt den Dichter, tradierte Gattungsnormen zu modifizieren, wenn er nicht Gefahr laufen will, den von Herder postulierten mimetischen Charakter von Kunst zu verfehlen. Über die formale Beschaffenheit eines derart zeitgemäßen Dramas gibt der S'hakespear-Aufsatz nur sehr bedingt Auskunft. Dass es nicht angeht, das Bühnenwerk des emphatisch gefeierten englischen Dichters als Richtschnur für eine modernere Form des Schauspiels zu wählen, betont Herder selbst, wenn er am Ende seiner Abhandlung mit Blick auf den von ihm verehrten Shakespeare schreibt: Trauriger und wichtiger wird der Gedanke, daß auch dieser große Schöpfer von Geschichte und Weltseele immer mehr veralte! daß da Worte und Sitten und Gattungen der Zeitalter, wie ein Herbst von Blättern welken und absinken, wir schon jetzt aus diesen großen Trümmern der Ritternatur so weit heraus sind, daß [...], da sich alles so sehr verwischt und anders wohin neiget, auch sein Drama der lebendigen Vorstellung ganz unfähig werden, und eine Trümmer von Kolossus, von Pyramide sein wird, die Jeder anstaunet und keiner begreift.51